www.medienobservationen.lmu.de 1 Michael Preis Drogenrazzia im Lustspielhaus! Ein Line-Up wie Koks beim 1. Schwabinger Poetry Slam Christian Bumeder alias Bumillo hat am Mittwoch vor Ostern acht vielfach ausgezeichnete Poetry-Slammer aus ganz Deutschland versam- melt, die im Lustspielhaus um eine Flasche Chivas Regal gegeneinander antraten. Es gewann der Frankfurter Dichterfürst und subversive Sou- verän Dalibor Marković. Warum, schildert dieser Bericht. Er ist im Schein der Teilnahme geschrieben, da, so die gegen Ende einzuholende Ausgangsthese, erst aus diesem Schein heraus die ästhetischen, epistemo- logischen und nicht zuletzt ethischen Potenziale der Slam Poetry ange- messen verstanden werden können. Wo letztere allerdings eine Form negativer Gesellschaftskritik ist, darf die wissenschaftliche Antwort dar- auf nicht hermeneutisch bleiben. Erst selbst performativ vermag sie die Bühne der Frage zu erhellen, die sich in der Slam Poetry artikuliert. Wer sich für das Literarische engagiert, sollte mit Drogen nicht spa- ßen. Zwar ist das allmorgendliche Bierbad auch heute noch gerade Büchermenschen unbedingt zu empfehlen. Jener goldene Sprudel unter weißem Schaum schmiegt sich prickelnd auch an Geisteswis- senschaftlerhaut. Den Neurosehemmer Zigarette kann man eben- falls noch gutheißen; denn er benebelt überdeutliche Gedanken. Eventuell mag man sogar Verständnis für den Blutwurz am Sonntag haben. Denn der macht immerhin den Schweinsbraten vom Bio- bauernhof bekömmlicher; man kann schneller wieder an den Schreibtisch. Der Konsum von Kokain aber und vergleichbar Schlimmem sollte Stoff sein nur in der und nicht für die Literatur. Denn wer im Koksrausch phantasiert, vergisst vermutlich über Bil- derstürmen seinen Text. Wenn er ihn vorher aufschreibt und dann ernüchtert wiederliest, haben die Phantasien sich verzogen. Und es ist längst nicht gesagt, dass der Text allein sie wiederauferstehen las- sen kann, zumal wenn auch ein Publikum sie miterleben sollte. Über die tatsächlichen Analogien zwischen realem Drogenhoch und seinem literarischen Substitut mag spekulieren, wer vor dem Ver- gleich nicht zurückschreckt. Einen anderen Vergleich kann man vermutlich mit weniger Risiken und Nebenwirkungen ziehen: www.medienobservationen.lmu.de 2 Wenn es zutreffen sollte, dass sich die Besucher des ausverkauften Münchener Lustspielhauses am Mittwochabend vor Ostern ver- sammelt hatten, weil sie auf das Dionysische hofften, dann kann man dies nur durch das erstklassige Line-Up erklären. Bumillo, einer der Münchener Hohepriester der Slam Poetry, hatte eine Reihe ed- ler Prediger, Propheten und Verkündiger des Slam versammelt. Ganz auf ihrer Linie ruhten aller Augen aus dem Publikum. So kann man eigentlich nur Koks betrachten, bevor man nach dem Strohhalm greift und die Nase darüber rümpft. Einen Zehner hatte man aber bereits entrollt und an der Abendkasse abgegeben. In eingeweihten Kreisen war das zu erwartende Ereignis bereits seit Monaten bekannt. Auch in der ‚Slamily‘, der Slam-Familie, hatte es sich länger schon herumgesprochen. Bumillo selbst gestand, dass er sich erst, als alle Slammer tatsächlich in München angekommen waren, wirklich zum Glauben an den 1. Schwabinger Poetry Slam durchringen konnte. Dabei hatte er selbst doch in den Kabarett- Tempel geladen. – Hieß es nicht in der Schrift, selig die, die nicht sehen und doch glauben? Vielleicht war im Geheimen dies der Grund, warum der Moderator der Veranstaltung zu Beginn des ers- ten und des zweiten Teils des Abends sich selbst als ‚Opferlamm‘ darbot. Gemäß einer ehrwürdigen Slam-Tradition gab er sich mit einigen charmanten Versen hin, um außer Konkurrenz das Einbil- dungsvermögen des Publikums auf das vorzubereiten, was jetzt fol- gen sollte. In zwei Fünfergruppen waren die Teilnehmer zusammengelost worden, sieben Minuten Zeit stand jedem für seine Performance zur Verfügung, nur einer aus den beiden Gruppen schaffte es ins Finale. Zur Bewertung der Teilnehmer hatte Bumillo vor Beginn der Ver- anstaltung fünf Notengeber aus dem Publikum zur Jury erkoren. Die generell hohen Punktzahlen stiegen, je länger der Abend währ- te. Mochte es daran liegen, dass die Jury sich von der allgemein enthusiastischen Stimmung mitreißen ließ, mochte wackerer Bier- genuss das Seinige zur besseren Bewertung später auftretender Slam- Poeten tun, die Finalisten hatten ihr Weiterkommen wohl trotzdem nicht erblindendem Beifall zu verdanken. Der aus Wuppertal angereiste Patrick Salmen leitete mit seiner Kurzgeschichte über eine gescheiterte Invasion zwischen den Bene- luxstaaten und Griechenland einen Abend ein, in dem selten ein www.medienobservationen.lmu.de 3 Text nicht bis zu seinem Ende vorgetragen werden konnte. Zu gut waren die Akteure vorbereitet, und so wirkte es fast schon beabsich- tigt, wie Patrick ‚Psalm‘ Salmen seinen Beitrag performativ schei- tern ließ, wo man auf der Ebene des Erzählten das endgültige Schei- tern nur erst ahnte. Ob also Salmen seine Dauer nicht beherrschte? Er lieferte, bevor er vom Moderator des Abends mit harschen Mundharmonika-Tönen von der Bühne gejagt wurde, jedenfalls ei- nen derjenigen Beiträge, deren narrative Struktur auch die Bildlogik und das Verhältnis zum Publikum bestimmte. Sven Kemmler aus München hatte mit seinem Marketing-Manifest, ähnlich wie der ebenfalls in München beheimatete Heiner Lange, die narrative Dimension seines Beitrags um einige theatrale Struktu- ren erweitert. Im Schottenrock auftretend, trug Kemmler zum Ende seines Marketing-Manifests einen E-Mail-Wechsel mit einer Be- kanntschaft aus dem Nirgendwo vor, wie man sie nur in der Ano- nymität des Internets machen kann. Durch die Blume inkorrekter Sprachverwendung lieferte er eine Form der Konsumkritik. Sie führte die von einer trügerischen Ökonomie des individuellen Selbstwerts geregelten Mechanismen soziabler Außendarstellung da- durch ad absurdum, dass sie auf die Bühne brachte, was üblicherwei- se vom Spam-Ordner direkt in den Papierkorb geleitet wird, um von dort auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Im Vortrag ähnlich energetisch wie Heiner Lange rührten beide mit ihrer vergleichsweise lauten Stimmgebung auch an die körperliche Präsenz ihres Publikums, nicht ohne allerdings durch den Inhalt ih- rer Vorträge gerade jene Präsenz selbst als Zufluchtspunkt persona- ler Individualität noch durchaus kritisch infrage zu stellen: Mochte man sich im Publikumsraum körperlich vereinzelt und zugleich si- cher vor der Bühne fühlen, man wusste doch dabei, dass man Kemmlers E-Mail-Verkehr wohl kaum ebenfalls geführt hätte. Ge- nauso sehr wollte man sich vermutlich nicht in der Gesprächsrunde sehen, die Heiner Lange in seinem Beitrag aufs Korn genommen hatte. Wenig originell in ihren Redebeiträgen, war diese Runde Grund allgemeinen Gelächters. Wenn man sich aber gemeinsam lus- tig machte, sich mit Kemmler amüsierte und dem im Publikum je- weils durch schallendes Lachen lauten Beifall zollte, wohin waren in diesem Moment die individuellen Zuschauerkörper verschwunden? – Alles klatschte, bis sich die Individualität in Verkörperung durch www.medienobservationen.lmu.de 4 Sven Kemmler und Heiner Lange endlich wieder ins Publikum füg- te. Diese Interpretation der beiden Beiträge mag vielleicht etwas weit hergeholt scheinen. Auch mag man sich fragen, ob sie nicht dem Publikum gegenüber etwas ungerecht ist. Schließlich unterstellt sie ihm unterschwellig und mit leichter Polemik, es würde sich gegen den Wert des Individuellen verbünden, der etwa in der Postmoder- ne-Diskussion durchaus berechtigtes Zentrum eines wenn auch oft spielerischen Interesses gewesen ist. Doch polemisch waren die interpretierten Texte selbst. Gerade bei Kemmler und Lange gehörte die zuweilen aggressive Stimmgebung noch zur Inszenierung eines Widerstands gegen Formen der Gesellschaft, in denen Individualität sich ungefragt verflüchtigt. Sei es, dass Lange sie im mäßig interes- santen Allerweltsgerede untergehen ließ oder – ex negativo – dass Kemmler sie aus dem Spam-Ordner direkt in die Wiederauferste- hung führte. Die Interaktion mit dem Publikum ist nicht nur eines der Marken- zeichen von Poetry-Slam-Veranstaltungen, sie zeichnet für den Er- folg des Genres maßgeblich mitverantwortlich. Energetisch und da- bei distanzierend bis zuweilen polemisch vorgetragene Alltagsflos- keln sind dabei nur ein Darstellungsmittel unter anderen. Häufig werden so gestaltete Beiträge mit slapstickartigen Kabarettelementen angereichert. Die Genregrenzen sind hier einerseits fließend, ande- rerseits sind beim Slam außer Text, Papier und Mikrofon keinerlei Hilfsmittel erlaubt. Immerhin der eigene Körper darf zeichenhaft eingesetzt werden. Allerdings bewegen sich dessen Gesten norma- lerweise im Bereich dessen, was sich das Publikum im Allgemeinen ebenfalls leisten darf: Es drängt sich nicht ins Zentrum des Interes- ses. Zudem ist, anders als normalerweise beim Kabarett, bei Slam- Veranstaltungen der Wettbewerbsgedanke entscheidend, der die Interaktion mit dem Publikum strukturiert. Wortwitze, Sprachspiele und Komikelemente sind dabei probate Mittel, die aus Publikumsmitgliedern zusammengestellte Jury für den betreffenden Poeten einzunehmen. Auch beim Schwabinger Poetry Slam im Lustspielhaus gehörten diese Darstellungsmittel zum Standardrepertoire, aus dem die beteiligten Slammer schöpften. Um also als einer von zwei Teilnehmern ins Finale einzuziehen, hatte man noch etwas tiefer in die Trickkiste zu greifen, wollte man www.medienobservationen.lmu.de 5 sich von seinen Mitstreitern deutlich abheben. Das wahrscheinlich auffälligste Differenzierungsmerkmal, das einzelne der Beteiligten an diesem Abend von den anderen durch Höchstpunktzahlen und/oder den Finaleinzug unterschied, bildete eine systematisch theatrale Bühnendramaturgie. Dabei wurden die Autoreflexivität und die Selbstreferenzialität der Textdarbietungen in Verbindung mit einer ausgefeilten Bild- und teils mehrstimmigen Figurenlogik vorgeführt und im Einzelfall mit ironisierten poetologischen Selbst- erläuterungen kombiniert. Julian Heun, der beim Box Slam in der Münchener Muffathalle En- de Januar noch ins Finale eingezogen war, trug seinen „Ameisen- mann“ vor. Dieser ist eine Beobachterfigur, der zur Bewertung des von ihr Beobachteten wenig mehr als ein ‚I like‘ zu Gebote steht, wie man es von der Facebook-Timeline kennt. In diesem Beitrag ging es um das Verhältnis des Individuums zu seiner Individualität: Konnte man den Ameisenmann bei seiner ersten Erwähnung noch für eine Figur halten, die nicht nur originell, sondern in dieser Ori- ginalität auch als individuell ausgezeichnet wurde, musste sich diese Einschätzung in dem Moment wandeln, als Heun das allegorische Potenzial seiner Figur explizit machte: Ameisenmanns Welt ist ein einziges Facebook. Ameisen- mann mag. Ameisenmann mag. Ameisenmann mag. Amei- senmann mag. Ameisenmann ist seine eigene Droge, sein Ti- cket zur Gleichgültigkeit. Ameisenmann ist sein eigener Ameisenmann. Wir sind unser eigener Ameisenmann. Amei- sen können das eine Million tausendtausendmillionenfache ihres Körpergewichtes tragen und bauen nichts als hässliche Haufen – einfach, weil’s alle machen!1 Die durch den Wechsel des Pronomens angezeigte Wendung ins Allgemeine bereitete vor allem eines vor: Es ging in Heuns Text nicht nur um ein individuelles Selbstverhältnis, sondern genauer 1 Die Zitate aus dem Beitrag von Julian Heun entnehme ich der Sounddatei „Julian Heun – Der Ameisenmann“. Soundcloud. URL: http://soundcloud.com/lauschrausch/julian-heun-der-ameisenmann (zit. 18.04.2012). www.medienobservationen.lmu.de 6 noch um die Beobachtung einer Beobachtungsweise, mit der ein Subjekt unvermeidlich dann konfrontiert ist, wenn der Rückzug in die selbstgenügsame Innerlichkeit seiner Individualität keinen refle- xiv-sozialisierenden Mehrwert mehr erzeugt. Ist individuelle Subjek- tivität nur in Gesellschaft möglich und entsteht diese, wenn kom- muniziert wird, dann hat das Subjekt zu kommunizieren, wenn es als individuelles in Gesellschaft überleben will – ohne dass dadurch al- lein schon dessen Originalität gewährleistet wäre. Dass es in Heuns Beitrag tatsächlich um das individuelle Überleben ging, lässt sich durch zwei kurze Frage-Antwort-Sequenzen belegen, die Heun zum Besten gab: Ameisenmann, sag mal, magst Du – AIDS? Ooooaah, Ameisenmann mag AIDS. Superberühmt, superge- fährlich, JA! Ameisenmann, sag mal, was hältst Du genau von der Auswei- tung des EU-Rettungsschirms? Äääjaja, A-A-Ameisenmann. Der Ameisenmann ist demnach offenbar einer, der Begriffe mit Namen und Namen mit Personennamen assoziiert. Aus diesem Grund fällt er beim Doppelnamen der zweiten Frage-Antwort- Sequenz auch auf sich selbst zurück. Der Ameisenmann ist weder einer, der sein Schweigen reflexiv kontrollieren, noch entsprechend jemand, der lügen kann. Er hätte Till Reiners‘ Anleitung zum Lü- gen, die dieser in der Vorrunde vorgetragen hatte, wohl ohne größe- re Metamorphosen überstanden. Reiners war neben Dalibor Marković am Ende der zweite Finalteilnehmer beim 1. Schwabinger Poetry Slam. Seine Beiträge thematisierten durch Ratschläge zur sa- lonfähigen Lüge die Logik der eigenen Vortragstexte nur implizit. Möglicherweise lag es daran, dass sich am Ende Dalibor Marković im Finale durchsetzte, wenn auch Reiners, wohl wegen seines for- scher witzigen Vortragsstils, an Heuns fein gearbeitetem Beitrag vorbeigezogen war.2 2 Gerne hätte ich auch über die Beiträge von Till Reiners etwas mehr ge- sagt. Leider habe ich sie im Netz nicht gefunden. Einen Eindruck von sei- nem Vortragsstil kann man hier erhalten: „3. ZDFkultur-Poetry-Slam.“ www.medienobservationen.lmu.de 7 Marković, der in Slammer-Kreisen schlicht unter seinem Vornamen bekannt ist, darf wohl zu den prominentesten Poetry-Slammern auf deutschen und internationalen Bühnen zählen. Seine so komplexen wie sorgfältig komponierten Texte experimentieren zwischen den Genres, Dalibor ist ein mitreißender Beatboxer und seine Bühnen- darbietungen faszinieren insbesondere deswegen, weil sich in ihnen auf souveräne Weise ein Unernst auf der Inhaltsebene artikuliert, der von der manchmal geradezu gravitätischen Vortragsweise nahe- zu vollständig konterkariert wird. Man müsste es ihm vielleicht ein- fach nachzumachen versuchen. Die Anleitung zur von ihm begrün- deten Wissenschaft der Poesiephysik hat er schließlich beim Schwa- binger Slam in mehreren Sätzen beweiskräftig vorgetragen. Wie er im ersten dieser Sätze darlegt, spielt die von Reiners vorgeführte Lo- gik der Lüge auch bei Dalibor ihre Rolle: Poesie ist eine Form von Materie. Beweis: Heute wollen wir uns ein schönes Gedicht zaubern. Dazu brauchen wir viel Schwerst- und Maßarbeit, eine Gesellschaft, etwas Lüge und Trick. Wenden wir uns zunächst der Schwerst- und Maßar- beit zu, wichtig: Schneiden Sie das Ende mit der Arbeit weg, getrost dem Motto ‚Ein Gedicht, in dem viel Arbeit steckt, gelingt, wenn man sie nicht mehr schmeckt.‘3 Till Reiners war möglicherweise mit Dalibor einverstanden, als die- ser zugestand, dass man zur Zubereitung eines Gedichts, statt einer Lüge, auch eine „etwas reifere Übertreibung“ verwenden könne. Doch inwieweit die Rede von diesem Konsens tatsächlich zutrifft, entzieht sich der Rekonstruktion. Denn der hermeneutische Zirkel, auf den man sich einließe, befragte man die beiden Slammer bezüg- lich ihres präsupponierten Konsenses, würde sich, so steht zu ver- ZDF Mediathek. URL: http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1574272/3.-ZDFkultur- Poetry-Slam- (zit. 18.04.2012). Auch Svenja Gräfen, die am Schwabinger Slam beteiligt war, kann man hier erleben. 3 Die Zitate von Dalibor entnehme ich dem Clip „Rupert’s Kitchen feat. Dalibor – Die drei Sätze der Poesiephysik“. Youtube. URL: http://www.youtube.com/watch?v=-QApxibzbRk (zit. 18.04.2012). www.medienobservationen.lmu.de 8 muten, zu einem Teufelskreis auswachsen, in dem man, um Dali- bors Leib- und Magenmetaphorik wiederaufzunehmen, zwischen Ernst und Unernst sozusagen in der Hölle der Unentschiedenheiten briete. Aber zugestanden: Ich übertreibe vermutlich. Dalibors Stil ist ohnehin zurückhaltender, als die Metapher vom Höllenfeuer suggeriert, seine Lyrik mit all ihren Zutaten schiebe man, so Dalibor, in einen „vorgeheizten Denkofen“, wobei die Backzeit, je nach Ofen, schon mal zwischen „einer Minute und mehreren Jahren variieren“ könne. Dalibors Vortragsstimme ist, und hier scherze ich wirklich nicht im Geringsten, äußerst beeind- ruckend deswegen, weil sie eine Stimme ist, die das Schweigen wahrt, indem sie die Sprache, die sie verwendet, ganz ausdrücklich als jene des Publikums selbst markiert. Beweis: Der letzte Satz: Wenn ein vorgetragener Vers nachdenkliches Schweigen beim Zuhörer hervorruft, dann muss im Umkehr- schluss ein vorgetragenes Schweigen einen nachdenklichen Vers beim Zuhörer hervorrufen. Beweis: – . Die Souveränität einer solchen Sprachverwendung liegt nun nicht allein in Dalibors unaufdringlich überzeugender Handwerkskunst. Souverän ist diese Art der Sprachverwendung, weil in ihr das Ver- hältnis von Sprachsubjekt und -objekt oszilliert und weil sich so zeigt, inwieweit man sich durch Sprache für Sprache verwenden las- sen kann, ohne nur benutzt zu werden. Individualität fungiert hier als Instanz kritischer Kreativität, nicht verstanden als Originalität, sondern als Beobachtungsvermögen. Es schöpft gerade aus dem Un- vermögen, originell zu sein, seine kritische Kraft, indem es, als im- mer schon auf Zeichen verwiesenes Unterscheidungs- und Rekom- binierungspotenzial, Gegebenes aus sich selbst heraus kritisch be- leuchtet. Dabei lassen sich zumindest zwei Formen von Selbstbezüg- lichkeit unterscheiden: die selbstgenügsame Weltwahrnehmung des Ameisenmanns, die sich in einer genüsslich-parasitären Konsumlo- gik ohne größere reflexive Rückkopplungseffekte erschöpft; und auf anderer Ebene eine Form reflexiver Individualität, die den für den Poetry Slam so wichtigen Gedanken des Dichterwettstreits auf die Beziehung des Slammers zum Publikum umlegt. www.medienobservationen.lmu.de 9 Julian Heun stellte in seinem Beitrag die erstgenannte Form kritisch vor aller Augen, indem er die Binnenerzählung vom Ameisenmann durch eine Erzählung parabolisch rahmte, in der ein Ich-Erzähler sowie sein Alter Ego Fabian an einer Weggabelung standen, ohne jeweils entscheiden zu können, wie es weitergehen solle. Zwar führ- te er dadurch seinen Text als Parabel vor und machte deutlich, dass er der Interpretation bedurfte. Anders als Dalibor Marković aller- dings nahm er das Publikum dabei nicht zur Gänze auf den Arm. Es durfte sich zumindest soweit sicher wiegen, dass der Text und seine Lasten nach dem Applaus schon auf Seiten des Vortragenden ver- bleiben würden. Dalibor dagegen subvertierte durch seine Beweis- führung von Beginn an seinen eigenen Text, indem er sich und sein Publikum als Elemente dieses Textes selbst vorführte. Er lieferte mit seiner autoperformativen Slam-Poetologie auf bestechende Weise ei- ne luzide Selbstbeschreibung eines so grundlegenden wie für das Genre spezifischen Potenzials der Slam Poetry. Um es in literaturwissenschaftlichen Begriffen zu formulieren und zu einer These zuzuspitzen: Das große Potenzial dieser literarischen Form liegt nicht allein in einer wie auch immer empirisch zu be- glaubigenden Interaktionsästhetik begründet. Die Ästhetik der Slam Poetry ist eine Ästhetik der Theatralität. In ihr werden noch die Ermöglichungsbedingungen empirischer Interaktion mit dem Pub- likum selbst kritisch beleuchtet, wie sie sich etwa in der spontanen Vergabe der Jurynoten durch zufällig ausgewählte Zuhörer zeigt. Souverän ist, so lässt sich zumindest nach dem Schwabinger Slam festhalten, wer diese Form der Theatralität noch präsentisch so zu inszenieren weiß, dass sie sich ohne (wissenschaftliche) Reflexion überträgt. Dalibor wusste das theatralische Potenzial seiner Beiträge bei seinen Auftritten in der instantanen Interaktion mit dem Publi- kum so zu inszenieren, dass er die Jury zu Höchstpunktzahlen hin- riss. Das theatralische Potenzial der Slam Poetry liegt also nicht so sehr im Live-Moment der Aufführung als solcher. Spätestens wenn der Aufführungstext dieser poetischen Kunstform, etwa im Internet, allgemein verfügbar ist, beleuchtet dieser nicht auf die Gesamtsitua- tion des Vortrags selbst angewiesene Text diese Situation in ihrer Iterabilität. Der für das Genre konstitutive Verweis auf eine stets nicht-identische Wiederholbarkeit der Slam Poetry macht deren www.medienobservationen.lmu.de 10 Aufführungssituation zu einem immer wieder neuen Moment der Vergesellschaftung. Dieser erschöpft sich bei weitem nicht in der kontingenten Zuweisung von Rollen, die das anwesende Publikum von den Poeten trennte. Nicht nur den vereinzelten Jurymitgliedern sind Mitwirkungsrechte an dieser Form der Sozialisierung zugestan- den. Es geht in der Slam Poetry eben nicht allein um die immer wieder neue Kür eines Souveräns für den gerade vergangenen Abend. Indem das Genre sich funktionaler Veranstaltungs- und Verbrei- tungsformate bedient, feiert Slam Poetry gewissermaßen die Souve- ränität der Sprache selbst. Sie besteht darin, Sprecherpositionen zu erzeugen, von denen man annehmen könnte, sie hätten von vornhe- rein schon existiert. Solche Existenzpräsuppositionen aber unter- läuft Slam Poetry in doppelter Hinsicht: Erstens kann sich potenzi- ell jeder aktiv an ihr beteiligen. Zweitens beleuchtet sie auch durch ihre Texte Sprecher- und Hörerpositionen beim Poetry Slam in ih- rer Kontingenz; Dalibor tat dies besonders deutlich. Souverän ist al- so nicht zuletzt jeder Zuhörer, der sich, und sei es ganz allein und nur in aller Stille für sich, zur Teilnahme am Slam durchzuringen weiß. Slam Poetry ist nicht einfach ein lyrisch-dramatisches Genre für eine mehr oder weniger passive Zuhörerschaft. Denn im Grunde kann jeder, der gerne literarisch schreibt und ein gewisses Mindestniveau dabei erreicht, eine Bühne für sich finden. Die Literatur der Poetry Slammer ist vielmehr theatralisch, und zwar weil sie den Rahmen der Aufführungssituation systematisch dann überschreitet, wenn man sie nicht nur einmal erlebt. Zur wiederholten Rezeption aber ist eben nicht die konkrete Bühne, auf der die Slammer tatsächlich ste- hen, notwendig, wenn auch letztere eine auf Iterabilität eingestellte Rezeption nicht ausschließt. Um eine bestimmte Performance noch einmal zu durchleben, genügen aber im Grunde ein paar Klicks und einige Tastenkombinationen. Wenn dann der verehrte Slammer oder die bewunderte Poetin im Internet zu sehen sind, entsteht vor dem inneren Auge eine Bühne, vor der man einige Zeit früher viel- leicht schon einmal saß. Was sich mit dieser Bühne allerdings genau verbindet, ist eine Frage, die sich jeder Einzelne nur im Rahmen ei- ner eigenen Vorstellung beantworten kann, ohne dass diese begriff- lich artikuliert zu sein hätte. Sie muss mit der konkret erlebten Si- www.medienobservationen.lmu.de 11 tuation vor einer tatsächlichen Bühne nicht einmal mehr besonders viel zu tun haben. Man stellt sich einfach etwas so vor, wie es in die- sem Moment wohl niemand sonst tut, in einem in unserer spätmo- dernen Gesellschaft so seltenen Moment allein für sich erlebter In- dividualität. Hätte man also den 1. Schwabinger Poetry Slam mit einem Bier in der Hand optimal genießen wollen, so hätte man, in logischer Kon- sequenz des inzwischen Erläuterten, sehr genau zuhören und vor al- lem kontinuierlich möglichst intensiv mitdenken müssen. Doch bleiben diesbezüglich Zweifel bestehen: Konnte das im Lustspiel- haus anwesende Publikum dem Dienst am Individuum in allen Ein- zelpunkten, die schon zum Zeitpunkt der Aufführung selbst zu ana- lysieren gewesen wären, auch wirklich reflexiv folgen? Immerhin plagt sich der grüblerische Verfasser der vorliegenden Rezension nun schon seit einigen Wochen mit seinem Text herum. Und er hat seine liebe Mühe, bei der Analyse ausgewählter Slam-Beiträge dieje- nigen Individuen hinreichend zu berücksichtigen, um die es doch am allermeisten ginge: das vielstimmig applaudierende Publikum, ohne das die Bühne nicht gewesen wäre, was sie war. Es dürfte verzeihlich sein, interne Besprechungen der Jury, an denen teilzunehmen dem Autor des vorliegenden Textes erlaubt war, nicht zu veröffentlichen. Unvermeidlich aber ist es, einen Vorfall noch zu schildern, der nicht nur ein einzelnes Mitglied aus dem Publikum genauer beleuchtete, sondern alle Teilnehmenden in einer der Aura des Ortes angemessenen Geste kollektiver Lektüre vereinigte: Nachdem man vor Beginn des Dienstes am Slam einen Zehner ent- rollt und ihn an der Kasse abgegeben hatte, war wohl nicht nur der hier schreibende Rezensent erstaunt darüber, dass er als Gegengabe außer einer Eintrittskarte ein kolossales Teleskop-Fernrohr in die Hand gedrückt bekam. Etwas ratlos waren die Gesichter im Publi- kum zwar schon gewesen, aber man nahm die Sichthilfe gerne mit. Man spürte wohl das erlauchte Pendant des Opernglases, witterte Bürgerluft. Sich zu wundern, blieb aber ohnehin keine Zeit, denn wenig später bereits war der Slam in vollem Gang. Die Wörter stürmten. Alles hörte. Plötzlich hatte Bumillo einen enthusiastischen Moment. Er strich eine nicht in die Wertung eingehende Höchstpunktzahl aus der Tabelle mit den Jurynoten. Vor lauter Schwung malte er darü- www.medienobservationen.lmu.de 12 ber hinaus einen schwarzen Strich an die Wand direkt rechts neben der Bühne. Da gab es auf einmal kein Halten mehr. Alles griff zu den riesigen Sichthilfen. Als ob sie von einer einzigen Hand bewegt worden wären, richteten sich die Blicke aus allen Rohren auf die be- sagte Wand. Aller Augen suchten nach dem Strich, den Bumillo dorthin gesetzt hatte und dessen Spuren er mit einem listigen Blick über die Schulter zu verwischen suchte. Jetzt geht alles schnell. Während man im Saal noch gemeinsam nach der Linie sucht, stürmen schwarz vermummte Gestalten die Bühne des 1. Schwabinger Poetry Slams. Es handelt sich um ein Sonder- kommando des Lustspielhauses.4 Sein Anliegen ist verständlich. Es versteht sich wie von selbst. Ein Line-Up wie Koks mag man sich auch im Kabarett-Tempel bei der Münchener Freiheit nicht erlau- ben. Man säubert die Bühne vom Vergleich. Eilig. Still. Und unge- sehen. Nichts erinnert mehr an Koks. Die Bühne ist jetzt ohne jeden Vergleich, eine ambigue Allegorie inkommensurabler Individualität. Die Teleskopfernrohre sind scharfgestellt. Man hat sich gefunden. Aller Augen sehen, dass Bumillo seinen Ausrutscher an der Wand gar nicht zu tilgen versuchte. Er hat sogar etwas darüber notiert: „Hier steht nichts geschrieben.“ 4 Hier freilich ist der Verfasser des vorliegenden Textes auf Mutmaßungen angewiesen. Zwar darf es als wahrscheinlich gelten, dass man im Lustspiel- haus auf Anstand bedacht ist und dies auch in puncto Außendarstellung repräsentiert sehen möchte. Doch bei den maskierten Personen, die die Bühne stürmten, mag es sich nicht notwendigerweise um Mitarbeiter des Kabarett-Tempels gehandelt haben. Es könnte auch eine fundamentalisti- sche Splittergruppe aus den Reihen der geheimen Glaubensbrüderschaft der sich selbst so allerdings nicht nennenden ‚Moralapostel‘ gewesen sein.