— critical WEB StUdiES 2 Von twitterbarrikaden zu amazons Mechanical turk von oLiVER LEiSTERT Paolo Gerbaudo, Tweets and the Streets. Social Media and eignisse v erbindet, ist die Benutzung von Social Media. Contemporary Activism, London (Plutopress) 2012. Aber sogar dies ist, wie Gerbaudo für Madrid und New York City selbst vermerkt, kaum vergleichbar. Während Trebor Scholz (Hg.), Digital Labor. The Internet as Play­ in Spanien das Besetzen des Puerta del Sol eine Folge ground and Factory, new York (Routledge) 2013. einer bereits länger anhaltenden Legitimationskrise der — Regierung, ausgelöst durch Austeritätspolitik und hohe Der Ethnograph und Journalist Paolo Gerbaudo hat 80 Jugend arbeitslosigkeit, war und auf bereits vorhandene Interv iews mit AktivistInnen geführt, die in Kairo (Auf- solidarische Netzwerke aufsetzte, wurde Occupy Wall stand gegen das Mubarak-Regime), Madrid (Indignados) Street von der Kunst- und Aktivismus-Agentur Ad Busters und New York City (Occupy) mitgewirkt haben. In seinem zunächst erfolglos und später auch nur gegen den Wider- Buch Tweets and the Streets versucht er auszuloten, w elche stand von Aktivisten aus New York City im Netz ins Leben Bedeutung Facebook und Twitter in diesen Protesten gerufen. Erst durch den überraschenden Erfolg, dass ein hatten, und besonders interessiert ihn, wie sich Social Platz in unmittelbarer Nähe zur New York Stock Exchange Media in diesen auswirkt: Welche Art der Organisation zum Ort des Austauschs werden konnte, nahm die Dezen- wird durch Social Media unterstützt und wie funktioniert tralisierung in viele weitere Städte der USA ihren Lauf. die Arbeitsteilung. Gerbaudo weiß, dass die Klammer des Buches nicht Zunächst konstatiert er einen Zusammenhang der drei sehr fest ist. Dennoch möchte er aus den drei Beispielen Ereignisse, wobei er Kairo als initiale Zündung begreift; allgemeinere Thesen zu Protest und Social Media ent- die anderen Proteste sieht er als «copy cats» des Tahrir- wickeln. In der einleitenden Einordnung kritisiert er zu Modells. Schon an dieser Stelle möchte man widerspre- Recht Manuel Castells’ These der Netzwerklogik, in der chen. Der Verdacht liegt nahe, dass die drei Ereignisse kein Platz für Affekte, Emotionen und vor allem Körper nur unter einer vorab festgelegten Perspektive einen Zu- vorhanden ist, sondern das Kognitive als Instanz der Ver- sammenhang ergeben, denn es ist nicht evident, dass die netzung postuliert ist. Weniger nachvollziehbar ist seine Aktivisten in Spanien oder den USA den Tahrir-Platz als sehr verkürzte Kritik an Negri / Hardts Begriff der Multitude, Vorbild genommen hätten. Und die Motive, auf die Stra- der zu sehr auf Dezentralisierung und flexible Orte setze. ße (bzw. auf den Platz) zu gehen, w aren ebenfalls andere; Dies überrascht, denn gerade das temporäre B esetzen auch die kulturelle und soziale Einbettung der Proteste von Plätzen ließe sich mit den Begriffen von Negri / Hardt war völlig unterschiedlich. Das einzige, was die drei Er- konstellieren. Gerbaudo aber schlägt ein eigenes Konzept 156 ZfM 10, 1/2014 ZfM10_innen_FINAL_140327.indd 156 27.03.14 13:52 vor. Er findet eine choreography of assembly vor, die bei al- merzielle Social Networking Sites wie Lorea etablieren, len Protesten zu beobachten gewesen sei. Auf der Suche deren Bedeutung gerade für diejenigen, die langfristig am nach dem Organisationsmodell der Proteste wird er in Protest beteiligt waren, ähnlich der von Twitter war. seinen Interviews w iederholt auf ein Prinzip der leaderless- Wichtiger ist dem Autor, allen Ereignissen eine Cho- ness hingewiesen: Alle Interviewten würden institutionel- reographie nachzuweisen. Doch der Begriff allein bringt le Organisationen wie Parteien und Gewerkschaften als bereits Probleme mit sich, behauptet er doch eine ge- kompromittiert ablehnen und allgemein jede top-down-Or- plante top-down-Struktur, die nur noch abgespielt wird. ganisierung als unattraktiv empfinden. Die Leistung Ger- Dies jedoch steht im starken Widerspruch zur Vorstellung baudos liegt darin, an dieser Stelle genau nachzuforschen von leaderlessness. Eine Choreographie bedarf der Pla- und zu erkunden, wie die Proteste entstehen konnten. Das nung. Und wäre dies noch nicht genug: Gerade für die Ergebnis ist jedoch nicht überraschend. Es seien informel- Ereignisse in Kairo, denen Gerbaudo am meisten Platz le, teils bereits länger vorhandene Strukturen gewesen, einräumt, ist von einer Choreographie, die durch Social die einerseits im Netz und andererseits auf dem Platz für Media orchestriert gewesen wäre, einfach nicht zu reden, Organisation und Koordination sorgten. Dies war jedoch da ohne Beteiligung der shaabi, der Offline-Armen, kein bereits bei der sogenannten Antiglobalisierungsbewegung Mubarak hätte gestürzt werden können. Weiterhin ist der Fall; mit der entscheidenden Differenz einer bis in die schade, dass Gerbaudo die Bedeutung von Social Media Technik hinein selbst organisierten Mediensphäre (Stich- nicht ins Verhältnis zur Bedeutung von Mobiltelefonen wort « Indymedia»). setzt: Erst in der Verknüpfung unterschiedlicher Medien- Gerbaudo macht auf etwas anderes aufmerksam: Im techniken und -logiken, wozu auch Flyer, Radio, Fernse- Unterschied zur wenig humorvollen Kommunikation der hen sowie die Ansprachen auf der Straße gehören, ließe Gegengipfelbewegungen zogen die Tweets und Postings sich das Spezifische der Social Media herausfinden. Symp- während der Proteste in Kairo, Madrid und tomatisch ist insofern auch die Suche nach NYC andere Register: weniger politische dem jeweiligen Nukleus der Proteste. Die Analyse auf Textebene, mehr kurze, mitrei- bekannte Facebook-Seite Kullena Khaled ßende und humorvolle Parolen und viele Said, die von einem Expat in Katar, der für schockierende, wachrüttelnde Bilder. Es Google arbeitete, ins Leben gerufen wur- wäre also zu fragen, ob die Semantik und de, ist eben nicht, wie Gerbaudo behaup- Ikonik hier eine neue, z. B. affektive Rolle tet, der Startpunkt, sondern kann nur als hatten und dies vielleicht zur Mobilisierung Symptom verstanden werden, in dem sich der Massen beigetragen hatte. Gerbaudo Sekundärtugenden des Postfordismus, interessiert dies leider nicht und damit wie z. B. PR-Logik und virales Marketing, entgeht ihm ein bisher wenig erforschter als Grammatik und Rhetorik von Politik Aspekt heutiger Protestmedien. in Social Media lesen lassen. Aber gerade Weiterhin versäumt er eine Diskussion diese Spezifizität, die vielleicht die Protes- der Plattformen, ihrer Geschäftsmodelle te entscheidend an Schärfe hat gewinnen und damit auch der Tauglichkeit für Pro- lassen, kann der Autor nicht erkennen, teste (z. B. in Zusammenhang mit Überwa- denn dafür fehlen ihm die Begriffe. Eine chung und daraus folgender Repression).1 Stärke des Buches soll jedoch nicht unge- Auch fehlt eine Diskussion der Reich- nannt bleiben: Da der Autor einige Zeit an weite sozialer Medien. Denn gerade hier den Orten des Protests verbrachte und es würde sich deutlich zeigen, dass die Zusam- schafft, die Gespräche gut in den Fließtext menfassung der drei Ereignisse nicht weit einzuweben, ist es immerhin ein interes- trägt: Wer in Ägypten auf Facebook setzte, santes zeithistorisches Dokument, das die gehörte ausnahmslos einer gehobenen Mit- Ereignisse in Erinnerung behält. telschicht an. In Spanien hingegen, auch dies bleibt im Buch unberichtet, konnten Der Sammelband Digital Labor geht zurück erfahrene soziale Bewegungen nicht-kom- auf eine Konferenz im Jahre 2009 an der BESPRECHUNGEN 157 ZfM10_innen_FINAL_140327.indd 157 27.03.14 13:52 oLiVER LEiSTERT New School in New York, organisiert vom zahlter Medienarbeit nicht neu ist und Herausgeber Trebor Scholz. gleichzeitig Medienproduktion schon Der Band fragt danach, was Arbeit in lange geprägt ist von Arbeitskämpfen. Be- den aktuellen D igitalregimen bedeutet, sonders die Etablierung von Reality-TV in ob z. B. Arbeit dann vorliegt, wenn eine den 1980er Jahren habe der organisierten T ätigkeit potentiell monetisierbar für D ritte creative class einen empfindlichen Schlag ist. In diesem Fall wäre Arbeit von den versetzt, wenn seitdem ganze Produktio- A rbeitenden gar nicht als Arbeit erkennbar. nen mit nicht-organisierten Freelancern Facebook ist vielleicht ein überzeugendes abgedreht werden konnten. Beispiel dieses Arbeitsmodells. Gerade Mit dem Auftreten von sogenannten weil es schwierig geworden ist, Arbeit in Web 2.0 Sites bemerkt Ross eine neue der digitalen Zurichtung der Gesellschaft Q ualität der Verwertung. Durch Data- genau zu bestimmen, fällt es auch schwer, Mining auf persönlichen Postings und andere Aspekte abzugrenzen; die In-Wert- den click signals als Rückfluss zur Verbes- Setzung der öffentlichen kommunikativen serung der Algorithmen hat sich die Wert- Sphäre und die Krise der binären Tren- schöpfung weit ins Private der Menschen nung von öffentlich und privat sind nur hineinbegeben. Der Verkauf des Privaten zwei gleichsam komplizierte Aspekte, die passiert «as if it were some bulk commo- im Band auch einen Niederschlag fin- dity like grain or beets» (S. 19). Ross macht den. Mit der Rückbindung an politische auf den umkämpften Begriff crowdsourcing Ökonomien und Arbeitsverhältnisse ge- aufmerksam, denn oft geht es hierbei im winnen diese Problemfelder an Kontur. semi-industriellen Maßstab um das Akqui- Die oft verkürzten Privacy-Debatten stellen rieren von verwertbaren Ideen und eine fal- sich hier als Debatten von Arbeitsmodellen sche Partizipation an ‹coolen Projekten› im dar. Eine kritische Reflexion, ob eine Debatte über digitale Tausch gegen Symbolisches (Namensnennung). Arbeit nicht an sich schon verkürzt ist, wenn sie nicht auch Ross macht eine interessante Rechnung auf: Die Un- die gesamte Wertschöpfungskette des Digitalen, die heut- unterscheidbarkeit von Arbeit, deren Ertrag anderen zu- zutage in China beginnt, einbezieht, ist ebenso Teil des gutekommt, und affektiver Arbeit, die freiwillig ausgeübt Bandes. Die Beiträge des Bandes sind durchweg kritischer wird, ohne als Arbeit wahrgenommen zu werden, muss und zuweilen kämpferischer Natur und es ist erfrischend als Tribut, oder, wie er sagt, Zinszahlung an diejenigen zu sehen, dass sich die Beitragenden als Beteiligte und Betreiber der digital enclosures gesehen werden, die es nicht nur als Beobachter verstehen. verstanden haben, diese «Falle» aufzustellen. Gleichzei- Der Band ist in vier Teile gegliedert. Die Beiträge des tig durchzieht das Phänomen unbezahlter Arbeit ganze ersten Teils «The Shifting Sites of Labor Markets» könnten Sektoren: Wenn 50 % aller Praktika unbezahlt sind und ei- in ihrer Herangehensweise an das Problem unterschied- nen bezahlten Arbeitsplatz ersetzen, aber gleichzeitig die licher kaum ausfallen. Der hervorragende Eröffnungsbei- Chancen einer Anschlussanstellung nicht höher als ein trag von Andrew Ross «In Search of the Lost Paycheck» Lotteriegewinn sind, darauf weist Ross hin, wird deutlich, steckt souverän das Feld aus historisch-soziologischer dass die Arbeitsverhältnisse vor 40 Jahren als «highly ar- Perspektive ab. Ausgehend vom Verkauf der Plattform tificial product of bargaining in the advanced economies Huffington Post an AOL, der ihre Gründerin zur M illionärin during the temporary postwar truce between capital and machte, ohne finanzielle Beteiligung all derer, die die labor» (S. 26) historisch zu sehen sind. In der Verbindung Plattform erst durch ihre B eiträge interessant gemacht beider Enden der digitalen Wertschöpfungskette, den hatten, tritt Ross einen Schritt zurück, um die Tendenz zu Foxconn-Wanderarbeiterinnen in China und den creative unbezahlter Arbeit in einen Kontext der Medienproduk- workers, die sich ihren Lebensunterhalt durch Patchwork- tionsgeschichte zu stellen. Angefangen beim Leserbrief Jobs zusammenstückeln (custom build workers), erscheint zeichnet er eine Entwicklung in der Medienproduktion nach Ross das Gemeinsame: «they share the existential nach, die überzeugend zeigt, dass das Phänomen unbe- con dition of radical u ncertainty» (S. 30). 158 ZfM 10, 1/2014 ZfM10_innen_FINAL_140327.indd 158 27.03.14 13:52 critical WeB studies 2 Während der Beitrag von Tiziana Terranova sich nur Fragmentierung von Produktion. Aytes versteht Crowd- durch ein kurzes Nachwort von dem gleichnamigen be- sourcing konsequent als neoliberalen «exception appara- reits 2000 erschienenen Text «Free Labour» unterschei- tus» (S. 93), der strukturell dem Gastarbeiterprogramm det, und somit ein Wiederabdruck eines Klassikers der Westdeutschlands vor 50 J ahren ähnele. Denn damals wie Debatte ist, öffnet Sean Cubitt in «The Political Economy heute seien die A rbeitenden per Gesetz Arbeitende ohne of C osmopolis» neue Register: im Anschluss an Rancière Rechte. Eine Differenz bestehe jedoch im Zeitregime. und Derrida wendet er sich der Nicht-Identität der crowd Während die Schicht bei Opel i rgendwann zu Ende war, als hoffnungsvolle Figur einer politischen Transformation kann das Lösen von captchas 3 (dies ist ein Beispiel der Ar- zu. In biopolitischen M anagementstrategien wird Bevöl- beit bei AMT) als unendliche Tätigkeit gelten. kerung stets als single entity berechnet und prognostiziert. In «Fandom as Free Labor» untersucht Abigail De Fällt diese Prämisse der Einheitlichkeit zugunsten einer Kosnik die Aktivitäten von Fans im Internet als neue Form unregierbaren Vielheit, die nach Cubitt nicht-mensch- der Vermarktung, und somit als unbezahlte Arbeit, deren liche Akteure umschließt, wäre eine post-humanistische Bezahlung noch ausstehe. Sie rezipiert einige H auptwerke Cosmop olis im Erscheinen; eine Politik, die die cyborg der Subkulturforschung, um darzustellen, dass fandom a ssemblages verrechnet, muss Grundkategorien wie Nach- eine zeitintensive, kreative Aktivität ist. Das Umbesetzen haltigkeit und Ethik neu verhandeln. von Alltagsgegenständen zu besonderen Objekten sei McKenzie Wark bietet eine Überarbeitung seines ein Prozess, der nicht nur funktional dem des Marketing Hacker-Manifests. Free culture, wie sie u. a. von der Open- ähnlich sei, sondern Alltagsgegenständen neuen Wert ver- Source-Hacker-Bewegung und den Betreibern von Torrent- leihe und sie somit als Waren neu erscheinen ließe. Ob- sites propagiert werde, hätte derzeit nur ein taktisches wohl der Tauschwert der Gegenstände steige, sähen Fans Potential in der Herausforderung von geistigen Eigen- darin keine Waren. Im Internet setze sich der U nterschied tumsregimen und sei kein Ziel als solches. Er warnt vor in der Wahrnehmung fort: Während Fans diverse Plattfor- der gamification als einer Strategie der Übernahme von men durch ihre Kommunikation erst in Wert setzen, sähen Netzwerk-Daten durch die sogenannten sie sich nicht als Arbeitende. Gründe dafür vectoral class, wie er die herrschende Klas- sieht De Kosnik in der Non-Konformität, se im Digitalen nennt. Mit der Forderung, die konstitutiv für fandom sei. Eine finan- Arbeit abzuschaffen und durch ein Grund- zielle Bezahlung würde fandom ins Feld einkommen zu ersetzen, spielt er am Ende der Arbeit verschieben und somit reizlos dem Staat den Ball zu. Dies steht jedoch im machen. Widerspruch zu einer Stärkung der Com- Jodi Dean beschäftigt sich mit Blogs mons (auf Deutsch: die Allmende oder das und Social-Media als Ausdruck einer his- Gemeingut), die er b efürwortet. torisch spezifischen Erscheinung des kom- Im zweiten Teil «Interrogating Modes munikativen Kapitalismus. Sie bezieht sich of Digital Labor» beleuchtet jeder Beitrag auf Agamben, der in Die kommende Gemein- konkrete Fälle heutiger digitaler Arbeits- schaft 4 das Verschwinden der M asse analy- verhältnisse. Das Stichwort ist zunächst siert. Die «whatever beings» (auf deutsch die Fragmentierung von Arbeitsprozessen etwa «das beliebige Sein») sind nach und Arbeitenden in crowdsourcing-Plattfor- Agamben Singularitäten der Masse; immer men. Ayhan Aytes nimmt Amazons Mecha- schon identitätslos («Sein wie es ist» 5). nical Turk (AMT) 2 unter die Lupe und zeigt, «Agamben accepts the mass without its dass crowdsourcing als neoliberales Steue- collective form, thereby reformulating the rungsinstrument eingesetzt wird, denn die momentary joy of dissolution into a whole Arbeitenden kennen nur einen maximal as the singularity of belonging» (S. 140). k leinen Arbeitsschritt in einer Produkti- Dies weitergedacht, sind personalized media onskette und haben keinen Kontakt zu als Massenpraxis nur noch Ausdrücke von oder Kenntnis von weiteren am Produkt Kommunikativität als solcher. Schriftspra- Beteiligten. Dies ist die größtmögliche che erhalte damit die spektakuläre Form BESPRECHUNGEN 159 ZfM10_innen_FINAL_140327.indd 159 27.03.14 13:52 oLiVER LEiSTERT von Bildern, von der sich zuallererst Indices produzieren McLuhan und Baudrillard an: Medien als eine technolo- lassen, die Dean parad igmatisch materialisiert in der tag gische Rezession des Realen im Vektor des Kapitalismus. cloud erkennt: Allein die Häufigkeit von Wörtern spielt In ihrer Analyse von World of Warcraft zeigt Lisa Nakamura, hier eine Rolle. Dean eröffnet mit ihrem Beitrag den Ho- dass die sogenannten gold seller oder farmer (Spieler, die rizont eines Denkens über Medien, das den Verlust von virtuelle Güter an andere Spieler gegen Geld verkau- Orientierung / Signifik ation mit dem Zusammenfall von fen) rassistischen Zuschreibungen von weiten Teilen der P artizipation verschränkt («participation becomes in- gaming community ausgesetzt sind. Obwohl der größte Teil distinguishable from personalization», S. 140) und damit der asiatischen Spieler Freizeitspieler sind, werden sie den oft affirmativen Partizipationsdiskurs zu Web 2.0 als stereotyp als Immigranten adressiert. Dies sei ein Wieder- Symptom des kommunikativen Kapitalismus einordnet. einführen von Rassismen in eine soziale Welt, die gerade Den dritten Teil, «The Violence of Participation», durch ihre Virtualität davon bisher wenig betroffen gewe- eröffnet Mark Andrejevic mit «Estranged Free Labor». sen sei. Es wiederhole sich ein anti-asiatischer Diskurs, Zunächst stellt er dar, dass auf Überwachung der Kon- der in den USA an etablierte rassistische Diskurse gegen sumenten aufgebaute Plattformen Konsumwünsche lei- Chinesen anknüpfe: Chinesen als austauschbare und ten und generieren. Die Ansicht, dass es sich dabei um ununterscheidbare, maschinenähnliche Arbeiter ohne privacy issues handele, hält er zu Recht für eine Redukti- Individualität. Dies drücke sich besonders in von Usern on, die ein gesellschaftliches Problem auf individuelle produzierten machinimas (Nutzung der Graphic Engines Entscheidungen reduziert. Die Differenz zwischen der von Computerspielen zur Produktion von Filmsequen- Ausbeutung im sweat shop und bei Facebook sei durch zen) aus, die Nakamura deshalb in die Genealogie der eine andere Art des Zwangs konfiguriert. In den Platt- minstrel shows eingliedert. Für Nakamura steht der Avatar formen ist der Zwang strukturell eingelassen. Die freien genau am Kreuzungspunkt einer Produktion von Subjek- Entscheidungen der User sind Ergebnisse dieses vor- tivität und Person im Kapitalismus: «the privilege of ava- strukturierten Milieus. Ausbeutung in tarial self-possession is, like capital itself, der digitalen Domäne sei insofern immer unevenly distributed across geopolitical durch Kontrollverlust der e igenen kreati- borders» (S. 200). ven Aktivität gekennzeichnet. Facebook lässt sich deshalb als s oziale Fabrik Den vierten Teil «Organized Networks in bezeichnen. an Age of Vulnerable Publics» eröffnet Jonathan Beller beschreibt in seinem Michel Bauwens, der wiederholt argumen- Beitrag «Digitality and the Media of Dis- tiert, dass peer production das Verhältnis possession» den Umschlag von Qualität von commons und Kapital neu strukturiere. in Quantität aller Bildproduktionen und Heutige peer production antizipiere bereits künstlerischen Leistungen durch deren keimhaft ein auf Solidarität gründendes kapitalistische Verwertung. Denken in Gesellschaftsmodell. Bauwens äußert sich Zahlen habe bereits die Photographie nicht, wie die Transition vonstattengehen ausgemacht (Flusser). Das post-industri- wird, und es bleibt offen, ob und wie sich elle und informatisch geprägte technische peer production jenseits von Bits und Bytes Bild e rzeuge einen evolutionären Vektor, etablieren könnte. dem sich niemand entziehen könne: «the Christian Fuchs skizziert eine marxis- vanishing mediator is the medium of the tische Theorie des Internets in extremer media» (S. 172). Nach Beller sind Finanzi- Kurzform. Indem er recht dogmatisch alismus und Digitalismus analytisch un- Marx’sche Profit- und Wertformeln auf trennbar. Tiefe strukturelle und epistemi- kommerzielle Plattformen adaptiert, wer- sche Veränderungen sind durch Medien den mögliche Einsprüche kritischerer geprägt und finden unabhängig vom Inhalt A daptionen M arx’scher Theorie auf die der Medien statt. In der Betrachtung von Sphäre des Symbolischen und Immate- Medien als Effektoren schließt sich Beller riellen erst gar nicht vernehmbar. Damit 160 ZfM 10, 1/2014 ZfM10_innen_FINAL_140327.indd 160 27.03.14 13:52 critical WeB studies 2 wird es einfach für ihn, alle Plattformen des Internets, die nicht vergesellschaftet sind, als nicht partizipatorisch zu b ezeichnen. Soeynke Zehle und Ned Rossiter beschäftigen sich mit den commons im Rahmen einer biopolitischen assemblage, die sich um Logistik organisiert. Logistik, die zunehmend durchalgorithmisiert und computergesteuert funktio- niere, sei ein Kernmerkmal des Neoliberalismus. Die p olitische Herausforderung bestehe deshalb im Entwerfen unkontrollierter Techniken, die sich der Kontrolle der Lo- gistik entziehen. Mit Anonymous, Occupy und Wikileaks erscheine eine Serie scheinbar zusammenhangloser ge- nerativer Politiken. Es gehe deshalb darum, die Gramma- tiken dieser Iterationen zu verstehen, ihre Elemente und konstituierenden Praxen, um diese neuen Erscheinungen nichtrepräsentionaler Politik in eine neue algorithmische Öffentlichkeit zu überführen. Insgesamt bildet der Band die Diskussion zur digita- len Arbeit facettenreich und hervorragend ab. Er ist the- oretisch herausfordernd; durch die konkreten Analysen bleibt stets gegenwärtig, dass es um konkrete Arbeits- bedingungen und den Wandel von Arbeit geht. Diese Kopplung avancierter Theorieproduktion mit zeitgenös- sischen Fallstudien macht den Band zu einem seltenen Glücksfall, der kritische Impulse auch für eine deutsch- sprachige Medienwissenschaft, die sich gesellschaftlichen Debatten zu oft und zu gern entzieht, liefern kann. — 1 Facebook führte erst in- 3 Captchas sind umgedrehte mitten des Aufstands in Tunesien, Turing-Tests. Sie stellen eine Ende 2011, die zwangsweise Aufgabe, die vom Computer HTTPS-Verschlüsselung ein; nicht gelöst werden können soll, vorher konnte jeder einigermaßen z. B. kurze Buchstabenreihen geübte Hacker mit Zugriff auf die als Grafikdatei, die verzerrt wenigen Netzknotenpunkte in der dargestellt sind, und damit der Region die Kommunikation auf- M aschinenlesbarkeit entzogen zeichnen und kompromittieren. sind. Sie sollen Bots davon abhal- Desweiteren liegt hier genau eine ten, automatisierten Zugang zu Differenz zur Gegengipfelbewe- einem Webservice zu erhalten. gung. Indymedia läuft bis heute 4 Giorgio Agamben, Die auf Servern, die von Aktivisten kommende Gemeinschaft, Berlin gepflegt werden, um z. B. das Log- (Merve) 2003. ging von Zugriffen auf die Server 5 Ebd., 9. minimal zu halten. 2 Das etwas zynische Motto von AMT lautet «artificial artificial intelligence» und meint Micro- jobs, die noch nicht von Maschinen erledigt werden können. BESPRECHUNGEN 161 ZfM10_innen_FINAL_140327.indd 161 27.03.14 13:52