Peter Christian Hall (Hg.): Ein Bild der deutschen Wirklichkeit. Der Integrationsauftrag des Fernsehens im Prozeß der deutschen Einheit Mainz: v. Hase & Koehler 1992 (Mainzer Tage der Fernsehkritik, Bel.XXIV), 301 S„ DM 30,- 1992 gerieten die Mainzer Tage der Fernsehkritik, eine traditionsreiche Veranstaltung des ZDF, selbst zum Gegenstand der Kritik. Es handele sich um ein Ritual, alljährlich würden dieselben Schlachten (öffentlich-rechtli- che gegen private Rundfunkveranstalter) geschlagen und dieselben Klagen (über die sinkende Programmqualität) angestimmt. Mit der Publikation der Vorjahres-Tagung bestätigt das zweite Deutsche Fernsehen, mutmaßlich unfreiwillig, diese Kritik. Denn weniger sorgfältig ediert sind die· Referate und Diskussionen vom Lerchenberg noch nie publiziert worden. Die Feh- lerliste ist lang. Da firmiert das WDR-Magazin ZAK unter dem Titel "Zack" (S.134 und S.257), aus dem ostdeutschen Filmregisseur Heiner Ca- 137 row wird Herr Karo (S.202), der britische Korrespondent David Marsh findet sich mehrfach unter dem Namen "March" wieder (S.233ff.), das Wort "Kommunikationsräume" will dem Setzer auf einer Seite (S.234) gleich zweimal nicht orthographisch korrekt gelingen. Und auch die alten Schlachten lassen sich mühelos wiederfinden: nämlich in einem Podiums- gespräch von Vertretern öffentlich-rechtlicher und privater Fernsehpro- gramme. Die beiderseitigen Klagen über Wettbewerbsnachteile sind bis zum Überdruß bekannt. Für Schaufenster-Podien dieser Art sollten sich die Mainzer Tage zukünftig zu schade sein. Genug der unfreundlichen Anmerkungen - schließlich besaß fast propheti- sche Qualität, wer das Tagungsthema "Integrationsauftrag" im Frühjahr 1991 formulierte. Ein halbes Jahr nach der deutschen Vereinigung war kei- nesfalls absehbar, wie schwierig sich die Ost-West-Integration - auch und gerade in Medien und Programmen - gestalten würde. Das hier dokumen- tierte Meinungsbild läßt sich, vereinfacht, so wiedergeben: Die meisten Journalisten äußern Skepsis gegenüber einem solchen "Auftrag"; wie jede andere inhaltliche Vorgabe könne auch diese die eigentliche Aufgabe der Zunft einschränken oder verhindern - zu informieren, ereignisorientiert zu berichten. Mehr Verständnis für den Integrationsauftrag bekunden Juristen und ZDF-Intendant Dieter Stolte; wer einen Tendenzfunk ablehne, so sein Fazit, dem bleibe keine Alternative zum Integrationsrundfunk. Im zugleich anregendsten und amüsantesten Teil der Veranstaltung skiz- zierten sechs Kritiker, wie die ideale Integrationssendung im deutschen Fernsehen aussehen könnte: Ingrid Scheithauer plädiert für eine Serie Lieb- ling Leipzig nach dem Vorbild des in Kreuzberg ansässigen prominenten Rechtsanwalts. Winfried Geldner fiel eine Folge der ZDF-Reihe Was nun... mit Jürgen Möllemann als verbindliches Modell ein; erfreulich unnachgiebig hätten die Interviewer Klaus Bresser und Klaus-Peter Sieg- loch den FDP-Minister und PR-Experten ins Kreuzfeuer genommen. Sy- bille Simon-Zülch erinnert an eine ZDF-Diskussion vom April 1991 über die Familie als Lebensform mit ostdeutschen und westdeutschen Teil- nehmenden als beispielhaftes Gespräch. Mathias Wedel lobt Elke Heiden- reich, Talkmasterin in Live über den grünen Klee: Sie wirke wie "die Rä- cherin der Sprachlosen zu Hause" (S.166). Patrick Bahners analysiert die Lindenstraße als soziales System im Luhmannschen Sinne: Das Struktur- prinzip dieser ARD-Serie - wie auch, kühner Vergleich, unseres Staates - liege genau darin: "Es ist Woche für Woche anders und es bleibt doch alles beim alten" (S.171). Und Dietrich Leder votiert für den Dokumentarfilm DDR - Ohne Titel von Harry Rag alias Peter Bratz, ausgestrahlt von West 3 im November 1990. 138 Den meisten Kritikern ist nicht wohl bei dem Begriff und dem Auftrag der Integration. Skepsis hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Fernsehens, durch Sendungen gegen ökonomische, gesellschaftliche und mentale Wirk- lichkeit zu obsiegen, dominieren in ihren Statements. Wie hoch die menta- len Hürden zur deutschen Einheit tatsächlich sind, hatte am Beginn der Ta- gung bereits Christoph Dieckmann formuliert: "Von deutsch-deutscher In- tegration wird erst dann. zu reden sein, wenn der Westen den 68er NVA- Einmarsch in die Tschechoslowakei ebenso zur deutschen Geschichte ad- optiert wie der Osten seit jeher die bundesdeutschen Fußball-Weltmeister- schaftstitel" (S.37). Lesenswert ist zudem ein Gespräch mit "Blicken über den engeren Hori- zont: Deutschland, Deutschland - ist das alles?" Die innenpolitische Fixie- rung von Nachrichten und Magazinen drohe in einer deutschen Nabelschau zu enden. Dieser Gefahr setzen mehrere Teilnehmer entgegen, nirgendwo könnten sich die Zuschauer umfangreicher über das Ausland, auch über die Dritte Welt informieren, wie im bundesdeutschen Fernsehen. Für erschreckend viele Beiträge und Diskussionen der 24. Mainzer Tage der Fernseh-Kritik gilt das Resümee von Herbert Riehl-Heyse (Süddeutsche Zeitung), geäußert in der abschließenden Tagungsrunde: "Ich fürchte, daß das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen durch diese zwei Tage nicht wesentlich gestärkt worden ist." Und: "Man kann mit Sicherheit keine integrativen Sendungen machen, keine integrativen Artikel schreiben. [„.] Ich denke, wir müßten es wenigstens schaffen, daß wir Medien ma- chen, in denen die Menschen nicht aufeinander gehetzt werden" (S.279f.). Rolf Geserick (Marl)