Lena Stölzl [rezens.tfm] 2014/2 Rezension zu Reinhold Görling: Szenen der Gewalt. Folter und Film von Rossellini bis Bigelow. Bielefeld: transcript 2014. ISBN 978-3-8376-2654-4. 216 S. Preis: € 29,99. von Lena Stölzl Mit Szenen der Gewalt legt Reinhold Görling, Profes‐ sor für Medienwissenschaft mit kulturwissenschaft‐ licher Orientierung an der Heinrich-Heine-Universi‐ tät Düsseldorf, nun erstmals eine Monografie zum Verhältnis von Film und Folter vor. Auf gestrafften zweihundert Seiten zieht er Resümee über ein The‐ ma, das er selbst gemeinsam mit anderen jahrelang in sehr umfangreicher Weise befragt hat. Dabei schafft er es, die aus interdisziplinärer Zusammenar‐ beit gezogenen Erkenntnisse in eine Rekapitulation des modernen Films, der laut Serge Daney mit der Folterszene in Roma, città aperta anfängt, einzubau‐ en. "Wiederkehr der Folter" heißt das von der Volkswa‐ Der Folter-Begriff, den Görling hier beschreibt, er‐ gen-Stiftung im Zeitraum zwischen 2009 und 2011 schließt sich vor allem vor dem Hintergrund dieser geförderte Projekt, das Görling gemeinsam mit dem interdisziplinären Zusammenarbeit. Zweck der Fol‐ Juristen Karsten Altenhain und dem Psychiater Jo‐ ter ist eine Form der Auslöschung, das Trauma der hannes Kruse ins Leben gerufen hat. Daraus ging aufgeplatzten Leerstelle wird zentral. Deshalb macht nicht nur ein gemeinsam herausgegebener Band es Sinn, den Folter-Begriff von seinen Rändern her gleichen Namens hervor (Göttingen: V&R Press zu schildern, ausgehend von den Szenarien, in de‐ 2013), sondern auch zwei weitere Publikationen: Die nen sie stattfindet. Damit sind zunächst die äußeren Verletzbarkeit des Menschen. Folter und Politik der Af‐ Umstände gemeint: Krieg, staatliche Gewaltregime, fekte (München: Fink 2011) und Folterbilder und –nar‐ Terrorismus, Gefängnis, Konzentrationslager. Doch rationen. Verhältnisse zwischen Fiktion und Wirklichkeit Folter als Handlung entspringt nicht nur diesen Zu‐ (gemeinsam mit Julia Bee, Johannes Kruse und Elke sammenhängen, sie selbst zersetzt und generiert Mühlheimer, Göttingen: V&R Press 2013). Gerade Verhältnisse neu, indem sie in eine Wechselwirkung die beiden letztgenannten Titel deuten in die Rich‐ mit ihrem Schauplatz tritt. Sie bedingt einen Ort hin tung von Potentialen der ästhetischen Darstellung zu einer Szene der Gewalt, die wiederum in einer und Narrativierung von Folter. Es handelt sich dem‐ klaren Zuweisung der Rollen besteht: Opfer sind nach um ein biopolitisch-psychologisches Phäno‐ jene, denen der Platz in der Gesellschaft entzogen men im Spiegel kulturtechnischer Methoden. werden soll. Folter schafft demnach ein Setting, das Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2014/2 | Veröffentlicht: 2014-12-22 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r309 Lena Stölzl [rezens.tfm] 2014/2 auf Entortung angelegt ist, das also weder einem In‐ "extremste[n] Form der Einschreibung" (S. 115). Da‐ nen noch einem Außen entspricht, und zugleich in bei geht es ihm um die Analyse des Folterszenarios der extremen Nähe der körperlichen Verletzung für im Spiegel der Filmkunst, aber weniger in seiner eine größtmögliche Distanzierung kühl berechnete zeitlichen Entwicklung, als in der Ausformung un‐ Sorge trägt. "Macht muss etwas zirkulieren lassen, terschiedlicher Aspekte und Merkmale. So wird das nicht selbst sprechen kann, etwas, dem der Ort nicht nur eine ästhetische Genese der Grausamkeit verweigert wird" (S. 115). in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfasst, sondern auch der Wandel der gesellschaftlichen Po‐ Mit Szenen der Gewalt macht Görling dieses Ver‐ sitionierung in Bezug auf das Phänomen und seine ständnis der Folter als Akt der Repräsentation nun Komplexität reflektiert. nochmal speziell hinsichtlich des Films deutlich, in‐ dem er die audiovisuelle Interpretation von Folter Wie schon erwähnt, beginnt Görling seine Studie bei als eine Politik der Affekte deutet, die aus der Repro‐ Rossellini. Im zugehörigen Kapitel "Hinter offenen duktion spezifischer Szenarien resultiert. Der Türen" (S. 19) wird die Rahmenhandlung der Folter (Un)Ort der Folter wird über die Verbildlichung in in doppeltem Sinn analysiert: einerseits die gesell‐ seiner Hybridität gedoppelt bzw. die den Ort entzie‐ schaftliche Voraussetzung der Ausgrenzung, ande‐ hende Handlung verstärkt die Macht des Bildes als rerseits die Fragmentierung der Bilder durch den be‐ Schauplatz, als Medium des Szenarios. "Gewalt re‐ reits angedeuteten Einblick durch Türrahmen in duziert Leben auf reine Objekthaftigkeit. Es ist rich‐ Roma, città aperta. Es sind detaillierte Schilderungen, tig, dass Macht und Gewalt sich in den anderen ein‐ Analysen an szenischen Miniaturen, die die Darstel‐ schreiben, aber in einem Gefüge der Macht müssen lungsmethoden der Folter in ihren Fraktalen zeigt. die Bilder der so markierten Körper der anderen Auch wenn im Folgenden anhand von Salò (Pasoli‐ auch zirkulieren. Es ist exakt das Bild, das die Un‐ ni), 1984 (Orwell und Radford) und Was Wo (Be‐ sichtbarkeit sichtbar macht: als Bild dessen, das in ei‐ ckett) der Selbstzweck der Folter ("The object of tor‐ nem Gefüge der Macht keinen Platz hat." (S. 115) ture is torture", S. 57) entlang ihrer Überrepräsentati‐ Demnach ist es die dem Bild eigene Ambiguität, in on entlarvt wird, bleibt Görlings Blick stets dem lu‐ der Sehen immer auch Nicht-Sehen bedeutet, die penvergrößerten Fragment verpflichtet, zielgerichtet der gesellschaftlichen Grenzüberschreitung der Fol‐ auf die überlappende Wirkung der Szene der Ge‐ ter entspricht. walt. So attestiert er den Bildern in La jetée (Marker) ‐ und Hunger (McQueen) die Fähigkeit einer nachge‐Das Kino versteht Görling dabei als Mittel des Aus richteten Zeugenschaft ("Bilder wie Geständnisse", S. tauschs, geprägt "von der Diskontinuität […], die 95): "Schon die Bilder ohne Gedächtnis und Zukunft der Tod ist" (S. 8). Als Reaktion auf reale Bedrohun‐ werden montiert mit Spuren und Zeichen." (S. 103) gen werden hier Phantasmen der Grausamkeit ent‐ Im letzten Kapitel, "Besessenheit: Szenen und Bilder" worfen, die ihrerseits manchmal wieder als Vorlage (S. 145) widmet sich Görling den neuesten Produkti‐ für neue Gräuel dienen. Beispielgebend hierfür sei onen zum Thema (Bigelow, Morris und Oppenhei‐ die Kongruenz gewisser Einstellungen aus Pasolinis ‐ mer), nebenbei auch die ersten, die er eindeutig kri‐Salò mit den berüchtigt gewordenen Private-Tor tisiert (vor allem Bigelow). Hauptsächlich werden ture-Porn-Aufnahmen aus Abu Ghraib. "[D]as Kino hier die Aspekte der Selbstbezüglichkeit des Affekts, ist mithin nicht nur zeitlich nachgeordneter Teil die‐ sowie dessen Inbezugsetzen zur Unmöglichkeit der ser Bewegung, es legt selbst Spuren, die wir wieder‐ Erfahrung herausgearbeitet und die Szenarios mit um verfolgen." (S. 9f.) Auch die Einteilung des Bu‐ den vorgehenden verglichen. In einer Welt der "sich ches entspricht dieser Bewegung der Wechselwir‐ vervielfältigenden Rezeptionszusammenhänge" (S. kung. In beinah exakt chronologischer Reihenfolge 170) müssen die Bilder geradezu auf das Ungesehene durchsucht Görling die Geschichte des modernen verweisen. Films nach Bildern dieser entortenden Gewalt, der Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2014/2 | Veröffentlicht: 2014-12-22 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r309 Lena Stölzl [rezens.tfm] 2014/2 Dies wird möglich, weil im Modell des Szenarios das kann." (S. 186) Hier wird deutlich, dass die genaue Bild selbst zum Akteur in einem Netzwerk von auf‐ Hinterfragung der Schauplätze im Grunde von Be‐ einander verweisenden Handlungsfragmenten wird, ginn an die Frage nach der Schaulust in diesen Sze‐ die zusammen mehr ergeben als die Summe ihrer narios mitstellt. Einziger Nachteil der Publikation Teile (Theorie nach Diana Taylor, vgl. S. 151). So bleibt der Eindruck einer nachlässigen Redaktion. führt die Einschreibung klandestiner Folterhandlun‐ Hinsichtlich der thematischen Komplexität sind die gen in das öffentliche Bewusstsein zu Rissen im ge‐ doch eher zahlreichen formalen Fehler und Unge‐ sellschaftlichen Leben: das Wissen um die im Gehei‐ nauigkeiten aber durchaus nachzusehen. Alles in al‐ men stattfindende Handlung ist selbst Teil der Fol‐ lem eine gelungene Studie, die der Überladung des ter, weil sie für die grausame Ubiquität sorgt, ohne Begriffs im gegenwärtigen Diskurs eklektisch aber die sie an Bedrohung verlöre. Und "[d]ie Kamera hat detailgenau und in stichprobenartigen wie umfas‐ den Effekt, dass diese Umwandlung des Ortes zur senden Analysen begegnet. Bühne an fast jedem beliebigen Ort geschehen Autor/innen-Biografie Lena Stölzl Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und Berlin. Fokus auf filmische Bildstrukturen, Historizität, Kulturgeschichte und Medientheorie. Freie Forschungsarbeiten zu "Sekundäre Zeugenschaft: Me‐ dien als Zeugen" und "Bilder der Abhängigkeit und Transformationen der Erinnerung im Neuen Argentini‐ schen Kino". Zurzeit Universitätsassistentin (prae-doc) für Theorie des Films am tfm | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien mit einem Dissertationsprojekt zu bildlichen Topographien. Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2014/2 | Veröffentlicht: 2014-12-22 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r309