Jana Zündel [rezens.tfm] 2023/1 Rezension zu Christian Richter: FERNSEHEN – NETFLIX – YOUTUBE. Zur Fernsehhaftigkeit von On-Demand-Angeboten. Bielefeld: transcript 2020. ISBN: 978-3-8376-5481-3. 372 Seiten, 45,00 €. DOI: 10.1515/9783839454817. von Jana Zündel In seiner Dissertation fragt Christian Richter gerade- heraus nach dem "gemeinsam geteilten Kern" von klassischem, linearem Fernsehen und On-Demand- Angeboten, die sich als deren überlegener Ersatz prä- sentieren (S. 20). Damit reiht sich die Schrift in eine ganze Reihe an Studien der vergangenen Jahre ein, die das "alte" Fernsehen im digitalen und Online-Fernse- hen aufzuspüren suchen oder von einer "Neuerfin- dung" des Fernsehens durch On-Demand- und Streamingdienste sprechen (u. a. Gripsrud 2010; Ben- nett/Strange 2011; Ahl 2014; Jenner 2018; Johnson 2019; versteht der Autor als eine vornehmlich ästhetische Bruun 2020). Zugleich wendet sich die Studie von und dramaturgisch-inszenatorische Kategorie. Die Beginn an sehr deutlich gegen die geläufige Abwer- Studie fragt also nicht, welche On-Demand-Angebote tung linearer Fernsehangebote, die Idealisierung des aus technologischer, institutioneller oder kulturprak- Digitalen und das medienübergreifende Narrativ, tischer Sicht wie Fernsehen funktionieren, sondern dass neu immer gleich besser bedeute. recht bescheiden danach, was wie Fernsehen aussieht – In den einleitenden Kapiteln übt Richter sogleich Kri- und in der Folge als solches verstanden werden tik an künstlichen Dichotomien wie analog vs. digital, könnte. passiver vs. aktiver Medienkonsum sowie Push- vs. Nach diesem "Vorspann" (S. 15-43) geht die Disserta- Pull-Medien (S. 21ff). Zwar lassen sich diese Gegen- tionsschrift der Fernsehhaftigkeit von Netflix und überstellungen hierbei nicht auflösen. Auch will die YouTube mit umfassenden Beispielanalysen auf den Studie, so Richter, bewusst nicht von der "verkürzten Grund, wobei ein deutlicher Schwerpunkt auf den Wahrnehmung des Fernsehens" (S. 43) abrücken, sie televisionären Darstellungs- und Inszenierungs- im Gegenteil eher produktiv machen. Der im "Vor- formen auf YouTube liegt. Die gewählten Untersu- spann"-Kapitel demonstrierte diskurs- und theoriekri- chungsgegenstände stehen gewissermaßen im maxi- tische Ansatz zeigt jedoch auf, dass sich bei allen malen Kontrast zueinander: Netflix und YouTube ver- Heilsversprechen des Digitalen eines an On-Demand- treten als geschlossene, abonnementpflichtige Platt- Angeboten nicht verleugnen lässt: ihre "Televisionizi- form, auf deren Inhalte die User*innen keinen Einfluss tät", d. h. eine jenseits des Fernsehens fortbestehende haben, bzw. offenes, weitgehend kostenfreies Video- "Fernsehhaftigkeit" (S. 24). Diese Fernsehhaftigkeit portal (der kostenpflichtige Bereich des Videoportals, Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2023/1 | Veröffentlichungsdatum: 2023-05-11 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2023-1 | doi:10.25365/rezens-2023-1-08 Jana Zündel [rezens.tfm] 2023/1 YouTube Premium, wurde in der Analyse nicht wahrnehmung und -wirkung als kontinuierlicher berücksichtigt), das von privaten wie professionellen Fluss (S. 86-94). Eine wesentliche Erkenntnis aus der Akteuren bespielt wird, zwei sehr verschiedene On- Analyse von YouTubes Interface und Clip-Ästhetik: Demand-Modelle (S. 27f) und damit auch unterschied- Das Zusammenstellen von Programmeinheiten nach liche Televisionizitäten. Abgesehen vom kompakten Ähnlichkeitsprinzipien ist keine völlig neue Erfin- Kapitel 2 ("Vom Programm zur Programmierung"), dung von On-Demand-Plattformen und Algorithmen, das sich dann doch kurz und kompakt den Brüchen sondern schon immer auch eine Prämisse der klas- zwischen TV und VoD aus techno- und programm- sisch-redaktionellen Programmplanung im Fernsehen logischer Sicht zuwendet, interessiert sich die Studie (S. 124). Angesichts des durch Interfaces dekonstruier- allerdings weniger für Divergenzen als für die großen ten Programmflusses schlägt Richter vor, das Konzept gemeinsamen Nenner. Als theoretische Bezugskon- des Flow von On-Demand-Fernsehangeboten in drei zepte und zugleich Hauptkapitel fungieren deshalb Richtungen weiterzudenken. Erstens im Hinblick auf vier fernsehwissenschaftliche Buzzwords: Flow die automatisierte Wiedergabe ("Auto-Flow", S. 111- (Kap. 3), Serialität (4), Liveness (5), Adressierung (6). 116); zweitens in Bezug auf die kontinuierliche Emp- fehlung weiterer TV-Inhalte durch die untersuchten Die tradierten Zuschreibungen arbeitet der Autor in Plattformen ("Vorschlags-Flow", S. 123-127); und drit- kleinteiligen Unterkapiteln und mittels klassischer tens hinsichtlich clip- und episodenübergreifender Er- Fernsehtheorien (u. a. Stanley Cavell, Mary Ann zählstrukturen (der "narrative Flow", S. 129-142). Letz- Doane, John Ellis, Lorenz Engell, Knut Hickethier, teren spricht der Autor eine besonders langfristige Raymond Williams u. v. m.) auf. Dadurch eignet sich Wirkmacht zu, zugleich leitet seine Analyse narrativer die Studie sehr gut als Einstiegslektüre zu einem fern- Verkettungen auf den YouTube-Kanälen BibisBeau- sehwissenschaftlichen Studium. Notwendigerweise tyPalace und Julienco sinnigerweise in das nächste Ka- wird dabei aber auch vereinfacht und generalisiert, pitel zu Serialität über. Hinsichtlich der ersten beiden anstatt auf die Komplexitäten und Ambivalenzen von Begriffe ist anzumerken, dass diese doch stark an zwei Fernsehhaftigkeit näher einzugehen. Die Argumenta- bereits vorgenommene Aktualisierungen von Flow er- tion, dass sich Prinzipien von Flow, Serialität und innern: "Entrance Flow" (Perks 2015, S. xxii; Jen- Liveness bei On-Demand-Angeboten fortschreiben, ist ner 2018, S. 134) und "Insulated Flow" (vgl. Perks 2015, bei den YouTube-Analysen meist passgenauer als in S. xxiv). Diese Referenzen wurden zur Herleitung von Bezug auf Netflix. Hier wären differenziertere Auto- und Vorschlags-Flow aber nicht herangezogen. Betrachtungen notwendig, u. a. zu den mittlerweile doch verschobenen oder eliminierten Rezeptionszyk- Tatsächlich stellt sich an mancher Stelle in dieser Stu- len im Zusammenhang mit individueller Sichtung die der Eindruck ein, dass zwar alle theoretischen und Binge-Watching (S. 170-179), sowie im Hinblick Klassiker angeführt, einige neuere Arbeiten zu auf die staffelweise veröffentlichten "Netflix Origi- Online-Fernsehen, Netflix oder Binge-Watching aber nals" (anstatt der kanonischen "Qualitätsserien", die ausgelassen wurden, die die vorliegenden Thesen von ursprünglich aus dem linearen Fernsehen stammen, Flow und Serialität der On-Demand-Angebote S. 234-239, 266). gestützt hätten (z. B. McDonald/Smith-Rowsey 2016; Barker/Wiatrowski 2017; Lotz 2017, 2018; Jenner 2018). Kapitel 3 arbeitet sich anhand auf YouTube veröffent- Trotz dieser gelegentlichen Lücken findet in Kapitel 4 lichter Clips aus dem ZDF-Format Fernsehgarten an eine umfassende Diskussion über die "Kultur des dem fernsehwissenschaftlich unausweichlichen, aber Seriellen" statt – aus narrato- wie aus produktions- auch strapazierten Begriff des Flows ab. Richter per- und distributionslogischer Sicht. Den Grunddimensi- spektiviert das Konzept sowohl auf die "Gegenwarts- onen von Serialität, Wiederholung und Variation wer- bezogenheit" als auch auf die Zukunftsorientierung den je gleich zwei Unterkapitel gewidmet, um sowohl des Fernsehens (Nowness vs. Nextness; S. 73-86) und ihre gesellschaftlich-kulturellen als auch ihre rezepti- berücksichtigt die segmentierenden, partikularisieren- onslogischen Funktionen zu bestimmen. Lediglich der den Operationen des Flows ebenso wie seine Außen- Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2023/1 | Veröffentlichungsdatum: 2023-05-11 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2023-1 | doi:10.25365/rezens-2023-1-08 Jana Zündel [rezens.tfm] 2023/1 recht kurze Teil zu "Alternativen und Adaptionen" sprachen ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal (S. 203-211), wäre um eine Auseinandersetzung mit zwischen Film und Fernsehen (S. 273-282). Deutlich den seriell angelegten Empfehlungen von On- wird dieser Punkt erneut bei der Analyse ausgewähl- Demand-Plattformen zu ergänzen. ter YouTube-Videos, bei denen das Sprechen in die Kamera spontaner, intimer und durch umgangs- Kapitel 5 zu Liveness nimmt indes den Faden zur sprachliche Formulierungen auch zugänglicher ist. Gegenwartsfixierung des Fernsehens wieder auf. Hier gehe es, konträr zu den monologisierenden Seri- Obgleich Liveness im engeren Sinne, d. h. Echtzeit- enfiguren, die dem Publikum nur die Rolle des stum- übertragung von Ereignissen, heutzutage schon im men Komplizen zuweisen können, um gegenseitige klassischen Fernsehen eher den Sonderfall oder gar Verständigung und die Legitimierung der exhibitio- eine Illusion darstellt (S. 215-221), ist das Konzept, nistisch-voyeuristischen Beziehung zwischen YouTu- gekoppelt an Eindrücke von Echtheit und Imperfek- ber*innen und Zuschauer*innen. Das Mittel der Direk- tion, besonders für YouTuber*innen weiterhin von tadressierung wirke hier interaktions- und dialogför- hoher Relevanz, wie der Autor anhand sogenannter dernd (S. 295-320). Ungeschnitten-Videos deutlich herausstellt (S. 247- 266). Im Fokus des Kapitels stehen aber nicht nur Echt- Nach den umfassenden Hauptkapiteln 3 bis 6 resü- zeit-Formate wie Let's-Play-Videos sowie ehemalige miert Richter, dass die "televisionizitäre Wirkung" von Live-Übertragungen auf YouTube als Beispiele "kon- "internetbasierten On-Demand-Diensten" (S. 323) in servierter Liveness" an (S. 244f). Zusätzlich beschäftigt ihrer Bezugnahme auf und Reproduktion von Fern- Richter sich damit, wie Liveness als Denkkategorie sehästhetiken begründet liege: "Mit Fernsehhaftigkeit unsere Sehgewohnheiten bilateral prägt: Sowohl auf verbundenen Erwartungen liefern die äußeren Vorga- Beschleunigungs- als auch auf Entschleunigungsten- ben, an denen sich die televisionizitären Angebote der denzen geht das Kapitel ein, wobei dem Phänomen On-Demand-Plattformen vielfach ausrichten. FERN- des "Slow TV" besondere Aufmerksamkeit zuteilwird SEHEN stellt somit das Gerüst dar, in das Inhalte ein- (S. 227-242). Ob die Langeweile kultivierenden, ent- gebettet werden. Es zeigt sich als ein Rahmen, der spannenden Bergbahn- und Schifffahrt-Aufnahmen, durch bestimmte Regeln definiert ist" (S. 330). Netflix die Richter hier als Beispiele heranzieht, aber nicht und YouTube übernehmen kontinuierlich Formatvor- eher als eine Nische im Fernseh- und On-Demand- gaben, Rhetoriken, Gestaltungs- und Inszenierungs- Angebot verbleiben, lässt sich dabei durchaus hinter- elemente aus dem Fernsehen, weshalb sie selbst "eine fragen. Auch die zitierten Echtzeit-Passagen in Aus- weitere Variante von Fernsehen", dessen „neue Ver- nahme-Serien wie Breaking Bad und Mad Men bilden sion“ seien (S. 334). In diesem Fazit schließt sich der noch keine konsequente Evolution unter Fernseh- und Autor den o. g. bisherigen Studie an, die Fernsehen als Webserien. Sammelbegriff und theoretisches Bezugssystem auf- fassen, unter dem auch Online-TV-Angebote und On- Im sechsten Kapitel nähert sich der Autor dem The- Demand-Plattformen zu subsumieren sind. Somit menkomplex televisionärer Direktadressierungen setzt auch diese Dissertationsschrift dem hartnäckigen über die Netflix-Serie House of Cards und ihre regelmä- Narrativ vom "Tod des Fernsehens" eine beispiel- ßig in die Kamera sprechende Hauptfigur. Zwar spie- reiche, informierte Studie entgegen. len Publikumsansprachen in fiktionalen Serien eine weniger zentrale Rolle als in anderen TV-Formaten (obgleich in den vergangenen zehn Jahren ein zuneh- mend genutztes Stilmittel in Serien wie auch Spielfil- Literatur: men), dennoch ist das Beispiel hier treffsicher. Denn es zeigt die universelle Bedeutung von Zuschaueradres- Ahl, Jennifer: Web-TV. Entstehungsgeschichte, Begriffe, Ästhetik. Glückstadt: Hülsbusch 2014. sierungen für diverse Fernsehgenres auf. Durch ihre rahmende, inkludierende und Vertrauen schaffende Barker, Cory/Wiatrowski, Myc (Hg.): The Age of Netflix. Critical Essays on Streaming Media, Digital Delivery and Funktion, so Richters Argument, seien Publikumsan- Instant Access. Jefferson: McFarland 2017. Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2023/1 | Veröffentlichungsdatum: 2023-05-11 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2023-1 | doi:10.25365/rezens-2023-1-08 Jana Zündel [rezens.tfm] 2023/1 Bennett, James/Strange, Niki (Hg.): Television as Digital Lotz, Amanda D.: Portals. A Treatise on Internet-Distributed Media. Durham: Duke University Press 2011. Television. Michigan: University of Michigan Library 2017. Bruun, Hanne: Re-Scheduling Television in the Digital Era. Lotz, Amanda D.: We Now Disrupt This Broadcast. How London/New York: Routledge 2020. Cable Transformed Television and the Internet Revolutionized It All. Cambridge: MIT Press 2018. Gripsrud, Jostein (Hg.): Relocating Television. Television in the Digital Context. London: Routledge 2010. McDonald, Kevin/Smith-Rowsey, Daniel (Hg.): The Netflix Effect. Technology and Entertainment in the 21st Century. New Jenner, Mareike: Netflix and the Re-Invention of Television. York: Bloomsbury Academic 2016. Cham: Palgrave Macmillan 2018. Perks, Lisa Glebatis: Media Marathoning. Immersions in Johnson, Catherine: Online Television. London/New York: Morality. New York: Lexington Books 2015. Routledge 2019. Autor/innen-Biografie Jana Zündel Postdoktorandin am DFG-Graduiertenkolleg "Konfigurationen des Films" an der Goethe-Universität Frankfurt. Studium der Medienwissenschaft in Weimar (2008-2011) und Bonn (2012-2015). Masterarbeit veröffentlicht als An den Drehschrauben filmischer Spannung (ibidem-Verlag 2016). Abgeschlossene Dissertation zum Thema "Randerscheinungen der Fernsehserie als Indikatoren eines medienkulturellen Wandels" (2021). Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Medienwissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn (2017-2021) und Stipendiatin im strukturierten Promotionsprogramm der Philosophischen Fakultät (2018–2021); ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung liegen im Bereich Filmanalyse und Filmgeschichte, Fernsehwissenschaft und Serienforschung, Meme Studies, digitale Medien- und Rezeptionskulturen. Publikationen: – "Ästhetik des Anfangens". In: Handbuch Televisuelle Serialität. Hg. v. Sven Grampp und Olga Moskatova. Wiesbaden: Springer 2023, 26 S. https://link.springer.com/referenceworkentry/10.1007/978-3-658-35305- 6_19-1. – "Streamen". In: Handbuch Televisuelle Serialität. Hg. v. Sven Grampp und Olga Moskatova. Wiesbaden: Springer 2023, 20 S. https://link.springer.com/referenceworkentry/10.1007/978-3-658-35305-6_38-1. – Fernsehserien im medienkulturellen Wandel. Köln: Herbert von Halem 2022, 380 S. Dieser Rezensionstext ist verfügbar unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten. [rezens.tfm] erscheint halbjährlich als e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen und veröffentlicht Besprechungen fachrelevanter Neuerscheinungen aus den Bereichen Theater-, Film-, Medien- und Kulturwissenschaft; ISSN 2072-2869. https://rezenstfm.univie.ac.at Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2023/1 | Veröffentlichungsdatum: 2023-05-11 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2023-1 | doi:10.25365/rezens-2023-1-08