Jg. 21 H. 2 2021 € 13,- NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften Jens Schröter / Tilman Baumgärtel / Christoph Ernst / Anja Stöffler (Hrsg.) ZUKÜNFTIGE MEDIENÄSTHETIK Baumgärtel: Vom Subjekt zum Projekt. Piazza virtuale von Van Gogh TV vor dem kunsthistorischen und zeitge- schichtlichen Hintergrund ä Dudesek: Die neue Eloquenz im öffentlichen Raum ä Entwicklungsmöglichkeiten des interaktiven Fernsehens. Gespräch mit den Van Gogh TV-Künstlern ä Benjamin Heidersberger im Gespräch mit Jan Claas van Treeck. Die Enden des Internets: Piazza virtuale revisited ä Nitsche: »The Politics of Techno- logical Fantasy« ä Höfler: »The Imaginary Gaze of a Future Archaeologist« ä Flach: I watch that worlds pass by ä Köppert: Rifted Algorithms. Digitale Medienkunst postafrikanischer Zukünfte ä Schröter: Digitally Re-Inventing the Medium II ä Goldhorn: Nachricht mit unklarer Absicht – Uneindeutige Antworten zu einer Frage, die ich nicht kenne Jg. 21, H. 2, 2021 NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften Jens Schröter / Tilman Baumgärtel / Christoph Ernst / Anja Stöffler (Hrsg.) ZUKÜNFTIGE MEDIENÄSTHETIK NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften IMPRESSUM HERAUSGEBER: BILDER: Prof. Dr. Jens Schröter Archiv Van Gogh TV Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft Lennéstr. 1 TITELBILD HINTEN: 53113 Bonn (Hauptherausgeber) Ali Altschaffel (altschaffel.com) Dr. Pablo Abend DFG-Graduiertenkolleg Locating Media DRUCK: Herrengarten 3 UniPrint, Universität Siegen 57072 Siegen Erscheinungsweise zweimal jährlich Prof. Dr. Benjamin Beil Institut für Medienkultur und Theater universi – Universitätsverlag Siegen Meister-Ekkehart-Str. 11 Am Eichenhang 50 50937 Köln 57076 Siegen REDAKTION FÜR DIESE AUSGABE: Preis des Einzelheftes: € 13,- Jens Schröter / Tilman Baumgärtel / Preis des Doppelheftes: € 22,- Christoph Ernst / Anja Stöffler Jahresabonnement: € 20,- Jahresabonnement UMSCHLAGGESTALTUNG für Studierende: € 14,- UND LAYOUT: Prof. Dr. Jens Schröter ISSN 1619-1641 (für diese Ausgabe) Christoph Meibom und Susanne Pütz (Originaldesign) Erscheint unter der Creative Commons Lizenz CC-BY-SA Jens Schröter / Tilman Baumgärtel / Christoph Ernst / Anja Stöffler (Hrsg.) ZUKÜNFTIGE MEDIENÄSTHETIK INHALT Tilman Baumgärtel, Christoph Ernst und Jens Schröter Zukünftige Medienästhetik. Ein Vorwort……………………………………..7 VERGANGENE ZUKÜNFTE: PIAZZA VIRTUALE VON VAN GOGH TV Tilman Baumgärtel Einleitung zum Schwerpunkt Van Gogh TV/Piazza virtuale………………...17 Tilman Baumgärtel Vom Subjekt zum Projekt: Piazza virtuale von Van Gogh TV vor dem kunsthistorischen und zeitgeschichtlichen Hintergrund……………………………………..19 Karel Dudesek Die neue Eloquenz im öffentlichen Raum 1992…………………………...41 Entwicklungsmöglichkeiten des interaktiven Fernsehens. Gespräch mit den Van Gogh TV-Künstlern………………………………...49 Benjamin Heidersberger im Gespräch mit Jan Claas van Treeck Die Enden des Internets: Piazza virtuale revisited…………………………51 Jessica Nitsche »The Politics of Technological Fantasy«. Mit dem Electronic Café International zurück in die Zukunft………………67 NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK GEGENWÄRTIGE ZUKÜNFTE Carolin Höfler »The Imaginary Gaze of a Future Archaeologist«. Medienarchitekturen des Dokumentarischen……………………………89 Sabine Flach I watch that worlds pass by………………………………………………..113 Katrin Köppert Rifted Algorithms. Digitale Medienkunst postafrikanischer Zukünfte Tabita Rezaire: Deep Down Tidal (2017)………………………………...145 Jens Schröter Digitally Re-Inventing the Medium II. Was könnte ein Machine-Learning-Modernismus sein?...........................159 EPILOG: ZUKÜNFTIGE ZUKÜNFTE Marius Goldhorn Nachricht mit unklarer Absicht – Uneindeutige Antworten zu einer Frage, die ich nicht kenne….....…....181 Abstracts in Deutsch und Englisch……...……….………...….……...…………187 Autor:innenverzeichnis ..………………………........………….………………197 NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK ZUKÜNFTIGE MEDIENÄSTHETIK Ein Vorwort V O N J E N S S C H R Ö T E R , T I L M A N B A U M G Ä R T E L U N D C H R I S T O P H E R N S T Was könnte eine ›zukünftige Medienästhetik‹ sein? Und warum sollte man nach ihr fragen? Kann man überhaupt nach ihr fragen? Denn was zukünftig ist, ist ja per de- finitionem noch nicht. Und was ist eine Medienästhetik im Unterschied zur ›Ästhe- tik‹? Beginnt man mit der letzten Frage, so fällt erstens auf, dass zumindest die wirkmächtige Strömung der modernistischen Kunsttheorie im 20. Jahrhundert die Frage nach der Ästhetik direkt an den Begriff des Mediums gebunden hat. Clement Greenberg war ihr bedeutendster Vertreter, der den Künsten die reflexive Besin- nung auf die zugrundeliegenden Medien anempfahl.1 Diese Ästhetik wäre also im- mer schon eine Medienästhetik. Allerdings ist jene Konzeption von Ästhetik ab den 1960er-Jahren, mit der zunehmenden Ausbreitung intermedialer Kunstformen, in die Kritik geraten. Greenbergs Ansatz schien obsolet zu sein.2 Angesichts der Fülle an neuen Medien, ihren Formen und den mit ihnen verbundenen Praktiken, die spätestens seit den 1980er-Jahren in immer neuen Schüben den Alltag durchdrin- gen, lässt sich jedoch die Frage stellen, ob künstlerische und experimentelle Strate- gien nicht durchaus notwendig wären, um diese ›Neuen Medien‹, ihre Potentiale, Grenzen, Implikationen kritisch zu reflektieren und/oder spielerisch zu verfrem- den. Und in der Tat sehen viele Künstler:innen – gerade solche, die sich mit digita- len Medien auseinandersetzen – ihre Aufgabe noch immer in der totgesagten Me- dienreflexion.3 Zweitens aber hat die Ausbreitung neuer Medientechnologien im 20. Jahrhundert, die von manchen Autor:innen für die Krise des modernistischen Paradigmas 1 Vgl. Greenberg: Die Essenz der Moderne. Siehe dazu den Beitrag von Jens Schröter in diesem Heft. 2 Vgl. Rebentisch: Gegenwartskunst, S. 92-116. 3 Vgl. Baumgärtel: net.art 2.0, S. 14-23, der sich explizit auf Greenberg beruft, und Baumgärtel: »Das Große Funktionieren und seine Opposition«. Siehe auch Schröter: »Medienästhe- tik«. Schröter zeigt, dass das langsame Aufkommen des Begriffs der ›Medienästhetik‹ zu Beginn der 1990er-Jahre zusammenfällt mit der Ausbreitung der digitalen, sogenannten ›Neuen Medien‹. Die Verschiebung, die von diesen Technologien ausgeht, ist es gerade, die die Frage nach der Medialität der Medien und ihrer ästhetischen Effekte von neuem stellt. Rebentisch: Gegenwartskunst, S. 106 weist darauf hin, dass es neben den entgrenz- ten, intermedialen Formen in der Gegenwartskunst auch »die mal mehr, mal weniger stabilen Felder der traditionellen Künste« gibt – diese Randbemerkung enthält den impli- ziten Hinweis, dass die Frage nach der Medienreflexion keineswegs komplett verschwun- den ist. Sie ist vielleicht zu einer künstlerischen Strategie neben anderen geworden und erneut zentral da, wo es um die Auseinandersetzung mit ›Neuen Medien‹ geht. NAVIGATIONEN TILMAN BAUMGÄRTEL/CHRISTOPH ERNST/JENS SCHRÖTER verantwortlich gemacht wird,4 ihrerseits zur Ausbildung einer ›Medienästhetik‹ ge- führt – so ist z. B. vor einiger Zeit ein Band mit den Schriften Walter Benjamins erschienen, der den Titel Benjamins medienästhetische Schriften trägt.5 Benjamin schrieb einflussreich und unter frühem Bezug auf den Begriff des Mediums: »Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich be- dingt.«6 Hier ist das Medium eher auf die Wahrnehmung im Allgemeinen bezogen und nicht auf das Feld der Kunst im engeren Sinne. So muss man wohl eine Medien- Aisthetik von einer Medien-Ästhetik unterscheiden. Fragt erstere nach den neuen Formen und mithin Wahrnehmungsweisen im Allgemeinen, so untersucht die zweite diese im Feld der Kunst, wo die durch ein je gegebenes Medium potentiell eröffneten neuen Formen der Wahrnehmung einer zusätzlichen Reflexion unter- zogen werden. Nun muss man ›Medium‹ nicht zwingend als den bloßen Apparat verstehen, ja vielmehr sollte man den Begriff besser nicht ausschließlich so verstehen. Schon Krauss hat – in kritischem Wiederaufgriff von Greenberg und unter explizitem Be- zug auf Benjamin – betont, dass man Medien als Gefüge aus Technik und damit verbundenen diskursiven Praktiken, wie sie sich historisch herausgebildet haben, verstehen muss.7 So gesehen gehören zu Medien unausweichlich Vorstellungen da- von, was das gegebene Medium vermeintlich kann oder vermeintlich – zum Guten oder zum Schlechten – zukünftig verändern wird.8 Die ›geschichtliche‹ Verände- rung der Wahrnehmung, die Benjamin diagnostizierte, impliziert, dass ästhetische 4 Vgl. Rebentisch: Gegenwartskunst, S. 104. 5 Vgl. Benjamin: Medienästhetische Schriften. 6 Ebd., S. 356 (fehlendes Komma nach ›natürlich‹ ist korrekt). Vgl. zum Werdegang von Benja- mins Überlegungen: Schöttker: »Benjamins Medienästhetik«. Einen jüngeren Aufgriff von Benjamins Grundidee liefert: Schnell: Medienästhetik. Noch Hörl/Hansen: »Medienästhe- tik« stehen in dieser Tradition. Auch sie gehen – ohne Benjamin zu erwähnen – von einer »ursprünglichen Artifizialität und Medialität von Wahrnehmung« (S. 11) aus. Der aktuelle »Kybernetisierungsprozess […]« (S. 12) führe aber schließlich dazu, die Frage nach der Aisthetik und Ästhetik vom Menschen abzulösen. Es gehe um eine »nicht-subjektivistische […] Subjektivitätsordnung, die deutlich über die klassische Subjektivität und deren Ver- mögensdifferenzierung und eben auch über den privilegierten Akteur der bisherigen Äs- thetik, das wahrnehmende und urteilende Subjekt, hinausgeht und sich maschinisch dis- tribuiert. Hier beginnt ein Aufbruch in Richtung von transpersonalen, nicht-sub- jektivistischen, präkognitiven und präperzeptiven Gefügen menschlicher und nicht- menschlicher Akteure, die nach anderen Parametern des nunmehr zentral werdenden Ästhetischen und der damit einhergehenden neuen, nicht mehr allein menschlichen Sub- jektivität verlangen.« (S. 11). Das Problem an dieser Position ist, dass der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Reflexion auf diese nicht deutlich expliziert wird. Auch fragt man sich, wie sich die Annahme einer ›ursprünglichen Artifizialität und Medialität von Wahrnehmung‹ damit verträgt, dass nun auf einmal Wahrnehmung erst vom ›privilegier- ten Akteur‹ der bisherigen Ästhetik, dem wahrnehmenden und urteilenden Subjekt, ab- gelöst werden soll. 7 Vgl. Krauss: ›A Voyage on the North Sea‹, S. 53. 8 Vgl. Ernst/Schröter: Zukünftige Medien. Vgl. Marvin: When Old Technologies Were New. NAVIGATIONEN 8 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VORWORT Reflexion auf ein Medium immer auch eine Reflexion auf seine – auch vergangenen – Zukünfte ist: Wie wird sich das Medium in der Zukunft entwickeln? In welche anderen Medien wird es sich verwandeln? Was wünscht sich eine gegebene Gesell- schaft von einem Medium? Was könnte es eröffnen und was verschließen? Welche ökonomischen, politischen, kulturellen und eben ästhetischen Ebenen werden ver- schoben? Welche vergangenen Vorstellungen von der Zukunft sind wie real ge- worden – oder auch nicht? Inwieweit taugt die Rückbesinnung auf solche älteren Vorstellungen, um zukünftige Medien oder zukünftige ästhetische Praktiken zu (re-)imaginieren? In solchen und verwandten Fragen einer ›Zukünftigkeit der Medien‹ überla- gern sich mindestens drei Ebenen: erstens die zukünftige Ästhetik der gegebenen Medien, zweitens die Ästhetik zukünftiger Medien und drittens die Medienästhetik der Zukunft (im Sinne der Frage, wie Zukunft selbst in Medien ästhetisch modelliert wird9). Ist ein »Durchdenken, Erspüren, Ausprobieren, Realisieren der Offenheit der Zukunft«10 im 20. Jahrhundert als zentral für jede (moderne) Kunst ausgewie- sen worden, so gilt dies insbesondere für die ästhetische Auseinandersetzung mit den Medien, deren Zukunft ein unausgesetztes Thema gesellschaftlicher Selbstver- ständigung ist. Das reflexive Potenzial medienästhetischer Experimente, Strategien und »Realisationen« geht immer auch von einer experimentell einzuholenden »Fu- turität« aus.11 Benjamins Einsicht in die geschichtliche Veränderung der Wahrneh- mungsweisen markiert dabei eine besondere epistemologische Problematik der künstlerischen Reflexionen. Kunst kann zwar als Reflexionsraum für den ›geschicht- lichen‹ Wandel von Medien angesehen werden – die Transformationsprozesse selbst vollziehen sich jedoch im Rücken der Kunst, beeinflussen ihre Grundlagen, ja gestalten mitunter die Idee und die Praxis dessen, was ›Kunst‹ ist und was Ästhetik erfassen kann, neu. Die Frage nach dem Zusammenhang von Zukunft und Medien- ästhetik ist deshalb immer die Frage nach der Möglichkeit einer ›Medienästhetik‹ überhaupt.12 Besonders wichtig sind daher die Übergänge zwischen der ersten Ebene, also der Verlängerung der Möglichkeiten eines gegebenen Mediums in die Zukunft, und der zweiten Ebene, also der Reflexion auf die Möglichkeit neuer Medien, welche die bisherige Wahrnehmungsweisen herausfordern, von diesen abweichen und sie verändern. Medien lassen sich höchst selten nicht klar und distinkt in die eine oder andere Kategorie einsortieren. Insbesondere der Rückblick in die Geschichte der ›vergangenen Zukünfte‹ von Medien zeigt, dass bestimmte Merkmale eines Medi- ums, z. B. technische Spezifikationen, als ›alt‹ oder ›obsolet‹ markiert werden, wo- hingegen andere Aspekte, die kennzeichnend für ein altes Medium sind, etwa 9 Das reicht von fiktionalen futuristischen Ästhetiken bis hin zu Praktiken der Simulation, vgl. Schröter: »Computer/Simulation«. 10 Schwarte: Notate für eine künftige Kunst, S. 115. 11 Schwarte: Notate für eine künftige Kunst, S. 91. 12 Vgl. zur aktuellen Diskussion einführend auch Hörl/Hansen: »Medienästhetik«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 9 TILMAN BAUMGÄRTEL/CHRISTOPH ERNST/JENS SCHRÖTER Gebrauchspraktiken oder Nutzungsszenarien, sich in der Zukunft wieder als aktuell erweisen können.13 In dieser Hinsicht ist Medienästhetik auch eine Reflexion auf das Denkbare, eine Praxis des Vorstellbarmachens des Unerwarteten und des Fremden. Eine solche Medienästhetik erschüttert und verfremdet mit der Gestal- tung anderer Zukünfte eurozentrische Modelle.14 Zumindest andeutungsweise wird damit auch klar, was es mit der dritten Ebene einer zukünftigen Medienästhe- tik auf sich hat. Unstrittig dürfte sein, dass es eine Ästhetik der Zukunft in den Me- dien gibt. Das Verhältnis von Design, technologischer Innovation und Science-Fic- tion legt davon Zeugnis ab.15 Die Mediatisierung von Zukunft greift jedoch tiefer und verweist auf die noch nicht wirklich aufgearbeitete Mediengeschichte von Kul- turtechniken der Divination, Prognose und Prophetie. Galt im 20. Jahrhundert die »Beschleunigung« als das Phänomen, das es für die Zeittheorie der Medien zu den- ken gilt,16 so ist heute eine Lage eingetreten, in der ein Dispositiv der Berechnung von Zukunft selbst entstanden ist. Auf maschinellem Lernen beruhende Technolo- gien der ›predictive analytics‹, wie sie der »Überwachungskapitalismus« des 21. Jahrhunderts hervorgebracht hat,17 etablieren ein Wahrnehmungsregime, das un- terhalb der Aufmerksamkeitsschwelle im Begriff ist, das Verhältnis von Entschei- dung und Erwartung, von Prognose und Zufall umzustrukturieren.18 Derartige implizite, sozialstrukturell wirksame Prozesse, die das Verhältnis von Medien und Aisthesis betreffen, wird Medienästhetik kaum im alleinigen Rück- griff auf die reflexiven Potenziale von Kunst anschaulich machen oder gar explizie- ren können. Dennoch wird auch eine zukünftige Medienästhetik in einer Spannung zur Kunst bleiben, sofern die Wandelbarkeit und Vielgestaltigkeit ästhetischer Prak- tiken und Strategien nach wie vor ein entscheidendes Spannungsfeld für das Den- ken gesellschaftlicher Veränderung ist. Dieses Spannungsfeld wird in verschiedenen Konfigurationen in dem vorliegenden Heft durchgespielt. Das vorliegende Heft entstand im Arbeitszusammenhang des DFG-For- schungsprojekts »Van Gogh TV. Erschließung, Multimedia-Dokumentation und Analyse ihres Nachlasses« (2018-2021), bei dem es zentral um die Imagination zu- künftiger Medientechnologien in dem medienkünstlerischen Projekt Piazza virtuale der Künstlergruppe Van Gogh TV im Rahmen der documenta IX (1992) ging. Daher eröffnet das Heft mit einem Schwerpunkt dazu. Diesen leitet Tilman Baumgärtel kurz ein, um dann in einem längeren Aufsatz den Projektcharakter von Piazza vir- tuale vor dem kunsthistorischen und zeitgeschichtlichen Hintergrund detailliert zu entwickeln. In dem hier wiederabgedruckten Text von 1991 beschreibt Karel 13 Siehe dazu auch Gitelman: Always already new. 14 Vgl. z. B. Gunkel/Hameed/O’Sullivan: Futures and Fictions. 15 Vgl. Dunne/Raby: Speculative Everything. Siehe auch Folkerts/Lindner/Schavemaker: For- ward und Ross: The Past is the Present. 16 Vgl. zu dieser Diskussion grundlegend Kirchmann: Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. 17 Vgl. Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism. 18 Vgl. in diesem Kontext auch Hansen: Feed-Forward; Hayles: Unthought. NAVIGATIONEN 10 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VORWORT Dudesek, einer der Köpfe von Van Gogh TV, die Schwierigkeiten medienkünstleri- scher Arbeit, insbesondere wenn es um die Entwicklung zukünftiger Möglichkeiten geht, die nicht unmittelbar einleuchten oder Profit versprechen. Ein weiterer Wie- derabdruck eines an entlegener Stelle veröffentlichten kurzen Interviews mit Van Gogh TV gibt einen Einblick in die damaligen Vorstellungen der Künstler bzgl. einer zukünftigen Medienästhetik des interaktiven Fernsehens. Rückblickend diskutiert Benjamin Heidersberger, eine weitere zentrale Figur von Van Gogh TV, im Ge- spräch mit Jan Claas van Treeck, wie die damaligen Medienutopien gealtert sind und warum manche große Hoffnung in die Potentiale der ›Neuen Medien‹ nun ver- flogen ist – und was das für heutigen Vorstellungen zukünftiger Medien, ihrer poli- tischen Implikationen und Ästhetiken bedeutet. Der Beitrag von Jessica Nitsche schließt den Schwerpunkt ab. Sie bezieht Piazza virtuale auf verwandte medien- künstlerische Experimente jener Zeit, insbesondere auf das ähnliche Electronic Café International. So wird im Rückblick die größere Gestalt vergangener zukünftiger Medienästhetiken um 1990 sichtbar. Nach dem Schwerpunkt zu Piazza virtuale folgt ein zweiter Teil, in dem ver- schiedene neuere künstlerische Positionen auf ihre Strategien zukünftiger Medien- ästhetik, sowie ihre gesellschaftlichen Hintergründe wie Effekte befragt werden. Carolin Höfler fokussiert die Frage, wie das mediale Experimentieren als eine Form des kritisch-reflexiven Gestaltens neu bestimmt werden kann und diskutiert dabei ebenso das critical design wie experimentelle Entwurfsstrategien in der Architektur. Danach setzt sich Sabine Flach unter Rückgriff auf das Konzept der ›Metamoderne‹ insbesondere mit den medienkünstlerischen Arbeiten von Cao Fei auseinander und öffnet so den Horizont für ästhetische Entwürfe der Zukunft im Kontext außereu- ropäischer Kulturen. Diesen Faden greift im nächsten Beitrag Katrin Köppert auf, die postafrikanische Zukünfte in der Medienkunst Tabita Rezaires analysiert und hier Spuren einer anderen, politischen Genealogie der Digitalität findet. Abschlie- ßend thematisiert Jens Schröter unter Rückgriff auf Fragen der modernistischen Äs- thetik Potentiale von ›Künstlicher Intelligenz‹ für eine zukünftige Medienästhetik, was insbesondere an der künstlerischen Arbeit von Darren Cunningham alias Actress und seiner Konstruktion einer ihn als Autor spiegelnden, antizipierenden und verfremdenden KI (einem machine learning-System) expliziert wird. Abgerundet wird das Heft durch einen kurzen Epilog des Schriftstellers Marius Goldhorn, der mit Park einen schönen und bedeutenden Medienroman der Gegen- wart geschrieben hat und so einen ganz anderen Blick auf die Frage einer zukünfti- gen Medienästhetik werfen kann. Die Herausgeber möchten sich bei Dana Adscheid, Leila Brehme und Johannes Dominik Hardt für ihre unermüdliche und sorgfältige Korrektur, bei Jasmin Kathö- fer für den professionellen und gestalterisch gelungenen Satz und bei der DFG für die Förderung des Forschungsprojekts »Van Gogh TV. Erschließung, Multimedia- Dokumentation und Analyse ihres Nachlasses« bedanken. Wie immer geht auch Dank an den universi-Verlag, Siegen, Herrn Markus Bauer, für die reibungslose Ko- operation. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 11 TILMAN BAUMGÄRTEL/CHRISTOPH ERNST/JENS SCHRÖTER LITERATURVERZEICHNIS Baumgärtel, Tilman: [net.art 2.0] Neue Materialien zur Netzkunst, Nürnberg 2001. Baumgärtel, Tilman: »Das Große Funktionieren und seine Opposition«, in: Rohr- post, 26.09.14, online: https://post.in-mind.de/pipermail/rohrpost/2014-Sep- tember/016698.html, letzter Zugriff 31.01.21. Benjamin, Walter: Medienästhetische Schriften, Frankfurt a.M. 2002. Dunne, Anthony/Raby, Fiona: Speculative Everything. Design, Fiction, and Social Dreaming, Cambridge/London 2013. Ernst, Christoph/Schröter, Jens: Zukünftige Medien, Wiesbaden 2020. Folkerts, Hendrik/Lindner, Christoph/Schavemaker, Margriet (Hrsg.): Forward. Art & Theory from a Future Perspective, Amsterdam 2015. Gitelman, Lisa: Always Already New. Media, History, and the Data of Culture, Cambridge/London 2006. Greenberg, Clement: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Amsterdam/Dresden 1997. Gunkel, Henriette/Hameed, Ayesha/O’Sullivan, Simon (Hrsg.): Futures and Fic- tions, London 2017. Hansen, Mark B. N.: Feed-Forward. On the Future of Twenty-First-Century Me- dia, Chicago/London 2015. Hayles, N. Katherine: Unthought. The Power of the Cognitive Nonconscious, Chi- cago/London 2017. Hörl, Erich/Hansen, Mark B. N.: »Medienästhetik. Einfu ̈hrung in den Schwer- punkt.«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 5, Nr. 1 (= Bd. 8), 2013 (Schwerpunkt: Medienästhetik), S. 10-17. Kirchmann, Kay: Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theo- rie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeit- lichen Zivilisationsprozeß, Opladen 1998. Krauss, Rosalind: ›A Voyage on the North Sea‹. Art in the Age of the Post-Medium Condition, New York 1999. Marvin, Carolyn N.: When Old Technologies Were New. Thinking About Electric Communication in the Late Nineteenth Century, Oxford 1988. Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg 2013. Ross, Christine: The Past is the Present; It’s the Future too. The Temporal Turn in Contemporary Art, New Yorn, London 2012. Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrneh- mungsformen, Stuttgart 2000. Schöttker, Detlef: »Benjamins Medienästhetik«, in: Benjamin, Walter: Medienästhe- tische Schriften, Frankfurt a.M. 2002, S. 411-433. NAVIGATIONEN 12 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VORWORT Schröter, Jens: »Computer/Simulation. Kopie ohne Original oder das Original kon- trollierende Kopie« in: Fehrmann, Gisela et al. (Hrsg.): Originalkopie. Prakti- ken des Sekundären, Köln 2004, S. 139-155. Schröter, Jens: »Medienästhetik, Simulation und ›Neue Medien‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 5, Nr. 1 (= Bd. 8), 2013 (Schwerpunkt: Medienästhe- tik), S. 88-100. Schwarte, Ludger: Notate für eine künftige Kunst, Berlin 2016. Zuboff, Shoshana: The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Fu- ture at the New Frontier of Power, New York 2019. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 13 VERGANGENE ZUKÜNFTE: PIAZZA VIRTUALE VON VAN GOGH TV NAVIGATIONEN EINLEITUNG ZUM SCHWERPUNKT VAN GOGH TV/PIAZZA VIRTUALE V O N T I L M A N B A U M G Ä R T E L Die Fernsehprojekte, die die Künstlergruppe Van Gogh TV um 1990 durchführte, waren wichtige Vorboten der anbrechenden Epoche der digitalen und interaktiven Medien. Kurz vor dem Anbruch des Internet-Zeitalters erprobten sie in Projekten wie Hotel Pompino (1990) bei der Ars Electronica und dem Documenta-Beitrag Pia- zza virtuale (1992) Modelle davon, wie die audiovisuellen Medien aussehen könn- ten, wenn das Publikum an ihrer Gestaltung beteiligt wäre – eine Utopie, die durch das Aufkommen des World Wide Web ab 1994 zur Realität zu werden begann. Gut zwei Jahrzehnte nach diesen Arbeiten begann die Gruppe 2010 damit, ihr Archiv zu ordnen, um es der Forschung zugänglich zu machen. Mehr als 800 Stunden Sendemitschnitte, die Korrespondenzen mit Sponsoren und Kuratoren und sogar Teile der technischen Ausstattung, die zum Teil speziell von der Gruppe entwickelt wurden, standen zur Aufarbeitung und Analyse bereit. Die Hochschule Mainz (Prof. Anja Stöffler und Prof. Dr. Tilman Baumgärtel) und die Abteilung für Medienwissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (Prof. Dr. Jens Schröter) stellten gemeinsam bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen Antrag auf Unterstützung, der Ende 2017 genehmigt wurde. Das Forschungs- projekt lief vom April 2018 bis zum August 2021 und brachte neben drei Büchern1 und einer Website mit einer ausführlichen Dokumentation von Recherchematerial2 auch die Aufsätze in diesem Schwerpunkt hervor. Denn dass das Künstlerkollektiv Van Gogh TV heute nicht die Reputation ge- nießt, die ihm gerade wegen des wegweisenden Medienkunstprojekts Piazza virtu- ale zustehen würde, hat viel mit einer schlecht verwalteten Rezeptionsgeschichte zu tun: Jahrzehntelang war von dem Programm schlicht nichts zu sehen und es gab auch keine theoretisch-historische Auseinandersetzung mit dem Projekt. Trotz Teilnahme an der documenta IX im Jahr 1992 – bei der sie 100 Tage lang ein tägli- ches Fernsehprogramm unter dem Titel Piazza virtuale mit internationalen Teilneh- menden veranstalteten, das von 3sat, vom ORF und von anderen Sendern übertra- gen wurde – ist die Gruppe heute weitgehend vergessen und in den einschlägigen Publikationen höchstens eine Fußnote. Van Gogh TV war aus der Performance- und Aktionskunstgruppe Minus Delta t hervorgegangen. Beeinflusst vom erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys, Brechts Radio-Essay und frühen internationalen Telekommunikations- und 1 Vgl. Ernst/Schröter: (Re-)Imagining New Media; Ernst/Schröter: Zukünftige Medien; Baum- gärtel: Van Gogh TV’s ›Piazza virtuale‹. 2 Vgl. Forschungsprojekt »Van Gogh TV«: »Van Gogh TV« NAVIGATIONEN TILMAN BAUMGÄRTEL Fernsehkunstprojekten zielte ihre Arbeit darauf ab, den Fernsehzuschauer aus sei- ner Rolle als passiver Rezipient zu befreien und ihm die Mitgestaltung des Gesche- hens auf dem Bildschirm zu ermöglichen. Kurz bevor das World Wide Web das Medium Internet für jedermann zugänglich machte, gaben sie dem zu dieser Zeit nur vage vorstellbaren ›Cyberspace‹ – also einem von seinen Nutzern hervorge- brachten Medien-Environment – ein Gesicht. Besonders für das aufwendige Docu- menta-Projekt entwickelten sie – unterstützt durch die Telekom und andere Sponsoren – Anwendungen, die die kommunikativen und kollaborativen Möglich- keiten des Internets vorwegnahmen. Da alle vier Herausgeber:innen in unterschiedlichen Funktionen an dem For- schungsprojekt beteiligt waren, nutzen wir die Gelegenheit, um in dieser Publika- tion unseren jüngsten Beitrag zur Erforschung der Medienkunst als Probebühne und Zukunftswerkstatt für mediale Zukünfte zu teilen, die im Mittelpunkt dieser Ausgabe von Navigationen steht. In Anbetracht der eminenten Bedeutung wie auch der absoluten Vorreiterstellung von Van Gogh TV soll in dieser Ausgabe von Navi- gationen auf diese Forschung hingewiesen werden. Dazu veröffentlichen wir hier neben zwei Originalquellen der Künstlergruppe Van Gogh TV auch ein Interview mit deren Mitglied Benjamin Heidersberger, eine kunsthistorische sowie zeitgeschicht- liche Einordnung des Projekts durch Tilman Baumgärtel und einen Beitrag von Jes- sica Nitsche über International Café – einem ähnlich gelagerten Projekt, das eben- falls bei der documenta IX zu sehen war. LITERATURVERZEICHNIS Baumgärtel, Tilman: Van Gogh TVs ›Piazza virtuale‹, Bielefeld 2021 (im Erscheinen). Ernst, Christoph/Schröter, Jens: Zukünftige Medien. Eine Einführung, Wiesbaden 2020. Ernst, Christoph/Schröter, Jens (Hrsg.): (Re-)Imagining New Media. Techno-Imag- inaries around 2000 and the case of ›Piazza virtuale‹ (1992), Wiesbaden 2021. Forschungsprojekt »Van Gogh TV«: »Van Gogh TV«, https://vangoghtv.hs- mainz.de, 14.07.2021. NAVIGATIONEN 18 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT Piazza virtuale von Van Gogh TV vor dem kunst- historischen und zeitgeschichtlichen Hinter- grund V O N T I L M A N B A U M G Ä R T E L Im Juni 1992 tauchte im Vormittagsprogramm von 3sat eine seltsame Sendung auf. Es gab keine Moderatoren, keine Ansagen, keine Erklärungen. Eigentlich überhaupt kein Programm. Stattdessen konnte man eine eingeblendete Telefonnummer an- rufen. Und wenn man Glück hatte und durchkam, war man plötzlich auf Sendung und konnte über den Fernseher zur Welt sprechen. Bis zu vier Anrufer fanden sich so gleichzeitig in einer merkwürdigen Zufallsgemeinschaft zusammen, konnten mit- einander plaudern oder eine Rede an die Menschheit halten. Viele Anrufer waren so erschrocken, dass sie gleich wieder auflegten. Andere brachten wenig mehr als ›Hallo‹ heraus. Einige versuchten mit den anderen Anrufern Konversation zu ma- chen. Andere machten so lange Furzgeräusche, bis sie aus der Leitung geworfen wurden. Abb. 1: Piazza virtuale Screenshot. Die Sendung hieß Piazza virtuale und war ein einzigartiges Experiment in der Ge- schichte des deutschen Fernsehens. Als Begleitprojekt der documenta 9 wurde es im Sommer 1992 hundert Tage lang in Kassel aus einem Containerstudio neben dem Fridericianum gesendet. Veranstaltet von der Künstlergruppe Van Gogh TV, sollte das Programm aus weitgehend unmoderierten Beiträgen des Publikums be- stehen, das durch Anrufe, per Fax oder Computerchat den Inhalt der Sendung NAVIGATIONEN TILMAN BAUMGÄRTEL lieferte. Ihr Ziel war es, Bertolt Brechts berühmte Forderung aus seiner Radiothe- orie in die Tat umzusetzen: Aus Konsumenten sollten Produzenten von Medienin- halten werden. Neben der Call-In-Sendung Coffeehouse gab es interaktive Pro- grammteile, bei dem die Zuschauer mit der Tastatur ihres Tastentelefons gemeinsam malen oder musizieren konnten. Van Gogh TV war ein Zusammenschluss von Künstlern und Hackern, der aus der Performance-Gruppe Minus Delta t hervorgegangen war. Diese hatte schon bei der documenta 1987 einen Radiopiratensender aufgebaut, der aus einem Medien- bus auf dem Friedrichsplatz sendete. Die Gründer des Kollektivs, die Künstler Mike Hentz, Karel Dudesek, Benjamin Heidersberger und Salvatore Vanasco, arbeiteten systematisch daran, den Raum der Medien für sein Publikum zu öffnen. Sie versammelten um sich einen Mitarbeiterstab, der aus handelsüblicher Technik ein komplett computergestütztes Studio baute – zu einer Zeit, als in den deutschen Fernsehanstalten noch mit magnetischem Videoband und Livesendun- gen aus physischen Studios mit Dekoration sendeten. Und sie schufen ein Netz- werk von Förderern und Sponsoren, mit deren Unterstützung sie 1992 mit Piazza virtuale ihr ambitioniertes Projekt durchführen konnten. Abb. 2: Der Medienbus von Minus Delta t, Foto: Minus Delta t. Abb. 3: Minus Delta ts »Radio literaire« bei der Frankfurter Buchmesse 1987 im Medienbus, Foto: Minus Delta t. Wie kommt eine Künstlergruppe um 1990 eigentlich auf die Idee, ein eigenes Fern- sehprogramm aufzubauen? Der folgende Beitrag soll die Aktivitäten der Gruppe in einem weiteren Kontext von (Medien-)Kunst, der Entwicklung von Technik, Ge- sellschaft und Wirtschaft verorten. So soll gezeigt werden, wie Van Gogh TV eine Reihe von sozialen, kulturellen und medialen Entwicklungen nicht nur aufnahm, sondern in ihrer künstlerischen Praxis auf eine Weise weiterdachte, welche Ten- denzen vorwegnahm, die sich in den 1990er Jahren entfalteten und bis heute unser Leben bestimmen. Die Kunst hat die Entwicklung der Medien oft ästhetisch vorweggenommen. Wenn der deutsche Kunsthistoriker Dieter Daniels mit der These Recht hat, dass KünstlerInnen in ihren Werken oft mediale Entwicklungen antizipierten, die noch in der Zukunft liegen, welche er in seinem Buch Kunst als Sendung (2002) NAVIGATIONEN 20 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT formuliert, dann liefert Van Gogh TV mit aufwendigen und global angelegten Medi- enprojekten ein besonders schlagendes Beispiel für diese These. Mit den ihnen zu dieser Zeit zur Verfügung stehenden Mitteln nahmen sie nicht nur die Entwicklung des Internets und einer genuinen Netzkultur vorweg, sondern auch Methoden des wirtschaftlichen Operierens, Managementtechniken und ein Selbstverständnis von »Kulturarbeitern«, das in den kommenden Jahrzehnten um sich zu greifen begann. Ich beschreibe diesen Prozess mit der – von Vilém Flusser übernommen, hier aber in einem anderen Sinn verwendeten – Formel Vom Subjekt zum Projekt. Stand in der klassischen Moderne und im Grunde seit der Romantik der kreative Selbst- ausdruck des individuellen Künstlersubjekts im Mittelpunkt der kreativen Arbeit, ersetzten Van Gogh TV dieses Selbstbild durch die Arbeit im Kollektiv, in dem ein Stab von unterschiedlich spezialisierten Mitarbeitern in einer flachen Hierarchie an einem gemeinsamen Projekt arbeitete – letzteres ein Begriff, der in den Selbstäu- ßerungen der Gruppe eine zentrale Rolle einnimmt. Waren Technik und Medien von Künstlern zuvor oft als das Andere betrachtet worden, von dem man sich ab- grenzte oder dem man zumindest kritisch-distanziert gegenüberstand, stellten Van Gogh TV die Entwicklung von eigener Technologie und die Partizipation an den Me- dien ins Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit. Und während Künstler den kapitalis- tischen Markt, inklusive des Kunstmarkts, traditionellerweise bestenfalls als not- wendiges Übel wahrnahmen oder gleich ganz ablehnten, arbeitete Van Gogh TV an einer Selbstermächtigung jenseits der Welt von Galerien, Museen und Sammlern. Dafür kooperierten sie mit Sponsoren und erprobten marktwirtschaftlichen Me- thoden der Existenzsicherung. Das führte letztlich dazu, dass einige der Mitglieder der Gruppe tatsächlich Unternehmer wurden und eigene Firmen gründeten. Die kulturellen und sozioökonomischen Faktoren, die die zu dieser Entwick- lung führten, prägten bereits die Arbeit von Minus Delta t, der Performance- und Aktionsgruppe sowie Band, aus der Van Gogh TV in den 1980er Jahren hervorging. Als sich diese Gruppe 1978 gründete, hatte die Kunstkritik eigentlich gerade einen neuen ›Hunger nach Bildern‹ entdeckt: Künstlergruppen oder Kunstbewegungen wie die Neuen Wilden mit ihrer ›heftigen‹ Malerei in Deutschland, Transavanguardia in Italien, das amerikanischen New Image Painting oder Figuration Libre in Frankreich betrieben zu dieser Zeit eine Rückkehr zur gegenständlichen Tafelmalerei und Öl auf Leinwand zu signalisieren. Diese Tendenzen wurden auch als programmatische Abkehr von Performance, Konzept- und Medienkunst interpretiert, die ab Mitte der 1960er ihren Aufstieg erlebt hatte. Ganz im Gegensatz zu diesen Tendenzen knüpften die Aktivitäten von Minus Delta t und den ihnen nachfolgenden Kunstgruppen Ponton und Van Gogh TV dezi- dierte und zielstrebig an die Kunstpraktiken der 60er und 70er Jahre an. Gleichzei- tig reflektierten sie in ihrer Arbeit die aktuellsten Entwicklungen in Pop- und Medi- enkultur. In ihrem Werk amalgamierten sie so auf den ersten Blick vollkommen unzusammenhängende Elemente. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 21 TILMAN BAUMGÄRTEL Abb. 4: Konzert von Minus Delta t beim Shvantz Festival in Frankfurt 1979 Foto: Minus Delta t. Ineinander verkeilt finden sich hier kunsthistorische Entwicklung wie das Ende der ersten Periode von Videokunst und Performance Art und das Aufkommen von Kunstkollektiven, das Rebellentum und die Selbstermächtigung von Punk und New Wave, medienhistorische Prozesse wie die Einführung von Privatsendern und Ka- belfernsehen sowie die zu dieser Zeit nur von Wenigen wahrgenommene Digitali- sierung und Vernetzung sowie das Ende des Warschauer Pakts und die darauf fol- gende Durchsetzung eines neoliberalen Wirtschaftsmodells in weiten Teilen der Welt inklusive neuer Praktiken von Arbeitsorganisation und Managementtechniken. Nur wenn man die Arbeit von Minus Delta t und Van Gogh TV als Ganzes betrachtet, wird verständlich, warum eine Performance-Gruppe mit Punk-Affinität schließlich eine Art Künstlerfirma gründete und dabei Methoden des Wirtschaftens und der Arbeitsorganisation vorwegnahmen, die heute in weiten Bereichen die Arbeitswelt prägen. DER WILLE ZUR ARTIKULATION: SELBSTERMÄCHTIGUNGSGESTEN IN PUNK UND NEW WAVE Welche Gemeinsamkeiten sehen die Macher selbst zwischen ihren Punk-Perfor- mance-Anfängen mit provokanten, konfrontativen und extrem körperlichen Aktio- nen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren und der Arbeit an dem Fern- sehprogramm Piazza virtuale von 1992, das vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wird und in dem der menschliche Körper größtenteils nur noch als entkörperlichte Stimmen in einer Art frühem akustischen Cyberspace vorkommt? NAVIGATIONEN 22 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT Mike Hentz beantwortet die Frage so: »Wir haben schon sehr früh die eigenen Produktionsmittel selber in die Hand genommen, was ein Teil von diesen New- Wave-, und Independent-Produktionen von Filmen bis Musik war: die Tendenz weg von der Zensur der Mainstream-Medien, selber herstellen, selber vertreiben. Das war der Unterschied zu anderen Performance-Leuten, die sich immer wieder auf diesen Kulturbetrieb verlassen haben… [Wir wollten – Anm.] eine eigene Platt- formen entwickeln...«1 Diesen Ansatz habe man bei Van Gogh TV in den Bereich der neuen Medien verlegt, die auch ganz neue Möglichkeiten zur unabhängigen Produktion boten. Dass die Punk-Bewegung, die oft als eine Jugendbewegung der Negativität und der Destruktion gilt, so eine so produktive Komponente gehabt haben soll, mag überraschen. Doch der Impuls der Selbstermächtigung war von Anfang an ein Ele- ment der Bewegung, deren Musik im Gegensatz zum Rock der 1970er Jahre keine musikalische Virtuosität verlangte. Und Punk war nicht nur ein musikalisches Genre, sondern beinhaltete auch einen Modestil, der persönliche Kreativität ohne handwerkliches Geschick zuließ, bevor er auf eine Handvoll ikonischer Kleidungs- stücke wie besprühte Lederjacken mit Sicherheitsnadeln und Bondagehosen aus rot kariertem Tartanstoff reduziert wurde. Die Punkbewegung brachte in ihrem Verlangen nach Autonomie von der Musikindustrie auch erste Fanzines und Inde- pendent-Labels wie Rough Trade oder Crass Records in Großbritannien oder Pure Freude, Ata Tak und Rondo in Deutschland hervor. Die Gründung von Plattenlabels, Magazinen, Galerien und Clubs sowie das un- abhängige Produzieren von Platten, Kassetten und Konzerten wurde auch in der auf Punk folgenden New-Wave-Bewegung fortgeführt und damit auch das Prinzip von Selbstorganisation und Do-It-Yourself. Während Punk musikalisch weitgehend eine stark vereinfachte Version herkömmlicher Rockmusik war, erlaubte New Wave musikalische Experimente und Innovationen, welche oft von Bands und Mu- sikern stammten, die – wie die Einstürzenden Neubauten oder Throbbing Gristle – keinerlei musikalische Ausbildung hatten oder wenigstens so taten. Einige der deut- schen – vor allem West-Berliner – Bands aus diesem Umfeld wurden unter dem Begriff Geniale Dilletanten zusammengefasst – dem absichtlich falsch buchstabierte Titel eines Konzerts, das 1981 im Berliner Tempodrom stattfand und das – auch durch eine gleichnamige Publikation von Wolfgang Müller, der mit seiner Perfor- mance-Gruppe Die tödliche Doris selbst zu dieser Szene gehörte – zum Synonym einer kurzen Epoche künstlerischen Aufbruchs wurde.2 Diedrich Diederichsen schreibt über die Genialen Dilletanten: Offensichtlich ging vom Punk ein Impuls zur Selbstermächtigung aus, der schon sehr bald nur noch wenig mit einem musikalischen definier- baren Stil zu tun hatte, aber alles mit einer anderen Gemeinsamkeit: 1 Interview mit Mike Hentz durch den Autor, 22.02.2019. 2 Müller: Geniale Dilletanten. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 23 TILMAN BAUMGÄRTEL einem Willen zur Artikulation… Es gab mithin keinen gemeinsamen, im engeren Sinne musikalischen Nenner, sondern eine Reihe von unver- blümten Selbstermächtigungsakten, die von der Eroberung ökonomi- scher und technischer Mittel stark beflügelt wurde. Gemeinsam war ihnen allenfalls die je nachdem qualifizierte oder unqualifizierte Ableh- nung von den Standards des Rocks und des richtigen Spielens.3 Auch wenn Minus Delta t weder bei dem Festival im Tempodrom noch in dem Merve-Buch von Wolfgang Müller vertreten war, passten sie als Künstler ohne tra- ditionelle Kunstausbildung und Band ohne formale musikalische Ausbildung genau in diesen Kontext. Auch ihr Wille zu Provokation, bewusster Regelverletzung und – oft physischen – Konfrontation mit dem Publikum entsprach dem Zeitgeist der Post-Punk-Periode. Mike Hentz: Wir haben deswegen immer wieder Konflikte gehabt, weil wir versucht haben, an existierenden Strukturen, die Gesetze haben, die unausge- sprochen, aber abgesteckt sind, die Grenzen zu finden. Das war einer- seits Provokation, aber andererseits wollten wir auch in andere Berei- che rein… Bei den interaktiven Sachen dienten die Provokationen ja auch dazu, die Leute zu provozieren, damit sie teilnehmen am Ritual oder am Geschehen oder an der Performance.4 Als Künstler profitierten sie von und partizipierten sie an Strukturen, die die deut- sche Neue-Welle-Bewegung aufgebaut hatten: Sie traten im Düsseldorfer New- Wave-Club Ratinger Hof und bei dem Neue-Welle-Festival Geräusche für die 80er in der Hamburger Markthalle auf und pflegten auch bei ihren Publikationen eine Ästhetik, die an Fanzines und Plattencover der Punk- und Neue-Welle-Bands erin- nerte; Minus-Delta-t-Mitglied Chrislo Haas war nach seinem Ausstieg aus der Gruppe Mitglied der einflussreichen Elektropunk-Bands Deutsch-Amerikanische Freundschaft und Liaisons Dangereuses sowie später bei Crime and the City Solution. Ein wichtiges Kennzeichen der New-Wave-Szene war auch, dass sie neue Technologien, die gerade auf den Massenmarkt gekommen waren, nutzen: Billiger werdende Tonbandgeräte machten Homerecording auch ohne teure Aufnahmeses- sions im Studio möglich, billige Kassettenrekorder erleichterten den Vertrieb eige- ner Musik, was Anfang der 1980er Jahre zu einem kurzen Boom von Kassettenla- bels führte.5 Neue, preisgünstige Synthesizer wie der Korg MS-20 oder sogar musikalisches Spielzeug wie der Casio Vl Tone oder das Stylophone erlaubten auch 3 Diederichsen: »Genies und ihre Geräusche. Deutscher Punk und Neue Welle 1978 – 1982«, 15f. 4 Interview mit Mike Hentz, 22.02.2019. 5 Eine Auswahl von Produktionen aus dieser Zeit findet sich auf dem Sampler »Science Fiction Park Bundesrepublik« (ZickZack) von 2016, die der Musiker und Komponist Felix Kubin zusammengestellt hat. NAVIGATIONEN 24 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT Nicht-Musikern die Produktion von bis dato unerhörter Musik, den Geräuschen für die 80er Jahre. Und Videorekorder, besonders ab der Einführung des VHS Formats 1976, führten nicht nur einer Weiterentwicklung der Videokunst und dem Entste- hen einer politisch motivierten Videobewegung, sondern – neben dem Amateur- filmformat Super 8 – zur Produktion von eigenen, schnell und billig produzierten Musikvideos und Konzertmitschnitten. Abb. 5: Die Medienausrüstung, die beim Bangkok-Projekt von Minus Delta t mitgeführt wurde, Foto: Minus Delta t. Minus Delta t nutzen alle diese Möglichkeiten, die ihnen diese nicht unbedingt neuen, aber nun auf dem Konsumentenmarkt zugänglich gewordenen Produktions- mittel boten. Mit einem Korg MS-20-Synthesizer (den Mike Hentz noch heute in seinem Atelier stehen hat) nahmen sie Musik auf, veröffentlichten eine Kassetten- produktion auf dem belgischen Independent-Label Moral, und ihre beiden Alben Das Bangkok Projekt (1984) und Opera Death (1987) wurden auf dem Düsseldorfer Independent-Label Ata Tak veröffentlicht. Ihre Auftritte und ihre Reisen durch den Ostblock oder – im Rahmen des Bangkok Projekts – durch Asien wurden auf VHS- Kassetten dokumentiert, die bei ihren Teilnahmen an der ars electronica 1986 oder beim Osnabrücker Medienkunstfestival 1988 gezeigt wurden. Seit Anfang der 1980er Jahre nutzte die Gruppe auch die ersten PCs, die zu dieser Zeit auf den Endverbrauchermarkt kamen. Hatten sie schon für ihre Philo- sophische Datenbank einen Sinclair-ZX-81, einen der ersten preisgünstigen Home- computer, eingesetzt, wurden Computer und ab Mitte der 1980er Jahre die ersten Mailboxen ein wichtiger Teil ihres künstlerischen Instrumentariums. Bei der docu- menta 7 befanden sich in ihrem Medienbus neben Videoschnittplätzen und einem NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 25 TILMAN BAUMGÄRTEL Radiostudio PCs, mit denen man sich unter anderem in die kalifornische Mailbox The W.E.L.L. einwählen konnte. Auch die Geräte, mit denen Van Gogh TV bei Hotel Pompino und Piazza virtuale arbeiteten, waren größtenteils Off-The-Shelf-Geräte wie die zu dieser Zeit gängigen Homecomputer von Atari, Amiga, Apple sowie IBM- Klone. So vollzog die Gruppe eine der wichtigsten technischen Entwicklungen mit, die in der Kunstszene dieser Zeit ansonsten kaum reflektiert wurden: die abneh- mende Relevanz der traditionellen Massenmedien und das Entstehen einer Medi- enlandschaft, die durch die Partizipation und Kollaboration ihrer Nutzer geprägt war. DIE ÖFFNUNG DER MEDIEN: MEDIENKUNST UND NEUE RUNDFUNK- FORMATE »Das Fernsehen hat uns lange genug gequält, jetzt schlagen wir zurück.« Dieser Satz von Nam June Paik ist so populär, dass er sogar auf eine Postkarte gedruckt wurde. Paik wird oft als Videokünstler bezeichnet, was angesichts seiner vielen Videobänder und Videoinstallationen auch gerechtfertigt ist. Doch wenn man Paiks Selbstzeug- nisse und Arbeiten genauer betrachtet, wird schnell klar, dass eine entscheidende Motivation seiner Arbeit darin bestand, seine Kunst in das Massenmedium Fernse- hen zu bringen. Nicht nur für ihn, sondern für viele Künstler seiner Generation war die Arbeit mit Video letztlich ein Ersatz für die mangelnden Möglichkeiten, tatsäch- lich selbst Fernsehen zu machen; und in diesem Sinn knüpfen Van Gogh TV mit Pia- zza virtuale an die Hoffnungen und Utopien an, die seit Ende der 1960er Jahre von zahlreichen Medienkünstlern gehegt wurden. Denn viele der Künstlerinnen und Künstler, die in den 1960er- und 1970er- Jahren durch ihre Videoarbeiten bekannt wurden, wären wohl lieber Fernsehkünst- ler gewesen – doch mit wenigen Ausnahmen hat sich weder das kommerzielle Fernsehen in den USA noch das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen für Künstler geöffnet – Ausnahmen wie Gerry Schums Fernsehgalerie (1969 und 1970) im deutschen Fernsehen und die Videokunstprogramme des Bostoner Senders WGBH-TV in den 1970er Jahren bestätigen die Regel. »Ich bin ein Kommunikationskünstler, und darum muss ich mit meinem Publi- kum kommunizieren.«6 Dieses Statement von Nam June Paik hätte wohl auch eine Reihe von anderen Künstlern unterschrieben, die versuchten, Fernsehen oder Kommunikationssatelliten für ihre Zwecke zu nutzen. Paik, der in den 1970er-Jah- ren in einem Bericht für die Rockefeller Foundation erstmals den Begriff Information Superhighway für die elektronischen Kommunikationsnetzwerke der Zukunft ver- wendete, lud bei seiner vierstündigen Fernsehperformance Video Commune von 1970 Passanten von der Straße zum Mitmachen ins Studio von WGBH-TV ein und bei der documenta 5 1972 richtete die Gruppe Telewissen ein mobiles Studio vor dem Ausstellungsgebäude ein. Der amerikanische Künstler Douglas Davis 6 Baumgärtel: net.art 2.0. Neue Materialien zur Netzkunst, S. 46. NAVIGATIONEN 26 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT veranstaltete 1971 für den Washingtoner Sender WTOP-TV eine Call-in-Sendung mit dem Titel Electronic Hokkadim, die man sich als direkten Vorläufer des Piazza- virtuale-Programmsegments Coffeehouse vorstellen kann.7 Davis hat auch danach wiederholt Performances mit Publikumsteilnahme für das Fernsehen entwickelt, doch die erfolgreichsten derartigen Aktionen stammten wiederum von Nam June Paik, der mit den globalen Satellitenprojekten Good Morning Mr. Orwell (1984), Bye Bye Kipling (1986) und Wrap around the World (1988) Fernsehgeschichte schrieb und auch einen direkten Vorgänger der Projekte von Van Gogh TV lieferte. Wie Paik versuchten auch andere Künstler schon früh, mit den internationalen Fernsehsatelliten zu arbeiten: 1980 ließ das Künstlerduo Mobile Image (Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz) bei seiner Arbeit Hole in Space: A Public Communication Sculpture Menschen in New York und Los Angeles über eine Satellitenschaltung live miteinander kommunizieren; Satellitenskulpturen sind in den folgenden Jahren fast zu einem eigenen Kunstgenre geworden, an dem sich so unterschiedliche Künstler wie General Idea, Jean-Marc Phillippe, Pierre Comte, Ingo Günther, Peter Fend, Dennis Oppenheim, Wolfgang Staehle und Paul Sharits beteiligt haben. Ein vergleichbarer, medienemanzipatorischer Gestus ist auch bei den Versu- chen von Künstlern zu beobachten, die ab Ende der 1970er Jahre versuchten, die weltweiten Computernetze, die es bereits vor dem Internet gab, für künstlerische Experimente zu öffnen. Hier sind unter anderem die Künstler zu nennen, die 1978 bei der Konferenz Artist's Use of Telecommunication zusammenfanden. Die Konfe- renz fand physisch im San Francisco Museum of Modern Art statt, aber über Satellit und mit dem Computersystem der Firma I.P. Sharp waren Künstler in anderen Städten und Ländern zugeschaltet. Neben dem Organisator Bill Bartlett gehörten unter anderem Gene Youngblood, Hank Bull (Vancouver), Douglas Davis und Wil- loughby Sharp (New York), Norman White (Toronto) und Robert Adrian X (Wien) zu den Teilnehmern dieses Symposiums, aus dem sich in den folgenden Jahren über das Time-Sharing-Netzwerk von I.P. Sharp Associates eine Reihe von Online- Schreibkollaborationen und Experimente mit Slow Scan Television entwickelten. Eine detaillierte Darstellung dieser Aktivitäten würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, aber es bleibt festzuhalten, dass Künstler immer wieder zu den Ersten gehörten, die das Potential neuer Medienkonfigurationen erkannten und sie für Zwecke zu öffnen versuchten, die den Betreibern dieser Angebote mit ihrem Fo- kus auf kommerzielle und massenmediale Nutzung fern lagen.8 Aber es waren nicht nur die Künstler, die zu dieser Zeit versuchten, die neuen elektronischen Medien für ihr Publikum zu öffnen. Dieser Zeitgeist, der diesen Ver- suchen zu Grund lang, erreichte in den 1970er Jahren auch Fernsehen und Radio, wo man ebenfalls nach Methoden suchte, das Publikum in die Medienproduktion einzubeziehen. Beeinflusst durch die Brecht'sche Radiotheorie und ihrer 7 Baumgärtel: net.art 2.0. Neue Materialien zur Netzkunst, S. 50-65. 8 Für eine ausführlichere Darstellung dieser frühen Medienexperimente vgl. Baumgärtel: »Im- material Material. Physicality, Corporality, and Dematerialization in Telecommunication Artworks«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 27 TILMAN BAUMGÄRTEL Neuformulierung in Hans Magnus Enzensbergers Baukasten zu einer Theorie der Medien versuchten auch die öffentlich-rechtlichen Sender Fernsehsender im West- Deutschland der 1970er Jahre sich für die Teilnahme des Publikums zu öffnen. Sendungen mit Publikumsbeteiligung hat es in Deutschland bereits seit Ende des Zweiten Weltkriegs gegeben: Bei Sendungen wie Der Hörer hat das Wort, die in den 1950er Jahre vom WDR produziert wurde, wurde Zuschauerpost zu einem Thema vorgelesen wurde, das vom Publikum vorgeschlagen worden war. Ähnliche Sendungen gab es beim WDR auch in den Jahren danach immer wieder, so zum Beispiel Was meinen Sie dazu, Hörerbriefe im Frauenfunk oder Kritik Replik, bei der vor laufender Kamera Zuschauerpost vorgelesen und beantwortet wurde.9 In fol- genden Sendungen wurde der Brief durch Anrufe abgelöst, wie zum Beispiel bei der Fernsehsendung Anruf erwünscht.10 Anfang der 1970er Jahre tauchten im Fernsehen eine ganze Reihe von neuen Fernsehsendungen bei den öffentlich-rechtlichen Sendern auf, welche die Teil- nahme des Publikums in den Mittelpunkt stellten. Wohl als Nachwirkung der Stu- dentenbewegung wollte man so wie Willy Brandt ›mehr Demokratie wagen‹, und nahm Sendungen ins Programm, bei dem das Publikum sich einbringen konnte. Sendungen wie Jetzt red I des Bayrischen Rundfunks (seit 1971) oder Hallo Ü-Wa- gen im WDR-Hörfunk (1974 – 2010) ließen die Zuschauer in Live-Sendungen zu aktuellen Themen zu Wort kommen. Carmen Thomas, die Moderatorin von Hallo Ü-Wagen, wurde 1989 beim WDR Leiterin der Programmgruppe Forum für Mit- mach-Sendungen, die Sendungen wie Hörer-innen machen Programm, Offenes Radio und Funkhaus Wallrafplatz produzierte. Um die Hörer zur Partizipation zu bewe- gen gab es ein öffentliches Studio in der Kölner Innenstadt und Mitmach-Informe- rInnen im ganzen Sendegebiet des WDR, die bei der Produktion eigener Radiosen- dungen Unterstützung gaben. Beim BR-TV-Magazin Thema konnten Anrufer ›unzensiert‹ 40 Sekunden lang die aktuellen Beiträge kommentieren; bei Ventil im ARD-Nachmittagsprogramm sollten »alle, die mögen, für zwei Minuten lang Dampf ablassen können«, wie Redakteurin Lisa Kraemer 1971 im Spiegel zitiert wird.11 In den 1980er Jahren verschwanden diese Formate nach und nach aus dem Fernsehprogramm. Ab 1979 begann das ZDF allerdings, mit dem neuen Tele-Dia- log-Verfahren (TED) ein in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bundespost ent- wickeltes Televoting-Verfahren einzusetzen, das in Fernsehsendungen für nicht re- präsentative Umfragen oder Abstimmungen eingesetzt wurde. Bei einem Anruf wurde ein Impuls auf einer Datenleitung ausgelöst, ein Verfahren, das in gewisser Hinsicht ein Vorläufer der Steuerung von Computerprogrammen war, die mit Hilfe des Tonwahlverfahrens bei Piazza virtuale stattfand. Diese Anfänge einer technologisch-interaktiven Beteiligung des Publikums, das bald auch bei Unterhaltungssendungen wie Wetten, dass..? eingesetzt wurde, führte 9 Richter: »Der Fernsehfriedhof. Fernsehen im Fernsehen«. 10 Katz u.a.: Am Puls der Zeit. 50 Jahre WDR, S. 202. 11 »Offener Kanal«, S. 95f. NAVIGATIONEN 28 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT damals noch zu politischen Kontroversen: 1987 wollte der Hamburger Bundestags- abgeordnete Peter Paterna (SPD) sogar TED-Abstimmungen in Fernsehen verbie- ten: »Solche elektronischen Abstimmungen, moniert der sozialdemokratische Me- dienexperte«, heißt es damals im Spiegel, seien »verfassungsbedenklich, wenn nicht verfassungswidrig«. Denn damit werde, »scheinbar ein Volkswille demonstriert, der plebiszitähnliche Formen annimmt«. Die Folge sei ein »massiver Meinungs- druck, der die Unabhängigkeit von Abgeordneten gefährdet« – das Prinzip der re- präsentativen Demokratie, wonach Parlamentarier »an Aufträge und Weisungen nicht gebunden« sind (Artikel 38 des Grundgesetzes), gerate in Gefahr. Dabei stütze er sich auf den BTX-Staatsvertrag von 1983, der Abstimmungen per Bild- schirmtext ausdrücklich verbot: »Die amtliche Begründung zum Btx-Staatsvertrag paßt [sic!] freilich haargenau auch aufs Fernsehen, wenn die Telephonleitung als ›Rückkanal‹ genutzt wird.«12 Einen solchen ›Rückkanal‹ ins Massenmedium einzu- bauen, war freilich genau das Ziel, das Van Gogh TV bei Piazza virtuale mit verschie- denen technischen Verfahren anstrebte. Diese Einbeziehung des Publikums passt nicht nur zum Gestus der Selbstermächtigung, der die Arbeit von Minus Delta t und Van Gogh TV prägte, sondern auch zu der sich veränderten Arbeitskultur der kom- menden Jahre, in der dem Mitarbeiter größere Freiheiten und ausgeprägtere Teil- nahmemöglichkeiten eingeräumt werden sollten. DER ›NEUE GEIST DES KAPITALISMUS‹: DIE ARBEITSKULTUR BEI PIAZZA VIRTUALE Zuletzt soll die Arbeit von Van Gogh TV im Kontext der größeren tektonischen Ver- änderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik betrachtet werden, die um 1990 in Europa stattfanden und die von dem Projekt reflektiert wurden. Durch den Fall der Mauer und den Untergang des Sozialismus war zwar die kapitalistische Wirt- schaftsordnung als Sieger aus dem Wettkampf der politischen Systeme hervorgegan- gen. Doch es waren nicht nur die ehemaligen Länder des Warschauer Paktes, die sich nach der Systemumstellung von Sozialismus auf Kapitalismus einer drastischen Rosskur unterziehen mussten. Die Ostblockstaaten mussten sich im Tausch für die Unterstützung des Internationale Währungsfonds (IWF) dem Washington Consen- sus unterwerfen, zu dem unter anderem Privatisierung von Staatseigentum, Dere- gulierung der Wirtschaft und Liberalisierung der Finanzmärkte gehörten. In westli- chen Ländern wie Großbritannien oder den USA war bereits im Zuge von Thatcherismus und Reagonomics schon seit fast seit einem Jahrzehnt der öffentliche Sektor nach den Dogmen des Neoliberalismus umgebaut worden. In Deutschland wurde das neoliberale Instrumentarium erst durch die CDU-geführte Regierung unter Helmut Kohl eingeführt, als ab Anfang der 1990er Jahre die Wirtschaftskrise, die durch die Wiedervereinigung mit der praktisch bankrotten DDR ausgelöst wor- den war, bekämpft werden musste. 12 »Klimbim mit Ted«, S. 199 NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 29 TILMAN BAUMGÄRTEL Abb. 6: Der Transporter von Minus Delta t mit Sponsoren-Logos, Foto: Minus Delta t. Abb. 7: Containerstudio bei der documenta 1992 mit Sponsorenlogos, Foto: Altschaffel.com. In den neuen Bundesländern wurde von der Treuhand in großen Stil Staatsbesitz privatisiert, und in ganz Deutschland wurde in den folgenden Jahren der Staat zu- gunsten der ›Kräfte der freien Marktwirtschaft‹ zurückgedrängt. In der Folge wurde es in der Kultur zunehmend üblich, Ausstellungen und andere Kunstaktivitäten we- gen fehlender öffentlicher Mittel mit der Hilfe von Sponsoren durchzuführen, eine Praxis, die Minus Delta t bereits in den 1980er Jahren erprobt hatte. Schon auf dem Laster, mit dem Minus Delta t bei ihrem Bangkok Projekt von 1982 bis 1984 einen Stein aus Wales nach Bangkok transportierte, klebten die Logos von Sponsoren wie Miele, Continental, Sinclair und Milde Sorte, die das Projekt unterstützt hatten; wei- tere Mittel wurden durch den Verkauf einer Kunstaktie erwirtschaftet. NAVIGATIONEN 30 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT Abb. 8: Sponsorennamen im Abspann von Piazza Virtuale Screenshot. Abb. 9: Die Kunstaktie von Minus Delta t. Zu dieser Zeit war die Arbeit mit Sponsoren in der Kunst noch verpönt und hat der Gruppe viel Kritik eingebracht, die man sich heute, wo Kunstausstellungen Goldsponsoren haben und mit internationalen Marken kooperieren, kaum noch vor- stellen kann. Van Gogh TV führte diese Praktiken bei Piazza virtuale nicht nur weiter, sondern professionalisierten sie auch: Nun war eine eigene Mitarbeiterin für die Arbeit mit den Sponsoren zuständig; auf den Containern in Kassel, aus denen die Gruppe Piazza virtuale sendete, prangte nicht nur das Logo der Telekom, ohne de- ren gesponserte Satellitenverbindung das Programm nicht hätte stattfinden kön- nen, sondern auch die Namen von Computerfirmen wie Apple oder Armstrad, der Computerzeitschrift Mac-Up, von Lavazza und des amerikanischen Computer- dienstleisters Electronic Data Systems. Gleichzeitig nimmt die Arbeitsweise und die Organisationsform des Projekts schon einige der Operationsweisen und Managementtechniken vorweg, die in den NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 31 TILMAN BAUMGÄRTEL kommenden Jahren bei vielen Unternehmen Einzug hielten, besonders bei Neu- gründungen im Bereich von IT und Internet, für die Van Gogh TV in gewisser Weise ein Vorläufer war. Van Gogh TV erreichte seine Ziele mit einem Mindestmaß an Unkosten und Manpower, die an die Art der Unternehmungsführung erinnerte, die unter Schlagworten wie lean management oder schlanke Produktion bekannt wurde, also auf die zielgerichtete Gestaltung der wirtschaftlichen Aktivitäten und den Ab- bau unnötiger Kosten ausgerichtet ist. Auch wenn das Projekt natürlich kein Wirt- schaftsunternehmen war, operierte es doch wie die Art von Firmen, die im Zuge von wirtschaftlicher Deregulierung und Flexibilisierung Hierarchien abbauten und aufwendige bürokratische Organisation durch Netzwerk und Projekt ersetzten. Bei der Umsetzung seiner Ziele agierte es oft unkonventionell und ohne allzu großen Respekt für Regeln und Vorschriften. Move fast and break things, das einstige Un- ternehmensmotto von Facebook, das die Firma aus den Methoden der Hackerkul- tur abgeleitet hatte, beschreibt tendenziell auch das Vorgehen von Van Gogh TV. Abb. 10: »Ponton Projekte« aus einer Selbstdarstellung der Gruppe. Abb. 11: Einladung zu »University TV: Das Projekt« in Hamburg 1989. NAVIGATIONEN 32 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT Besonders bei dem, was bei Wirtschaftsunternehmen Mitarbeiterführung heißt, er- innert die Vorgehensweise von Van Gogh TV an die Methoden, die seit den 1980er Jahren von amerikanischen Management-Gurus wie Tom Peters und Alvin Toffler Drucker gepredigt wurden: Sie propagieren Partizipation statt formaler Autorität, Eigenverantwor- tung statt hierarchischer Kontrolle, Autonomie statt Fabrikdisziplin… Mit der institutionellen Hierarchie soll auch das Arkanwissen der obe- ren Etagen verschwinden, an die Stelle von pyramidenförmigen Orga- nisationen sollen eigenverantwortliche Teams treten, die in einem Netzwerk miteinander verbunden sind… Gefordert wird ein schöpfe- risches Subjekt, das sich nicht in der vermeintlichen Sicherheit von Rou- tinen ausruht, sondern seine Arbeit jeden Tag neu erfindet.13 Die Mitarbeiter von Van Gogh TV waren nicht primär durch finanzielle Interessen geleitet – bei Industrieunternehmen hätten gerade die Programmierer und Tech- niker viel mehr verdienen können als die Monatlöhne zwischen 500 und 1200 Mark, mit denen die anspruchs- und verantwortungsvolle Arbeit an Piazza virtuale wäh- rend der documenta honoriert wurde. Aber dafür bot ihnen diese Tätigkeit eine große persönliche Freiheit und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, die es bei traditionellen Unternehmen wohl nicht gegeben hätte. Manuel Tessloff, der einen Teil der Musik der Sendung komponiert hatte und bei den Live-Sendungen für die Tontechnik zuständig war, beschreibt die Arbeits- atmosphäre bei Piazza virtuale als »extrem emotional und extrem hungrig, was wirklich Einzigartiges zu machen… Das war uns auch bewusst, [...] dass wir mit Technologie arbeiten, die eben nicht auf jedem Schreibtisch steht, sondern was ganz Besonderes und total Neues ist, mit dem wir jetzt auch etwas machen können, was einfach noch nicht gemacht wurde.«14 Christiane Klappert, zuständig für Marketing und Pressearbeit, beschreibt es ähnlich: »Es gab also einerseits die Anspannung, den Druck, jeden Tag auf Sendung zu sein und die ganzen organisatorischen Aufgaben zu erledigen. Aber es gab na- türlich auch immer das Gefühl, Teil eines avantgardistischen wirklich total spannen- den Projekts zu sein. Bei Ponton hatte man immer das Gefühl: Da, wo wir sind, ist vorne.«15 Und Nicolas Baginski, Schöpfer der Roboterkamera im Studio, erinnert sich: »Alle waren natürlich auch extrem angefixt von der Herausforderung… Alle saßen dort und haben gearbeitet von früh bis spät... Alle waren von der Arbeit be- seelt und unheimlich ambitioniert und haben versucht, da was Einzigartiges zu stemmen, was es noch nicht gab.«16 13 Bröckling: »Bakunin Consulting, Inc.«, S. 19. 14 Interview mit Manuel Tessloff durch den Autor, 28.03.2019. 15 Interview mit Christiane Klappert durch den Autor, 20.02.20219. 16 Interview mit Nicolas Baginiski durch den Autor, 21.02.2019. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 33 TILMAN BAUMGÄRTEL Eine besondere Rolle scheint für die Mitarbeitermotivation auch die Tatsache ge- spielt zu haben, dass man an einem Kunstprojekt mitarbeitete: Christian Wolff, der als Programmierer das Telefoninterface und andere Technologien mitentwickelt hatte, die eine wichtige Grundlage des Projekts war, beschreibt es so: »Richtig be- zahlt wurde ja keiner von uns. Wir haben wirklich alles aus freien Stücken gemacht und weil es uns interessierte… Aber haben dann eben auch immer eine gute Zeit gehabt da in den Containern. Da waren ja immer sehr viele Künstler, da waren auch viele andere von den Documenta-Künstlern, die vorbeikamen und sich sehr inte- ressierten, was wir denn da machten.«17 Arbeit, bei der man sich selbst verwirklichen kann und die eine Herausforde- rung für die eigene Kreativität ist, ist für französischen Wirtschaftswissenschaftler Luc Boltanski und Eve Chiapello Kennzeichen einer neuen, postindustriellen Ar- beitskultur, die sich in den 1990er Jahren entwickelt. Interessanterweise entwickelt sich diese Arbeitskultur aus einer Kritik an der Arbeitswelt der Nachkriegszeit, die sie als Künstlerkritik bezeichnen. Für ihr Buch Der neue Geist des Kapitalismus (1999) analysierten sie Managementliteratur aus den 1960er und aus den 1990er Jahren und beobachten dabei signifikante ideologischen Veränderungen des Kapitalismus. Während zwischen 1930 bis 1960 »das große, zentralisierte, durchbürokratisierte und gigantomanische Industrieunternehmen« vorherrscht, wird dies im Untersu- chungszeitraum durch einen globalisierten Konzernkapitalismus abgelöst, der auf neuen Technologien beruht und bei dem die Arbeitnehmer ganz neue Anforderun- gen an ihre Tätigkeit stellen. Diese Veränderungen des Kapitalismus seien ausgelöst durch zwei Arten von Kritik: Einerseits eine Sozialkritik, die den Kapitalismus als ungerecht und ausbeuterisch betrachtet, anderseits aber auch durch eine Künstler- kritik, die den Kapitalismus ablehnt, weil dieser das autonome Subjekt unterdrücke und es zu fremdbestimmter, unkreativer Arbeit zwingt. Diese Form der Kritik sei durch die Studentenbewegung und die ›68er‹ in die Debatte eingeführt worden. Diese Künstlerkritik hat sich zunächst in kleinen Künstler- und Intellektuellenkreisen entwi- ckelt… (Diese) kritisieren die Unterdrückung in einer kapitalistischen Welt (die Herrschaft der Märkte, die Disziplin, die Fabrik), die Unifor- mierung in einer Massengesellschaft und die Transformation aller Ge- genstände in Waren. Demgegenüber pflegt sie ein Ideal individueller Autonomie und Freiheit, ihre Wertschätzung gilt der Einzigartigkeit und Authentizität.18 Diese Kritik orientiert sich am Künstlerleben, seit jeher ein attraktives Modell der Lebensführung. Künstler führen, so sagt man zumindest, ein freies Leben und arbeiten selbstbestimmt. 17 Interview mit Christian Wolff durch den Autor, 22.05.2018. 18 Boltanski/Chiapello: »Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel«, S. 67. NAVIGATIONEN 34 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT Deshalb galt ihre Lebensgestaltung lange Zeit als eine Alternative zu ei- nem entfremdeten, fremdbestimmten Leben… Es ist leichter, etwas zu kritisieren, wenn man ein Modell angeben kann, wie es besser sein könnte. Die Künstlerexistenz war ein solches Modell.19 Beim Kunstprojekt Piazza virtuale fanden die Mitarbeiter genau diese Art von ›künstlerischer Freiheit‹, die ihnen in einem traditionellen Unternehmen verwehrt geblieben wäre. Dafür nahmen sie nicht nur eine wesentlich schlechtere Bezahlung in Kauf, es motivierte sie sogar noch zu Höchstleistungen, weil sie die künstleri- schen Ziele des Projekts als ihre eigenen annahmen und so aus einer extrinsischen eine intrinsische Motivation wurde. Auch der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz hat diesen Mechanismus beo- bachtet, und zwar nicht nur im Bereich der Creative Industries, sondern in jeder Art von modernem Unternehmen: Heutzutage will und soll jeder kreativ sein. Dahinter steht das, was ich ›Kreativitätsdispositiv‹ nenne: Eine individuelle und gesellschaftliche Orientierung am Kreativen, die Wunsch und Zwang zugleich ist. Früher waren Religion und Politik klassische Orte, wo Sinn und Befriedigung gefunden werden konnten. Diese Funktion erfüllt in der modernen Ge- sellschaft zunehmend das Ästhetisch-Kreative.20 Auch für Reckwitz ist die Figur des Künstlers und seines Lebensmodells für diese Art der Arbeit der zentrale Bezug: Wenn im sogenannten postmodernen Management flache Hierarchien, Teamorientierung und die Rücknahme der strikten Arbeitsteilung in- nerhalb der Unternehmen gefordert werden, scheint hier [...] das Künstlerkollektiv Pate zu stehen, als das Modell einer strikt funktional und hierarchisch orientierten Matrixorganisation. Zentral wird auch die Idee, dass der Arbeitsprozess emotional und affektiv – und gerade nicht rein zweckrational und damit gefühlsneutral – sein soll.21 Diese affektive Bindung an die Arbeit beschreibt auch Manuel Tessloff bei Piazza virtuale: »Wir haben Feste gefeiert, gemeinsam auch mit den Leuten in Kassel auf dem Marktplatz, und die live übertragen. Und es war [...] immer wieder emotional, es war immer wieder eine andere Situation durch die verschiedenen Konstellatio- nen, die sich eingestellt haben.«22 So positiv die Arbeitssituation bei manchen ehe- maligen Mitarbeitern von Van Gogh TV auch in Erinnerung geblieben sein mag – bei 19 Misik: »Was ist der der ›neue Geist‹ des Kaptalismus, Frau Chiapello?« 20 Kretschmer: »Bloß nicht kreativ sein«. 21 Ebd. 22 Interview mit Manuel Tessloff, 28.03.2019. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 35 TILMAN BAUMGÄRTEL einigen führte die Identifikation und die Hingabe an die Arbeit auch zu Burn-Out und Erkrankungen. Salvatore Vanasco erinnert sich daran, dass »wir ab Mitte Au- gust öfters die Befürchtung hatten, eine Sendung nicht mehr fahren zu können, weil alle krank waren, weil einfach die Anstrengung von zwei Jahren auf einmal aus- brach.«23 Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat in seinem Buch Das er- schöpfte Selbst dargestellt, dass solche Symptome oft Selbstverwirklichungserkran- kungen sind, die von der Überforderung durch die eigenen hohen Ansprüche ausgelöst werden.24 Bei aller Möglichkeit zur kreativen Tätigkeit und Selbstverwirklichung gaben die Gründer von Ponton freilich die Ziele und den Rahmen des Projekts vor, inner- halb derer sich die Mitarbeiter beweisen konnten – wie natürlich auch bei jedem Unternehmen, das den neuen Geist des Kapitalismus (Boltanski/Chiapello) prakti- ziert. Mike Hentz beschreibt es so: Karel, Salve, Benji and I together acted as mediators, canvassers, team leaders, mediators and idea generators. We prepared the Piazza virtuale project for almost a year. We set goals and pursued ideas together with the team, the implementation of which was monitored, supplemented and developed in weekly meetings. In the event of financial bottlenecks or deadline pressure, we as a ›gang of four‹ set the priorities in a thor- oughly authoritarian manner. The team accepted our authority, but al- ways smiled upon our stress. They could always concentrate on their projects in the lab, while we, busy with acquisition and negotiations, were permanently on the road.25 Indem sie ihren Mitarbeitern weitreichende kreative Freiheit im vorgegebenen Rahmen gaben, operierten die vier Gründer von Van Gogh TV wie die Art von Un- ternehmensführer, die Boltanski und Chiapello als Neomanager bezeichnen, »ein kreativer, intuitiv handelnder, erfindungsreicher Mensch mit Visionen, Kontakten, zufälligen Bekanntschaften«. Dieser würde dem Bedürfnis nach Authentizität und Freiheit seiner Mitarbeiter entgegenkommen, indem er Eigenschaften wie »Auto- nomie, Spontaneität, Mobilität, Disponibilität, Kreativität, Plurikompetenz (und) die Fähigkeit, Netzwerke« zu bilden, ermutige. Diese Eigenschaften seien »direkt der Ideenwelt der 68er entliehen«.26 Gerade die Fähigkeit, Netzwerke aufzubauen und sich ihrer zu bedienen, ge- hörte zu den Charakteristika der Arbeit von Minus Delta t, Ponton und Van Gogh TV. Piazza virtuale wäre ohne die mannigfaltigen Netzwerke, die ihre Gründer – besonders Mike Hentz – geschaffen hatten, überhaupt nicht möglich gewesen. 23 Interview mit Salvatore Vanasco durch den Autor, 08.06.2018. 24 Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. 25 Interview mit Mike Hentz, 22.02.2019. 26 Boltanski/Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 143f. NAVIGATIONEN 36 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT Christiane Klappert spricht in diesem Zusammenhang von einer Aura, die die Pon- ton-Gründer hatten und die ihnen eine gewisse Unnahbarkeit verliehen habe: »Na- türlich war das auch alles sehr, sehr mystisch. ›Wir sind subversiv, wir kommen aus der Punk-Szene, wir können aber auch jederzeit mit dem Papst und mit dem Dalai Lama sprechen. Wir kennen die auch alle persönlich.‹ Das war schon so ein Nimbus oder so ein Ruf, der ihnen vorauseilte.«27 Das Netzwerk von Ponton verdichtete sich bei Piazza virtuale zu einem Projekt, ein Begriff, der sowohl bei Minus Delta t/Ponton wie auch bei Boltanski/Chiapello immer wieder vorkommt. Bei Minus Delta t beginnt das mit dem Bangkok Projekt. Auch Die philosophische Datenbank wird im Katalog der Ars Electronica als Projekt bezeichnet, ebenso später Hotel Pompino. Weil der Begriff heute – ebenso wie das Team, von dem bei Ponton auch immer wieder die Rede ist – heute so gebräuchlich geworden ist, fällt vielleicht schon gar nicht mehr auf, wie ungewöhnlich es zu die- ser Zeit war, wenn eine Künstlergruppe in ihren Selbstdarstellungen ausschließlich Projekte aufzählt so wie traditionellere Künstler ihre Werke. Für Boltanski/Chiapello ist das Projekt ein temporärer Knoten im Netz. Das Pro- jekt kommt aus dem Netz und löst sich darin wieder auf, das Individuum findet sich in dieser neuen Arbeitswelt in einer Kette von Projekten wieder; an die Stelle einer linearen Karriere tritt das Vermögen, sich möglichst prominent in Projekte einzu- bringen und diese als Sprungbrett für das nächste Projekt zu nutzen. Auch diese Beschreibung trifft auf Piazza virtuale zu: Alle Beteiligten wussten, dass die Mitarbeit an Piazza virtuale auf einen Zeitraum von einigen Monaten beschränkt war, und man in dieser Zeit das Maximum an kulturellem Kapital, Netzwerkverankerung und neuen Fähigkeiten mitnehmen musste. Der Künstler Ronald Gonko – der bei Piazza virtuale mit der Piazzetta Bremen ein Ministudio in der Kunsthochschule organisierte – das Live-Programme für die Sendung lieferte, sagte später im Interview: »Ich habe so viel gelernt in der Zeit, wie danach nie wieder in so kurzer Zeit.«28 Ähnlich äu- ßert sich auch Janine Sack, die als Mitglieder Gruppe Frauen und Technik an der Hamburger Piazetta mitarbeitete: Die Mitarbeit an Piazza virtuale sei »eigentlich der wichtigste Teil meiner Ausbildung (gewesen – Anm.)«, ein »wahnsinnig wichtigen Schritt, um bestimmte Grundkompetenzen zu erwerben, die mich bis heute tra- gen. Ein selbstständiges Arbeiten, auch eine Angstfreiheit, sich in immer wieder neue Kontexte und Strukturen hineinzubegeben und immer Kollaborationen zu su- chen, in denen man Projekte machen kann.«29 Für viele der Mitarbeiter war Piazza virtuale der erste Schritt auf einer persön- lichen Laufbahn, die einige von ihnen zu höchst prestigeträchtigen Arbeitsstellen an Hochschulen, Forschungseinrichtungen oder Medien- und IT-Unternehmen führte, für andere aber auch der Beginn einer Existenz als selbstbestimmte und selbstor- ganisierte Freiberufler, als Künstler, Kuratoren, Gestalter oder Autoren, oder als 27 Interview mit Christiane Klappert, 20.02.20219. 28 Interview mit Ronald Gonko durch den Autor, 22.02.2019. 29 Interview mit Janine Sack und Cornelia Sollfrank durch den Autor, 08.06.2018. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 37 TILMAN BAUMGÄRTEL Unternehmer mit eigenen Medienfirmen. So profitierten viele der Mitwirkenden ganz direkt von ihrer Teilnahme an Piazza virtuale, sowohl von der Einbindung in das Netzwerk, dessen Teil sie durch die Mitarbeit wurden, aber auch von den Er- fahrungen und Qualifikationen, die sie durch die Mitwirkungen an dem Projekt sam- melten. FAZIT Wenn hier die Parallelen zwischen postmodernen Managementtechniken und der Organisation von Van Gogh TV so ausführlich dargestellt werden, dann ist dies nicht als Kritik an ihrem Vorgehen gedacht und auch nicht als mokanter Hinweis darauf, wie die Gruppe aus den Selbstermächtigungsgesten der Punkbewegung und den Möglichkeiten, die neue Medien wie Video und vernetzte Computer boten, eine neue Form der Selbstausbeutung schmiedete. Vielmehr soll so deutlich gemacht werden, wie die Gruppe die Erfahrungen in punkto Selbstorganisation und Motiva- tion, die sie in ihrer Kunstpraxis gesammelt hatten, in Methoden verwandelten, mit denen sich so ein aufwendiges und komplexes Projekt wie Piazza virtuale überhaupt nur durchführen ließ. So nehmen Van Gogh TV die Entwicklung von einem individuellen, künstleri- schen Subjekt zu einem Mitarbeiter an einem kreativen Projekt vorweg, der nicht nur in den Creative Industries, sondern auch in der Unternehmenskultur vieler der erfolgreichsten Firmen der Gegenwart praktiziert wird. Nicht nur bei Internetfir- men wie Facebook, Google oder Uber, sondern selbst beim ehemaligen Sponsor Deutsche Telekom setzt man heute auf eine Rhetorik vom Mitarbeiter, der selbst- verantwortlich und kreativ Risiken eingeht und sich selbst auf eine Weise einbringt, die in traditionellen Industrieunternehmen nicht vorgesehen war. So nehmen Van Gogh TV mit Piazza virtuale einen Zeitgeist voraus, der sich kurz danach nicht nur in der Wirtschaft, sondern in vielen gesellschaftlichen Berei- chen durchzusetzen begann: einer Entwicklung, in der die Verantwortung für das Individuum nicht mehr vom Staat (und auch von keiner anderen Institution) über- nommen wird, sondern vom Individuum selbst. Diese neue Form der Gouverne- mentalität hat Foucault in Die Geburt der Biopolitik auf diese Formel gebracht: »Ich werde dir die Möglichkeiten zur Freiheit bereitstellen. Ich werde es so einrichten, dass du frei bist, frei zu sein.«30 So könnte man wohl auch das (unausgesprochene) Programm der Arbeitsorganisation bei Piazza virtuale beschreiben, die der Hinter- grund für die Art von Fernsehen war, die Van Gogh TV 100 Tage lang im Sommer 1992 veranstaltete. 30 Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, S. 97. NAVIGATIONEN 38 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT LITERATURVERZEICHNIS Baumgärtel, Tilman: »Immaterial Material. Physicality, Corporality, and Demateri- alization in Telecommunication Artworks«, in: Neumark, Norie/Annemarie Chandler (Hrsg.): At A Distance. Precursors to Art and Activism on the Inter- net, Cambridge, MA 2005, S. 60-71. Baumgärtel, Tilman: net.art 2.0. Neue Materialien zur Netzkunst, Nürnberg 1999. Boltanski, Luc/Chiapello, Eve: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. Boltanski, Luc/Chiapello, Eve: »Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel«, in: von Osten, Marion (Hrsg.): Norm der Abweichung, Zürich 2003, S. 57-58. Bröckling, Ulrich: »Bakunin Consulting, Inc.«, in: von Osten, Marion (Hrsg.): Norm der Abweichung, Zürich 2003, S. 19-38. Diederichsen, Diederich: »Genies und ihre Geräusche. Deutscher Punk und Neue Welle 1978 – 1982«, in: Emmerling, Leonhard/Weh, Mathilde (Hrsg.): Geniale Dilletanten. Subkultur der 1980er-Jahre in Deutschland, Ostfildern 2015, S. 10-22. Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Ge- genwart, Frankfurt 2004. Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978/1979, Frankfurt 2006. Katz, Klaus u. a.: Am Puls der Zeit. 50 Jahre WDR, Bd. 3, Köln 2006. Kretschmer, Winfried: »Bloß nicht krativ sein. Wie die Kreativität erfunden wurde und wie sie unsere Gesellschaft bestimmt – ein Gespräch mit Andreas Reck- witz«, http://www.changex.de/Article/interview_reck- witz_bloss_nicht_nicht_kreativ_sein/, 05.03.2021. Misik, Robert: »Was ist der der ›neue Geist‹ des Kaptalismus, Frau Chiapello?«, https://misik.at/2006/10/was_ist_der_neue_geist_des_kapitalis- mus_frau_chiapello/, 05.03.2021. Müller, Wolfgang: Geniale Dilletanten, Berlin 1982. O.A.: »Offener Kanal«, in: Spiegel Nr. 33, 1971, S. 95f. O.A.: »Klimbim mit Ted«, in: Spiegel, Nr. 7, 1987, S. 198f. Richter, Christian: »Der Fernsehfriedhof: Fernsehen im Fernsehen«, Quotenme- ter.de, 25. Februar 2016, http://www.quotenmeter.de/n/83997/der-fernseh- friedhof-fernsehen-im-fernsehen, 05.03.2021. INTERVIEWS Baginiski, Nicolas: Interview, 21.02.2019 Gonko, Ronald: Interview, 22.02.2019 Hentz, Mike: Interview, 22.02.2019. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 39 TILMAN BAUMGÄRTEL Klappert, Christiane: Interview, 20.02.20219. Sack, Janine/Sollfrank, Cornelia: Interview, 08.06.2018. Tessloff, Manuel: Interview, 28.03.2019. Vanasco, Salvatore: Interview, 08.06.2018. Wolff, Christian: Interview, 22.05.2018. NAVIGATIONEN 40 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIE NEUE ELOQUENZ IM ÖFFENTLICHEN RAUM 1992 V O N K A R E L D U D E S E K 1 1. Jede Sekunde ein virtuelles Opfer, nach einer gewissen Zeit ist die Lust vorbei, und der Zwang hin zum System ›Geld‹ beginnt. 2. Fraktaler Paradigmenwechsel im deterministischen Chaos der virtuellen Realität. Was passiert denn hier? Wir haben ca. vierzig Jahre elektronische Manipulation einer Gesellschaft hinter uns. Die Gesellschaft selbst befindet sich in einem kollektiven pathologischen Fern- sehn-kauf-rausch-zustand. Die wenigen Künstler, die Fernsehkunst oder elektroni- sche Kunst machen, kommen darauf, daß sie im Medium einen Rückkanal benutzen können, sprich Kommunikation. Auf der anderen Seite die Zuschauer, die absolut geschockt sind, daß da plötzlich einer ist, der etwas von ihnen will. Beide Seiten wissen ersteinmal nicht, was zu tun ist. Das Problem ist, daß kein Timebasecorrec- tor zwischen dem Reaktions- und Wahrnehmungsvermögen des Zuschauers und des Machers geschaltet ist. Anderseits geht es der Industrie und auch der Gesell- schaft darum, daß eine scheinbare Tempogleichschaltung stattfindet, daß der Mensch dank der Geräte mit ihrer Geschwindigkeit konfrontiert ist, aber das Wich- tige ist, daß die Geräte die Entscheidungen abnehmen, die Identität sich auflöst und so den langsamen Zuschauer in einem Zustand hält, wo er unfähig ist zu denken. Wir wissen ja alle, wieviele Menschen täglich in die HiFi-Shops gehen, Videos kau- fen, Kassetten, Batterien, wieviele mit diesem ganzen Business zu tun haben, und wie sie sich eigentlich alle schämen, daß sie so schlecht ausgerüstete Menschen sind. Die Geräte sind so perfekt, durchgestylt und können sich entscheiden und da kommt ein Mensch, der ist nur geboren, er wird müde, merkt sich nicht viel und weiß sich nicht zu entscheiden. Da haben wir die zweite Ambivalenz, der Mensch tritt zurück, das Gerät ist quasi perfekter und man schämt sich insgeheim dafür, daß man eigentlich Mensch ist, daß man so unperfekt ist, wie man auf die Welt gekom- men ist. 1 Wiederabdruck aus Klaus Peter Dencker (Hrsg.): Interface 1. Elektronische Medien und künstlerische Kreativität, Hamburg 1992, S. 112-118. NAVIGATIONEN KAREL DUDESEK UNSERE PRAXIS Ich arbeite seit mehr als zehn Jahren mit einem Team in wechselnder Besetzung zusammen. Im Grunde ist es ein Kernteam aus vier Leuten, die aus verschiedenen Bereichen kommen, aus der Musik, aus der darstellenden Kunst, aus Medien, aus Film usw. Dieses Team arbeitet seit 1986 an dem Projekt »Ponton« bzw. an den Fernsehprojekten von »Van Gogh TV«, die Teilprojekte von »Ponton« sind. Ich will Ihnen erklären, wie so etwas anfängt, wenn man Medienkünstler ist. Man fängt in einer leeren Fabrikhalle an, findet irgendwo Neonröhren, kauft billig Geräte, improvisiert, baut zusammen, hat eine Glühlampe und hat ein mobiles Fahrzeug, was im übrigen eines der zentralen Themen von »Ponton« ist, mobil zu sein. Denn wir haben es von Anfang an nicht eingesehen, warum nur der elektrische Strom wandern kann und wir nicht. Warum wir bloß in dunklen Studios festsitzen und Konserven produzieren sollen. Zurück zum mobilen Einsatz oder der Idee der Mobilität in unseren Konzepten. Die professionell etablierten Medien und die Ge- sellschaft sind sich einig, daß Künstler mit dem Medium ›Fernsehen‹ nicht arbeiten sollen. Als Reaktion darauf haben wir uns entschlossen, in einem Bus, den wir uns gekauft haben, ein komplettes Studio einzurichten. Mit diesem Bus zu fahren und uns in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu installieren, sei es auf Mes- sen, sei es auf Kunstausstellungen, sei es auf Festivals, bei Schulen, bei Instituten oder sei es irgendwo, wo man uns gefragt aber auch dort, wo man uns nicht gefragt hat uns aufzustellen und zu arbeiten, zu senden. NAVIGATIONEN 42 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIE NEUE ELOQUENZ IM ÖFFENTLICHEN RAUM Dies als Beispiel: Wir waren als Performancegruppe bei der »documenta 8« einge- laden. Wir haben ein Radio gemacht, das – 24 Stunden, einen Monat lang im Stadt- raum von Kassel gesendet hat, natürlich als Piratenradio. Das war der Beginn unse- rer medialen Arbeit in Deutschland. Wir bekamen keine Sendeerlaubnis, also stellten wir einen selbst gebauten Sender auf und belegten ausgesuchte Sendefre- quenzen, die noch frei waren. Ein Ergebnis dieser Projekte war, daß die Post auf uns zugekommen ist und uns gebeten hat, es nicht an die große Glocke zu hängen, daß sie uns das Senden kurzzeitig erlaubt. Wir haben ungefähr einen Monat mit zweihundert Leuten aus ganz Europa auf eigene Kosten dieses Radioprojekt, das, glaube ich, eines der schönsten Radioprojekte in Deutschland war, in Kassel vor Ort betrieben. Dann kam hinzu, daß in dieser Stadt wirklich ein Ventil geöffnet wurde, das ist das Interessante, daß man durch Medien Ventile öffnen kann. Zum erstenmal haben die Leute, die das Monopol haben, also die Etablierten, mit Schre- cken gehört und erfahren, was da eigentlich vierzig Jahre lang verbrochen wurde. Die Öffnung eines solchen Ventils wurde natürlich sofort bekämpft, indem man Bedingungen stellte: Entweder mußte es ein zeitbegrenztes Kunstradio werden, oder es mußte eine Skulptur werden, oder es mußte die Sendungen einstellen. Als nächstes Projekt wechselten wir von diesem akustischen Komplex in den Bildbe- reich. Uns hat interessiert – das klingt jetzt zwar so, als ob ich als Wissenschaftler reden würde, aber ich habe es oft gesagt, und ich wiederhole es – uns hat es inte- ressiert, vom Ton- in den Bildbereich zu kommen und diese Bereiche zu koppeln. So einfach es klingt, haben wir es auch gemacht. Wir haben uns einen Fernsehsen- der bauen lassen und haben diesen Sender in Osnabrück aufgestellt, als Beitrag zum Film- und Fernsehjahr 1988. Das »European Media Art Festival« in Osnabrück war mutig genug, das Risiko einzugehen, Künstlern mit Staatsgeldern Piraten-Fernseh- Events zu finanzieren und sich später mit der niedersächsischen Landesregierung zu streiten. Als nächstes Fernsehprojekt waren wir dann einige Male bei der »Ars Electronica« eingeladen, wo wir zuerst als Modell, dann als praktische Kopplung an die Satellitenlinks, unser Kunstfernsehen senden konnten. Das passierte natürlich auch erst nach einem riesigen Kampf mit dem ORF. Es ging soweit, daß wir von Moskau aus – wir waren auf Tournee durch die Ostblockstaaten, 1989 bevor der Ostblock gekippt ist – ein Telex an den österreichischen Bundeskanzler geschickt haben und uns über die Situation, daß man uns solche Hindernisse in den Weg stellt, beschwerten. Daraufhin hat der ORF einen cleveren Ausweg gefunden. Man hat uns nicht in Österreich senden lassen. Wir konnten uns zwar in Österreich auf- bauen, sendeten aber unsere Bilder und Töne per Richtfunk nach Deutschland auf den Sender nach Mainz. Von dort beamte man es auf den Satelliten und vom Satel- liten beamte man es wieder nach Österreich. So komplex war der Weg des ersten Kunstfernsehens in Europa. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 43 KAREL DUDESEK WAS IST NUN DER GRUND, SOLCHE PROJEKTE ZU MACHEN? Da das Fernsehen sehr langweilig ist, uninteressant, und wir nicht mehr zugucken konnten, haben wir uns entschlossen, selber Programm zu machen. Da fingen na- türlich die ersten Schwierigkeiten an. Wie macht man so etwas? Für Künstler ist es, glaube ich, eine der schwierigsten Entscheidungen, im Teamwork zu arbeiten. Wir kennen die klassische Funktion des Künstlers. Er ist ein Individuum, das empfindlich ist, sensibel, poetisch, seine Sprache entwickelt aus seiner eigenen Lebensqualität, aus seiner eigenen Lebenssphäre und dann soll er noch soweit gehen, das mit an- deren zu teilen, tolerant zu sein, alles zu organisieren und zu verwalten usw. Diese ganzen Prozesse haben wir durchgemacht, d.h. einer der wichtigsten Punkte ist das Teamwork. Wenn Sie jemals mit Medien arbeiten wollen, müssen Sie fähig sein, im Team zu arbeiten. Im Team zu arbeiten, heißt nicht, wie wir es von den etablierten Institutionen kennen, daß man sich innerhalb eines hierarchischen Hick-Hack-Systems zusam- menrauft und am Schluß dann sogar Sendungen dabei herauskommen. Sondern es heißt, daß es klar definierte Bereiche gibt, und daß die Menschen, die da mitarbei- ten, genau wissen, um was es geht und wo ihre Funktionen und Stärken sind. Daß sie nicht andere blockieren, die andere Fähigkeiten haben. Das ist eines der wich- tigsten Erkenntnisse innerhalb dieser Projekte, eben weil wir mit vielen Künstlern zusammenarbeiten. Bei unseren Projekten gelingt natürlich vieles nicht, aber ebenso vieles gelingt. Wir koppeln die bestehenden klassischen Medien wie Mail- box, Computer, BTX, Bildtelefone, Kameras usw. Wir koppeln sie und bringen sie dann auf einer Oberfläche zusammen. Nun, das wäre erstmal nichts Neues. Das, was uns daran interessiert ist, diese gesamten Medien in einen Live-Kontext zu bringen. Das heißt nicht, in einem Studio vorgefertigte Konserven-Tapes einzuspie- len, sondern all die Medien während einer Sendezeit zirkulieren zu lassen und sie soweit wie möglich an das, was auf einer Bühne passieren kann und passieren wird, anzupassen. Es sind also zwei Punkte: Wir koppeln diese Medien, und wir bringen die Medien in einen Live-Kontext. Das heißt: Live-Fernsehen. Das, was uns inte- ressiert ist Live-Fernsehen. Das Studio, wie es aufgebaut ist, ist ein offenes Studio, ein Studio ohne Trennwände. Wir kennen das Problem, wenn Künstler sich etwas ausdenken und dann andere Leute damit konfrontieren. Die Zuschauer verstehen erstmal überhaupt nichts. Da gibt es also diese Profi-Künstler so wie wir. Wir den- ken uns ein Konzept aus, und wenn das jetzt Fernsehen ist, dann konfrontieren wir das Publikum mit unserem Denken und Empfinden über die Gesellschaft. Dann sitzt dieser arme Zuschauer davor und muß das konsumieren oder will das konsumie- ren. Was dabei für uns wichtig ist, ist, daß wir eine Zwei-Weg-Kommunikation schaffen, wie banal die auch immer aussehen mag. Dies ist erst das Ziel unseres Gesamtkunstwerkes. Daß wir Individuelles, was wir uns ausdenken, abschicken, daß das ankommt und daß darauf reagiert werden kann. Natürlich ist das Ender- gebnis der Kommunikation, auch zwischen uns Profi-Künstlern, sehr oft eine Frage wie: »Ja was kostet denn das eigentlich?« oder »Woher haben Sie denn das Geld, solche Sachen zu machen?« (das sind sehr interessante und tiefgehende NAVIGATIONEN 44 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIE NEUE ELOQUENZ IM ÖFFENTLICHEN RAUM philosophische und soziologische Fragen). Ein Ziel ist die angestrebte Verbindung der Profi-Künstler mit einer gewissen Art von Kunst, vielleicht kann man sie Volks- kunst nennen. Nur ein Beispiel: Es gibt Millionen von Musikern, von denen kein Mensch etwas weiß, genauso gibt es viele Computerleute, die Computer zu Hause haben und von denen keiner etwas weiß. Zu denen versuchen wir, über die Kabel oder Satelliten- linien und die klassischen Kommunikationsleitungen, wie Telefon oder BTX, durch- zudringen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Wichtig ist, daß wir es schaffen, das Lebensgefühl, das bei unserer Arbeit entsteht, zu transportieren. Denn wir alle kennen die sterilen Fernsehstudios, wir alle kennen den Druck, der da entsteht, diese langweilige Szenerie; ich glaube, daß das ein wesentlicher Grund ist, warum es mit der Medienkunst nicht klappt. Es existiert keine Identifikation mit dem Le- bensgefühl. Es gibt Medienkünstler, die arbeiten schon zehn Jahre in diesem Genre, aber das Problem ist, daß die Identität, das aktuelle Lebensgefühl von jungen Leu- ten, ganz anders ist. Und das ist auch einer der Gründe, warum wir so ein Projekt komplett installieren, also nicht nur zu einem Sender gehen und sagen: »Können Sie uns jetzt nicht mal Ihre Studios zur Verfügung stellen?«. Das interessiert uns nicht so. Uns interessiert nur die Einspeisung. Wir stellen die Installation komplett auf, das Studio, die Gerätschaften und die Leute. WAS DER KÜNSTLER FÜR SCHWIERIGKEITEN HAT, IN DER PRAXIS ZU ARBEITEN. ERSTES KAPITEL: DIE PROFIS Es gibt die Profis, die fähig sind, vom Licht bis Kamera, alles zu bedienen. Mit den Profis zusammenzuarbeiten ist sehr schwer. Die Profis glauben bei uns immer, daß sie auf Kreativurlaub kommen und sich da wohl fühlen und endlich mal machen können, was sie ihr ganzes Leben nicht machen dürfen. Diese Einstellung hat bei unseren Projekten schon oft zu großen Mißverständnissen geführt. Es gibt keine Wissensvermittlung im Bereich der Medien, keine Wissensvermittlung im Bereich der Logistik von seiten der Profis, was für uns ein sehr großes Problem ist. Für die Profis gibt es keine andere Motivation als nur einmal mit Künstlern zusammen ge- spielt zu haben, ihr eigener Beruf ist ja todernst, trocken und stressig. Das nur zu dem Komplex der Zusammenarbeit mit anderen Bereichen. ZWEITES KAPITEL: DIE AUSBILDUNG In den Akademien und in den Hochschulen, wie auch in den derzeit installierten Medienzentren, fehlt die Reaktion auf Anforderungen der Jetztzeit, also auf die An- forderungen, was die Jetztzeit an Pädagogik und Hardware braucht. Es fehlt an ei- ner Vision, wie Studenten lernen könnten, anders lernen könnten als in den alten, schon abgetakelten Unterrichtsformen und Zielen der Kunsthochschulen. Im NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 45 KAREL DUDESEK »Media Lab« gehen wir andere Wege, wir entwickeln andere Praktiken, mit Leuten zu arbeiten, Leuten in ganz kurzen, aber intensiven Arbeitssitzungen Bereiche zu vermitteln, um sie danach selbständig arbeiten zu lassen, wie z. B. Bei »Universcity TV«. Es geht darum, daß die Studenten oder die Leute, die arbeiten wollen, eine eigene Identifikation haben, so daß sie merken, daß sie selbst verantwortlich sind. Ich glaube nicht, daß es Sinn hat, Zentren anzubieten, wo die Studenten herein- kommen und als Spezialisten für die Wirtschaft oder als Sozialfälle wieder heraus- kommen. Jeder Student muß wissen, daß er, vom Anfang bis zum Ende, in dieser Struktur für alles, was da zur Verfügung steht, verantwortlich ist und daß es, im Inhalt wie in der Form der Arbeit, immer noch um Kunst geht und nicht um Wer- bung oder um Design. DRITTES KAPITEL: DAS KULTURMANAGEMENT Grundsätzlich will das Kulturmanagement an Künstler bis 40 kein Geld zahlen. Die Organisation, die Präsentation dieser modernen Kulturform oder dieser neuen Kul- turform ist zu alt. Die Medienkunst oder die elektronische Kunst oder die Kunst, die mit elektrischem Strom angetrieben wird, braucht neue Formen der Präsenta- tion. Vor allen Dingen brauchen wir neue Leute neben uns, im Management, im Vertrieb und in der Publikation, die diese Kunst verstehen und nicht nur Leute, die von der bildenden Kunst kommen, von der Malerei, von der Skulptur, aus dem Theater. VIERTES KAPITEL: DIE INDUSTRIE Die Industrie interessiert absolut nichts. Sie sponsert ab und zu etwas. Ich kenne mittlerweile seit vielen Jahren fast ganz Deutschland von oben bis unten und ich kenne auch die wenigen Direktoren. Die sagen alle: »Herr Dudesek, ich finde das alles toll, was Sie machen, sehr aufregend, ich versteh’ es ja — aber wie soll ich das dem Vorstand erklären, die verstehen das erst in fünf Jahren. Wir geben Ihnen jetzt ein paar Geräte, oder?« Grundsätzlich ist es nicht möglich, in einen Prozeß der In- dustrie einzusteigen, denn die Eloquenz ist anders. Die Identität ist anders. Das ist für uns eine der größten Schwierigkeiten, daß es keinen Konsens mit der Industrie oder der Wirtschaft gibt. Und ich glaube, daß jeder, der erzählt, das wird schon irgendwie klappen, die Künstler werden sich mit der Wirtschaft verständigen, irrt – das klappt nicht. Denn wir brauchen die Geräte — aber nicht die Konditionen, unter denen diese Geräte gesponsert werden. Es gibt seit jeher die Trennung zwi- schen kommerzieller Kunst und nichtkommerzieller Kunst. Nicht-kommerzielle Kunst, die forscht, die ein Experiment ist, die ein Labor ist, die mobil ist und die sich noch überhaupt nicht sicher ist, ob sie auf dem richtigen Weg ist, sich mit die- sen Medien so auseinanderzusetzen. Oder, ob es nicht sogar besser ist, sich davon ganz zu distanzieren. NAVIGATIONEN 46 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIE NEUE ELOQUENZ IM ÖFFENTLICHEN RAUM FÜNFTES KAPITEL: DIE SENDEANSTALTEN An sich, nach wie vor, nur an Medienkunst in Form von Schubladen interessiert. Also d.h.: wir kriegen vielleicht Programmblöcke und die kann man schön bespie- len, zehn Minuten, vielleicht zwei Stunden, dann ist es aus. Und im Endeffekt kommt es darauf an. »Wieviel Einschaltquoten haben Sie denn gehabt, Herr Dude- sek? Wenn Sie nicht auf 1,5 Millionen kommen, interessiert uns das nicht, es war ein nettes Experiment, nur interessiert uns eine Dokumentation über Kunst viel mehr.« SECHSTES KAPITEL: DIE KÜNSTLER Der Künstler befindet sich in einer problematischen Situation, natürlich, warum denn auch nicht. Sehr viele Künstler, die mit Medien arbeiten, kennen das. Wie ich natürlich auch. Wir werden zu Bürokraten, wir werden zu Verwaltern, wir werden zu Managern, wir werden zu Politikern. Das verdanken wir dem elektrischen Strom. Für die Kunst, die wir eigentlich machen wollen, bleibt sehr wenig Zeit, denn man muß, um in dem Bereich der Medien zu arbeiten, diesen gesamten Kom- plex abdecken. Diese gesamte Komplexität von medialer Installation, und diese In- stallation ist in der Aufbauzeit nur trockene Bürokratie, sonst nichts. Sie denken jetzt sicherlich, daß das vielleicht ein Grund wäre, damit aufzuhören. Weil man diese ganzen Schwierigkeiten überwinden muß, die einem überhaupt keine Hoff- nung lassen. Entweder werde ich einer von der zynischen Art, übersteigere den existentiellen Zynismus noch, so daß mich die Gesellschaft nur durch den überstei- gerten Zynismus akzeptiert. Oder ich werde ein netter Künstler, gründe eine Fa- milie und ziehe mich als Einsiedler zurück. Oder ich beteilige mich an der Vernich- tung und an der Manipulation, also an einer gewissen Art und Form des zivilen Krieges, ich reduziere mich auf mich selbst durch die Vernichtung meiner selbst in einer Form von Drogen und Konsum. Aber so denken wir nicht, denn durch unsere Projekte haben wir selbst eine Antwort gefunden. Einen Weg zu versuchen, das vertretbarst Mögliche, also das, was wir gerade noch vertreten und was wir gerade noch verantworten können, zu machen, um nicht komplett in das Lager der Geräte zu desertieren. Denn viele Künstler und sehr viele nette Leute sind bereits in das Lager der Geräte desertiert. Das ist traurig. Denn sie unterwerfen sich der Kondi- tion dieser Eloquenz. LETZTES KAPITEL Noch zwei wichtige Punkte, an denen wir im Moment arbeiten. Der erste Trick. Das Medium Fernsehen, dem wir begegnen, funktioniert folgendermaßen: Ein Bild oder eine Handlung wird irgendwo aufgenommen, wird in eine Wohnung transfe- riert, dort konsumiert und die Verantwortung für diese Handlung, die an Punkt X passiert ist, wird an den Zuschauer übertragen – siehe Golfkrieg. So sitzt der Zu- schauer hoffnungslos verloren in seinem Sessel, übernimmt die Verantwortung, NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 47 KAREL DUDESEK kann überhaupt nicht reagieren, weil es nicht vorgesehen ist und fällt so in die Steu- erung von Wunschwelten eines kollektiven Gewissens. Das heißt, dieser Trick ist bewußt für die Gesellschaft installiert, damit die Gesellschaft so erhalten wird, wie sie zur Zeit funktioniert. Das Lustige daran ist, daß der Zuschauer auch noch dafür bezahlt, daß er benutzt wird. Zweiter Punkt. Es geht um die Umkehrung der zeit- lichen Reihenfolge. Erst wird das Angebot gemacht und dann wird die Nachfrage kreiert und schamlos wird nachher behauptet, als Käufer wollte man es ja so. Im Grunde merkt man, daß man als kommerzieller Künstler ja auch Autos oder Fern- seher oder Videorecorder verkaufen könnte und es wäre besser, wenn einige Künstler dies auch tun würden. Denn Design zu produzieren, heißt, sich konditio- nieren zu lassen von den ausschließlich geräteorientierten Motiven unserer neuen und alten westlichen Weltenordnung, die keinen anderen Inhalt hat als nur: einmal drauf und dann sich selbst zu erhalten, koste es, was es wolle. Karel Dudesek demonstriert bei der bei der Eröffnung der documenta im Juni 1992 »Piazza virtuale«. Foto: altschaffel.com NAVIGATIONEN 48 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK Im Folgenden im Original ein Interview mit Van Gogh TV, das Olaf Deininger für den "Prinz-Stadt-Monitor", einen Trend-Newsletter der Stadtzeitschrift "Prinz", führte. NAVIGATIONEN GESPRÄCH MIT DEN VAN GOGH TV KÜNSTLERN NAVIGATIONEN 50 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIE ENDEN DES INTERNETS: PIAZZA VIRTUALE REVISITED V O N B E N J A M I N H E I D E R S B E R G E R I M G E S P R Ä C H M I T J A N C L A A S V A N T R E E C K »Es wird ein mediales Kaffeehaus existieren, eine vir- tuelle Piazza, die wie die mediterrane ihre zentripedalen Kräfte entfaltet. ...die Öffentlichkeit im elektronischen Medium... Sie ist telepräsent zu erreichen über die ver- schiedenen Mediennetze, die Ponton heute erforscht und die jedermann zugänglich sind. Straßen, Fenster und Türen öffnen sich, Gesichter und Stimmen erscheinen. Man wird reden, spielen, tippen; Bilder, Töne, Schriften verschmelzen zu einer neuen Oberfläche, die ausgestrahlt wird und an vielen Orten erlebbar ist.«1 J.C.v.T.: Vor ungefähr 25 Jahren formulierte John Perry Barlow seine berühmte Declaration of the Independence of Cyberspace.2 Eine große Geste, die in vielem heute – 25 Jahre später – kindlich-naiv, vielleicht auch vermessen klingt. Aber Bar- lows Aussagen waren nur die Spitze eines Eisberges. Seine Declaration spricht für eine gefühlte Generation von Internetpionieren, die im Projekt des Internet eben auch ein utopisch neues Ding sahen. Damit verknüpft waren liberale bis libertär- anarchische politische Visionen. Eure eigenen Erklärungen zur virtuellen Piazza, vier Jahre vor Barlows Decla- ration, lesen sich ähnlich: Ein Traum einer neuen Öffentlichkeit, die nicht nur medial sein sollte, weil es eben alles am Universalmedium Computer hing, sondern auch gesellschaftlich neu – offen, a-territorial, hierarchiefrei. Inwiefern saht Ihr euch nicht nur als technische, sondern auch gesellschaftliche Avantgarde? 1 Heidersberger: »Die virtuelle Piazza«, S. 141. 2 Barlow: »A Declaration of Independence of the Cyberspace«. NAVIGATIONEN BENJAMIN HEIDERSBERGER/JAN CLAAS VAN TREECK Abb. 1: Sticker, gefunden in Berlin; Bildrechte: Jan Claas van Treeck B.H.: John Perry Barlow hat uns zusammen mit William Gibson und Captain Crunch 1990 auf der Ars Electronica in Linz besucht, als wir Hotel Pompino produ- zierten. Sechs Jahre später kam die Declaration. Barlow hat sie beim Besuch des World Economic Forums in Davos angesichts der »weary giants of flesh and steel« publiziert. Man kann sie naiv finden; sicher steckt auch etwas Trotz darin, aber grundsätzlich war das der Spirit damals: Hier entsteht ein neuer rechtsfreier Raum, eine Utopie, in der die alten Gesetze nicht mehr gelten und das hat uns alle sehr beflügelt, die an dieser Vision gearbeitet haben. Überhaupt waren ja die Anfänge des Personal Computers im Silicon Valley sehr mit dem Geist der Gegenkultur der Hippiebewegung mit dem Ziel der Bewusstseinserweiterung verbunden.3 Steve Jobs ist 1974 nach Indien gereist auf der Suche nach dem Guru Neem Karoli Baba.4 Tatsächlich sind die Experimente und Setups damals aber nicht von theoreti- schen Erörterungen geprägt gewesen, sondern von medientechnischen. Statt Phi- losophen habe ich eher Input und Output gesucht und mir überlegt, was man damit tun und mit welchem Kabel oder Interface man die verbinden kann. J.C.v.T.: Dieses Antitheoretische ist natürlich eine schöne Provokation für dama- lige und heutige Theoretiker und damit auch für die medienwissenschaftliche Auf- arbeitung von euren Projekten. Innerhalb dessen, was man in Deutschland Medientheorie nennt, wird ja nur zu gerne eine direkte Linie von Berthold Brechts Radiotheorie über Hans Magnus Enzensbergers Baukasten zu einer Theorie der Medien zu den sozialen Medien der Gegenwart gezogen. Dabei wird zumeist betont, dass sich die Hoffnungen von Brecht aus den späten 1920er-Jahren und Enzensberger von 1970 auf eine Medi- ennutzung, die dezentral, many-to-many und a-hierarchisch ist, zwar technisch durchaus verwirklicht haben, wir aber gefühlt mitnichten damit zu einer 3 Laberenz, Lennart: »Was Hippies und Cyberkultur verbindet: ›Wir wollten den Geist erwei- tern‹«. 4 Wikipedia: »Steve Jobs (book)«. NAVIGATIONEN 52 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIE ENDEN DES INTERNETS demokratischen (oder das, was wir dafür halten) oder emanzipierten und besser informierten Mediengesellschaft geworden sind. Das echte Many-to-many-Netz- werk ist nämlich nicht von irgendwelchen ›Brechtianern‹ verwirklicht wurden, son- dern von Figuren wie Marc Zuckerberg, der eigentlich auch nur Vorhandenes tech- nisch verschaltet hat, mit dem simplen Ziel, Dating-Chancen zu erhöhen. Man könnte medienmaterialistisch argumentieren und sowohl Brecht als auch Enzensberger fehlende technische Medienkompetenz und vielleicht auch fehlende medienökonomische Kompetenz vorwerfen, die dazu führten, dass ihre Theorien und Thesen reichlich ›elfenbeinturmig‹ daherkommen und bereits zum Zeitalter ihres Entstehens die realen medientechnischen und medienökonomischen Lagebil- der schlichtweg nicht gesehen haben. Im Gegensatz dazu stehen vielleicht Eure Experimente und Projekte aber auch Mark Zuckerbergs Facebook – weil sie direkt praktisch waren und die Medientech- nik nicht theoretisch beschrieben haben, sondern sie aktiv nutzten. Siehst Du einen Zusammenhang zwischen Eurem Machen und den Machern des Silicon Valley? B.H.: Wie gesagt, anfänglich ging es um das Machen und weniger um die Theorie. In späteren Diskursen haben wir dann auch nach einer medientheoretischen Un- termauerung gesucht und da tauchte zumindest auch Brecht auf. Ich habe keine Hinweise darauf gefunden, dass Brecht verstanden hat, was Sender und Empfänger technisch bedeutet, möglicherweise bezieht er sich nur auf deren gesellschaftliche Funktion. Andererseits hat es in der Weimarer Republik viele Funkamateure gegeben, die schon aus Kostengründen ihren eigenen Empfän- ger gebaut haben, das Wissen um das Vorhandensein eines (Sender-)Oszillators in einem Superhetempfänger war also allgemein vorhanden. Dieser ist sehr schwach und in aller Regel gut abgeschirmt, kann aber mit Raumgeräuschen moduliert emp- fangen werden. Beim älteren Rückkopplungsempfänger ist die Sendeeigenschaft eine Störung, die es zu vermeiden gilt. Weshalb man zum Radiohören bis ca. 1925 eine Prüfung brauchte. Ohne Funkdisziplin endet solches Senden ohnehin im Chaos, wie man vom Militär oder vom Amateurfunk weiß. Neben der rein technischen Möglichkeit, von Zuhause und von Jedermann Signale zum Sender zu übertragen, sehe ich in der Schaffung entsprechender Netzwerke, Formate und Applikationen eine Pionierleis- tung von Van Gogh TV. Um noch mal auf das Silicon Valley zurückzukommen: Lötkolben statt Philo- sophie verbindet uns tatsächlich mit dem Silicon Valley, oder mit »Demo or Die« wie es Nicholas Negroponte so schön für das MIT Media Lab formuliert hat. Was Europa bis vor Kurzem nicht verstanden hat, ist die mächtige Kombination von ›Venture‹ und ›Capital‹, also die Bereitschaft von Finanziers, auch in verrückte Ideen zu investieren. In unserem Fall kam noch dazu, dass wir eher aus der Kunst kamen, die mäzenatisch zwar viel ermöglicht hat, aber eben kein Return on Investment wie das ›Venture Capital‹ erwartet hat. Weshalb es heute eben Facebook gibt, aber nicht mehr Van Gogh TV. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 53 BENJAMIN HEIDERSBERGER/JAN CLAAS VAN TREECK J.C.v.T.: Ja, bei Brecht und auch Enzensberger schien so etwas wie gefährliches medientechnisches Halbwissen vorzuherrschen – das ist natürlich geradezu iro- nisch, wenn man bedenkt, dass bei Brecht und Enzensberger als Marxisten ja an- geblich das Sein das Bewusstsein bestimmt. Aber ich möchte auf die »Funkdisziplin« zu sprechen kommen, auf die Du hin- weist. So wie es eine technische Signal-to-Noise-Ratio gibt, gibt es wohl auch inhalt- lich so etwas wie eine Signal-to-Noise-Ratio – die ja jeder auf sämtlichen Social- Media-Formaten nachvollziehen kann: Man ertrinkt in all dem »Noise«, der einem den Zugang auf die Inhalte verstellt, die man eigentlich gerne sehen und/oder hören will. Im Schwall der Katzenbilder, Familienfotos, Werbemüll, Influencer-Selbstdar- stellung, Verschwörungstheorien und Fake News scheint die Effizienz der Kommu- nikation zumindest für viele zu leiden. Die Lösung ist natürlich erstaunlicherweise antidemokratisch: Auswahl, Selektion, Blocken, Filtern, zensieren, egal ob als indi- viduelle Konsumententaktik oder als regulatorischer Eingriff durch die Plattform- betreiber oder die Politik (entweder durch Einflussnahme auf die Plattformbetrei- ber oder direkt nach dem chinesischen Modell der Great Firewall). Gab es bei Euch damals eigentlich bereits dieses Problem in Ansätzen? Wieviel musstet Ihr regulieren, zensieren? Oder wart Ihr geschützt durch die Selbstselek- tion der Kunstblase als völlig ausdifferenziertem Subsystem einer Gesellschaft? Gab es bei Euch Trolle, die versucht haben toxisch zu sein, um Begriffe zu benutzen, die ja auch erst seit kurzem verstanden werden? B.H.: Nun was Enzensberger nicht vorhergesehen hat, ist das Metamedium ›Per- sonal Computer‹, das ja bekanntermaßen alle Medien simulieren kann und sich noch dazu in privater Hand befindet. Er ging damals von Einzelmaschinen aus, die sich auch im kapitalistischen Westen in der Hand der Machtmonopole befinden. Das Smartphone, das heute von der Hälfte der Menschheit unabhängig von ihrem Machtstatus genutzt wird, bringt das noch in den Formfaktor eines Candy Bars, das im Internet ›always-on‹ und Sender und Empfänger zugleich ist. Was die hohe Ak- zeptanz des Smartphones mit der Haptik eines Schokoriegels zu tun hat, lassen wir mal offen. Und völlig richtig, jeder kann alles sagen, aber keiner hört es, es verschwindet im kosmischen Hintergrundrauschen, im Informationswärmetod der Welt. Jede Aussage paart sich mit der Gegenaussage, das Ergebnis einer Suche hängt nur von der Frage ab, härter noch: Es gibt Firmen, die Content passend zur Suche erzeugen. Bei Van Gogh TV standen wir ganz am Anfang der Frage, ob der Dialog der Teilnehmer, der sein eigener Inhalt war, moderiert werden sollte oder nicht. Ich war damals der Meinung, dass sich Rede und Gegenrede selbst regulieren würden und dass jeder Eingriff zu vermeiden sei. Möglicherweise war der Electronic Open Space zu neu, die Teilnehmer zu wohlerzogen und das Repräsentationsproblem der Demokratie nicht so offensichtlich wie heute, aber im Großen und Ganzen lief das alles für eine wirklich zeitgleiche Livesendung recht gesittet ab. Bis auf das Mal bei Hotel Pompino (1990), wo in der Sendung der damalige Bundeskanzler Kohl verun- glimpft wurde und Reginald Rudorf von der Bild-Zeitung uns unter »Die NAVIGATIONEN 54 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIE ENDEN DES INTERNETS beklopptesten TV-Sendungen des Jahres«5 aufnahm. Worauf der damalige Inten- dant des ZDF, Dieter Stolte, ins Kanzleramt gerufen wurde und 1992 Katrin Brink- mann als Zensorin in der Sendung »Piazza virtuale« saß. Ihre Eingriffe wiederum wurden in der Sendung durch den Stempel »Zensiert« kenntlich gemacht. In dem Sendeformat Media Landscape wurde der Versuch unternommen, In- halte aus einer Mediendatenbank entsprechend der Chatinhalte einzuspielen, um so die Rückkopplung ins Gespräch zu erzeugen. Das war der erste Versuch, Algo- rithmen einzusetzen. Aber erst der soziale Graph,6 die vollständige Überwachung der Teilnehmer und die Tatsache, dass sich Hate Speech sechsmal schneller in Net- zen fortpflanzt, hat in Algorithmen gegossen zu dem Hexengebräu der Sozialen Medien geführt, die man heute als demokratiegefährdend ansieht und regulieren möchte. Kunst war sicher der Schutz und Dünger, ohne den es Van Gogh TV nicht ge- geben hätte. Aber ich sehe das zwiespältig, weil das Etikett Kunst Narrenfreiheit erzeugt, aber man eben doch der Narr bleibt. Das ist das Dilemma der Avantgarde: Wer zu früh kommt, wird nicht verstanden, wer zu spät kommt, hat die Konkur- renz und damit ein ökonomisches Problem. J.C.v.T.: Der Electronic Open Space war vielleicht ein Phantasma der 1980er- und 1990er-, vielleicht noch der 2000er-Jahre. Aus heutiger Sicht wirken die utopischen Visionen in der Tat reichlich blauäugig. Barlow erklärte sich und das Internet 1996 ja für unabhängig von Konzernen und Regierungen, scheinbar ohne zu sehen, dass die Maschinen, auf denen sein Internet läuft, erst durch militärische Forschung und ökonomische Interessen – eben jenen sprichwörtlich gewordenen Military-Indust- rial-Complex – überhaupt erst möglich geworden war. Teil dieser Unabhängigkeits- erklärung ist aber nicht nur die politische, sondern auch die ökonomische. Auch die erscheint natürlich ebenfalls wirklichkeitsfremd. Aber die Frage bleibt, was entste- hen kann, wenn man nicht-ökonomisch handelt und wo liegen dann die Grenzen? Schließlich ist Mäzenatentum und öffentliche Kunstförderung eben kein Venture Capital. Welche Rolle spielten für Euch die Regeln der Kunst in Abgrenzung zu den Regeln des Marktes? Und wie sah es mit der Finanzierung und etwaigen Plänen aus, das Ganze doch zu etwas zu machen, was über den Kunstraum hinausgeht? B.H.: Aus meiner Sicht war Piazza virtuale – wie auch unsere anderen Experimente – erst mal ganz getrieben vom Machen und im Moment sein und ohne Nachdenken über ein Danach, auch ein kommerzielles Danach. Dennoch hat Piazza virtuale etwa 2.5 Millionen Mark gekostet, davon etwa ein Drittel als Finanzmittel und der Rest als Sponsoring von Dienstleistungen und Pro- dukten. Neben staatlichen Kulturmitteln waren Firmen wie EDS, Deutsche Telekom, ESA, Commodore, Apple, Philips, Roland, Steinberg und Miro beteiligt. Die Deutsche Telekom hatte ein Interesse an Anwendungen für ihre ISDN-Bildtelefone und 5 Bild-Zeitung 14.9.1990, S. 5: »Die beklopptesten TV-Sendungen des Jahres«. 6 https://en.wikipedia.org/wiki/Social_graph NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 55 BENJAMIN HEIDERSBERGER/JAN CLAAS VAN TREECK außerdem wurde über eine Million an Telefongebühren eingenommen, die sie aber nicht mit uns teilen wollten. Steinberg hat Input für ihre Musiksoftware bekommen und die Sender selber Programm, aber niemand hat in Piazza virtuale ein Modell für einen zukünftigen elektronischen öffentlichen Raum, ein Start-Up oder einen Busi- ness-Case gesehen. Telekom und/oder EDS hätten das zusammen mit 3sat machen können und die Medienwelt wäre heute eine andere. Zur Erinnerung: EDS war vom späteren Mil- liardär, US-Präsidentschaftskandidaten und republikanischen Texaner Ross Perot gegründet worden und zeitweise unter den Fortune 500 Companies. Karel Dude- sek hat ab 1996 einen ›Venture-Capital‹-Ansatz in den USA versucht, in Deutsch- land wurde mit 9live 2001 ein kostenpflichtiges Call-In-Format entwickelt und in- teraktives Fernsehen genannt, aber das war es dann auch schon. In Niedersachsen habe ich später mit Ponton-Lab die Idee eines 3D-Kommun- kationsraumes im Fernsehen praktisch weiterentwickelt. Für uns ist ein eigenes Mediengesetz für einen Modellversuch im Kabel gemacht worden, es gab die staat- liche Zusage einer fünf Millionen Förderung, wenn ich die anderen fünf gefunden hätte, aber das marktbeherrschende Medienunternehmen wollte nicht. Und schließlich ist alles noch mal in Kulturserver als Community-Website kon- densiert, 10 Jahre vor Facebook mit 20.000 Benutzern, ähnlicher Funktionalität und Videostreaming. Wieder waren Telekom und Land mit geringen Beträgen dabei, die dann von dem SPD-Politiker Thomas Oppermann in seiner Zeit als Minister für Wissenschaft und Kultur eingestellt wurden. Wenn ich Schlussfolgerungen dieser Experimente ziehen möchte: - Der Staat ist ein ungeeigneter Partner, Politiker sind unsichere Kandidaten - Die Industrie muss mit einem klaren Plan und Ziel eingebunden werden - Der Business-Case muss klar sein, es muss Geld verdient werden wollen - Staatliches und privates Kultur-Mäzenatentum ist kein ›Venture Capital‹ - Man selbst muss klar über seine eigene Motivation sein und 5-15 Jahre zu 150% opfern wollen - Idealismus ist eher störend Sicher ist die ›Venture-Capital‹-Szene in Deutschland professioneller geworden, ge- rade aus den USA kommt heute Geld nach Deutschland. Dabei bleibt aber die Frage offen, ob die Gründer nach der ersten Phase dann doch in die USA gehen, wo ein ›Venture‹-freundlicheres Klima und ein folgender IPO den Kreis schließen, selbst zum ›Venture-Kapitalisten‹ zu werden. Spannenderweise ist Jaron Lanier, den ich 1990 in Redwood City traf, einen umgekehrten Weg gegangen. Mit seiner Firma VPL war er ursprünglich auf dem ›Venture-Capital‹-Weg zur Kommerzialisie- rung des Cyberspace. Dann hat er sich mehr in Richtung Kunst entwickelt und ist heute das »schlechte Gewissen« des Silicon Valley. In dieser Position rät er zur NAVIGATIONEN 56 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIE ENDEN DES INTERNETS Abschaltung des eigenen Social-Media-Accounts7 ganz in der Tradition von Jerry Manders Four Arguments for the Elimination of Television. J.C.v.T.: Lanier ist in der Tat eine interessante Figur und man könnte zynisch mut- maßen, dass sich seine Wandlung vom Saulus zum Paulus einfach aus seinem wirt- schaftlichen Scheitern erklärt. Aber darüber hinaus scheint Lanier ja so eine Art Feigenblatt des politischen Diskurses geworden zu sein. Bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2014 waren sich die Mahner und War- ner einmütig einig, dass das mit dem Internet ja gründlich schiefgegangen ist und man glücklicherweise den Flötisten Lanier hat, der diese Meinung nochmal gründ- lich bestätigt. Gleichzeitig ist Lanier ja spannenderweise eben kein Internetdemokrat mehr. Open Source etwa, etwas, das Internetlibertäre aber auch europäische Internetde- mokraten ja gerne hochhalten, gilt ihm als »digitaler Maoismus« und Wikipedia als »mob rule«. Dem digitalen Open Space, den Ihr in den 1990er-Jahren im Kopf hat- tet, setzt Lanier jetzt den Individualkapitalismus amerikanischer Prägung, geschützt durch Patente, zementiert in den großen Tech-Giganten wie Apple, entgegen, die Lanier zufolge, weil sie eben nicht dem pseudodemokratischen mob rule unterlie- gen, die besseren Produkte liefern.8 Ob die Friedenspreisverleiher diese Thesen von Lanier ernsthaft gelesen ha- ben, weiß ich nicht, aber hier kollidieren ja bereits zwei kulturell unterschiedliche Ansätze in Sachen Tech – ein europäischer, der auf Datenschutz und Linux in jeder Stadtverwaltung setzt und ein US-amerikanischer, der tolle Produkte liefert, aber eben alles unter den Schirm von Marktgesetzen und Kapitalisierung setzt. Gab es damals bei Euch auch bereits die Ahnung von solchen kollidierenden Vorstellungen? B.H.: Wenn wir mal die späten 1980iger Jahre als formalisierte Gründung der Pon- ton/Van Gogh TV-Aktivitäten sehen, liegt das ja ungefähr zeitgleich mit dem GNU- Projekt von Richard Stallman. Linus Thorvalds kam dann mit Linux 1991/92. Mitar- beiter von Ponton waren dem CCC sehr nahe oder dort Mitglied, womit man der Hacking-Kultur einschließlich des damit verbundenen Stolzes und dem Wunsch nach kostenloser Verbreitung sehr verbunden war. Andererseits war die PC- und Macintosh-Welt und deren Software sehr durch kommerzielle US-amerikanische Anbieter geprägt, Piazza virtuale beruht software- seitig auf MacroMind Direktor plus geniale Zusätze von Christian Wolff, genannt »der Hacker«. Auch bei uns gab es Diskussionen darum, wem das Geschaffene denn nun gehört. Erschwerend kam hinzu, dass wir als Kollektiv gearbeitet haben, da waren Fragen von Copyright und Urheberschaft solange unwichtig oder sogar verpönt, wie man an einem gemeinsamen Ziel gearbeitet hat. Dass man als Firma 7 Lanier: »How social media ruins your life«. 8 Vgl. Lanier: You are not a Gadget: A Manifesto. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 57 BENJAMIN HEIDERSBERGER/JAN CLAAS VAN TREECK möglichst patentfähige Substanz für den Exit schaffen muss, ist mir damals nicht in den Sinn gekommen, das habe ich erst später begriffen. J.C.v.T.: Wahrscheinlich war damals die vorauseilende Schere im Kopf noch nicht so ausgeprägt wie jetzt in einer Zeit in der Tech-Konzerne Bataillone von Unter- nehmensanwälten beschäftigen, die permanent damit beschäftigt sind zu beobach- ten, wie der Markt die Produkte einsetzt um gegebenenfalls sofort mit massiven Klagewellen etwa zu etwaigen Patentrechtsverletzungen regulierend einzugreifen. Was ich persönlich aus dieser Zeit in Erinnerung habe, ist eine Old Media vs. New Media-Dichotomie, die rückblickend seltsam wirkt. Auf der einen Seite eine utopische Freiheits- und Demokratieutopie, mit der die neuen Medien aufgeladen wurden, andererseits eine noch von den 68ern geerbte Medienskepsis den alten Medien und vor allem dem Fernsehen gegenüber, jenes Gebräu aus Adorno, Neil Postman oder dem von Dir genannten Jerry Mander. Dabei muss man wohl in Tei- len pure Technikfeindschaft attestieren, Postman fand ja sogar den Luddismus ein unterstützenswertes Konzept. Solche Positionen errichten ja oft eine Opposition von gutem originärem Menschsein und Entmenschlichung durch Technik – Lanier schlägt ja teilweise in dieselbe Kerbe. Demgegenüber eben diejenigen, die in der neuen Technik jeweils ein Werk- zeug sehen, um doch wieder menschengerechtere Systeme zu ermöglichen, wie die schon genannten Brecht und Enzensberger. Die diskursiven Reaktionen auf Technik sind also bei vielen Technikumbrüchen die gleichen. Und jetzt blicken wir zurück auf einen Umbruch, der historisch geworden ist. Was ist denn aus Deiner eigenen Einschätzung geworden, wenn Du damals eher zu den Utopisten gehört hast, die eine neue ›Piazza‹ erzeugen wollten? B.H.: Ich sehe da eine Veränderung auf mehreren Ebenen. Zum einen ist das In- ternet nicht mehr das, was es mal war. Fast kommt es mir so vor, als hätten nach den Pionieren die Neuen die ungeschriebenen Regeln bewusst ignoriert oder ein- fach nicht gekannt und damit etwas verraten, was wir gar nicht so gesehen haben.9 Beispielsweise erinnere ich mich daran, dass ich mit der Registrierung deutscher Begriffe als Domains (später ›Domaingrabbing‹ genannt) ein Vermögen hätte ma- chen können, aber sowas tat man damals eben nicht. Dann denke ich, dass das Internet trotz militärischer Vergangenheit das Zeug zu einer positiven Utopie gehabt hätte, dass dann aber irgendwann 5-10 Jahre vor Edward Snowdens NSA-Coup das System aufgewacht ist und still und heimlich den Überwachungsapparat gebaut hat, den wir heute haben. Dann fand noch vom »Zählt nicht uns, zählt Eure Tage!«, der Kritik gegen die Volkszählung von 1987, ein Paradigmenwechsel hin zur Selbstentblößung und damit Selbstüberwachung durch die Sozialen Medien statt, an dessen Ende der Immigration Officer direkt auf mein Facebook-Profil sieht und seine Fragen stellt. 9 Netzpiloten: »Was war dein Traum von einer besseren Welt, Benjamin Heidersberger?«. NAVIGATIONEN 58 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIE ENDEN DES INTERNETS Zweitens habe ich mich natürlich auch verändert. Ich habe Firmen geleitet, in de- nen wir alle gar nicht nach Geld gefragt haben, sondern nur tolle idealistische Pro- jekte machen wollten. Dann mussten Mieten bezahlt werden, Mitarbeiter haben Kinder bekommen, Finanzamt und Banken wollten bedient werden und schließlich hat auch die Politik, die uns als Zukunftslabor eingeladen hatte, nach Profitabilität gefragt. Solange man selbst die Zukunft ist, ist das alles egal, aber dann gibt es Kon- kurrenz. Und natürlich verändert sich auch die Lebensperspektive mit dem Lebens- alter, man wird konservativer und hat gelernt, wie es läuft. Ich komme erst mal aus dem Bereich von Naturwissenschaft und Technik, also einer eher materiellen und in der Konsequenz materialistischen Welt, wo 2 + 2 = 4 ist. Mein Leben hat dann die Entdeckung einer ungeahnten geistigen Welt sehr verändert, das Wissen, wer ich eigentlich bin und mit mir und der Welt eins zu sein. J.C.v.T.: Man könnte aber natürlich auch Deine Erzählung umdrehen und behaup- ten, dass die Neuen mitnichten alte Werte verraten haben, sondern sie vielleicht einfach besser verstanden haben – vielleicht war das Netz in seinem Ansatz schon immer so. In Sachen Digitaltechnik ist es natürlich unerlässlich auch den militärischen Hin- tergrund, die bekannte DARPA-Vorgeschichte zu erwähnen, aber da steckt ja noch viel mehr drin. Der hierarchische Aufbau, eine Master-/Slave-Logik, die sich eben nicht nur in der reinen Metaphorik widerspiegelt, sondern ganz buchstäblich im Aufbau, der Verdrahtung der Maschinen. Digitaltechnik ist eben Algorithmik und damit etwas, was es schon vor der Digitaltechnik gab und dann aber in der Technik ihre harte Institutionalisierung fand. Computer waren ja schließlich noch Menschen, bevor er diese Aufgabe einer Maschine andachte. Aber, während ein menschlicher Computer (im Übrigen historisch meistens Frauen, als sprichwörtliche Rechen- knechte) durchaus mal über Sinn und Unsinn seiner Berechnungen nachdenken könnte, oder mal eine Kaffeepause braucht, ist der Computer als Maschine von solcherlei Störungen bereinigt. Dem Geschehen im Computer kann nicht wider- sprochen werden. Und dem ›Gouvermentalen‹, folgt das Ökonomische – beim Streit um Rechenzeiten auf Mainframes in den Unis der 1960er- und 1970er-Jahre, aber auch schon früher der Zuse KG oder dem Coup des Ex-Generals Reinicke, den ersten deutschen Transistorrechner von Karl Steinbuch Mitte der 1950er-Jahre zum Herzstück seiner Umstrukturierung des Quelle-Versandhaus zu machen. Und das Internet hatte als NSFNET zwar 1989 noch eine strikt anti-kommer- zielle Use Policy, aber schon ein Jahr später schreibt Kahin ja schon sein Memoran- dum zur Kommerzialisierung,10 in dem er betont, dass das Internet von 1990 be- reits in weiten Teilen kommerzialisiert ist und eine offizielle Kommerzialisierung erlaubt werden soll/muss. Man könnte also Eure Periode der utopischen Visionen also auch als so etwas wie einen überraschenden Betriebsunfall nennen, bis die Neuen das Internet wieder auf das Gleis gesetzt haben, auf dem es schon immer war. Und Deine eigene Wandlung hinzu einer konservativeren, ökonomischeren 10 Kahin: »Commercialization of the Internet. Summary Report«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 59 BENJAMIN HEIDERSBERGER/JAN CLAAS VAN TREECK Sicht könnte dem Ganzen recht geben. Frei nach dem Motto Ihr wart jung und damals brauchtet Ihr einfach das Geld nicht. B.H.: Die von Dir beschriebene Logik der Betriebssysteme ist ja zunehmend auch die Logik der Gesellschaft und die Grundlage traumhafter Renditen algorithmischer Systeme – und am Ende eines Neo-Feudalismus. Heute weiß ich: Kein Geld ist auch keine Lösung. Und bei vielen Projekten kann man sehen, dass es die gibt, die die Vision haben und etwas aufbauen, und die, die etwas in die Betriebsphase überfüh- ren. Das müssen nicht unbedingt dieselben sein. So wie es sein kann, dass verschie- dene Kulturen mit dem Internet unterschiedlich umgehen. Damit möchte ich eine Frage ansprechen, die den Kern des Internets betrifft, die Frage der Territorialität: ich sehe drei territorial aufgeteilte Internet11 (es gibt eigentlich keinen Plural) mit den jeweiligen sie reflektierenden Wertesystemen in einer sich ausdifferenzierenden Entwicklung: USA (dem American Dream, Indivi- dualismus, Profitorientierung), Europa (Datensouveränität, Kultur, demokratische Werte) und China (Erfolg, Sicherheit, Gesundheit, harmonische Gesellschaft) als Systemrivalen. Als »the end of history« zu Ende war und die Welt von einer USA- zentrierten (Hollywood, Wall Street, Silicon Valley und Defence Industry) zu einer multipolaren Welt wurde, wurde auch der globale Ansatz des Internets aufgeho- ben, das möglicherweise schon immer ein in Standards und Hardware gemeißeltes imperialistisches Projekt war, dass US-amerikanische Werte in alle Welt transpor- tieren sollte. Aber staatliche Souveränität und Globalität treten in Konkurrenz und die Frage stellt sich für mich, ob wir nicht anderen Systemen zugestehen sollten, ihre Welt nach ihren Gesetzen zu regulieren und ob nicht Revolutionen von innen heraus passieren müssen. Abb. 2: Hermann Berghaus’ Weltkarte in Sternprojektion, 1880. Bildrechte: gemeinfrei 11 Voelsen: Risse im Fundament des Internets. NAVIGATIONEN 60 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIE ENDEN DES INTERNETS Damit einher geht auch die Datensouveränität,12 die nach europäischen Standards nicht nur Gesetz wurde, sondern im nächsten Schritt auch wirklich verteidigt wer- den muss,13 zum jetzigen Zeitpunkt besonders gegen das kolonialistische Modell US-amerikanischer Multis, die mit »move fast and break things« einfach erst mal Fakten schaffen und an die East India Company erinnern. Aber auch Chinesen wer- den da zum globalen Akteur mit Applikationen wie WeChat und TikTok. Eine interessante Entwicklung leistet der WWW-Erfinder Tim Berners-Lee mit seinem Projekt Solid (Akronym für Social Linked Data) zur Dezentralisierung des WWW, wobei die persönlichen Daten in Pods am Wunschort des Users gespei- chert werden, die dann die volle Datensouveränität auf der persönlichen Ebene garantieren.14 J.C.v.T.: Diese drohende Aufspaltung des Internet hat ja inzwischen bereits einen griffigen Namen: Splinternet. Und wir sehen sie bereits an vielen Ecken und Enden, von der Great Firewall in China bis hin zu temporären Komplettabschaltungen, wie im Iran oder jetzt unlängst in Myanmar. Die große weltumspannende Freiheit der Information, der globale Public Open Space scheint also gerade kassiert zu werden und das eben territorial, nationalstaatlich, von denen, die die Macht über die Kabel und Knotenpunkte haben, denn das Internet ist ja am Ende eben doch Hardware und in wessen Territorium der Knotenpunkt liegt, der kann darüber verfügen. Ein anderes Wort für dieses Splinternet ist übrigens Cyberbalkanisierung – ein Begriff, der mir vor allem deshalb gefällt, weil er auf den realen Balkan verweist. Dort hatte man ja auch mal geglaubt, die ethnischen und religiösen Konflikte wären erledigt und perdu, aufgegangen in einem blockfreien Sozialismus des dritten We- ges, der ja auch auf westliche linke und selektiv blinde Beobachter immer jenen Charme ausübte, außerhalb des Totalitarismus, des Stalinismus und Sowjetkommu- nismus zu stehen. Leider war Tito aber bei genauerem Hinsehen ja auch nur ein Totalitarist. Aber es ist eben diese Idee eines utopischen Raumes, wie Jugoslawien, der starb, als die verdeckten ethno-religiösen und geographischen Konflikte wieder hochkochten, den ich jetzt im Internet erneut sehe. Der ehemals grandios-utopi- sche Traum entpuppt sich als obsolet im realen Wettstreit der Systeme, der inzwi- schen eben auch national in Technologien und Netzen wie Weibo vs. Facebook vs. VK, oder entlang von politischen Meinungsgrenzen wie Gab/Parler vs. Twitter ze- mentiert wird. Trotzdem bleibt doch die Hardwarefrage: Abseits von territorialer Hardware wie Funkmasten, Glasfaserkabeln, Knotenpunkten, gibt es ja immer noch die Stan- dardhardware. Egal in welcher Ecke des Cyberbalkans, ob China, Myanmar, oder den datenschutzbefreiten USA – alle operieren mit denselben Hard- und auch Soft- waremodellen. Ich frage mich also, ob es entweder das westlich-kapitalistische Mo- dell, auf dem all das aufbaut, doch alle anderen Systeme subkutan kolonisiert hat, 12 Bria/Amend: »ZEIT für Klima: Rethink The World mit Francesca Bria«. 13 Riegert »Meinung: Angriff der EU auf Google und Co«. 14 Lohr, »He Created the Web. Now He’s Out to Remake the Digital World«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 61 BENJAMIN HEIDERSBERGER/JAN CLAAS VAN TREECK oder ob man davon ausgehen muss, dass das jetzt so etwas wie Grundrauschen und Allgemeingut ist, das man vernachlässigen kann. Ich erinnere mich in dem Zusammenhang übrigens an eine Ausstellung post- kolonialer digitaler Kunst vor kurzem hier in Berlin. Die für mich spannendste Frage jedoch blieb in der Ausstellung unberührt: Ob man inhaltlich vermeintlich postko- loniale digitale Kunst machen kann, wenn die Technologie, mit der diese Kunst er- zeugt wird, das Produkt von 500 Jahren weißem Denken und Technologie ist, oder viel konkreter, kann man sich de-kolonisieren, wenn man längst von seinem Apple oder seiner Adobe Creative Suite subkutan kolonisiert wurde? B.H.: Ich halte das für eine schwer zu beantwortende Frage in einer Diskussion, die ihren bisherigen Höhepunkt mit Brittany Marshall auf Twitter hatte: »Die Idee von 2 + 2 = 4 hat kulturelle Gründe. Als Folge von westlichem Imperialismus/Ko- lonisierung halten wir sie für das einzig Richtige«.15 Auf der einen Seite hat es immer wieder Versuche gegeben, zum Beispiel Nicht-von-Neumann-Rechner zu entwickeln oder andere als Binärlogiken zu ver- wenden. Zu nennen ist die dreiwertige Logik von Jan Łukasiewicz (1878-1956), auf dessen Arbeiten auch die umgekehrte polnische Notation (RPN) beruht. Ich be- haupte mal, dass das Kriterium der Austauschbarkeit der Netzwerkkomponenten und ihrer Algorithmen die Berechenbarkeit im Sinne Turings ist, die die Abbildung eines Systems in ein anderes erlaubt und damit Soft- und Hardwareunabhängigkeit ermöglicht. Andererseits gibt es eine Beziehung von Technik und Inhalt, von der zum Beispiel Schriftsteller in Bezug zur Schreibmaschine berichten. Andererseits haben wir bei der Fortsetzung von Piazza virtuale in Tokyo 1993 einfach den deutschen Zeichensatz durch den japanischen ersetzt, damit war die Chat-Kommunikation von Empfängern untereinander und zum Sender genauso möglich wie vorher in Deutschland. Aber ich will noch mal auf die Frage des Territoriums bei Piazza virtuale als Huckepack auf analoge Systeme wie TV und Telefon zurückkommen und dann die Frage für das Splinternet neu denken. Bei der Territorialität muss man erst mal ganz klassisch das Sendegebiet sehen. Da war damals bei uns erst mal 3sat als Zusammenschluss von ZDF, ORF und SRG, die in diesen Ländern als Satellitenfernsehen ausgestrahlt wurden und mehr oder weniger Europa erreichten. Und dann war da der von der ESA gesponserte Satellit Olympus 1, der mit seinem Footprint von Portugal bis zum Ural und von Hammer- fest bis zur Sahara von einer spezialisierten Szene mit schwenkbaren großen Satel- litenschüsseln zu empfangen war. Dann gab es spezielle Leitungen nach Japan und Moskau und Bildtelefone in die USA. Mit der Sendezentrale in einer führenden In- dustrienation der Welt von der wichtigsten Kunstausstellung der Welt, der docu- menta. 15 Heil: »Wieviel ›weiße Vorherrschaft‹ steckt in der Mathematik?« NAVIGATIONEN 62 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIE ENDEN DES INTERNETS Diese Empfangbarkeit von Funkwellen direkt vom Satelliten hatte auch besondere Auswirkungen. So konnten zwei verfeindete Staaten des zerfallenden Jugoslawien durch Piazza virtuale kommunizieren. Dann möchte ich auf einen Aspekt zu sprechen kommen, der jetzt noch ›retro‹ erscheint, aber schon bald wieder wichtig werden könnte. Die gute alte Kurzwelle mit je nach Standpunkt Informations- oder Propagandasendungen sowie Presse- meldungen über Funkfernschreiben (RTTY) wurde aus Kostengründen zugunsten des Internets abgeschaltet. Im Äther findet man heute hauptsächlich Chinesisch, Arabisch und Hindi. Nun ist das Internet aber eine hard- und softwarebasierte Technologie, die Kabel, Computer, Router und Switches benötigt und mit Strom versorgt werden will. Diese Verbindungen lassen sich einfach kontrollieren, filtern und gegebenenfalls abschalten (von Katastrophenfällen mit Stromausfall mal ganz zu schweigen). Kurzwelle dagegen kann mit wenigen Watt Leistung und einem 20-$-Empfän- ger weltweit empfangen. Sollte es zu einer territorialen Aufspaltung des Internet kommen, könnte die Kurzwelle wieder zu einer wichtigen Informationsquelle wer- den; Smartphones werden mit der Meldung »No Service« (beim Stromausfall) oder »404« (Seite nicht gefunden) in der Ecke liegen. Ein bisschen in die Zukunft gesehen: Das Projekt Starlink16 von Elon Musks Firma SpaceX soll in der Endausbaustufe mit 42.000 Satelliten Breitbandinternet überall auf der Welt ermöglichen und setzt dabei auf dezentrale handliche Endge- räteschüsseln von 59 cm Durchmesser. Eine direkte Satellitenverbindung zum Smartphone und später zum ›Brain Implantat‹ halte ich für machbar. Die Outer Space Treaty17 wiederum erklärt den Weltraum zum Gemeingut der Menschheit und steht im Übrigen bei direkt zu empfangenden Fernsehsatelliten zum Recht auf freien Informationsaustausch. Möglicherweise wäre Starlink als Träger einer virtu- ellen Welt von staatlicher Seite nicht zu regulieren, aber ich bin kein Jurist. Ein An- satz für die nationale Regulation wäre die Lizensierung des Spektrums.18 Aber auch Peer-to-Peer-Networks, wie sie bei Bitcoin zum Einsatz kommen, haben keine Zentrale, die man abschalten kann. Regulieren kann man dabei nur die Übergänge in die reale Welt. Auch sehr spannend sind Mesh-Networks. Dabei wird das Netz von der Verbindung von Knoten zu Knoten aufgespannt. Da hilft auch nicht das Abschalten des Mobilfunknetzes. 16 »Starlink« - Wikipedia-Eintrag. 17 https://www.unoosa.org/oosa/en/ourwork/spacelaw/treaties/introouterspacetreaty.html 18 https://www.spektrum.de/news/starlink-wer-profitiert-von-spacex-satelliten-inter- net/1862425 NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 63 BENJAMIN HEIDERSBERGER/JAN CLAAS VAN TREECK Abb. 3: Starlink Terminal. Bildrechte: Steve Jurvetson, Creative Commons Attribution 2.0 Ge- neric. J.C.v.T.: Ja, Versuche den Computer anders zu denken und bauen gibt es – aber rein praktisch landeten z.B. die Analogrechner in einer historischen Sackgasse und sind jetzt lediglich obsolete Kuriosa in den Kellern von verschrobenen Enthusiasten. Und Łukasiewicz ist, wie auch Gotthard Günter mit seiner kybernetischen trans- klassischen Logik, eine esoterische theoretische Fußnote geblieben. Und obwohl sich die Teilbereiche des Cyberbalkans immer mehr trennen, bleibt die Grundla- gentechnik immer noch die gleiche. Diese Technikstandards waren es am Ende ja auch die bei euch die Transnati- onalität ermöglicht haben, so wie es jetzt immer noch möglich ist per VPN in China gesperrte Seiten wie Facebook zu besuchen. ›Geoblocking‹, also Versuche reale Territorien in virtuelle zu übertragen werden so teilweise von gemeinsamen Tech- nikstandards real unterminiert, so wie die Satellitentechnik von Piazza virtuale es damals tat. Noch hat sich keine wirklich eigenständig chinesische oder europäische Hardware entwickelt, die die Standards der Territorien und Kulturen in mit ande- ren Systemen bewusst inkompatible Hardware gießt. Die Kämpfe, die jetzt ausgefochten (müssen) sind jene, die aufkamen, weil jene digitale Schicht inzwischen wie die Karte von Jorge Luis Borges, von der Jean Baud- rillard schreibt, das gesamte reale Territorium zu bedecken scheinen. Unter der Karte (oder darüber im Falle von Kurzwelle oder Starlink) jedoch sind die Materia- litäten der Netze, die die Karte erst erzeugen und eben diese ermöglichen dann doch neue Verschaltungen, wenn man nur weiß, wie man es technisch anstellt. In- formationstechnisch heißt es für Dissidenten oder Utopisten dann doch wie bei euch damals »do or die« in Anlehnung an das Motto des MIT Media Lab, nur die Piazzas werden wohl immer klein bleiben. Aber vielleicht waren die Open Spaces NAVIGATIONEN 64 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIE ENDEN DES INTERNETS realiter schon immer Orte mit Zugangsbeschränkungen, oder eben demnächst ei- nem Starlink-Abo. B.H.: Ich finde das Verständnis des Cyperspace als ›Electronic Public Space‹, als Allmende, einen sehr wichtigen Gedanken. Hier sind einige neue Entwicklungen von privaten als auch öffentlich-rechtlichen Institutionen zu sehen.19 Wir benötigen einen elektronischen öffentlichen Raum, der die europäischen Werte der Gesell- schaft, in der wir leben, widerspiegelt. Es kann nicht sein, dass ein gewinnmaximie- render Algorithmus bestimmt, was wir sehen oder was von uns zu sehen ist. Die reale Welt spiegelt sich in der virtuellen und der Umzug des Menschen dorthin ist für mich die Grundlage zum Verständnis verschiedener Phänomene: In- ternet, Digitalisierung, Smartphone, Spiele- und Unterhaltungswelten, ›Social Me- dia‹, ›Goggles‹, ›Teleconferencing‹, ›Brain Implantate‹, ›Cyberwar‹, ›Cryptocur- rency‹, ›Block-Chain-Art‹ – dies alles beschleunigt durch Pandemie und ›Social Distancing‹. Der Mensch verbringt einen Großteil seiner Freizeit vor dem Bild- schirm, dem Fenster in die virtuelle Welt, und ist damit im Cyberspace. Und zwi- schen Bewusstsein und Cyberspace liegt ein algorithmisch gesteuerter medialer Schleier, der bestimmt, was wir sehen und was von uns zu sehen ist und dessen Kontrolle die Kontrolle des Menschen bedeutet. Um die Kontrolle dieses medialen Schleiers ringen Staat und Industrie, die In- dustrie, die ihn als globales, grenzüberschreitendes und gewinnbringendes Geschäft gebaut hat und der Staat, dessen wichtige Aufgabe die Verteidigung seines Territo- riums und seiner Grenzen ist. Es stellt sich die Frage, ob das Internet neben allen unbestreitbaren positiven Aspekten mehr als Koma erzeugt, ob die Smartphone-Nutzung eine gigantische Umleitung von Aufmerksamkeit in eine algorithmisch gesteuerte virtuelle Welt ist und die Gemeinschaft der Menschen massiv umgestaltet oder vielleicht am Ende auch vernichtet. Wenn alle Smartphone-Nutzung mit 10 $ die Stunde vergütet würde, käme jährlich eine Summe zusammen, die doppelt so groß wie das das Bruttosozialprodukt der USA ist. Die Durchdringung und Verschmelzung von realem und virtuellem Raum ist im vollen Gange.20 J.C.v.T.: Karte(n) und Gebiet(e) sind längst eins. LITERATURVERZEICHNIS Barlow, John Perry: »A Declaration of Independence of the Cyberspace« https://www.eff.org/cyberspace-independence, 25.02.2021. 19 Kagermann/Wilhelm: European Public Sphere. Towards Digital Sovereignty for Europe. 20 Hackl, »The Metaverse Is Coming And It’s A Very Big Deal«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 65 BENJAMIN HEIDERSBERGER/JAN CLAAS VAN TREECK Bria, Francesca/Amend, Christoph: »ZEIT für Klima: Rethink The World mit Fran- cesca Bria« https://www.youtube.com/watch?v=3MJsnUlEB-M, 25.02.2021. Hackl, Cathy: »The Metaverse Is Coming And It’s A Very Big Deal« https://www.forbes.com/sites/cathyhackl/2020/07/05/the-metaverse-is-com- ing--its-a-very-big-deal/, 25.02.2021. Heidersberger, Benjamin: »Die virtuelle Piazza«. In: Erhardt, Johannes (Hrsg.): Netzwerk-Dimensionen. 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Lohr, Steve: »He Created the Web. Now He’s Out to Remake the Digital World«. In: New York Times, 10.01.2021. https://www.ny- times.com/2021/01/10/technology/tim-berners-lee-privacy-internet.html, 25.02.2021. Netzpiloten: »Was war dein Traum von einer besseren Welt, Benjamin Heiders- berger?«, https://www.netzpiloten.de/was-war-dein-traum-von-einer-besse- ren-welt-benjamin-heidersberger/, 18.07.2021. Riegert, Bernd: »Meinung: Angriff der EU auf Google und Co«. https://www.dw.com/de/meinung-angriff-der-eu-auf-google-und-co/a- 55961157, 25.02.2021. Voelsen, Daniel: Risse im Fundament des Internets. Die Zukunft der Netzinfra- struktur und die globale Internet-Governance. SWP Studie 12, Berlin 2019. https://www.swp.berlin.org/fileadmin/contents/products/stu- dien/2019S12_job.pdf, 25.02.2021. Wikipedia: »Starlink«, https://en.wikipedia.org/wiki/Starlink, 25.02.2021. Wikipedia: »Steve Jobs (book)«, https://en.wikipedia.org/wiki/Steve_Jobs_(book), 18.07.2021. NAVIGATIONEN 66 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE POLITICS OF TECHNOLOGICAL FANTASY«1 Mit dem Electronic Café International zurück in die Zukunft V O N J E S S I C A N I T S C H E 1. IMMER WIEDER ZUKUNFT – WAS DER BEGRIFF DER MEDIENKUNST VERSCHWEIGT Um 1960 beginnt die ›heroische‹ Gründungsphase dessen, was heute als Medienkunst bezeichnet wird, allerdings noch lange, ohne diesen Begriff zu verwenden […].2 Die Medienkunst ist und war immer ein Experimentierfeld neuer technischer Mög- lichkeiten im Kontext ästhetischer Fragestellungen und somit ein Ort künstlerisch- technologischer Innovationen. Zu beobachten ist dies im Rahmen der einschlägigen Medienkunstfestivals, beispielsweise der ars electronica (Linz), der transmediale (Berlin) oder dem european media art festival (Osnabrück). Der Begriff der Medien- kunst ist wiederum nur aus seiner medien- wie auch kunstgeschichtlichen Entwick- lung heraus verständlich. Denn auf der Grundlage eines weitgefassten Medienbe- griffs wäre eigentlich jede Kunstform Medienkunst. Doch ist der Begriff in diesem Fall nicht weit gefasst, sondern impliziert – ohne dies sichtbar zu machen – neue Medien. Doch auch diese Einschränkung führt nicht weit genug, denn auch Foto- grafie und Film waren einmal neue Medien – wo also anfangen? Ein kleiner Rückblick: In seinem bereits 1936 verfassten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit hat Walter Benjamin den Film zum Inbegriff des zeitgemäßen und zugleich zukunftsweisenden Kunstwerks erklärt.3 Als der Text 1963 erstmalig in deutscher Sprache erschien, wurde er im links-in- tellektuellen Klima der Studierenden-Bewegung als »endlich eingetroffene Bot- schaft der Politisierung der Kunst, sozusagen als kulturrevolutionäre Bombe im Überbau, gefeiert«4. An die Stelle des auratischen und mit Kultwert ausgestatteten Originalkunstwerks wollte Benjamin das technisch reproduzierbare treten lassen, das nicht nur einige wenige, sondern potenziell alle Menschen erreichen sollte. Was 1 Das Zitat stammt aus dem Titel eines Beitrags von Philip Glahn und Cary Levine über das Electronic Café in Los Angeles (1984), einem Vorläufer des im Folgenden bearbeiteten Projekts aus dem Jahr 1992 (Glahn/Levine: »The Future Is Present«). 2 Daniels: »Was war die Medienkunst?«, S. 61. 3 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. 4 Lindner: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, S. 232. NAVIGATIONEN JESSICA NITSCHE er seinerzeit auf Film (und auch Fotografie)5 bezogen hatte, wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren wieder aufgegriffen und für die Videokunst in Anschlag ge- bracht. Denn durch die zunehmend kostengünstigere und leichter handhabbare Vi- deotechnik entstanden wieder neue Möglichkeiten, die Produktionsmittel selbst in Hand zu nehmen und technisch reproduzierbare Kunstwerke zu schaffen – Benja- mins bereits Jahrzehnte zuvor angestellten Überlegungen stießen auf fruchtbaren Boden. Bei Ulrike Rosenbach, Videokünstlerin der ersten Stunde, heißt es: In unseren Köpfen hatte sich Walter Benjamin festgesetzt mit seiner Theorie der Vervielfältigung des Kunstwerks, der Idee, die zuließ, daß nicht nur einige reiche Bürger Kunst besitzen könnten oder einige Sammlungen und Museen. Es war der Gedanke: ›Kunst für alle‹ durch Reproduktion und Serienanfertigung.6 Hier zeigt sich einmal mehr die Verschränkung eines politischen Anspruchs – der gewünschten Demokratisierung von Kunst – mit den jeweils verfügbaren Medien- technologien. Zugleich deutet sich eine Entwicklungslinie von Film über Video zu Medienkunst an; diese bildet sich auch in der Geschichte und den Namen der oben genannten Festivals ab. Die ars electronica gründete sich bereits 1979 und verfolgt seitdem die Erforschung der Schnittstelle von Kunst, Technologie und Gesellschaft; die transmediale wurde 1988 unter dem Namen Video Film Fest im Kontext der Berlinale gegründet; das emaf ist aus dem 1981 in Leben gerufenen Experimentalfilm Workshop e.V. hervorgegangen, 1988 erfolgte dessen Umbenennung, mit der die Öffnung gegenüber video- und computer- und später internetbasierten Kunstfor- men einherging. Die Genese der Festivalnamen zeigt: Bevor die Medienkunst als solche be- zeichnet wurde, war sie (unter anderem) Videokunst. Deren Etablierung vollzog sich wiederum auf der Grundlage eines sich im Lauf der 1980er-Jahre verändernden Werkbegriffs, in dem die Reduktion auf Gattungen, Einzelmedien und deren Medi- enspezifik aufgehoben und auf komplexe Arrangements und Installationen ausge- dehnt wurde.7 Dieser Entwicklung wurde der Begriff der Medienkunst schließlich eher gerecht, denn er macht deutlich, dass es um die Integration, Adaption und auch Transformation verschiedener Medien geht. Dieter Daniels stellt heraus, dass unter dem Begriff die »jeweils einem spezifischen Medium gewidmeten 5 Vgl. dazu ausführlich Nitsche: »Filmkunst« und dies.: Walter Benjamins Gebrauch der Foto- grafie. 6 Rosenbach: »Video als Medium der Emanzipation«, S. 99. Bemerkenswert ist, dass sowohl für Fotografie, Film als auch Video gilt, dass gerade deren technische Reproduzierbarkeit lange verhinderte, dass sie im traditionellen Kunstbetrieb Fuß fassen konnten, weil diese im Widerspruch zu Logiken und Wertvorstellungen des Kunstmarkts stand. Vgl. dazu auch Daniels: »Bildende Kunst und laufende Bilder«, S. 41. 7 Vgl. Daniels: »Video – Das unspezifische Medium«, S. 35. NAVIGATIONEN 68 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE POLITICS OF TECHNOLOGICAL FANTASY« Kunstformen Video-, Computer- und Netzkunst inter- und transmedial ›wieder- vereinigt‹«8 werden. Videokunst kennzeichnet er aus heutiger Perspektive explizit als historisch gewordenen Begriff.9 Der Begriff der Medienkunst markiert zugleich jenen Wandel, unter Neuen Medien nicht mehr lediglich technische Medien (wie Fotografie, Film und Fernsehen) zu verstehen, sondern auch digitale Medien. Die Medienkunst saß lange zwischen den Stühlen und entfaltete möglicher- weise gerade dadurch eine besondere Produktivität und Innovation: Zum einen produzierte sie ohne unmittelbar zielgerichtete kommerzielle Zweckorientierung, zum anderen war sie absolut technikaffin und kann gerade dadurch als Seismograf zukünftiger Medien dienen. Mit diesen Eigenschaften stand sie einerseits quer zum Wirtschafts- und andererseits auch zum traditionellen Kunstsystem. Diese Position gewährte große Freiheit, beförderte ein radikales Experimentieren auf dem jeweils aktuellen Stand der Technik und erforderte zugleich die Entwicklung neuer Struk- turen wie auch Institutionen innerhalb des Kunstkontextes. In dieser kursorischen Skizze deutet sich bereits an, dass der Begriff der Me- dienkunst – der inzwischen mitunter selbst als »Dinosaurier der 80er und 90er Jahre«10 und »künstlich ernährtes Geschöpf«11 verhandelt wird – in Beziehung zum (jeweils) medientechnologisch Neuen zu denken ist, was ihm bezüglich der Frage nach einer zukünftigen Medienästhetik besondere Bedeutung verleiht. 2. ELECTRONIC CAFÉ INTERNATIONAL ALS WELTWEITES NETZ VOR DEM W(ORLD)W(IDE)W(EB) Die folgenden Ausführungen widmen sich dem Medienkunstprojekt Electronic Café International – kurz ECI –, das Anfang der 1990er Jahre den Stand der Technik aus- gelotet hat, für das technologiebasierte Interaktion kennzeichnend war und das zu- gleich an künstlerische Traditionen (Künstlercafé) wie auch konkrete Vorgänger- projekte (Electronic Café, Los Angeles 1984; Café Casino und Ponton-Projekt, Kassel 1987) angeknüpft hat.12 Am Beispiel dieses Projekts kann gezeigt werden, wie zu 8 Ebd., S. 32. 9 Vgl. ebd., S. 34. 10 Stefan Heidenreich: »Es gibt gar keine Medienkunst!«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszei- tung, 27.01.2008, hier zit. nach Daniels: »Was war die Medienkunst?«, S. 57. 11 So Florian Rötzer im Rahmen des Symposiums Neue Medien in der Kunst. Geschichte – The- orie – Ästhetik an der Akademie der Bildenden Künste München, 21./22. Januar 2010, hier zit. nach Daniels: »Was war die Medienkunst?«, S. 57. 12 Die folgenden Ausführungen gehen auf meine Forschung im Rahmen des Projekts Die Me- dienkunstagentur 235 Media. Ihre Bedeutung hinsichtlich der Produktionsbedingungen, Öko- nomisierung und Internationalisierung von Medienkunst (Projektleitung: Renate Buschmann, Laufzeit: 2015-2018) in der Stiftung imai zurück. Dieses widmete sich auf vielfältige Weise der Video- bzw. Medienkunst. Zur Geschichte und den Tätigkeitsfeldern von 235 Media in den 1980er und 1990er Jahren vgl. Buschmann/Nitsche (Hrsg.): Video Visionen (zum ECI vgl. dort meinen Text »Das Electronic Café International 1992 – ›the state of the art of network-art‹« und Kimura-Myokam: »Netzwerk-Kunst«). Seit Ende der 1990er Jahre NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 69 JESSICA NITSCHE einer bestimmten Zeit, die zugleich den Medienumbruch vom Analogen zum Digi- talen markiert, zukünftige Medien imaginiert wurden.13 Abb. 1: Das ECI während der documenta IX in Kassel Anfang der 1990er Jahre befand sich das Internet noch in seinen Anfängen und ISDN war die vorherrschende, seit 1989 immer weiterreichend ausgebaute Kom- munikationstechnologie.14 Das ECI, das die ISDN-Technologie nutzte, ist ein Bei- spiel dafür, wie in der retrospektiv so bezeichneten Prä-Internet-Ära netz(werk)ba- sierte Kunst realisiert wurde. Der Begriff der Netz(werk)kunst wird insbesondere mit digitalen, internetba- sierten Kunstformen in Verbindung gebracht. Doch nicht jede internetbasierte Kunst ist Netz(werk)kunst und nicht jede netzwerkbasierte Kunstform benötigt das Internet. Dass sich das Internet im Laufe der 1990er Jahre zum idealen Medium der hat sich der Schwerpunkt von 235 Media verschoben und das Unternehmen bietet über den Bereich der Kunst hinaus medientechnisch komplexe Ausstellungsgestaltungen und die Entwicklung medialer Räume, interaktive Installationen und Interface-Lösungen an (vgl. https://235media.de, Geschäftsführung damals wie heute: Axel Wirths und Ulrich Leistner). Das seit Anfang der 1980er Jahre aufgebaute Video- und Medienkunstarchiv von 235 Media wurde in die Stiftung imai überführt und so für die Forschung zugänglich gemacht. 13 Zur Auseinandersetzung mit der Frage, wie zukünftige Medien imaginiert werden, vgl. aus- führlich Ernst/Schröter: Zukünftige Medien; über das Projekt Piazza virtuale, das ebenso wie das ECI im Rahmen der documenta 9 realisiert wurde, heißt es dort: »Allen Beteiligten war klar, dass man im Begriff war, einen Medienumbruch in Echtzeit zu erleben.« Ebd., S. 26. Zu Piazza virtuale vgl. auch die umfassenden Informationen auf der Website des DFG-Forschungsprojekts Van Gogh TV. Erschließung, Multimedia-Dokumentation und Ana- lyse ihres Nachlasses (Team: Tilman Baumgärtel, Christoph Ernst, Anja Stöffler, Jens Schröter, Julian Weinert): http://vangoghtv.hs-mainz.de/. 14 Die Abkürzung steht für Integrated Service Digital Network oder in der deutschen Version für Integriertes Sprach- und Datennetz. Integriert bedeutet hier, dass verschiedene Dienste gleichzeitig übertragen werden können. Heute gehört die ISDN-Technologie auch im Be- reich der Telefonie, wo sie noch lange verwendet wurde, überwiegend der Vergangen- heit an. NAVIGATIONEN 70 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE POLITICS OF TECHNOLOGICAL FANTASY« Vernetzung entwickelt hat, kann in den Hintergrund treten lassen, dass das Netz nicht der einzige Ort für Netz(werk)kunst ist – denn die Idee, weltweite Netz- werke zu schaffen bzw. zu nutzen und auch für die Kunst produktiv zu machen, existierte bereits lange zuvor. Die japanische Medienkunst-Kuratorin Hiroko Kimura-Myokam schreibt dazu: Wenn wir Netzkunst als etwas ansehen, das durch die Telekommuni- kationstechnologie geschaffen wurde, durch ein System also, das den Zweck des Informationsaustauschs hatte, können wir den Ursprung der Netzkunst zurückverfolgen bis zur Mail Art in den 1960er-Jahren oder zu Projekten, die Fax und Telefon seit dieser Zeit verwendeten.15 Das ISDN-basierte ECI lässt sich mit ihr auch beschreiben als Experiment »in der ›Morgendämmerung‹ der internetbasierten Netzkunst […], die dann Mitte der 1990er-Jahre populär wurde.«16 3. MOBIL, TEMPORÄR, VERNETZT UND (NICHT NUR) VIRTUELL: DAS KÜNSTLER:INNEN-CAFÉ DER 1990ER JAHRE Die Nutzer ›lungern im elektronischen Raum herum‹, so wie es die Dadaisten und Surrealisten in den Pariser Cafés der zwanziger Jahre taten.17 Abbildung 1 zeigt das ECI an seinem ersten Aktionsort in Kassel, in unmittelbarer Nähe zu der barocken Orangerie in der Karlsaue, wo es 1992 für die gesamten 100 Tage der documenta installiert war. Die Beteiligten am Projekt waren Axel Wirths (künstlerische Leitung/Organisation), Ulrich Leistner (Technik), Sabine Voggenrei- ter (künstlerische Leitung/Management), Detlev Meyer Voggenreiter (künstleri- sche Leitung/Design/Architektur), Reinhard Müller (Design/Architektur) und Uwe Wagner (Design/Architektur). Kooperationspartner waren unter anderem Keigo Yamamoto (Fukui/Nagoya, Japan), Jeffrey Shaw (Karlsruhe), Manfred Eisenbeis (Köln), Don Foresta (Paris), Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz (beide: Santa Mo- nica, USA). Das im Konzeptpapier formulierte Anliegen war, zur documenta IX einen »meeting point« zu schaffen, »der mit einem entsprechenden Aktionsprogramm unterhaltsam und interaktiv einen angemessenen Rahmen entfaltet. […] Das Akti- onsprogramm soll sich dabei auch mit Grenzbereichen der Kunst, wie Photogra- phie, den neuen Medien, Design, Musik und ihren darstellenden Formen wie Per- formance beschäftigen«.18 Darüber hinaus sollte das Programm Radio, 15 Kimura-Myokam: »Netzwerk-Kunst«, S. 197. 16 Ebd., S. 195. 17 Youngblood: »Der virtuelle Raum«, S. 13. 18 Konzeptpapier zum Casino Container/ECI, S. 3. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 71 JESSICA NITSCHE Installationen, eine Aktionszeitung, Konzerte, Theaterveranstaltungen, Lesungen, Diskussionen, Talkshows, Tagungen und Ausstellungen beinhalten. Für die Gestaltung des Ortes, der hier entstehen sollte, orientierte man sich nicht an dem für die Kunst traditionellen Ort des Museums, sondern an der Tradition der Künstler:innencafés. Es ging darum, einen Raum zu schaffen, in dem man sich gerne aufhielt, in dem auch gegessen und getrunken werden konnte,19 in dem Ver- anstaltungen unterschiedlicher Art stattfinden sollten und in dem man kommuni- zieren und sich vernetzen konnte. Der Unterschied zum traditionellen Café bestand darin, dass diese Vernetzung nicht nur unter den körperlich Anwesenden stattfin- den konnte, sondern dass virtuelle Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen wer- den sollten. Dies bedeutete bereits Anfang der 1990er-Jahre eine weltweite Ver- netzungsmöglichkeit und bildete (unter anderen technischen Voraussetzungen) einen Anfang von dem, was später als weltweites Netz(werk) genau diesen Namen erhalten sollte: World Wide Web. Im Konzeptpapier liest sich dieses Anliegen so: Da sich schon immer Kunst und Leben im Café verbunden haben, ist die Idee, einen mobilen und medial vernetzten Café-Container mitten in das documenta-Geschehen zu stellen und über ein offenes Aktions- konzept die Kunst zu einem interaktiven Prozeß zu gestalten.20 Das ECI sollte als »permanent eingerichtetes multimediales Café« installiert wer- den, in dem die Kommunikation »ihre Erweiterung durch interaktive Kommunika- tion über eine Vernetzung mit anderen ECI in aller Welt« findet.21 Konkret sollte sich dies wie folgt gestalten und wurde auch so realisiert: Ausgestattet mit allen Möglichkeiten der modernen Informationsver- mittlung wie Videokamera, Videostillkamera, digitaler Tonaufnahme, Bildbearbeitungscomputer, Scanner etc., kann das ECI unter Anleitung eines künstlerischen Operators von jedermann genutzt werden. Hier- bei können Botschaften, Texte, Bilder, Musik, Unterhaltungen nicht nur ausgetauscht, sondern auch zusammen entwickelt und präsentiert wer- den. […] Durch die revolutionierenden neuen Möglichkeiten der Kom- munikationstechnologie, insbesondere die weltweite Einführung des ISDN-Telefonnetzes, ist eine direkte Verbindung, vom meeting point aus, zu fast jedem beliebigen Ort auf dem Globus möglich.22 Bemerkenswert ist, dass der Ausstellungsraum bzw. dessen individuelle Architek- tur eigens für dieses Projekt konzipiert wurde bzw. elementarer Bestandteil des 19 »Künstler kochen im Casino Container. Die Container/Gastronomie ist kontinuierlicher Programmpunkt. 10-15 Künstler kreieren zu bestimmten Themen Menues.« Ebd., S. 9. 20 Ebd., S. 3 und 9. 21 Ebd., S. 7. 22 Ebd. NAVIGATIONEN 72 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE POLITICS OF TECHNOLOGICAL FANTASY« Projekts war. Der Container war ausklappbar und bot innen eine Gesamtnutzfläche von 135 qm; darüber hinaus konnte der Außenbereich genutzt werden (vgl. Abb. 1).23 Die architektonische Konstruktion des ECI hatte einen Vorläufer auf der vor- angegangenen documenta: das Café Casino. Realisiert worden war dies durch die Gruppe Pentagon, die im September 1985 von Wolfgang Laubersheimer, Reinhard Müller, Ralph Sommer, Detlef Meyer Voggenreiter und Gerd Arens gegründet worden war. Mit ihrer Ausrichtung stand Pentagon im Kontext des Neuen Deut- schen Designs, einer antifunktionalistischen Designbewegung, die in den 1980er- Jahren in Deutschland entstanden war. Es ging darum, ein alternatives Designver- ständnis zu entwickeln, das sich sowohl in neuen Formen als auch in der Verwen- dung anderer Materialien niederschlug. Die Gruppe Pentagon hatte den Café-Gedanken, der später für das Electronic Café International elementar war, im Kontext der documenta 8 in seinem Projekt Casino umgesetzt – einem Künstlercafé, das »in einer heruntergekommenen Pro- vinzdisko im Zentrum von Kassel«24 temporär installiert wurde. Mit dem späteren Projekt hatte das Café Casino bereits gemeinsam, dass auch hier die damaligen technischen Möglichkeiten der Vernetzung genutzt wurden: Der Café-Besucher sieht sich als Anwender alsbald in verschiedene technologische Projekte verstrickt, die ihn die Reminiszenzen des Ma- terials vergessen lassen und ein anderes, künstliches und zukünftiges Café entwerfen: Datenbänke sind mit Übersee verbunden und geben Auskunft über alle herbeigewünschten Besucher des Cafés, nämlich all jene Künstler, die je an einer documenta teilgenommen haben.25 Nach dem Café Casino-Projekt erhielt Pentagon weitere Anfragen, bei Kunst- und Kulturveranstaltungen mobile Cafés zu installieren. Dies war der Ausgangspunkt dafür, ein Café im Container zu planen, das als Ganzes mobil und variabel einsetz- bar sein sollte. So entstand für die documenta IX das ECI bzw. der Casino Container26 – »ein doppelter Seecontainer, in dem alle für ein Café erforderlichen Funktionen berücksichtigt und baulich installiert sind, und der von einer auffaltbaren Peripherie umgeben ist«27. Mit Design und Architektur selbst gestaltend in den öffentlichen 23 Vgl. ebd., S. 6. 24 Voggenreiter: »Fünf Jahre Gruppe Pentagon«, S. 17. Es handelte sich dabei um die Kasseler Diskothek New York. 25 Voggenreiter: »Zur Eröffnung des Cafés Casino«, S. 117. Wie diese Ausstattung konkret aussah und auf wen sie zurückgeht, bleibt der weiteren Forschung vorbehalten – nahelie- gend ist, dass eine Verbindung zu Minus Delta t und dem Ponton Projekt bestand. Im Ar- chiv der Stiftung imai findet sich eine Dokumentation der Abschluss- und zugleich Ab- rissperformance des Cafés Casino durch Pentagon. 26 Für das Projekt wurde sowohl die Bezeichnung Casino Container als auch Electronic Café International verwendet. 27 Voggenreiter: »Fünf Jahre Gruppe Pentagon«, S. 21. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 73 JESSICA NITSCHE Raum einzugreifen und diese Architektur zugleich so mobil zu entwerfen, dass sie in ganz unterschiedlichen Umgebungen errichtet werden kann, unterscheidet das ECI von dem Café Casino-Projekt. Es gibt im Rahmen der documenta 8 einen weiteren wichtigen Vorläufer, in dem sich zentrale Ideen, Technologien und auch die mobile Architektur des ECI vorformuliert finden: das Ponton Projekt.28 Dieses wurde erstmalig 1986 im Rah- men der ars electronica in Linz durch das Künstlerkollektiv Minus Delta t realisiert, dessen Gründung durch Karel Dudesek, Chrislo Haas und Mike Hentz bereits in das Jahr 1978 fällt. Die Gruppe stellt mindestens in zweierlei Hinsicht ein künstle- risches Avantgarde-Kollektiv dar: zum einen in Bezug auf (extreme) Performance, zum anderen in Bezug auf die künstlerische/experimentelle Arbeit mit elektroni- schen Medien.29 Die Fernsehprojekte von Ponton wurden unter dem Namen Van Gogh TV durchgeführt. Das Radio- und Fernsehprojekt Ponton in Linz bestand neben Minus Delta t aus dem in Lyon ansässigen Künstlerkollektiv Frigo wie auch der dortigen Musik-Per- formance-Gruppe Code Public und Radio Bellevue.30 Das Linzer Projekt bestand aus einer am Donauufer installierten Containercity wie auch einem Fahrzeug als mobile Einheit. Die technische Ausstattung implizierte Mischpulte, Schnittplätze, Abspiel- geräte, Projektoren, Monitore, Computer u.v.m., womit eigene Radiosendungen und TV-Programme realisiert worden sind.31 1987 erweiterte sich nicht nur der Name, sondern auch die Besetzung: Das Ponton european mobile art project versammelte nun Mike Hentz, Benjamin Hei- dersberger und Karel Dudesek von Minus Delta t, Gerard Couty von Frigo und Axel Wirths von 235 Media.32 In dieser Konstellation nahm man mit einem imposanten Großraum-Gelenkbus, versehen mit der Aufschrift Ponton, an der documenta 8 in Kassel teil.33 Eine Werbepostkarte für das Ponton Projekt, die 1987 in der 28 Das Projekt variierte über die Jahre sowohl seine Namen als auch seine Besetzung, weitere Bezeichnungen waren z. B. Ponton mobile media art project, Ponton Media Art und Ponton European Media Art Lab. Ich verwende der Einfachheit halber den Namen Ponton Projekt. Den personellen Kern des Projekts bildeten Benjamin Heidersberger, Mike Hentz und Karel Dudesek. Für eine ausführliche Darstellung der Projekte und deren Bezeichnungen und Protagonisten vgl. die Website des DFG-Forschungsprojekts zu Van Gogh TV: https://vangoghtv.hs-mainz.de/?page_id=85112, 27.08.2021. 29 Zu Minus Delta t vgl. auch: Minus Delta t: Das Bangkok-Projekt; Vogel: »Interview mit Minus Delta t in Lenins Arbeitszimmer (1. Mai 1989)«; Hentz (Hrsg.): Works 4; Nitsche: »Punk – Performance – Kunst. Documenta 7 und 8 als Symptom und Schauplatz«. 30 Vgl. Minus Delta t: »Das Projekt«, S. 9. 31 Vgl. ebd., S. 10. 32 Vgl. PONTON. European mobile art project. EMAF 1988 (letzte Aktualisierung der Website: 12. August 1996) http://2016.emaf.de/emaf.de/_emaf/www.emaf.de/1988/ponton.html, 14.05.2021. 33 Auch zwischen dem dortigen Café Casino in der ehemaligen Diskothek New York und Minus Delta t bestand eine enge Verbindung. Denn die Gruppe gestaltete unter dem Titel La Fête Permanente das dortige Abendprogramm mit und war damit zugleich Teil des von Elisabeth Jappe kuratierten Performance-Programms (Elisabeth Jappe: documenta 8 live NAVIGATIONEN 74 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE POLITICS OF TECHNOLOGICAL FANTASY« Zeitschrift mediamatic publiziert wurde, informiert über Maße und Inventar des Großraumbusses: »120m3 Meter Multi Media, 22m Bus-Skulptur, Computer Data Bank, Produktionsraum, Video-Editing, Slow Scan, Transmitter, Video-Archiv, High Beam, Computer Graphik, Video-Print, Infothek, Satellitenempfang, Bar.«34 Die dortigen Computer boten bereits die Möglichkeit an, die seit 1985 existierende Mailbox The WELL in San Francisco zu nutzen. Nach der documenta 8 gastierte die Gruppe mit dem Ponton Medienbus 1988 auf dem EMAF (European Media art festi- val) in Osnabrück wie auch der Videonale 3 in Bonn.35 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Ponton Projekt einen ideellen Aus- gangspunkt für jene beiden Großprojekte der documenta IX darstellte, die mit elektronischen Medien und virtuellen Netzwerken das Kunstfeld bespielten: zum einen die Piazza Virtuale von dem aus Minus Delta t hervorgegangenen Van Gogh TV, zum anderen das ECI von 235 Media und Pentagon.36 4. NOCH WEITER ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT: DAS ELECTRONIC CAFÉ IN LOS ANGELES 1984 Anfang der 1990er Jahre repräsentierte das ECI-Projekt den »state of the art of networkart«37. Doch die Ausführungen über das Ponton-Projekt haben gezeigt, dass die ihm zugrundeliegende Idee nicht vollständig neu war – das gleiche gilt für den Namen. Im Folgenden möchte ich auf jenen noch früheren Vorläufer eingehen, der (fast) den gleichen Namen trug: das von Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz bereits 1984 in Los Angeles realisierte Electronic Café.38 Es handelte sich bei der früheren kalifornischen Version um ein multimediales Echtzeit-Computer-/Videonetzwerk, das für die Dauer von sieben Wochen wäh- rend der Olympischen Sommerspiele in fünf Schnellimbiss-Restaurants wie auch im Museum of Contemporary Art in Los Angeles installiert wurde. Ausgewählt wurden Stadtteile mit ganz unterschiedlicher Bevölkerungsstruktur, um einen Austausch zwischen diesen herzustellen und um einen Eindruck von der kulturellen Vielfalt der Stadt und der Spiele erhalten zu können. – Performance, Aktion, Ritual. 235 Media 1987, damals im Vertriebsprogramm für Video- kunst auf VHS v. 235 Media, heute im Archiv der Stiftung imai). 34 Vgl. Ponton Postcard (mit der Bildunterschrift Minus Delta t + 235 join forces at Documenta 8). In: Mediamatic, Jg. 2, Nr. 1, 1987, S. 37. 35 Vgl. Malsch: »Das Dilemma der Großfamilie - 3.Videonale Bonn«, S. 161. 36 Für zahlreiche ergänzende Hinweise zu Minus Delta t und dem Ponton Projekt danke ich Tilman Baumgärtel. 37 Wirths: »Artistic Electronic Networking«, S. 172. 38 Das Projekt wurde mit Mitteln des Los Angeles Museum of Contemporary Art gefördert und fand im Rahmen des Olympic Arts Festival statt. Es ist ausführlich dokumentiert in http://www.ecafe.com/museum/hilites/1984.html, 15.01.2021. Verwiesen sei dazu auch auf Glahn/Levine: »The Future Is Present« wie auch die Forschungsergebnisse von Besser: »InterPARES 2 and the Electronic Café International« und ders.: »Final Report: Electronic Café International«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 75 JESSICA NITSCHE Wer die Restaurants bzw. das Museum besuchte, konnte dort »mit Hilfe der Video/Computer/Robotikhardware Zeichnungen, Fotos, Gedichte oder Nachrich- ten austauschen«39. Als Ort für die Electronic Cafés Schnellrestaurants auszuwählen, war ein wichtiger Teil des Projekts, wovon man sich versprach, Personen zu errei- chen, die sich möglicherweise niemals in einem Museum einfinden würden. Hier zeigt sich ein für die Arbeiten von Galloway und Rabinowitz typisches Element: Sie waren nicht an »Telekommunikationsprojekten als elitären und exklusiven ›Kunst- events‹ interessiert, sondern beton[t]en das soziopolitische Engagement ihrer Pro- jekte«.40 Ein weiterer Aspekt war, die Idee des Cafés für den elektronischen Raum zu aktualisieren bzw. zu etablieren, der ebenso als Ort des kulturellen Austauschs ge- dacht wurde. Youngblood beschreibt das Electronic Café als ein »hybrides, multi- mediales Telekommunikationssystem«.41 Galloway und Rabinowitz haben die welt- umspannende Wirkung ihrer Idee weiter mitverfolgt, und sie standen mit dem späteren ECI-Team aus Deutschland in Kontakt, was auch auf der genannten Homepage dokumentiert ist: »›MOBILE-ECI‹ Launched at Documenta IX, Kassel, Germany, (June 13 – Sept. 20) 100 DAYS of interactive and public participatory telecommunications events. (Yes, we were there to[o].)«.42 Dass Galloway und Rabinowitz bereits zuvor Projekte realisiert hatten, die wiederum als Vorläufer43 des ECI angesehen werden können, sei nur am Rande angemerkt: Mit ihrem »›Satellite Arts Project‹, bei dem zwei Gruppen von Tänzern an verschiedenen Orten miteinander interagierten«44, waren sie bereits auf der documenta 6 (1977) vertreten, 1980 realisierten sie ein weiteres Satellitenprojekt mit dem Titel Hole in Space. Hier wurde für die Dauer von drei Tagen eine Satelli- tenverbindung zwischen Los Angeles und New York City hergestellt, die interaktiv angelegt war. Durch diese öffentliche Kommunikations-Skulptur konnten Passanten visuell und akustisch Kontakt mit Menschen auf der jeweils anderen Seite des Kon- tinents aufnehmen. Die Dramaturgie der drei Tage schildern Galloway und Rabino- witz wie folgt: Es gab den Abend der Entdeckung, gefolgt von dem Abend der münd- lich verabredeten Treffen, gefolgt schließlich am dritten Abend von ei- nem Massenandrang und einer transkontinentalen Begegnung mit 39 http://www.medienkunstnetz.de/werke/electronic-cafe-project/, 15.01.2021 (dort zit. nach InfoWorld, September 10, 1984). 40 Arns: »Interaktion, Partizipation, Vernetzung. Kunst und Telekommunikation«, o.S. 41 Youngblood: »Der virtuelle Raum«, S. 12. 42 http://www.ecafe.com/1992.html, 15.01.2021. 43 Auf ihrer Homepage stellen Galloway und Rabinowitz eine kleine »Early History of Electronic Café« vor, vgl. http://www.ecafe.com/museum/vintageeci/vintageeci.html, 15.01.2021. 44 Arns: »Interaktion, Partizipation, Vernetzung. Kunst und Telekommunikation«, o.S. NAVIGATIONEN 76 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE POLITICS OF TECHNOLOGICAL FANTASY« Geliebten und Familienmitgliedern, die sich zum Teil schon zwanzig Jahre nicht mehr gesehen hatten.45 In einer durch COVID-19 geprägten Zeit, in der Videokonferenzen so selbstver- ständlich geworden sind wie nie zuvor, lässt sich die spektakuläre Dimension von Projekten wie Hole in Space nur noch erahnen. In größerem Umfang entstanden künstlerische Konzepte technologischer Interaktivität erst in den 1990er-Jahren, wie auch das im Folgenden vorgestellte ECI des Kölner Teams, das in der Planungs- phase in Kontakt mit Galloway und Rabinowitz stand. Auch wurden die beiden in einer von Axel Wirths und Meyer Voggenreiter moderierten Videotelefonkonfe- renz während der documenta zugeschaltet.46 In seiner 1990er-Jahre-Version wurde das ECI signifikant erweitert und verändert. Um die Differenz zu ihrem kaliforni- schen Vorläufer deutlich zu machen, wurde für die europäische Realisierung auch die Bezeichnung Mobile Electronic Café International (Mobile ECI) gewählt. Abb. 2: Videotelefonie im ECI (Kassel) 5. DAS ECI UND SEINE PROJEKTE IN KASSEL, KÖLN UND VENEDIG Im Folgenden geht es um die konkreten Realisierungen des ECI an seinen verschie- denen Standorten. Mit dem Casino Container wurde jeweils dieselbe mobile Archi- tektur installiert, darin haben jedoch jeweils unterschiedliche Einzelprojekte statt- gefunden. Die Projektbeschreibung, die sich heute auf der Homepage von 235 Media wie auch der Plattform medienkunstnetz.de findet, fasst die Realisierung(en) des ECI wie folgt zusammen: 45 Zit. nach http://www.medienkunstnetz.de/werke/hole-in-space/, 15.01.2021. 46 Diese Videotelefonkonferenz fand am 21. Juni 1992 im ECI in Kassel statt (vgl. dazu die filmische Dokumentation im Archiv der Stiftung imai). NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 77 JESSICA NITSCHE In rund 60 Einzelprojekten erforschten, diskutierten und kritisierten Künstler, Designer, Musiker, Architekten, Schriftsteller und Kritiker die veränderten Möglichkeiten von Technik und Produktion. Ihr Atelier auf Zeit war das Electronic Café International in der oberen Etage des Con- tainers mit Anschlüssen an verschiedene Netzwerke und Arbeitszu- sammenhänge (direkte ISDN-Verbindungen, Internet, Bildtelefon, Au- diokonferenzen etc.), die sie als ›artists in residence‹ nutzen konnten. Die Einseitigkeit der sendergesteuerten Kommunikation sollte ebenso durchbrochen werden wie die Beliebigkeit eines offenen Kanals, in dem sich alle Äußerungen gegenseitig auslöschen. Casino Container entwi- ckelte für die mediengesellschaftliche Gegenwart das Konzept eines mobilen öffentlichen Raumes, der dort eingesetzt werden kann, wo er gebraucht wird. Er kombiniert das traditionelle Café und die mediale Workstation zu einer zeitgemäßen Form des Palavers, die das öffentli- che Leben vor Ort mit den Netzwerken des globalen Dorfes verbindet. Für eine gewisse Zeit wird ein Ort besetzt, aktiviert und verändert. Dann geht die Reise weiter.47 Marshall McLuhans Prognose, die Welt werde durch die elektronische Vernetzung zu einem »Global Village«, findet in dieser Projektbeschreibung ihren Nieder- schlag.48 Bazon Brock beschreibt die Bedeutung von McLuhan (und Walter Benja- min) für die Videoszene wie folgt: Also: als wir […] zum ersten Mal die Chance erhielten, das neue Me- dium [Video, Anm. d. Verf.] auszuprobieren, hieß unser Großvater Benjamin. Dessen Sohn McLuhan hatte mit uns etwas Großes vor: Welteroberung im heimischen Sessel. Der zeitgemäße Imperator blies sich global auf, Extension der Haut, der Hände und Füße, der Augen und Ohren […].49 Bemerkenswert ist, dass das globale Dorf im Electronic Café International wiederum zu einem öffentlichen Ort wurde, der nicht nur virtuell existierte (und auch nicht nur im heimischen Sessel). Hier findet jenes Zusammenspiel der Gegensätze Hyper- medialität und Unmittelbarkeit statt, das Schröter und Ernst als kennzeichnend für die Zeit um 1990 herausstellen und auch für das im Rahmen der gleichen documenta realisierte Projekt Piazza virtuale in Anschlag bringen.50 Der städtische Platz (Pia- zza) wie auch das Café sind ganz traditionelle öffentliche Ereignisorte für Kommu- nikation, die auch ohne jegliche Medientechnologie auskommen. In den Projekten 47 http://235media.de/235cms/1992/02/mobile-electronic-cafe/; http://www.medienkunstnetz.de/werke/electronic-cafe/, 15.01.2021. 48 Vgl. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis und ders.: The Global Village. 49 Brock: Eine Zukunft dem Video? Fragt die alten Männer!, S. 126. 50 Vgl. Ernst/Schröter: Zukünftige Medien, S. 24-30. NAVIGATIONEN 78 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE POLITICS OF TECHNOLOGICAL FANTASY« Piazza virtuale und Electronic Café International werden sie sowohl als konkreter Ort der Zusammenkunft im Rahmen der documenta, als auch als virtueller Raum für Interaktion installiert. Piazza virtuale wie auch das ECI lassen den Wunsch nach technologisch/sozialer Interaktion sichtbar werden. Inwiefern dies nahelegt, sie aus heutiger Perspektive als Teil der Vorgeschichte der Social Media zu betrachten, bleibt weiter zu diskutieren.51 Die Reise des ECI führte von Kassel im folgenden Sommer zunächst zur 45. Biennale nach Venedig (13.06.–10.10.1993). Deren Leiter Achille Bonito Oliva hatte auf Grundlage der These, dass sich die zeitgenössische Kunst nicht nur durch ihre Geschichtlichkeit und Tradition, sondern insbesondere auch durch Bewegung auszeichne, »die Losung des ›Nomadism‹ ausgegeben« und zu einem »friedlichen Nomadentum« aufgerufen.52 Diesem Konzept wurde das ECI mit seiner mobilen Architektur zunächst absolut gerecht. Dennoch scheiterte die erfolgreiche Ausstel- lungsbeteiligung daran, dass es – als Café – von der Stadt als Konkurrenz zur heimi- schen Gastronomie (miss)interpretiert wurde. Das friedliche Nomadentum stieß hier an seine Grenzen und die Folge war, dass das ECI nicht für den gesamten Zeit- raum der Biennale installiert bleiben konnte. Das Team erhielt jedoch die Einla- dung, es noch im gleichen Sommer im neu entstehenden Kölner MediaPark53 auf- zubauen. Die an den drei Standorten realisierten Projekte wiesen strukturelle Ähnlich- keiten auf, was sich unter anderem daran zeigt, dass in deren Titeln die zwei Be- griffe interaktiv und tele dominierten: Es gab Interaktive Bildbearbeitung, Interaktive Soundperformance- und -installation, ein Interaktives Literatur-Projekt sowie Tele-Dis- kurs, Tele-Flirt, Tele-Roboting, Tele-Sightseeing und Tele-Talk. Die beteiligten Städte waren: Deutschland (Köln und Kassel), Italien (Venedig), Dänemark (Aarhus), Schweden (Stockholm), Kanada (Toronto), Japan (Tokio und Fukui), Finnland (Hel- sinki), Frankreich (Paris), USA (Santa Monica und Los Angeles). An einigen wenigen Beispielen möchte ich veranschaulichen, was sich in den ECIs abgespielt hat und so einen zumindest kleinen Einblick geben, wie technisch basierte, interaktive Netz(werk)kunst vor dem Internet praktiziert wurde. 51 Diese These wird bezogen auf Piazza virtuale im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts über Van Gogh TV diskutiert. Vgl. ebd., S. 75. 52 »Nachrichtenforum: Biennalen«, S. 412. 53 Der MediaPark war Teil eines 1986 gestarteten Stadtentwicklungsprojekts (abgeschlossen 2003). Vgl. http://www.mediapark.de/index.php?id=150, 14.01.2021. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 79 JESSICA NITSCHE Abb. 3: Tele-Sightseeing (Venedig/Stockholm). Abb. 4: Interaktives Konzert – Mia Zabelka: The Virtual Violin (Köln/Aarhus). Im Rahmen der Biennale in Venedig wurde ein Tele-Sightseeing durch Stockholm angeboten (vgl. Abb. 3). Dies funktionierte so, dass ein mit Kamera ausgestattetes Auto durch die Stadt fuhr und die darin befindliche Person über die jeweils passier- ten Orte berichtete. Diese Fahrten wurden auf Leinwand und Bildschirme ins ECI in Venedig übertragen, von wo aus Anweisungen gegeben werden konnten, wo das Auto hinfahren soll. Zugleich wurde die Strecke mit einem Stift auf einem Stadtplan mitverfolgt. Eine Person aus einem Studio in Schweden gab wiederum Hinweise, welche Route sinnvoll sei, und lieferte weiterführende Informationen zur Stadtge- schichte. Mit Blick auf das Konzeptpapier, das in Vorbereitung des ECI für die docu- menta IX entstanden ist, ist dieses Projekt den Tele-Roboter-Spielen zuzuordnen, die beinhalteten, dass Spielzeugroboter oder auch Autos von einem anderen ECI aus gesteuert werden konnten.54 Ein weiteres Projekt aus dem Bereich des Tele-Robo- ting wurde von Graham Smith im Rahmen des McLuhan Program in Toronto gelei- tet. Es handelt sich um eine Modell-Ausstellung mit dem Titel Le Salon des Refusés. Mithilfe eines Roboters, der mit einer Kamera ausgestattet war, konnte diese Aus- stellung vom ECI in Venedig aus besichtigt werden. Während der Roboter die Aus- stellung abfuhr, erläuterten die zehn beteiligten Künstler:innen ihre Projekte, die Rezipient*innen konnten von Venedig aus Fragen dazu stellen. Auch Klanginstallationen und interaktive Konzerte waren Teil der ECIs. Am 17. August 1993 fand im ECI in Köln das interaktive Konzert mit Mia Zabelka (vor Ort) und Mik Aidt, FRIW und Lars Mondrup im ECI in Aarhus statt (vgl. Abb. 4). Es ist den im Konzeptpapier für die documenta bereits angekündigten Cyberspace-Kon- zerten zuzurechnen: »Die Musiker musizieren im Cyberspace – geographisch los- gelöst, ungebunden. […] Bei gleichzeitigem Einsatz von Bildtelefonen kann man die Band auf dem Bildschirm vereinen.«55 Die Geige der Künstlerin war dabei nicht das klassische Instrument, das die Zuschauer:innen zu sehen glaubten. Denn Zabelkas 54 Vgl. Konzeptpapier zum Casino Container/ECI, S. 21. 55 Ebd., S. 13. NAVIGATIONEN 80 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE POLITICS OF TECHNOLOGICAL FANTASY« virtuelle Violine wurde mit einem Datenhandschuh und Körperinterfaces gespielt, die Körperbewegung in Klang übersetzen. Neben ihrer Geige spielte Zabelka auf einem Synthesizer, der wiederum an eine Kamera und einen Computer angeschlos- sen war. Zur gleichen Zeit wurde im ECI-Studio in Aarhus Keyboard und Klarinette gespielt, hier jedoch nicht vor Publikum. Die Tonsignale wurden an den jeweils anderen Ort übermittelt, sodass die Musizierenden jeweils aufeinander eingehen konnten. Die folgende Tabelle gewährt einen Überblick über diejenigen Projekte, die filmisch dokumentiert wurden und sich im Archiv der Stiftung imai befinden.56 Art des Projekts Projekt Orte Tele-Roboting Tele-controlled Music-Roboter – Hybrid Band Köln/Aarhus Graham Smith: Toronto Cyber City Venedig/To- ronto Horst Hörtner/Gerfried Stocker: Winke- Köln Winke-Roboter Cyberspace-Kon- Interaktives Konzert: Mia Zabelka: The Virtual Köln/Aarhus zerte/Interaktive Violin/Mik Aidt, FRIW und Lars Mondrup Konzerte/Sound- Soundperformance/Konzert: Mia Zabelka Köln performances (Gesang/Violine)/Frank Schulte (Electronics) Interaktives Konzert: Roberto Paci Dalò und Venedig/Tokio Christophe Charles Soundperformance: Frank Schulte (Soundpro- Köln duktion mit allen möglichen Geräten, Abend- aktion im ECI) Telefonkonzert/Soundperformance: Axel Otto Köln/Fukui (Soundproduktion mit verschiedenen Gegen- ständen) Konzert: Violent Music for Restaurants mit Jon Köln Rose (Violine), Anna Homler (Vocals) und (Eröffnungs- Frank Schulte (Electronics) konzert) Konzert: King Gong mit Manos Tsangaris & Rei- Köln ner Winterschladen (Konzert mit Trompete, Schlagzeug, Sprechgesang) 56 Das dort bewahrte Filmmaterial ist unterschiedlich umfassend aufbereitet worden. So gibt es sowohl ausgearbeitete Dokumentationen als auch Tapes, die ausschließlich unbearbei- tete Mitschnitte einzelner Projekte enthalten. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 81 JESSICA NITSCHE Konzert: Rapping Tracy G. about salon and ECI Kassel Klanginstallationen Andres Bosshard: Telefonia Venedig/Köln Keigo Yamamoto: Hurin (japanisches Wind- Venedig/Fukui spiel) Interaktive Bild- The Creation of Man – Michelangelo Köln/Aarhus bearbeitung Interaktive Litera- The Text … that exploded … (mit Ralf Köln/Aar- tur-Projekte Löhnhardt) hus/Hel- sinki/Paris/Los Angeles Text-Sound-Performance mit Ralf Löhnhardt Kassel und Fried Dähn Salon-Spaziergang zum Schlößchen Schönfeld Kassel mit Lesungen. Impresario: Ralf Löhnhardt, Co-Poet: Rolf Persch Olli Gold verliest im Rahmen der Lovesymbol- Köln collection Liebesgedichte Audiovisuelle Fern- Tele-Talk – Kids News Köln/Aarhus gespräche Tele-Diskurs – Satelite Earth News Köln/Aarhus Tele-Flirt Venedig/Paris Tele-Sightseeing Venedig/Stock- holm Picturephonetalk – Lovesymbols Nights Köln/Santa Monica Fax-Art Imaginäre Bibliothek/Literatur interaktiv Kassel Weitere künstler- Wolf D. Wolf: Swinging Buddha (Laserprojek- Köln ische Projekte tion) Familienalbum (Diashow) Kassel NAVIGATIONEN 82 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE POLITICS OF TECHNOLOGICAL FANTASY« 6. MIT DEM ECI ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT Aus der Perspektive des Jahres 2021 erscheinen die hier beschriebenen Projekte ein wenig ›in die Jahre gekommen‹, mit einer unpassenden Metapher ließe sich über sie sagen, sie haben Patina angesetzt. Patina entsteht durch Verwitterungsprozesse an Oberflächen, in diesem Fall ist es die Medientechnologie, die eine Ästhetik her- vorbringt, die retrospektiv veraltet erscheint und doch zukünftige Medien imagina- tiv zum Vorschein bringt. Medienkunstgeschichtlich ist das Electronic Café International in einem Kontext von Begriffen zu sehen, die Ende des 20. Jahrhunderts eine Virulenz entwickelt ha- ben und die – so veraltet dessen Projekte und deren Ästhetik zum Teil erscheinen – bis in die Gegenwart fortwirkt: mediale Vernetzung, Aktion und Interaktion, Par- tizipation, Kommunikation und Mobilität. Einhergehend mit diesen Begriffen än- dert(e) sich vieles: das Verständnis dessen, was ein künstlerisches Werk ist, die Rolle der Rezipierenden wie auch die der Kunstschaffenden/Produzierenden. Diese Ver- änderung lässt sich sehr kurz zusammengefasst als eine Entwicklung »vom stati- schen Objekt zum dynamischen Prozess«, »von der kontemplativen Rezeption hin zur aktiven Partizipation«57, von der passiven Betrachter:in zur Akteur:in und von einem einseitigen Sender-Empfänger-Verhältnis zur Interaktion und Many-to- Many-Kommunikation beschreiben. Diese Interaktivität verändert sich mit den zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten. Inke Arns schreibt dahingehend, der Begriff der sozialen Interaktion sei »in den frühen 1990er Jahren dem einer vornehmlich technologischen Interaktivität gewichen«, und diagnostiziert einen »ideologischen Paradigmenwechsel von den ästhetisch-sozialen Entgrenzungsideen der 1960er zu Konzepten der technologischen Interaktivität der 1990er Jahre«58. Das Projekt Electronic Café International ist für genau diese Entwicklung symptoma- tisch; es repräsentierte damals – wie Wirths es formuliert hat: »the state of the art of network-art«59. Er beschreibt das Projekt auch als technische/experimentelle Auseinandersetzung mit der Frage nach (neuen) öffentlichen Räumen in einem Me- dienzeitalter, in dem sich virtuelle und elektronische Räume eröffnen, die es auszu- testen und zu erschließen galt. Dabei geht es nicht lediglich um eine technische, sondern auch um eine kom- munikative und soziale Dimension, die sich auf der Höhe des technischen Fort- schritts bewegt, diesen jedoch nicht kommerziell, sondern künstlerisch nutzt. Wirths spricht von einem elektronischen Nomadentum, das Teil eines neuen »way of life« werden könne, das ECI verstand er auch als Treffpunkt und Künstlercafé für »elektronisch Reisende«.60 Indem man den realen mit dem virtuellen Raum ver- band, wurde mit diesem Projekt ein visionärer sozialer und kommunikativer Ort 57 Arns: »Interaktion, Partizipation, Vernetzung. Kunst und Telekommunikation«, o.S. 58 Ebd. 59 Wirths: »Artistic Electronic Networking«, S. 172. 60 Ebd. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 83 JESSICA NITSCHE geschaffen, der zum einen weit über ein Statement innerhalb des Kunstsystems hinausreicht und zum anderen – unter anderen technischen Voraussetzungen – ak- tuell geblieben ist. Die Geräte und Technologien, die verwendet wurden, bildeten den damaligen Status quo der technischen Möglichkeiten ab. Sie wurden weiter- entwickelt und sind inzwischen im privaten Gebrauch längst zu Selbstverständlich- keiten geworden (Mobil- und Videotelefonie, Bild- und Filmbearbeitungspro- gramme, Social Media etc.). Das ECI hat die Idee und Medienutopie verkörpert, den neuen kommunikativen und sozialen Möglichkeiten technischer Innovationen im buchstäblichen Sinne Raum zu geben.61 In seiner technischen Funktionsweise auf ISDN-Basis gehört das ECI der Ver- gangenheit an. Im Hinblick auf eine zukünftige Medienästhetik sind jedoch nicht nur die jeweiligen alten und vielleicht bereits verschwundenen Medientechnologien in den Blick zu nehmen, sondern ist auch zu untersuchen, auf welche Fragen und Wünsche sie eine Antwort zu geben versucht haben. LITERATURVERZEICHNIS Arns, Inke: »Interaktion, Partizipation, Vernetzung. Kunst und Telekommunika- tion«, http://www.medienkunstnetz.de/themen/medienkunst_im_ueber- blick/kommunikation/1/, o.S., 22.02.2021. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, (Walter Benjamin: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 16), Berlin 2012. Besser, Howard: »Case Study 22 Final Report: Electronic Café International (ECI)«, September 2007, http://www.interpares.org/dis- play_file.cfm?doc=ip2_cs22_final_report_DRAFT.pdf, 16.02.2021. Besser, Howard: »InterPARES 2 and the Electronic Café International: Aging Rec- ords From Technology-based Artistic Activities«, 14. 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NAVIGATIONEN 84 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE POLITICS OF TECHNOLOGICAL FANTASY« Daniels, Dieter: »Video – Das unspezifische Medium«, in: Buschmann, Renate (Hrsg.): Bilder gegen die Dunkelheit – Videokunst aus dem Archiv des imai im KIT, Ausstellungskatalog, Düsseldorf 2012, S. 31-38. Daniels, Dieter: »Was war die Medienkunst? Ein Resümee und ein Ausblick«, in: Pias, Claus (Hrsg.): Was waren Medien? Zürich 2011, S. 57-80. Daniels, Dieter: »Strategien der Interaktivität«, in: ders./Frieling, Rudolf (Hrsg.): Medien Kunst Interaktion. Die 80er und 90er Jahre in Deutschland, Wien/New York City 2000, S. 142-169. Daniels, Dieter: »Bildende Kunst und laufende Bilder. Zur Vermittlung von Video- Kunst in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Kunstforum International, Bd. 77f., 1985, S. 39-43. Erlhoff, Michael: »Pentagon. Design und Konsumtion.« in: Goedl, Monika u.a. (Hrsg.): documenta 8, Ausstellungskatalog, Bd. 2, Kassel 1987, S. 190f. 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NAVIGATIONEN 86 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK GEGENWÄRTIGE ZUKÜNFTE NAVIGATIONEN »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST« Medienarchitekturen des Dokumentarischen V O N C A R O L I N H Ö F L E R REGIME DES NEUEN Wenn gegenwärtig von der Erfindung neuer Medien für eine zukünftige Architektur die Rede ist, dann rücken zunehmend Smart-City-Visionen in den Blick, die von privaten Anbietern für autoritäre Staaten entwickelt werden. Ihr Erfolg bemisst sich vor allem am Ausmaß ihrer Einsparungen – sei es CO2 oder Lebenszeit – und an der digitalen Steuerbarkeit und Überwachbarkeit ihrer Bürger:innen. Die 170 Kilo- meter lange Ökostadt The Line, die sich entlang einer Hochgeschwindigkeits-Bahn- strecke vom Roten Meer ins Landesinnere ziehen soll und mit deren Bau das Königreich Saudi-Arabien in Kürze beginnen will, ist eine solche bizarre Weltzen- tralsteuerungsanlage (vgl. Abb. 1).1 »The Line«, so verspricht der Auftraggeber, »will be […] powered by Artificial Intelligence […], continuously learning predictive ways to make life easier, creating time for both residents and businesses. An esti- mated 90 % of available data will be harnessed to enhance infrastructure capabili- ties far beyond the 1 % typically utilized in existing smart cities.«2 Abb. 1: Neom Company: The Line. A Revolution in Urban Living, Entwurf 2021. Videostill. Seit dem umfassenden Einsatz des Computers in Planung, Fertigung und Betrieb von Gebäuden und Stadträumen werden medial-experimentelle Gestaltungsan- sätze zunehmend in die technisch-ökonomische Produktion eingebunden. Ehema- lige Gegenkulturen und Kritikformen, die sich in bisherigen gestalterischen 1 Vgl. Neom Company: The Line; Maak: »Das Ende der Stadt, wie wir sie kennen«. 2 HRH Prince Mohammed bin Salman: The Line at Neom. NAVIGATIONEN CAROLIN HÖFLER Experimenten manifestierten, scheinen durch ihre Übernahme in die Innovations- ökonomie an Wirkmacht zu verlieren. Experimentelle Gestaltungspraktiken zielen dann weniger auf »eine kritisch-selbstreflexive Öffnung für andere Weisen der Weltwahrnehmung«3 ab, sondern werden vielmehr für die permanente Kreation von technologisch und ästhetisch Neuem eingesetzt.4 Angesichts solcher Diskussionen um die Entgrenzung des Ästhetischen in vor- mals nichtästhetische Bereiche untersucht dieser Beitrag, wie das mediale Experi- mentieren als eine Form des kritisch-reflexiven Gestaltens neu bestimmt werden kann. Zunächst wird der Begriff des critical design der 1990er und 2000er Jahre betrachtet, um das experimentelle Gestalten als ein Verfahren der Gesellschafts- und Medienkritik zu positionieren. Anschließend wird erörtert, welche Formen und Funktionen ein kritisches Gestalten vor dem Hintergrund frei im Internet ver- fügbarer Daten annehmen kann. Der letzte Abschnitt verweist auf die jüngsten Be- strebungen der Architektur, medial-experimentelles Entwerfen als soziale Praxis zu fassen, und skizziert eine produktive Verschränkung von bisher getrennt wahr- genommenen Konzepten eines technologiegeleiteten und eines gesellschaftsbezo- genen Experimentierens. A/B – EIN MANIFEST Es war das britische Duo Anthony Dunne und Fiona Raby, das den zentralen Begriff des critical design 1999 prägte.5 Das ästhetische Programm der kritischen Gestal- tung fassten sie in dem prägnanten und häufig zitierten Manifest a/b zusammen (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Anthony Dunne/Fiona Raby, A Manifesto a/b, 2009. 3 Reckwitz: »Ästhetik und Gesellschaft – ein analytischer Bezugsrahmen«, S. 29. 4 Vgl. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 46. 5 Vgl. Dunne: Hertzian Tales. NAVIGATIONEN 90 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST« In einer einfachen Tabelle mit den Spaltenüberschriften ›a‹ und ›b‹ stellten sie Ka- tegorien und Begriffe einander gegenüber, mit denen zwei unterschiedliche Vor- stellungen und Funktionen von Gestaltung vermittelt werden sollten: In der ersten Spalte finden sich Begriffe wie consumer, ergonomics und user-friendliness, die auf ein industriell geprägtes und kundenorientiertes Designverständnis verweisen. Die- sen Begriffen ordneten Dunne und Raby in der zweiten Spalte Gegenbegriffe wie citizen, rhetorics und ethics zu. Mit diesem System semantischer Gegensätze skiz- zierten sie ein gestalterisches Programm, wonach Design weniger ein praktischer Vorgang zur Entwicklung eines Produktes oder einer Dienstleistung (design as pro- cess) sei, als vielmehr ein kritisches Medium (design as medium), durch das techno- logische, politische und soziale Entwicklungen thematisiert und reflektiert werden. Die Vorstellung von Design als Medium ist mit dem Anspruch verknüpft, unter Zu- hilfenahme von Gestaltung gesellschaftliche Missstände, Krisen und Konflikte auf- zuzeigen, kritisch zu beleuchten und auf diese Weise die Lebenswirklichkeit mitzubestimmen. Die Forderung, »Design als Medium« zu betrachten, weist auch darauf hin, dass critical design etwas anderes bedeutet, als über Design in kritischer Weise zu sprechen oder zu schreiben. Im Unterschied zum Designjournalismus und zur De- signkritik geht es beim critical design weniger um »Kritik üben« als vielmehr um »Kritik gestalten«. Kritische Reflexionen sollen durch gestaltete Formen auf sinnli- che Weise zugänglich gemacht werden. Mit »kritisch« bezeichnen Dunne und Raby kein Gütemerkmal für Dinge, sondern eine Untersuchungs- und Umsetzungsme- thode, ein Verfahren der gestalterischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und ihren Problemen. Gegen die technisch-ingenieurwissenschaftliche Vorstellung von Design gerichtet, beschreiben sie critical design als eine Methode, mit der Prob- leme erst »gefunden« statt »gelöst«, »Fragen gestellt« statt »beantwortet« würden. Kritisches Design ist ein bewusstes Nicht-Lösen vermeintlicher Probleme, um tie- ferliegende Fragestellungen zu entdecken. Der Wendung research through design, die Dunne und Raby dem Ausdruck re- search for design gegenüberstellen, liegt eine Vorstellung von Designforschung zu- grunde, wonach der Gestaltung eine spezifische Form der Reflexion innewohnt, und sich Wissen in gestalterischen Formen formuliert. Dunne und Raby verstehen Design als epistemische Praxis, deren zentrale Aufgabe es ist, »alternative Welten« zu imaginieren, die veranschaulichen sollen, »wie die Welt sein könnte«. Für sie ist Design immer auch eine gestalterische Intervention, die andere Formen des De- signs und damit andere Formen von Gesellschaft und Macht sucht, die im Design eingeschrieben sind (»social fiction«). Dieses Verständnis gründet auf der poststruk- turalistisch inspirierten Annahme, dass es dem Design als Produkt gesellschaftli- cher, politischer und ökonomischer Machtverhältnisse niemals möglich sei, das Feld der Macht zu verlassen, um es von außen kritisieren zu können. Kritik muss sich daher in der gestalterischen Praxis ereignen, also mit dem Design gegen das Design, wobei durch die Kritik auch das Design neu konstituiert und verändert wird. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 91 CAROLIN HÖFLER Dunne und Raby entwickelten mit ihrem Manifest des critical design drei generelle Strategien gegen das so bezeichnete »affirmative Design«: Diese zielen zunächst auf die Bestimmung einer Gestaltungspraxis ab, die nicht auf ökonomische Verwert- barkeit ausgerichtet ist, die Einnahme einer skeptischen Haltung gegenüber dem Mythos des ästhetisch Neuen und schließlich die verstärkte Politisierung von Arte- fakten und Prozessen, Wahrnehmungen und Handlungen, die sich gegen die Tota- lisierung des Ästhetischen wendet. Während das affirmative Design auf sinnliches und affektives Wohlbefinden setzt und Gestaltung und Unterhaltung intensiv mitei- nander verschränkt, setzt das kritische Design auf Irritation, Verstörung und Zwei- fel. Ziel dieser Strategie ist es, eine noch forciertere Durchsetzung ökonomischer Marktregeln durch die gegenwärtige Designpraxis zu verhindern und stattdessen eine alternative Logik produktiv zu machen, welche die enge gesellschaftliche Ver- quickung und Dynamik des Zusammenspiels von Ökonomisierungen, Medialisie- rungen und Ästhetisierungen in ihrer scheinbaren spätmodernen Kontrolllosigkeit durchbricht. Gestaltung wird hier als ein Resonanzboden gesellschaftlicher Ereignisse und unterschwelliger Konflikte verstanden, die sichtbar gemacht werden, um sie zuzu- spitzen, um Komplikationen zu schaffen, um in produktiver Weise mit ihnen umzu- gehen und dann auf sie einzuwirken. Folglich richtet sich der Fokus der gestalterischen Auseinandersetzung auf die Frage, wie sich Erfahrungen gesell- schaftlicher Ereignisse überhaupt in den Entwürfen von Designer:innen und Archi- tekt:innen spiegeln können. Wie können Artefakte Anlass, Mittel und Austragungsort von politischen und ethischen Debatten sein? Und wie haben es Gestalter:innen bisher verstanden, durch Mechanismen der Moralisierung in sozia- len Aushandlungsprozessen Veränderungen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Deutung von Ereignissen und Konflikten zu erreichen? DESIGN FOR DEBATE Exemplarisch sichtbar werden solche Prozesse der Moralisierung in den medien- künstlerischen Arbeiten des Manhattaner Architekturbüros Diller Scofidio + Renfro. Auf der Grundlage von öffentlichen und frei zugänglichen Daten im Internet entwi- ckeln die Architekt:innen audiovisuelle Apparaturen, dreidimensionale Environ- ments und Videoinstallationen, mit denen sie die Auswirkungen von Klimawandel, Migrationsbewegungen oder Artensterben auf die gebaute Umwelt untersuchen und wirkmächtig in Szene setzen. Gemeinsam mit Laura Kurgan und Robert Gerard Pietrusko vom Center for Spatial Research der Columbia University realisierten sie die immersive Installation In Plain Sight (vgl. Abb. 3).6 6 Vgl. Diller Scofidio + Renfro u.a.: In Plain Sight; Le Gerrette: »Blackout«. NAVIGATIONEN 92 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST« Abb. 3: Diller Scofidio + Renfro/Laura Kurgan/Robert Gerard Pietrusko, In Plain Sight, USA, 2018, Video, 19 min. Installationsansicht, US-Pavillon der Architekturbiennale 2018, Venedig. Foto: Tom Harris. Das Video beginnt mit der Gegenüberstellung von Tag- und Nachtaufnahmen der Erdkugel. Auf der einen Seite ist das Bild der sogenannten blue marble zu sehen, die zu den bekanntesten Fotografien der Erde gehört. Sie wurde 1972 vom Satelliten Apollo 17 aus erstellt und gilt seitdem als Sinnbild des grenzenlosen und verletzli- chen Planeten. Das Bild der dark marble ist hingegen erst 2012 entstanden und zeigt die Nachtseite der Erde in eindrucksvoller Schärfe. Es stammt von dem For- schungssatellit Suomi National Polar Partnership der NASA. Die in der Nacht leuch- tenden Punkte würden, so die NASA, den menschlichen Fußabdruck auf der Erde darstellen, man sehe das Bild einer bevölkerten und vernetzten Welt.7 In dieser Perspektive werden Licht und Besiedlung gleichgesetzt. Abb. 4: Diller Scofidio + Renfro/Laura Kurgan/Robert Gerard Pietrusko, In Plain Sight, USA, 2018, Video, 19 min. NASA-Satellitenaufnahme der Erde bei Nacht mit kartierten Dunkelorten, Still. 7 Vgl. Diller Scofidio + Renfro u.a.: »In Plain Sight«, S. 127. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 93 CAROLIN HÖFLER Die Arbeit In Plain Sight stellt nun diese Annahme entschieden in Frage (vgl. Abb. 4). Unter Zuhilfenahme von Bevölkerungsstatistiken untersuchen die Architekt:in- nen Abweichungen zwischen Besiedlung und Licht. Hybride Bilder aus Satellitenaufnahmen, Texten, Zahlen und grafischen Ele- menten zeigen stark bevölkerte Orte ohne Licht sowie beleuchtete, aber unbesie- delte Bereiche. Zur ersten Kategorie gehören Orte, die von der Versorgung mit Elektrizität abgeschnitten sind: abgeschiedene Dörfer, informelle Siedlungen, Ge- biete mit indigener Bevölkerung oder Flüchtlingslager. In die zweite Kategorie fallen landwirtschaftliche Großbetriebe, Kraftwerke, Häfen, touristische Ressorts, Erd- gasgewinnungs- und Tagebaustätten, Militärstützpunkte und Grenzanlagen. Wie eine finale Überhöhung satellitengenerierter Nahsicht muten die Aufsichtsbilder der hell erleuchteten Orte an, die zuletzt so stark vergrößert sind, dass sie nur noch als weiße Pixel auf schwarzem Riesengrund sichtbar werden (vgl. Abb. 5). Abb. 5: Diller Scofidio + Renfro/Laura Kurgan/Robert Gerard Pietrusko, In Plain Sight, USA, 2018, Video, 19 min. NASA-Satellitenaufnahme der Erde bei Nacht, Vergrößerungen beleuch- teter, aber gering besiedelter Orte, Still. Im weiteren Verlauf des Films zeigen zahlreiche Fallstudien die Diskrepanzen und das Zusammenspiel von lichten und dunklen Orten, wie etwa die Untersuchung der Kupfermine Kov in der Demokratischen Republik Kongo, die von der Kamoto Copper Company – einer Tochterfirma des angloschweizerischen Unternehmens Glencore – betrieben wird. Auf der Satellitenaufnahme ist eine gezeichnete Linie der 1.700 Kilometer langen Starkstromtrasse zu sehen, welche die Mine mit Elek- trizität versorgt (vgl. Abb. 6). Entlang der Trasse reihen sich Städte und Dörfer auf, unter anderem die Millionenstadt Kananga, die von der Stromversorgung ausge- schlossen sind und im Dunkeln verbleiben. NAVIGATIONEN 94 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST« Abb. 6: Diller Scofidio + Renfro/Laura Kurgan/Robert Gerard Pietrusko, In Plain Sight, USA, 2018, Video, 19 min. NASA-Satellitenaufnahme mit kartierter Starkstromtrasse der Kupfermine Kov in der Demokratischen Republik Kongo, Still. Die einstige Vorstellung der planetaren Grenzenlosigkeit und Zugehörigkeit ver- wandelt sich mit der dark marble in ein Bild der Ungleichheit und des Ausschlusses in einer hochgradig vernetzten Welt. Dabei handelt es sich bei den verwendeten Bildern und Statistiken um frei zugängliche Daten, wie der Titel der Installation na- helegt. Obwohl offen verfügbar, spielen sie jedoch in der öffentlichen Wahrneh- mung keine Rolle. Hieraus leiten die Architekt:innen ihre gestalterische Aufgabe ab, indem sie die in ihnen enthaltenen Informationen freilegen und veranschaulichen. Das Projekt »verlagert den Aktionsraum der Architektur hin zur Repräsenta- tion macht- und geopolitischer Fragestellungen, die sich nicht mehr im physischen Raum abbilden lassen«, wie Bernita Le Gerrette treffend formuliert.8 Die Satelli- tenbilder, die mit automatischen Erkennungs- und Zoomtechniken verknüpft wer- den, lassen an hochtechnologische Systeme der Überwachung aus dem All oder aus der Luft denken, die auf dem Prinzip der Totalisierung des Blicks beruhen.9 Bei Kriegseinsätzen dienen solche technischen Bilder als Entscheidungsgrundlage und Handlungsanweisung, wodurch der Unterschied zwischen der unmittelbaren Er- fahrung von Welt und ihrer medialen Vermittlung verwischt wird. Militärische In- terventionen werden so zu rein medial vermittelten Bildoperationen. Dass die kritische Installation In Plain Sight ausgerechnet auf jene Bilder der Welt in technisch kontrollierten Umgebungen zurückgreift, die Handlungen und Entscheidungen in militärischen Einsätzen konditionieren und von Staaten und Kon- zernen zur Propagierung ihrer Ziele eingesetzt werden, erscheint nur auf den ers- ten Blick als Paradoxon. Indem die Bilder mit nichtvisuellen Open-Access-Daten neu verknüpft werden, eröffnen sie politische und ökonomische Raumzusammen- hänge, die bisher dem Blick entzogen waren. Diese neuen Zusammenhänge kön- nen ebenso nur unter Zuhilfenahme medialer Verfahren erkannt werden. Damit 8 Le Gerrette: »Blackout«, S. 166. 9 Vgl. Chamayou: Ferngesteuerte Gewalt, S. 48f.; Höfler: »Eyes in the Sky«, S. 25 und 28. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 95 CAROLIN HÖFLER richtet die Arbeit den Blick nicht nur auf die Repräsentationsfunktion von Satelli- tenbildern, sondern auch auf jene Situationen, in denen sie zu Medien investigativer Recherche werden. In Plain Sight thematisiert darüber hinaus die Rolle von Ethik und Moral in der Gestaltung. Mit der Installation stellte die Gruppe ein Werk aus, das sie eigens für die 16. Architekturbiennale 2018 in Venedig konzipiert hatte. Ihre Kritik richtete sich damit nicht nur gegen eine unmoralische Energiepolitik, sondern auch gegen eine exklusive Darstellungsökonomie von Architektur und Design, welche die Vi- sualisierung und adäquate Behandlung von gesellschaftlichen Missständen, Macht- missbrauch, menschlichem Elend oder Menschenrechten gewöhnlich ausblendet. Gegen die gängige Rezeptionserwartung der Ausstellungsbesucher:innen gewandt, unterlief In Plain Sight jene Darstellungskonvention, die auf der Unterscheidung zwi- schen der Wirklichkeit und ihrer Repräsentation als Projekt, Plan oder Modell be- ruht. Die gestalteten Bilder und Karten waren keine Darstellungen, die einen Entwurf umfassend erläutern, um ihn später auszuführen. Sie boten weder eine Lösung für ein gegebenes Problem an, noch stellten sie ein zukünftiges Produkt, Gebäude oder eine städtebauliche Masterplanung dar. Vielmehr verkörperten sie eine Hypothese für eine neue gesellschaftliche Situation. Genau in dieser Enthüllung und Relativierung der Repräsentationsfunktion äußert sich die kritische Dimension der experimentellen Arbeit: Sie zeigt einerseits die offensichtliche Unmöglichkeit der anwendungsorientierten Gestaltungsdisziplinen, sich der ökonomischen Ver- wertungslogik und ihren Wahrnehmungen zu entziehen, und lenkt andererseits den Blick auf eine zentrale Aufgabe von Gestaltung, nämlich der Mitgestaltung von Ge- sellschaft, die mit der Frage beginnt, wie Aufmerksamkeiten strukturiert und ge- sellschaftliche Auseinandersetzungen konfiguriert werden. ZUR KRITIK DER KRITIK Medienästhetische Installationen wie In Plain Sight verstehen sich als kritische Stel- lungnahmen zu politischen und humanitären Themen der Gegenwart und zur Ver- strickung der eigenen Gestaltungspraxis in die kritisierten Zusammenhänge. Orte ihrer Vermittlung sind Ausstellungen, Festivals, Bücher, Magazine, Websites und soziale Medien. Im Kontext neuer Denkrichtungen wie des »spekulativen Realismus« sind diese Kritikformen selbst zum Gegenstand der Kritik geworden.10 In Anbetracht der Ent- wicklung neuer Technologien und der Ausbreitung des Finanzmarktkapitalismus sei, so der Befund des spekulativen Denkens, jeder Versuch, lokale Enklaven eines ethischen Konsums oder soziale Beziehungen außerhalb des Marktes zu etablieren, letztlich zum Scheitern verurteilt, unabhängig davon, wie zutreffend die Kritik an gegenwärtigen Entwicklungen auch sein mag. Mit dem Separatismus der Kritik sei den Problemen digitaler und globaler Lebensszenarien nicht mehr beizukommen. 10 Vgl. Avanessian: Realismus Jetzt; Avanessian/Mackay: #Akzeleration; Avanessian/Mackay: #Akzeleration #2. NAVIGATIONEN 96 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST« Erforderlich sei ein neues postkritisches Denken, das auf eine ermöglichende Kritik und einen erprobenden Modus abzielt. Von einer solchen Diagnose ausgehend, betreiben gegenwärtig zahlreiche Ge- stalter:innen und Theoretiker:innen eine kritische Revision des critical design, die sich in Manifesten und Projekten, aber auch in Studien- und Forschungsprogram- men von Hochschulen niederschlägt, welche verstärkt eine critical practice in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rücken. Hierbei liegt der Fokus – wie die Archi- tekturhistorikerin Jane Rendell betont – auf einer experimentellen Gestaltungspra- xis, welche die sozialen Bedingungen der Orte und Lebenswelten, in die sie eingreift, auch transformiert.11 Im Unterschied zu Gestalter:innen, die ihre kreative Arbeit in Verantwortung gegenüber Gesellschaft und Öffentlichkeit einbringen, sich dabei aber unparteiisch geben, wird hier Parteilichkeit offensiv gefordert. Im Mittelpunkt eines solchen An- satzes stehen Kooperations- und Kollaborationsprozesse mit zivilgesellschaftlichen Akteur:innen sowie ausgegrenzten und von Krisen betroffenen Gemeinschaften, womit das Ziel verfolgt wird, eine pluralistisch-gegenhegemoniale Designpraxis zu etablieren.12 Wandte sich das critical design von einem technologiegeleiteten Begriff des Experimentierens ab, verschränk sich die critical practice gerade mit der Er- schließung und Erfindung neuartiger Technologien, Materialien, Methoden und Me- dien. GESTALTUNG ALS WAHRHEITSPRODUKTION Exemplarisch für eine parteiische, technologisch avancierte Gestaltungspraxis ste- hen die Arbeiten der Forschungsgruppe Forensic Architecture, die der Architekt Eyal Weizman 2011 an der Goldsmiths, University of London, ins Leben gerufen hat.13 In seinen Studien und Projekten verschränkt das transdisziplinär und international operierende Kollektiv aus Architekt:innen, Wissenschaftler:innen, Journalist:innen und Anwält:innen Praktiken der Architektur mit solchen der politischen Aufklärung und Rechtsverfolgung, um einer nichtstaatlichen Öffentlichkeit Form und Geltung zu verleihen. Sie entwirft experimentelle Anordnungen, in denen innovative 3-D- Modellierungs- und Simulationsprogramme mit digitalen Datenerfassungs- und Bildgebungsverfahren kombiniert werden. Gewöhnlich werden solche Programme und Verfahren für den Entwurf technischer und ästhetischer Zukunftsvisionen ein- gesetzt. Doch statt für die visuelle Vorwegnahme von etwas noch nicht Existieren- dem werden die digitalen Techniken von Forensic Architecture für die 11 Vgl. Rendell: »A Place Between, Art, Architecture and Critical Theory«, S. 222 und 230; Weiterführend: Hirsch/Miessen: What Is Critical Spatial Practice? 12 Vgl. Fezer: »Experimentelles Design«, S. 81. 13 Grundlegend: Forensic Architecture: Forensis; Weizman: Forensic Architecture. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 97 CAROLIN HÖFLER Rekonstruktion und Erfahrbarmachung von etwas bereits Geschehenem eingesetzt – von Verbrechen gegen die Menschheit und ökologischen Krisen.14 Gestaltung hat hier nicht primär eine ästhetische oder didaktische, sondern eine aufdeckende und beweisende Funktion. Sie ist integraler Bestandteil forensischer Operationen. Im Unterschied zu jenen Arbeiten des critical design, die sich als An- schauungs- und Reflexionsmedien verstehen und den Galerie- oder Museumsraum zur Präsentation bevorzugen, treten die Projekte von Forensic Architecture aus dem Kunstkontext heraus, um operativ wirksam zu werden. Sie werden meist von Be- troffenen, Opfergruppen und Nichtregierungsorganisationen in Auftrag gegeben und in politischen Medien und Menschenrechtsberichten veröffentlicht. Eingesetzt als Beweismittel zur Ermittlung wahrer Sachverhalte, liefern sie eine Entschei- dungsgrundlage in gerichtlichen Verfahren. Bei ihrer Suche nach Indizien greift Forensic Architecture auf öffentlich zugäng- liche Informationsquellen und überführt sie in neue mediale Milieus. In einer Art visual investigation kombiniert die Gruppe eigene Fotografien, Zeichnungen und Dokumentationen mit gefundenem oder bearbeitetem Material. So interagieren Dokumente, die aus Recherchen öffentlich zugänglicher Daten stammen, mit den privaten Aufnahmen und Aufzeichnungen von Einzelpersonen sowie mit eigenen generierten Daten. Anhand Amateurvideos, privaten Handyfotos, Berichten von Überlebenden, Satellitendaten, Telefonaufzeichnungen, Auswertungen von Karten und anderen Quellen werden aktuelle Geschehnisse untersucht, wie israelische Bombenangriffe auf den Gazastreifen und US-amerikanische Drohnenattacken in Pakistan, oder längst verschwundene Einrichtungen wie Konzentrationslager und Gefängnisse. In einem archivarischen und zugleich aktivistischen Gestus überführt Forensic Architecture die Bild-, Ton- und Textfragmente in eine narrative Struktur, filtert aus der Sammlung Informationen heraus, die zunächst nicht ersichtlich er- schienen, und setzt sie in einer akribischen Puzzlearbeit aus Querverweisen und Referenzen zu Beweisstücken zusammen. Präsentiert werden sie in Form von Bau- aufnahmen, geografischen Analysen, interaktiven Karten, digitalen Modelle, Videos und Fotografien, die von geschriebenen oder gesprochenen Texten begleitet und ergänzt werden. Die collagenhaft angeordneten Arbeiten betonen die Kontextualität der Bilder und zeigen, dass sich ihre Bedeutungen nur im komplexen Zusammenspiel mit wei- teren Bildern und Dokumenten erschließen lassen.15 Die wechselseitigen Rahmun- gen bestätigen, präzisieren und bestärken jedes der Bilder in Aussage und Glaubwürdigkeit. Dieser Effekt der gegenseitigen Authentifizierung wird genutzt, vor allem dann, wenn die Techniken, Stile, Realitätsebenen oder Verweiszusam- menhänge der sich ergänzenden Bildmaterialien divers sind. Die gesammelten und eigens erstellten Bilder mit ihren Kontexten ergeben ein Archiv, das als komple- mentär verstanden werden kann. Es soll jene Datenlücken füllen, die entstehen, 14 Vgl. Huffschmid: »Neue forensische Landschaften«, S. 74. 15 Vgl. Fromm/Greiff/Radtki/Stemmler: »image/con/text«. S. 14ff. NAVIGATIONEN 98 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST« wenn Staaten und Regierungen entweder Zugänge zu Informationen verweigern, Dokumente verloren haben oder die alleinige Deutungshoheit der Konfliktge- schichte für sich reklamieren. Das bedeutet, dass Forensic Architecture nicht nur Verbrechenszusammenhänge, sondern auch die Manöver ihrer Unsichtbarma- chung in den Blick nimmt.16 Damit wird diese Praxis des Dokumentierens inhärent zu einer politischen. Ihre Tätigkeit versteht die Gruppe nicht als Einzelfallarbeit, sondern als eine langfristig angelegte Forschung zu den Zusammenhängen von Architektur, Medien und Gewalt. Für sie sind Völker- und Menschenrecht auch Bau- und Landschafts- fragen. Zum einen trage die Konstruktion von Städten und Gebäuden zur Dynamik urbaner Konflikte und Kriege bei. Menschenrechtsverletzungen werden »auf Zei- chenbrettern begangen […], durch die Art und Weise, wie sie [die Architekt:innen] Linien auf Karten und Plänen zeichnen«.17 Zum anderen sei Architektur in der Lage, Gewalt zu erfassen und zu dokumentieren. Weizman fasst die Arbeit von Forensic Architecture als eine Archäologie des digitalen Zeitalters auf, die bestrebt ist, vo- rausschauend von der Zukunft her auf die Gegenwart zu blicken: »In this context, the work of forensic architects might seek to adopt the imaginary gaze of a future archaeologist looking back at the present. The archaeology of the present is not only physical, but requires all sorts of digital sensors.«18 Dinge, Architekturen und Landschaften erweisen sich in dieser Perspektive als dokumentarische Formen. Anstelle von menschlichen Zeug:innen sprechen sie quasi aus sich heraus, wobei ihre ›Erinnerungen‹ nur unter Zuhilfenahme avancier- ter technologischer Medien und ästhetischer Verfahren freigelegt werden kön- nen.19 Gleichsam wie Sensoren, die ein gesteigertes Empfindungsvermögen aufweisen, registrieren Architekturen und Landschaften die Wirkungen von tem- porären Nutzungen, militärischen Interventionen und Umwelteinflüssen durch ma- terielle und mediale Veränderungen. Oftmals an der Schwelle der Wahrnehmbarkeit lassen sie sich mithilfe spezifischer Erfassungstechnologien wie Radaraufzeichnungen, Multispektral- oder 3-D-Laserscanning visualisieren (vgl. Abb. 7). Selbst bauliche Anlagen, die bereits zerstört sind, und von denen es keine Bil- der gibt, werden visuell rekonstruiert, wie etwa das ehemalige syrische Gefange- nenlager Saydnaya, das auf Grundlage von erinnerten Klanglandschaften modelliert wurde.20 Durch die Synchronisierung von Ohrenzeugenaussagen ehemaliger Häft- linge ließen sich Hintergrundgeräusche und Widerhall ermitteln, die der Sound- künstler und Audioerforscher Lawrence Abu Hamdan verwendete, um Größe und Lage der Räumlichkeiten zu bestimmen. 16 Vgl. Huffschmid: »Neue forensische Landschaften«, S. 74. 17 Weizman: »Ermittlung am Zeichenbrett«, S. 8. 18 Weizman: Forensic Architecture, S. 58. 19 Vgl. Stuckey: »Poeto-forensische Ozeanographie«, S. 30. 20 Vgl. Forensic Architecture: Torture in Saydnaya Prison. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 99 CAROLIN HÖFLER Abb. 7: Forensic Architecture/ScanLAB/Caroline Sturdy Colls, Living Death Camp: The Archae- ology of Staro Sajmište, Serbien, 2012. 3-D-Modell auf Basis von Laserscan- und Bodenradar- daten, Rendering. Gerade anhand dieser Reinszenierung einer nur akustisch wahrgenommenen Bau- lichkeit lässt sich leicht nachvollziehen, dass die medial-experimentellen Gestaltun- gen von Forensic Architecture auch auf Vermischungen von Fakten und Vorstellungen beruhen. Ihre Konstruktionen weisen zwangsläufig Lücken und Aus- lassungen auf, womit sie zwischen Authentizität und Erfindung oszillieren. Um aber ihre Glaubwürdigkeit im politisch-wissenschaftlichen Feld zu wahren, muss die Gruppe Distanz zu Fiktion und künstlerischer Ambivalenz halten,21 auch wenn do- kumentarische Praktiken der zeitgenössischen Kunst zeigen, welche zentrale Rolle das Fiktionale beim Erzählen des Faktischen spielt.22 MACHINE LEARNING ALS WIDERSTÄNDIGE PRAKTIK In jüngster Zeit hat Forensic Architecture damit begonnen, das emanzipatorische und subversive Potenzial von maschinellem Lernen zu erkunden.23 So wie der Künstler und Wissenschaftler Adam Harvey in dem Projekt VFRAME (2018),24 entwickelt die 21 Vgl. Stuckey: »Poeto-forensische Ozeanographie«, S. 34. 22 Vgl. Fromm/Greiff/Radtki/Stemmler: »image/con/text«. 23 Vgl. Schneider: »Maschinelles Lernen als Gegenforensik«. 24 Vgl. Harvey/LaPlace: VFRAME. NAVIGATIONEN 100 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST« Gruppe Computer-Vision-Systeme als gegenforensische Analyse- und Recherche- werkzeuge. Maschinelles Lernen steht oftmals in der Kritik, gerade nicht dem Wohl der Menschheit zu dienen, vor allem dann, wenn es um Überwachungs- und Kontroll-, Exklusions- und Marginalisierungsproblematiken geht. Forensic Architecture stellt hingegen in Aussicht, Künstliche Intelligenz für eine Form von counter-surveillance einzusetzen. Im Projekt Triple-Chaser (2019) geht die Gruppe der Frage nach, wo und gegen wen Tränengas des Konzerns Safariland eingesetzt wurde.25 Dessen illegale Verwendung fand beispielsweise 2013 bei den Protesten im Gezi-Park in Istanbul, 2018 an der US-Grenze zu Mexiko und bei den Massenprotesten in Hongkong 2019 statt. Entwickelt wurde eine Machine-Learning-Software, die in der Lage ist, Tränengasgranaten des Typs »Triple Chaser CS« auf Videobildern im Internet zu erkennen und mit bounding boxes zu kennzeichnen (vgl. Abb. 8). Abb. 8: Forensic Architecture/Praxis Films, Triple-Chaser. Bounding Box, 2019. Trainingsprozess mit Machine-Learning zum Nachweis von Tränengaseinsätzen gegen Zivilisten, Foto. Weil öffentlich zugängliche Fotografien und Videos des Safariland-Produktes selten sind, hat das Kollektiv 3-D-Modelle der Kanister erstellt und ein eigenes Trainings- set mit digitalen Umgebungen geschaffen. Farbig gemusterte Hintergründe und fo- torealistische 3-D-Environments bilden hierbei die Testdaten für das Training des Algorithmus (vgl. Abb. 9 und 10). Mit Blick auf ihre politischen Konsequenzen scheint die forensische Gestaltung die Bedeutung von critical design in Begriffsumfang und Anwendungsbereich noch- mals zu erweitern. Als kritisches Design sind hier weniger ästhetische Dekonstruk- tionsstrategien gemeint, die auf Veränderungen einer vorherrschenden Designpraxis drängen, als vielmehr Rekonstruktionsverfahren, mit denen komplexe politische Geschehnisse rückwirkend wahrnehmbar und damit einer kritischen Be- urteilung zugeführt werden. Die strafrechtliche Relevanz der Forschungsergebnisse lässt die Arbeit von Forensic Architecture zum Instrument eines weitreichenden 25 Vgl. Forensic Architecture: Triple-Chaser. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 101 CAROLIN HÖFLER politischen empowerment werden. Der forensische Blick, der gewöhnlich von Poli- zei, Militär oder privaten Sicherheitsunternehmen beansprucht wird und eine Herr- schaftstechnik darstellt, wird hier umgekehrt und sein Potenzial als ästhetisch- politische Gegenpraxis ergründet: Technische Beobachtungen, Aufzeichnungen und Auswertungen dienen in diesem Fall nicht den Überwachenden, sondern den Überwachten, die ermächtigt werden, Missstände und Machtmissbrauch zu ermit- teln, darzustellen und zu bekämpfen.26 Abb. 9: Forensic Architecture/Praxis Films, Triple-Chaser, 2019. Tränengasgranaten vor markanten, generischen Mustern zur Unterstützung des Identifikationsprozesses, Rendering. Abb. 10: Forensic Architecture/Praxis Films, Triple-Chaser, 2019. Generierte fotorealistische 3-D-Umgebung zur Verbesserung der Bilderkennung von Tränengasgranaten, Rendering. 26 Vgl. Weizman: Forensic Architecture, S. 9. NAVIGATIONEN 102 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST« COMMUNITY SATELLITES Die Bereitstellung und Zugänglichmachung innovativer Werkzeuge für Opfergrup- pen und Nichtregierungsorganisationen verwandeln das Konzept der Gegen- forensik endgültig in eine bewusst staatskritische, »zivile Praxis«.27 Um diese Praxis zu etablieren, werden nicht nur Computer-Vision-Toolkits online kostenfrei zur Verfügung gestellt, sondern auch Möglichkeiten aufgezeigt, wie forensische Werk- zeuge aus alltäglichen Dingen und Materialabfällen in Do-it-yourself-Manier gebaut werden können. Im Projekt Destruction and Return in al-Araqib (2016) arbeitete die Gruppe mit Familien des palästinensischen Beduinendorfs al-Araqib zusammen, um historische und juristische Beweise zu erbringen, die ihre Besitzansprüche auf ihr Land unter- mauern sollten.28 Mithilfe von Aufnahmen aus der Luft sollte die Erklärung israeli- scher Behörden widerlegt werden, wonach beduinische Siedlungen illegal seien, da sie erst nach Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 errichtet worden sind. Die Gruppe entwickelte einen behelfsmäßigen Flugkörper – einen sogenannten com- munity satellite –, der eine kleine Kompaktkamera enthielt, welche mit einer Schutzhülle aus einer Plastikflasche und Gummibändern zusammengehalten und an einem einfachen Einleinerdrachen befestigt wurde (vgl. Abb. 11). Abb. 11: Ariel Cane/Hagit Keysar/Forensic Architecture, Destruction and Return in al-Araqib, Community Satellites, Negev, Israel, 2016. Drachen, Kamera und Plastikflaschen-Rig, Foto. Mit der Drachenkamera entstanden Aufnahmen des nördlichen Negev, von dem Satellitenbilder mit höherer Auflösung öffentlich nicht zugänglich sind (vgl. Abb. 12). 27 Vgl. ebd., S. 64; Huffschmid: »Neue forensische Landschaften«, S. 75. 28 Vgl. Forensic Architecture: Destruction and Return in al-Araqib. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 103 CAROLIN HÖFLER Abb. 12: Forensic Architecture, Destruction and Return in al-Araqib, Community Satellites, Negev, Israel, 2016. Ariel Caine, Hagit Keysar und Kinder von al-Araqib, Foto. In einem Prozess, der als Fotogrammetrie bekannt ist, generierten die Architekt:in- nen auf Grundlage der zahlreichen Kamerabilder dreidimensionale Punktwolken und verglichen sie mit Aufnahmen der Royal Air Force aus dem Jahr 1945 sowie zeitgenössischen archäologischen Untersuchungen (vgl. Abb. 13 und 14). Die drei- dimensionalen geometrischen Rekonstruktionen der aufgenommenen Landschaf- ten machten etwas sichtbar, was zuvor nicht ersichtlich oder bewusst dem öffentlichen Blick entzogen war: Sie gaben Hinweise auf eine Besiedlung durch Be- duinen vor der Gründung Israels. Indem solche Repräsentationen im Konstruktionsakt erst hervorbringen, was sie darstellen, spielen sie für die Imagination alternativer Realitäten eine wichtige Rolle. Sie stellen die Frage nach den Möglichkeiten einer von Diversität und Plura- lität geprägten Produktion sozialer Wirklichkeiten, die durch und mittels digitaler Technologien vermittelt werden. Abb. 13: Ariel Caine/Forensic Architecture, Destruction and Return in al-Araqib, Negev, Israel, 2016. Punktwolke des al-Araqib-Geländes mit Blick auf das Beduinensteinhaus von Al Malahi Salman Abu Zayd, erbaut im frühen 20. Jahrhundert, Rendering. NAVIGATIONEN 104 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST« Abb. 14: Ariel Caine/Forensic Architecture, Destruction and Return in al-Araqib, Negev, Israel, 2016. Punktwolke des Brunnens von Awimer Salman Abu Medigam mit blauen Rechtecken als Markierungen der Kamerapositionen, Rendering. REPRÄSENTIEREN ALS TRANSFORMATIVER PROZESS Eine Neubewertung medialer Repräsentationsverfahren als Techniken der Auf- nahme, Anordnung und Transformation ist für eine Gestaltung, die sich als eine kritische, zivile Praxis versteht, von grundlegender Bedeutung. Eine solche Neu- bewertung findet sich vor allem in jüngeren Studien aus dem Bereich der Wissen- schaftsforschung wieder. Angeregt durch die frühen Laborstudien in den Naturwis- senschaften, wenden sich Arbeiten wie die von Bruno Latour mit ihrem ethnografischen oder mikrosoziologischen Interesse auch kreativen Prozessen der Repräsentation zu. Dabei geht es im Kern darum, dass eine Repräsentation ihren Bezugsgegenstand nicht nur erfasst, sondern auch erzeugt, indem der Gegenstand bearbeitet und bereitgestellt wird. Latour diskutiert diesen Repräsentationsbegriff in seinem Buch Die Hoffnung der Pandora (1999) am Beispiel der Arbeit einer Gruppe von Naturwissenschaft- ler:innen, welche die natürliche Umwelt zwischen Urwald und Savanne im brasili- anischen Boa Vista erforschte.29 Die Wissenschaftler:innen erzeugten Repräsentationen der natürlichen Umwelt, indem sie Steine, Urwaldboden und Re- genwurmspuren in Diagramme und Proben übertrugen (vgl. Abb. 15). Hierdurch erfuhr die Natur selbst eine Umformung. Detailliert beobachtete Latour, wie diese Proben aus der Natur entnommen, kartografiert, katalogisiert, im Labor untersucht und schließlich in Form von wissenschaftlichen Beiträgen in die Fachöffentlichkeit getragen wurden. Die einzelnen Repräsentationstechniken vermittelten erst im Zu- sammenhang eine Vorstellung davon, wie sich der Übergang von der Savanne in den Urwald vollzogen hatte. 29 Vgl. Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 36-95; Ders.: »Der Pedologenfaden von Boa Vista«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 105 CAROLIN HÖFLER Abb. 15: Bruno Latour: Pedokomparator mit Bodenproben, Amazonas, Brasilien, 1991, Fotografien. Bezieht man Latours Verständnis der Repräsentation als Transformationsphäno- men auf Gestaltungspraktiken in Architektur und Design, so lassen sich ähnliche Beobachtungen zur Bearbeitung und Verwandlung des dargestellten Gegenstandes machen. Kollektive wie Forensic Architecture erzeugen ebenfalls Repräsentationen von Ereignissen, Strukturen oder Umfeldern, indem sie bestimmte Phänomene und Prozesse in Diagramme und Modelle übertragen. Im Moment ihrer Übertragung werden die Phänomene und Prozesse selbst grundlegend beeinflusst. Wie die Na- turrepräsentationen in Latours Beschreibung befinden sich auch die durch Design erzeugten Repräsentationen in einem netzwerkartigen Zusammenhang. Die ver- schiedenen Formen der Repräsentation eines Projektes wie Texte, Diagramme, Zeichnungen, Fotografien, Karten, Objekte und Modelle weisen Beziehungen un- tereinander auf. Weil eine Repräsentationsform selten alle Aspekte eines Projektes umfasst, werden viele Einzelrepräsentationen hergestellt, die erst im Zusammen- hang ihre Bedeutungen und Wirkungen entfalten. Die Produktion von Wissen und Sinn erfolgt damit als Übersetzungsleistung, die sich zwischen den Dingen und ihren Repräsentationen bewegt. Je nach gewählter Repräsentationstechnik wird eine spezifische Perspektive auf Entwicklungen, Angelegenheiten und Interessen eröffnet. Diese Perspektive macht bestimmte Dinge erfahrbar, wobei die gewählte Repräsentationstechnik die Bedingungen des Erfahrbarwerdens und damit die Gegebenheit der Dinge vorgibt. Eine Repräsentation ist dann weniger ein Abbild als vielmehr ein Bild. Das Bild kann als vorläufiges Ergebnis eines transformativen Prozesses aufgefasst werden, der durch die eingesetzten und eigens entwickelten Verfahren, Instrumente, Techniken und Methoden hervorgerufen wird. Repräsentieren in diesem Sinne bedeutet dann kein einfaches Wiedergeben, sondern ein umfassendes Zusammentragen und Um- formen von Informationen in Gestalt von Analogien, Modellen und Spuren. So betrachtet, erweist sich die Repräsentation als eine Operation, für die der Medienwissenschaftler Hartmut Winkler den Begriff des »Prozessierens« geprägt NAVIGATIONEN 106 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST« hat.30 Sie ist aus der Erfahrung mit dem Computer abgeleitet: Computer übertra- gen und speichern Daten nicht nur, sondern sie verändern und formen sie um. Gleichsam als »Prozessor« operiert hier die Repräsentation im Sinne Latours, die immer auch erzeugt, was sie darstellt, und damit das Dargestellte verändert. GESTALTEN UND KOMPONIEREN Befunde dieser Art, welche die Repräsentation eines Ereignisses oder Sachverhalts mit seiner Transformation verschränken, sind in Anbetracht der Vorstellung, durch Gestaltung gesellschaftliche Entwicklungen und öffentliche Interessen sowohl dar- zustellen als auch herzustellen, sehr wertvoll. Um Repräsentationspraktiken in den Gestaltungsdisziplinen als Agenten der Veränderung und Verwandlung näherzu- kommen, erweisen sich vor allem jüngere Beiträge zu einer Ethnologie des Designs als besonders aufschlussreich, denn sie stellen die zentrale Frage, wie Wissen von etwas noch nicht Existierendem produziert wird. Exemplarisch hierfür ist die For- schung von Albena Yaneva zu nennen, die sich mit Praktiken des Recherchierens, Modellierens und Präsentierens in der Architektur befasst und dabei der Frage nachgeht, wie diese Praktiken die Gewinnung neuen Wissens ermöglichen.31 Ein zentrales Charakteristikum von Gestaltungsprozessen erkennt Yaneva in der kompositorischen Operation des Addierens: »The ›addends‹ […] are models and people, city and […] requirements, public concerns and foam cutters, a reality that gets composed afresh, and is augmented as the story develops.«32 Sie greift hierbei auf den Begriff der Komposition von Bruno Latour zurück, womit dieser eine progressive Zusammensetzung heterogener Entitäten bei der Konstitution ei- ner gemeinsamen Welt beschreibt.33 Beim Komponieren sei zwar auch die Frage der Repräsentation entscheidend, aber Repräsentation werde hier vor allem unter dem Blickwinkel der performativen Wirkungen für eine gemeinsame Welt betrach- tet. Entsprechend bedeutet Gestalten als kompositorischer Vorgang nicht nur, die damit verbundenen Deutungen und Interpretationen zu fokussieren, sondern auch sich als Gestalter:in zu positionieren, etwas zu entwickeln und in diesem Sinne per- formativ zu agieren. Auch wenn Repräsentieren eine Form der Wissensrezeption und -produktion darstellt, handelt es sich primär um eine projektive Praktik, eine Entwurfspraktik, in der eine mögliche Zusammensetzung heterogener Dinge, Sach- verhalte oder Ereignisse hingeworfen, exploriert und darüber entschieden wird. Es geht also nicht nur um Prozesse der Erkenntnis- und Wissensgewinnung, sondern auch um Verfahren zur Willensbildungs- und Entscheidungsfindung. Mit Blick hier- auf lässt sich Gestalten als eine heterogene ästhetische, symbolische und technische Praxis zur Konzeption wünschenswerter gesellschaftlicher Realitäten auffassen, in 30 Vgl. Winkler: Prozessieren. 31 Vgl. Yaneva: The Making of a Building; Dies.: »Scaling Up and Down«. 32 Yaneva: The Making of a Building, S. 7. 33 Vgl. Latour: »An Attempt at a ›Compositionist Manifesto‹«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 107 CAROLIN HÖFLER der sich kulturelle und soziale Projektionen artikulieren, und die durch komposito- rische Entscheidungen hervorgetrieben wird. Bezogen auf den physischen Raum als ein Informationssystem, wie ihn foren- sische Architekt:innen auffassen, bedeutet dies einerseits, die Komponenten und Spuren dieses Systems lesen und bewerten zu können, andererseits, sich Fähigkei- ten anzueignen, um das System mit Techniken der Datenerfassung und Bildgebung sowie durch überraschende Ansätze eines politischen Aktivismus neu zu konfigu- rieren. Eine solche Praxis, wonach sich Gestaltung auf Interdependenzen und Re- aktionen richtet, beschreibt die Architektin und Theoretikerin Keller Easterling jüngst mit dem von Dunne und Raby geborgten Begriff »Medium Design«34 und veranschaulicht ihn beispielhaft anhand von Satellitenaufnahmen des brasilianischen Bundesstaates Rondônia (vgl. Abb. 16). Abb. 16: Keller Easterling: Medium Design, 2018. Satellitenaufnahmen des brasilianischen Bundesstaates Rondônia von 1975 (links) und 2012 (rechts), Abholzung des Regenwaldes an Verkehrswegen. Die Aufnahmen von 1975 und 2012 zeigen, dass sich die Abholzung des Regenwal- des an Verkehrswegen orientiert. So besteht in den Regenwäldern des Amazonas ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Bau von Straßen und der fortschrei- tenden Zerstörung des Waldes. Würden Straßen verlegt, zusammengefasst oder zurückgebaut, könnte der Wald erhalten werden. Ein solcher gestalterischer Ein- griff in die Landschaft hätte eine ähnliche Wirkung wie die Veränderung eines Quell- codes.35 In dieser Perspektive kann das medial Dokumentierte als etwas Komponiertes auseinandergenommen und wieder neu zusammengesetzt werden. In der Folge würden dann neue Relationen definiert und veränderte Reaktionen ausgelöst. Darin liegt das Versprechen der kompositorischen Praktiken: Durch Pro- zesse der Überschreibung und Umformung medialer Raumrepräsentationen lassen sich erstrebenswerte räumliche und soziale Realitäten imaginieren, wodurch die 34 Easterling: »Medium Design«. 35 Vgl. ebd., S. 157. NAVIGATIONEN 108 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST« Möglichkeit ihrer Realisierung in greifbare Nähe rückt. Denn über die mediale Re- komposition des Raumes wird bestimmt, worauf sich künftig an dieser spezifischen Stelle in der Welt die Aufmerksamkeit richten wird. 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Courtesy School of the Art Institute of Chicago und Uni- versity of Chicago. Abb. 4: © Spirit of Space. Courtesy School of the Art Institute of Chicago und University of Chicago. Abb. 5: © Spirit of Space. Courtesy School of the Art Institute of Chicago und University of Chicago. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 111 CAROLIN HÖFLER Abb. 6: © Spirit of Space. Courtesy School of the Art Institute of Chicago und University of Chicago. Abb. 7: © Forensic Architecture/ScanLAB/Caroline Sturdy Colls, https://forensic- architecture.org/investigation/living-death-camp-staro-sajmiste, Fig. 4, 28.02.2021. Abb. 8: © Forensic Architecture, 2021, https://forensic-architecture.org/investiga- tion/triple-chaser, Fig. 1, 28.2.2021. Abb. 9: © Forensic Architecture, 2021, https://forensic-architecture.org/investiga- tion/triple-chaser, Fig. 16, 28.2.2021. Abb. 10: © Forensic Architecture, 2021, https://forensic-architecture.org/investi- gation/triple-chaser, Fig. 4, 28.2.2021. Abb. 11: © Forensic Architecture, 2021, https://forensic-architecture.org/investi- gation/destruction-and-return-in-al-araqib, Fig. 4, 28.2.2021. Abb. 12: © Forensic Architecture, 2021, https://forensic-architecture.org/investi- gation/destruction-and-return-in-al-araqib, Fig. 1, 28.2.2021. Abb. 13: © Forensic Architecture, 2021, https://forensic-architecture.org/investi- gation/destruction-and-return-in-al-araqib, Fig. 2, 28.2.2021. Abb. 14: © Forensic Architecture, 2021, https://forensic-architecture.org/investi- gation/destruction-and-return-in-al-araqib, Fig. 5, 28.2.2021. Abb. 15: Latour, Bruno: Pandora’s Hope: Essays on the Reality of Science Studies, Cambridge, MA 1999, S. 52, Fig. 2.13 und S. 55, Fig. 2.14. Abb. 16: Easterling, Keller: »Medium Design«, in: Archplus. Zeitschrift für Archi- tektur und Urbanismus, »Datatopia«, Nr. 234, 2018, S. 156-157. © NASA Images Courtesy Landsat Team, 2021, https://visibleearth.nasa.gov/im- ages/78596/rondonia-brazil, 28.02.2021. NAVIGATIONEN 112 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY V O N S A B I N E F L A C H 1. I WATCH THAT WORLDS PASS BY. CAO FEI1 »Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten«2 – Walter Benjamin »Postmodernism is dead, but something altogether weirder has taken its place«3 – John Searle »Meine Arbeit ist an erster Stelle ja auch eine Be- obachtung der Realität«4 – Cao Fei Im Jahr 2018 designte die chinesische Künstlerin Cao Fei für den deutschen Auto- mobilkonzern BMW eine Special Edition. Abb. 1: Cao Fei: BMW Art Car #18, Augmented Reality still (Detail) BMW Art Car nach Vorbild des BMW M6 GT3, 2017. Quelle: Botz, Anneli: »Cao Fei. Zeitalter der Ungewissheit«, in: KUNSTFORUM International, Bd. 252, Moderne, reloaded, 2018, S. 206-217. Entgegen der Vorjahre, in denen die Special Edition – alle von Künstlern designt – extrem bunt bis hin zur Eisskulptur von Olafur Eliasson auffällig gestaltet waren, war Cao Feis Special Edition auf den ersten Blick ein schlicht schwarzer Wagen. Die 1 Wiehager, Renate/Ganzenberg Christiane (Hrsg.): Cao Fei. I watch that worlds pass by (Daimler Art Collection Artist Book, Band 7), Köln 2015 2 Benjamin: »Das Passagen-Werk, Aufzeichnungen und Materialien«, S. 596. 3 Searle: »The Richest and Most Generous Tate Triennial Yet«. 4 Zit. In: Botz: »Cao Fei. Zeitalter der Ungewissheit«. NAVIGATIONEN SABINE FLACH schwarze Farbe allerdings ist speziell, denn sie absorbiert das Licht zu 99 %, und dies hat einen besonderen Grund: Um das Design von Cao Fei zu sehen, benötigt man ein Mobiltelefon und eine App. Richtet man diese nun auf den Wagen, dann wird eine augmented reality sichtbar, die ansonsten verborgen bleibt.5 »Geysire neuer Bildwelten«6 nannte Walter Benjamin diese neuen Räume der Sichtbarkeit durch Medien, die – obwohl Benjamin sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieb – auch gegenwärtig Gültigkeit haben. Benjamin spricht Medien die Fähigkeit zu, eine Dimension eröffnen zu können, in der das Sehen einen optischen Mehrwert erhält und das Wissen die Gewissheit, dass die Medien nicht schlicht das Sichtbare wiedergeben, sondern jenes, was man zuvor nicht gesehen hat.7 Zum gesamten Kunstwerk von Cao Fei gehört zudem das Video Unmanned. Abb. 2: Cao Fei: BMW Art Car #18, Unmanned, Video, 4Min 51Sek, Film Still, 2017. Quelle: Botz, Anneli: »Cao Fei. Zeitalter der Ungewissheit«, in: KUNSTFORUM International, Bd. 252, Moderne, reloaded, 2018, S. 206-217. Es zeigt einen jungen Mönch, der von einem Kloster in chinesischen Bergen in die urbane Welt wandert. Via Virtual Reality taucht er dort in eine künstliche Welt ein – Spiritualität im Digitalen. Begleitet wird der Kurzfilm von dem Song Oh my Gosh des britischen DJs, Produzenten und Musikers Jamie XX. Ein Automobil wird also um eine virtuelle Welt erweitert, die vorhanden ist und sich aber der Sichtbarkeit entzieht, zumindest solange man sich nicht der App bedient. Als »The Making of a Modernity«8, beschreibt Cao Fei ihre künstlerische Praxis, mit der sie nicht einer gegebenen faktischen Realität eine virtuelle Welt 5 Ebd. 6 Benjamin: »Neues von Blumen (1928)«, S. 15. 7 Flach: »Expanded Vision. Die Avantgarde als Laboratorium der Wahrnehmung«, S.197. 8 Wade: »THE MAKING OF A MODERNITY«. NAVIGATIONEN 114 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY entgegensetzt. Vielmehr analysiert sie mit ihren Kunstwerken, wie mediale, virtu- elle Komponenten Realität ausmachen, und somit die Erfahrung von Welt bestim- men, aber vor allem auch die Interaktionen in ihr, und damit letztlich Vorstellungen von Raum und Zeit als Faktoren, die Geschichte erzeugen. Die Theoretiker Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker beschreiben die gegenwärtige Zeit als Metamoderne9, deren Charakteristika sich von der Post- moderne deutlich absetzen, ohne die Postmoderne gänzlich zu negieren. Signifikant für die Metamoderne ist indes ein Geschichtsverständnis, das sich teleologischer Narrativität entzieht: A bending of History may simultaneously imply forcing History into a different direction or shape as well as causing History to deflect from the more or less straight line of teleological narrative. It also captures the increasing awareness across culture that there is something at stake, yet we are still very much unsure what this something – hidden around the bend, as it were – might be. (…) Now that History appears to have, once more, been kick-started, the postmodern vernacular has proven increasingly inapt and inept in coming to terms with our changed social situation. This goes for discussions of History as much as it goes for debates about the arts. We can think, here, of the waning of a host of different postmodern impulses, which nonetheless share some kind of family resemblance (Jameson’s ›senses of the end‹, if you will): pop art and deconstructive conceptual art (from Warhol to Hirst, by way of Koons); punk, new wave and grunge’s cynicism in popular music; disaffected minimalism in cinema; spectacular formalism in ar- chitecture; metafictional irony in literature, as well as the whole em- phasis on a dehumanising cyberspace in science fictions of all kinds. Moreover, since the turn of the millennium, we have seen the emer- gence of various ›new‹, often overlapping, aesthetic phenomena (…) each of them characterised by an attempt to incorporate postmodern stylistic and formal conventions while moving beyond them. Mean- while, we witness the return of realist and modernist forms, techniques and aspirations (to which the metamodern has a decidedly different re- lation than the postmodern).10 New overlapping aesthetic phenomena, die die postmodernen Darstellungsweisen nicht negieren, während sie gleichzeitig darüber hinausführen, sind Thema dieses 9 Vermeulen/van den Akker (2010): »Notes on metamodernism«: »We will call this structure of feeling metamodernism. According to the Greek–English Lexicon the prefix ›meta‹ re- fers to such notions as ›with‹, ›between‹, and ›beyond‹. We will use these connotations of ›meta‹ in a similar, yet not indiscriminate fashion. For we contend that metamodernism should be situated epistemologically with (post) modernism, ontologically between (post) modernism, and historically beyond (post) modernism.« 10 Van den Akker/Gibbons/Vermeulen (Hrsg.): Metamodernism. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 115 SABINE FLACH Beitrags, in dem der Akzent auf die Relevanz der Medien in diesem Phänomen ge- legt wird.11 Die Kunstwerke, die hier präsentiert werden, sind also weder trans- noch in- termedial, sondern überschreiten vielmehr diese Grenzziehungen, und unterlaufen damit traditionelle Abgrenzungsphänomene. Das heißt, es geht in den Analysen um Kunstwerke, die sich mit den klassischen Analysemethoden nicht fassen lassen, weil sie an sich meta, über den konventionalisierten Zuschreibungen liegen. Dies gilt explizit für Cao Fei. Ihre multimedialen, diverse Raumerlebnisse und Interaktionen ermöglichenden Kunstwerke stehen exemplarisch für die künstleri- sche Praxis der Metamoderne, die die – kapitalistische, postkoloniale – Gegen- wartsattitude immer kritisch reflektiert und ins Kunstwerk setzt.12 In La Town präsentiert Cao Fei eine unheimliche, zerstörte, apokalyptische Metropole, die aus einer Sagenwelt einer anderen Zeit zu kommen scheint. Abb. 3: Cao Fei: La Town, Supermarket, 2014 (70 x 130 cm, C-print) Quelle: McDonough, Tom: »The Chinese City Between Dream World and Catastrophe«, in: Parkett, No. 99, 2017, S. 20-35, hier S. 28. 11 Vgl. zu einer ausführlichen Analyse und Diskussion der Metamoderne auch den Forschungs- schwerpunkt Meta-Metamodern-Metaart am Zentrum für GegenwartsKunst. Die For- schungen dieses Schwerpunkts analysieren diese Formen der künstlerischen Praxis in Zu- sammenhang mit der Beschreibung der Gegenwart als Metamoderne. Anstelle der Gattungen treten Räumlichkeit, Bewegung, Verkörperung, Medien und ästhetische Prak- tiken. Diese Forschungen werden in einem weiteren Schritt mit Analysen zu gegenwärti- ger Gesellschaft in Zusammenhang gebracht, um die zunehmende Komplexität der Welt und ihrer Problemhorizonte nicht nur zu erkennen, sondern diesen vielmehr angemessen zu begegnen, sie zu untersuchen und somit auch konkrete Lösungsansätze mit gesell- schaftlicher Relevanz aus den Wissenschaften und Künsten heraus zur Verfügung stellen zu können. 12 Cao Fei beschäftigt sich indes mit den ökonomischen, kulturellen, religiösen und alltagsprak- tischen Strukturen der chinesischen Gesellschaft und deren Oszillation zwischen Historie, Tradition und Zukunft, in der das tägliche Leben immer schon futuristischer ist, als jedes Denken über Zukunft sein kann: »The truth is that the reality here in China is already beyond our imagination.« Vgl. Wade: »THE MAKING OF A MODERNITY«. NAVIGATIONEN 116 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY Abb. 4: Cao Fei: La Town, Theater, 2014 (80 x 120 cm, C-print), Quelle: McDonough, Tom: »The Chinese City Between Dream World and Catastrophe«, in: Parkett, No. 99, 2017, S. 20- 35, hier S. 30. Der 42-minütige, ein-kanalige, digitale Stop-Motion-Film besteht aus handgemach- ten architekturalen Settings, kleinen Figuren, toten Tieren, Seeungeheuern und Zombies. Cao Fei kaufte alle Miniaturdekorationen online von traditionellen deut- schen Eisenbahnmodellbauern – Figuren, Stadtszenen, Stadtgebäude, ein Super- markt, eine Station, Einrichtungsgegenstände, eine Striptease-Bar, ein McDonald’s Drive-in – und setzt sie auf einen zwei Quadratmeter großen Arbeitstisch, um eine ganze Stadt für Fantasie zu schaffen: eine Stadt namens La Town.13 Everyone has heard the myth of La Town. The story first appeared in Europe, but after traveling through a space-time wormhole, reap- peared in Asia and Southeast Asia. It was last seen near the ocean bor- dering the Eurasian tectonic plate, vanishing in its midst as if a mirage. La Town, struck by unknown disaster – where without sunlight, time froze. Polar night was all encompassing, so the few instances of white nights have been momentously recorded in the town’s history. Yet, through the drifting of time and space, various countries have rewritten La Town’s history, and details have been neglected. Now, the story of the small town’s past – love affairs, politics, life, demons and disasters – have all been sealed beneath the museum’s vitrines, the historical ›specimens‹ becoming an authoritative but limited interpretation of this town’s history.14 So beschreibt Cao Fei das unheimliche, dystopische Szenario – Bilder von Horror, erwartet, erlebt, gesehen, erinnert oder imaginiert. Die abschließende Sequenz von La Town zeigt Menschen vom Himmel herabdriften. Dieses Bild ist fast tröstlich, jedoch Umkehrung eines anderen Bildes: Die Druckwellen der Atombomben, die 13 Wiehager: »Utopia mon amour«, S. 203-211. 14 Ebd. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 117 SABINE FLACH im Jahr 1945 auf Hiroshima und Nagasaki fielen, schleuderte Menschen hunderte von Metern in die Luft. Erlebt oder medial gesehen; es ist ein Erinnerungsbild des Horrors, das sich in das Visuelle eingeprägt hat – Erinnerung und Vorstellungskraft des 20. Jahrhunderts.15 Die Referenz zu Cao Feis La Town ist der Film Hiroshima mon Amour, 1957 von Marguerite Duras und Alain Resnais produziert. Thematisiert werden die monströsen Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs, der Horror der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die die beiden Protagonisten – die Frau aus Frank- reich, der Mann aus Japan – prägen. Die Frau spricht wie zu sich selbst davon, was sie in Hiroshima gesehen hat: die Stadt, die sie besuchte, der Ort der Katastrophe, den sie durch Medienberichte kennt; die Kulisse von dem Film, in dem sie spielt. All diese Realitäten legen sich übereinander, keine ist realer als die andere. Der Mann, der nach dem Krieg nach Hause zurückgekehrt ist, negiert, was sie monoton sagt: »You saw nothing in Hiroshima, you don’t know what it means to forget«.16 Duras und Resnais zeigen in ihrem Film Bilder der Katastrophe des zweiten Weltkriegs als wären sie gegenwärtige Bilder einer immer-noch oder schon-wieder gegenwärtigen Geschichte. Cao Fei übernimmt für La Town nicht nur die Sprache – Französisch – sondern auch, mit nur minimalen Abweichungen, den Text von Duras’ Filmskript, womit sie – ebenso wie Resnais – Distanz zum Gesehenen er- zeugt: eine mediale Intervention, mit der die Faszination an dem, was gesehen wer- den kann, gestört und gebrochen wird. Wobei auch bei Cao Fei die Stimme, die den Text spricht, wie aus einer anderen Zeit, einem anderen Raum, zu kommen scheint, wie aus einem Traum. Genauso also wie in Hiroshima, mon amour, wird auch hier Walter Benjamins Analyse aus dem Passagenwerk – Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten – erschreckend klar: Keine Narrativität, keine Stimme, kein Text hat die Macht zu erklären, was die Bilder zeigen. Solcher Horror kann niemals zu empirischer Ge- schichte werden. Realität ist unerreichbar und unzugänglich. Der Film La Town (2014) erzählt aus der Perspektive des Jahres 2024, und zeigt deutlich, wie Cao Feis Arbeiten der Schwierigkeit begegnen, einen vorweggenom- menen Rückblick auf die Gegenwart als Vorgeschichte inszenieren zu können.17 Alle im Folgenden präsentierten Positionen entziehen Geschichte der einord- nenden, chronologischen Narrativität und befragen die Idee einer sich selbst voll- ziehenden Geschichte durch die Zeit. Die Kunstwerke sind damit Analysen zur ge- genwärtigen Gesellschaft, um die zunehmende Komplexität der Welt und ihrer Problemhorizonte nicht nur zu erkennen und zu untersuchen, sondern um ihnen – womöglich – angemessen begegnen zu können. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Vgl. dazu: Flach: Unveröffentlichter Vortrag aus dem Künstlerhaus und Seminar: Remem- bering the future. Zum Geschichtsverständnis der Metamoderne (Lehre im Rahmen der Kooperation KFU, KUG und TUG) Sommersemester 2018. Vgl. Schmitz: »Cao Fei. Blu- eprints« NAVIGATIONEN 118 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY 2. ANSWER ME. ANRI SALA »Den Pessimismus organisieren heißt […] nichts anderes als die moralische Metapher aus der Politik herausbeför- dern und im Raum des politischen Handelns den hun- dertprozentigen Bildraum entdecken. Dieser Bildraum aber ist kontemplativ überhaupt nicht mehr auszumes- sen.«18 – Walter Benjamin Abb. 5: Anri Sala: 1395 Days without Red, 2011 (A film by Anri Sala, Single-channel HD video and 5.0 surround sound, 43'46''). Quelle: Flach, Sabine: »Answer Me. Anri Sala«, in: Brüstle, Christa (Hrsg.), Music and Landscape / Soundscape and Sonic Art, 2019, S. 261-280, hier S. 262. Eine scheinbar menschenleere Stadt, leere Straßen. Eine einzelne Person läuft durch diese Unbehaustheit. An jeder Straßenkreuzung bleibt sie stehen, wartet an- gespannt. Aber auf was? Ein Zeichen, dass sie weitergehen kann? Die Stadt, die uns Anri Sala in seiner Videoinstallation 1395 Days Without Red zeigt, ist Sarajewo – für 1395 Tage und Nächte von 1992 bis 1996 unter Besetzung. Die Route, die die Frau19 nehmen muss, wird Sniper Alley genannt, jener Weg, den sie gehen muss, um zu ihrer Orchesterprobe für Tschaikowskys sechste Symphonie, die Pathétique, zu kommen.20 18 Benjamin: »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, S. 309. 19 Die Frau wird von der spanischen Schauspielerin Maribel Verdú verkörpert. 20 Der russische Titel lautet: Патетическая – lässt sich mit emotional oder leidenschaftlich in die deutsche Sprache übersetzen. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 119 SABINE FLACH Abb. 6: Anri Sala: 1395 Days without Red, 2011 (A film by Anri Sala, Single-channel HD video and 5.0 surround sound, 43'46''). Quelle: Flach, Sabine: »Answer Me. Anri Sala«, in: Brüstle, Christa (Hrsg.), Music and Landscape / Soundscape and Sonic Art, 2019, S. 261-280, hier S. 262. Ab und an stehen an den Straßenkreuzungen, eng an die Häuserwände gedrückt, weitere Passanten, wartend, zögernd, angespannt. Doch diese Videoinstallation zeigt uns nicht nur die Anspannung der Personen, sondern die spezifische Medialität der Installation lässt uns diese Anspannung selbst erfahren: Die Angst der Protago- nist:innen wird auch für die Rezipient:innen durch die direkte körperliche Invol- viertheit erfahrbar,21 und die Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben, wird zu einer Entscheidung, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich übereinander le- gen und zu dem Moment verdichten, in dem die Entscheidung, zu bleiben oder zu gehen, zur Entscheidung über Leben oder Tod werden kann. Der Titel des Films ist ein Hinweis auf die Warnung der Regierung, keine strah- lenden, auffälligen Farben – keine Signale – zu tragen, um nicht ein Ziel der Scharf- schützen zu werden, die sich während der 1395 Tage dauernden Belagerung von Sarajewo in den die Stadt umgebenden Hügeln versteckt hielten. Die Videoarbeit von Sala ist weniger ein Dokument, das die Lebensbedingun- gen der Belagerung Sarajewos zeigt, als dass er vielmehr diese Bedingungen im Vi- deo in ein präsentisches Erleben der Belagerung überträgt. Wie aber zeigt sich in Anri Salas Werk das Erleben von Geschichte, wenn es keinem Narrativ folgt? Was also ist in der Kunst der Gegenwart, deren Thema das Erinnern ist, die Kultur des Erinnerns? Man sieht die Bewegungen der Frau, sieht das Gehen, Halten und Laufen, mit ihrem Atem hört man zugleich die Anspannung, die Wachsamkeit und die ge- spannte Vorausschau auf das, was vielleicht kommen mag. Die Furcht, einen Platz zu durchschreiten, erleben wir durch das schnelle Atmen nach einem Spurt über den Platz, an dem einen die Kugeln der Scharfschützen treffen könnten. Die Angst um das Leben hört man im Aufprall der Schuhe auf dem Asphalt. Das Summen der Melodie Tschaikowskys dient der eigenen Beruhigung. Obwohl wir sehen, wie sie 21 Vgl. dazu ausführlich: Flach: Die WissensKünste der Avantgarden. NAVIGATIONEN 120 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY eine Kreuzung nach der anderen in geografischer Reihenfolge überquert, einen Schritt näher an ihrem Ziel, ist die Reise nicht chronologisch linear, sondern springt in der Zeit vorwärts und rückwärts.22 Die Topografie der bedrohten und bedrohenden Stadt wird zum erlebten Raum der Erinnerung ebenso wie des gegenwärtigen Erlebens und des voraus- schauenden Handelns – wird also zur erlebten Geschichtserfahrung von 1395 Days Without Red.23 Das im Jetzt seiner Erkennbarkeit aufblitzende Bild der Vergangenheit ist seiner weiteren Bestimmung nach ein Erinnerungsbild. Es ähnelt den Bildern der eignen Vergangenheit, die den Menschen im Augenblick der Gefahr antreten. Diese Bilder kommen, wie man weiß, unwillkürlich. Historie im strengen Sinne ist also ein Bild aus dem unwillkürlichen Ein- gedenken,24 schreibt Walter Benjamin. Wenn Kunstwerke ikonologisch als jene Dokumente auf- gefasst werden können, in denen Erfahrungen der Vergangenheit verarbeitet und damit vergegenwärtigt werden können25, dann ist Vergangenheit und die Möglich- keit, ihrer durch Erinnerung habhaft zu werden, bildhaft und angebunden an erfah- rene Erlebnisse.26 Im Sinne eines Benjaminschen Bildbegriffs, der sowohl faktisch vorhandene Bildwerke als auch jene Bilder der Träume, Phantasien und 22 Kameric/Sala: »Video Excerpt of 1395 Days without Red«. 23 Vgl. Originaltext Flach: »Answer Me. Anri Sala«. 24 Benjamin: »Anmerkungen der Herausgeber« S. 1243. Vgl. Schrift, Bilder, Denken. 25 Die Moderne kann mit der wissenschaftlichen Arbeit Freuds und Benjamins als ein Prozess angesehen werden, in dem Erinnerung als Gedächtnisspur automatisiert wird, und ein Training von Erlebnisschocks einsetzt. Parallel dazu entwickelt sich ein deutliches Inte- resse an ästhetischen Zugängen zur Geschichte, die zunächst mit Lektüren verbunden sind: Freuds Archäologie der Seele um 1900, Walter Benjamins Urgeschichte des 19. Jahr- hunderts (1928–1940), sowie Michel Foucaults Archäologie des Wissens von 1969. Alle Lektüren zeugen zudem von einer – mehr denn je aktuellen – Reflexion über einen histo- rischen Diskurs, der Zweifel an überhistorischen geschichtsphilosophischen Erzählungen hegt. Eine enge Korrespondenz unterhalten Erinnerung, Geschichtsdiskurse und Kunst sowie Kunsttheorie, in der die jeweiligen Methoden und Verfahren Verwandtschaftsbe- ziehungen aufweisen. Spätestens seit den ›historischen‹ Avantgarden des 20. Jahrhunderts intensiviert sich das Verhältnis insofern, als es nunmehr weniger um Kunst als Zeugnis der Geschichte geht – im Sinne der Historienmalerei etwa –, als vielmehr um einen Transfer der Verfahren, Methoden und Techniken in die bildende Kunst und die Kunsttheorie. Prä- feriert werden in den Künsten Verfahren des Speicherns, Montierens, der Wiederholung, der Konstruktion und Rekonstruktion. 26 Benjamin schreibt: «Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergan- genheit festzuhalten», in: Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, S. 695. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 121 SABINE FLACH Erinnerungen umfasst27, können Anri Salas Kunstwerke als Manifestationen der Er- innerung durch Sinneserfahrungen verstanden werden. Die Erfahrung von Zeit ak- kumuliert in der Kunst Anri Salas und wird zu einem räumlichen Ereignis. Entgegen einer Linearität verzeitlichter Erzählbarkeit werden Erinnerung und Erleben in Salas Videokunst zu einem dynamischen Prozess. Das dialektische Bild hat Benjamin in den Thesen Über den Begriff der Geschichte mit der Bildhaftigkeit des Erinnerns in Zusammenhang gestellt und dadurch präzi- siert. In der fünften These heißt es: »Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vor- bei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.«28 Aus dieser bildhaften Ge- schichteaneignung ergeben sich weitere Konsequenzen, die Walter Benjamin in der sechsten These formuliert: »Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es er- kennen, ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung be- mächtigen, wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt.«29 Benjamin formuliert wei- ter: Das im Jetzt seiner Erkennbarkeit aufblitzende Bild der Vergangenheit ist seiner weiteren Bestimmung nach einem Erinnerungsbild. Es ähnelt den Bildern der eignen Vergangenheit, die den Menschen im Augen- blick der Gefahr antreten. Diese Bilder kommen, wie man weiß, un- willkürlich. Historie im strengen Sinne ist also ein Bild aus dem unwill- kürlichen Eingedenken.30 Verbindet man nun die Überlegungen Walter Benjamins zur erinnerten und erfah- renen Geschichte mit Anri Salas Kunstwerken, so zeigt sich, dass der Künstler nicht schlicht das – historische und somit oft genug distanzierte – Erinnern an Geschichte und ihrer Ereignisse thematisiert, sondern im Werk von Sala steht erinnerte Ge- schichte, die sich im Zentrum verkörpert. Erinnerte Geschichte folgt indes anderen Regeln als jene, die sich in Textualität und Sprache finden. Erinnerte Geschichte folgt Stimmungen und Atmosphären. Räumliche, mediale Erfahrung, in der die To- nalität sich ebenfalls der schlichten Abfolge von Noten entzieht, bestimmt auch das Werk Answer Me. 27 Vgl. zum Zusammenhang von ›realen‹ und inneren Bildern bei Benjamin siehe auch: Schrift, Bilder, Denken. Walter Benjamin und die Künste. Vgl. zum Zusammenhang von inneren und äußeren Bildern: Flach: »On Twilight«, S. 31-48. 28 Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, S. 695. 29 Ebd. 30 Benjamin: »Abhandlungen«, S. 1243. Vgl. Zu dieser Interpretation genau: Schöttker: Schrift, Bilder, Denken NAVIGATIONEN 122 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY Abb. 7: Anri Sala: Answer Me, 2008, (Single-channel HD video and stereo sound, Duration: 4:51 min). Quelle: Flach, Sabine: »Answer Me. Anri Sala«, in: Brüstle, Christa (Hrsg.), Music and Landscape / Soundscape and Sonic Art, 2019, S. 261-280, hier S. 270. Gefilmt in einer Hörstation des Kalten Krieges, zeigt das Video eine Frau, die Schwierigkeiten hat, mit einem Mann zu sprechen, der nur mit kakophonem Trom- meln reagiert. Die Szene spielt sich außerhalb Berlins am Teufelsberg ab. Wir sehen einen Buckminster-Fuller-Bunker, in dem während des Kalten Krieges die sowjeti- sche Überwachungseinheit der NSA untergebracht war. Der junge Mann trommelt wild, und das Geräusch hallt in einer verlassenen geodätischen Kuppel wider, die von Amerikanern gebaut wurde, um Ostdeutschland abzuhören. Der junge Mann unterbricht gelegentlich sein wildes Trommeln, ignoriert aber grundsätzlich die Frau, die ängstlich hinter ihm steht. Ab und an hört man ihre Stimme aus dem wil- den Trommeln heraus. Sie bittet: »Answer me.« Anri Sala verbindet die Tonalität des Videos mit der Architektur, um die Un- möglichkeit der Kommunikation des Paares, den Bruch der Beziehung, erlebbar zu machen: So the architecture adds is own layer of narrative, which, in this case, is not built around words but around frequencies. The story of Answer Me is based on a little script about the divorce of a couple, but because this conversation is taking place inside the dome, it’s no longer a couple, because there’s always the echo. So again, it becomes three. Jamais deux sans trois.31 Korrespondenzen verlaufen auch hier – die Möglichkeiten des filmischen Mediums nutzend – nicht-linear, der Appell Answer Me schlägt auf sich selbst zurück, einem Echo gleich. Die Anrufung in Answer Me schlägt auf sich selbst zurück, überlagert von der Lautstärke des Instruments. Die eigentliche Stimme verhallt im Raum und, einem Echo gleich, wird sie zum Palimpsest; sie ist vorhanden, in ihrer Tonalität aber geradezu luzide, transparent. Anri Sala verwendet die Kommunikationsunfä- higkeit des Paares, ebenso wie das Scheitern der medialen Übermittelung von In- formation, um letztlich auf die Erstarrung von politischen Regimen und Nationen 31 Anri Sala. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 123 SABINE FLACH während des Kalten Krieges zu verweisen. Die stimmliche Wiederholung wird da- mit nicht nur ein Phänomen, das durch den Rückhall im Raum nicht nur die Vergan- genheit in die Gegenwart holt, sondern die permanenten klanglichen und stimmli- chen Überlagerungen ermöglichen ebenso, Zukunft in die Gegenwart zu holen – also im Medialen presentness zu erzeugen. Somit sehen wir die Bildräume Anri Salas nicht nur, sondern partizipieren – im Sinne einer Phänomenologie – am Ereignis der Gewalt; mitlaufend, unterschwellig: »And the snipers shots go: Ping-Ting-Ting- Ting.«32 3. BECOMING FREDERICK DOUGLASS. ISAAC JULIEN »Ihre Bilder kommen nicht allein ungerufen, es handelt sich vielmehr in ihr um Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns erinnerten.«33 – Walter Benjamin »Rightly viewed, the whole soul of man is a sort of picture gallery, a grand panorama, in which all great things of the universe, in tracing of things of time, and things of eternity, are painted.«34 – Frederick Douglass What have I, or those I represent, to do with your national independ- ence? Are the great principles of political freedom and of natural justice, embodied in that Declaration of Independence, extended to us? […] What, to the American slave, is your 4th of July? I answer; a day that reveals to him, more than all other days in the year, the gross injustice and cruelty to which he is the constant victim […] I say it with a sad sense of the disparity between us. I am not included within the pale of glorious anniversary! Your high independence only reveals the immeas- urable distance between us. […] The sunlight that brought light and healing to you, has brought stripes and death to me. This Fourth July is yours, not mine. You may rejoice, I must mourn […].35 Ausschnitte aus der Rede, die Frederick Douglass am 5. Juli 1852 anlässlich einer Feier zum Independence Day gab. Douglass, der in der Sklaverei geborene, promi- nenteste Vertreter der Abolitionist, ist das Thema der Videoinstallation von Isaac Julien. 32 Rancière: »Die Politik der Krabbe«, S. 79. 33 Benjamin: »Aus seiner kleinen Rede über Proust, an meinem vierzigsten Geburtstag gehal- ten«, S. 1064. 34 Zitiert in: Banning/Crichlow: »A Grand Panorama«, S. 11. 35 Douglass: What to the Slave is the 4th of July, S. 7. NAVIGATIONEN 124 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY Die Videoinstallation Lessons of the Hour36 präsentiert auf zehn Bildschirmen unter- schiedlicher Größe mit 28 Minuten Länge in intrikater Komplexität, Einblicke in das Leben von Frederick Douglass, basierend auf den Autobiografien Douglass’, per- sönlichen Briefen und seinen Reden. Vor allem aber referiert Isaac Julien mit der Präsentationsmöglichkeit seines Mediums Video auf ein visuelles Medium, das für Frederick Douglass weitaus mehr war, als lediglich die persönliche Repräsentation im Portrait: die Fotografie. Abb. 8: Isaac Julien, Lessons of the Hour, 2019. (Ten-screen installation. 35-mm-film and 4k digital, colour, 7.1 surround sound. 28'46'') Quelle: Fateman, Johanna: »Best of 2019«, in: Art- forum, December 2019, S. 172. Abb. 9: Isaac Julien, The North Star (Lessons of The Hour), 2019. Quelle: Quelle: Banning, Kass/Crichlow, Warren: »A Grand Panorama: Isaac Julien, Frederick Douglass, and Lessons of the Hour«, in: Film Quarterly, Jg. 73, Nr. 4, Summer 2020, S. 11-24, hier S. 12. 36 Lessons of the Hour ist der Titel einer Rede von Frederick Douglass aus dem Jahr 1893. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 125 SABINE FLACH »The love of pictures stands first among our passional inclinations«37, schreibt Douglass in seiner Lecture of Pictures. Isaac Juliens Videoinstallation ist nun keines- falls eine Hagiographie Douglass’, sondern auf den Bildschirmen wird Biographi- sches mit Öffentlichem, Intimes, Privates mit Allgemeinem zum komplexen Leben von Douglass verwoben, und ist so weitaus mehr, als die Nacherzählung eines be- rühmten Lebens. Die Installation gerät durch die Konzentration auf haptische, ver- körperte, kinästhetische38 Elemente vielmehr zu einer Reaktivierung von Douglass’ Visionen der Kräfte der Menschenrechte, rückblickend aber vor allem auch voraus- schauend, für die Gegenwart und für die Zukunft im 21. Jahrhundert.39 Frederick Douglass ließ unzählige Fotografien von sich anfertigen, und hat sich oft zur Foto- grafie geäußert, wobei er mit der Fotografie weitaus mehr verband, als die naive Vorstellung der Wiederholung einer Person im Bild. Die Stillstellung einer Person im Fotografischen als dem gelungenen Entzug einer Person aus der ansonsten un- ausweichlichen Zeitlichkeit, Vergänglichkeit des Lebens und der damit verbunde- nen ignoranten Nivellierung einer Person, als nicht-gesehen, ist für Douglass die An- erkennung der vollen Staatsbürgerschaft durch das demokratisierende Potential der Fotografie.40 Gesehen zu werden, ist im analogen bildgebenden Verfahren der Fotografie angebunden an ein Arbeiten gegen das Vergessen. Denn jede Fotografie enthält in sich das Potential der Anwesenheit dessen, was sie zeigt ex negativo. Sie gleicht dem Abdruck, als einer Hinterlassenschaft, die das Verhältnis von Ähnlich- keit und Berührung bezeugt. »Der Abdruck zeigt uns die Berührung [an …] wie den Verlust […], [was] uns ebenso die Berührung des Verlustes anzeigt, wie den Verlust der Berührung. Und deshalb verlangt der Abdruck, daß wir gewisse Modelle der Zeitlichkeit überdenken.«41 Er ist also eine Art des Kontaktversuchs, in dem es darum geht, die klassische Nachahmung zu unterlaufen, ohne deswegen Ähnlichkeit völlig zu negieren.42 Der Abdruck bedingt einen Kontakt mit einem Material, der gleichzeitig als Abwesen- heit aufgefasst werden muss. In dem Moment, in dem ein Abdruck entsteht, muss ein Objekt anwesend sein. Damit der Abdruck jedoch als Resultat erscheint, muss sich das Objekt entfernen. Der Abdruck bedarf also einer Geste, die ihn hervor- bringt. Auch hier bildet sich ein künstlerischer Umgang mit Fragen der Repräsenta- tion heraus, die hier ein Unbehagen bildet: eine symptomhafte Ähnlichkeit. 37 Douglass: »Lecture on Pictures«, S. 121. 38 Vgl. Fingerhut/Flach/Söffner (Hrsg.): Habitus in Habitat III – Synaesthesia and Kinaesthetics. 39 Vgl. Banning/Crichlow: »A Grand Panorama«, S. 11. 40 Ebd. 41 Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, S. 10. 42 Vgl. zur analogen Fotografie natürlich auch Rosalind Krauss: »Notes on the Index I« und »Notes on the Index II« und auch deren Wesensprinzip beruht auf gleichermaßen auf der Berührung, ohne die es keine Fotografie gäbe, wie Rosalind Krauss in ihrer Publikation The Originality of the Avantgarde and Other Modernist Myth erläutert: »Photography as an index, that is, a mark like a footprint that makes it’s meanings through a direct relationship to its referent.« NAVIGATIONEN 126 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY In jedem einzelnen Abdruck beeinflusst, verändert, verformt das Wechselspiel von Berührung und Entfernung die erwartete Ähnlich- keitsbeziehung, so dass das Optische und das Taktile, das Bild und sein Prozess, die Gleichheit und ihre Abänderung sich sofort miteinander verbinden – auf die Gefahr hin, ein Denken zu verwirren, […] das spon- tan dazu neigt, Widersprüchliches voneinander zu trennen. Der Ab- druck berührt uns und entzieht sich uns auch, insofern er ein Unbeha- gen in der Geschichte bildet: ein Symptom der Zeit.43 In jedem Abdruck verändert sich das Wechselspiel von Berührung und Entfernung, sodass das Gegenwärtige und das Gewesene sich für das Denken zu einer neuarti- gen und verwirrenden Formation verbinden können. Mit der Verwendung der Fo- tografie als Abdruck zeigt sich im künstlerischen Werk die enge Verbindung von optischen und taktilen Phänomenen. Im Sichtbaren tritt also die Frage der Berüh- rung hervor. In Bezug auf die Kontextualisierung durch die Akzentuierung, die Douglass der Fotografie gab, steht also weniger die Wiedergabe im Zentrum, als vielmehr, dass in jedem Erkennen und Wiedererkennen das humane Potential der Anerkennung enthalten ist, denn »in an even earlier speech, Lectures on Pictures (1861) Douglass had intuited an ethical promise for photography – particularly the portrait – as a catalyst for the future of the ›freedman‹ envisioned for the period following the Civil War.«44 Um der komplexen, fluiden Form von Douglass’ Reden, Denken und Wirken und seiner Involviertheit in die Medientechnik der Fotografie, die sich wie eine As- semblage45 zueinander verhalten, gerecht zu werden, präsentiert Julien sein Kunst- werk nicht auf einem Bildschirm, sondern auf multiplen Bildschirmen in unter- schiedlichen Größen, die im Raum zueinander in Beziehung gebracht werden und somit Narration erzeugen. Es handelt sich um eine Narration, die sich der Linearität sprachlicher Erzählung oder geschichtlicher Teleologie entzieht und zur Eigenheit der Präsentation eines weiteren Mediums des 19. Jahrhunderts wird: der Salonhän- gung, wie sie für die Malerei jener Zeit üblich war. Auf diese Art und Weise gelingt es Isaac Julien, das Wechselspiel zwischen visuellen Regimes und den Modalitäten der Wahrnehmung auf den Bildschirmen selbst zur Sichtbarkeit zu bringen.46 Somit treffen sich in den Tropen von Perspektive und Zuschauen, die Philosophie Doug- lass’ mit der Installation Juliens, unterschiedliche Formen der Kameraführung kolli- dieren mit der Praxis des framing, die für die Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts wichtig war. Die Relevanz der Fotografie zeigt sich in vielen Szenen der Installation 43 Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. S. 191. 44 Vgl. Banning/ Crichlow: »A Grand Panorama«, S. 11. 45 Ebd. 46 Lessons of the Hours verfügt zudem über Ton. Isaac Julien implementiert zudem Szenen aus anderen Filmen, wie etwa eine Lynchszene aus Oscar Micheaux Film Within our Gates aus dem Jahr 1920. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 127 SABINE FLACH – explizit wird sie in einer detailgenauen Rekonstruktion einer Fotografie von J.P. Balls Great Daguerreian Gallery of the West. In einer Serie von tableaux vivants – mit denen Julien auf ein weiteres, nicht technisches Medium der Bilderzeugung ver- weist – sieht man Anna und Frederick Douglass zusammen mit ihrer Tochter Ro- setta und der Reformerin Susan B. Anthony, Daguerreotypien betrachtend.47 Abb. 10: Isaac Julien, J. P. Ball Salon, 1867 (Lessons of the Hour), 2019. Quelle: Banning, Kass/Crichlow, Warren: »A Grand Panorama: Isaac Julien, Frederick Douglass, and Lessons of the Hour«, in: Film Quarterly, Jg. 73, Nr. 4, Summer 2020, S. 11-24, hier S. 16. Die Referenzen zu Vorformen der Fotografie in der Installation Juliens sind nicht nur eine Referenz zu diversen technischen Medien und deren Aufkommen im 19. Jahrhundert, sondern sie stehen gleichermaßen als Stellvertreter für Douglass’ In- teresse und Einsicht in die Frage, in welchem Wechselspiel die Veränderung visu- eller Formen mit unterschiedlichen Formen der Perzeption stehen. Lessons of the Hour zeigt ebenso die Affinitäten zwischen dem Bewegtbild des Videos und den Bild-produzierenden Kapazitäten des Bewusstseins,48 und verweist mit dem Einsatz des still moving49 tableau vivant auf die Kapazität des Mediums selbst, Zeit auszudehnen oder zu suspendieren, eine komplizierte Mobilisierung, in der sich Geschichte, Zeit und Bild zwischen Stillstand und Wiederholung ereignen. Giorgio Agamben hat zum Verhältnis von Stillstellung und Wiederholung am Beispiel der Filme Guy Debords die Kraft der Wiederholung akzentuiert – eine Kraft, die auch die Faszination des fotografischen Bildes für Douglass ausgemacht haben kann: »Die Kraft der Wiederholung, das Neue, das sie uns bringt, besteht in der Wiederkehr der Möglichkeit dessen, was gewesen ist. Die Wiederholung stellt die Möglichkeit des Gewesenen wieder her, sie macht es von Neuem möglich, was beinahe ein Paradox ist.«50 Wiederholung besteht – folgt man Agamben – in der 47 Vgl. Banning/Crichlow: »A Grand Panorama«, S. 15. 48 Vgl Flach: Körper-Szenarien. 49 Vgl. Chevrier: »The Adventures of the Picture Form in the History of Photography«. 50 Agamben: »Wiederholung und Stillstellung. Zur Kompositionstechnik von Guy Debords«, S. 73. NAVIGATIONEN 128 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY Wiederkehr der Möglichkeit dessen, was gewesen ist. Es geht also um ein Verhält- nis, das sich treffend mit Derridas Terminus der différance charakterisieren lässt, das heißt als Abweichung von der gesetzten Bedeutung und als Aufschub der Set- zung einer Neuen51. Différance setzt die vorgegebene Bedeutung außer Kraft, ohne einen neuen Inhalt an dieser Stelle zu formulieren. Diese Form der Wiederholung ist also gerade nicht die Wiederkehr des Identischen, des ein und desselben: Es taucht in diesem Zusammenhang, mit Blick auf Isaac Juliens Lesson of the Hour, die Frage auf, ob fotografische Repräsentation – generalisiert gedacht – nicht als ein Prozess der Komplementarisierung aufgefasst werden kann. Ist dies der Fall, dann liegt – im Sinne der Repräsentation von Frederick Douglass – in der Videoinstalla- tion nicht die mimetische Abbildung im Sinne von getreuer Wiedergabe zugrunde, sondern die Herausbildung spezifischer Kontakt- und Berührungsstellen52 oder – wie Douglass selbst es sagt – »the point from which a thing is viewed is of some importance.«53 4. LOST PARADISE. MATHIAS KESSLER »Es ist der Globus, der uns in der Ära der Globalisierung am meisten fehlt. Das ist wahres Pech: Als wir im klas- sischen Zeitalter der Entdeckungen und Imperien einen Globus hatten, gab es keine Globalisierung; und nun, da wir uns um echte Probleme kümmern müssen […]«54 – Bruno Latour Im Jahr 1964 lässt der Regisseur John Huston in seinem Film The Night of the Iguana (das gleichnamige Theaterstück von Tennessee Williams hatte zwei Jahre zuvor am Royal Theatre am Broadway Premiere) den Schauspieler Richard Burton, einen nun als Reiseleiter tätigen, ehemaligen Pfarrer, Reverend Dr. T. Lawrence Shannon, mit einer aus Frauen bestehenden Reisegruppe nach Mismaloya, dem »place where they grab fish with their hands« in Mexiko reisen. Auf dem Weg dorthin passiert die Gruppe junge Männer am Straßenrand, die Leguane in die Höhe halten. Auf die einigermaßen entsetzte, den xenophoben Erwartungen der Reisegruppe und Film- zuschauer entsprechende Nachfrage einer Reisenden, ob es denn wirklich wahr sei, dass die »Einheimischen« jene »hässlichen Kreaturen wirklich essen« würden, reagiert Richard Burton alias Lawrence Shannon, indem er den Busfahrer bittet, an einer Brücke zu halten. Unten am Fluss wird den reisenden Damen ebenso wie den zwangsweise mitreisenden Filmzuschauern ein Bild ungeteilter Verbundenheit ge- boten: unberührte Natur und harmonische Eintracht, dargestellt von tollenden 51 Derrida: »Die différance«. 52 Siehe dazu: Flach: Der Bilderatlas im Wechsel der Künste und Medien. 53 Douglass: My Bondage and My Freedom (1855), S. 40. 54 Latour: »Some Experiments in Art and Politics«. NAVIGATIONEN ZUKÜNFTIGE ME DI ENÄSTHE TIK 129 SABINE FLACH Hunden, spielenden Kleinkindern und die Wäsche im Fluss waschenden Frauen, das zum Film-Bild geronnene Paradies also, was Reverend Shannon dann auch auf sprachlicher Ebene zur Sicherheit nochmals wiederholt – »Ein Moment von Schön- heit … einen Blick erhaschen … ein Fenster zur verlorenen Welt der Unschuld.« Der österreichisch-US-amerikanische Künstler Mathias Kessler übernimmt für The Night of the Iguana Revisited diese und andere ikonische Szenen aus dem Film in seine Foto-Multimedia-Installation, die vor allem auch immer wieder das – mittler- weile zur Ruine zerfallene – ehemals berühmte Filmset zeigt, in dem die menschli- chen Dramen des Films, nämlich das Ringen um das bloße Leben und die Bedin- gungen menschlicher Existenz, stattfanden. Das ursprüngliche Filmmaterial wird von Kessler mit Aufnahmen von gegenwärtigen Reisegruppen in Mismaloya, deren Okkupation des Ortes, an dem die Attraktion – nämlich die Suche nach dem exis- tentiellen Paradies, die schon den Film ausmachte – nun zur Nebensache gerät und durch Massentourismus ersetzt wird. Kessler verbindet die Schwarz-Weiß-Aufnah- men des Originalfilms mit den Farbaufnahmen seiner eigenen Vor-Ort-Besuche in Mexiko, sodass die Bilderfolgen wie Ausrisse aus Fotoalben erscheinen, deren künstlich erzeugte Narration und Zeugenschaft des »Es ist so gewesen« durch das Entfernte, Herausgerissene der Künstlichkeit entlarvt wird. Denn: So war es nie. Mit Kesslers Foto-Installation betritt man ein visuelles Palimpsest: Die Schwarz- Weiß-Aufnahmen des ursprünglichen Films erinnern an eine Grisaille – dies umso mehr, als sie wie eine semipermeable Schicht unter den Farbaufnahmen liegen und durch diese hindurchzuscheinen scheinen. Abb. 11: Mathias Kessler: The Night of the Iguana Revisited, Mismaloya Village, Jalisco, Mexico, 2015. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Mathias Kessler. NAVIGATIONEN 130 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY Abb. 12: Mathias Kessler: The Night of the Iguana Revisited, Mismaloya Village, Jalisco, Mexico, 2015. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Mathias Kessler. In Kesslers Werk wird die Beziehung zwischen dem Film und seiner Foto-Installa- tion zum Palimpsest – in dem Sinn, dass sich der Film in die Bilder der Installation und die Bilder der Installation in den Film einschreiben. In diesem Verhältnis lassen sich Spuren erkennen, die in beiden zurückbleiben; ihnen ist eine Verweisstruktur eigen, indem sie aufeinander deuten, denn jede von Kesslers Arbeiten ist Bearbei- tung oder Veränderung immer schon vorhandener Bilder. Damit allerdings ist sein Werk eben gerade kein Lieferant für bereits bestehende Bilder, sondern The Night of the Iguana Revisited avanciert zu einem Denkraum, in dem umso eindringlicher über den Sehnsuchtsort des paradiesischen Naturzustands und dessen Konterka- rierung durch den Massentourismus – der alles Natürliche zur standardisierten He- terotopie, die sodann in ihrer Substanz unwiederbringlich zerstört wird, werden lässt – reflektiert wird. Die Kompositionstechnik Kesslers ist ein Oszillieren, eine Bezugnahme, ein Sich-Einschreiben zweier Medien – der Schwarz-Weiß- und Farb- bilder – ineinander. Die künstlerische Arbeit ist hier – einerseits – sowohl Eingriff in bereits Formuliertes, sich einschreiben in vorgegebene Bilder, ein Experimentie- ren mit dem Material als auch – andererseits – bloße Präsentation des bereits Vor- handenen, Verwalter von Techniken und Materialien, Zeuge der Ereignisse des Missbrauchs und Zerfalls dessen, was eigentlich gesucht wird: Natur.55 Ein ähnliches Prinzip der Verwendung verschiedener Medien, die sich ineinan- der einschreiben – und so das Meta-Medium56 der Kesslerschen Film- und Video- arbeiten ausmachen –, liegt auch der Film-Installation Das Resort zugrunde, deren Referenz Chris Markers Film La Jetée darstellt. Der 28-minuten lange Schwarz- Weiß-Film von Chris Marker ist ein Still-Image-Film, also ein Film, der gänzlich oder zumindest zu großen Teilen aus Standbildern besteht. Gezeigt wird in La Jetée die Geschichte eines post-nuklearen Kriegsexperiments. Wissenschaftler versuchen, 55 Vgl. Flach: »Anthropocene and Art by the Example of Mathias Kessler’s Work«. 56 Also eben keine Inter- oder transmedialen Verweise, sondern vielmehr die komplexe Ver- weisstruktur zu eigen haben, etwa zeitlich gegen-chronologisch zu arbeiten. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 131 SABINE FLACH die Zeitreise zu erforschen, um Probanden in der Zeit – und der Geschichte – rei- sen zu lassen: »to call past and future to the rescue of the present«. Auch Kesslers Das Resort arbeitet mit dem Prinzip des Still-Image-Films, der Kombination von Bewegt- und Standbildern und Zeitreisen gegen die Chronologie der ablaufenden Zeit, um zwei verlassene Milieus zu präsentieren: die derzeit lee- ren Skigebiete und Touristenorte in der alpinen Region Österreichs und die dem- entsprechenden Orte in Schweden. Wir sehen in Kesslers Szenario ein Kind, das beim Aufwachen den normalerweise geschäftigen Skiort verlassen vorfindet. Wie aus der Zeit gefallen und arretiert, steht alles auf unheimliche Weise still, vor allem die Seilbahnen, die die Landschaft bestimmten und mit denen unter anderen Um- ständen Touristen im stetigen Loop, einem medialen Closed-Circuit gleich, die Berge hinaufgetragen werden, um dann wieder hinab zu wedeln. Im Film Das Resort sieht man lediglich in weiter Ferne, vereinzelt Menschen, die leeren Straßen überqueren. Verlassenheit und Leere bestimmt in den folgenden Monaten das Leben des Kindes, das – im seltsamen Vakuum – nur die Erfahrung von in Schutzkleidung vermumm- ten, isolierten, auf Distanz zueinander gehaltenen Menschen machen kann. Parallel dazu intensiviert sich an Stelle der direkten zwischenmenschlichen Interaktion die medial gestützte Kommunikation, die im virtuellen Raum stattfindet, in welchem sich – einem Vakuum gleich – Zeit- und Raumerfahrung verlieren. In Kesslers Film wird die technologische Kommunikation immer präsenter, bis sie schließlich per- sönliche Beziehungen vollends ersetzt. AI Chatbots und autonome Programme in- filtrierten jede andere Form der Konversation. Gezeigt wird diese Unbehaustheit, die an die Stelle von komplexer sozialer Interaktion getreten ist, durch die Bilder einer Drohne, die Mathias Kessler für diesen Film eingesetzt hat, um somit die An- nahme einer gesunden, weil natürlichen, Umwelt zu perpetuieren, und die Auswir- kungen des Ausbruchs einer Pandemie, durch einen für den Menschen ohne Hilfs- mittel nicht sichtbaren Virus, zu zeigen. Im weiteren Verlauf der Filminstallation lässt Kessler Menschen paranoid werden; Städte werden zerstört und Regierungen versagen und kollabieren. Das Drehbuch zu diesem Film wurde von Ron Kanacke entworfen. Der Autor entwirft ein Szenario, das auf den Erinnerungen des Kindes von dem leeren Skiort und seinen lebensprägenden Erfahrungen mit diesem basiert. Das Drehbuch nimmt die Form einer Unterhaltung an, die von Erinnerungen durchbrochen wird. Es ent- steht ein Oszillieren zwischen Traum und Realität, um aufzuzeigen, wie sich der im Verlauf des Films irgendwann junge Mann bemüht, seinen eigenen Erinnerungen zu vertrauen und einen Sinn aus den Ereignissen, die zu dem Alptraum führten, zu machen. Mathias Kessler zeigt uns diese Szenarien mit Aufnahmen von Drohnenbildern, die er zu seiner Film-Installation montiert. Wir sehen Orte aus dem Kleinwalsertal und anderen Orten Vorarlbergs sowie der Touristenorte Lech und Innsbruck. Die autonome Navigation der Drohne, die ohne menschliche Kontrolle und ohne selbst gesehen werden zu müssen, diese Aufnahmen macht, zeigt eine Welt ohne Men- schen. NAVIGATIONEN 132 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY Abb. 13: Mathias Kessler: Das Resort, 2021. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Mathias Kessler. Abb. 14: Mathias Kessler: Das Resort, 2021. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Mathias Kessler. Abb.15: Mathias Kessler: Das Resort, 2021. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Mathias Kessler. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 133 SABINE FLACH 5. MOURNING THROUGH MEDIA. BUNNY ROGERS »It was an isolated incident, but it felt like it really im- pacted our entire world. But like many of us, we were mourning this event through the media. I also felt that way on September 11th«57 The Columbine shooting affected me in ways that I wouldn’t even fully understand the gravity of until I was older. (…) Media shifted to where now you choose the channel you want to follow. When I was younger, it felt like something happened and you saw it everywhere. The footage for the Columbine shooting is so clear in my memory. I’m able to recall it with such visual accuracy. It’s as if it exists in my head as a reel.58 Am 20. April 1999 töteten die Schüler Eric Harris und Dylan Klebold der Colum- bine High School zwölf Mitschüler und einen Lehrer, und verletzten 24 weitere Personen, bevor sie in der Bibliothek der Schule Suizid begingen. Selbst mehr als 20 Jahre später ist das Columbine Massaker in den Medien noch allgegenwärtig, mit der Berichterstattung und Dokumentationen von tatsächlichen Nachahmer-Mas- senerschießungen, mit den jährlich sich wiederholenden Trauerfeiern und -bekun- dungen, die Zeugnis abgeben von der Unmöglichkeit, solchen Wahnsinn je zu ver- arbeiten, mit Trauerwebseiten im Internet von getöteten Opfern, ebenso wie Websites der Verehrer:innen, sowie Musik, diversen Publikationen, Filmen, Fern- sehsendungen, Foren, und endlosem, schmerzvollem, gequältem Nachdenken über das Warum.59 Mit drei Ausstellungen und somit drei getrennten, aber doch zusammengehö- renden Werkeinheiten, Columbine Library (2014) und Columbine Cafeteria (2016), sowie Brig Und Ladder (2017) rekonstruiert Bunny Rogers mit diversen analogen und digitalen Medien zwei Orte des Columbine Massakers: die Bibliothek und die Cafeteria, an denen sie zudem reale found objects, wie typische Lesesaal Stühle und Cafeteria Tische installiert, zusammen mit Plüschtieren und Schultaschen, die an die MTV Serie Clone High60 angelehnt sind. Columbine Library thematisiert das Massaker und seine Rezeption und verwen- det Zeichentrickfiguren aus der Y2K-Ära als Ersatz für die Identität von Harris und Klebold sowie für die Künstlerin selbst. Die Videos Poetry Reading in der Columbine 57 Goldstein: »Processing Trauma: Artist Bunny Rogers on Using Her Work to Explore the Columbine Massacre’s Lingering Impact«. 58 Ebd. 59 Wolin: »Bunny in the Headlights«. 60 Clone High ist eine Cartoon-Serie, die zwischen 2002 und 2003 auf MTV ausgestrahlt wurde. Die US-amerikanische Armee setzt Genkopien in die Welt, um deren Eigenschaf- ten für sich zu nutzen – so der Plot. Der Humor der Serie entwickelt sich durch den Kontrast der Persönlichkeit der Klone in der High-School mit den Werten der histori- schen Namensgeber. Vgl.: Bunny Rogers-kind kingdom 2020, S. 41. NAVIGATIONEN 134 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY Library mit Jeanne d’Arc und Poetry Reading in der Columbine Library mit Gaz zeigen Zeichentrickfiguren, die die sehr morbiden Gedichte der Künstlerin rezitieren.61 Abb. 16: Bunny Rogers, Poetry reading in Columbine Cafeteria with Gazlene Membrane, 2014, Animated Film / 20’. Quelle: The Heart is a Lonely Hunter, Ausstellungskatalog, YARAT Con- temporary Art Centre, Sabail District, Baku, Azerbaijan, 2016, S. 20. In Columbine Cafeteria hört man instrumentale Versionen der melancholischen Mu- sik von Elliott Smith. Die Installation ist angefüllt mit falschen Schneeflocken, die von der Decke rieseln und den Boden bedecken, auf dem überdies Jack-O-Lantern Kerzen stehen und den Raum somit in ein seltsam anmutendes, surreales, melan- cholisches Environment verwandeln, in dessen Mitte ein Piano steht. Abb. 17: Bunny Rogers, Mandy's Piano Solo in Columbine Cafeteria, 2016 (Videostill aus Bunny Rogers, Colum- bine Cafeteria Recital, 2016). Quelle: Bunny Rogers – kind kingdom, Austel- lungskatalog, Bregenz: Kunsthaus Bregenz, 2020, S. 47. 61 Archey: »Bunny Rogers: Columbine Library«. Die weiteren Teile der komplexen Installation Rogers werden wie folgt beschrieben: »Further works in Columbine Library include Clone State Bookcase, a life-size replica of a Columbine High School library bookcase filled with custom-produced plush toys recalling an item found on the gaming website Neopets, festooned with what Rogers terms mourning ribbons and appropriately titled Elliott Smith after the deceased singer. In an adjacent room lie replicas of massacre-era and revamped versions of Columbine High School chairs, draped with either custom- produced backpacks sporting velour roses and hand-beaded patches of Gaz’s and Joan of Arc’s faces or duffel bags inspired by those in which Harris and Klebold hid bombs. These saccharine-looking duffel bags are also strewn ominously throughout the gallery, including under the viewing benches (also produced in this institutional Columbine style) in Soci- ety’s screening rooms. Less remarkable are a series of framed, 3D-rendered self-portraits as Clone High’s Joan of Arc in various poses.« NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 135 SABINE FLACH An einer Wand des Installationsraums sieht man ein 3D rendering der Cafeteria der Columbine High School. Auch dort schneit es, auch dort ist in der Mitte der Cafe- teria ein Piano platziert, an dem eine, aus einem Cartoon kommende junge Frau, ein Glas Rotwein mit sich führend, in seltsam zerfetzter Kleidung mit ungleichen Schuhen Platz nimmt, und zu spielen beginnt.62 Diese Figur ist Mandy63, aus der Episode Snowfall der Serie Clone High. Das gesamte Szenario ist ernst, traurig, ent- sagend. Brig Und Ladder (2017) – der letzte Teil ihrer Trilogie – zeigt ein animiertes 3- D-Video, A Very Special Holiday Performance in Columbine Auditorium, eine Auffüh- rung des Musical Songs Memory aus dem Musical Cats, dargeboten von drei stilisier- ten Clone High Charakteren in russischer Sprache. Abb. 18: Bunny Rogers: Installation view of Brig Und Ladder (Whitney Museum of American Art, New York, July 7-October 9, 2017). From left to right: Columbine Auditorium seating, (2017); A Very Special Holiday Performance in Columbine Auditorium (2017); Tilikum body pillow (2017). Quelle: Goldstein, Caroline: »Processing Trauma: Artist Bunny Rogers on Using Her Work to Explore the Columbine Massacre’s Lingering Impact«. Artnet, 9. August, 2017, 26.02.2021. 62 Fateman: »Bunny Rogers, Greenspoon Gallery«. Die weiteren Teile dieser komplexen In- stallation werden wie folgt beschrieben: »Enchanted mops, Halloween apples, institu- tional furniture, rubber garbage cans, ballet slippers, a storybook key, and stained-glass panels were among the curious, mournful, and ominous objects on view in this poetic, almost austere, installation. They were part of a highly stylized, fantasy re-creation of the suburban Colorado high-school cafeteria where students Eric Harris and Dylan Klebold began the 1999 massacre that took fifteen lives (including, finally, their own).« 63 Mandy ist »an unnamed character who appears in the ›Snowflake Day‹ episode of Clone High, an animated television series that aired briefly on MTV in the early ’00s, in which clones of disparate historical figures are classmates. To Rogers, Mandy, who is voiced by the teen pop star Mandy Moore, symbolizes the power of female friendship to disrupt internalized misogyny. By teaching Joan of Arc’s hostile teen clone about the spirit of Snowflake Day, a fictional holiday about ›appreciating friends and supporting one another,‹ Mandy transforms her.« Vgl.: Fateman: »Bunny Rogers, Greenspoon Gallery«. NAVIGATIONEN 136 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY Dieses 3-D-Video wird in einen abgedunkelten Raum mit sechs Theatersitzen pro- jiziert, auf denen die Besucher:innen Platz nehmen. Diese Sitze vermitteln den Ein- druck, in einer Simulation des Originals zu sein. Die Bühne im Video ist bis auf ein paar Plastikstühle völlig leer. Die Charaktere sind seltsame Avatare, halb des illusi- onistischen digitalen Renderings, halb der Flächigkeit einer Karikatur zugehörig. Der Pianist spielt ein kurzes Stück, dann treten zwei weitere Pianisten auf, stilisiert mit glatten, u-förmigen Gesichtern, mit abgeflachten, abgeschnittenen Köpfen, aus denen Haarschichten hängen, und ihre ständig niedergeschlagenen Augen werden durch einfache geschwungene Linien dargestellt.64 Die Szenerie in Brig Und Ladder erscheint ebenso komplex, melancholisch und bizarr wie in den beiden weiteren Teilen der Trilogie. Wird man sich in der Rezeption bewusst, dass das Thema der Trilogie ein Massaker ist, ist die Irritation, die Hilflosigkeit umso größer. Bunny Rogers’ künstlerische Praxis des Sampling und der Appropriation kreiert ein Kunstwerk, in dem verschiedene Medien, Zeitgeschichte, Populärkultur, realer, imaginierter und virtueller Raum, verschiedene Schichten des Kunstwerks erzeu- gen, die sich übereinander lagern, und die miteinander neue Ebenen des Kunst- werks erzeugen, die durch eine Analyse der einzelnen Medien allein nicht be- schreibbar ist. Das Thema von Bunny Rogers ist indes nicht die konkrete Wiedergabe des Massakers an der Columbine High School ebenso wenig wie ein psychologisches Porträt der Mörder. Vielmehr befragen die Kunstwerke von Bunny Rogers: In der Verwendung der geradezu hysterischen Bilderflut der Medien von den entsetzli- chen Taten, sind die melancholischen Kunstwerke vielmehr ein Zeugnis der Fas- sungslosigkeit und des Entsetzens und stellen die Frage, was soziale Entfremdung ausmacht, die solche Taten ermöglicht, sowie ob und wie ein Erinnern an diese Menschen möglich ist, dass dann auch die Hemmschwellen unserer kollektiven Ver- drängung aufbricht. Wie kann der Trauer, der Klage Raum gegeben werden? Eine der bedeutends- ten Manifestationen der Trauer und der Klage ist die christliche Pathosformel des Kompasses – das heißt kollektives Mitleiden oder Mitgefühl. Die Pathosformel von Compassio ermöglicht es der Gemeinschaft, an einem tragischen Ereignis teilzuneh- men, und geht über die Systeme hinaus, die durch die Affekttheorien und die kog- nitiven Wissenschaften entwickelt wurden, in denen Leiden, Wehklagen und Mit- leiden, Mitklagen mit einem Gefühl der Abneigung verbunden sind.65 Bunny Rogers Installationen sind somit Endstationen, versuchte Annäherungen an Ausweglosigkeit und Tod, die gerade, weil sie Mechanismen wie Monumentali- sierung, Pathosstrategien der Verdrängung und der Fiktionalisierung beiseitelassen, dem:der Betrachter:in Raum geben, sich zu konfrontieren. Die Installationen von 64 Vgl. zur Beschreibung von Brig Und Ladder: Joseph R. Wolin: »Bunny in the Headlights«. Auf der rechten Seite befindet sich zudem ein Plüschtier, das an den Orca Tilikum erinnert, der von 1992 bis 2017 im SeaWorld Orlando in viel zu kleinen Becken tierquälerisch ge- halten wurde und dessen Stressreaktionen u. a. die Tötung von drei Menschen war. 65 Vgl. dazu Flach/Söffner (Hrsg.): Habitus in Habitat II. Other Sides of Cognition. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 137 SABINE FLACH Bunny Rogers bilden dafür den Reflexionsraum und gehen damit über die Unaus- weichlichkeit der Faktizität des Historischen hinaus.66 6. REMEMBERING THE FUTURE. RESUME Im Manifest des Metamodernismus wird ein spezifisches Geschichtsverständnis formuliert: The present is a symptom of the twin birth of immediacy and obsoles- cence. Today, we are nostalgists as much as we are futurists. The new technology enables the simultaneous experience and enactment of events from a multiplicity of positions. Far from signaling its demise, these emergent networks facilitate the democratisation of history, illu- minating the forking paths along which its grand narratives may navigate the here and now.67 Diese Form des Verständnisses wirft Fragen auf: Wie entwirft Kunst Geschichte? Und wie und wodurch entwirft Kunst Geschichte anders, als schlicht chronologi- sche, teleologische Historie? Diese Kunstwerke sind ein Reflexionsraum, doch wie gehen sie über die Unvermeidlichkeit der Faktizität des Historischen hinaus? Wel- che Wirkung wird etabliert, die den Unterschied zu jenen Vorlagen ausmacht, die als Dokumente der blinden Faktizität des Medienzeitalters gelten können?68 Die diskutierten künstlerischen Positionen, die beispielhaft für Praktiken der Metamoderne stehen, zeigen – im Hinblick auf den Einsatz der Medien und den damit erzeugten Weltentwürfen – für ein komplexes Geschichtsverständnis eines: Realität und Gegenwart nicht allein als faktische Gegebenheit einer bereits vorhan- denen Umwelt zu verstehen, sondern vielmehr die der Geschichte eigene Virtuali- tät und Fiktionalität mit der Offenlegung der Medien ins Kunstwerk zu holen. Dass aber die Offenlegung der Mittel ganz bewusst eingesetzt wird, um im Anschluss eine Illusion zu erzeugen, das wird deutlich, wenn man reflektiert, dass diese Of- fenlegung für den:die Betrachter:in ein Moment der Realitätserzeugung darstellt. Die Sichtbarkeit der Erzeugung des Kunstwerks lässt dieses ganz auf die Ebene der Realität zurückfallen. Dieser Einbruch, dieses Hineindringen ins Reale, erzeugt also in keinem Moment den Eindruck der Illusion, weil sie die Ebene der Wirklichkeit des:der Betrachter:in nicht verlässt. Umso größer ist dieser Einbruch ins Reale, denn solchen Kunstwerken gehört dann die dem:der Betrachter:in adäquate Realität als solche an.69 Erzeugt werden Ereignisse, Szenarien, Zonen und Passagen, in denen 66 Flach: »Meine Bilder sind klüger als ich...Der Bilderatlas als Konfiguration des Wissens in der Gegenwartskunst«, S. 68. 67 Turner: »Metamodernist//Manifesto«. 68 Vgl. Flach: »Meine Bilder sind klüger als ich...Der Bilderatlas als Konfiguration des Wissens in der Gegenwartskunst«. 69 Flach: »Feel the Feeling. Media-Installations as Laboratories of Senses«, S.81. NAVIGATIONEN 138 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK I WATCH THAT WORLDS PASS BY Bedingungen zur Sichtbarkeit gelangen, Möglichkeiten und Optionen, die eine am Rande der Realisierung schwebende Zone von virtuellen Erfahrungen zulassen.70 In diesen visionären Erfahrungen des Kunstwerks spielt dann die Fiktion für die jewei- ligen Weltentwürfe eine wichtige Rolle, die lange nicht mehr das Gegenteil von Fakten meint, sondern die ganze Spanne von fingere einschließt, das heißt Formen, Bilden, Gestalten, Annehmen, Hervorbringen und Vorstellen. In diesem Sinne sind die hier vorgestellten künstlerischen Positionen durch die Verwendung der Medien explizit sowohl Abweichung von einer einmal gesetzten Bedeutung als auch gleichzeitig ein Aufschub, eine Verzögerung, dieser sofort eine neue Bedeutung entgegenzusetzen.71 Sie arbeiten eben gerade nicht nur Gegen- modelle zu einer Realität heraus, sondern verweben Fiktion und Reales zu einer Erfahrungsebene, in der sie also alles andere sind als schlichte Illustrierung, blinde Mitteilung und Veranschaulichung von Geschichte, und es wird deutlich, dass all das, was man an historisch-kulturell-politischer lange schon eingeübter Interpreta- tion auf diese Arbeiten projizieren will, durch sie verweigert wird, durch sie gleich- sam hindurchfällt. Diese Kunstwerke entziehen die politischen, kulturellen und me- dialen Ereignisse unserer Zeit dem Strom einer einebnenden Narrativität der Historie, sie verweigern ein episches Kontinuum. Sie erlauben den »Blick zurück nach vorn«72. 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Anri Sala: Answer Me, 2008. Julien, Isaac: Lessons of the Hour, Video Installation, 2019. Kessler, Mathias: The Night of the Iguana Revisited, 2016. Kessler, Mathias: Das Resort, 2021. Bunny Rogers: Columbine Library, Installation, 2014. Bunny Rogers: Columbine Cafeteria, Installation, 2016. Bunny Rogers: Brig Und Ladder, Installation, 2017. ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Cao Fei: BMW Art Car #18, Augmented Reality still (Detail) BMW Art Car nach Vorbild des BMW M6 GT3, 2017. Quelle: Botz, Anneli: »Cao Fei. Zeital- ter der Ungewissheit«, in: KUNSTFORUM International, Bd. 252, Moderne, reloaded, 2018, S. 206-217. Abb. 2: Cao Fei: BMW Art Car #18, Unmanned, Video, 04:51 min, Film Still, 2017. Quelle: Botz, Anneli: »Cao Fei. Zeitalter der Ungewissheit«, in: KUNSTFO- RUM International, Bd. 252, Moderne, reloaded, 2018, S. 206-217. Abb. 3: Cao Fei: La Town, Supermarket, 2014 (70 x 130 cm, C-print). Quelle: McDonough, Tom: »The Chinese City Between Dream World and Catastro- phe«, in: Parkett, Nr. 99, 2017, S. 20-35, hier S. 28. Abb. 4: Cao Fei: La Town, Theater, 2014 (80 x 120 cm, C-print). Quelle: McDonough, Tom: »The Chinese City Between Dream World and Catastro- phe«, in: Parkett, Nr. 99, 2017, S. 20-35, hier S. 30. Abb. 5: Anri Sala: Anri Sala: 1395 Days without Red, 2011 (A film by Anri Sala, Single-channel HD video and 5.0 surround sound, 43'46''). Quelle: Flach, Sab- ine: »Answer Me. Anri Sala«, in: Brüstle, Christa (Hrsg.), Music and Landscape / Soundscape and Sonic Art, 2019, S. 261-280, hier S. 262. Abb. 6: Anri Sala: 1395 Days without Red, 2011, (A film by Anri Sala, Single-channel HD video and 5.0 surround sound, 43'46''). Quelle: Flach, Sabine: »Answer Me. Anri Sala«, in: Brüstle, Christa (Hrsg.), Music and Landscape / Soundscape and Sonic Art, 2019, S. 261-280, hier S. 262. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 143 SABINE FLACH Abb. 7: Anri Sala: Answer Me, 2008, (Single-channel HD video and stereo sound, Duration: 4:51 min). Quelle: Flach, Sabine: »Answer Me. Anri Sala«, in: Brüstle, Christa (Hrsg.), Music and Landscape / Soundscape and Sonic Art, 2019, S. 261-280, hier S. 270. Abb. 8: Isaac Julien, Lessons of the Hour, 2019. (Ten-screen installation. 35-mm- film and 4k digital, colour, 7.1 surround sound. 28'46''). Quelle: Fateman, Jo- hanna: »Best of 2019«, in: Artforum, December 2019, S. 172. Abb. 9: Isaac Julien, The North Star (Lessons of The Hour), 2019. Quelle: Banning, Kass/Crichlow, Warren: »A Grand Panorama: Isaac Julien, Frederick Douglass, and Lessons of the Hour«, in: Film Quarterly, Jg. 73, Nr. 4, Summer 2020, S. 11-24, hier S. 12. Abb. 10: Isaac Julien, J. P. Ball Salon, 1867 (Lessons of the Hour), 2019, Quelle: Banning, Kass/Crichlow, Warren: »A Grand Panorama: Isaac Julien, Frederick Douglass, and Lessons of the Hour«, in: Film Quarterly, Jg. 73, Nr. 4, Sommer 2020, S. 11-24, hier S. 16. Abb. 11: Mathias Kessler: The Night of the Iguana Revisited, Mismaloya Village, Ja- lisco, Mexico, 2015. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Mathias Kess- ler. Abb. 12: Mathias Kessler: The Night of the Iguana Revisited, Mismaloya Village, Ja- lisco, Mexico, 2015. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Mathias Kess- ler. Abb. 13: Mathias Kessler: Das Resort, 2021. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Mathias Kessler. Abb. 14: Mathias Kessler: Das Resort, 2021. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Mathias Kessler. Abb. 15: Mathias Kessler: Das Resort, 2021. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Mathias Kessler. Abb. 16: Bunny Rogers, Poetry reading in Columbine Cafeteria with Gazlene Mem- brane, 2014, Animated Film / 20’. 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DIGITALE MEDIEN- KUNST POSTAFRIKANISCHER ZUKÜNFTE Tabita Rezaire: Deep Down Tidal (2017) V O N K A T R I N K Ö P P E R T 1. EINLEITUNG »Es gab einen Moment, da sprach niemand im Zusam- menhang mit Afrika über die Zukunft. Jeder nahm an, wir seien ein hoffnungsloser, zu Chaos und Unordnung berufener Kontinent. Das ist nicht mehr der Fall. Es wurde unterstellt, die Zukunft sei geschrieben – alles, was wir tun mussten, war uns zu fügen. Will man heute etwas anmerken, so muss es mit der Tatsache zu tun ha- ben, dass die Zukunft offen ist«.1 Der Betrachtung Afrikas als der ultimativen Dystopie stellt Achille Mbembe die Of- fenheit der Zukunft gegenüber. Noch nicht geschrieben, noch nicht qua Algorith- men vorherbestimmt, assoziiert er die Zukunft Afrikas mit dem Potenzial tiefgrei- fender Veränderungen. Es sind dabei die aufgrund post-/kolonialer Bedingungen nicht wahrgenommenen und nicht formulierten Gelegenheiten, die das Fenster zur Zukunft aufstoßen.2 Bisher qua materieller Extraktion, epistemischer Kolonisierung und totalisierter Wahrnehmung3 nach weißen westlichen Maßstäben nicht reali- sierte Möglichkeiten sozioökonomischer Formen und technoökologischer Bezie- hungen sind Ausgangspunkt einer Zukunft, die Mbembe als die »Was-wäre-wenn- Welten«4 Afrikas beschreibt. Der durch Kolonisierung fragmentierte und ungleiche Zugang zu Geschichte und Gegenwart ist das Potenzial, an das – jedoch unter Aus- lassung kolonialkapitalistischer Ökonomien – unmittelbar anzuknüpfen sei. Afrika als »die letzte Grenze des Kapitalismus«5 sei das Prinzip der Zukunft der Welt.6 Was wäre also, wenn die Möglichkeiten abseits des Kolonialkapitalismus der 1 Mbembe: »Statement im Rahmen des Festivals African Futures«, Johannesburg, 31. Oktober 2015, S. 35. 2 Mbembe: »Afrika im neuen Jahrhundert«, S. 354. 3 In Rückgriff auf Aníbal Quijanos Konzept der ›Kolonialität der Macht‹ arbeitet Walter D. Mig- nolo neben der politisch-ökonomischen und epistemologischen Kolonisierung die Totali- sierung der Ästhetik als Begriff des Schönen und Erhabenen heraus. Quijano: Kolonialität der Macht; Mignolo: Epistemischer Ungehorsam, S. 50. 4 Mbembe: »Afrika im neuen Jahrhundert«, S. 354. 5 Ebd. 6 Vgl. Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft. NAVIGATIONEN KATRIN KÖPPERT Zukunft Zuflucht sind? Dann hätten wir es mit einer Vorstellung von Zukunft zu tun, die sich von der Idee einer sich in kommende Zeiten linear verlängernden Ge- genwart der Globalisierung verabschiedet hat. Wir kämen aber auch zu einer Per- spektivierung Afrikas, die mit dem rassistischen Stereotyp der Zurückgebliebenheit bricht. Denn der Blick würde frei für ein Afrika, das mit seinen historischen und aktuellen sozioökonomischen und technoökologischen Praktiken der unter dem Vorzeichen weißer westlicher Ideologien stehenden Gegenwart vorgreift. Postaf- rikanische Zukünfte, wie ich sie hier im Anschluss an Tegan Bristow thematisieren möchte, nimmt also auf einen Begriff von Zukunft Bezug, der ausgehend von spe- zifischen afrikanischen ästhetischen Praktiken der digitalen Technologie7 Gegenzu- kunft imaginiert. Zukunft, die sich auf diese Praktiken digitaler Technologien und Ästhetiken beruft, hat die »Grammatik der Dekolonialität«8 in sich aufgenommen. Ich verstehe sie daher als gegen die normativen Schließungen von Zukunft gerich- tet, als Gegenzukunft sozusagen. Das bedeutet zum einen, dass das post in postafrikanischen Zukünften die US- und eurozentrischen Fabulationen eines vorgeblich rückständigen Umgangs mit Technologie vom Standpunkt aktueller ästhetischer Praktiken und digitaler Verfah- ren entlarvt. Das Bild Afrikas wird mit Blick auf aktuelle Entwicklungen von z.B. App- und Robotertechnologien als Fantasiebild kolonialer Herrscher:innen deut- lich. Mit post zeichnet sich aber auch eine weitere Verschiebung ab: Statt afrikani- sche Zukünfte als eine Version des afroamerikanischen Afrofuturismus zu verhan- deln, soll mittels des Präfix post markiert werden, dass – so Bristow – einige afrikanische Künstler:innen zwar sehr wohl von den Mechanismen und Ästhetiken des Afrofuturismus beeinflusst sind, aber ihre Absichten und Arbeiten notwendi- gerweise differenziert betrachtet werden müssen.9 Da der Afrofuturismus nicht zwingend definiert, was diese Künstler:innen mit ihrer Arbeit tun, brauche es eine Perspektive, die ihnen gerecht würde. Ich möchte im Folgenden versuchen, eine solche Perspektive zu entwickeln, wenngleich dies im Spannungsfeld meiner Positionierung als weiße Akademiker:in gewissermaßen aus Distanz erfolgt. Am Beispiel von vor allem Deep Down Tidal10 (2017) von Tabita Rezaire möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern sich in der Ästhetik ihrer digitalen Medienkunst postafrikanische Zukünfte artikulieren, die ich als Gegenzukunft im Sinne von Dekolonialität verstehe. Dabei wird zu sehen sein, 7 Bristow spricht in dem Zusammenhang von »African cultures of technology« bzw. »afrikani- schen Technologie-Kulturen«. Bristow: »Cultures of Technology«; Bristow: »Zugriff auf Geister«. 8 Vgl. Mignolo: Epistemischer Ungehorsam. 9 Vgl. Bristow: »From Afro-Futurism to Post African Futures«, S. 169f. Bristow bezieht sich hier u.a. auf Pamela Phatsimo Sunstrum, die den Term ›African Futurism‹ in kritischer Auseinandersetzung mit den oft nicht stimmigen Übersetzungen des diasporischen Kon- zepts des Afrofuturismus auf afrikanische Mythologien der Gegenwart und Zukunft ge- prägt hat. Sunstrom: »Afro-Mythology and African Futurism«. 10 Es empfiehlt sich die Arbeit vorab zu schauen: https://vimeo.com/248887185, 08.04.2021. NAVIGATIONEN 146 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK RIFTED ALGORITHMS dass die Zukünftigkeit ihrer Medienästhetik weniger in den Fragen nach der Medi- enästhetik der Zukunft bzw. nach der Ästhetik zukünftiger Medien aufgeht, als in der von Walter D. Mignolo argumentierten dekolonialen Option von aestheSis.11 Danach – so meine These – münden Tabita Rezaires kritische Reflektionen des di- gitalen Kolonialismus in Verfahren digitaler Medienkunst, deren Ästhetik auf Basis des Sinnlichen, bisweilen des Übersinnlichen Aspekte dekolonialer Heilung einlö- sen. Im Zentrum dieser stehen Formen der Sozialität, die an bestimmte historische afrikanische Kulturen des Digitalen anschließen. Insofern ließe sich sagen, dass sich die gegenzukünftige Medienästhetik Post-Afrikas aus einem Technologie-Verständ- nis ableitet, das mit Natur verkoppelte Sozialität und Spiritualität immer schon in- kludiert. Gleichzeitig wird deutlich, dass sich aufgrund dieses Verständnisses der dekoloniale Begriff von Heilung anders als oft in Bezug auf Rezaire kolportiert12 konfiguriert. Heilung werde ich folglich als den digitalen Code postafrikanischer Zu- künfte behaupten, der als Gegenzukunft Gegenwart umzuprogrammieren erlaubt und dabei nicht mit Holismus zu verwechseln ist. Healing is, instead, a rifted algo- rithm. 2. AFRIKA, ARCHIPELISCH Die in Paris aufgewachsene Künstlerin Tabita Rezaire lebte, bevor sie nach Franzö- sisch-Guayana zog, mehrere Jahre in Südafrika und stellte dort im Rahmen der von Tegan Bristow kuratierten Ausstellung Post African Futures13 aus. Wenngleich Bris- tow mit der Ausstellung dem kritischen Umgang mit einer vorschnell auf Afrika übersetzten Sprache des eher diasporisch verorteten Konzepts des Afrofuturismus Ausdruck verleiht, wird anhand ihrer Entscheidung, Tabita Rezaires Arbeiten zu zeigen, deutlich, wie komplex schließlich die Frage ist, entlang welcher Differenzen die Grenzen zwischen Afrofuturismus und Afrikanischem Futurismus überhaupt ge- zogen werden können. Und so verstehe ich die Entscheidung als ein Statement gegen eine mögliche, essentialisierende Verengung zu formulierender postafrikani- scher Zukünfte. Im Anschluss daran und mit John Akomfrah gesprochen bin ich daher auch nicht an einem Narrativ interessiert, that just says ›Well, since we have had the African-American or the Afro-diasporic take on futures, actually we all need is to add more Af- rican and everything will be cool.‹ Because that is missing the point of the whole project. The point of the project is to question that totalizing impulse. If you understand things as constructed and those 11 Vgl. Mignolo/Vazquez: »Decolonial AestheSis«. 12 Z.B. im Rahmen der Ausstellung Experimental Futures & Immersive Experiences der ZHdK 2020, oder der Reihe New Alphabet School des HKW Berlin 2021. 13 John Akomfrah ist neben Kodwo Eshun für eine Neuverhandlung von Afrofuturismus seit den späten 1990er Jahren entscheidend. Hier ist insbesondere der dokumentarisch-fikti- onalisierte Film The Last Angel of History zu erwähnen. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 147 KATRIN KÖPPERT constructions include questions of identity, it is then incumbent on everyone to specify the ways in which those formations come into be- ing.14 Akomfrah teilt die Kritik am Afrofuturismus nur so weit, als sie weiterhin ermögli- chen wird, zu spezifizieren, wie Formationen z.B. von Identität zustande kommen. Sobald die Kritik nur dazu diene, Afrofuturismus als einen Block zu betrachten, dem der des afrikanischen Futurismus gegenübergestellt würde, sei die philosophische Dimension verschenkt, Identität als etwas zu verstehen, das werde und sich auf- grund von Konstruktion verändere.15 Dass nicht nur Identität, sondern auch der Körper Afrikas werde, artikuliert auch Achille Mbembe. Afrika sei ein »Körper in Bewegung, ein entterritorialisierter Körper, der aus einem Schmelztiegel unter- schiedlicher Arten von Migration besteht«.16 Migration als Sinnbild der Diaspora beschreibt demzufolge den Körper Afrikas als einen Körper in Bewegung, als einen gewissermaßen verflüssigten Körper. Afrika ist daher, dem Erleben der Schwar- zen17 Diaspora ähnlich, mit aquatischen Umgebungen untrennbar verbunden.18 Eine solche Sicht rückt das Archipelische Denken Édouard Glissants in den Mittel- punkt der Auseinandersetzung mit postafrikanischen Zukünften.19 Vom Archipel aus zu denken, bedeutet, den Ozean nicht nur als trennendes, sondern verbinden- des Element zu verstehen. Afrika als ein solcher Ozean ist somit der Ort, der Men- schen, Landschaften und Technologien verbindet. In diesem Sinne spricht auch Nnedi Okorafor von »Africanfuturism« nicht als Wand, sondern Brücke.20 Diese Brückenfunktion ist auch wichtig, um zu verstehen, dass es sich bei der Terminologie der postafrikanischen Zukünfte nicht um die Sorglosigkeit handelt, zu suggerieren, Afrika als koloniales Fantasiebild ohne weiteres hinter sich lassen zu können. Den Präfix post betrachte ich eher als Brücke zwischen den Zeiten. Das Bild der Brücke ermöglicht, postafrikanisch als Zone der Verhandlung zu betrach- ten. Wie es Stuart Hall bezogen auf den Postkolonialismus diskutiert hat, handelt es sich bei postafrikanischen Zukünften nicht um eine konfliktfreie Zone, sondern um eine neue Figuration eines Macht-Wissens-Komplexes, der über das koloniale Afrika hinausgehe, dieses aber nicht als abgeschlossen betrachte.21 14 Akomfrah/Eshun: »The Secessionist Manifestos of Certain Received Wisdoms«, S. 368. 15 Ebd. 16 Mbembe: »Afrika im neuen Jahrhundert«, S. 352. 17 Im Anschluss an Eggers u. a. schreibe ich Schwarz groß, um das Widerständige Schwarzer Subjekte entgegen den entsubjektivierenden Konstruktionen hervorzuheben, Eggers u. a.: »Konzeptionelle Überlegungen«, S. 13. 18 Vgl. Gilroy: Black Atlantic. 19 Vgl. Glissant: Traktakt über die Welt. Vgl. auch Kesting: »Hybride Medien-Archipele«, S. 212. 20 Vgl. Okorafor: »Africanfuturism Defined«. 21 Vgl. Hall: »Wann war ›der Postkolonialismus‹?«, Castro Varela/Dhawan: »Postkoloniale The- orie kritisch betrachtet«, S. 288. NAVIGATIONEN 148 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK RIFTED ALGORITHMS 3. EXTRAKTIVE TIEFENZEIT, DEKOLONIALE RIFTS Auch die Auseinandersetzung Tabita Rezaires insbesondere mit digitalem Kolonia- lismus setzt oft beim Aquatischen an. Das in Netzkunst-Ästhetik gehaltene Video- GIF-Essay Deep Down Tidal aus dem Jahr 2017 problematisiert den Ozean als digi- talisierte Version der Mittelpassage. Das Meer als Metapher für digitale Technolo- gie (im Internet surfen etc.) und als Zeichen für den Transport von (digitalen) Daten (Flaschenpost, Schiffsverkehr, Unterwasserkabel) ist mit der Ausbeutung und dem Tod Schwarzer Körper überschrieben. Die Rhetorik des Silicon Valley, die uns glau- ben machen möchte, das Internet sei schwerelos – wirelessness – und somit nicht an die oft in Afrika zu lokalisierende Realität z.B. der Extraktion von Kobalt (Kongo), von Kupfer (Sambia, Kongo, Namibia) und von Coltan (Kongo) gekoppelt, wird mit dem Bild des Ozeans durchkreuzt, der auch für den transatlantischen Sklav:innen- handel steht. Rezaire konfrontiert das Narrativ der in den Wolken schwebenden Satelliten, das der Selbstverharmlosung und Vermarktbarkeit des Internets22 zuar- beitet und das die auf sozialer Ungleichheit, Rassismus, Sexismus beruhenden Inf- rastrukturen überblendet. Abb. 1 Um das Interesse auf diese Infrastrukturen zu lenken, widmet sich Rezaire den roots & routes des digitalen Alltags, den Glasfaserkabeln. Mit den Glasfaserkabeln lässt sich das Internet nicht länger in der Cloud imaginieren, sondern am auf- 22 Starosielski berichtet von einem Ingenieur, der im Rahmen ihrer ethnographischen For- schung zur Auskunft gibt, die Rhetorik der Satelliten sei sexier, weswegen der Daten- transport noch mit dem Bild des Orbits beworben wurde, als schon längst Unterwasser- kabel genutzt wurden, Starosielski: The Undersea Network, S. 5. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 149 KATRIN KÖPPERT geschwemmten Meeresgrund. Am Grund tauchen sobald die kolonialen Medien- Geschichten transatlantischer Kommunikation auf: Denn die in den Meeresboden eingelassenen Glasfaserkabel folgen den Routen der Telegraphenkabel, die wiede- rum denen der Sklav:innenschiffe entsprechen (Abb. 1).23 Glasfaserkabel, die in das Erdreich der Meere eingebracht werden, um 99% der transozeanischen Kommunikation zu transportieren,24 werden vor dem Hin- tergrund der historischen Referenz Rezaires als Möglichkeitsbedingung der Fungi- bilität sichtbar, das heißt der Handelbarkeit von mit Geld und Profit apostrophier- ten und somit dehumanisierten Körpern und ihren Daten.25 Anders als die Schiffe transportieren die Kabel keine Körper, die – zu Waren deklariert – die Ökonomie konstituieren. Dennoch stellt der Transport der Daten eine weder von Körpern noch Zwang losgelöste Ökonomie der Extraktion dar. Digitale Kommunikation muss daher als Neuanordnung der plantionoscene26 verstanden werden. Dabei ist das in Big Data eingewobene Vokabular des Data Minings nicht nur auf die Ausbeu- tung der zu Waren-Körpern erklärten Daten zurückzuführen, sondern auf die Ex- traktion der für das energieintensive Mining notwendigen Rohstoffe wie Kohle für den Strom der Serverfarmen oder Zinkerz für das Germanium, das sich in den Glasfaserkabeln befindet. Erneut entsteht eine Nähe zwischen zu Daten, Zahlen, Statistiken deklarierten Menschen und nicht-menschlicher Materie, eine Nähe, die Kathryn Yusoff als »Black Anthropocene« beschreibt. Sie sagt: »The proximity of black and brown bodies to harm in this intimacy with the inhuman is what I am calling Black Anthropocene«27. Dahinter verbirgt sich die historische Kategorisie- rung Schwarzer, Brauner und Indigener Menschen als nicht-menschlich, um sie im Kontext der kolonialen Ökonomie – den Rohstoffen gleich – extrahieren zu kön- nen. Blackness ist danach eine Frage entsubjektivierter Materialität. Gleichzeit ist Geologie eine rassifizierte Formation. Yusoff konterkariert damit die plötzliche Popularität des Anthropozän-Diskur- ses, indem sie darauf aufmerksam macht, dass die für Leib und Leben verheerenden Auswirkungen der Extraktion nicht erst mit der Industrialisierung im 19. Jahrhun- dert einsetzten, sondern dem Kolonialismus seit dem 15. Jahrhundert inhärent sind. Sich erst jetzt für den Eingriff des Menschen in die Geologie zu interessieren, beruht auf dem konsequenten Verschweigen, Schwarze, Braune und Indigene Menschen, die in diese Geologie eingebracht sind, seit mehr als fünf Jahrhunderten auszubeu- ten. Das Anthropozän ist also kein Event. Yusoff widerspricht gewissermaßen Donna J. Haraway und Scott F. Gilbert, die sich beide gegen eine Verwendung des 23 Glasfaserkabel sind – wie es Nicole Starosielski ausdrückt – konservativ, weil sie den alten kolonialen Wegen der Kommunikation folgen. Ebd., S. 2. 24 Vgl. Starosielski: »The Underwater Internet«. 25 Vgl. Hartman: »Innocent Amusements«. 26 Der Begriff meint die verheerende Umwandlung von Acker-, Wald- und Weideland in ex- traktive Plantagen auf der Grundlage der Arbeit versklavter Menschen und der Ausbeu- tung von Natur. Vgl. Haraway u.a.: »Anthropologists are Talking«, S. 556f. 27 Yusoff: A Billion Black Antropocenes or None, S. xii. NAVIGATIONEN 150 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK RIFTED ALGORITHMS Begriffs des Anthropozäns als Epoche und für ein Verständnis des Anthropozäns als »boundary event«28 bzw. »transition time«29 aussprechen. Der ›Eventisierung‹ wi- derspricht nach Yusoff, dass es sich beim Anthropozän um ein »nonevent«30 der geologischen Körperlichkeit Schwarzer, Brauner und Indigener Menschen handelt. Wir haben es mit einer Dauer der geologischen Formation von Blackness zu tun, mit der Tiefenzeit – deep time – des sich in die Geologie sedimentierten Rassismus, deep down. Oder mit der unendlichen Periodizität rassistischer Gezeiten, deep down tidal. Entsprechend dieser Tiefenzeit bewegt sich die Animation langsam, nahezu im Zeitlupentempo einer vom Wasserwiderstand verlangsamten Kamera. Die sich ab Minute 4:41 auftuende Welt »from below the water line« erschließt sich – mit nau- tischen Entschleunigungsklängen unterlegt – schleppend und gemäß eines Begriffs des Anthropozäns, der Geologie als rassistische Formation mit der Temporalität der Dauer verknüpft. Das Abfahren eines Unterwassergebirges scheint den Ein- druck zu verstärken, dem wolkigen Cyberspace-Diskurs stünden Sedimentierun- gen von Rassismus gegenüber. Die Grenze zwischen dem Meer und der Wüste, die sich als Lokalisierung der Mittelpassage in die digitale Gegenwart ausdehnt, verläuft fließend.31 Und doch sind die Gräben und Klüfte, die Rezaire inszeniert, mehr als nur Beispiele der Geologie des Rassismus. Die Spalten – so Yusoff – sind auch die Bedingung des Überlebens in rassifiziert entmenschlichten Welten. »Rifted, [the present that seems to be impossible] has lived the Anthropocene as a condition of survival«32, schreibt Yusoff. Als Räume in der Tiefsee, die vom Menschen kaum zu erreichen sind, bilden die rifts Systeme, deren Ontogenesen, Leben zu reanimieren ermöglichen: »As the earth is its own ground and invention, ceaselessly churning its own variations on the ontogeny and orogeny of objects, evolving new forms of life and mineral out of the geologic soup, another inhuman story remains in the caesura that needs reanimation.«33 Rezaire, indem sie sich den Unterwassergräben zuwen- det, versucht die anderen Geschichten des Inhumanen aufzuspüren, die Geschich- ten, die z.B. im Sand die algorithmische Infrastruktur einer dekolonialen Sozialität wiedergeben,34 deren Heilungsbegriff rifted ist. 28 Donna J. Haraway meint im Anschluss an Anna Tsing, dass es sich beim Anthropozän um ein boundary event handelt, weil es mit schwerwiegenden Diskontinuitäten einhergeht. Diese bedeuteten z.B., dass mit dem Anthropozän die Zeit vorbei sei, Refugien für die Existenz biologischer Diversität zu retten. Haraway: Staying with the Trouble, S. 100. 29 Scott F. Gilbert bezeichnet das Anthropozän als eine Zeit der Transition mit offenem Aus- gang und minimiert damit die Wahrnehmung derer, für die sich das »Große Sterben« so dauerhaft wie eine geologische Epoche anfühlt. Gilbert u.a.: »Anthropologists are Talk- ing«, S. 541. 30 Yusoff: A Billion Black Antropocenes or None, S. 8. 31 Vgl. Sharpe: »Antiblack Weather vs. Black Microclimates«, S. 49. 32 Yusoff: A Billion Black Antropocenes or None, S. 63. 33 Yusoff: »Geologic Realism«, S. 26. 34 Vgl. Köppert: »Agropoetics of the Black Atlantic«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 151 KATRIN KÖPPERT 4. SANDIGE ALGORITHMEN Die Sequenz, in der eine Unterwasserkamera sandigen Meeresboden heranzoomt, wird mit Bildstickern versehen, die das Meer als Archiv und Wissensspeicher ge- sunkener Städte, aber auch vergessener Kulturen der Mathematik thematisieren. Auf einem der Sticker sind in Sand eingelassene geometrische Muster zu sehen, die an angolanische und sambische Sona-Sandzeichnungen erinnern (Abb. 2). Abb. 2 Bei diesen komplexen Mustern handelt es sich um einen angewandten Algorithmus. Die geometrischen Visualisierungen von Erzählungen bilden den Code der Chokwe-Kulturen. Er beruht auf der absichtsvollen Geheimhaltung eines speziali- sierten und im Austausch mit den Ahnen befindlichen Wissens insbesondere der männlichen Ältesten.35 Im Kontext des wissenschaftlichen Kolonialismus wurden die Sandzeichnungen z.B. vom Anthropologen José Redhina als rein ästhetische bzw. dekorative Verzierungen von Hauswänden betrachtet. Tatsächlich geht mit dieser Narration verloren, dass wir es hier mit einer frühen Form angewandter afrikanischer Mathematik zu tun haben, die ungeachtet ihrer Entnennung die Ur- sprungsgeschichte der Digitalisierung auf den Kopf stellt. Delinda Collier hebt dabei hervor, dass es sich bei den Zeichnungen um eine Ope- ration handelt, die weitaus mehr als nur ästhetisch im Sinne dekorativer Verschö- nerung ist.36 Ihre Ausführung ist performativ. Die Zeichnungen rund um ein Muster aus Punkten werden beim Geschichtenerzählen vorgenommen und dienen der 35 Vgl. Collier: »From Hut to Monitor«, S. 499. 36 Ebd. NAVIGATIONEN 152 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK RIFTED ALGORITHMS sozialen Funktion, Community herzustellen. Dabei spielen Fehler in der Ausführung eine wesentliche Rolle: Gelächter und sarkastische Bemerkungen, die Fehler kom- mentieren, drücken das Affektive und durchaus Spielerische dieser Kulturtechnik aus.37 Insofern bildet ein solches in soziale Kulturpraktiken des affektiven und spie- lerischen Umgangs mit Mathematik eingewobenes Verständnis der Digitalisierung die Grenze des auf Rationalität beruhenden Technikdeterminismus, der den west- lichen Diskurs des Algorithmischen und seine Ökonomien bestimmt.38 Hinzu- kommt, dass die in ein soziales Netz eingelassene Ausführung des Algorithmus an die Materialität des Sandes gebunden ist. Die indexikalische Beziehung zum Sand und somit zu der Infrastruktur algorithmischer Prozesse wird bei Rezaire entgegen den kolonialen Bestrebungen, sie zu verschleiern,39 reanimiert. Damit treten die interrelationalen Bezüge zwischen Natur, Kultur und Technologie in den Mittel- punkt einer oft unter Bedingungen der Dematerialisierung geführten Debatte algo- rithmisierter Gesellschaftsverhältnisse. Sand kommt in diesem Gefüge eine besondere Rolle zu: Er bildet die Infra- struktur einer Ephemeralität, die verdeutlicht, dass der Rückgriff auf die präkolonia- le afrikanische Mathematik der Sona-Sandzeichnungen eine Originalitätserzählung lediglich insinuieren, nie aber verifizieren kann. Denn – wie auch der angolanische Künstler Kiluanji Kia Henda mit seiner Arbeit A City Called Mirage versinnbildlicht – unterliegen die gezeichneten Codes der durch Wind, Wasser und Wetter ko-kon- stituierten Flüchtigkeit des Sandes.40 Gemäß des ephemeren Sandes haben sich die vornehmlich oral tradierten Geschichten der Zeichnungen immer wieder verän- dert, sodass auch die Rückkehr zu einer präkolonialen Ursprungsgeschichte ver- stellt ist. Zwar klingt mit dem Aufsuchen der Wüste bei Henda und der Tiefsee bei Rezaire der Wunsch an, sich auf einen Raum und eine Zeit zu beziehen, die von der kolonialen Eroberung weitestgehend verschont geblieben sind.41 Doch wird deut- lich, dass sich kraft ihrer Ephemeralität mit ihnen ein Begriff des Algorithmischen verbindet, der fragil, fragmentarisch und unkontrollierbar ist. Heilung, von der Rezaire oft spricht, ist im Zeichen eines solchen Codes folglich weniger von einer Idee der Rückkehr zur vorkolonialen Ganzheitlichkeit inspiriert und ist im Sinne von Dekolonialität keine Mission42 der zu unvernarbter Glattheit führenden Reparatur. Eher betrachte ich mit Blick auf das Beispiel der Sand-Zeichnungen Rezaires Arbeit im Kontext eines Heilungsbegriffes, der von der Doppeldeutigkeit des rifts ausgeht, also der – wie auch Kara Keeling immer wieder betont – »(im)possibility of a politics 37 Ebd. 38 Vgl. Bristow: »Zugriff auf Geister«, S. 231ff., vgl. auch Pfaffenberger: »Fetishised Objects and Humanised Nature«. 39 Vgl. Collier: »From Hut to Monitor«, S. 501. 40 Vgl. Henda/Siegert: »Intervening into the Future Script«, S. 299ff. 41 Vgl. Lehman: »Blue History«. 42 Vgl. Mignolo/Gaztambide-Fernández: »Decolonial Options and Artistic/AestheSic Entangle- ments«, S. 197. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 153 KATRIN KÖPPERT of radical refusal«.43 Die radikale Politik der Verweigerung kolonialer Kontinutäten und des radikalen Bruchs mit der kolonialen Vergangenheit kennzeichnet sich durch ihre Möglichkeiten gleichermaßen aus wie durch ihre Unmöglichkeit. Von einem solchen Heilungsbegriff postafrikanische Zukünfte digitaler Medien(-kunst) abzulei- ten, hieße den Bruch mit der Kolonialität als Bruch, als Narbe, als rift zu figurieren. Und tatsächlich sind gebrochene, fraktale Strukturen einerseits und patches, die wie Flicken und Pflaster Verletzungen im Moment des Heilens ausweisen, andererseits charakteristisch für die Ästhetik Rezaires. 4.1 FRAKTALE, GEGENZUKUNFT DES DIGITALEN Insbesondere das Unterwasser drückt sich durch fraktale Ästhetiken aus, das heißt wir sehen immer wieder die gekerbten Strukturen von zum Beispiel Korallen (Abb. 1 links). Nach Deleuze und Guattari impliziert das Gekerbte das Rastern der Meere zum Zwecke der kolonialen Navigation.44 Hier jedoch spielen Strukturen des Ge- kerbten auf »vergessene Navigationen«45 an und in der Wissensgeschichte der Ma- thematik vernachlässigte Beschreibungen,46 die Rezaire in Referenz auf das Black Atlantis als einer aquatischen Zivilisation reanimiert, die im Kontext des Afrofutu- rismus wichtiger Topos ist.47 Sinnstiftend ist dabei, dass mit dem Black Atlantis ein magischer Raum aufgerufen wird, dessen Methoden zur Ortbestimmung nach an- deren mathematischen Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Des Black Atlantis‘ Mathe- matik ist nach Rezaire das geometrische Muster des Fraktals. Als Deep Down Tidal entstand, beschäftigte sich Rezaire mit Fraktalen und de- ren Beständigkeit. Sie sagt: A fractal can be defined as infinity in a finite space, for some fractal ar- rangements it can also be multiple infinities in one finite space. If you transpose that mathematical definition to political struggles of emanci- pation, you have the finite space of our oppressive racist-rapey-coloni- alist-capitalist-industrial-legal complex, yet within it lies the potential for infinity. Infinity of experiences, of worlds, of ways of being and living no matter how small, or suffocating the finite structure is.48 Das Fraktal, das Rezaire als Unendlichkeit und Möglichkeit in einem endlichen Raum, der Unmöglichkeit, definiert, bildet das Potenzial, die Tiefenzeit des koloni- alkapitalistischen Komplexes umzuwerten und seien die Möglichkeiten noch so 43 Keeling: Queer Times, Black Futures, S. xiv 44 Vgl. Deleuze/Guattari: »1440 – Das Glatte und das Gekerbte«. 45 Rezaire: Deep Down Tidal. 46 Vgl. Eglash: African Fractals. 47 Vgl. Hameed: »Black Atlantis. The Plantationocene«. 48 Ford: »Artist Profile: Tabita Rezaire«. NAVIGATIONEN 154 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK RIFTED ALGORITHMS klein. Fraktale, also geometrische Muster, die, statt einer glatten, eine gebrochene Struktur mit einem hohen Grad an Selbstähnlichkeit aufweisen, dienen Rezaire als Denkfigur und Ästhetik, um eine Gegenzukunft des Digitalen zu entwerfen. Sie ba- siert auf einer Idee der Rekursion und Iteration, die in die Geschlossenheit des Sys- tems das Moment der Unendlichkeit einträgt. Von Grenzen, Einteilungen und Mes- sungen bestimmte Raum- und Zeitkonzeptionen werden mittels der rational nicht mehr begreiflichen Vorstellungsdimension des Unendlichen aufgesprengt. Dabei beschreiben Fraktale einen Algorithmus der Natur, der sich als ökologisch ausweist. Das Beispiel der Korallen ist daher nicht zufällig gewählt. Fraktale Strukturen, die in der Natur vorkommen, sind mit Methoden verbunden, die effizient und nachhal- tig mit Ressourcen umgehen.49 Im Falle der Korallen handelt es sich um »instances of symbiosis«,50 die insbesondere in Tiefseeregionen Refugien der Wiederherstel- lung des ökologischen Gleichgewichts darstellen. Vorstellungen des Gleichgewichts verkoppeln sich dabei auf ästhetischer Ebene nicht mit holistischen Ansätzen, son- dern solchen, die Relationalität auch über Inkompatibilität markiert. 4.2 PATCHING, VERBINDUNGEN OHNE NAHTLOSEN ÜBERGANG Auffällig ist das Verfahren, das ich hier mit patching beschreiben möchte. So werden z.B. Bilder von Korallenstrukturen flickenhaft auf die Bildoberfläche aufgetragen. Relationalität wird über das Übereinanderschichten von Bildern hergestellt, jedoch ohne dass diese amalgamieren.51 Zwischen den Bilden, Strukturen und Oberflä- chen ergibt sich kein nahtloser Übergang. Die rifts zwischen den Dingen, die in Verbindung treten, bleiben bestehen. So schreibt Ramon Amaros, dass das Poten- zial der Verbindung ohne nahtlosen Übergang darin besteht, den Fehler eingebaut und die Inkompatibilitäten behalten zu haben.52 Erst mit den unverfugbaren Unver- fügbarkeiten, die mit den Fehlern und Unvereinbarkeiten einhergehen, kommen wir zu einer Standortbestimmung postafrikanischer Zukünfte des Digitalen. Sie ver- halten sich zur Gegenwart des Algorithmischen konträr, also gegenzukünftig; weil beim Gang über die Brücke, die die Zeiten verbindet, die wunden Bruchlinien des kolonial-kapitalistischen Regimes kenntlich werden und dennoch der Zukunft Chance sind. Die Chance besteht darin, mittels der Fragilität und Inkompatibilität postafrikanischer Identität die digitale Technologie über ihre mit Ökonomien des Profits verbundenen Funktionalitäten hinausweisen zu lassen. 49 Kristin Klein beschreibt in Auseinandersetzung mit Rezaires Arbeit Premium Connect 2017 fraktale Anordnungen von Blättern, die auf effiziente Weise Sonnenlicht einfangen. Vgl. Klein: »Nervous Systems, Deep Dreams«, S. 12. 50 Haraway: Staying with the Trouble, S. 72. 51 Vgl. Pritchard u.a.: »Figurations of Timely Extraction«, S. 170. 52 Amaro: »As if«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 155 KATRIN KÖPPERT LITERATURVERZEICHNIS Akomfrah, John/Eshun, Kodwo: »The Secessionist Manifestos of Certain Received Wisdoms«, in: Gunkel, Henriette/lynch, kara (Hrsg.): We Travel the Space Ways. Black Imaginations, Fragments, and Diffractions, Bielefeld 2019, S. 363- 369. Amaro, Ramon: »As if«, in: Becoming digital - e-flux Architecture, https://www.e- flux.com/architecture/becoming-digital/248073/as-if/, 19.08.2021. Bristow, Tegan: »Cultures of Technology: Digital Technology and New Aesthetics in African Digital Art«, in: Critical Interventions: Journal of African Art History and Visual Culture, Jg. 8, Nr. 3, 2014, S. 331-341. 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NAVIGATIONEN 158 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIGITALLY RE-INVENTING THE MEDIUM I I Was könnte ein Machine-Learning-Modernismus sein? V O N J E N S S C H R Ö T E R 1. EINLEITUNG Wie der Titel dieses Textes bereits andeutet, handelt es sich um die – damals nicht absehbare – Fortsetzung oder Umschrift eines älteren Textes, der sich mit der Frage nach den ästhetischen Potentialen des programmierbaren und daher weitge- hend unspezifischen Computers auseinandersetzte.1 Da diese Maschine in ihren verschiedenen technischen Konfigurationen stets programmiert werden muss, um überhaupt etwas zu sein, ist ihr Verständnis nicht ablösbar von den je spezifischen historischen diskursiven Praktiken, in denen sie zum Einsatz kommt.2 Die Frage nach den ästhetischen Potentialen digitaler Medien – also Ausdifferenzierungen des Computers – muss stets historisch und/oder praxeologisch gestellt werden. Was ist heute die Situation? So genannte künstliche Intelligenz (= KI) gilt als eine wichtige Zukunftstechnologie, als eine wichtige emerging technology. Sie ist ne- ben dem Netz und der virtuellen Realität eine weitere zentrale Ausdifferenzierung des Computers und trägt dabei einen radikalen Zukünftigkeits-Index. KI ist heute wesentlich ›machine learning‹ (= ML), d.h. der Einsatz verschiedener Verfahren, die trainiert werden können, um bestimmte Muster zu lernen, zu erkennen und verschoben zu reproduzieren.3 Schon diese Beschreibung suggeriert einen Bezug zu ästhetischen Fragen, denn wenn es bei ML um Musterkennung geht, dann liegen Fragen der Wahrnehmung nahe – denn Ästhetik bedeutet nichts anderes als Lehre von der Wahrnehmung. Folglich hat sich auch alsbald eine Diskussion über ›AI Art‹ entwickelt.4 Dabei wurde zum wiederholten Male – und oft in Zusammenhang mit anderen spektakulären Vorkommnissen wie dem Sieg von Alpha Go über Lee Sedol – die Frage aufgeworfen werden, ob Maschinen kreativ sein können oder nicht und wenn ja, was dies bedeute.5 Diese Frage soll hier nicht gestellt werden. Vielmehr soll ML als künstlerisches Werkzeug betrachtet werden – und dieses neuartige Verfahren auf eine im Grunde alte, ›modernistische‹ Frage künstlerischer Strategien, nämlich der Frage nach der Reflexion des zugrundeliegenden Mediums, 1 Vgl. Schröter: »Digitally Re-Inventing«. 2 Schon 2004 habe ich dies in Das Netz und die virtuelle Realität argumentiert, lange bevor das einer so genanntem ›Praxistheorie‹ dann auch mal auffiel. 3 Vgl. Alpaydin: Machine Learning. 4 Vgl. Bogost: »AI-Art Gold Rush«. 5 Vgl. zu dieser komplizierten Debatte Schröter: »Artificial Intelligence« und kritisch Mersch: »Kreativität«. NAVIGATIONEN JENS SCHRÖTER bezogen werden.6 Könnte man sich vorstellen, dass die Mustererkennung der ML- Systeme möglich macht, diese scheinbar obsoleten Fragen noch einmal neu zu stel- len? Dazu sei in 2. auf den Diskurs des Modernismus, seine Relationen zu Compu- tern und seine Limitationen eingegangen. Dabei wird die Frage aufzuwerfen sein, ob man die Frage nach der Medienspezifik im »Medium der Digitalität«7 noch ein- mal ganz neu stellen kann oder muss. In 3. soll ein signifikantes Beispiel diskutiert werden. In 4. wird ein Fazit gezogen und die hier diskutierten Fragen werden auf den Diskurs einer ›zukünftigen Medienästhetik‹ bezogen. 2. ANFÄNGE DER KUNST MIT COMPUTERN IM ZEICHEN DES MODERNIS- MUS Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten sich in den USA und von dort ausgehend auch in den anderen westlichen Staaten verschiedene Formen der Abstraktion als beherrschende Kunstströmung. Es entstand in den USA eine Kooperation zwischen den beteiligten Künstler:innen und dem Kunstkritiker Clement Greenberg. Dieser entwickelte unter expliziten Rückgriff auf den Begriff des Mediums eine historische Rechtfertigung für die neuen Formen der Abstraktion in der Malerei, die ihren kom- paktesten Ausdruck in den beiden Aufsätzen American-Type Painting von 1955 und Modernist Painting von 1960 gefunden hat.8 In letzterem betonte er, dass im Mo- dernismus »Gegenstandsbereich jeder einzelnen Kunst genau das ist, was aus- schließlich in dem Wesen ihres jeweiligen Mediums angelegt ist«.9 Um diesen Ge- genstandsbereich zu erschließen, müssten die Künstler:innen Schritt für Schritt ihr Medium analysieren und erforschen, um herauszufinden, welche Konventionen (z.B. das Narrative) anderen Medien entliehen und daher verzichtbar sind. Eines seiner zentralen Beispiele war Jackson Pollock, dessen All-Over-Drip-Paintings die Rolle der Linie, den Fluss der Farbe und eine konzentrierte Auseinandersetzung mit der Fläche in den Mittelpunkt gerückt hätten.10 In den späten 1950er und frühen 1960er Jahren tauchten zwar erste künstle- rische Positionen auf, die mit Greenbergs Ansatz schwer oder gar nicht vereinbar waren (z.B. Pop Art) und die er daher auch als »Neuigkeits-Kunst«11 ablehnte, zu- nächst blieb seine Position aber weiterhin prägend. In diese Zeit fielen auch die ersten künstlerischen Experimente mit Computern. 6 Vgl. Miller: The Artist in the Machine untersucht materialreich eine Reihe interessanter An- wendungen von KI als künstlerischem Werkzeug, allerdings ohne systematischen Bezug auf (medien-)ästhetische Theoriebildung. Ebenso Manovich: AI Aesthetics und Zylinska: AI Art. 7 Rebentisch: Gegenwartskunst, S. 104. 8 Vgl. Greenberg: Die Essenz, S. 194ff. und 265ff. 9 Greenberg: Die Essenz, S. 267. Vgl. auch Greenberg: Die Essenz, S. 72. 10 Vgl. Greenberg: Die Essenz, S. 353ff. 11 Greenberg: Die Essenz, S. 368. Naheliegenderweise musste er auch ältere Strömungen wie den Dadaismus oder den Surrealismus aus seinem Modell ausschließen. NAVIGATIONEN 160 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIGITALLY RE-INVENTING THE MEDIUM II Abb.1Michael Noll, The Digital Computer as a Creative Medium, 1967. Einer der programmatischen Texte sei kurz vorgestellt: Michael Nolls The Digital Computer as a Creative Medium von 1967.12 Der Umstand, dass der Computer 12 Vgl. Noll: »Digital Computer«. Vgl. auch Noll: »Computers«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 161 JENS SCHRÖTER schon hier – rund 25 Jahre vor der diesbezüglichen medientheoretischen Diskus- sion13 – selbstverständlich als Medium tituliert wird, verweist auf ein wichtiges Mo- ment – und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens war die künstlerische Praxis, die zu jener Zeit das Vorbild für den Medienbegriff lieferte, die abstrakte Malerei – schon das Titelblatt von Nolls Text wird nicht zufällig von einer Grafik geziert, die an die Op-Art von Bridget Riley angelehnt ist.14 Für Experimente mit Computern, zumal in den 1960ern, als die Grafikfähigkeiten eher gering entwickelt waren, bietet sich der Rekurs auf geometrisch-konstruktive Varianten der abstrakten Malerei an, da diese relativ leicht zu formalisieren sind.15 Jedenfalls musste zweitens, angesichts der beherrschenden Stellung Green- berg’scher Konzepte, um eine Praxis mit Computern als künstlerische auszuwei- sen, auf ein Medium reflektiert werden, also war es notwendig, den Computer als ebensolches zu verstehen.16 Noll argumentiert ähnlich wie Greenberg: The resistance of the canvas or its elastic give to the paint-loaded brush, the visual shock of real color and line, the smell of the paint, will all work on the artist’s sensibilities. […] So it is that an artist explores, discovers, and masters the possibilities of the medium.17 Daran schließt sich die Frage an, welche Möglichkeiten und Widerstände das Medium Computer in der künstlerischen Arbeit entfaltet, denn »Computers are a new medium. They do not have the characteristics of paint, brushes, and canvas«.18 Noll bemerkt, dass das Neue des neuen Mediums Computer nun darin besteht, die spezifischen Prozesse, die andere Medien auszeichnen im Allgemeinen, und die Prozesse der als Paradigma künstlerischer Medien verstandenen abstrakten Malerei im Besonderen, mathematisch zu modellieren. In dem Maße, in dem der Computer zur Simulation traditioneller Medien verwendet wird, erscheint er selbst als ein Medium. Für Noll stellt sich weiterhin die Frage, ob man ausgehend von der Formalisie- rung existierender Werke mathematisch Kunstwerke generieren kann. Ein Beispiel dafür ist, dass Noll einen echten und einen mathematisch simulierten Mondrian ein- ander gegenüberstellte und durch eine Art ästhetischen Turing-Test feststellte, 13 Vgl. Bolz u.a.: Computer als Medium. Allerdings hat schon McLuhan 1964 in Understanding Media von den »media of communication from speech to computer« (McLuhan: »Under- standing Media«, S. 43) gesprochen und überdies wurde, so Groys: Unter Verdacht, McL- uhan wiederum von Greenbergs Modernismus zu seiner Medientheorie angeregt. 14 Noll: »Digital Computer«, S. 91. 15 Greenberg: Die Essenz, S. 368 lehnte allerdings auch die Op Art ab. 16 Vgl. Krauss: ›North Sea, S. 6: »[F]rom the 60s on, to utter the word ›medium‹ meant invok- ing ›Greenberg‹ […]«. Ob allerdings Noll als Informatiker mit diesem Diskurs vertraut war, muss offenbleiben. 17 Noll: »Digital Computer«, S. 90. Vgl. Greenberg: Die Essenz, S. 75, der ganz ähnlich von der »Widerständigkeit [des] Mediums« spricht. 18 Noll: »Digital Computer«, S. 90. [Hervorhebung im Original] NAVIGATIONEN 162 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIGITALLY RE-INVENTING THE MEDIUM II dass die Mehrheit der Betrachter:innen das Computerbild für den echten Mondrian hielt – ergo schien die Simulation der Malereihaftigkeit der Malerei gelungen.19 Abb. 2 Piet Mondrian, Komposition mit Linien, 1917, aus: Noll: Digital Computer. Abb. 3 Michael Noll, Computer Composition with Lines, 1964, aus: Noll: Digital Computer. Noll stand mit seinen Überlegungen keineswegs allein. Etwa zeitgleich begannen auch in Deutschland künstlerische Experimente mit Computern, die sich mit (ten- denziell) abstrakter Malerei, ihrer Analyse und ihrer Simulation beschäftigten, so z.B. Frieder Nake. Die deutschen Forscher beriefen sich allerdings stärker auf die Informationsästhetik. In den verschiedenen Positionen dieses Ansatzes ging es – sehr verkürzt gesagt – darum, exakte, mathematisch anschreibbare Maße für das ›Ästhetische‹ zu finden,20 um dann mithilfe dieser Erkenntnisse und mit Rechenma- schinen ästhetische Objekte synthetisieren zu können. Nolls und ähnliche Ideen verweisen insgesamt auf eine grundsätzliche Eigenschaft des Mediums Computer, nämlich approximativ alle anderen Medien sein zu können – und zwar entweder dadurch, dass die Eigenschaften der technischen Dispositive vermessen und simuliert oder dadurch, dass die resultierenden Signale (Töne, Bilder etc.) gesampelt und als Material verwendet werden.21 19 Die Art des Publikums und seine Zusammensetzung wird genauer erläutert in Noll: »Human or Machine«. 20 Vgl. Benses Formulierung des »ästhetischen Maßes«, das sich als Quotient des Ordnungs- maßes und des vom Material des Kunstwerkes abhängigen »Komplexitätsmaß« bestimmt, vgl. Bense: »Informationsästhetik«, S. 31. Die Idee einer mathematischen Formalisierung des Ästhetischen reicht weit zurück – hier seien nur die Zentralperspektive, die Propor- tionslehre, der goldene Schnitt etc. genannt, vgl. Kittler: Kunst und Technik. Vgl. spätere Versuche dieser Art bei: Kirsch, J. L./Kirsch, R. A.: »Structure of Paintings«; Kirsch, J. L./Kirsch, R. A.: »Painting Style«. 21 Vgl. zu Simulation und Sampling (zumal fotografischer Daten) Schröter: »Ende der Welt«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 163 JENS SCHRÖTER 2. DAS VERSCHWINDEN DES MODERNISMUS UND SEINE DIGITALE WIE- DERKEHR. Allerdings erlosch das Greenberg’sche Paradigma der Medienreflexion ab etwa Mitte der 1960er Jahre schrittweise, um einer an Intermedialität und dem Zitat orientierten ›Postmoderne‹ oder gänzlich anderen Kunstformen wie der Concep- tual Art Platz zu machen (a.), um dann aber ausgerechnet in den jüngeren Diskus- sionen um die künstlerischen Potenziale digitaler Medien wiederaufzutauchen (b.). a. Greenbergs Programm einer selbst-analytischen Reduktion der Malerei und an- derer Kunstformen22 verfing sich zu Beginn der 1960er Jahre allmählich in Problemen, denn bald schon drohte die selbst-analytische Reduktion der Ma- lerei die Grenze zu überschreiten, jenseits derer »ein Bild kein Bild mehr ist, sondern zu einem beliebigen Objekt wird« und die nicht zu überschreiten, sondern »einzuhalten«23 Greenberg gefordert hatte. Die unbemalte Leinwand als Bild rückte in den Bereich des Möglichen.24 Letztlich entstanden neue Ent- wicklungen wie die Minimal Art, die das Schwergewicht von der Medienspezi- fik weg verschoben: »Mindestens die Hälfte der besten neuen Arbeiten, die in den letzten Jahren entstanden sind, gehören weder zur Malerei noch zur Skulptur« war der erste Satz des Aufsatzes »Specific Objects« des Minimal- Künstlers Donald Judd.25 Schließlich erschienen neue Technologien in der Kunstszene – vor allem Video –, die laut Rosalind Krauss das Konzept der Re- flexion des Mediums als Grundlage von Kunst zum Verschwinden brachten, weil Medien wie Video in zu disparaten Praktiken involviert seien.26 De Duve hat diese Verschiebung in den 1960er Jahren als Verlagerung von spezifischen (also auf Medienspezifik gerichteten) zu generischen (also im Fahrwasser Duchamps auf den Status von Kunst überhaupt gerichteten) Fragen beschrie- ben.27 So blühten in den 1970er und 1980er Jahren Formen von Kunst auf, die mit jedem medienreflexiven Purismus gebrochen hatten und stattdessen mit multi- und intermedialen Strategien arbeiteten – oft in Form von ›Installatio- nen‹.28 »As is typical of what has come to be called postmodernism, this […] work is not confined to any particular medium.«29 In der Folge ging Green- bergs Rolle als Kritiker zurück, er wurde geradezu zum Feindbild. Selbst seine ›Schülerin‹ Rosalind Krauss verkündete eine ›post-medium condition‹30. 22 Zur Skulptur, vgl. Greenberg: Die Essenz, S. 255ff. 23 Greenberg: Die Essenz, S. 272f. 24 Vgl. Greenberg: Die Essenz, S. 331. Siehe dazu Fried: »Art and Objecthood«, S. 23. 25 Judd: »Spezifische Objekte«, hier S. 59. 26 Vgl. Krauss: North Sea, S. 30ff. 27 Vgl. De Duve: Kant, S. 193ff. 28 Was Greenberg natürlich kritisierte, vgl. Greenberg: Die Essenz, S. 446ff. 29 Crimp: »Pictures«, S. 75. 30 Vgl. Krauss: North Sea. NAVIGATIONEN 164 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIGITALLY RE-INVENTING THE MEDIUM II b. Nach dem scheinbar vollständigen Kollaps des Greenberg-Paradigmas ist es durchaus etwas überraschend, dass die Medienreflexion bei neueren Künst- ler:innen wieder eine wichtige Rolle spielt. So bemerkt schon Juliane Reben- tisch, dass auch in der »intermediale[n] Gegenwartskunst […] der kenntnisrei- che Bezug auf die verschiedenen Traditionen der Künste und die Möglichkeiten ihrer Medien […] eine wichtige Rolle«31 spiele. Interessanter- weise verweist sie nur eine Seite zuvor darauf, dass die »Rolle der Technolo- gien und neuen Medien in diesem Zusammenhang nicht zu unterschätzen« sei, gerade auch hinsichtlich der »Thematisierung älterer Darstellungsmittel in neu- eren (der Malerei im Film) beispielsweise«. Es scheint so, dass besonders Künstler:innen, die im »Medium der Digitalität«32 operieren, diesen Fragen wieder Aufmerksamkeit widmen. Z.B. bemerkt Thomas Ruff in Hinblick auf seine digital bearbeiteten Pornofotos aus dem Netz, die nudes (eine offenkundige Anspielung auf eine bestimmte Tradition der Malerei): »Wenn ich mit einem bestimmten Medium arbeite, dann will ich dieses Medium auch im Bild reflektieren«.33 Im Vorwort zu seinem Buch net.art 2.0 von 2001 bezieht sich Tilman Baumgärtel explizit auf Greenberg, um den künstlerischen Status der Netz- kunst über ihre selbstreflexiven Verfahren zu legitimieren.34 Auch an anderer Stelle findet sich ein modernistisch anmutendes Argument in Bezug auf Medienreflexivität in der Computerkunst – nämlich bei Friedrich Kittler: Dem Normengeflecht gegenüber kommen aber auch jene selbster- nannten Künstler, die im Radio Radiokunst oder auf dem Computer Computerkunst versprechen, immer schon zu spät. Das Medium als durchstandardisiertes Interface hat, lange vor jeder Einzelproduktion, nicht bloß diejenigen Entscheidungen bereits getroffen, die einstmals im freien ästhetischen Ermessen von Künstlern oder Handwerkern lagen, sondern eben auch Entscheidungen, deren Effekte die Wahrnehmung gar nicht mehr kontrollieren kann. […] Und solange die selbsternann- ten Medienkünstler, statt die Normungs-ausschüsse zu besetzen und das heißt an den elementaren […] Voraussetzungen ihrer Produktion zu rütteln, diese Voraussetzungen einfach hinnehmen, liefern sie auch nur Eigenreklamen der jeweils herrschenden Norm.35 Kittlers Forderung, an den ›Voraussetzungen der Produktion‹ zu rütteln, ist lesbar als eine andere Formulierung der Grundthese Greenbergs, dass Kunst sich durch Reflexion und Analyse der medialen Grundlagen definiert. Greenbergs Argument, 31 Rebentisch: Gegenwartskunst, S. 105 32 Ebd., S. 104. 33 Ruff: »Suchmaschinen«, S. 75. 34 Vgl. Baumgärtel: net.art 2.0. 35 Kittler: »Gleichschaltungen«, S. 261. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 165 JENS SCHRÖTER dass der Illusionismus in der Malerei den Effekt, wenn nicht gar den Zweck gehabt habe, »das Medium zu verleugnen«36, taucht in der harschen Kritik, die Kittler an den benutzerfreundlichen Oberflächen und der sich rasch ausbreitenden ›digitalen Bildkultur‹ übt, wieder auf.37 Eine Konsequenz dieses Modernismus38 müsste also sein, dass eine Compu- terkunst die illusionistischen Konventionen der Oberflächen immer weiter abzutra- gen hätte, um schließlich die technologischen Grundlagen ihres Mediums zu reflek- tieren. Doch bei Computern ist es eben problematisch, wo genau die ›Oberflächen‹ als bloß metaphorische oder gar verstellende Repräsentationen aufhören und wo die ›eigentliche‹ technologische Basis beginnt.39 Müssten also Künstler:innen nicht nur handelsübliche Software, höhere Programmiersprachen, ja Assembler, insofern es sich dabei schon um konventionalisierte Oberflächen handelt, zurückweisen, sondern auch die Rechnerarchitektur neu erfinden und das Binärsystem ableh- nen?40 Das wäre, als ob man von Malern verlangen würde, Chemieunternehmen zu gründen, um neue Farben zu synthetisieren.41 Gegenüber dieser extremen Position könnte man aber gerade betonen: Es gibt keine Spezifik des universellen Mediums, außer der, mathematisch alle anderen Spezifika näherungsweise wiederholen und dadurch von ihren materialen Bedin- gungen ablösen zu können – was auch bedeutet das ganz neue Verbindungen und Rekonfigurationen dieser transmaterialisierten Spezifika möglich wären.42 Wenn es 36 Greenberg: Die Essenz, S. 267. 37 Kittler: »Gleichschaltungen«, S. 255. 38 Möglicherweise beruht der modernistische Einschlag Kittlers auf seiner intensiven Rezeption von Michel Foucault. Dieser hatte 1967-1971 eine Reihe von Vorträgen gehalten, die transkribiert in dem Büchlein Die Malerei von Manet, Berlin 1999 in deutscher Sprache veröffentlicht wurden. Dort hatte Foucault Manets systematische Reduktion der Malerei auf Farbe und Fläche analysiert und gewürdigt – in ganz ähnlicher Weise, wie zuvor Greenberg: Die Essenz, S. 67 und 436, wo er bemerkt, das mit Manet »die modernistische Malerei dann definitiv beginnt«. Ob Kittler bei seiner Abfassung von »Gleichschaltungen« (Kittler: »Gleichschaltungen«) Foucaults Text kannte, ist mir nicht bekannt (er verweist jedenfalls nicht darauf). Die Dits et Écrits enthalten den Text nicht, er wurde erstmals 1996 auf Italienisch veröffentlicht. 39 Tholen: »Überschneidungen«, S. 21: »Der Computer als Medium existiert gleichsam nur, indem er sich von sich selbst unterscheidet, will sagen: sich in all seinen interfaces, seinen programmierbaren Gestaltungsweisen und Benutzer-Oberflächen verliert, also seine ›ei- gentliche‹ Bedeutung aufschiebt. Das digitale Medium eksistiert [sic] in seiner vielgestalti- gen Metaphorizität.« 40 Dass heutige Computer binäre von Neumann-Maschinen sind, ist historisch kontingent und insofern Konvention, vgl. Schröter: »Analog/Digital«, S. 11-12. 41 Vgl. De Duve: Kant, S.148ff. zu Duchamps früher Kritik, dass (in der Regel) Maler auf in- dustriell gefertigte Farben zurückgreifen müssen und insofern jedes Gemälde eine Art ready-made sei. 42 Vgl. Noll: »Digital Computer«, S. 93, der schon früh zum Computer bemerkte: »This is an active medium with which the artist can interact on a new level, freed from many of the physical limitations of all other previous media« [Hervorhebung, J.S.]. Neue physische Limi- tationen ergeben sich hinsichtlich der Hardware, die jedem Rechenprozess zugrunde liegt NAVIGATIONEN 166 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIGITALLY RE-INVENTING THE MEDIUM II eine ›post-medium condition‹ gibt, dann erzwingt sie der Computer. Die Ablösung der Medienspezifik von ihrer Materialität bedeutet, dass z.B. bei einer virtuellen Fo- tokamera43, da diese ja ein mathematisches Gebilde ist, beliebig alle Parameter auch über das physikalisch Mögliche hinaus verändert werden könnten – in diesem Sinne wäre eine Analyse und Reflexion der medialen Bedingungen der Fotografie auf neue und radikale Weise möglich. ›Medienästhetik‹ heißt folglich mit den trans- materialisierten Spezifika ganz neu arbeiten zu können. Und diese Radikalisierung der Möglichkeiten zur Reflexion des ›Medienspezifischen‹ im Raum des Virtuellen mag ein Grund sein, warum in der Arbeit mit digitalen Medien ein fast Green- berg’scher Imperativ zur Selbstreflexion wieder eine so große Rolle spielt. Das Post-Medium Computer und die Phase der ästhetischen Post-Medialität laufen parallel – und bringen dabei wieder, wie eine Gegenbewegung, eine neue Fokus- sierung auf Neo-Spezifik hervor: sowohl hinsichtlich des thematisierten wie des thematisierenden Mediums.44 Denn Greenbergs Idee des Mediums taucht auch im theoretischen Diskurs wieder auf. Bei Rosalind Krauss hat er in jüngerer Zeit eine kritische Würdigung erfahren, insofern sie die Notwendigkeit »to reclaim the specific from the deade- ning embrace of the general«45 hervorhebt. Sie sieht in der Arbeit von James Co- leman, William Kentridge u.a. das Bemühen, unter Rekurs auf medienhistorisch ›an- tiquierte‹ Techniken (Dia-Show bei Coleman; gezeichnete Animation, 16-mm-Film bei Kentridge) ein spezifisches Medium ›neu zu erfinden‹, aber in einer Weise, die den ›differentiellen‹ Charakter des Mediums betont: »[T]he specifity of mediums, even modernist ones, must be understood as differential, self-differing, and thus as a layering of conventions never simply collapsed into the physicality of their sup- port.«46 Sie beruft sich dabei auf Benjamin und argumentiert, dass solche ›Neu- Erfindungen‹ utopische Potenziale der verwendeten Technologien freisetzen könn- ten, Potenziale die gerade im Moment der Obsoleszenz einer Technologie noch- mals aufblitzen. Auch wenn ihre Argumentation bisweilen dunkel ist, scheinen mir das Konzept einer differentiellen Spezifik des Mediums und der Gedanke einer ›Neu-Erfindung‹ von Medien in besonderer Weise für das Verständnis der Strate- gien ›modernistischer‹ digitaler Kunst fruchtbar zu sein. Damit soll nicht gesagt wer- den, dass nun alle Kunst auf das Paradigma der Medienreflexion als Begründungs- und z.B. durch den ›von Neumann-bottleneck‹ die Rechnergeschwindigkeit begrenzt, was bei der Simulation hochkomplexer Phänomene eine entscheidende Rolle spielen kann. Vgl. Schröter: »Medienästhetik«. 43 Vgl. Schröter: »Virtuelle Kamera«. 44 Vgl. zum hier angebrachten Begriff der »ontologischen Intermedialität« Jens Schröter: »In- termedialität«. Zur Rolle von Wiederholung und ›Neo‹ siehe Foster: »What’s Neo«. 45 Krauss: »Re-Inventing«, S. 305: Der ›tödliche‹ Charakter des Generischen liegt darin begrün- det, dass nach Belieben alles als Kunst erscheinen kann (siehe Duchamp) und so mit dem Verschwinden des Spezifischen in der Kunst auch die Spezifik der Kunst zu kollabieren droht, vgl. De Duve: Kant, S. 274. Siehe dazu Rebentisch: Gegenwartskunst, S. 106-116. 46 Krauss: North Sea, S. 53. Zu Kentridge vgl. Krauss: »›The Rock‹«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 167 JENS SCHRÖTER figur bezogen werden muss – muss denn ›Kunst‹ überhaupt auf eine einheitliche solche Figur bezogen werden? Wäre es nicht auch denkbar, dass sich neben – ›zeit- genössischen‹ – künstlerischen Strategien, die sich davon gelöst haben, auch wieder künstlerische Ansätze geben kann, ja heute in der alles durchdringenden digitalen Situation geben muss, die die Rekonfigurationen des Medialen unter den Bedingun- gen des Computers und seiner Ausdifferenzierungen in verschiedene Konstellatio- nen adressiert?47 Wie kann das ›layering of conventions‹, als welches die Ausdiffe- renzierung der programmierbaren Maschine beschrieben werden muss, reflektiert werden? Sicher, hier geht es nicht um eine Obsoleszenz, sondern vielmehr um die Reflexion medialer Emergenz… 3. ACTRESS/YOUNG PAINT Nun kann man sich angesichts der Offenheit der programmierbaren Maschine Computer und ihrer ausdifferenzierten Konstellationen ganz verschiedene Formen vorstellen, in denen die Frage nach der Medienspezifik zugleich in Bezug auf reprä- sentierte und repräsentierende Medien neu gedacht werden kann. Die Netzkunst wurde schon genannt – dort könnten sich z.B. Fragen nach den ästhetischen und politischen Effekten der Distribution und Zirkulation von Bildern, Klängen, Schrif- ten etc. stellen; es könnten sich Fragen nach den Topologien von Netzwerken und ihrer Ein- wie Ausschlüsse stellen.48 In Bezug auf die Simulation habe ich im ersten Teil dieses Textes besonders die Frage nach der verschobenen Wiederholung der Fotografie im Werk Jörg Sasses untersucht.49 Was wäre eine mögliche Reflexion der Konstellation KI in einer verschobenen Wiederholung eines repräsentierten Mediums? Ein interessanter Fall ist Actress aka Darren J. Cunninghan: ein DJ, der experimentelle elektronische Musik macht: ›Young Paint (aka Jade Soulform aka Francis aka Generation 4 aka AZD) is a Learning Program that has been progressively emulating the […] process Darren J Cunningham started in 2008‹ read the introduction to an eponymously named mini-LP. The sixsong release was co-written in a collaboration between Cunningham and an Artificial Intelligence ca- pable of generating electronic compositions.50 47 Vgl. zum Konzept der Ausdifferenzierung des Computers Schröter: Das Netz. Rebentisch: Gegenwartskunst, S. 106 bemerkt explizit, dass es bei aller intermedialen Transgression »die mal mehr, mal weniger stabilen Felder der traditionellen Künste« immer noch gibt. 48 Vgl. dazu neben dem schon genannten Buch den Text von Tilman Baumgärtel, »Das Große Funktionieren«, in welchem er dezidiert die Frage nach der Medienreflexion betont. Siehe auch Lovink: »Theses on Distributed Aesthetics« 49 Vgl. Schröter: »Digitally Re-Inventing«. 50 Pemberton: »Electronic Producer Actress Wants to Know How an AI Managed to Paint a Face«. Actress’ Arbeit mit KI wird weder in Manovich: AI Aesthetics, Miller: The Artist in the Machine noch in Zylinska: AI Art erwähnt. NAVIGATIONEN 168 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIGITALLY RE-INVENTING THE MEDIUM II Abb. 4 Links, Darren J. Cunningham (Actress) und rechts »Young Paint«, sein KI-Double. https://sonar.es/system/attached_images/25530/medium/actress1-young-paint-sonar-bcn- 2019.jpg?1543488997, 29.01.2021. Auf der Website des Transmediale-Festivals heißt es: Young Paint has been progressively learning and emulating the shad- owy, unpredictable, UK bass- and rave-inspired music of Darren J. Cun- ningham, aka Actress. Over the course of 2018, the AI-based character has spent time programming and arranging Cunningham’s sonic palette, learning not only how to react to his work, but also to take the lead with the occasional solo. A life-size projection of Young Paint working in a virtual studio parallels Cunningham’s performance on stage, visual- ising their collaboration.51 51 Vgl. transmediale e.V.: »Actress + Young Paint (Live AI/AV)«. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 169 JENS SCHRÖTER Abb. 5 Rechts Darren J. Cunningham (Actress) und links sein KI-Double »Young Paint«, ge- meinsam bei einer Live-Performance. https://transmediale.de/de/content/the-performance-ac- tress-young-paint-live-aiav-at-transmediale-2019-1, 29.01.2021. Offensichtlich ist Young Paint als ein Partner konzipiert, der den Stil von Actress automatisiert und gleichzeitig transformiert. Actress/Young Paint ist eine Assemblage aus einem menschlichen Musiker und einem lernenden neuronalen Netzwerk. Die Technologien, die heute unter dem Namen KI zusammengefasst werden, sind, wie schon erwähnt, wesentlich Technologien des maschinellen Ler- nens, also im Grunde der Mustererkennung. Wenn man mit Krauss nun nach dem ›layer of conventions‹ fragt, das diese Ausdifferenzierung der programmierbaren Maschine regiert, stößt man unweigerlich auf die Einsätze dieser Technologien heute: Die neuronalen Netze müssen mit vielen Daten gefüttert werden, um zu lernen, bestimmte Muster zu erkennen, und werden stark erforscht, weil sie Mus- ter in Big Data finden können, zum Beispiel in der Wissenschaft.52 Maschinelles Lernen ist auch sehr zentral für die große Infotech-Industrie wie Google oder Facebook, die einerseits die Daten haben, um maschinelles Lernen zu trainieren, und es andererseits brauchen, um ihre Datenmassen sinnvoll (und profitabel) zu nutzen.53 Machine Learning ist so gesehen eine der wichtigsten kapitalistischen Technologien, zentral für den Profit in der Datenwelt – und alle Nutzerinnen wer- den in diese neue technologische Assemblage zur beschleunigten Inwertsetzung eingefügt. Unser Privatleben und sogar unser Unbewusstes werden erfasst, z.B. durch das Analysieren unseres Profils in den »sozialen Medien«, um uns profitabler zu machen – sei es als Arbeiter, sei es als Konsument. Dies ist ein erster Hinweis darauf, wie wir Actress/Young Paint als eine refle- xive Form des Computers als KI lesen können. Das Unbewusste ist bereits vom 52 Vgl. z.B. Bourilkov: »Machine and Deep Learning Applications in Particle Physics«. 53 Vgl. Dyer-Witheford u.a.: Inhuman Powers. NAVIGATIONEN 170 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIGITALLY RE-INVENTING THE MEDIUM II Kapital kolonisiert und in die Maschinerien des »automatischen Subjekt[s]«54 einge- fügt, seine Automatismen können nicht mehr der Ort des Widerstands sein, wie es z.B. im Surrealismus der Fall war.55 Cunningham spiegelt sich in einem maschinellen Lernsystem, das einerseits seine ästhetischen Strategien erlernt und nachahmt, an- dererseits aber auch unvorhersehbare Abschweifungen produziert. Es handelt sich um eine Art »surrealism without the unconscious«,56 aber auf eine neue und kriti- sche Weise: Cunningham bildet mit seinem Double eine Assemblage – Actress/ Young Paint – die seine ästhetische Selbstreflexion fördert, weil er sehen kann, was das System als charakteristisch für seinen Stil ansieht und er darauf reagieren kann. Aber dies geschieht nicht nur im Studio – es wird explizit gemacht und der Dialog wird live aufgeführt. In einer Sequenz (Abb.6), die auf YouTube zu finden ist, kön- nen wir Cunningham auf der Bühne und Young Paint – in einem Video – bei der Arbeit in seinem virtuellen Studio sehen. Abb. 6 Screenshot aus einem Live Auftritt von Actress/Young Paint. Links Young Paint, rechts Actress, Young Paint: https://www.youtube.com/watch?v=ZsZc4Q_eDk4, 25.01.2021. Cunningham spaltet sich in zwei Teile. Dies war z.B. schon auf dem Cover von Actress’ Album AZD angedeutet. 54 Marx: Kapital, S. 169. 55 Vgl. Breton: »Die automatische Botschaft«. 56 Jameson: Postmodernism, S. 67. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 171 JENS SCHRÖTER Abb. 7 Cover von Actress’ AZD. Der Künstler wird hier in »sich selbst« und ein virtuelles Double gespalten, das ihn nachahmt und transzendiert. Diese Arbeit legt damit die permanente virtuelle Ver- doppelung der Konsumenten in Form ihres virtuellen Profils offen und ist zugleich eine Demonstration des verteilten Charakters von Autorschaft unter hochtechno- logischen Bedingungen. Darüber hinaus zitiert die visuelle Gestaltung von Young Paint das metallische Erscheinungsbild einer berühmten fiktiven Figuration fortgeschrittener KI, nämlich des T-1000 aus Terminator 257, was auch im Kontrast zu Cunningham als Person of Color steht. Fragen der historischen Entstehung des Kapitalismus – des Kolonialis- mus, daher die ironische britische Flagge auf dem Hut von Young Paint (zumindest in einigen Bildern) – werden Ideologien der scheinbar rassen- und geschlechtslosen Welt der Hochtechnologie gegenübergestellt. So wird hier auf das schwierige Ver- hältnis von selbstreferentieller Form und politischer und historischer Referenz in Kunstwerken angespielt.58 Der Name Young Paint evoziert die Malerei und damit (Teile) der Geschichte der (modernen) Kunst ebenso wie auf die inflationäre ›Neu- heit‹ (›young‹) in der Avantgarde-Ästhetik, die wiederum verdächtig dem Neuheits- kult an Märkten ähnelt. Die Malerei ist die Kunstform, die am engsten mit dem Mythos des kreativen, männlichen, weißen Genies verbunden ist59 – es ist daher ein ironischer Schachzug, die Malerei in einem Kunstwerk zu evozieren, das sich um eine zumindest teilweise Abgabe der Kontrolle an Maschinen dreht. Diese ästhetische Strategie ist auch in der Musik auf der Young Paint-EP zu hören: Sie ist gleichzeitig eine Wiederholung von Grundbausteinen elektronischer 57 USA 1991, Regie: James Cameron. 58 Vgl. Buchloh: Formalism and Historicity und Egenhofer: Abstraktion. 59 Und das interessanterweise wiederum mit einem Diskurs der »Maschine« verbunden ist, vgl. Jones: Machine in the Studio. Vgl. Graw: Love, S. 50-53. NAVIGATIONEN 172 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK DIGITALLY RE-INVENTING THE MEDIUM II Dancefloor-Musik, aber auch eine unheimliche Verschiebung, die die Hörer:innen auf ihre konventionellen Erwartungen hinweist. Rhythmische Strukturen werden mit plötzlichen unregelmäßigen Ausbrüchen konfrontiert, bleiben aber auch in hyper-maschineller Endlos-Wiederholung stecken. Die monotone Wiederholung des automatischen Themas und die Krise als Unregelmäßigkeit sind Teil der forma- len Gestaltung. Der Sound vieler Tracks von Actress zitiert analoge Verfahren, z.B. schlecht eingestellte analoge Rauschunterdrückungssysteme in einem Track wie Don’t vom Actress-Album Ghettoville (welcher auch ein typisches Beispiel für jene extreme Wiederholung ist, die einen Pol des musikalischen Repertoires von Actress darstellt).60 Die Archäologie der Soundtechnologie ist im Sounddesign präsent und so wird der historische Ort der digitalen Musiktechnologie und die mit ihr einher- gehende analoge Nostalgie61 reflexiv ausgestellt. Die permanente technologische Entwicklung, die so typisch für kapitalistische Akkumulation und Beschleunigung ist und immerzu Wünsche nach einer Vergangenheit evoziert, wird angedeutet. Cunningham und Young Paint sind Mitarbeiter in einem dialogischen Schaffens- prozess, aber weitere Fragen tauchen auf: Was, wenn das neuronale Netz so gut darin wird, Actress zu simulieren, dass es Actress-Alben ganz alleine machen kann? Kann Young Paint eines Tages Actress ersetzen und spielt dies nicht auf die nervö- sen zeitgenössischen Diskussionen über das mögliche Verschwinden von Arbeit durch den Einsatz von KI und Robotik an?62 4. FAZIT Diese letzten Fragen implizieren offenbar schon Futurität. Medientechnologien wa- ren historisch immer mit utopischen wie dystopischen Erwartungen verbunden.63 Diese gehören auch zu den ›layers of convention‹, die ein Medium ausmachen. Da- her spielt Actress/Young Paint ebenso mit futuristischen Ästhetiken, wie auch mit Fragen nach möglichen Zukünften. Sein Machine-Learning-Modernismus ver- schiebt nicht nur die Konventionen seines Mediums, sondern ebenso die Figur des Autors. Diese Arbeit ist symptomatisch für eine noch länger anhaltende Entwick- lung: Insbesondere die auf absehbare Zeit nicht abgeschlossene Evolution digitaler Technologien64 ist zugleich eine unausgesetzte Produktion von Medienästhetiken der Zukunft, die in Strategien zukünftiger Medienästhetik gespiegelt werden. 60 Vgl. Youtube: »Actress: Ghettoville, Don’t«. 61 Vgl. Schrey: Analoge Nostalgie. 62 Vgl. Schröter: »Digitale Medientechnologien«. 63 Vgl. Ernst/Schröter: Zukünftige Medien. 64 Ganz zu schweigen von den bereits herausdämmernden post-digitalen Quantencomputern, die bereits intensiv von Zukunftserzählungen umgeben sind, siehe Ernst u.a.: Der Quan- tencomputer. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 173 JENS SCHRÖTER LITERATURVERZEICHNIS Alpaydin, Ethem: Machine Learning. The New AI, Cambridge, MA, 2016. Baumgärtel, Tilman: »Das Große Funktionieren«, 26.09.2010, http://post.in- mind.de/pipermail/rohrpost/2014-September/016698.html, 25.01.2021. 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NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 177 EPILOG: ZUKÜNFTIGE ZUKÜNFTE NAVIGATIONEN NACHRICHT MIT UNKLARER ABSICHT Uneindeutige Antworten zu einer Frage, die ich nicht kenne V O N M A R I U S G O L D H O R N A steht für Apfel B für Ball C steht für Computer Ich habe den Volltext-Newsletter abonniert – pflichtbewusst –, um mir einen Überblick über den Literaturbetrieb zu verschaffen. Meine Freunde interessieren sich eigentlich nicht dafür. Ich interessiere mich dafür – und gleichzeitig interessiert es mich überhaupt nicht. Ich kann nicht wegschauen. Wenn es den Volltext- Newsletter nicht gäbe, ich hätte nichts gewusst von Monika Marons Naziphanta- sien, von Elisabeth Edls Flaubert-Neuübersetzungen, von den ganzen Preisträge- rinnen, von den Debattenanstößen, die in die Leere laufen (War Pavese ein Fa- schist?) – ich habe ein Déjà-vu gerade. Am 10. Februar 2021 um 22:46 Uhr bekam ich den neuen Volltext-Newsletter, der schon im Betreff eröffnete mit: Daniel Kehl- mann schaut in die Zukunft und schreibt Geschichten mit einem Algorithmus als Co- Autor (Paywall). Da die meisten Artikel im Volltext-Newsletter hinter irgendeiner Paywall sind, kann ich sie nicht lesen. Aber warum musste ich an ein Schachturnier denken? Warum musste ich an einen Wettbewerb denken und nicht an Koopera- tion? Ich erlebe seit meiner Kindheit verschiedene psychische Aussetzer. Meine Mutter hat immer vermieden, mein manchmal merkwürdiges Verhalten und meine irritie- renden Äußerungen zu pathologisieren. Mit der Ausnahme meines hilfesuchenden Lebens in den Jahren 2012 und 2013 danke ich ihr dafür. Meine Eltern kommen aus dem New Age. Ich bin ein Metall-Schaf. Manchmal haben mich die häufigen Déjà- vus in eine Panik fallen lassen. Inzwischen glaube ich, dass Déjà-vus vergessene Träume sind. Das Alphabet ist reine Konvention. Ben Lerner: Der erste Buchstabe des Hebräischen – eine neue alte Sprache, wie ein Tempel, der wiedererrichtet, oder eine Stadt, die nach einem Luftan- griff wiederaufgebaut worden ist – ist Aleph, und ihm entspricht kein Laut. Spinoza sagt, Aleph sei das Zeichen für ›den Beginn des Lautes in der Kehle, der durch ihre bloße Öffnung hörbar wird.‹ Laut Daniel NAVIGATIONEN MARIUS GOLDHORN Heller-Roazen schreibt Spinoza dem Zeichen zu viel Laut zu: ›Aleph bewacht die Stelle des Vergessens am Beginn jedes Alphabets.‹1 In einem BBC-Artikel – den ich 2017 las während einer Recherche zu der quasi- religiösen AI Roko’s Basilisk und der Rationalisten-Community lesswrong.com um den ominösen AI-Forscher Eliezer Yudkowsky und jetzt nach kurzer Suche (when ai take over human labour bbc) gefunden habe – prognostizieren AI Experts, dass die AI in 10 bis 75 Jahren mit einem Erwartungswert = 30 Jahren einen New-York- Times-Bestseller schreiben wird. Damit rangiert diese Arbeit im oberen Drittel der früh von AI übernommenen Tätigkeiten. Darauf folgt der Sieg bei der William Lo- well Putnam Competition, dann die Ausführung chirurgischer Eingriffe, dann ma- thematische Forschung. In 2016 + Erwartungswert = 120 Jahren, so die AI-Exper- ten, wird die Arbeit vollständig automatisiert sein. Worauf freust du dich am meisten? Ich frage mich immer: Die AI? AI? Eine AI? Wird eine AI superintelligent? Und wird dann AI superintelligent? Und ist es dann die AI, die den Menschen von der Arbeit befreit? Und gibt es dann eine AI, die den Menschen versklavt? Am 12. Dezember 2003, an meinem 12. Geburtstag, als mir meine Eltern meinen ersten Computer schenkten, einen Medion-PC von Aldi, kam ich zur Überzeugung, dass die Zukunft nicht dieses weit entfernte Ding am Horizont war, sondern dass die Zukunft auf mich mit wahnsinniger Geschwindigkeit zuraste. Und ungefähr 2011/2012, während ich versuchte den Bundestag zu besetzen, kam ich zur Über- zeugung, dass die Zukunft und die Gegenwart ineinandermorphen und das gleiche Ding wurden. Kann das immer so bleiben? Wir werden doch nicht ewig in dieser Zukunftsgegenwart leben, oder? Ich erinnere mich an einen kleinen gelben Hund, der Hilfe-Bot bei Windows XP. Er hatte nie die richtige Antwort auf meine unklaren Fragen. Alles im Umgang mit Computern habe ich mir erspielt. Iteration: Versuch, Scheitern, Versuch, Erfolg, Versuch … Am 25. Januar 2021 wurde ein Artikel des Subreddits r/gadgets auf eine meine Frontpage gespült: Microsoft Files Patent for Technology That Could Resurrect Dead Loved Ones as Chat Bots. Ich würde mich gerne mit meinem belgischen Großvater unterhalten und fragen, warum er meinen Onkel und meine Großmutter geschla- gen hat, aber nie meine Mutter. Oder beinhaltet Microsofts Patent nur Loved Ones? Ich glaube an Italo Calvinos Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Google DeepMind besiegte 2015 und 2016 zwei der besten, lebenden Go-Spieler. Im Gegensatz zu Deep Blue von IBM war AlphaGo eine selbstlernende AI, die 2000 Jahre Wissen und Weisheit über dieses Spiel überwand. Ein chinesischer Wissen- schaftler nannte dieses Ereignis den Sputnik-Moment für das Land, der massive 1 Lerner: »ABC: Eine Urlaubskarte für Alexander Kluge«, S. 14. NAVIGATIONEN 182 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK NACHRICHT MIT UNKLARER ABSICHT Investments der chinesischen Regierung in die AI-Forschung anregte. Warum siegt die AI stets in Tätigkeiten, die die Menschen verrückt machen (Go, Schach, Mathe- matik)? Nirgendwo sonst öffnet sich das Fenster des Wahnsinns so schnell und hef- tig wie in diesen Disziplinen. Während ich meinen Roman schrieb, hatte ich – und auch heute habe ich – das Gefühl, um den Dialog im Roman ist es schlecht bestellt (letztens erst bekam ich eine Anfrage einer Literaturzeitschrift, warum ich keine Dialoge schreiben würde, obwohl mein Roman ja zu 45 % aus Dialogen besteht). Figurenrede wird jedenfalls zu Recht vermieden. Das zu Recht populäre Schreibverfahren der essayistischen Autofiktion scheint Dialoge nicht sehr gut herzugeben. Stimmt das? Ich war immer überwältigt von der Tatsache, dass in der Antike, egal ob in Indien, China oder Griechenland, Philosophie fast ausschließlich in der Form des Dialogs gehalten ist. In diesen Dialogen spricht 95 % der eine, und der andere bejaht oder fragt nach. Obwohl, so hält es auch David Graeber fest, heute selbstreflektierendes Bewusstsein als das Menschliche angesehen wird, wurde damals Denken als eine kollektive, politische (oder dyadische) Praxis verstanden – etwas, das per Definition nicht von einer Person alleine gemacht werden kann. Das Ziel der Philosophie war, meistens zumindest, sich selbst im Dialog zu kultivieren. Vermittelt sich da nicht auch ein Machtverhältnis? Sokrates erklärt die Welt und Gorgias von Leontinoi sagt nur: Jaja, haha, nun ja. Ich bin immer überwältigt von der Tatsache, wie lange man sich unterhalten kann, wie lange man zusammen denken kann, konzentriert gemeinsam eine Frage abwä- gen kann. Ich bin immer überwältigt von der Tatsache, dass meine Gedanken im Dialog stattfinden. Ich bin immer überwältigt von der Tatsache, wie kurz die Mo- mente des konzentrierten Selbstbewusstseins sind. Sekunden, denke ich. Wie lange konnte Jiddu Krishnamurti das Fenster des Bewusstseins offenhalten? Ich bin immer überwältigt von der Tatsache, dass Cannabis die Zeit der Erfahrung des Selbst ver- längern kann. Die meiste Zeit operieren wir auf Autopilot. Ich glaube an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt. Oft wird der technische Fortschritt als rasant beschrieben (Mooresches Gesetz). Mir ging es noch nie und heute geht es noch nicht mal mehr meinen Eltern so. Ich kann mir immer bessere Funktionen imaginieren. Warum wurde bis heute keine Maschine erfunden, die einen sofort in den Schlaf fallen lässt? Meine Lieblingsdialoge schreibt Ann Beattie. – Ich könnte tagelang nur solche Dia- loge schreiben: Marius Goldhorn sagte: Ja. Jens Schröter sagte: Ja. Marius Goldhorn sagte: Haha. Jens Schröter sagte: Ha. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 183 MARIUS GOLDHORN Erst wenn ich die Figuren kenne, ergibt das Sinn. Wie könnte das eine AI lernen? Reduktion von Information, Maximierung von Ur-Lauten. Manchmal in meinem Kopf, meine Notiz vom 11. Oktober 2020: posthuman ist komisch, weil es keine Welt mehr gibt, wenn sich nicht 2 darüber unterhalten Aus der Occupy-Wall-Street-Zeitung Tidal: We don’t even know why we are here, we know neither what to ex- pect nor what to demand because we don’t know how the world is really supposed to feel, all we know is that we have this spiritual nausea that we haven’t been able to speak about with anyone since no one has much time to speak about the soul […]. If the phantoms of wall street are disturbed by our presence, so much the better, it is time the unreal be exposed for what it is.2 Giambattista Vico: Wir Menschen können nur das verstehen, was wir selbst ge- macht haben. David Graeber: Wir können alles verstehen, außer das, was wir selbst gemacht ha- ben. Das Problem bleibt: Ist der Gott des Bewusstseins in der Lage, das, was er erschaf- fen hat, zu erfahren? Ich habe in einem Talk von Bifo gehört: Das Erstaunliche ist, dass die AI in der Lage sein wird, Intelligenz und Bewusstsein zu trennen. AI ist pure instrumentelle Vernunft, ohne Selbstbewusstsein. Wird diese AI also intelligent sein, ohne qualia erfahren zu können? Ist das der Gott, den Descartes postuliert? Der Bruch zwischen Denken und Fühlen. Ich glaube an einen Gott, der nur erfährt und nichts denkt. David Graeber: »The ultimate, hidden truth of the world is that it is something that we make, and could just as easily make differently.«3 Manche Ideen sind in meinem Kopf. Andere Ideen, die meisten, sind außerhalb meines Kopfes. Darum spüre ich manchmal das Bedürfnis, mir ein Loch in den Kopf zu bohren. Ich glaube an die Unendlichkeit der Imagination. Die Werke, die es in den Kanon geschafft haben, aus der Perspektive des Jahres 2058: Die Texte über die Götter. Dann die Texte über die herausragenden Menschen. 2 Graeber: Anarchy – In a Manner of Speaking, S. 16. 3 Graeber: The Utopia of Rules: On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy. Zitiert aus der unfassbaren, aufregenden Häufigkeit dieses Zitats online. NAVIGATIONEN 184 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK NACHRICHT MIT UNKLARER ABSICHT Dann die Texte über die durchschnittlichen Menschen. Dann die Texte über den Autor selbst. Dann die Texte über den Leser. Ich stelle mir ein 2058 vor: Die Jahre, in denen wir nicht mehr in der Zukunftsge- genwart leben, sondern in einer einfach gewordenen Gegenwart. AIs schreiben deine personalisierte Geschichte im Stile kanonisierter Autoren. Diese AIs werden Pseudo-Dostojewski und Pseudo-Le-Guin heißen. Im neusten Update gibt es sogar einen Pseudo-Woolf. Wann kommt endlich der Pseudo-Joyce? Was mich im Jahr 2021 so beschäftigt: Für meine Träume gibt es keinen Raum, und das ist gut so. Es geht darum, zusammenzukommen. Angesichts einer Pandemie: Es geht gar nicht um die Explosion digitaler Optionen. Es geht darum, Bedingungen zu schaffen, um das Zusammenkommen erfahrbar zu machen. Angesichts einer Literaten-AI: Geht es nicht darum, der Deep-Learning-Maschine neue Texte zu geben, die – im Sinne von Haraway – neue und andere Geschichten erzählen, die eine Perspektive von Kooperation, direkter Demokratie (Anarchie) und Spontaneität bietet? Wie könnte diese Ethik entwickelt werden außer im Gespräch? Ursula K. Le Guin in Science Fiction and the Future: »As a science-fiction writer I personally prefer to stand still for long periods, like Quechua, and look at what is, in fact, in front of me: the earth; my fellow beings on it; and the stars.«4 LITERATURVERZEICHNIS Graeber, David: Anarchy – In a Manner of Speaking, Zürich 2020. Graeber, David: The Utopia of Rules: On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy, New York City 2015. Le Guin, Ursula K.: Dreams Must Explain Themselves, London 2018. Lerner, Ben: »ABC: Eine Urlaubskarte für Alexander Kluge«, in: Scherer, Bernd (Hrsg.): Das Neue Alphabet, Leipzig 2021, S. 12-14. 4 Le Guin: Dreams Must Explain Themselves, S. 171. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 185 ABSTRACTS TILMAN BAUMGÄRTEL VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT: PIAZZA VIRTUALE VON VAN GOGH TV VOR DEM KUNSTHISTORISCHEN UND ZEITGESCHICHTLICHEN HINTERGRUND Die Sendung hieß Piazza virtuale und war ein einzigartiges Experiment in der Geschichte des deutschen Fernsehens. Als Begleitprojekt der documenta IX wurde es im Sommer 1992 hundert Tage lang in Kassel aus einem Containerstudio neben dem Fridericianum gesendet. Veranstaltet von der Künstlergruppe Van Gogh TV, sollte das Programm aus weitgehend unmoderierten Beiträgen des Publikums bestehen, das durch Anrufe, per Fax oder Computerchat den Inhalt der Sendung lieferte. Ihr Ziel war es, Bertolt Brechts berühmte Forderung aus seiner Radiotheorie in die Tat umzusetzen: Aus Konsumenten sollten Produzenten von Medieninhalten werden. In diesem Aufsatz soll die ideen- und kunstgeschichtliche Entwicklung umrissen werden, die zu diesem Projekt führte. Piazza virtuale steht einerseits am Ende der ersten Periode von Videokunst und Performance Art und das Aufkommen von Kunstkollektiven, nimmt aber auch Impulse von Punk und New Wave auf. Voraussetzungen des Projekts war auch die beginnende Digitalisierung und Vernetzung der Medien, aber – bei einem Kunstprojekt möglicherweise unerwartet – die Durchsetzung eines neoliberalen Wirtschaftsmodell nach dem Ende des Warschauer Pakts und dem Fall der Mauer, zu dem auch neue Praktiken von Arbeitsorganisation und Managementtechniken gehörten, wie sie Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus (1999) analysiert haben. Neben der Vorwegnahme von kollaborativen Medienpraktiken, die für das Internet prägend werden sollten, nimmt Piazza virtuale auch eine neue Arbeitskultur vorweg, die zur Entwicklung der Internet-Startups führte. TILMAN BAUMGÄRTEL FROM SUBJECT TO PROJECT: PIAZZA VIRTUALE BY VAN GOGH TV AGAINST THE BACKGROUND OF ART HISTORY AND CONTEMPORARY HISTORY The program was called Piazza virtuale and was a unique experiment in the history of German television. As a project accompanying documenta IX, it was broadcast for a hundred days in Kassel in the summer of 1992 from a container studio next to the Fridericianum. Organized by the artists’ group Van Gogh TV, the program NAVIGATIONEN ABSTRACTS was to consist of largely unmoderated contributions from the audience, who supplied the content of the broadcast by phone calls, fax or computer chat. Their goal was to put Bertolt Brecht's famous demand from his radio theory into practice: Consumers were to become producers of media content. This essay will outline the development in the history of ideas and art that led to this project. Piazza virtuale stands on the one hand at the end of the first period of video art and performance art and the emergence of art collectives, but also takes up impulses from punk and new wave. The preconditions of the project were also the incipient digitalization and networking of the media, but - possibly unexpected in an art project - the enforcement of a neoliberal economic model after the end of the Warsaw Pact and the fall of the Wall, which included new practices of work organization and management techniques, as analyzed by Luc Boltanski and Eve Chiapello in their book The New Spirit of Capitalism (1999). In addition to anticipating collaborative media practices that would become formative for the Internet, Piazza virtuale also anticipates a new work culture that led to the development of Internet startups. KAREL DUDESEK DIE NEUE ELOQUENZ IM ÖFFENTLICHEN RAUM In seinem Text beschreibt Karel Dudesek seine Innenansicht der künstlerischen Praxis im Rahmen der Künstlergruppe Van Gogh TV. Der Text ist ein Wiederabdruck von 1992. KAREL DUDESEK THE NEW ELOQUENCE IN PUBLIC SPACE In his text Karel Dudesek describes his inner view of artistic practice within the artist group Van Gogh TV. The text is a reprint from 1992. TEXT ZU VGTV AUS PRINZ ENTWICKLUNGSMÖGLICHKEITEN DES INTERAKTIVEN FERNSEHENS. GESPRÄCH MIT DEN VAN GOGH TV-KÜNSTLERN Eine rare Unterhaltung mit Van Gogh TV von 1992. NAVIGATIONEN 188 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK ABSTRACTS TEXT ZU VGTV AUS PRINZ DEVELOPMENT POSSIBILITIES OF INTERACTIVE TELEVISION. CONVERSATION WITH THE VAN GOGH TV-ARTISTS A rare conversation with Van Gogh TV from 1992. BENJAMIN HEIDERSBERGER IM GESPRÄCH MIT JAN CLAAS VAN TREECK DIE ENDEN DES INTERNETS: PIAZZA VIRTUALE REVISITED Ab 1986 hat Benjamin Heidersberger in der Künstlergruppe Ponton/Van Gogh TV (Karel Dudesek, Benjamin Heidersberger, Mike Hentz, Salvatore Vanasco sowie ein großes und talentiertes Team) und später mit seiner Firma Ponton-Lab GmbH in verschiedenen praktischen Projekten Kommunikation im virtuellen Raum erforscht und einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Höhepunkt war Piazza virtuale 1992 auf der documenta IX in Kassel, die im Mittelpunkt eines dreijährigen DFG-Forschungsprojektes steht, dass von der Hochschule Mainz und der Universität Bonn durchgeführt wird. Anlässlich der Aufarbeitung zieht Benjamin Heidersberger im Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Jan Claas van Treeck Bilanz über eine Arbeit von 35 Jahren und einen Ausblick über die Konvergenz von realem und virtuellem Raum. BENJAMIN HEIDERSBERGER IN CONVERSATION WITH JAN CLAAS VAN TREECK THE ENDS OF THE INTERNET: PIAZZA VIRTUALE REVISITED Starting in 1986 Benjamin Heidersberger as a member of the artist group Ponton/Van Gogh TV (Karel Dudesek, Benjamin Heidersberger, Mike Hentz, Salvatore Vanasco and a large and talented team) and later with his company Ponton-Lab GmbH explored communication in virtuale space in practical experiments and made them accessible to a broad audience. The most renown project was Piazza virtuale showcased in 1992 at documenta IX in Kassel. Currently Piazza virtuale is the focus of a DFG-funded 3-year-research-project headed by the University of Applied Sciences Mainz and University Bonn. On the occasion of this renewed interest in his projects Benjamin Heidersberger - in a conversation with media theorist Jan Claas van Treeck - looks back at his past projects of 35 years and speculates about the convergence of real and virtual spaces. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 189 ABSTRACTS JESSICA NITSCHE »THE POLITICS OF TECHNOLOGICAL FANTASY«. MIT DEM ELECTRONIC CAFÉ INTERNATIONAL ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT Der Beitrag folgt der These, dass Medienkunst als besonders technikaffine Kunstform als Seismograph zukünftiger Medien dienen kann. Deutlich gemacht wird dies am Beispiel des Projekts Electronic Café International (ECI), das 1992 anlässlich der documenta IX entstand, für das technologiebasierte Interaktivität kennzeichnend war und das zugleich an künstlerische Traditionen (Künstlercafé) wie auch konkrete Vorgängerprojekte angeknüpft hat (Electronic Café, Los Angeles 1984; Café Casino, Kassel 1987). Auf Basis meiner Recherchen im Medienkunstarchiv der Stiftung imai stellt der Beitrag das ECI und einige seiner Projekte vor. In seiner Gesamtkonzeption wird es als medienkünstlerische Positionen in den Blick genommen, die den Stand der Technik ausgelotet und auf der Basis der ISDN-Technologie interaktive Netz(werk)kunst betrieben hat, bevor das Internet zu deren Leitmedium wurde. So kann gezeigt werden, wie in der retrospektiv so bezeichneten Prä-Internet-Ära netz(werk)basierte Kunst realisiert wurde und wie in der Zeit des Medienumbruchs vom Analogen zum Digitalen zukünftige Medien imaginiert wurden. JESSICA NITSCHE »THE POLITICS OF TECHNOLOGICAL FANTASY«. BACK TO THE FUTURE WITH THE ELECTRONIC CAFÉ INTERNATIONAL The article follows the thesis that media art, as a particularly technology-savvy art form, can serve as a seismograph for future media. This is shown by the example of the Electronic Café International (ECI) project, which was created on the occasion of documenta IX (Kassel 1992). It was characterised by technology-based interactivity and at the same time tied in with artistic traditions (artists’ café) as well as concrete previous artistic projects (Electronic Café, Los Angeles 1984; Café Casino, Kassel 1987). Based on my research in the media art archive of the imai Foundation, the article presents the ECI and some of its projects. It is considered as a position within media art that explored the state of the art and practiced interactive net (work) art on the basis of ISDN technology before the Internet became its key medium. In this way, it can be shown how net(work)-based art was realised in the retrospectively so-called pre-Internet era and how future media were imagined in the time of the media upheaval from analog to digital. NAVIGATIONEN 190 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK ABSTRACTS CAROLIN HÖFLER »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST«. MEDIENARCHITEKTUREN DES DOKUMENTARISCHEN. Angesichts aktueller globaler Krisen- und Katastrophendiskurse beschäftigen sich Architektur und Design zunehmend mit technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Innovationen für zukünftige bauliche Umwelten. Medial- experimentelle künstlerische Entwurfspraktiken werden hierbei von der Innovationsökonomie aufgegriffen und für die technologiegetriebene Planung optimierter Lebenswelten eingesetzt, wodurch sie an kritischem Potenzial einbüßen. Mit Blick darauf geht der Beitrag der Frage nach, wie das mediale Experimentieren als eine kritisch-reflexive Praktik des Entwerfens neu bestimmt werden kann. Anhand von Fallbeispielen werden dokumentarische und aktivistische Formen in Architektur und Design untersucht, die mittels digitaler Techniken der Modellierung, Simulation und Visualisierung darauf abzielen, mediale wie gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsprozesse aufzuzeigen und einen sozialen und politischen Wandel herbeizuführen. Der Beitrag fragt nach Narrativen, Medien und Praktiken der Gestaltung des Zukünftigen, die sich nicht in das ökonomische Innovationsdispositiv eingliedern, sondern umgekehrt versuchen, gegenöffentliche Zukunftsimaginationen zu prägen und alternative Öffentlichkeiten zu ermöglichen. CAROLIN HÖFLER »THE IMAGINARY GAZE OF A FUTURE ARCHAEOLOGIST«. MEDIA ARCHITECTURES OF THE DOCUMENTARY. In light of contemporary discourses on global crises and catastrophes, architecture and design are increasingly concerned with technical, economic and social innovations that will inform future built environments. Responses emerging from media-experimental artistic practices are hollowed out by an innovation economy that is looking for technological fixes and profit-oriented optimization, thereby forfeiting their discursive and critical potential. This paper aims an analysis of media experimentation as a critically reflexive practice of design with a focus on case studies of documentary and activist modes of architectural and design practice, that employ digital modeling, simulation, and visualization techniques in order to reveal social power structures and fuel social and political change. What are the narratives, media, and practices that are not assimilated into the economic innovation dispositif, but shape counter-public imaginaries of possible futures and allow for alternative public spheres? NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 191 ABSTRACTS SABINE FLACH I WATCH THAT WORLDS PASS BY Die Theoretiker Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker beschreiben die gegenwärtige Zeit als Metamoderne, deren Charakteristika sich von der Postmoderne deutlich absetzen, ohne die Postmoderne gänzlich zu negieren. Signifikant für die Metamoderne ist indes ein Geschichtsverständnis, das sich teleologischer Narrativität entzieht. Der Beitrag analysiert Kunstwerke, die sich mit den klassischen Analysemethoden nicht fassen lassen, weil sie an sich meta, über den konventionalisierten Zuschreibungen liegen. Diese Form des Verständnisses wirft Fragen auf: Wie entwirft Kunst Geschichte? Und wie und wodurch entwirft Kunst Geschichte anders, als schlicht chronologische, teleologische Historie? Diese Kunstwerke sind ein Reflexionsraum, doch wie gehen sie über die Unvermeidlichkeit der Faktizität des Historischen hinaus? Welche Wirkung wird etabliert, die den Unterschied zu jenen Vorlagen ausmacht, die als Dokumente der blinden Faktizität des Medienzeitalters gelten können? Diese Fragen werden anhand der künstlerischen Positionen, die beispielhaft für Praktiken der Metamoderne stehen, diskutiert. SABINE FLACH I WATCH THAT WORLDS PASS BY The theorists Timotheus Vermeulen and Robin van den Akker describe the present time as metamodern, whose characteristics clearly differ from postmodernism without completely negating postmodernism. What is significant for metamodernism, however, is an understanding of history that eludes teleological narrativity. The contribution analyzes works of art that cannot be grasped with the classical methods of analysis because they are meta in themselves, above the conventionalized ascriptions. This form of understanding raises questions: How does art create history? And how and by what means does art understand history differently than simply chronological, teleological history? These works of art are a space for reflection, but how do they go beyond the inevitability of the factuality of the historical? What effect is established that makes the difference to those templates that can be regarded as documents of the blind facticity of the media age? These questions are discussed on the basis of the artistic positions that exemplify the practices of metamodernism. NAVIGATIONEN 192 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK ABSTRACTS KATRIN KÖPPERT RIFTED ALGORITHMS. DIGITALE MEDIENKUNST POSTAFRIKANISCHER ZUKÜNFTE TABITA REZAIRE: DEEP DOWN TIDAL (2017) Am Beispiel von Deep Down Tidal (2017) von Tabita Rezaire geht der Beitrag der Frage nach, inwiefern sich in dieser Ästhetik der digitalen Medienkunst postafrikanische Zukünfte artikulieren, die als Gegenzukunft im Sinne von Dekolonialität verstanden werden können. Im Zentrum dieser dekolonialen Gegenzukunft stehen Formen der Sozialität, die an bestimmte historische afrikanische Kulturen des Digitalen anschließen. Die gegenzukünftige Medienästhetik Post-Afrikas leitet sich danach aus einem Technologie-Verständnis ab, das mit Natur verkoppelte Sozialität und Spiritualität immer schon inkludiert. Gleichzeitig wird deutlich, dass sich aufgrund dieses Verständnisses der dekoloniale Begriff von Heilung anders konfiguriert: Heilung wird folglich als der digitale Code postafrikanischer Zukünfte behauptet, der als Gegenzukunft Gegenwart umzuprogrammieren erlaubt und dabei nicht mit Holismus zu verwechseln ist. Healing is, instead, a rifted algorithm. KATRIN KÖPPERT RIFTED ALGORITHMS. DIGITAL MEDIA ART OF POST-AFRICAN FUTURES TABITA REZAIRE: DEEP DOWN TIDAL (2017) Using the example of Deep Down Tidal (2017) by Tabita Rezaire, the article explores the question of the extent to which post-African futures are articulated in this aesthetic of digital media art, which can be understood as a counter-future in the sense of decoloniality. At the centre of this decolonial counter-future are forms of sociality that connect to certain historical African cultures of the digital. The future media aesthetics of post-Africa is derived from an understanding of technology that always includes sociality and spirituality coupled with nature. At the same time, it becomes clear that due to this understanding, the decolonial concept of healing is configured differently: Healing is thus asserted as the digital code of post-African futures, which allows the present to be reprogrammed as a counter-future and is not to be confused with holism. Healing is, instead, a rifted algorithm. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 193 ABSTRACTS JENS SCHRÖTER DIGITALLY RE-INVENTING THE MEDIUM II. WAS KÖNNTE EIN MACHINE- LEARNING-MODERNISMUS SEIN? In dem Text soll Machine Learning als künstlerisches Werkzeug betrachtet werden – und dieses neuartige Verfahren auf eine im Grunde alte, ›modernistische‹ Frage künstlerischer Strategien, nämlich der Frage nach der Reflexion des zugrundeliegenden Mediums, bezogen werden. Könnte man sich vorstellen, dass die Mustererkennung der ML-Systeme möglich macht, diese scheinbar obsoleten Fragen noch einmal neu zu stellen? Dazu wird auf den Diskurs des Modernismus, seine Relationen zu Computern und seine Limitationen eingegangen. Dabei wird die Frage aufzuwerfen sein, ob man die Frage nach der Medienspezifik im »Medium der Digitalität« (Rebentisch) noch einmal ganz neu stellen kann oder muss. Es wird das signifikante Beispiel Actress/Young Paint diskutiert. JENS SCHRÖTER DIGITALLY RE-INVENTING THE MEDIUM II. WHAT COULD BE A MACHINE-LEARNING MODERNISM? In the text, Machine Learning will be considered as an artistic tool - and this novel procedure will be related to an essentially old, ›modernist‹ question of artistic strategies, namely the question of reflection on the underlying medium. Could one imagine that the pattern recognition of ML systems makes it possible to ask these seemingly obsolete questions anew? To this end, the discourse of modernism, its relations to computers, and its limitations will be addressed. The question will be raised whether the question of media specificity in the »medium of digitality« (Rebentisch) can or must be posed anew. The significant example of Actress/Young Paint will be discussed. NAVIGATIONEN 194 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK ABSTRACTS MARIUS GOLDHORN NACHRICHT MIT UNKLARER ABSICHT – UNEINDEUTIGE ANTWORTEN ZU EINER FRAGE, DIE ICH NICHT KENNE In dem Essay Nachricht mit unklarer Absicht – Uneindeutige Antworten zu einer Frage, die ich nicht kenne versucht Marius Goldhorn im Dreieck Wahnsinn, Dialog und AI springend eine Perspektive auf automatisches Schreiben zu geben. MARIUS GOLDHORN MESSAGE WITH UNCLEAR INTENTION – AMBIGUOUS ANSWERS TO A QUESTION I DON'T KNOW In the essay Nachricht mit unklarer Absicht – Uneindeutige Antworten zu einer Frage, die ich nicht kenne (Message with Unclear Intention – Ambiguous Aanswers to a Question I Don't Know) Marius Goldhorn tries to give a perspective on automatic writing by jumping in the triangle of madness, dialogue and AI. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 195 AUTOR:INNENVERZEICHNIS Prof. Dr. Tilman Baumgärtel lehrt Medientheorie an der Hochschule Mainz. Er hat von 2005-2009 am Film Institute der University of the Philippines in Manila und von 2009-2012 am Department of Media and Communication an der Royal University of Phnom Penh Medienwissenschaft und Journalismus unterrichtet. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören alternative Kinoformen, Medienkunst und Netzkultur und -kunst, über die er in Deutschland schon Ende der 1990er Jahre schrieb. Er lebt in Berlin. Ausgewählte Publikationen: Vom Guerilla-Kino zum Essayfilm: Harun Farocki. Monographie eines deutschen Autorenfilmers, Berlin 1998; net.art. Materialien zur Netzkunst, Nürnberg 1999; Schleifen. Zur Geschichte und Ästhetik des Loops, Berlin 2015; Texte zur Theorie des Internets, Stuttgart 2017; Texte zur Theorie der Werbung, Stuttgart 2018. GIF. Klassiker wider Willen, Berlin 2020; Gogh TV's »Piazza Virtuale«. The Invention of Social Media at documenta 9 in 1992, Bielefeld 2021 Karel Dudesek wurde erstmals mit Minus Delta T bekannt: Während der Ölkrise in den 1970er Jahren transportierte er ein Fass Rohöl nach Bagdad. Anschließend trampten die Künstler mit US-amerikanischen Armeeuniformen nach Polen. Minus Delta T agierten im öffentlichen Raum, versuchten die üblichen Sichtweisen auf die Dinge zu stören und standen in bester aktionistischer Tradition. Später verlagerten Dudesek u.a. ihre künstlerische Praxis vom öffentlichen Raum ins Virtuelle. Die Medien als gesellschaftsverändernde Faktoren rückten in den Fokus ihrer Kunst. Ein Omnibus diente ab 1985 als mobiles Medienlabor und unter dem Label Ponton entstand das interaktive Fernsehprojekt Van Gogh TV. Auf der documenta IX (1992) realisierte Dudesek mit Van Gogh TV ein 100 Tage langes interaktives Fernsehprogramm Piazza virtuale, das eine Kombination aus Telefon, Fax, Mailbox und Live-Kameras an öffentlichen Plätzen und die Steuerung von Computerspielen über Touch-Tone und Telefon war. Worlds Within für die Olympischen Spiele 1996 in Atlanta war das bisher größte Projekt von Dudesek. Worlds Within ist ein grafisch umgesetzter Chatroom. 1999 wurde Dudesek als Nachfolger von Peter Weibel Professor an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. PD Dr. Christoph Ernst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bonn. 2014-2015 Vertretung der Professur für Multimediale Systeme an der Universität Siegen, 2015-2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter für Medientheorie an NAVIGATIONEN AUTOR:INNENVERZEICHNIS der Universität Bonn, dort auch 2017-2018 Vertretung der Professur für Medienkulturwissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Diagrammatik und Medien- ästhetik der Informationsvisualisierung; Theorien des impliziten Wissens und digitale Medien, insbesondere Interfacetheorie; Ästhetik und Theorie audiovisueller Medien (Film und Fernsehen). Er lebt im Rhein-Main-Gebiet. Publikationen: (zusammen mit Jens Schröter): Zukünftige Medien. Eine Einführung, Wiesbaden 2020; Diagramme zwischen Metapher und Explikation, Bielefeld 2021. Prof. Dr. Sabine Flach ist Professorin für Moderne und Gegenwartskunst an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Sie ist Leiterin des Instituts für Kunstgeschichte und Leiterin des Zentrums für GegenwartsKunst. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind Kunst und Kunstgeschichte des 19., 20. und 21. Jahrhunderts (mit Schwerpunkt auf Europa, Nordamerika, West- und Südafrika); Kunstwissenschaften und Ästhetische Theorien des 19., 20. und 21. Jahrhundert (mit Schwerpunkt auf Europa, Nordamerika, West-und Südafrika); Theorie und Praxis Bildnerischer Erziehung; Kunsttheorie und Kunstwissenschaft als Lehre in der Freien und Angewandten Kunst; Kunsttheorien und Kunstphilosophie 19., 20. und 21. Jahrhunderts; Wissenschaftsgeschichte der Kunstwissenschaft (explizit 20. und 21. Jahrhundert/Epistemologie und Methodologie der Moderne und Gegenwartskunst. 2001-2005 Leitung des Forschungsprojekts (zusammen mit Sigrid Weigel und Mitarbeit von Sandra Mühlenberend) ›WissensKünste. Die Kunst zu wissen und das Wissen der Kunst‹. Ausgewählte Publikationen: (Hrsg. zusammen mit Suzanne Anker): Frank Gillette. Axis of Observation II, Bern/Berlin/New York (u.a.) 2021; Sense Sensibility. Aesthetics, Aisthesis and Media of Embodiment / Die Sinne spüren. Ästhetik, Aisthesis und Medien der Verkörperung, Bern 2020. Marius Goldhorn, geboren 1991, ist ein deutscher Schriftsteller. 2020 erschienen sein Debütroman Park im Suhrkamp Verlag und der Gedichtband yin im Korbinian Verlag. Benjamin Heidersberger hat ab 1986 in der Künstlergruppe Ponton/Van Gogh TV (zusammen mit Karel Dudesek, Mike Hentz, Salvatore Vanasco sowie eines großen, talentierten Teams) und später mit seiner Firma ›Ponton-Lab GmbH‹ in verschiedenen praktischen Projekten Kommunikation im virtuellen Raum erforscht und einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Höhepunkt war Piazza virtuale 1992 auf der documenta IX in Kassel, die im Mittelpunkt eines dreijährigen DFG- Forschungsprojektes steht, das von der Hochschule Mainz und der Universität Bonn durchgeführt wurde. NAVIGATIONEN 198 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK AUTOR:INNENVERZEICHNIS Prof. Dr. Carolin Höfler ist Professorin für Designtheorie und -forschung an der Köln International School of Design der TH Köln und Sprecherin der Forschungsstelle ›Echtzeitstadt/Real-Time City‹ der TH Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design, architektonische Bildlichkeit, ephemerer Urbanismus. Publikationen: »Über die Wirkmacht der Linie: Hadids Kalligrafie«, in: Barlieb, Christophe/Gasperoni, Lidia (Hrsg.): Media Agency. Neue Ansätze zur Medialität in der Architektur (ArchitekturDenken 10), Bielefeld 2019, S. 69-99; »Unwiederholbare Experimente. Entwerfen zwischen Grenzziehung und Überschreitung«, in: Marguin, Séverine (u.a.) (Hrsg.): Experimentieren. Einblicke in Praktiken und Versuchsaufbauten zwischen Wissenschaft und Gestaltung (Sciences Studies), Bielefeld 2019, S. 247-262; »Image Contact: Haptic Actions in Virtual Spaces«, in: Bonner, Marc (Hrsg.): Game/World/Architectonics. Transdisciplinary Approaches on Structures and Mechanics, Levels and Spaces, Aesthetics and Perception, Heidelberg 2021, S. 217-235. Jun.-Prof. Dr. Katrin Köppert ist Kunst- und Medienwissenschaftlerin. Seit Oktober 2019 ist sie Juniorprofessorin für Kunstgeschichte/populäre Kulturen an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Zu den Arbeitsschwerpunkten zählen Queer Media Theory, Affect Studies und politische Gefühle, Digitale Feminismen und Kunst, Post-, und Dekoloniale (Medien-)Theorien des Anthropozäns, Gender, Race und Fotografie. Sie leitet (zusammen mit Julia Bee) das DFG-Forschungsnetzwerk ›Gender, Medien und Affekt‹. Zuletzt erschienen ist u.a. die Monographie: Queer Pain. Schmerz als Solidarisierung, Fotografie als Affizierung, Berlin 2021. Dr. Jessica Nitsche ist freiberufliche Kunst- und Medienwissenschaftlerin und lehrt unter anderem an der Universität Paderborn, wo sie 2018 die Professur für Medientheorie und Medienkultur vertreten hat. Zuvor war sie im Rahmen des Forschungsprojekts ›Die Medienkunstagentur 235 MEDIA‹ Postdoc-Stipendiatin der Gerda Henkel Stiftung und Research Fellow der Stiftung imai. Sie untersucht Produktionsbedingungen, Ökonomisierung und Internationalisierung von Medienkunst. Weitere Forschungsschwerpunkte sind: Das Dokumentarische im Kunstfeld; Konstellationen von Medien, Kunst und Politik; Geschichte und Theorie der Fotografie. Zu den jüngsten Publikationen gehören: »Zeit erfahren. Echtzeit in Experimental- und Undergroundfilm«, in: Kaul, Susanne/Brössel, Stephan (Hrsg.): Echtzeit im Film. Konzepte – Wirkungen – Kontexte, Paderborn 2020, S. 347-370; (Hrsg. zusammen mit Renate Buschmann): Video Visionen. Die Medienkunstagentur 235 Media als Alternative im Kunstmarkt, Bielefeld 2020; (Hrsg. zusammen mit Nadine Werner): Entwendungen. Walter Benjamin und seine Quellen, Paderborn 2019. NAVIGATIONEN Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK 199 AUTOR:INNENVERZEICHNIS Prof. Dr. Jens Schröter ist Inhaber des Lehrstuhls für Medienkulturwissenschaft an der Universität Bonn. Zuvor war er Professor für Multimediale Systeme an der Universität Siegen, 2008-2015 und Leiter der Graduiertenschule ›Locating Media‹ an der Universität Siegen 2008-2012. Seit 2012 Antragssteller und Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs 1769 ›Locating Media‹ der Universität Siegen. Seit dem 01.04.2018 Leiter (zusammen mit Anja Stöffler, FH Mainz) des DFG-Projekts: ›Van Gogh TV. Erschließung, Multimedia-Dokumentation und Analyse ihres Nachlasses‹. Seit dem 01.11.2018 Sprecher des Projekts ›Die Gesellschaft nach dem Geld – Eine Simulation‹, VW Stiftung. Seit dem 01.04.2020 Sprecher und Leiter des Planning Grants: ›How is Artificial Intelligence Changing Science?‹, SS 20 Fellowship am SFB 1015 ›Muße‹, Freiburg. WS 21 22 Fellowship am CAIS, Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Digitale Medien, Photographie, Fernsehserien, Dreidimensionale Bilder, Intermedialität und Kritische Medientheorie. Jüngste Publikationen: (zusammen mit Till Heilmann): »Marx. Geld. Digitale Medien«, in: Maske und Kothurn 64, 1/2, 2018; (als Teil des ›Projekts Gesellschaft nach dem Geld‹): Society after Money. A Dialogue, New York 2019; (zusammen mit Armin Beverungen, Philip Mirowski und Edward Nik-Khah): Markets, Minneapolis/London, 2019; Medien und Ökonomie. Eine Einführung, Wiesbaden 2019; (zusammen mit Christoph Ernst): Zukünftige Medien. Eine Einführung, Wiesbaden 2020.Visit: www.medienkulturwissenschaft-bonn.de. Dr. Jan Claas van Treeck ist Medienwissenschaftler an der Martin-Luther- Universität Halle-Wittenberg. Studium an der Ruhr-Universität Bochum und der Yale University, dort auch Promotion zum PhD, dazwischen längjährige Tätigkeit als Consultant und Strategieberater für ›Fortune 500-Firmen‹ und das ›CANSOFCOM‹ der Canadian Army. Forscht zu Kybernetik, Mensch-Maschine- Interaktionen, Cyborgs, Sonizität, Medienkunst, Biohacking, Technosensing und Posthumanismus. Biohacker, der den in seiner linken Hand implantierten NFC- Chip für völlig überbewertet hält. Letzte Veröffentlichung: »Die Medialitäten der (Gesamt-)Kunst. Richard Wagner und Gabriele D' Annunzio«, in: Amodeo, Immacolata/Vogel-Walter, Bettina (Hrsg.): Kunst wird Macht. Richard Wagner und Gabriele D' Annunzio, Stuttgart 2020, S. 33-41. NAVIGATIONEN 200 Z UK ÜNF TIG E M ED IEN ÄS TH ET IK LIEFERBARE HEFTE Kulturen des Kopierschutzes I Herausgegeben von Jens Schröter, Ludwig Andert, Carina Gerstengarbe, Karoline Gollmer, Daniel Köhne, Katharina Lang, Doris Ortinau, Anna Schneider u. Xun Wang; weitere Beiträger: Stefan Meretz u. Martin Senftleben. 2010 Jg. 10 H.1 - 135 Seiten Kulturen des Kopierschutzes II Herausgegeben von Jens Schröter, Ludwig Andert, Carina Gerstengarbe, Karoline Gollmer, Daniel Köhne, Katharina Lang, Doris Ortinau, Anna Schneider u. Xun Wang; weitere Beiträger: Brian Winston, Till A. Heilmann u. Alexander Fyrin. 2010 Jg. 10 H.2 - 138 Seiten High Definition Cinema Mit Beiträgen von Jens Schröter, Marcus Stiglegger, Helmut Schanze, Ivo Ritzer, Jörg von Brincken, Benjamin Beil, und einem Nachruf für Gundolf Winter. Herausgeber: Jens Schröter, Marcus Stiglegger 2011 Jg. 11 H.1 - 111 Seiten Game Laboratory Studies Mit Beiträgen von Jens Schröter, Philipp Bojahr, Tobias Gläser, Lars Schröer, Gisa Hoffmann, Marlene Schleicher u.a. Herausgeber: Benjamin Beil, Thomas Hensel 2011 Jg. 11 H.2 - 149 Seiten Film Körper. Beiträge zu einer somatischen Medientheorie Mit Beiträgen von Kai Naumann, Julia Reifenberger, Irina Gradinari, Susanne Kappesser, Romi Agel u.a. Herausgeber: Ivo Ritzer, Marcus Stiglegger 2012 Jg. 12 H.1 - 145 Seiten I am Error - Störungen des Computerspiels Herausgeber: Benjamin Beil, Philipp Bojahr, Thomas Hensel, Markus Rautzenberg, Stephan Schwingeler, Andreas Wolfsteiner 2012 - Jg. 12 H.2 - 118 Seiten Der Medienwandel der Serie Mit Beiträgen von Gabriele Schabacher, Michael Cuntz, Nicola Glaubitz, Lorenz Engell, Herbert Schwab u. Isabell Otto. Herausgeber: Dominik Maeder, Daniela Wentz 2013 - Jg. 13 H.1 - 145 Seiten Vom Feld zum Labor und zurück Mit Beiträgen von Anna Brus, Juri Dachtera, Anja Dreschke, Katja Glaser, Matthias Meiler u.a. Herausgeber: Raphaela Knipp, Johannes Paßmann, Nadine Taha 2013 - Jg. 13 H.2 - 187 Seiten Pasolini - Haneke: Filmische Ordnungen von Gewalt Mit Beiträgen von Konrad Paul, Hans J. Wulff, Oliver Jahraus, Uta Felten, Marcus Stiglegger u.a. Herausgeber: Marijana Erstic, Christina Natlacen 2014 - Jg. 14 H.1 - 130 Seiten 50 Jahre Understanding Media Mit Beiträgen von Barbara Filser, Till A. Heilmann, Rembert Hüser, John D. Peters, Nina Wiedemeyer u. Marshall McLuhan. Herausgeber: Jana Mangold, Florian Sprenger 2014 - Jg.14 H.2 - 124 Seiten Medien der Kooperation Mit Beiträgen von Erhard Schüttpelz, Sebastian Gießmann, Susan Leigh Star, Heinrich Bosse, Kjeld Schmidt, Mark-Dang Anh, Ilham Huynh u. Matthias Meiler. Herausgeber: AG Medien der Koperation 2015 - Jg.15 H.1 - 148 Seiten Von akustischen Medien zur auditiven Kultur Zum Verhältnis von Medienwissenschaft und Sound Studies Mit Beiträgen von Rolf Großmann, Maren Haffke, Felix Gerloff, Sebastian Schwesinger, Lisa Åkervall, Sarah Hardjowirogo, Malte Pelleter u.a. Herausgeber: Bettina Schlüter, Axel Volmar 2015 - Jg.15 H.2 - 164 Seiten PLAYIN‘ THE CITY Artistic and Scientific Approaches to Playful Urban Arts Mit Beiträgen von Miguel Sicart, Martin Reiche, Michael Straeubig, Sebastian Quack, Marianne Halblaub Miranda, Martin Knöll u.a. Herausgeber: Judith Ackermann, Andreas Rauscher, Daniel Stein 2016 - Jg.16 H.1 - 182 Seiten Medienwissenschaft und Kapitalismuskritik Mit Beiträgen von Christian Siefkes, Christoph Hesse, Christine Blättler, Martin Doll, Jens Schröter, Till A. Heilmann, Andrea Seier u. Thomas Waitz. Herausgeber: Jens Schröter, Till A. Heilmann 2016 - Jg.16 H.2 - 165 Seiten Medienpraktiken Situieren, erforschen, reflektieren Mit Beiträgen von Anna Lisa Ramella, Christian Meyer, Christian Meier zu Verl, Raphaela Knipp, Christoph Borbach, Erhard Schüttpelz, Andreas Henze u.a. Herausgeber: Mark Dang-Anh, Simone Pfeifer, Clemens Reisner, Lisa Villioth 2017 - Jg. 17 H.1 - 169 Seiten Medien, Interfaces und implizites Wissen Mit Beiträgen von Christoph Ernst, Jan Distelmeyer, Timo Kaerlein, Thomas Christian Bächle, Peter Regier, Maren Bennewitz, Regina Ring, Sabine Wirth u. Jens Schröter. Herausgeber: Christoph Ernst, Jens Schröter 2017 - Jg. 17 H.2 - 155 Seiten Queer(ing) Popular Culture Mit Beiträgen von Daniel Stein, Uta Fenske, Florian Krauß, Joanna Nowotny, Rebecca Weber, Tim Veith, Joanna Stàskiewicz, Andreas Rauscher, A. Benedict Wolf u. Sebastian Zilles. Herausgeber: Sebastian Zilles 2018 - Jg. 18 H.1 - 181 Seiten Medienindustrien Aktuelle Perspektiven aus der deutschsprachigen Medienwissenschaft Mit Beiträgen von Florian Krauß, Skadi Loist, Nathalie Knöhr, Marion Jenke, Pablo Abend, Andy Räder, Kiron Patka, Elizabeth Prommer, Thomas Wiedemann u. Tanja C. Krainhöfer. Herausgeber: Florian Krauß, Skadi Loist 2018 - Jg. 18 H.2 - 199 Seiten Immersion Grenzen und Metaphorik des digitalen Subjekts Mit Beiträgen von Rainer Mühlhoff, Theresa Schütz, Franziska Winter, Christiane Heibach, Jan Torpus, Andreas Simon, u.a. Herausgeber: Thiemo Breyer, Dawid Kasprowicz 2019 - Jg. 19 H.1 - 146 Seiten NEUE RECHTE UND UNIVERSITÄT Mit Beiträgen von Jens Schröter, Clemens Knobloch, Friedemann Vogel, Erhard Schütz, Nadine Taha, Carolin Wiedemann, u.a. Herausgeber: AG Siegen Denken 2019 - Jg. 19 H.2 - 166 Seiten SPIEL|MATERIAL Mit Beiträgen von Claudius Clüver, Max Kanderske, Timo Schemer-Reinhard, Finja Walsdorff, Felix Raczkowski, Judith Ackermann, Pablo Abend u.a. Herausgeber: GamesCoop 2020 - Jg. 20 H.1 - 199 Seiten Filter(n) - Geschichte Ästhetik Praktiken Mit Beiträgen von Hartmut Winkler, Monique Miggelbrink, Ilka Becker, Till A. Heilmann, Golo Föllmer u.a. Herausgeber: Theresia Bäcker, Jasmin Kathöfer, Christian Schulz 2020 - Jg. 20 H.2 - 198 Seiten MULTISPECIES COMMUNITIES Mit Beiträgen von Clara Mancini, Hanna Wirman, Fredrik Aspling, Jinyi Wang, Oskar Juhlin, Jens Hauser, Jussi Parikka, Martina Szopek, u.a. Herausgeber: Ina Bolinski, Stefan Rieger 2021 - Jg. 21 H.1 - 262 Seiten