Berichte 271 Katharina Wloszczynska Orte des Films. Von der Kino-Ontologie zur Medientopologie. Internationale Konferenz an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 22.–24. November 2012 Auch wenn der Film in seiner klas- filmischen Verortungsproblematik wird sischen 35mm-Zelluloid-Gestalt natürlich auch unabhängig von den tech- zunehmend unsere Erfahrungswelt nologischen Entwicklungen seit Ausgang verlässt, sind wir heute zweifelsohne des 20. Jahrhunderts produktiv – zum mehr denn je umgeben von Formen einen da transmediale Migrationspro- des Filmischen: Stadträume wer- zesse das bewegte Bild bekanntermaßen den zu Medienfassaden, Menschen von Beginn an begleiten, zum anderen veröffentlichen ihren Alltag per weil das Filmbild nicht nur in Räumen Internet-Lifecasting, medizinische existiert, sondern solche auch in mannig- Diagnoseverfahren und Computer- faltiger Weise selbst schafft. spiele bringen Bildwelten mit kine- Dieser Thematik widmete sich die matographischer Anmutung hervor, internationale Konferenz „Orte des Films. Bewegtbild-Installationen bespielen Von der Kino-Ontologie zur Medien- den Museumsraum. So müssen ange- topologie“, die vom 22. bis zum 24. sichts der medientechnischen Neu- November 2012 am Kunsthistorischen erungen unserer Zeit gleichermaßen Seminar der Friedrich-Schiller-Univer- Fragen zur ontologischen wie zur topo- sität Jena stattfand. Die institutionelle logischen Dimension des Filmbildes Einbindung der Filmwissenschaft in virulent werden. Eine Erforschung der die Kunstgeschichte führe nicht nur im 272 MEDIENwissenschaft 3/2013 akademischen Alltag zu einer gegensei- Anbetracht der konzeptuellen Heraus- tigen Bereicherung, wie Steffen Siegel, forderungen, die sich aus den neuen, Juniorprofessor für Ästhetik des Wis- multiplen Orten des Films ergeben, sens an der Jenaer Universität, in seiner fragte Frisch nach den Bestimmungs- Begrüßungsrede berichten konnte. Der möglichkeiten dessen, was wir als ‚das durch die strukturelle Verbindung moti- Filmische‘ erkennen und schlug vor, vierte Dialog über die ganze Bandbreite eine Erweiterung des Filmbegriffs zu der bildgebenden Medien setzte sich erwägen. auch während der drei Konferenztage Diese Anregung schienen die fünf- in einem anregenden und ergiebigen zehn weiteren Beiträge der internatio- interdisziplinären Austausch der Teil- nalen TeilnehmerInnen, die gemeinsam nehmerInnen fort. Die Jenaer Tagung an der dynamischen film-, medien- und wartete mit noch einer weiteren Koope- kunstwissenschaftlichen Textur dieser ration auf: eine Artist Lecture mit dem Tagung woben, in der Pluralität ihrer Leipziger Künstler Sebastian Stumpf, Blicke auf das Filmbild implizit zu in dessen Werk die Auseinanderset- bekräftigen. Die Fäden der einzelnen zung mit Räumen und Grenzen des Vorträge durchkreuzten, verflochten filmischen und fotografischen Bildes und verlängerten einander zu einem eine zentrale Rolle einnimmt, ergänzte immer dichter werdenden Gedan- und inspirierte die wissenschaftlichen kennetz filmischer Ortsdiskurse, in Erörterungen. dem fünf thematische Knotenpunkte Simon Frisch von der Bauhaus- erkennbar wurden. Diese waren durch Universität Weimar, der zusammen ein jeweils anderes Verständnis des mit Steffen Siegel und Karl Sierek von titelgebenden Orts des Films bestimmt, der Friedrich-Schiller-Universität Jena nämlich als: (1) materieller Ort der diese Tagung initiiert hatte, spannte Filmbilder angesichts der Digitalisie- mit seinem Eröffnungsvortrag den rung; (2) Ort seiner Projektion; (3) Prä- Raum für Fragen nach dem Wesen und senz des Filmbildes in einem anderen Ort des Films weit auf, indem er neben Medium; (4) imaginärer, im Rezeptions- der Problematik einer Verortung des prozess entstehender Ort; (5) Verwer- Mediums selbst, auch jene der erfor- tungsraum des Artefakts ‚Film‘. schenden Disziplinen hervorhob: Wenn (1) Im Gegensatz zum analogen der Film durch die gegenwärtig beob- Filmbild, das als fotografische Spur auf achtbaren Migrationsbewegungen sei- einem Zelluloidstreifen gespeichert ist, ner Bilder in andere mediale Kontexte hat sein digitales Pendant keinen mate- ortsungebunden werde, dann entziehe riellen Ort mehr, da es im Augenblick er sich damit auch den traditionellen seiner Projektion immer neu errechnet Untersuchungskategorien der Film- wird. Die diesen Wandel begleitenden wissenschaft, die sich bis heute ihren Fragen zur Medialität des Films inspi- cinephilen Wurzeln, und damit der rieren neben medienwissenschaftlichen Annahme vom Kino als idealtypischem auch künstlerische Reflexionen. Ort des Films, verpflichtet zeige. In Berichte 273 Eine Begleiterscheinung tech- vertretenen Behauptung einer Stabilität nischer Innovationen in der Film- des Kinodispositivs bis zum Zeitalter geschichte sei die Entstehung von der digitalen Bilder stark. Spätestens die Theorie-Manifesten von Filmema- künstlerischen Entwicklungen Ende der cherInnen und KünstlerInnen, so 1960er-Jahre widersprechen nämlich die- Christa Blümlinger (Paris), die in ser Annahme, so Hagener. Im Zentrum ihrem Vortrag exemplarisch einige seiner Ausführungen stand die Welt- solcher heterotopischen Entwürfe aus ausstellung 1967 in Montréal, die er als den Umbruchszeiten der 1970er- und „kinematographisches Ereignis mit film- 2000er-Jahre vorstellte und die in historisch nicht ausreichend erkannter ihnen verhandelten Konzepte des fil- Bedeutung“ vorstellte. Mit ihren monu- mischen Dispositivs sowie filmischer mentalen Multi-Leinwand-Projektionen Ästhetik und Materialität beleuchtete. und zahlreichen anderen Versuchen zur So sei in gegenwärtigen künstlerischen Erweiterung des filmischen Dispositivs Selbstverortungen zum Beispiel eine bilde die Expo ’67 einen Kristallisations- Abwendung vom digitalen Film hin punkt in der Geschichte des projizierten zur Aufwertung des Zelluloids oder Bildes. Experimente mit Schauvorrich- zur Poetisierung des traditionellen Pro- tungen verschiedenen Formats seien aber jektionsapparats zu beobachten (Peter bereits vor der Ära des klassischen Kinos Tscherkassky, Tacita Dean). Blümlin- unternommen worden, wovon Grimoin- gers zahlreiche Beispiele fügten sich Sansons Cinéorama (ein Großpanorama zu einem bereichernden Überblick aus bewegten Bildern) auf der Weltaus- darüber, wie künstlerische Avantgar- stellung 1900 in Paris zeuge. Vor diesem den Orte des Films in verschiedenen Hintergrund plädierte Hagener für einen Dimensionen gedacht haben und den- neuen Blick auf die Filmgeschichte, der ken. von der Entwicklung des klassischen (2) Verlässt das Filmbild das Kino, Kinos abweichende Verwendungen des um beispielsweise im Ausstellungs- projizierten Bewegtbildes (zum Beispiel raum seinen neuen Ort zu finden, so in Filmkunst und Expanded Cinema) ergeben sich filmontologische und miteinschließe und damit dem Eindrin- rezeptionstheoretische Implikationen, gen des Kinematographischen in die All- die eine nähere Betrachtung lohnen. tagswelt, das seit Langem stattgefunden Denn auch wenn im Installations- habe, Rechnung trage. kontext das Großformat der Projek- (3) Nicht nur in der Eroberung neuer tion beibehalten wird, wird aufgrund Projektionsräume kann das Filmbild veränderter dispositiver Anordnungen einen neuen Ort finden, ebenso durch in zu durchschreitenden Räumen eine seine Einbindung in andere Medien andere Wahrnehmung des Bewegt- wie das Internet, das Computerspiel, bildes evoziert. die bildgebende Medizintechnik oder Malte Hagener (Marburg) machte die zahlreichen Screens verschiedenen sich für eine Revision der traditio- Formats, die zunehmend unseren Alltag nellerweise in der Filmwissenschaft begleiten. 274 MEDIENwissenschaft 3/2013 Steffen Siegel (Jena) setzte sich mit Spezifikum bestehe in seiner ambiva- dem Phänomen des Internet-Lifecas- lenten Seinsart, da es zugleich in der tings als medientopologischem Dispo- filmischen Welt und im Zuschauer- sitiv auseinander, das er im Hinblick raum entstehe, wodurch es das Publi- auf die Frage nach dem ‚Warum‘ der kum zu einem Teil des Films werden Rezeption untersuchte. Ohne den film- lasse. Adachi-Rabe erhellte die Potenti- wissenschaftlich prominenten Voyeuris- ale des filmischen Offs unter Rückgriff mus-Diskurs zu bemühen, beantwortete auf Denkmodelle dreier Philosophen Siegel diese mit dem Interesse an der – Henri Bergson, Gilles Deleuze flackernden Kontingenz der kontinuier- und Kitarō Nishida – und führte mit lichen visuellen Erfahrung, die durch Bezug auf Nishida aus, wie das Ich des das Filmbild ermöglicht werde. Der Reiz Zuschauers als ‚leerer Ort‘ zur Projek- liege also in der Ausstellung der Dauer tionsfläche für das Hors-champ werden des dargebotenen Bildes, an der der könne. Eine interessante Erweiterung Betrachter als an etwas Geschehendem, gegenüber ihrer Monografie zum sel- da Bewegtem partizipieren könne – ob ben Gegenstand stellte der temporale es sich dabei um das Geschehen an der Aspekt dar: da Raum und Zeit auch im Klagemauer oder in einer Privatwoh- Hors-champ koexistieren, schlug Ada- nung auf einem anderen Kontinent chi-Rabe vor, dieses nicht mehr nur in handle. Im Format des Internet-Lifecas- seiner räumlichen Dimension (wie in tings, das heute dank hoher Bandbrei- der Filmtheorie üblich), sondern auch ten eine kontinuierliche Übertragung von seiner Zeitlichkeit her zu denken. von Bilddaten gewährleistet, habe der (5) In Rezeptions- und Verwer- Film als Ort der Partizipation über die tungszusammenhängen nachrangiger Distanz eine neue mediale Rahmung Ordnung kann noch eine andere Form gefunden, in der er zu einem „Diorama der Verortung von Film stattfinden; der verstreichenden Zeit“ werde. Mit der nämlich dann, wenn archivarische, Migrationsbewegung des Filmbildes in restauratorische oder kanonisierende andere Medien ermöglichen nun auch Prozesse zu seiner Neukontextualisie- diese die ur-filmische Erfahrung: die rung und Neubewertung führen. Wer- Partizipation an reiner Dauer. den solche untersucht, liegt der Fokus (4) Ein weiterer Strang, dem die der Betrachtung stärker auf dem Film Tagungsbeiträge auf der Suche nach den als konkretem historischen Werk oder Orten des Films nachgingen, führte zu kommerziellem Produkt und weniger jenen variablen und ephemeren Räumen, auf allgemeinen Fragen nach dem onto- die in der ästhetischen Anschauung logischen Status des Filmbildes. durch die Interaktion des Betrachter- Matthias Weiß (Berlin) versuchte in bewusstseins mit dem Film entstehen. seinen Ausführungen den Stellenwert Kayo Adachi-Rabe (Düsseldorf ) der audiovisuellen Bestände des Joseph wandte sich in ihrem theoretisch dich- Beuys Medien-Archivs im Hinblick ten Vortag einem besonderen filmischen auf den Einfluss des Sichtungsortes (Nicht-)Ort zu – dem Hors-champ. Sein auf die Beurteilung und Weiterver- Berichte 275 wertung des filmischen Materials zu topologischen (Alexandra Schneider, bestimmen. Beuys’ Aktionskunst, die Amsterdam) Herausforderungen für die unter anderem gegen die Institution film- und medienwissenschaftliche For- ‚Museum‘ gerichtet war, sei heute nur schung hin. Insbesondere angesichts der noch dort zu rezipieren und erreiche gegenwärtigen medientechnologischen durch die Verortung im Archivraum Entwicklung wird letztere nämlich in andere Publikumsgruppen als zur Zeit der Auseinandersetzung mit Fragen ihrer Entstehung. Beuys’ Performances nach den Orten des Films mit den kon- haben in ihrer ursprünglich inten- zeptuellen Leerstellen ihrer etablierten dierten Form als TV-Übertragung Positionen konfrontiert. Diese selbstre- bereits Beobachtungsanordnungen flexive Dimension kann als Anregung zu zweiten Ranges geschaffen und seien sich an diese Konferenz anschließenden auf dem Datenträger im Archiv nun Erörterungen dienen. nur noch einer Beobachtung dritter Die produktive Tagungsatmosphäre, Ordnung zugänglich, so Weiß. Lege die ergiebigen Diskussionen sowie das man aber Beuys’ eigenen, erweiterten große Interesse seitens der Studierenden Kunstbegriff (jede Formerzeugung ist belegten nicht nur die Aktualität der Kunstproduktion) an die vorgefun- Thematik, sondern ebenso die Fruchtbar- dene Situation im Ort ‚Archiv‘ an, keit eines Zugangs zu filmwissenschaft- dann könne das Filmmaterial jenseits lichen Fragestellungen unter Einbezug der Quellenfunktion, in der es übli- einer kunsthistorischen Perspektive, wie cherweise rezipiert werde, auch als er in Jena gedacht und gelehrt wird. Die eigenständige künstlerische Ausein- Jenaer Tagung präsentierte sich in drei- andersetzung mit den Massenmedien facher Weise als kooperativer und syn- ausgewertet werden. ergetischer Raum: zum Ersten auf der Auf ihren Wegen zu und zwi- Ebene des transdisziplinären Austausches schen den möglichen Orten des zwischen KunsthistorikerInnen, Film- Films (die die fünfgliedrige Struktur und MedienwissenschaftlerInnen, zum dieser Rückschau zu benennen ver- Zweiten auf institutioneller Ebene als suchte), legten die Tagungsbeiträge Zusammenarbeit der Jenaer Kunst- und in ihren divergierenden Perspekti- Filmwissenschaft, und zum Dritten als ven auf audiovisuelle Phänomene in Kooperation der Friedrich-Schiller-Uni- verschiedenen medialen Kontexten versität Jena mit der Bauhaus-Universität einerseits die Vielfalt möglicher Unter- Weimar. So betonten die Organisatoren suchungsgegenstände einer topologisch Frisch und Siegel in ihren resümierenden orientierten Filmforschung dar, ließen Worten ihre Hoffnung auf eine Fortset- andererseits aber auch die Schwierig- zung der produktiven und inspirierenden keiten der systematischen Theoriebil- Zusammenarbeit auf all diesen Ebenen dung deutlich werden. Im Bewusstsein – man darf auf weitere Projekte gespannt dieser wiesen einige Vorträge explizit sein. auf die begrifflichen (Frisch), histori- ografischen (Hagener) und medien-