Fotografie und Film 87 Claus Tieber: Schreiben für Hollywood. Das Drehbuch im Studiosystem Münster: Lit 2008 (Reihe Filmwissenschaft, Bd. 4), 347 S., ISBN 978-3-8258-1166-2, € 29,90 Mit dem Band Schreiben für Holly- tigung des Drehbuchs in der filmischen wood schickt sich der Wiener Film- Interpretation. Ein sinnvolles erstes wissenschaftler Claus Tieber an, auf Korpus für eine solche Betrachtung stellt ein unbearbeitetes Problem in der das paradigmatische Modell des Hol- Forschung hinzuweisen, das bereits die lywood-Studiosystems bereit, weshalb gesamte Geschichte der internationalen sich Tieber mit den ersten Anfängen und Medienwissenschaften durchzieht, und der Entwicklung vom Scenario Script gleichsam zu seiner Lösung einen ers- zum Continuity Script, der Wieder- ten Beitrag zu leisten: die Berücksich- entdeckung von zentralen Figuren wie 88 MEDIENwissenschaft 1/2012 Frances Marion, aber auch den Proble- Auteur, 2006 auf der Berlinale von der men von Drehbuchautoren zur Zeit der Federation of European Screenwriters Schwarzen Liste in den 1950ern, hier programmatisch durch ein öffentlich beispielhaft gezeigt an Dalton Trumbo, vorgelegtes Manifest angeraten, berei- beschäftigt. Schreiben für Hollywood ver- chert und erneuert die Debatte um steht sich nicht als drehbuchanalytische die Urheberschaft eines Films. Tieber Abhandlung, sondern leistet einen his- schlägt ein Gegenmodell zur allgemein torischen Abriss der Drehbuchpraxis im üblichen Etablierung des Regisseurs als Hollywood-Studiosystem. Tieber geht Auteur vor und merkt zugleich an, dass dabei von einem groß angelegten Über- auch die Fokussierung des Drehbuch- blick aus, arbeitet aber zugleich viele autors nur ein – wenngleich bisher sel- wichtige Entwicklungen in minutiöser ten erfolgter – Filter des vielstimmigen Detailarbeit auf. „noise“ sein könne, der einen Film in Eine historisch-analytische Beschrei- seiner Vielstimmigkeit konstituiere. bung des Berufsstandes des Drehbuch- Die weitgehend chronologisch autors, der Entwicklung des Drehbuchs organisierte Abhandlung wechselt im frühen Hollywood-Film und seines dabei zwischen thematischen Einwür- Stellenwertes bzw. seiner Funktio- fen zu verschiedensten Diskursen (vgl. nen im klassischen Studiosystem war z.B. Gender bzw. Adaption), Beschrei- bisher ein Forschungsdesiderat. Zwar bungen strukturierbarer Zeitabschnitte sind im Bereich der Drehbuchliteratur und den zahlreichen Besprechungen nicht wenige Titel vorhanden, diese von Einzelfilmen, die ein sehr genaues beschäftigten sich jedoch allesamt mit Verständnis von der langsam erfolgen- der Praxis des Drehbuchschreibens und den Genese des Drehbuchs ermögli- der damit verbundenen Lehre von der chen. Unterschiedliche Arbeitsweisen Dramaturgie eines Drehbuchs. Tie- aller wichtigen Hollywood-Studios ber behebt diesen Missstand und stößt konterkarieren die generell suggerierte damit möglicherweise die Bearbeitung Einheitlichkeit des Studiosystems und eines angrenzenden, wesentlich grö- zeigen auf, dass auch Drehbuchpraxis ßeren Forschungsfeldes an, nämlich ein Markenzeichen sein kann. Beobach- der intensiveren und umfassenderen tungen über den Umgang von generell Betrachtung und Analyse des (biswei- als Auteurs geltenden Regisseuren mit len natürlich nur spärlich vorliegenden) Drehbüchern legen den Schluss nahe, Drehbuchmaterials weltweit und der dass auch in prominentesten Beispie- Erforschung seiner Beziehung(en) zum len die filmische Urheberschaft nicht fertigen Film. so eindeutig zugeordnet werden kann Nicht nur die historische Dimension wie es in der Geschichte der Filmkri- von Schreiben für Hollywood ist bemer- tik und -wissenschaft mithin der Fall kenswert, sondern auch sein Beitrag zur war. Tiebers Erkenntnisse über Pro- Diskussion um die Auteur-Theorie: Die duktionspraxis gehen an diesen Stel- Rehabilitierung des Drehbuchautors als len über eine historische Beschreibung Fotografie und Film 89 der Drehbuchentwicklung weit hinaus interpretiert Tieber als eine Erweite- und müssen interpretatorische Konse- rung der geltenden Arbeitsteilung im quenzen nach sich ziehen. Sie könnten Studiosystem: Spezialisierte Autoren damit die wissenschaftliche Beschäf- können von Fall zu Fall unterschiedlich tigung mit dem Kino des Hollywood- am Drehbuch mitwirken, etwa für einen Studiosystems nachhaltig beeinflussen, bestimmten Überarbeitungsstand des da die Problematisierung bisher als Drehbuchs oder auch nur für einzelne viabel angenommener Prämissen nicht Sektionen davon verantwortlich sein. nur die Umbewertung einzelner Film- Die Analyse der Story Conferences /Drehbuchbeziehungen zur Folge hat, ermöglicht jedoch nicht nur Auskunft sondern ein generelles Umdenken über über Produktionsbedingungen, sondern den Entstehungsprozess eines Films ebenfalls über die Normen und Kon- nahelegt. ventionen des Hollywood-Erzählkinos. Auch das Drehbuch jedoch ent- Aktstrukturen und narrative Bögen sind steht, wie Tieber nicht nur anhand dabei überraschenderweise viel weniger der verschiedenen Stadien der Kom- Gegenstand der Diskussion zwischen munikationsskripte herausstellt, im Produzent und Autor. Vielmehr stehen Studiosystem vor allem aus dem Dia- im Rahmen der alles in letzter Instanz log zwischen den an der Planung des determinierenden Erfolgsmaxime Kri- Films beteiligten Personen, insbeson- terien wie Glaubwürdigkeit, Nachvoll- dere dem Produzenten und dem Dreh- ziehbarkeit und Figurenmotivation im buchautor. Das Klischee vom einsam Vordergrund der Gespräche, wie sie z.B. arbeitenden Autor sei überholt, die bei MGM (ab S.131) oder 20th Century Prozessualität der Drehbuchgenese das Fox (ab S.185) geführt wurden. Mit der entscheidende Element. Die daraus zu Konventionalisierung geht auch eine folgernde Wichtigkeit der Kommuni- Qualitätssicherung einher, was Tieber kation über Drehbücher macht Tie- dazu veranlasst, die Story Conferences ber insbesondere am Stellenwert der als „ersten [Versuch] in der Geschichte Story Conferences fest, welche für […] Kreativität zu industrialisieren“ die Strukturierung der Produktions- (S.268), zu bezeichnen. Das Drehbuch weise die herausragendste Bedeutung ist somit durch seine anhaltend hohe haben. Eine Besonderheit im Gegen- kommerzielle Viabilität laut Tieber satz zu bisheriger Literatur über Story einer der zentralen Erfolgsgaranten des Conferences besteht hierbei darin, dass Hollywood-Kinos. Kommunikation Tieber den Stellenwert der Hierarchie und Prozessualität seien dabei zwei der zwischen Produzent und Drehbuchau- wesentlichen Kriterien, die sich für eine tor nicht als so hoch ansieht, sondern umfassende Interpretation des Dreh- vielmehr die Kommunikativität der buchs und der Produktionsbedingungen Situation in den Vordergrund stellt. (somit des Films selbst) als unabdingbar Die Häufigkeit einer multiplen Auto- erwiesen haben. Tiebers Plädoyer: „Die renschaft beim Hollywood-Drehbuch stärkere Einbeziehung der Produktions- 90 MEDIENwissenschaft 1/2012 geschichte, insbesondere der Entwick- mals als Studio-Produktionen (bzw. als lungsgeschichte des Drehbuchs, ist produktionsdominiert) wahrgenomme- daher eine der Aufgaben, der sich die ner Filme mit sich. Schreiben für Holly- Filmwissenschaft vor allem im deutsch- wood liefert überzeugende Argumente sprachigen Raum zu stellen hat, will sie für eine stärkere Wahrnehmung des sich nicht auf die reine[,] von Fakten Drehbuch(autor)s trotz der allgemein unbeeinflusste Interpretation beschrän- schlechten Quellenlage und weist damit ken.“ (S.269) auch auf die Notwendigkeit hin, einen Die weitreichende, auch legitimato- Film nicht als individuell produziertes, risch bedingte ‚neue Sichtweise‘, die mit sondern polyphon inszeniertes Werk dem Beginn der Neuen Wellen im euro- zu interpretieren, dessen eines, bisher päischen (und später amerikanischen) im wissenschaftlichen Diskurs sträflich Kino in die Filmkritik, Filmwissen- vernachlässigtes Puzzleteil das Dreh- schaft und allgemeine Rezeption Ein- buch ist. zug gehalten hat, brachte unter anderem Willem Strank (Kiel) die flächendeckende Umdeutung ehe-