AUGENBLICK Marburger Hefte zur Medienwissenschaft 50 Blickwechsel Bildpraxen zwischen Wissenschafts- und Populärkultur AugenBlick Marburger Hefte zur Medienwissenschaft Herausgegeben von Heinz B. Heller und Angela Krewani Eine Veröffentlichung des Instituts für Medienwissenschaft im Fachbereich 09 der Philipps-Universität Marburg Heft 50 April 2011 Herausgeber und Redaktion dieser Ausgabe: Kathrin Friedrich, Sven Stollfuß Redaktionsanschrift: Institut für Medienwissenschaft Wilhelm-Röpke-Straße 6A, 35032 Marburg, Tel. 06421/2824634 http://www.uni-marburg.de/augenblick Titelbild: Videostill aus CSI: Crime Scene Investigation, Episode Ellie, 2. Staffel, Episode 10. © CBS 2001 Schüren Verlag, Universitätsstr. 55, 35037 Marburg Drei Hefte im Jahr mit je 120 Seiten Umfang Einzelheft € 9,90 (SFr 14,90 UVP), Jahresabonnement E 25,– (SFr 35,90 UVP) Bestellungen an den Verlag. Anzeigenverwaltung: Katrin Ahnemann, Schüren Verlag www.schueren-verlag.de © Schüren Verlag, alle Rechte vorbehalten Umschlag: Wolfgang Diemer, Köln Druck: Druckhaus Marburg ISSN 0179-2555 ISBN 978-3-89472-650-8 Inhalt Kathrin Friedrich, Sven Stollfuß Blickwechsel Anmerkungen zu Bildern und Bildpraxen zwischen Wissenschafts- und Populärkultur 4 Angela Krewani Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung in Naturwissenschaft und Medizin 10 Anja Laukötter (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert. Evidenz und Emotionen 24 Kathrin Friedrich ‹Graue Suppe›? Zur Äquivalenz von Graustufen 39 Wibke Larink Wissenschaftler als Bildkritiker Eine historische Skizze 51 Petra Missomelius «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» Das Verhältnis des Menschen zu seinem Gehirn in Zeiten der Neurowissenschaften 68 Florian Arndtz Schönheit (v)errechnen ‹Facial attractiveness›, ‹composite images› und die Tücken der Technik 83 Sven Stollfuß Inside the Mother’s Body Lennart Nilssons ‹induzierte Sichtbarkeiten› 97 Autorinnen und Autoren 112 Bildnachweise 115 Kathrin Friedrich, Sven Stollfuß Blickwechsel Anmerkungen zu Bildern und Bildpraxen zwischen Wissenschafts- und Populärkultur Seit Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts hat sich eine veränderte Sichtwei- se auf Bilder, ihr kommunikatives sowie vor allem wissenskonstituierendes Potential (insbesondere in den Naturwissenschaften und der Medizin) und ihre damit unmit- telbar verbundene, neu ausgerichtete kulturelle Prägekraft eingestellt. Gerade die kultur- und geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit den technischen Sicht- barmachungsverfahren in Naturwissenschaft und Medizin hat in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe an Publikationen hervorgebracht, die sich mit den konkreten Wissensbeständen befassen, welche aus diesen komplexen Prozessen hervorgehen.1 Hierbei gilt es sodann auch nicht mehr nur ‹das Bild an sich› zu untersuchen und hinsichtlich ‹visueller Episteme› zu perspektivieren, sondern im Besonderen die spezifischen Praxen der Sichtbarmachung und ihre technischen Herstellungs- dimensionen. Neben der seit Beginn der Debatte um eine ‹Wende zum Bild› kont- rovers diskutierten Frage nach dem Was ein Bild ist2, gilt es sich also vor allem auch dem Wie der Bildproduktion bzw. -praxis zuzuwenden. Denn der «Status einer wis- senschaftlichen Abbildung entscheidet sich nicht erst in ihrer Betrachtung, sondern bereits in den experimentellen Verstrickungen ihrer Entstehung.»3 Insofern möchte dieser Augenblick der Marburger Hefte zur Medienwissenschaft zu «Blickwechseln» anregen und diesen auf verschiedenen Ebenen nachgehen. So geht es uns dabei nicht nur um die Bildpraxen und ihre technischen Prämissen, sondern auch um 1 Vgl. u.a. Hans-Jörg Rheinberger, Bettina Wahrig-Schmidt, Michael Hagner (Hg.): Räume des Wis- sens. Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin 1997; Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten. Wien, New York 2001; Martina Heßler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit. München 2006; Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wis- senschaft, Kunst und Technologie. Frankfurt a. M. 2002; Peter Drexler, Judith Klinger (Hg.): Bilder- welten. Strategien der Visualisierung in Wissenschaft und Kunst. Trier 2006; Inge Hinterwaldner, Mar- kus Buschhaus: The Picture’s Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit. München 2006; Regula Valérie Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder. Bielefeld 2008; Ralf Adelmann, Jan Frercks, Martina Heßler, Jochen Hennig: Datenbilder. Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwis- senschaften. Bielefeld 2009; Martina Heßler, Dieter Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft. Bielefeld 2009. 2 Vgl. Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? München 1994. 3 Peter Geimer: Weniger Schönheit. Mehr Unordnung. Eine Zwischenbemerkung zu ‹Wissenschaft und Kunst›. In: Neue Rundschau 114/3 (2003). S. 26–38, zit. S. 37. 5 Blickwechsel vielgestaltige visuelle, apparative, diskursive, institutionelle und auch personelle ‹Durchmischungen› von Wissenschafts- und Populärkultur. Gibt es neben der Ver- wendung von Bildern «als Medium der Popularisierung von Wissenschaft»4 nicht z.B. auch populäre Bildästhetiken, die sich in wissenschaftlichen Bildwelten wieder- finden lassen und zur ‹Lesbarkeit› der Bilder in diesem Kontext beitragen? So haben beispielsweise die populären futuristischen Bilder miniaturisierter und in den Körper injizierter Nanobots einen regen Diskurs über Möglichkeiten der neuen Wissenschaft ausgelöst, der zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Mas- senmedien zirkulierte. Obgleich Nanoforscher vielfach betonten, dass diese Bilder keinen epistemischen Wert für die eigentliche Forschung besäßen, «konstituiert sich», wie Andreas Lösch schreibt, «die ‹Zukunft der Nanotechnologie› im Kontext dieser Visionen.»5 Auch wenn derlei futuristische Visualisierungen mittlerweile aus dem Bildkanon der Nanoforschung verschwunden sind und man sich vielmehr um eine «visuelle Defuturisierung und Ökonomisierung populärer Diskurse zur Na- notechnologie» bemüht6, zirkulieren Versatzstücke dieser Inszenierungsstrategien noch immer in massenmedialen Verwendungszusammenhängen. Wie Bild- und Blickparadigmen zwischen wissenschaftlichen und populärkulturellen Bereichen changieren, zeigt sich daran, dass auch die Vision eines miniaturisierten und frei im menschlichen Körper navigierenden U-Boots nicht erst mit der Nanoforschung aufgetaucht ist, sondern vielmehr im Kontext des Hollywoodkinos mit Richard Fleischers Film Fantastic Voyage (1966) erstmals breitenwirksam zur Darstellung gebracht wurde. Zur Ausweitung und Übertragung dieser visuellen Muster auf me- dizinische Bildgebungsverfahren hält David Gugerli fest: Der viskursive Rückgriff auf vertraute Seherfahrungen bediente sich in keineswegs zufälliger Weise tradierter Deutungsmuster. Die Referenzrahmen dieser visuellen Semantik lösten vielmehr eine ganze Reihe von fundamentalen Problemen, die mit der Präzedenzlosigkeit der virtuellen Seherfahrungen [im Zusammenhang mit der virtuellen Endoskopie] eng verbunden waren. Besonders auffällig ist die Referenz auf Richard Fleischers Film Fantastic Voyage, der 1966 angelaufen war. […] Fan- tastic Voyage ist spätestens gegen Ende der 1980er-Jahre zu einem Topos, zu einem stabilen diskursiven Versatzstück geworden, auf das in sehr vielfältiger Weise und problemlos Bezug genommen werden konnte […].7 4 Peter Weingart, Bernd Hüppauf (Hg.): Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisie- rung von Wissenschaft. Bielefeld 2009. 5 Andreas Lösch: Visionäre Bilder und die Konstitution der Zukunft der Nanotechnologie. In: Petra Lucht, Martina Erlemann, Esther Ruiz Ben (Hg.): Technologisierung gesellschaftlicher Zukünfte. Na- notechnologie in wissenschaftlicher, politischer und öffentlicher Praxis. Freiburg 2010. S. 129–146, zit. S. 129. 6 Andreas Lösch: Visuelle Defuturisierung und Ökonomisierung populärer Diskurse zur Nanotech- nologie. In: Peter Weingart, Bernd Hüppauf (Hg.): Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft. Bielefeld 2009. S. 255–280. 7 David Gugerli: Der fliegende Chirurg. Kontexte, Problemlagen und Vorbilder der virtuellen En- doskopie. In: ders., Barbara Orland (Hg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Zürich 2002. S. 251–270, zit. S. 265–266. Blickwechsel 6 Durch die Verschränkung diskursiver wie auch viskursiver8 Beschreibungs- und Darstellungspraktiken zwischen Wissenschafts- und Populärkultur haben sich Konventionen entwickelt, die eine historisch gewachsene, komplexe Reziprozität aufweisen. Wenn heute von einer «visuellen Wissenschaftskultur»9 auszugehen ist, müssen dann nicht auch populäre ‹Strategien des Sichtbarmachens› bei der ana- lytischen wie theoretischen Bestimmung der Bilder berücksichtigt werden – zu- mindest dann, wenn die These der «Medialisierung von Wissenschaft»10 und der damit einhergehenden reziproken Kopplung zwischen Wissenschaft und Massen-/ Populärmedien ernst genommen werden will? Bilder, verstanden als «Technik des kommunikativen Verkehrs»11, vereinen Aspekte von Adressierung, Verbreitungswe- gen und Rezeptionskontexten. Wie also müssen Bilder präsentiert werden, um von möglichst unterschiedlichen Zielgruppen wahrgenommen werden zu können? Diese Wechselwirkungen der Darstellungskonventionen, die auf bestimmte Sehweisen vertrauen und diese als quasi ‹universell lesbar› voraussetzen, sind je- doch nur adäquat analysierbar, wenn auch die zugrunde liegenden Bildmedien- praktiken auf ihren konstitutiven sowie erweiternden bzw. einschränkenden Cha- rakter befragt werden. Demnach sind in unserem Verständnis Bildpraxen immer ebenso Medienpraxen, aber nicht bloße technische Verfahren, sondern etwa auch apparative Handhabungen, diskursive Aushandlungen herzustellender Sichtbar- machungen und die Verwendung ästhetisch standardisierter Gestaltungsparameter (z.B. Farbgebung, Perspektive etc.). Neben den apparativen, technologischen und dispositiven Voraussetzungen der Bildproduktion, die wiederum selbst spezifischen historischen wie sozio-kulturellen Umständen entspringen, sind es auch die Pro- duktionskontexte als Orte und «Denkkollektive»12, die die ästhetische Gestaltung, Adressierung und Distribution der Visualisierungen beeinflussen. Somit kann gera- de die Frage nach dem Wie der Bildproduktion Aufschlüsse über die vielgestaltigen Allianzen, Überlappungen und Ausschlüsse zwischen Wissenschafts- und Populär- kultur geben, wobei hier von keinen autonomen Kultursektoren auszugehen ist, die an bestimmten Schnittstellen beginnen ineinanderzugreifen. Vielmehr sind Wis- senschafts- und Populärkultur als zirkulierende Komplexitätsareale eines gemein- 8 Karin Knorr Cetina: ‹Viskurse› der Physik. Konsensbildung und visuelle Darstellung. In: Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftli- chen und virtuellen Welten. Wien, New York 2001. S. 305–319. 9 Klaus Hentschel: Zur technischen Konstituierung und historischen Analyse wissenschaftlicher Bil- der. In: Martina Heßler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit. München 2006. S. 117–127, S. 123ff. 10 Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Nachdr. der Erstausg. 2001. Weilerswist 2005, S. 253ff. 11 Hans J. Wulff: Die Wetterkarte im Fernsehen. Strategien visueller Kommunikation. In: Peter Drex- ler, Judith Klinger (Hg.): Bilderwelten. Strategien der Visualisierung in Wissenschaft und Kunst. Trier 2006. S. 263–277, zit. S. 263 (Herv. i.O.). Vgl. auch Uwe Pörksen: Weltmarkt der Bilder. Eine Philoso- phie der Visiotype. Stuttgart 1997. 12 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a. M. [1935] 1980. 7 Blickwechsel samen Wahrnehmungsraumes zu verstehen, in welchem Bilder und ihre Praxen in besonderer Weise Evidenzen zu produzieren in der Lage zu sein scheinen. Auf den skizzierten Ebenen nimmt diese Ausgabe des Augenblicks aus verschie- denen disziplinären und methodischen Blickwinkeln Bildpraxen im ‹Dazwischen› von Wissenschafts- und Populärkultur bzw. in populärer Wissenschaftskultur oder wissenschaftlicher Populärkultur in den Fokus. Angela Krewanis Text Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung in Naturwissenschaft und Medizin nimmt zunächst methodologische Blickwechsel vor. Sie macht auf ein Desiderat medienwissenschaftlicher Forschung aufmerksam, wel- che die Entstehungs- und Produktionskontexte wissenschaftlicher Bildwelten lange vernachlässigt hat. Daher schlägt sie eine Ausweitung des medienwissenschaftlichen Dispositivbegriffs u.a. mit Ansätzen aus der Actor-Network-Theory vor, um die tra- gende Rolle von Bildmedienpraktiken am Beispiel der Fotografie und des frühen Films für die Konstitution von Wissen analytisch zu fassen. Anja Laukötter arbeitet in ihrem Beitrag (Film-)Bilder und medizinische Aufklä- rung im beginnenden 20. Jahrhundert. Evidenz und Emotionen die komplexen po- pulärwissenschaftlich geprägten Verschränkungen von Wissenstransfer und emo- tionaler Involvierung in medizinischen Aufklärungsfilmen heraus. Am Beispiel des Einsatzes von Moulagen in Walter Ruttmanns Film Feind im Blut (1931) zeigt sie, wie die Gesamtwahrnehmung des Rezipienten über die Verbindung von medizi- nisch-didaktischen Objekten und filmischer Ästhetik angesprochen wird. Im Be- sonderen arbeitet sie dabei auch die personellen Unionen sowie medientechnischen Transfers auf, die sich im Bereich des medizinischen Aufklärungsfilms zeigen. Kathrin Friedrich beschäftigt sich in ‹Graue Suppe›? Zur Äquivalenz von Grau- stufen ebenfalls mit medizinischen Bildwelten. Sie untersucht populäre Darstel- lungs- und Sehkonventionen innerhalb der diagnostischen Computertomographie und erläutert, weshalb in diesem Bereich das ‹Grausehen› als allgemein verständli- cher und evidenter erachtet wird als so scheinbar nahe und allgegenwärtige bunte Bilder. Hierbei wird deutlich, wie sehr Medienpraktiken und Wahrnehmungswei- sen einander bedingen, da sie Bilder als äquivalente Diagnoseobjekte hervorbringen und diskursivieren. Wibke Larink zeichnet in Wissenschaftler als Bildkritiker. Eine historische Skizze ebendiese und legt dar, dass Naturwissenschaftler bereits im 16. Jahrhundert eine diskursimmanente Bildkritik durchgeführt haben, in der wissenschaftlich populäre Darstellungsweisen verhandelt wurden. Unter Rückgriff auf ihre Untersuchungen zu Bildern vom Gehirn stellt sie einzelne Naturwissenschaftler aus drei Jahrhun- derten und deren Bildprogrammatik zu anatomischen Darstellungen vor. Auf diese Weise zeigt sich, dass die jeweils verhandelten Bilder nicht als Endprodukte, son- dern immer in Zusammenschau mit ihren künstlerischen Praxen und deren umfas- senden Voraussetzungen gesehen wurden. Petra Missomelius hinterfragt in «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!». Das Verhält- nis des Menschen zu seinem Gehirn in Zeiten der Neurowissenschaften die in den Blickwechsel 8 Viskursen des Neuroimaging und der Converging Technologies propagierten und popularisierten Menschenbilder. Sie zeigt auf, welche diskursive Sprengkraft Bil- der und Bildpraxen im komplexen Wechselverhältnis zwischen Wissenschafts- und Populärkultur entfalten können, gerade dann, wenn sich um diese eine Optimie- rungsdebatte bzw. -kultur den Menschen betreffend entwickelt. Florian Arndtz zeichnet in seinem Aufsatz Schönheit (v)errechnen. ‹Facial at- tractiveness›, ‹composite images› und die Tücken der Technik die technischen und diskursiven Zusammenhänge von Schönheit, Sichtbarkeit und Berechenbarkeit nach. Als Beispiele wählt er die Komposit-Fotografie Francis Galtons sowie neuere computergestützte Verfahren zur Errechnung von Durchschnittsgesichtern, die er vergleichend skizziert und dabei den mit diesen Verfahren verbundenen Anspruch an wissenschaftlich verbürgter Auskunft über Schönheit beziehungsweise Attrakti- vität von Personen kritisch beleuchtet. Sven Stollfuß analysiert in Inside the Mother’s Body. Lennart Nilssons ‹induzierte Sichtbarkeiten› das den Bildern und Bildpraxen des schwedischen Wissenschaftsfo- tografen und Filmemachers inhärente Verhältnis von Wissenschafts- und Populär- kultur. Er stellt in seinen Überlegungen neben den populären vor allem die episte- mischen Dimensionen Nilssons Visualisierungen heraus, die er unter Rückgriff auf Ansätze aus der Wissenschaftsforschung konturiert. Zum Schluss möchten wir uns bei all denjenigen bedanken, die diesen Band möglich gemacht haben: allen voran den AutorInnen für ihre ‹Blickwechsel› und die gute und flexible Zusammenarbeit sowie insbesondere den HerausgeberInnen der Augenblick-Reihe für die Einladung zur Gestaltung dieser Ausgabe. Ebenso dan- ken wir Markus Kügle für die sorgfältige Lektüre und mühevolle Endredaktion aller Beiträge. Literatur Ralf Adelmann, Jan Frercks, Martina Heßler, Jochen Hennig: Datenbilder. Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften. Bielefeld 2009. Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? München 1994. Regula Valérie Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder. Bielefeld 2008. Peter Drexler, Judith Klinger (Hg.): Bilderwelten. Strategien der Visualisierung in Wissenschaft und Kunst. Trier 2006. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a. M. [1935] 1980. Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Frankfurt a. M. 2002. Peter Geimer: Weniger Schönheit. Mehr Unordnung. Eine Zwischenbemerkung zu ‹Wissenschaft und Kunst›. In: Neue Rundschau 114/3 (2003). S. 26–38. David Gugerli: Der fliegende Chirurg. Kontexte, Problemlagen und Vorbilder der virtuellen Endo- skopie. In: ders., Barbara Orland (Hg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Zürich 2002. S. 251–270. 9 Blickwechsel Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissen- schaftlichen und virtuellen Welten. Wien, New York 2001. Klaus Hentschel: Zur technischen Konstituierung und historischen Analyse wissenschaftlicher Bil- der. In: Martina Heßler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit. München 2006. S. 117–127. Martina Heßler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit. München 2006. Martina Heßler, Dieter Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft. Bie- lefeld 2009. Inge Hinterwaldner, Markus Buschhaus: The Picture’s Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit. München 2006. Karin Knorr Cetina: ‹Viskurse› der Physik. Konsensbildung und visuelle Darstellung. In: Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissen- schaftlichen und virtuellen Welten. Wien, New York 2001. S. 305–319. Andreas Lösch: Visuelle Defuturisierung und Ökonomisierung populärer Diskurse zur Nanotech- nologie. In: Peter Weingart, Bernd Hüppauf (Hg.): Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft. Bielefeld 2009. S. 255–280. Andreas Lösch: Visionäre Bilder und die Konstitution der Zukunft der Nanotechnologie. In: Petra Lucht, Martina Erlemann, Esther Ruiz Ben (Hg.): Technologisierung gesellschaftlicher Zukünf- te. Nanotechnologie in wissenschaftlicher, politischer und öffentlicher Praxis. Freiburg 2010. S. 129–146. Uwe Pörksen: Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype. Stuttgart 1997. Hans-Jörg Rheinberger, Bettina Wahrig-Schmidt, Michael Hagner (Hg.): Räume des Wissens. Re- präsentation, Codierung, Spur. Berlin 1997. Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Nachdr. der Erstausg. 2001. Weilerswist 2005. Peter Weingart, Bernd Hüppauf (Hg.): Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisie- rung von Wissenschaft. Bielefeld 2009. Hans J. Wulff: Die Wetterkarte im Fernsehen. Strategien visueller Kommunikation. In: Peter Drex- ler, Judith Klinger (Hg.): Bilderwelten. Strategien der Visualisierung in Wissenschaft und Kunst. Trier 2006. S. 263–277. Angela Krewani Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung in Naturwissenschaft und Medizin In den medienwissenschaftlichen Darstellungen sind Fotografie und Film gerne in dokumentarischen und ästhetischen Kontexten erforscht worden. Die Aufarbei- tung der Gebrauchskontexte etwa des Industrie- und Wissenschaftsfilms hat erst in den letzten Jahren begonnen. Dabei spielen Fotografie und Film eine erhebliche Rolle bei der Wissenskonstitution historischer und zeitgenössischer Naturwissen- schaften. Vorliegender Beitrag versteht sich als weiterer Schritt zur umfassenden systematischen Aufarbeitung der medialen Konstitution naturwissenschaftlichen Wissens mit besonderem Blick auf die wissenskonstituierende Funktion der his- torischen Fotografie und des frühen Films, da in dieser Phase von Mitte des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts visuelle Strukturen und Pragmatiken eingeführt und erprobt wurden, die vielfach heute noch im Kontext der digitalen technischen Bildgestaltung und deren Transformationen in fiktionalen Produktionen gültig sind. Hierzu sollen die nachstehenden Reflexionen angesichts dieser Entwicklungs- dynamiken in dispositivtheoretische Überlegungen eingebettet und in einem inter- medialen Theorieansatz entsprechend perspektiviert werden. In diesem Kontext sind die Arbeiten von Michel Foucault von besonderer Be- deutung. Hinsichtlich der Entwicklung der Medizin beschreibt er eine Transforma- tion der medizinischen Wissenschaft hin zur Sezierung und Pathologisierung des Körpers,1 mit Blick auf die Anordnung des Wissens sind seine Überlegungen zum Dispositiv zentral.2 Ein Dispositiv ist ein Verfahren zur Produktion von Wissen, das Institutionen und Wissensformen aneinander ankoppelt und erkenntniskonstitu- ierend wirkt. Somit verknüpft Foucault in seinem Verständnis von Dispositiv un- terschiedliche Formen des Wissens, die von der Pragmatik bis zu deren apparativer Voraussetzung reichen. Insbesondere in seiner Studie zur Geburt der Klinik beschäf- tigt er sich mit den maßgeblichen Veränderungen, denen der (diagnostische) Blick ausgesetzt ist. Während Foucault zufolge der Blick der Aufklärung für Descartes und Malebranche noch «ein Wahrnehmen bis in die konkretesten Erscheinungs- formen» war, wurde der Blick bis ins Ende des 18. Jahrhunderts auf die Funktion des Auges reduziert. Nun ist nicht mehr das Licht Träger der Wahrheit, sondern die empirische Funktion des Blicks. «Das ganze Licht ist auf die Seite der winzigen 1 Michel Foucault: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. 8. Aufl. Frankfurt a. M. 2008. 2 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd.1. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M. 1977. 11 Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung Fackel des Auges übergegangen, das nun um die Körper kreist und auf diesem Weg ihren Ort und ihre Form beschreibt».3 Während Foucault Medien nur am Rande erwähnt, konkretisiert Ramón Rei- cherts Studie zur Medialisierung des wissenschaftlichen Wissens Foucaults Überle- gungen zum Dispositiv hinsichtlich dessen praxisnaher Dimensionen. Konkret heißt das: im Lehrfilm konfiguriert sich ein Dispositiv bestehend aus der Disziplinarordnung Schule (Tafel, Klassenraum, Lehrer-Schüler-Verhältnis, Regle- mentierung, Bewegungsverbot, Bedürfnisaufschub, Widerstand, Schönschrift), der medialen Überlegenheit der Schrift (Kodifizierung, Typographie, Definitionsmacht) und der Kamera als Apparat der Blickführung (Drill, Abrichtung, Lenkung, Kont- rolle). Wissenskonstruktion und -kontexte als Dispositiv zu erfassen heißt, Wissen als strukturelle Anordnung seiner wesentlichen in Verbindung zueinander stehenden Elemente zu analysieren. Das sich daraus ergebende Netz von Beziehungen, wie es Foucault nennt, ermöglicht es, wesentliche Auswirkungen der in Beziehung stehen- den Anordnungen auf Wissen und Film zu analysieren.4 Vor diesem theoretischen Hintergrund wird ersichtlich, dass der Einsatz von Fo- tografie und Film in der Medizin und den Naturwissenschaften einerseits den ver- änderten Anforderungen der Wissenschaftsdisziplin unterworfen war, andererseits als konstitutives Element in der Fabrikation von Wissen eingesetzt wurde. Daraus muss folgen, dass eine ausschließlich auf präsentierte Inhalte abzielende Befragung naturwissenschaftlicher Bildgestaltung viel zu kurz greift. Im Gegensatz zur Medi- enwissenschaft, in deren Theoriebildung sich gerne auf Foucaults Dispositiv be- rufen wird, sind seitens der Wissenschaftsgeschichte und Science and Technology Studies ähnliche Überlegungen zur dispositiven Konstitution von Wissen in der Wissenschaftspraxis, zu der auch die Bildgestaltung gehört, durchgeführt worden. Hierzu zählen federführend die Arbeiten von Michael Lynch, Stephen Woolgar, Bruno Latour und Karin Knorr Cetina.5 Ästhetische und pragmatische Aspekte der Illustration hatten schon vor der Durchsetzung technischer Bildmedien eine erhebliche Rolle gespielt, so dass weite Be- reiche der ästhetischen Bildgestaltung durchaus auch pragmatische Dimensionen für naturwissenschaftliche Bildkulturen besaßen.6 Vor allem die amerikanische Kunsthis- 3 Foucault 2008, S. 11. 4 Ramon Reichert: Im Kino der Humanwissenschaften: Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens. Bielefeld 2007, S. 47. 5 Vgl. hierzu z.B. Michael Lynch, Steve Woolgar (Hg.), Representation in Scientific Practice. Cambridge 1990; Michael Lynch: Discipline and the Material Form of Images. An Analysis of Scientific Vis- ibility. In: Luc Pauwels (Hg.): Visual Cultures of Science. Rethinking Representational Practices in Knowledge Building and Science Communication. Hanover 1985. S. 195–221; Karin Knorr Cetina: ‹Viskurse› der Physik. Konsensbildung und visuelle Darstellungen. In: Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten. Wien, New York 2001. S. 305–319; Michael Lynch: The Externalized Retina: Selection and Mathematization in the Visual Documentation of Objects in the Life Sciences. In: Michael Lynch, Steve Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice. Cambridge 1990. S. 153–186. 6 James Elkins: The Domain of Images. Ithaca & London 1999. Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung 12 torikern Barbara Stafford hat sich mit der Wechselwirkung von medizinischer und künstlerischer Bildgestaltung vor Einführung der Fotografie beschäftigt.7 Insbeson- dere Fotografie und Film trugen erheblich zur wissenschaftlichen Erkenntnisbildung bei, es ist inzwischen bekannt, dass Robert Koch mit Fotografien arbeitete, um seine mikroskopischen Bilder festzuhalten. Auch das Medium Film war für die zeitgenös- sischen Naturwissenschaften von außerordentlicher Bedeutung, da mit diesem die dramatischen und ästhetischen Dimensionen weit übertroffen werden konnten. Grundlage der Betrachtung des Zusammenwirkens von apparativen Medien und naturwissenschaftlicher Darstellung soll in diesem Kontext ein auf Pragma- tik abzielendes Verständnis von Visualität sein, innerhalb dessen die Medialität der Darstellung wie auch die pragmatischen Aspekte in den Vordergrund rücken. Die Konzentration auf die konstitutiven Dimensionen der Bildgestaltung ist bereits ansatzweise in Kunstgeschichte und Science and Technology Studies durchgeführt worden, sie korrigiert und erweitert eine allein auf die ästhetischen Dimensionen abzielende Betrachtungsweise. Beispielhaft vorgeführt hat diese Erweiterung Svet- lana Alpers in ihrer historischen und implizit medienwissenschaftlichen Analyse der Flämischen Malerei des 16. Jahrhunderts, in der sie die ästhetischen Differen- zen zur italienischen Malerei auf eine differierende Bildpraxis zurückführt. Alpers zufolge entstand der «hyperreale» Eindruck der Bilder, die oftmals wie Fotografi- en anmuten, aufgrund der naturwissenschaftlichen Basis der ästhetischen Praxis, für die Keplers Modell des Auges und die Camera Obscura Pate gestanden hatten. Insbesondere die Camera Obscura diente als praktische Gestaltungshilfe perspek- tivischer Repräsentation, was den scheinbar «fotorealistischen» Eindruck der Bil- der erklärt.8 Eine ähnliche medienwissenschaftliche Dimensionierung erfährt die Zentralperspektive. Bruno Latour sieht sie als historisches Instrument der Kom- munikation auch über Größenverhältnisse von Landschaften, die zur «objektiven» Repräsentation und dadurch zur Austauschbarkeit von Wissen führten. Latour be- tont damit, dass die europäischen Kulturen in ihren Verfahrensweisen nicht den fremden Kulturen überlegen waren, sondern mit der Zentralperspektive lediglich ein funktionierendes, ihren sozialen und kulturellen Interessen angemessenes Dar- stellungsmedium gefunden hatten.9 Ähnliche Positionen zur Zentralperspektive nimmt Peter Gendolla ein, der unter Rückgriff auf Panofsky auf ihre fehlende Neu- tralität und mediale Funktion verweist, die sie zum «Medium der Durchsetzung einer bestimmten Ästhetik der Abbildung, der Reproduktion» macht.10 Eine Mediengeschichte der wissenschaftlichen Abbildung vernachlässigt damit die ästhetische Dimension medialer Gestaltung und rückt stattdessen die pragma- 7 Barbara Maria Stafford: Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine. Cambridge, Mass. 1991. 8 Svetlana Alpers: The Art of Describing: Dutch Art in the Seventeenth Century. Chicago 1983, S. 26–118. 9 Bruno Latour: Drawing Things Together. In: Michael Lynch, Steven Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice. Cambridge 1990. S. 16–68. 10 Peter Gendolla: Zur Interaktion von Raum und Zeit. In: Norbert M. Schmitz, Peter Gendolla, Irmela Schneider (Hg.): Formen Interaktiver Medienkunst. Frankfurt a. M. 2001. S. 19–38, zit. S. 25. 13 Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung tische Funktionalität apparativer und technischer Medien in den Blick. Medien sind in diesem Kontext keine sich selbst genügenden, ‹ontologischen› Einheiten, son- dern funktionale Hilfsmittel bei der Konstitution von Wissen. Nicht nur der Film, sondern bereits die Fotografie prägte pragmatische Dimen- sionen hinsichtlich ihrer Verwendung in wissenschaftliche Disziplinen und sozialen Kontexten aus, die sie später diskursiv als spezifische Medialität auswies. Lorraine Daston und Peter Galison legen dar, dass die Fotografie eine erhebliche Rolle in dem im neunzehnten Jahrhundert entstandenen Wunsch nach mechanischer Objektivität spielte und aus diesem Grund in die Bildverfahren der wissenschaftlichen Darstel- lung aufgenommen werden konnte.11 Daston und Galison weisen allerdings darauf hin, dass der Anspruch einer mechanischen Objektivität schon vor Einführung der Fotografie bestand und dieser damit für die diskursive Koppelung von Fotoapparat und Camera Obscura verantwortlich war.12 Vor diesem Hintergrund ist ebenfalls die Arbeitsweise Robert Kochs zu verstehen, der, wie bereits erwähnt, als Grundlage sei- ner Überlegungen mit Fotografien bakterieller Prozesse arbeitete.13 Gleichfalls zu benennen sind die Versuche im Rahmen der Sozialanthropologie und -medizin, deren Vertreter mithilfe fotografischer Aufnahmen Erscheinungs- formen sozialer und anthropologischer Aufzeichnungen klassifizierten und kar- tierten. Auffallend ist der schnelle Zugriff auf die Bildtechnologie der Fotografie: Hugh Welch Diamond hatte bereits im Jahr 1850 seine wichtigsten fotografischen Arbeiten im psychiatrischen Kontext erstellt, insbesondere während seiner Zeit als Superintendent des ‹Female Departments of the Surrey County Lunatic Asylum›. Gleichzeitig begannen Martin Charcot und Paul Richert ihre Veröffentlichungen zum Abnormen an der Salpetriére in Paris.14 Der Institutionalisierung fotografischer Dokumentationen in der Medizin, der Psychiatrie und der Sozialforschung korrespondiert die Etablierung der Fotografie in der damaligen Gerichtspraxis, die von Tal Golan auf ihre Medialität hin befragt wird. Golan untersucht die Gerichtspraxis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, dem- zufolge die Fotografie in der gerichtlichen Praxis erstmals im American Photographic Journal 1852 Erwähnung fand. Die Zeitschrift berichtete über französische Anwälte, die «Daguerrotypien [benutzen], um den Richter und die Geschworenen gewandter als mit ihren eigenen Worten zu überzeugen».15 Ausgehend von dieser Entwicklung konnte sich die Fotografie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts schnell als Beweismit- 11 Peter Galison, Lorraine Daston: Objectivity. Cambridge 2007, S. 33. 12 Ebd., S. 50ff. 13 Jochen Hennig: Vom Experiment zur Utopie. Bilder in der Nanotechnologie. In: Angela Fischel (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 2.2 Instrumente des Se- hens. Berlin 2004. S. 9–18, S. 11. 14 Siegfried Zielinski: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Frank- furt a. M. 2002, S. 239. 15 Tal Golan: Sichtarkeit und Macht: Maschinen als Augenzeugen. In: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Frankfurt a. M. 2002. S. 171–210, zit. S. 172. Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung 14 tel etablieren.16 War dies einmal geschehen, wurden auch die nachfolgenden Bild- technologien von den Gerichten anerkannt. Dazu gehörten die Röntgenbilder und die im 20. Jahrhundert entwickelten Bildtechnologien, die sich unter dem Begriff der ‹Radiologie› zusammenfassen lassen. Interessanterweise merkt Golan an, dass die gerichtliche Akzeptanz von Röntgenbildern ihre Auswirkungen auf weitere Bereiche gesellschaftlicher Praxis hatte, da nun eine Beweisführung möglich schien, die Ver- letzungen aller Art scheinbar eindeutig auf ihre Ursachen rückführen konnte.17 Eine Konsequenz der zeitgleichen Akzeptanz der Fotografie in medizinischen und juristischen Kontexten ist die Entstehung der Kriminalanthropologie. Diese Entwicklung lässt sich zumindest aus der ausführlichen Darstellung des Lebenslaufs von Cesare Lombroso verstehen, der bereits als Professor der gerichtlichen Medizin und der Psychiatrie tätig war, bevor er 1990 noch die akademische Lehrbefugnis für das Fach ‹Kriminalanthroplogie› erhielt, das er selbst mitbegründet hatte.18 Fo- tografie spielte in seiner neuen wissenschaftlichen Disziplin eine außerordentliche Rolle, in der er sie als Analyseinstrument wie auch als Speichermedium benutzte.19 Neben seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten war Lombroso Zielinski zufolge an literarischen Texten interessiert, die er ebenfalls als Sozialdokumente begriff, wie im Fall Dante Alighieri, dessen ‹Divina Comedia› er als ‹klinischen Bericht› begriff. Zielinski fasst sein Engagement folgendermaßen zusammen: Er las den poetischen Meistertext Dantes wie einen detaillierten klinischen Bericht. In seinem ersten Buch deutete der die Faszination nur an. Aber in seiner späten Studie über ‹Entartung und Genie› (1894) charakterisierte Lombroso die ‹Göttliche Komö- die› als durchdrungen von ‹Zeichen nervöser Reizbarkeit und degenerativer Charak- teranomalien›. Sie war für den Arzt und Psychiater eine Fundgrube für Hinweise auf epileptische Anfälle und Bewusstseinsstörungen, die er als Phänomene des genialen Geistes definierte. Überall verrieten sich frühreife Leidenschaftlichkeit und enorme Empfindlichkeit, beständig erregbare Erotik, Tendenz zu mystischem Symbolismus, constitutionelle Melancholie, außerordentliche Zornmüthigkeit, Rachsucht gegen politische und literarische Gegner, Hochmuth, Größenbewußtsein.20 Die schnelle Einbindung der Fotografie in die sie umgebenden Diskurse leistet dabei zwei wichtige Funktionen: Zum einen wird ihre Anbindung an ästhetische Formen und Wahrnehmungsweisen garantiert, was bedeutet, dass Bildinhalte ‹transparent›, dass heißt unabhängig vom Medium wahrgenommen werden können. Diese Ei- genschaft ermöglicht die Verschiebung vor allem naturwissenschaftlicher Inhalte in ästhetische und unterhaltende Formen, wie James Elkins in seinen bildhistorisch weit ausgreifenden Überlegungen ausführt. Elkins zufolge stellt die wissenschaft- liche Bildgestaltung einen wichtigen Teil der Geschichte von Visualität dar, wobei 16 Ebd., S. 182. 17 Ebd., S. 192ff. 18 Zielinski, S. 241. 19 Ebd., S. 245. 20 Lombroso 1894, zit. nach Zielinski, S. 243. 15 Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung sich immer Querbeziehungen und Transformationen zwischen den Bildkonventio- nen ergeben.21 Elkins nennt als Beispiel Felice Frankels Fotografie ‹Peeled polymer film on a silicon substrate›, die, im Labor entstanden, das Verhalten von Polymeren auf Silikon darzustellen sucht und ohne die Kenntnis von Jackson Pollocks Malerei nicht in dieser Weise gestaltet worden wäre.22 Zum anderen konstituiert die Fotografie den benötigten sezierenden und klas- sifizierenden Blick auf das Dargestellte. Diese beiden Eigenschaften gehen bruchlos in den Film über. In gleicher Weise verschärft dieser den aus der Fotografie über- nommenen Blick. Lisa Cartwright merkt dazu an, dass in der frühen Geschichte des Films wissenschaftliche Darstellungen in den Kinos mehr als populär waren, so mit der späteren Bezeichnung «cinema of attraction» oft die Verzerrung von Gesich- tern oder die extreme Verlangsamung körperlicher Funktionen dargestellt wurde. Herausragendes Beispiel ist hier Edisons kurzer Film Kinetoscopic Record of a Sneeze (1894). Cartwright sieht hierin bestens die sezierende wie auch unterhal- tende Form des Films dokumentiert. Perhaps nowhere is the popular cinema’s debt to experimental physiology and its surveilland gaze more clear than in the Kinetoscopic Record of a Sneeze. The film documents the moment of the physiological act of the sneeze, an event that induces the momentary cessation of the heartbeat. The sneeze perfectly suits physiology’s interest in documenting the changes that occur in a physiological process. Further, it represents an instance of involuntary movement, an activity beyond the control of the observer.23 Neu am Film und unverzichtbar für viele Wissenskulturen ist dessen Fähigkeit, Be- wegung darzustellen. Evelyn Fox Keller zufolge ist es damit einem Medium gelun- gen, lebende Organismen in Bewegung zu erfassen und darzustellen.24 Aufgrund dieser Eigenschaften war der Film auch für die Wissenschaftsdisziplinen Biologie, Mikrophysik und Physik interessant. Hannah Landecker geht davon aus, dass das filmische Dispositiv für Biologen ein Wahrnehmungs- und Darstellungsdispositiv bereitstellte, das sie in ihrem Wunsch nach Darstellung von bewegtem Leben be- stätigte.25 Im Kontext der Mikrophysik wurde die Filmkamera als ein wissenschaftliches Instrument angesehen, das allein in der Lage war, Bewegung zu dokumentieren, wie der Mikrophysiologe Jean Comandon bereits 1907 feststellt und hier ebenfalls die in der Filmtheorie gerne getätigte Analogie von Auge und Kamera herstellt. 21 Elkins, S. 9ff. 22 Ebd., S. 46ff. 23 Lisa Cartwright: Screening the Body. Tracing Medicine’s Visual Culture. Minneapolis 1995, S. 13. 24 Evelyn Fox Keller: Making Sense of Life. Explaining Biological Development with Models, Metaphors, and Machines. Cambridge, Mass. 2002, S. 218. 25 «Film provided the plot – scientists raced back to the lab; genetic and molecular analysis ensued; and a biological theory of cell death as integral to ongoing life began to take on a certain life of its own «invading not only the minds of many biologists but also many fields of biology.» Hannah Landecker: Culturing Life. How Cells Became Technologies. Cambridge, Mass. 2007, S. 42. Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung 16 Microcinematography alone is capable of conserving the traces of phenomena oc- curring in the preparation. Like the retina of an eye which never tires, the film fol- lows, over a prolonged period, all the changes which occur, even better, the cinemato- graph is, like the microscope itself, an instrument of research, while the one concerns visual space, the other concerns time, in condensing, or spreading out movements by accelerating or slowing them; it reduces their speed to a scale that is more easily per- ceptible, which indeed, reveals to us that which we had never suspected.26 Die zeitstrukturierenden Eigenschaften der Kinematographie sind ebenso für ei- nige Experimente der Physik unerlässlich. Scott Curtis führt aus, dass allein die Aufnahmefähigkeit des Films es ermöglicht, die Brown’sche Bewegung zu erkennen und zu dokumentieren.27 Neben diesen präsenten Beispielen muss davon ausgegangen werden, dass der Film auf breiter Basis in das wissenschaftliche Geschehen integriert war. Das bele- gen auch die zahlreichen zeitgenössischen Veröffentlichungen zum Thema.28 Ein Indikator der Verbreitung des wissenschaftlichen Films war die breite Beteiligung von Produktionsfirmen am Prozess der Herstellung, die zu diesem Zweck sogar wissenschaftliche Filmemacher eingestellt hatten.29 Angesichts der komplexen Wechselbeziehungen von historischer Medienent- wicklung und naturwissenschaftlicher Bildgestaltung rücken zwei Phänomene deutlich in den Blick. Zum einen ist es der Gebrauch der visuellen Bildapparaturen von Fotografie und Film, die den Stellenwert eines wissenschaftlichen Analyseinst- ruments wie z.B. des Mikroskops oder des Röntgenapparats erhalten; zum anderen ist es die Eigenschaft der (Bewegt)Bilder als «immutable mobiles»30, die es ihnen er- laubt, sich mühelos zwischen den Diskursen von wissenschaftlicher Bildgestaltung und populärer Unterhaltung zu bewegen. Im Folgenden soll kurz auf diese beiden Aspekte eingegangen werden. Die Verwechslung von visueller Apparatur und wissenschaftlichem Gerät wirft einige nicht unerhebliche Fragen auf, die den Stellenwert der Repräsentation bzw. der Authentizität der Wiedergabe betreffen. Unter Rückgriff auf Bruno Latour ver- weist Brian Winston auf die epistemischen Unterschiede der Darstellungen. Als ‹obstinate dissenter› bezeichnet Latour den Betrachter einer wissenschaftlichen Darstellung, der sich deren Wahrheitsgehalt verweigert. In Latour’s exposition, this person eventually penetrates the laboratory of the profes- sor who has produced the result being questioned. The dissenter wants to go behind 26 Jean Commandon: Le cinématographie et les sciences de la nature, zit. Hannah Landecker: Microc- inematography and the History of Science and Film. In: Isis 97 (2006). S. 121–132, zit. S. 125. 27 Scott Curtis: Die kinematographische Methode. Das ‹Bewegte Bild› und die Brownsche Bewegung. In: montage a/v 14/2 (2005). S. 23–43. 28 Vgl. z.B. Martin Dreiser: Medizinische Kinematographie. Dresden, Leipzig 1919; Paul Liesegang: Wis- senschaftliche Kinematographie. Düsseldorf 1920; Paul Liesegang: Handbuch der praktischen Kine- matographie. Leipzig 1912; Blodwen Lloyd (Hg.): Science in Film, Vol.I. London 1948. 29 Landecker 2006, S. 128. 30 Latour 1990, S. 26f. 17 Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung the text to the actual experiment. (...) The obstinate dissenter is led to an array in which a physiograph has been mounted. Out of the device comes a paper on which there is an image just like the ones the dissenter saw reproduced in the original pa- per.31 Winston führt weiter aus, dass wir uns, hinsichtlich der Funktion wissenschaftli- cher Bildgestaltung, mit einer höchst hybriden Form konfrontiert sehen, die sich zwischen Text und Labor bewegt. Latour konstatiert hierzu: We are at the junction of two worlds: a paper world that we have just left, and one of instruments we are just entering. A hybrid is produced at the interface: a raw image, to be used later in an article that is emerging from an instrument.32 Aufgrund der konstitutiven Bedeutung von visuellen Bildern merkt Winston an, dass Latour «equates scientific instrument with inscription device». 33 Damit ist die mimetische Funktion der Bilder dementiert und die Visualität der Darstellung wird an die Sprache verwiesen. Allerdings an die Schriftsprache, wie Hans-Jörg Rhein- berger feststellt, die gegenüber der phonetischen Sprache eine weitgehende Unab- hängigkeit erreicht hat.34 Jedoch will Rheinberger mit seinen Überlegungen nicht auf postmoderne, semiotische Theorien von Sprache referieren, innerhalb derer die materiale Welt als Effekt semiotischer Spiele angesehen wird. Stattdessen führt er den von Bruno Latour bemühte Praxisbegriff ins komplexe Feld zwischen Visua- lität und Objekt.35 Unter Rückgriff auf Latour vermerkt Rheinberger, dass es nicht die ‹Sprachspiele› seien, die «den Sinnzusammenhang der Welt konstitutieren. Das soziale Band der Gesellschaft, in der wir leben, besteht aus Objekten, die im La- boratorium fabriziert sind.»36 Das Labor wird damit zur «Schmiede epistemischer Dinge».37 Nehmen wir die historischen und die aktuellen Beispiele aus der wissenschaftli- chen Bildgestaltung, wird deren prekärer Status als Abbildung und Objekt besonders deutlich. Bereits erwähnt waren die frühen Filmbilder aus der Mikrobiologie und der Physik, die an die Stelle des Forschungsobjekts rückten. Diese Tradition ist im Rahmen der wissenschaftlichen Bildgestaltung ungebrochen fortgeführt, denken wir an zeitgenössische Verfahren naturwissenschaftlicher und medizinischer Bilder. Naturwissenschaftliche und medizinische Bilder ‹funktionieren› in der Regel in wissenschaftlichen Kontexten. Aufgrund ihrer Eigenschaft als ‹immutable mobiles› 31 Brian Winston: The Documentary Film as Scientific Inscription. In: Michael Renov (Hg.): Theoriz- ing Documentary. New York, London 1993. S. 37–57, zit. S. 40. 32 Bruno Latour: Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers Through Society. Cambridge, Mass. 1987, S. 64. 33 Winston sieht die inscription als visuelle Praxis auch im Dokumentarfilm als wirksam an. 34 Hans-Jörg Rheinberger: «Alles, was überhaupt zu einer Inskription führen kann». In: ders: Iteratio- nen. Berlin 2005. S. 9–36, hier S. 12. 35 Ebd., S. 14. 36 Bruno Latour, zit. in Rheinberger, S. 14. 37 Rheinberger, S. 20. Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung 18 kann jedoch jederzeit ihre Funktionalisierung in anderen Kontexten vorgenommen werden, innerhalb derer die Bilder re-semantisiert werden. Interviews der Verfasse- rin beispielsweise mit Nanowissenschaftlern haben ergeben, dass eine Trennung der Bilder in Forschungs- und Dokumentationskontexte schwer durchzuführen ist. Das mag an der Genese der Bilder liegen: mit einem Rastertunnelmikroskop werden die Oberflächen der Kleinstpartikel unterhalb der Molekularebene abgetastet, diese Daten sind in Form von Digitalcodes erfasst und werden mithilfe von Bildprogram- men in visuelle Darstellungen umgeformt. Ein Verfahren, das nicht einmal mehr die Spur eines indexikalischen Verweises auf ein Objekt außerhalb seiner selbst in sich trägt; die Idee der Inskription, eines Textes ohne Ursprung oder Signifikat drängt sich regelrecht auf.38 Bilder der Nanotechnologie sind deshalb auch Transformati- onsobjekte, die zwischen den Diskursen changieren und denen eine differierende Funktion zugewiesen wird. Seien es ästhetische Funktionen39 oder die kommuni- kativen Funktionen in sozialen Netzen, wie sie Andreas Lösch einschätzt. Lösch zu- folge dienen Abbildungen der Nanotechnologie als Kommunikationsmedien über Nanotechnologie innerhalb einer wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit.40 Die Inskription der Bilder und ihr epistemischer Status fordern eine methodi- sche Reflexion ein, die nicht mehr mit den klassischen ästhetischen Begriffen von Mimesis, Referenz oder Repräsentation zu fassen sind, da die Bilder und ihre jewei- ligen Technologien im Zusammenhang betrachtet werden sollten. Demnach bieten sich theoretische Modelle an, die auf die dispositiven und pragmatischen Dimensi- onen der Bildgestaltung eingehen.41 Einen Versuch dahingehend unternimmt Regula Burri mit ihrer Untersuchung der Bildgestaltung in medizinischen Kontexten.42 Burri zufolge sind die Bilder der Medizin in einer doppelten Bindung verhaftet. Ihre Visualität und Ästhetik kann im Kontext von Kunst- und Bildwissenschaft analysiert werden, ihre Einbindung in die apparative und soziale Praxis allerdings wird von den traditionellen Bilddiszi- plinen nicht erfasst. Burri vertritt einen deutlich pragmatischen Bildbegriff wenn sie anmerkt, dass die ‹Bilder in der Medizin› in ‹Aktion› sind. «Sie gehen aus einem Zusammenspiel von Instrumenten, Räumen, Körpern und epistemischen Praktiken 38 Vgl. hierzu nochmals Hans-Jörg Rheinberger: «Es gibt in der Wissenschaft nichts, was dieser per- manenten Vorgängigkeit der Darstellung entginge, diesem ständigen Gleiten einer Repräsentation unter die andere, womit sie gleichzeitig ihren Sinn als Abbildung unterläuft». Ebd., S. 23. 39 Petra Missomelius: Visualisierungstechniken: Die medial vermittelte Sicht auf die Welt in Kunst und Wissenschaft. In: Joachim Schummer, Alfred Nordmann, Astrid Schwarz (Hg): Nanotechnologien im Kontext. Philosophische, ethische und gesellschaftliche Perspektiven. Berlin 2006. S. 169–178. 40 Andreas Lösch: Antizipation nanotechnischer Zukünfte: Visionäre Bilder als Kommunikations- medien. In: Joachim Schummer, Alfred Nordmann, Astrid Schwarz (Hg): Nanotechnologien im Kontext. Philosophische, ethische und gesellschaftliche Perspektiven. Berlin 2006. S. 223–242. 41 Michael Lynch formuliert diesen Zusammenhang folgendermaßen. «That visual displays are more than a simple matter of supplying pictorial illustrations for scientific texts. They are essential to how scientific objects and orderly relationships are revealed and made analysable». Lynch, S. 154. 42 Regula Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder. Bielefeld 2008. 19 Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung hervor und interagieren mit Personen und anderen Wissensobjekten».43 Aus diesem Ansatz kann deutlich werden, dass die Analyse der medizinischen und anderer na- turwissenschaftlicher Bilder nicht mit traditionellen bild- oder kunstwissenschaft- lichen Methoden vorgenommen werden kann, dass aber auch eine allein auf das Focaultsche Dispositiv abzielende Betrachtungsweise zu kurz greift. Burri verortet Bilder und ihre Praktiken in unterschiedlichen, sich überlagernden Diskursen, die jeweils Ausgestaltung und Pragmatik der Bilder prägen. Dabei merkt sie an, dass die Actor Network Theory (ANT) in ihrer Gleichbehandlung von menschlichen und nicht menschlichen Aktanten dem Anspruch einer vermehrten Betrachtung der Materia- lität von Technik und Natur am nächsten komme.44 Burris Arbeiten dokumentieren ein Konzept von Bildlichkeit, Medialität und Visualität, das sich nicht ausschließlich mit Theorieansätzen aus Bild- und Medienwissenschaft beschreiben lässt, sondern das dynamisch technische und soziale Dimensionen integriert und von daher Kate- gorien entwickelt, die der Heterogenität der Akteure/Aktanten und deren komplexer Wissensproduktion mit vielschichtiger medialer Funktion gerecht wird.45 Burri integriert die sozialen Aspekte der Bildgestaltung in ihre Überlegungen. Hierin wird deutlich, dass diese auch in konkret medienwissenschaftlichen Be- trachtungen nicht fehlen dürfen. Exemplarisch demonstriert die Geschichte der UFA, dass zur Filmanalyse nicht ausschließlich visuelle und ästhetische Kategorien herangezogen werden können, sondern dass ebenso soziale und politische Katego- rien eine außerordentliche Rolle spielen, die die Bildgestaltung mitprägen. Denn angesichts der Gründungsgeschichte der UFA, deren Vorbesitzer Oskar Messter ein ausgeprägtes Interesse für Reihenbilder besaß und dessen ‹Messter Konzern› 1917 in der neugegründeten UFA aufging wird deutlich, dass hier eine Filmproduktion entstanden war, die ihre Ursprünge und Organisationsstruktur dem Militär und dessen Aufklärungsinteressen verdankte.46 Dieser Sachverhalt veranlasst Klaus Krei- meier zu der Frage, «wie sich der Film – geprägt mit dem ‹Stempel des wilhelmi- nischen Imperialismus› oder, mit Virilio, im ‹Hausarrest› der Militaristen geboren – gegenüber der Moderne und ihren Verwerfungen, ihren Erschütterungen und gebrochenen Perspektiven verhalten wird.»47 Vor diesem skizzierten theoretischen Hintergrund lässt sich die Doppelcodie- rung sowohl der Fotografien als auch der Filme in wissenschaftlichen wie in ästheti- schen Konzepten kategorialer beschreiben. Die bereits angedeutete Doppelfunktion wissenschaftlicher Fotografien setzt sich im Film fort. Mit Blick auf den frühen Film stellt Yuri Tsivian die ästhetische Faszination am Röntgenfilm fest, die dieses Phä- nomen der visuellen Konstruktion eines ‹inneren›, ‹wahren› Körpers in die ästhe- 43 Ebd., S. 7. 44 Ebd., S. 41. 45 Tristan Thielmann: Der ETAK Navigator. Tour de Latour durch die Mediengeschichte der Autonavi- gationssysteme. In: Georg Kneer, Markus Schroer, Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollekti- ve. Frankfurt a. M. 2008. S. 180–218, hier S. 195. 46 Klaus Kreimeier: Die UFA Story. Geschichte Eines Filmkonzerns. München, Wien 1992, S. 39ff. 47 Ebd., S. 42. Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung 20 tischen Diskurse verschiebt. Aufgrund der relativ zeitgleichen Einführung wurde sogar eine Koppelungsfunktion der Maschinen angenommen, die Presse veröffent- liche Bilder der ‹twin monsters›. Berühmt ist auch das Beispiel aus Thomas Manns Roman Der Zauberberg, in dem voller Liebe das Röntgenbild der Angebeteten be- trachtet wird.48 Tsivian verweist auf eine Reihe von erotischen Phantasien, die sich am Röntgenbild entzündeten. Eine eindringliche Version bietet ein Gedicht Law- rence K. Russels über die Faszination mit der Röntgenfotografie einer Frau: She is so tall, so slender, and her bones – Those frail phosphates, those carbonates of lime – Are well produced by cathode rays sublime, By osciallations, amperes and by ohm. Her dorsal vertebrae are not concealed By epidermis, but are well revealed. Around her ribs, those beauteous twenty-four, Her flesh a halo makes, misty in line, Her noseless, eyless face looks into mine, And I but whisper, «Sweatheart, je t’adore» Her white and gleaming teath at me do laugh. Ah! Lovely, cruel, sweet cathodograph.49 Eine ähnliche Faszination an den Röntgenbildern und -filmen, die sich im Kon- text erotischer Überhöhung, ästhetischer Faszination und dem Spektakel abspiel- ten, boten sich im deutschen Kontext ebenfalls an. Kennzeichnend für die frühe Filmgeschichte ist die fehlende Trennung in fiktionalen und dokumentarischen Film, beide Filmtypen gehörten in das Nummernprogramm der Kinematogra- phentheater in den ersten und zweiten Dekaden des 20. Jahrhunderts, die jewei- ligen Produktionsfirmen spezialisierten sich auf thematische Schwerpunkte.50 Vor diesem Hintergrund erklärt sich der öffentliche Erfolg von Martin Riklis popu- lärwissenschaftlichem Film Röntgenstrahlen (1937). Die UFA Kulturabteilung beabsichtigte schon über eine längere Zeit die kinematographische Verarbeitung der Röntgentechnologie, aber erst in den 1930er Jahren entwickelte der Medizin- professor Robert Janker ein «indirektes Verfahren, bei dem die Röntgenstrahlen auf einen leistungsstarken Leuchtschirm trafen, dadurch sichtbar wurden und mit 48 Yuri Tsivian: Media Fantasies and Penetrating Vision. In: John E. Bowlt, Olga Matich (Hg).: Labora- tory of Dreams: The Russian Avant-Garde and Cultural Experiment. Stanford, Calif. 1996. S. 81–99, hier S. 86. 49 zit. in Tsivian, S. 87. 50 Martin Loiperdinger: Das nicht-fiktionale Filmangebot für die Nummernprogramme. In: Uli Jung, Martin Loiperdinger (Hg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Bd.1, Kaiserreich 1895–1918. Stuttgart 2005. S. 179–229. 21 Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung einer Filmkamera»51 aufgenommen werden konnten. Für die Reichsstelle für den Unterrichtsfilm (RfdU) entstanden 1936 und 1937 fünf medizinische Röntgenfilme in der Tradition der UFA Lehrfilme, mit denen die UFA ab 1919 begann, ein me- dizinisches Filmarchiv aufzubauen.52 Riklis populärwissenschaftlicher Film Rönt- genstrahlen unterschied sich jedoch deutlich von den für wissenschaftlichen Ge- brauch konzipierten Filmen dahingehend, dass hier auf ein Kino der Attraktionen hingearbeitet wurde. Zwar stehen am Anfang des Films umständliche Hinweise auf den Erfinder des Verfahrens, Wilhelm Conrad Röntgen 1985, wie bereits erwähnt, zeitgleich mit den ersten öffentlichen Filmvorführungen. Nach einer lehrbuchmä- ßigen Demonstration der Röntgenstrahlen widmet sich der Film den tatsächlich vergnüglichen Aspekten der Zuschaustellung des Innen wie z. B. Mäuse im Laufrad oder ein Huhn, das ein Ei legt. In Verbindung mit dem Menschen werden alltägliche Tätigkeiten durch die Filmarbeit verfremdet, spektakulär verfolgen wir das Innen- leben eines Trompeters. Rikli beruft sich auf die Unterhaltungstradition der UFA, die er ebenfalls im wissenschaftlichen Film angewendet wissen will. Die langjährige Erfahrung als Kulturfilmregisseur hatte mir immer wieder einge- hämmert, daß unter allen Umständen für jeden Stoff eine möglichst interessante Form der Darstellung gefunden werden mußte.53 Anhand der Geschichte des frühen wissenschaftlichen Films, des mikrobiologischen Films und des Röntgenfilms lässt sich deutlich der epistemische Stellenwert der wis- senschaftlichen Bildgestaltung wie auch die Genese filmspezifischer Bildästhetiken erkennen. Bevor diese sich ausprägen konnten, waren durch den wissenschaftli- chen und medizinischen Film die Bedingungen der Bildgestaltung festgeschrieben. Praktiziert und etabliert wurde der sezierende und fragmentierende Blick auf das Forschungsobjekt, die medialen Verfahren der Darstellung waren weitgehend aus- geblendet.54 Angeregt durch das technische und soziale Dispositiv der wissenschaft- lichen Bildgestaltung übertrug sich diese sezierende visuelle Ästhetik auch in den sich etwas später herausbildenden Stummfilm in seinen Großaufnahmen, der Ge- sichter und deren Gefühlsregungen in einer Nähe und Schärfe präsentiert, welche die körpereigene Wahrnehmung erheblich überschreitet. Mary Anne Doane hatte einst festgestellt, dass es nur der Blick der Mutter oder der Geliebten sei, der diese Nähe auf ein Gesicht zuließe.55 Angesichts der vielfach vergrößerten und fragmen- tarisch präsentierten Details wird dieser Blick anhand filmischer Technologien, die eine erfolgreiche Allianz mit dem Mikroskop eingegangen waren, weit überschrit- 51 Kay Hoffmann: Unbekannte Bilderwelten. Technische Innovation und ästhetische Gestaltung. In: Peter Zimmermann, ders. (Hg): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Bd 3. 1933– 1945. Stuttgart 2005. S. 179–197, zit. S. 187. 52 Ebd., S. 187f. 53 Martin Rikli zit. in Hoffmann, S. 189. 54 Vgl. hierzu Stafford. 55 Mary Ann Doane: Information, Crisis, Catastrophe. In: Patricia Mellencamp (Hg.): The Logics of Television. Essays in Cultural Criticism. Bloomington 1990. S. 222–239. Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung 22 ten. Zugespitzt kann deshalb behauptet werden, dass die naturwissenschaftliche und medizinische Filmarbeit die Rezeption der spezifischen Filmästhetiken und deren visuelle Semantiken eingeübt hat. Dieser Sachverhalt gilt allerdings nicht nur für die frühen medizinischen Dar- stellungen und den Film, sondern die zu diesem Zeitpunkt ausgeprägte visuelle Semantik konnte sich ungebrochen bis in heutige Film- und auch Fernsehpro- duktionen fortschreiben. Zugleich ist die strukturelle Nähe zwischen dem natur- wissenschaftlichen und dem ästhetischen Blick zementiert worden, wie zahlreiche Produktionen belegen, die sich – im Gegensatz zum frühem Film – auch thematisch auf die Instanzen naturwissenschaftlicher und medizinischer Bildgebungsverfah- ren beziehen. Literatur Svetlana Alpers: The Art of Describing: Dutch Art in the Seventeenth Century. Chicago 1983. Regula Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder. Bielefeld 2008. Lisa Cartwright: Screening the Body. Tracing Medicine’s Visual Culture. Minneapolis 1995. Scott Curtis: Die kinematographische Methode. Das ‹Bewegte Bild› und die Brownsche Bewegung. In: montage a/v 14/2 (2005). S. 23–43. Mary Ann Doane: Information, Crisis, Catastrophe. In: Patricia Mellencamp (Hg.): The Logics of Televi- sion. Essays in Cultural Criticism. Bloomington 1990. S. 222–239. Martin Dreiser: Medizinische Kinematographie. Dresden, Leipzig 1919. James Elkins: The Domain of Images. Ithaca & London 1999. Michel Foucault: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. 8. Aufl. Frankfurt a. M. 2008. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd.1. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M. 1977. Evelyn Fox Keller: Making Sense of Life. Explaining Biological Development with Models, Metaphors, and Machines. Cambridge, Mass. 2002. Peter Galison, Lorraine Daston: Objectivity. Cambridge, Mass. 2007. Peter Gendolla: Zur Interaktion von Raum und Zeit. In: Norbert M. Schmitz, Peter Gendolla, Irmela Schneider: Formen Interaktiver Medienkunst. Frankfurt a. M. 2001. S. 19–38. Tal Golan: Sichtarkeit und Macht: Maschinen als Augenzeugen. In: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Frankfurt a. M. 2002. S. 171–210. Jochen Hennig: Vom Experiment zur Utopie. Bilder in der Nanotechnologie. In: Angela Fischel (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 2.2 Instrumente des Sehens. Berlin 2004. S. 9–18. Kay Hoffmann: Unbekannte Bilderwelten. Technische Innovation und Ästhetische Gestaltung. In: Peter Zimmermann, ders. (Hg): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Bd 3. 1933–1945. Stuttgart 2005. S.176–97. Klaus Kreimeier: Die UFA Story. Geschichte Eines Filmkonzerns. München, Wien 1992. Hannah Landecker: Culturing Life: How Cells Became Technologies. Cambridge, Mass. 2007. Hannah Landecker: Microcinematography and the History of Science and Film. In: Isis 97 (2006). S. 121–32. Bruno Latour: Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers Through Society. Cambridge, Mass. 1987. Bruno Latour: Drawing Things Together. In: Michael Lynch, Steven Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice. Cambridge 1990. S. 16–68. 23 Überlegungen zum Dispositiv medialer Bildgestaltung Paul Liesegang: Handbuch der praktischen Kinematographie. Leipzig 1912. Paul Liesegang: Wissenschaftliche Kinematographie. Düsseldorf 1920. Lloyd Blodwen (Hrsg.): Science in Film, Vol.I. London 1948. Martin Loiperdinger: Das nicht-fiktionale Filmangebot für die Nummernprogramme. In: Uli Jung, ders. (Hg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Bd.1, Kaiserreich 1895–1918. Stuttgart 2005. S. 179–229. Andreas Lösch: Antizipation nanotechnischer Zukünfte: Visionäre Bilder als Kommunikationsmedien. In: Joachim Schummer, Alfred Nordmann, Astrid Schwarz (Hg): Nanotechnologien im Kontext. Phi- losophische, ethische und gesellschaftliche Perspektiven. Berlin 2006. S. 223–242. Michael Lynch: The Externalized Retina: Selection and Mathematization in the Visual Documentation of Objects in the Life Sciences. In: ders., Steven Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice. Cambridge 1990. S. 153–186. Petra Missomelius: Visualisierungstechniken: Die medial vermittelte Sicht auf die Welt in Kunst und Wissenschaft. In: Joachim Schummer, Alfred Nordmann, Astrid Schwarz (Hg): Nanotechnologien im Kontext. Philosophische, ethische und gesellschaftliche Perspektiven. Berlin 2006. S. 169–178. Ramon Reichert: Im Kino der Humanwissenschaften: Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wis- sens. Bielefeld 2007. Hans-Jörg Rheinberger: «Alles, was überhaupt zu einer Inskription führen kann». In: ders: Iterationen. Berlin 2005. S. 9–36. Barbara Maria Stafford: Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine. Cam- bridge, Mass. 1991. Tristan Thielmann: Der ETAK Navigator. Tour de Latour durch die Mediengeschichte der Autonaviga- tionssysteme. In: Georg Kneer, Markus Schroer, Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Frankfurt a. M. 2008. S. 180–218. Yuri Tsivian: Media Fantasies and Penetrating Vision. In: John E. Bowlt, Olga Matich (Hg).: Laboratory of Dreams: The Russian Avant-Garde and Cultural Experiment. Stanford, Calif. 1996. S. 81–99. Brian Winston: The Documentary Film as Scientific Inscription. In: Michael Renov (Hg.): Theorizing Documentary. New York, London 1993. S. 37–57. Siegfried Zielinski: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Frankfurt a. M. 2002. Anja Laukötter (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert Evidenz und Emotionen Für die Formierung des Wissens über den Körper und für dessen Vermittlung in die Öffentlichkeit sind Bilder zentral. Sie fungieren als Fakten, produzieren Evidenz und sind zugleich Medien der Didaktik. Bilder können einerseits Prozesse kon- kretisieren und synthetisieren, die sich von Wörtern unterscheiden, aber zugleich zu ihnen in Beziehung stehen.1 Darüber hinaus beziehen sich Bilder nicht nur auf eine Realität, sondern sie kreieren eine solche und eröffnen dabei neue Räume der Kommunikation.2 Damit haben Bilder die Fähigkeit, neue Orte der Phantasie und der Emotionen zu eröffnen. Insofern kann ihnen auch eine gewisse «Maßlosigkeit», wie Ingeborg Reichle es nennt, inhärent sein.3 Dass als ‹maßlos› empfundene Bilder immer wieder als Instrumente der Kontrolle zu Zensuren geführt haben, wissen wir mit Blick auf die nationale und zugleich internationale Geschichte. Zugleich können in Bildern Ästhetik und Epistemik in einer spezifischen Weise aufeinander treffen4, die komplementäre, aber auch konträre Wirkung haben können – oder die, um mit Andreas Mayer und Alexandre Métraux zu sprechen, «epistemische Wider- borstigkeiten» hervorrufen können.5 Als ‹ikonische Episteme› und als Ergebnis von mechanischen Reproduktionstechnologien haben sie einerseits konstitutive Wir- kung für die Fundamentierung des Konzeptes der Objektivität als Grundlage der Wissenschaften, wie Lorraine Daston und Peter Galison in ihrem kürzlich erschie- nenen Buch Objectivity noch einmal eindrücklich für das 18. und 19. Jahrhundert 1 Zum Verhältnis von Bild und Text und deren Subordination: Michel Foucault: Ceci n’est pas une pipe. Paris 1973, S. 39–42. 2 Siehe hierzu: Siegfried Krakauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1993. 3 Zum Konzept der Maßlosigkeit der Bilder siehe: Ingeborg Reichle, Steffen Siegel: Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression. München 2009: Einleitung und Beitrag von Sybille Krämer (Gibt es ‹maßlose Bilder›?. S. 17–36). 4 Hans-Jörg Rheinberger: Nachschrift. In: Andreas Mayer, Alexandre Métraux (Hg.): Kunstmaschi- nen. Spielräume des Sehens zwischen Wissenschaft und Ästhetik. Frankfurt a. M. 2005. S. 203–213, hier S. 204. 5 Andreas Mayer, Alexandre Métraux (Hg.): Kunstmaschinen. Spielräume des Sehens zwischen Wissen- schaft und Ästhetik. Frankfurt a. M. 2005. 25 (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert aufgezeigt haben.6 Zugleich konstituieren sie den Blick der/des Betrachters/in in neuer Weise wie Jonathan Crary für das 19. Jahrhundert argumentiert hat.7 Damit sind Bilder keine machtfreien Plätze, denn die Macht des Bildes besteht nach Gottfried Boehm darin zu zeigen.8 Dieser Fähigkeit des Verweises unterliegt dabei eine gewisse Struktur, eine «Ordnung des Zeigens», die Martina Heßler und Dieter Mersch auch als «Logik der Bilder» bezeichnet haben.9 Als die Bilder am Ende des 19. Jahrhunderts ‹laufen› lernten, erfuhr die Rhe- torik dieser Sprache einen Schub. Seit den ersten Filmproduktionen, d.h. der Er- zeugung beweglicher Bilder mittels des im Jahre 1895 durch die Lumière-Brüder erfundenen Cinematographen, haben Filme zunehmend eine unabhängig visuelle Sprache mit einem ihnen inhärenten Bildercode entwickelt – eine visuelle Kultur mit ihrer eigenen Rhetorik. Und dennoch, so die These dieses Beitrages, die hier nur kurz skizzierten charakteristischen Merkmale der Bilder sind auch in den Filmbil- dern evident, wie im Folgenden am Beispiel spezifischer Bilder von Moulagen im medizinischen Aufklärungsfilm Feind im Blut (1931) argumentiert werden wird. Doch zunächst ein kurzer Einblick in die Entstehungszusammenhänge dieser spe- zifischen Form des Films. I. Filme in der Wissenschaft der Medizin Das neue Medium der Kinematographie wurde von der Wissenschaft der Medizin bereits frühzeitig in ihre Arbeit eingebunden und von einigen Wissenschaftlern in Europa und den USA zum zentralen Instrument ihrer Forschung.10 Eine ähnliche Adaption lässt sich auch für andere wissenschaftliche Bereiche wie die Botanik (hier das Pflanzenwachstum), die Biologie (hier z.B. die Teilung eines Eis) und andere Wissenschaften zeigen. Noch vor der Jahrhundertwende produzierte der Radiologe John Macintyre in Glasgow erste Röntgenfilme von Gliedmaßen und aktiven Or- ganen. Darunter 1897 einen Röntgenfilm, der die Bewegungen eines Froschschen- kels, animiert durch Stromstöße, visualisierte. Macintyre nahm dabei eine Serie von fotografischen Platten der Frosch-Bewegungen auf und fasste sie zu einem kurzen Animationsfilm zusammen.11 Die Wahl des vorzuführenden Objektes fiel wegen seiner Dünnhäutigkeit und seines einfachen Knochenbaus auf den Frosch. Außer- dem fungierte dieser, wie Bernd Hüppauf deutlich macht, als Inbegriff des episte- mischen Dings im Experimentalsetting des 19. Jahrhunderts – als ein menschen- 6 Lorraine Daston, Peter Galison: Objectivity. Cambridge 2007. 7 Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge 1990. 8 Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007, S. 39. 9 Für sie ist daher nicht die Frage, ob Bilder Bedeutung schaffen, sondern wie eine visuelle Epistemik funktioniert. Martina Heßler, Dieter Mersch: Bildlogik oder Was heißt visuelles Denken? In: dies. (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft. Bielefeld 2009. S. 8–62, hier S. 10. Auf die Logik des Bildlichen verwies auch schon Gottfried Böhm. Siehe Böhm, S. 34ff. 10 Von ihnen gehen zugleich zahlreiche Impulse für die technische Weiterentwicklung aus. 11 Lisa Cartwright: Screening the Body. Tracing Medicine’s Visual Culture. Minneapolis 1995. (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert 26 ähnliches Wesen ohne Leidensfähigkeit.12 Auch andere Wissenschaftler wie Ludwig Braun in Wien experimentierten mit Tieren: Er hielt das Herzklopfen eines Hundes filmisch fest – denn dieses Herz eines Säugetieres sei, im Gegensatz zum Froschherz, dem menschlichen ähnlich.13 Kinematographische Aufnahmen von medizinischen Praktiken am bzw. mit Menschen wurden in der Zeit bis kurz nach der Jahrhundertwende insbesondere im Zusammenhang mit der Dokumentation von Operationstechniken und Bewe- gungsabläufen angefertigt. Letztere sind in Anlehnung an bzw. als Weiterentwick- lung der chronophotographischen Bewegungsstudien von Eadweard Muybridge (Kalifornien) und dem französischen Physiologien Etienne-Jules Marey zu verste- hen. So nahm beispielsweise Paul Schuster 1897 in der neu eingerichteten Nerven- klinik an der Berliner Charité motorische Dysfunktionen bei neurologisch erkrank- ten Patienten auf und präsentierte sie bei der 69. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Braunschweig. Einer seiner Filme (Patho- logische Bewegungsweisen beim Menschen) wurde in zahlreichen Kliniken in Europa gezeigt.14 Ein Jahr später produzierte Gheorge Marinesco in einer Bukares- ter Klinik ebenfalls Filmaufnahmen von Menschen mit Bewegungsstörungen, die er unter anderem auf dem «Internationalen medizinischen Kongreß» in Paris 1900 darbot.15 Auch in den USA wurde das Medium Film insbesondere zur Aufnahmen von epileptischen Anfällen genutzt, wie z.B. 1905 von Walter Greenough Chase.16 Bereits 1898 hatte der französische Mediziner Eugène Louis Doyen kinemato- graphische Aufnahmen von Operationstechniken angefertigt, einerseits um seine Praktiken durch Selbstbeobachtung zu verbessern und zu rationalisieren, anderer- seits um seine Techniken zu veröffentlichen bzw. seine eigene Effektivität zu zele- brieren. Seine Filme wurden erstmals 1898 bei einem Treffen der «British Medical Association» in Edinburgh präsentiert.17 Es war auch Doyen, der im Jahr 1900 nach Berlin reiste, um eine Unterschenkelamputation durch seinen Kollegen Ernst von Bergmann aufzunehmen. Ganz besonderes Aufsehen erregten in Frankreich Do- yens Aufnahmen von der operativen Trennung der Siamesischen Zwillinge Doodica 12 Bernd Hüppauf: Der Frosch im wissenschaftlichen Bild. In: ders., Peter Weingart (Hg.): Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft. Bielefeld 2009. S. 137–164, hier S. 146ff. 13 Siehe zur Versuchsbeschreibung: Ludwig Braun: Die Anwendung de Kinematographen für das Stu- dium und die objektive Darstellung der Herzbewegung. In: Wiener Medizinische Wochenschrift 44 (1897). S. 2025–2028. 14 Ute Holl: Neuropathologie als filmische Inszenierung. In: Martina Heßler (Hg.): Konstruierte Sicht- barkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit. München 2006. S. 217–240, hier S. 221f. 15 Robert Kutner: Die Bedeutung der Kinematographie für medizinische Forschung und Unterricht sowie für die volkshygienische Belehrung. In: Zeitschrift für die ärztliche Fortbildung 8 (1911). S. 249–251, zit. S. 249. 16 Walter Greenough Chase: The Use of the Biograph in Medicine. In: The Boston Medical and Surgical Journal 63 (1905). S. 571–573. 17 Thierry Lefebvre: La chair et le celluloïd. Le cinéma chirurgical du docteur Doyen. Brionne 2004. 27 (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert und Radica im Jahr 1902, die bis dato im Zirkus Barnum & Bailey als Kuriosität aufgetreten waren. Gezeigt und diskutiert wurden diese bewegten Bilder zumeist in wissenschaftlichen Gesellschaften. Das Potential dieser ein- bis zweiminütigen Filme wurde dabei schnell offen- sichtlich: sie dienten der Aufzeichnung, Analyse und Reproduktion von lebenden Phänomenen. Darüber hinaus schienen sie Einblicke in das Leben der Organis- men zu liefern, die zu neuen Erkenntnissen über das Leben an sich führen sollten. Die Technologie der Filmaufnahme avancierte damit zum Symbol einer modernen Wissenschaft. Doch worin begründete sich diese Faszination an den bewegten Bildern? Im Gegensatz zur Fotografie wurde bei den jetzt sichtbaren bewegten Bildern eine zeitliche Abfolge implementiert, die durch einen klaren Beginn, Verlauf und Ende unveränderbar markiert war.18 Auch im Unterschied zu den ersten chronophoto- graphischen Bewegungsstudien von Eadweard Muybridge und Etienne-Jules Marey konnten jetzt Bewegungsabfolgen gezeigt werden, die zeitlich identisch schienen mit natürlichen Bewegungen und die damit eine neue sinnliche Erfahrung ermög- lichten. Den Bildern schien Leben eingehaucht worden zu sein – oder anders gesagt: sie suggerierten eine Abbildung von Lebendigkeit, die identisch zu sein schien mit der Realität. Der Eindruck einer realen Abbildung, wie sie zuvor bei der Aneinan- derreihung von Bilder noch erfahrbar war, hatte sich selbst zum Verschwinden ge- bracht: die perfekte Illusion von Bewegung war gegeben.19 Dementsprechend galten die Filme insgesamt als selbst-explanatorisch: Sie bedürften keiner weiteren Kon- textualisierung. Wurde bei der Chronophotographie der Experimentalaufbau (im Hinblick auf die Zeit, Größenangaben und Angaben über Kameraabstände etc.) präzise dokumentiert, finden sich für diese ersten filmischen Aufnahmen wenige entsprechenden Informationen.20 Eine mit dem Medium Film eng verbundene Fas- zination betraf die Langlebigkeit und das Potential der Wiederholung des Mediums selbst, die sich damit konträr zur Vergänglichkeit des Lebens und seiner Dingwelt positionierte und optimale Laborbedingungen schuf. So betonte der Mediziner Ro- bert Kutner 1911 auf einer Konferenz über die Nutzbarmachung des Kinematogra- phen für Bildungszwecke im Reichstagsgebäude in Berlin: Der […] Wert des kinematographischen Films [beruht] für den Forscher in allen Fällen 1. auf seiner Stabilität gegenüber dem Präparat und dessen Vergänglichkeit […] und 2. auf seiner zeitlichen Dauer gegenüber dem schnellen Ablauf jedes Bewegungs- vorganges in der Wirklichkeit. […] Der kinematographische Film gestattet dem Forscher auch immer aufs neue sich in das Studium des Bewegungsvorganges zu 18 Siehe zum Faktor Zeit bei der Chronofotografie auch Andreas Becker: Perspektiven einer anderen Natur. Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung. Bielefeld 2004, S. 74ff. 19 Siehe hierzu auch Rheinberger, S. 206. 20 Holl, S. 232. (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert 28 versenken, wobei sich, wohlgemerkt, der Vorgang in unbeschränkter Häufigkeit vor seinen Augen genau ebenso abspielt, wie er ihn das erste Mal sah.21 Durch die kinematographischen Aufnahmen ließ sich die Lebendigkeit der Bewe- gungen also auch festschreiben und bei Bedarf abrufen – die Lebendigkeit war da- mit unter Kontrolle gebracht. Eine weniger arbeitstechnisch denn philosophische Vision bezüglich des Zugewinns durch bewegte Bilder formulierte ein unbekan- nter Autor zu Beginn des Jahrhunderts im British Medical Journal über die Rönt- genkinematographie: «If the fact is once established, and the technique is improved gradually, as it is always the case, then we may look to the cinematograph to unveil some highly interesting secrets, which nature has hitherto kept well concealed.»22 Mit dem neuen Medium war demnach die Hoffnung verbunden, neue Einblicke in die Natur zu erhalten und sie zu entschlüsseln. Der Blick ins Körperinnere, wie sie durch die Röntgenkinematographie erstmals möglich war, schien die Körperwelt neu zu ordnen und begreifbar zu machen und dies in einem Umfang, der die Vision der Erfassung und Überwachung des menschlichen Körpers und Geistes generierte. Diese, im Sinne der Foucaultschen Biopolitik, optimierte Situation fand sogleich ihre unmittelbare Anwendung: Filme wurden nach der Jahrhundertwende zuneh- mend in der Kriminalistik, in der Gerichtsmedizin, bei der Erstellung von psychi- atrischen Gutachten und in Berufungsverfahren von Soldaten etc. eingesetzt. Der Evidenzcharakter, der diesen Aufnahmen jenseits des Diskursiven eingeschrieben worden war,23 war demzufolge nun öffentlich akzeptiert und amtlich bestätigt. Die damit einhergehenden Möglichkeiten der Kontrolle, inklusive der Selbstkontrolle der eigenen Bewegung, interpretierten Zeitgenossen wie Robert Kutner für ihre ei- genen Zwecke als positiven Mehrwert: Erwähnung möge endlich noch finden, daß der Kinematograph auch als wichtiger Kontrolleur der eigenen Tätigkeit dienen kann; Doyen teilte mir mit, dass er insofern von seinem Kinematographen viel gelernt hat, als er sich durch die Aufnahmen über- zeugt hätte, wie viel überflüssige Bewegungen man als Operateur mache und in wie hohem Maße man hierdurch die Zeit der Operationen unnütz verlängere. Indem er durch immer wiederholte Aufnahmen derselben Operation sich einer scharfen Kon- trolle unterzog, und durch Abgewöhnung der überflüssigen Bewegungen die Zeit verkürzte, habe er sich selbst zu einer strengen Ökonomie der chirurgischen Technik erzogen.24 Vornehmlich in der ersten Dekade des medizinischen Films entwickelten sich fil- mische Aufnahmen aber nicht nur zum zentralen Bestandteil der Forschung. Es ist vielmehr ein genuiner Bestandteil dieses Mediums, dass die medizinisch orientier- ten Filme die räumlichen Grenzen der Wissenschaft bzw. die Wissensräume der 21 Kutner, S. 250. 22 Anonym: Roentgen Cinematography. In: The British Medical Journal 19 (1910). S. 1645. 23 Holl, S. 223. 24 Kutner, S. 250. 29 (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert Wissenschaft überschritten und eine öffentliche Rezeption erhielten. Oder anders gewendet: Es existierten zahlreiche Schnittmengen zwischen dem wissenschaftli- chen und öffentlichen Interesse und für zumindest einige Filme lässt sich nach- weisen, dass sie in verschiedensten Seh-Räumen zirkulierten. Entsprechend brü- chig ist die in der Literatur gängige Trennung zwischen wissenschaftlichem Film einerseits und populärwissenschaftlichem Film andererseits, die primär über den Aufführungsort und die Adressaten, erst sekundär über inhaltliche, formale und intentionale Aspekte definiert wird. Ein bekanntes Beispiel für diese ‹Mixed-Zone› der verschiedenen Adressaten ist der Rechtsstreit des Chirurgen Doyen und dem Kameramann Parnaland, der 1898 Operationen des Arztes aufgenommen hatte. Als Parnaland Teile der Aufnahmen an die ‹Societe des Phonographes et Cinematho- graphes› verkaufte, die sie wiederum zirkulieren ließen und auf Plakaten Operati- onsfilme zur öffentlichen Schau ankündigten, wurde aus dem ursprünglichen For- schungsdokument ein Rechtsfall.25 Auch auf Jahrmärkten, in Varietés und Speziali- tätentheatern und nicht selten zum Missfallen zahlreicher Wissenschaftler, wurden derartige Filme gezeigt. Diese Darbietungen waren so erfolgreich, dass die Kinos dieses Erfolgsrezept später kopierten.26 Schon sogenannte ‹X-Ray-Shows›, wie z.B. im Reichshallen-Theater in Berlin (situiert neben anderen neuen Formen der Vi- sualisierung, wie sie z.B. in Castans Panoptikum und dem Passage-Panoptikum zu sehen waren), zeigten ‹durchleuchtende Bilder›, die auf ein großes Interesse in der Öffentlichkeit stießen. Bereits um die Jahrhundertwende schien es, als wenn kein Varieté ohne diese Nummern auskäme.27 Gedreht wurden diese frühen Filme zu- meist mit einer einzigen Kameraeinstellung. Die Kamera war unbeweglich. Damit wurde der räumliche Aspekt bewahrt, das pro-filmische Geschehen. Zudem war die Kamera oft so weit entfernt positioniert, dass der ganze Körper abgebildet werden konnte – was das Verhältnis des Zuschauers und der Leinwand grundsätzlich und vorläufig strukturierte.28 Der zumeist bewusst eingesetzte Blick der darstellenden Akteure in die Kamera, um Kontakt mit dem Betrachter aufzunehmen, wurde spä- ter allerdings als ‹Spielverderber› der filmischen Illusion verbannt.29 25 Corrina Müller: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklun- gen. Stuttgart/Weimar 1994, S. 347f. Der Kameramann wurde verurteilt und musste eine Strafe zah- len. Der Film wurde konfisziert. Siehe auch: Monika Dommann: Der Apparat und das Individuum: die Verrechtlichung technischer Bilder (1860–1920). In: Martina Heßler (Hg.): Konstruierte Sicht- barkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit. München 2006. S. 347–368. 26 Müller, S. 11. 27 Ebd., S. 20. 28 Roberta Pearson: Das frühe Kino. In: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.): Geschichte des internationalen Films. Stuttgart 1998. S. 13–24, S. 17ff. Siehe auch: Tom Gunning: The Cinema of Attractions. Early Film, its Spectator and the Avant-Garde. In: Thomas Elsaesser (Hg.): Early Cinema. Space, Frame, Narrative. London 1990. S. 56–63, S. 57ff. 29 Gunning, S. 57. (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert 30 II. Filme zur Vermittlung von Wissen in der Öffentlichkeit Das wachsende öffentliche Interesse am Medium Film fand mit der Gründung der Universal Film Aktiengesellschaft (UFA) 1917 in Berlin seine institutionelle Veran- kerung. Als eine Aktiengesellschaft, die von der deutschen Regierung kofinanziert war, etablierte die UFA am 1. Juli 1918 eine Kulturfilm-Abteilung, zu der auch eine medizinische Sektion gehörte. Hier wurden in der Folge Hunderte von Filmen ge- dreht: Ausbildungsfilme für die medizinische Lehre wie auch instruierende Filme für die allgemeine Öffentlichkeit. Letztere liefen zunächst als Begleitprogramm in den Kinos. Ziel der alsbald marktführenden UFA-Aufklärungsfilme war es insbe- sondere, Kampagnen gegen Krankheiten wie Tuberkulose, Pocken oder Syphilis zu unterstützen, indem das Wissen über die Krankheit vermittelt wird. Zentrale Akteure dieser Abteilung waren die ehemaligen Mediziner Alexander von Rothe, Curt Thomalla und Nicholas Kaufmann, die den Wert der Filme für die Gesund- heitsaufklärung bereits früh erkannt hatten.30 Man erhoffte sich von Filmen, wie Harry E. Kleinschmidt von der American National Tuberculosis Associations es formulierte, eine Art «mental inoculation» mit dem Ziel der «will-control [...] through education.»31 Rasch entstanden Filme mit didaktischem Gestus wie Ge- schlechtskrankheiten und ihre Folgen (1919, Regie: Curt Thomalla/Nicholas Kaufmann), Die Pocken, ihre Gefahren und ihre Bekämpfung (1920, Regie: Curt Thomalla), Die weisse Seuche (1921, Regie: Curt Thomalla). Doch die Realität holte die anfänglichen optimistischen Visionen schnell ein. Denn so instruktiv, informativ und wissenschaftlich wie diese Produktionen in- szeniert waren, die formale Gestaltung dieser medizinischen Filme wurde in den frühen 1920er Jahren herausgefordert, als das Publikum sich zunehmend für fikti- onale Filme interessierte. Dramen wie Anders als die Anderen (1919, Regie: Richard Oswald), Kreuz- zug des Weibes (1926, Regie: Martin Berger), Geschlecht in Fesseln (1928, Regie: Wilhelm Dieterle) etc. diskutierten Themen wie Sexualität und Abtreibung in unkonventioneller Weise und setzen damit neue Standards. Fragen der öffentli- chen Hygiene und des adäquaten Verhaltens wurden mit dramatischen Geschichten verbunden. In diesem Zusammenhang ist vor allem auf die Filmproduktionen des international renommierten Regisseurs Richard Oswald zu verweisen, der fiktio- nale Filme schuf, die das Dramatisierungspotenzial medizinischer Themen insbe- sondere im Bereich der Sexualaufklärung aufgriffen und bis zum gesellschaftlichen Skandal hin ausloteten. Dies faszinierte das Publikum enorm – und führte zunächst zu einer Besucherkrise bei den herkömmlichen medizinisch-dokumentarischen 30 Für eine ausführliche Darstellung zur Entwicklung des Mediums siehe Christian Bonah, Anja Lau- kötter: Moving Pictures and Medicine in the First Half of the 20th Century. Some Notes on Interna- tional Historical Developments and the Potential of Medical Film Research. In: Gesnerus 66 (2009). S. 121–145. 31 Harry E. Kleinschmidt: Educational prophylaxis to venereal disease. In: Social Hygiene 5 (1919). S. 27–40, hier S. 27. 31 (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert Aufklärungsfilmen.32 Daraufhin versuchte man durch Veränderung von Narration, Bildästhetik und Dramaturgie sowie durch den Einsatz von Musik sowohl Wissen über den Körper zu vermitteln als auch die Zuschauer auf vielfältige Art emotional anzusprechen. Falsche Scham (1925) ist als einer der ersten Filme zu bezeich- nen, die Gesundheitsaufklärung mit fiktionalen und dramatisierenden Elementen verbanden: Die Erzählung verschiedener (inszenierter/gespielter) Krankheitsfälle einschließlich einer darin verwobenen Liebesgeschichte wechselte sich mit Erklä- rungen über Herkunft und Gefahren der Syphilis-Erkrankung ab. Um die Wis- senschaftlichkeit des Gezeigten zu unterstreichen, wurden in die Filme technisch höchst aufwändige Verfahren wie mikroskopischen Aufnahmen, Animationstech- niken, Trickverfahren, schematischen Darstellungen, Fotografien und Moulagen zur visuellen Repräsentation der Krankheit eingebaut. Sie fungierten als Repräsen- tanten wissenschaftlichen Denkens. Auch die Begleitung durch einen ‹wissenschaft- lichen› Vortrag vorab des Films, der inhaltlich das Verständnis für die Krankheit fördern sollte, unterstrich diese Logik und gab ihr einen expliziten Rahmen: Durch die Verbindung des Films mit dem gesprochen Wort wurde sein intellektueller Ur- sprung in der medizinischen Wissenschaft fundamentiert. Zugleich wird hier aber auch ein Grundproblem deutlich: Dem Visuellen alleine wurde keine eigenständige wissenschaftliche Überzeugungs- und Beweiskraft zugewiesen. Welche Techniken dieser emotionalen Wissensvermittlung angewandt wurden und in welcher Weise sie das ‹medizinische› Sehen beeinflussten, soll nun am Bei- spiel der Verwendung von Moulagen in dem Film Feind im Blut (1931) von Walter Ruttmann skizziert werden. Ein Film, der mit seiner Mischung aus Ton- und Stummfilm-Sequenzen selbst eine weitere wichtige Zäsur der Filmgeschichte markiert: die Einführung des Ton- films 1929/1930.33 III. Walter Ruttmanns Feind im Blut und seine Konzeption des medizinischen Sehens Seinen Durchbruch als Regisseur hatte der ausgebildete Maler und Architekt Walter Ruttmann (1887–1941) mit dem Film Berlin: Symphonie einer Grossstadt (1927), der wegen seiner Montagetechniken neue Wege in der Filmästhetik eröffne- te. Von diesem Film ausgehend sind seine weiteren Arbeiten wie Feind im Blut be- urteilt worden. Sicherlich, in beiden Filmen lassen sich vergleichbare Themen wie 32 Siehe Jürgen Kasten: Dramatische Instinkte und das Spektakel der Aufklärung. Richard Oswalds Filme der 20er Jahre. In: ders., Armin Loacker (Hg.): Richard Oswald. Kino zwischen Spektakel, Auf- klärung und Unterhaltung. Wien 2005. S. 15–140; Ursula von Keitz: Lebenskrisen en gros. Richard Oswalds Filme der 20er Jahre. In: Jürgen Kasten, Armin Loacker (Hg.): Richard Oswald. Kino zwi- schen Spektakel, Aufklärung und Unterhaltung. Wien 2005. S. 141–245. 33 Zur Einführung des Tonfilms siehe u.a. Wolfgang Mühl-Benninghaus: Die deutsche Tonfilment- wicklung im Kontext medialer Verflechtungen. In: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001). S. 205–230; Corinna Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm. München 2003. (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert 32 das Verhältnis von Mensch und Stadt, das Verhältnis von Mensch und Maschine, aber auch von bestimmten Filmtechniken wie der Kamera als Akteur identifizie- ren.34 Auch erinnern beide Filme an eine ungewöhnliche Verbindung in dokumen- tarischen Filmen: zwischen ‹Kulturfilm› einerseits und ‹Kunstfilm› andererseits.35 Diese Nähe kann als ein Versuch gewertet werden, sich scheinbar widersprechende Ebenen zu kombinieren und damit eine nach Klaus Kreimeier moderne Soziologie zu schaffen: privat/öffentlich; Wissenschaft/Mensch; Maschine/Fiktion, Abstrakti- on/Heilung, Stumm- und Tonfilm.36 Im Folgenden soll es allerdings weniger um einen Vergleich beider Filme, sondern vielmehr um die Konzeptionen des (medi- zinischen) Sehens in dem Syphilis-Film Feind im Blut gehen. Der am 17. April 1931 im Berliner Kino Artrium uraufgeführte Film Feind im Blut war mit Unter- stützung der Züricher Sektion der Schweizerischen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten gedreht worden.37 Der Film kombiniert eine Spiel- handlung mit dokumentarischen Sequenzen. Dabei werden die Übertragungswege der Infektion in ersterer erläutert, das Wissen über das Aussehen der Krankheit in letzteren vermittelt. Insgesamt werden zwei Geschichten erzählt: die eines Medizin- studenten, der an der Treue seiner Freundin zweifelt und sich vor der Ansteckung an einer Geschlechtskrankheit fürchtet sowie die eines Fabrikarbeiters, der seine Frau und das Neugeborene unwissentlich ansteckt und dadurch seine Frau durch Selbstmord verliert. Im Folgenden wird es vornehmlich um die Verwendung von Moulagen in die- sem Film gehen, spiegelt sich darin doch die hybride Form des Films insgesamt. Das hier vorgetragene Argument folgt dabei der Idee von Sybille Krämer, die vorschlägt, Medien als «produktive Apparatur» zu verstehen, die «spezifische Konfigurationen von Welt und damit einen eigenen Sinnhorizont überhaupt erst erzeugen»38. Doch was sind Moulagen und welche Rolle spielen sie in diesen Filmen? Mou- lagen sind handgefertigte Repräsentationen von Körperteilen aus Wachs. Sie sind 34 Karl Prümm: Symphonie contra Rhythmus. Widersprüche und Ambivalenzen in Walter Ruttmanns Berlin-Film. In: Klaus Kreimeier, Antje Ehmann, Jeanpaul Goergen (Hg.): Geschichte des dokumen- tarischen Films in Deutschland, Bd. 2: Weimarer Republik 1918-1933. Stuttgart 2005. S. 411–434, hier S. 422. 35 Antje Ehmann. Rede, Gerede und Gegenrede. Film und Kultur im Diskurs der Weimarer Jahre. In: Klaus Kreimeier, dies., Jeanpaul Goergen (Hg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutsch- land, Bd. 2: Weimarer Republik 1918-1933. Stuttgart 2005. S. 249–283, hier S. 253. 36 Klaus Kreimeier: Komplex-starr. Semiologie des Kulturfilms. In: ders., Antje Ehmann, Jeanpaul Go- ergen (Hg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Bd. 2: Weimarer Republik 1918- 1933. Stuttgart 2005. S. 249–283, hier S. 95. 37 Jeannette Egli: Feind im Blut. Zur Produktions- und Distributionsgeschichte eines medizinischen Aufklärungsfilms. In: Vinzenz Hediger u.a (Hg.): Home Stories. Neue Studien zu Film und Kino in der Schweiz. Marburg 2001. S. 115–127, zit. S. 115. Siehe dazu auch: Anita Gertiser: Ekel. Beobachtungen zu einer Strategie im Aufklärungsfilm zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. In: Alain Boil- lat, Philipp Brunner, Barbara Flückiger (Hg.): Kino CH/Cinéma CH. Rezeption, Ästhetik, Geschichte, Marburg 2008. S. 279–294. 38 Zitiert nach: Dirk Verdiccio: Vom Äußeren ins Innere (und wieder zurück). Der Körper im populä- ren Wissenschaftsfilm. In: Historische Anthropologie 16/1 (2008). S. 55–73, S. 63. 33 (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert dreidimensional und in ihrer Präsentation weder an Zeit noch an Raum gebun- den. Auch in Feind im Blut werden diese Anschauungsobjekte vom Dozenten im Vorlesungssaal (vermutlich in der Dermatologischen Poliklinik in Berlin)39 als eine «exakte plastische Reproduktion der Natur» bezeichnet. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden Moulagen-Sammlungen in Hautkliniken verwendet.40 Hier waren sie zunächst nur für Wissenschaftler zur Forschung oder für Studenten zum Studium, aber nicht für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich.41 Erst um die Jahrhundertwende wurden Moulagen in Panoptiken und in Ausstellungen wie «Die Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung» in 1903 oder der «1.Internationale Hygi- ene-Ausstellung» 1911 in Dresden (sehr erfolgreich) einer breiteren Öffentlichkeit gezeigt.42 Die Modelle wurden vor allem zur Aufklärung über die weitverbreitete Geschlechtskrankheit der Syphilis eingesetzt, denn hieran ließen sich verschiedene Symptome der Krankheiten darstellen. Darüber hinaus konnte auf diese Weise ein restriktiver Bereich, nämlich die Anschauung degenerierter Genitalien, gezeigt wer- den.43 Dabei war intendiert, durch die Visualisierung von Früh- bis Endstadien die Menschen zu schockieren.44 Auch in Filmen fanden Moulagen als ein didaktisches Medium der Aufklärung häufig Verwendung, wie in Hygiene der Ehe (1922, Regie: Wolf Junger), Ge- schlechtskrankheiten und ihre Folgen (1919, Regie: Curt Thomalla/Nicholas Kaufmann), insbesondere aber in Falsche Scham. In diesem Film wird der ab- schreckende Effekt beim Anblick der Moulagen in den Gesichtern zweier Studenten filmisch festgehalten. Vor allem wird in dieser Szene der Lernprozess, der angeregt durch dieses Medium erfolgt, eindringlich gezeigt: die Zuhörerschaft eines Vortrags schaut auf eine Moulage. Dieser Anblick erweiterte ihr Wissen und ihre Perspektive insoweit, dass sie nun in der Lage sind, ihren eigenen Körper nach Symptomen der Krankheit zu untersuchen. Auch Walter Ruttmann verwendete Moulagen wie auch andere Medien zur Darstellung der Krankheit und ihres Verlauf, die charakteristisch für sogenannte 39 Egli, S. 118. 40 Welchen Umfang eine solche Sammlung haben konnte, manifestiert sich in der mystifizierten For- mulierung Rudolf Virchows: «Jeden Tag ein Präparat!» 41 Susanne Hahn: Moulagen in der Gesundheitsaufklärung. In: dies., Dimitrios Ambatielos (Hg.): Wachs – Moulagen und Modelle. Dresden 1994. S. 39–46, hier S. 39. 42 Auch nationaler und internationaler Ebene war das Hygiene-Museum in Dresden der Marktführer in der Produktion dieser Modelle aus Wachs. Sie produzierten umfangreiches Unterrichtsmateri- al, das zunächst europaweit, später weltweit verbreitet wurde. Im und nach dem Ersten Weltkrieg erhielten die Moulagen eine besondere Bedeutung, weil durch sie Schußwunden sehr anschaulich repräsentiert werden konnten. Siehe auch: Hahn, S. 43. 43 Lutz Sauerteig: Lust und Abschreckung: Moulagen in der Geschlechtskrankheiten-Aufklärung. In: Susanne Hahn, Dimitrios Ambatielos (Hg.): Wachs – Moulagen und Modelle. Dresden 1994. S. 47– 68, S. 57f. 44 Geschichten über Jack the Ripper, der Menschen tötete, weil er syphilitische Wachsmodelle gesehen hatte, waren weit verbreitet. Auch die Auswirkungen von zu intensiven Schock-Erlebnissen, die sich zu einer Syphilis-Phobie entwickeln konnten, wurden unter den Zeitgenossen diskutiert. Siehe: Sau- erteig, S. 47f. (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert 34 Aufklärungsfilme der Zeit waren. Ein Grund hierfür war sicherlich die Notwendig- keit, den Film als solchen zu titulieren, bedeutete dies doch eine nicht unerhebliche Steuerermäßigung. Laut der einflussreichen Zeitschrift ‹Film-Kurier› war genau dieses Ziel erreicht: Mit den üblichen ‹Aufklärungsfilmen›, die eine schamlose Spekulation auf die Lüs- ternheit sind, hat er nichts gemein, und von den bisherigen ernsten Aufklärungs- filmen (ohne Gänsefüßchen) unterscheidet er sich durch ungleich bessere Technik, durch Ausnützung sprechfilmischer Möglichkeiten und somit Textlosigkeit, vor al- lem aber durch die glückliche Verbindung von Lebensnähe und regiemäßiger Ge- formtheit.45 Und: «Er [der Film] gibt nicht Wissenschaft, sondern Leben, er enthüllt nicht Theo- rie, sondern Dasein, er demonstriert Menschen und nicht Paradigmen.»46 Auch die Tageszeitung ‹Dresdner Neueste Nachrichten› vom 9.5.1931 lobte die Aufklärungs- arbeit des Films und verwies zugleich auf die Produktivität von konkurrierenden Medien: Wenn man in diesen Tagen in Dresden wieder erneut Gelegenheit hatte, Ausstel- lungen als eine äußerst glückliche Methode erfolgreicher hygienischer Volksbeleh- rung zu rühmen, so hat man heute Anlass, auch den Film als vorzüglichen Faktor in dieser Arbeit zu werten. Hauptsächlich, wenn es sich um einen so guten Film han- delt wie Feind im Blut, neue Schöpfung der ‹Präsens-Produktion›, ein Meisterwerk von Walter Ruttmanns Regie. Wie sehr die Internationale Hygiene-Ausstellung die ideale Konkurrenz des Films, vornehmlich dieses Films, in der hygienischen Volks- belehrung anerkennt, ist bereits daraus ersichtlich, daß das Ufa-Theater den Film ankündigte in Gemeinschaft mit der Hygiene-Ausstellung 1931, mit dem Deutschen Hygiene-Museum und mit der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Ge- schlechtskrankheiten (Ortsgruppe Dresden).47 Während in zahlreichen anderen vergleichbaren Filmen, massiv und repetitiv mit stark deformierten erkrankten Körperteilen in Realaufnahmen gearbeitet wird, um für präventive Praktiken zu werben, sind in Feind im Blut zunächst kaum erkrank- te Körperteile zu sehen. Die Rolle der Sichtbarmachung der Krankheit überneh- men vielmehr die Moulagen. Hier ließe sich argumentieren, dass diese Substitution als eine Form der Ent-Körperlichung dient, da sie den Körper von der Krankheit trennt. In diesem Sinne erhält die Krankheit durch den Transfer auf ein Wachsmo- dell eine andere Materialität. In diesem Prozess sind der individuelle Körper und das individuelle Aussehen einer Krankheit zugunsten eines generalisierten, ‹objek- tiven› Erscheinungsbilds ausgelassen. Mit anderen Worten: die auf Moulagen ver- mittelte Krankheit erscheint objektiver als ihr Referenzpunkt – der Körper. Damit 45 Anonym: Film-Kurier vom 18. April 1931. 46 Ebd.. 47 Auch auf der II. Internationalen Hygiene-Ausstellung wurde der Film als «Aufklärungsfilm» lobend erwähnt. Siehe dazu: Petra Ellenbrand: Die Volksbewegung und Volksaufklärung gegen Geschlechts- krankheiten im Kaiserreich und Weimarer Republik. Weimar 1999, S. 194. 35 (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert obliegt es den Moulagen, die Krankheit zu konzeptionalisieren. Dieses Argument wird durch die Tatsache bestärkt, dass die Moulagen erstmals in einem Vorlesungs- saal präsentiert werden. Die Herkunft und die Verwendung der Moulagen ist daher die Wissenschaft. Neben anderen Effekten und Elementen unterstützen demnach auch die Wachsmodelle die wissenschaftliche Rahmung des Films. Ihr didaktisches Potential wird im Film deutlich nachgezeichnet, indem die Studenten die Modelle unter sich weitergeben und betrachten. Zwar schaut jeder von ihnen individuell und aus jeweils verschiedenen Perspektiven auf das Modell. Dennoch betrachten alle ein spezifisches Stadium der Krankheit. Neben der Betrachtung (und einer da- mit inhärenten Formierung des Blickes) werden noch weitere Sinne angesprochen: Wachsmodelle lassen sich von den Studenten (wie auch von den Filmzuschauern, die durch die Kameraeinstellungen mit dem Auditorium verschmelzen) berühren. Dabei handelt es sich um einen körperlichen Kontakt mit der Krankheit, der eine Nähe, jedoch ohne Ansteckungsgefahr schafft. Während am Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts Moulagen be- nutzt wurden, um den Betrachter abzuschrecken, lassen sich in Feind im Blut keine stark deformierten Abbildungen auf Wachsmodellen finden. Hier ließe sich einerseits argumentieren, dass bereits in den 1920er Jahren erkannt wurde, dass die Strategie der Erzeugung von Angst wenig Erfolg in der Aufklärungsarbeit zu haben schien. Ein anderer Grund für die Nichtverwendung von abschreckenden Moula- gen ist dabei viel konkreter. Nach Filmsichtung der Zensurbehörde wurde am 28. April 1931 lediglich eine Szene im Film verboten: Die in der Fassung vom 16. April 1931 unter Prüf-Nr. 28713 verbotenen Teile: Im 1. Akt vor den Hilferufen (Anfang) die stehende Gesichtsmaske (Moulage) mit zerstör- tem Stirnbein. Länge: 0,80m, waren in diesem Film nicht mehr enthalten und dürfen auch nicht gezeigt werden.48 Zwei Aspekte sind hier besonders hervorzuheben. Dabei richtet sich ein Aspekt auf die Tatsache, dass in diesem Film nur eine Szene in Frage gestellt und verboten wurde: die Moulage mit einem «zerstörte[n] Stirnbein». Es sind also nicht die Sze- nen, in denen Prostitution und ein Selbstmord (der infizierten Frau und Mutter) gezeigt werden – durchaus gängige Themen von verbotenen Szenen, sondern eine abschreckende Moulage wurden von den Zensoren beanstandet. Diese Entschei- dung könnte durch die Nähe dieses Abbildes zum Original, das visionierte ‹reale› Gesicht, begründet sein. Das Verbot dieser Abbildung ist damit ein Gegenargument zum Effekt der Ent-Körperlichung der Krankheit durch Moulagen. In diesem Sinne wird das Abbild der Krankheit realer als der Körper selber. Der zweite Aspekt be- zieht sich auf die Positionierung dieser Bilder im Film selbst. Wie das Zitat der Zen- surkarte deutlich macht, sollte die degenerierte Darstellung der Syphiliserkrankung mittels einer Moulage vor dem ‹Hilfe-Ruf› zu Beginn des Films gezeigt werden. Mit anderen Worten: Es war Walter Ruttmanns Intention, seinen Film mit einem expli- 48 Anonym: Bundesarchiv Filmarchiv, Zensurkarte, Prüfnummer 28889 vom 28. April 1931. (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert 36 zit medizinisch-wissenschaftlichen Verweis und einem expliziten emotionalen Ef- fekt zu eröffnen: mit einer Moulage, die ein deformiertes Körperteil repräsentieren sollte. Ein solcher Auftakt verändert die Narration des Film erheblich und schreibt zugleich den Moulagen eine neue Funktion zu: sie besitzen nicht nur eine spezifi- sche Materialität, um die Krankheit zu visualisieren, sondern sie sind ein bewußt eingesetztes Instrument, um die Zuschauer emotional zu beeinflussen. Um den hybriden Charakter der Moulagen deutlich zu machen, wird abschlie- ßend auf zwei weitere Verwendungsweisen hingewiesen. So wird in einer der ers- ten Szenen des Films eine Gesichtsmoulage mit erkrankten Lippen in einem Vor- lesungssaal gezeigt. In Überblendungen verschmelzen diese erkrankten Lippen mit denen einer Prostituierten aus dem fiktionalen Teil des Films, die Lippenstift aufträgt. Hier verbindet also die Moulage den kranken mit dem (noch) gesunden Körper und verweist zugleich auf dessen Gefährdung. Darüber hinaus verknüpft dieses Wachsmodel den wissenschaftlichen und den privaten Raum, die dokumen- tarischen mit den fiktionalen Elementen, die rationale und die emotionale Welt. Diese Verbindung von unterschiedlichen Sphären beschränkt sich dabei nicht auf diese Szenen, sondern strukturiert den Film insgesamt. Eine weitere Beobachtung bezieht sich auf das Erscheinungsbild der verwendeten Moulagen. Die hier gezeig- ten handgefertigten Modelle sind von hoher Qualität, d.h. sie visualisieren nicht nur eine Krankheit, sondern sind zugleich ästhetische Objekte. In diesem Sinne symbolisieren die Moulagen nicht nur medizinische Instruktionen, sondern sind zugleich Repräsentanten eines künstlerischen Anspruchs – eines Dialogs zwischen Medizin und Kunst, der für den Film charakteristisch ist. Selbstverständlich kann der Film Feind im Blut nicht auf Wachsmodelle al- lein reduziert werden. Dennoch, so sollte hier deutlich geworden sein, unterliegt ihre Verwendung einer Intention, die auf bestimmte Effekte zielt. In Rückgriff auf Sybille Krämer, nach der über die Materialität der Medien ein eigener Sinnhori- zont geschaffen wird, kreieren die eingesetzten Moulagen eine spezifische Wahr- nehmung der Krankheit. Zugleich wird durch sie eine Spannung erzielt: zwischen Begierde und Abschreckung, Sensation und Erziehung, Panoptikum und Wissen- schaft, Kunst und Objektivität. Mit der Etablierung von filmischen Aufnahmen in der Klinik und als Medium der Aufklärung in Gesundheitsfragen konstituierte sich im wissenschaftlichen und öffentlichen Raum ein neuer Akteur, durch den medizi- nische Praktiken und Krankheiten, medizinische Objekte und ihre Räume, medizi- nisches Personal und Patienten auf eine neue Weise sichtbar gemacht werden. In welcher Weise dieses Medium den Blick bzw. die Anschauung formte, wurde exemplarisch mit einer Analyse der Verwendung von Moulagen in Feind im Blut versucht zu zeigen. Das Changieren der Moulagen zwischen Objekt zur Erzeugung von Evidenz und von Emotionen verweist dabei auf eine Charakteristik, die zu- gleich den Aufklärungsfilmen insgesamt eigen ist. Inwieweit Filme dieser Art Blickstrukturen geprägt haben, die bis in die Ge- genwart fortwirken, lässt sich sicherlich am deutlichsten im Einsatz von Röntgen- 37 (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert aufnahmen (bzw. ikonographisch daran anlehnende Computeranimationen) in zeitgenössischen Werbefilmen, wie beispielsweise in der Autoindustrie, nachweisen – die historische visuelle Referenz ist dabei im beginnenden 20. Jahrhundert in der Röntgenkinematographie zu suchen. Literatur Anonym: Film-Kurier vom 18. April 1931. Anonym: Bundesarchiv Filmarchiv, Zensurkarte, Prüfnummer 28889 vom 28. April 1931. Anonym: Roentgen Cinematography. In: The British Medical Journal, 19 (1910). S. 1645. Andreas Becker: Perspektiven einer anderen Natur. Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeit- raffung und Zeitdehnung. Bielefeld 2004. Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007. Christian Bonah, Anja Laukötter: Moving Pictures and Medicine in the First Half of the 20th Cen- tury. Some Notes on International Historical Developments and the Potential of Medical Film Research. In: Gesnerus 66 (2009). S. 121–145. 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Einwärts: «Grau hat kein Bild, ist ein scheues Veilchen…»1 Im ‹Überschwang des Visuellen› finden Graustufen zu einer ganz eigenen ästheti- schen Anmutung. Neben mehrdimensionalen, modellierten, simulierten, animier- ten und farbenprächtigen Visualisierungen in Wissenschaft und Populärkultur sind Graustufen jedoch Grauzonen, Randgebiete der Reflexion.2 Farbgebung wird als essentiell für Wissensproduktion und -distribution3 wie auch für populäre Medien4 erachtet, und so ist es Buntheit, die auf Interesse stößt, auf solch visuell-langweilige und scheinbar ‹neutrale› Erscheinungen wie Graustufen und deren epistemologi- schen Stellenwert wird wenig Wert gelegt.5 Wider bunte Bilder sticht Grau in trüber Monochromatik weniger ins Auge und bezeichnet alltagssprachlich-metaphorisch kaum Positives. Grau ist neutral, weder mit einem bestimmten Farbton noch durch eine bestimmte Sättigung ausgezeichnet – unbunt eben.6 «Grau hat kein Bild, ist ein scheues Veilchen, schüchtern und unschlüssig, beinahe unbemerkt in den Schatten 1 Derek Jarman: Chroma. Ein Buch der Farben. Berlin 1995, S. 69. 2 Jarman beobachtet hingegen, dass sehr wenige KunstkritikerInnen die Farbigkeit der Malerei er- örtern würden. «Lyrisch werden Kritiker dagegen bei Mantegnas Grisailles, mit großer Autorität berichten sie uns, dass diese Gemälde grau sind. The Introduction of the Cult of Cybele to Rome in der National Gallery, 1506 für Francesco Cornaro gemalt, verschafft ihnen achromatische Orgasmen.», S. 70. Zur Anmutung von Parmiggianis Delocazione als immense «Grau-in-Grau Malerei» und der ‹heimlichen Verwandtschaft› dieses Graus mit dem Giacomettis, vgl. Georges Didi-Huberman: Die Farbe des Nicht-Ortes. In: Elisabeth von Samsonow, Eric Alliez (Hg.): Chroma Drama. Widerstand der Farbe. Wien 2001. S. 123–140. 3 Zu Funktionen der Farbe als Mittel der Sinn- und Evidenzproduktion vgl. etwa Horst Bredekamp, Vera Dünkel, Matthias Bruhn, Gabriele Werner (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahr- buch für Bildkritik. Band 4.1 Farbstrategien. Berlin 2006; Dominik Groß, Tobias Duncker (Hg.): Farbe, Erkenntnis, Wissenschaft. Zur epistemischen Bedeutung der Farbe in der Medizin. Münster u.a. 2006; Martina Heßler: BilderWissen. Bild- und wissenschaftstheoretische Überlegungen. In: Ralf Adelmann, Jan Frercks, Martina Heßler, Jochen Hennig: Datenbilder. Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften. Bielefeld 2009. S. 133–161. 4 Vgl. beispielhaft zur ‹Farbenlehre der Filmkunst› Susanne Marschall: Farbe im Kino. Marburg 2005. 5 Als Ausnahme ist die für das Frühjahr 2011 angekündigte Ausgabe Graustufen der Zeitschrift Bild- welten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Band 8.2. (Berlin 2011) zu nennen. 6 Vgl. zur Unterscheidung von Buntheit und Unbuntheit grundlegend Wilhelm Ostwald: Einführung in die Farbenlehre. 2. Aufl. Leipzig 1919, S. 42 sowie Manfred Richter: Einführung in die Farbmetrik. 2. Aufl. Berlin, New York 1981, S. 7–14. ‹Graue Suppe›? 40 gefangen. Man kann sich von ihm zu Schwarz oder Weiß bewegen. Neutral, schreit es seine Anwesenheit nicht heraus.»7 Doch Graustufen, das changierende Zwischen von reinem Schwarz und reinem Weiß8, sind mit sehr spezifischen epistemischen, ästhetischen, operativen und narrativen Funktionen besetzt. Sinn und Bestimmt- heit erfahren sie aus den Kontexten ihrer An- und Umwendung, aus der Fähigkeit des Rezipienten Grau zu sehen und zu verstehen. Geht es in diesem Band um Blickwechsel, um ein Dazwischen in vielfältiger Weise, so bildet auch das Graue einen ‹Zwischenton›. In Abstufungen von Schwarz und Weiß ist es nicht ein eigenes, sondern immer mal mehr zu dem einen oder zu dem anderen gehörig. Für sich selbst ist Grau nichts, immer nur eine Zwischen- stufe. Davon zeugt schon die häufige Weigerung, nicht an der Rede von Schwarz- Weiß-Bildern festzuhalten und Graustufen als solche zu benennen. Dieser Beitrag begibt sich in dieses Dazwischen, um Graustufen als Metakategorie der theoreti- schen Reflexion zu betrachten und deren Ästhetik, Epistemik und ‹Popularität› in wissenschaftlichen Bildpraxen am Beispiel der diagnostisch-radiologischen Com- putertomographie (CT) darzustellen. Zur Analyse des Bildgebungsprozesses sowie des bildtheoretischen Status von Graustufenvisualisierungen wird im Folgenden zunächst das Konzept des Äquivalentbildes eingeführt. Damit können anschließend die differenzierten Funktionen der Graustufen, ihre ästhetischen Potentiale und epistemisch-diagnostischen ‹Handhabungen› näher beschrieben werden. II. Äquivalentbilder – Prozeduren der Sichtbarkeit Der Begriff Äquivalent- oder auch Äquivalenzbild bezeichnet in der Histologie und Mikroanatomie ein spezifisches präparationstechnisches und bildtheoretisches Phänomen. Dort kommen Histotechniken wie Fixierung, Schnitt und Färbung zum Einsatz, bis letztlich unter dem Mikroskop die ‹gewünschte Sichtbarkeit› der Gewe- beschnitte hergestellt werden kann. Dafür wird das Präparat zunächst physikalisch oder chemisch fixiert, um den Abbau des Gewebes und die nach dem Tod einset- zenden autolytischen Vorgänge zu hemmen. Nach dieser Haltbarmachung können je nach Fragestellung und Präparationstechnik unterschiedlich dicke Schnitte des Gewebes angefertigt werden. Um spezifische Zell- und Gewebebestandteile in den Schnitten mikroskopisch hervorzuheben, werden Färbetechniken angewandt, de- ren sichtbares Ergebnis sich aus den Gewebseigenschaften in Reaktion mit den Ei- genschaften der Farblösungen ergibt.9 Bei diesen Prozessen wird das tatsächliche, naturgetreue Bild stets beeinflusst. Man erhält ein künstliches Abbild, das Äquivalentbild. Ein Äquivalentbild stellt die reproduzierbare und erfah- rungsgemäß mit gesetzmäßiger Gleichheit auftretende, histologische Erscheinung 7 Jarman, S. 69. 8 Zur Grauskala Ostwald, S. 57–63. 9 Vgl. Ulrich Welsch: Sobotta Lehrbuch Histologie. Zytologie, Histologie, mikroskopische Anatomie. 2. Aufl. München 2006, S. 4–9. 41 ‹Graue Suppe›? dar (Nissl). […] Durch die elektronenmikroskopischen Untersuchungen können Relationen zwischen den Ultrastrukturen und ihrer Darstellung im Äquivalentbild hergestellt werden. Dieses Wissen erlaubt ein zuverlässiges Arbeiten in der diagnosti- schen Morphologie. Das Äquivalentbild stellt sich abhängig von der Fixierung dar.10 Das Äquivalentbild zeigt also nicht etwa ‹die Zelle›, sondern Fixierungs- und Fär- belösungen, die sich an bestimmte Gewebeteile angesetzt haben. Sichtbarkeit ent- steht so im (erfahrungsgemäßen) Zusammenspiel von Histotechnik und Objekt als ästhetisch-epistemischer Relation, auch wenn im oben zitierten Fachbuch von einer vermeintlichen Abbildhaftigkeit gesprochen wird. Die flächige Ansicht des Präpa- rats unter dem Mikroskop steht sowohl mit der Räumlichkeit des Ausgangsobjekts wie auch mit dessen materiell-physiologischen Eigenschaften in Beziehung. So kann die im Schnitt wahrnehmbare Gestalt der Zelle durch mentale Reformation und Er- fahrungswissen wieder verräumlicht werden. Daneben fungiert das Äquivalentbild als operativer Indikator, indem sich durch die Zusammenschau der histologischen Prozeduren und der dadurch hervortretenden Gewebestrukturen Rückschlüsse zu materiellen Eigenschaften und physiologischen Vorgängen im ehemals lebendigen Objekt ziehen lassen. Für die Arbeit mit den Äquivalentbildern bedeutet dies, dass man «nie verges- sen [sollte], dass man tote und chemisch veränderte Zellen betrachtet und dass man gedanklich die Ergebnisse vieler verschiedener Methoden zusammenbringen muss, um ein Bild der lebendigen Zelle und ihrer Dynamik zu erhalten.»11 Im Äquivalent- bild müssen demnach sowohl die operativen Maßnahmen, die dieses Bild erzeugt haben, wie auch die theoretischen Vornahmen und Modellierungen zu dieser Art von Sichtbarmachung immer mitgedacht und letztlich inkorporiert werden, um valide Rückschlüsse auch auf die lebendige Zelle treffen zu können. Der Neuropathologe und Psychiater Franz Nissl (1860–1919) bemerkte Jahrzehn- te vor der propagierten geisteskritischen Hinwendung zum Bild12, dass durch histolo- gische Techniken kein ‹Abbild› einer lebendigen Struktur entsteht, sondern dass sich diese Prozeduren selbst ‹ins Bild setzen› und so ein dem grundsätzlich nicht sichtba- ren ‹natürlichen Zustand› gleichwertiges mikroskopisches Bild generiert wird. Nissl ging bei seinen Untersuchungen «von einer bestimmten, sicheren Grund- lage, von dem sogenannten Nervenzellenäquivalentbild aus»13, welches ihm analy- tisch-experimentell erlaubte, das Präparat als solches sowie dessen operative Merk- male zu untersuchen und nicht fortwährend die Morphologie und Physiologie der lebendigen Zelle in den Vordergrund zu rücken. So konstatiert Nissl, dass er sich 10 Gudrun Lang: Histotechnik. Praxislehrbuch für die Biomedizinische Analytik. Wien, New York 2006, S. 42. 11 Welsch, S. 4. 12 Zu einer naturwissenschaftsimmanenten Bildkritik auch der Beitrag von Wibke Larink in diesem Band. 13 Franz Nissl: Die Neuronenlehre und ihre Anhänger. Ein Beitrag zur Lösung des Problems der Beziehun- gen zwischen Nervenzelle, Faser und Grau. Jena 1903, S. 167. ‹Graue Suppe›? 42 nicht «von der Vorstellung leiten [lässt], dass dieses oder jenes Bild eines mikros- kopischen Präparates der präformierten Structur vielleicht entspricht. Da ich be- stimmt weiss, dass wir die präformierte Structur der Nervenzellen nicht kennen, so giebt es […] nur eine einzige richtige Fragestellung […].»14 Dies sei die Frage danach, welchen Substanzen des Äquivalentbildes die Substanzen der Zelle entsprä- chen. Wie sich also die Materialität des Objekts resp. der Zelle in die Sichtbarkeit des Bildes transformiert bzw. eingeschrieben hat. Allein durch diese Verschiebung der visuellen Wahrnehmung und erkenntnisleitenden Fokussierung auf das Äqui- valentbild, ist für Nissl «der feste Boden gewonnen, auf dem eine klare, durchsich- tige Discussion durchgeführt werden kann.»15 Bei der Herstellung des Äquivalent- bildes ist es für Nissl daher besonders wichtig, dass alle Präparationsprozesse strikt eingehalten werden, um die Vergleichbarkeit der Äquivalentbilder sowie deren Aus- sagekraft zu gewährleisten.16 Unter Nervenzellenaequivalent verstehen wir demnach das mikroskopische Struk- turbild der im Gewebe vorhandenen Nervenzellen des in einer bestimmten Weise getöteten Tieres, das bei einer bestimmten mikroskopisch-technischen Behandlung des Nervengewebes unter bestimmten Voraussetzungen erfahrungsgemäß mit einer gesetzmassigen Gleichheit zur Darstellung gebracht werden kann.17 Gleichwertige Erkenntnisse zur Beschaffenheit der lebendigen Zelle am Äquivalent- bild sind nur dann möglich, wenn für alle Bilder die (idealerweise) gleichen expe- rimentellen Voraussetzungen, das gleiche technisch-mediale a priori, bestehen. Erst wenn also das Lebendige und potentiell Unsichtbare zum standardisierten Medien- format verarbeitet wurde, ist die Grundlage zur wissenschaftlichen Beobachtung, Analyse und Kommunikation überhaupt erst gegeben. Zur Anschauung kommen relative Prozesse und Voraussetzungen, Gesetzmäßigkeiten und Erfahrungen, bis letztlich eine Sichtbarkeit zweiter Ordnung entsteht. Die Rede vom Äquivalentbild als Bildkritik operiert so gedacht am Verhältnis von Bild und Technik oder Bild als Technik. In Anerkennung des technischen Pro- zesses als Sichtbarmachung seiner selbst, kann eine solche Bildanalyse bei der Sicht- und Wahrnehmbarkeit der Bildgebung im späteren Bild ansetzen und nicht bei der Frage nach dem Objekt im Bild, da dieses als Referent im Sichtbarmachungsprozess negiert, getötet, aufgelöst, abwesend wird. Was sichtbar gemacht wird, sind konven- 14 Ebd.. 15 Ebd.. 16 Dieser epistemologische Boden ist für Nissl «das Zellenbild des Aequivalentpräparates, welches mit Hülfe meiner Seifenmethylenblaumethode gewonnen wird, vorausgesetzt dass das Thier durch ei- nen Stich in’s Halsmark oder Herz getödtet, die lebensfrischen und in kleine Blöckchen zerlegten Centralorgane sofort in 96-proc. Alkohol verbracht und direct aus dem 96-proc. Alkohol heraus ohne Einbettung in 10 µ dicke Schnitte zerlegt werden.» Nissl, S. 168. 17 Franz Nissl zitiert nach Franz Jahnel: Franz Nissl. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 61/3 (1920). S. 751–759, zit. S. 755. 43 ‹Graue Suppe›? tionalisierte, kanonisierte Verfahren und Technologien der Sichtbarmachung, nicht zu allererst das für das ‹unbewaffnete Auge› Unsichtbare. Diese bild- und medienkritischen Überlegungen unter dem Begriff Äquiva- lentbild scheinen produktiv übertragbar auf die Analyse von Graustufenvisualisie- rungen als epistemisch gleichwertige Entsprechung zu (unsichtbarer) ‹Lebendig- keit› im Bereich der Computertomographie. Hier, wie auch in der Histotechnik, transformieren standardisierte medientechnische Prozesse lebendige Formen und Funktionen in erfahrungsgemäße Ästhetiken, die die relative Rekonstruktion und Diagnostik von sowohl Morphologie wie auch Physiologie zulassen. Weswegen die- se Ästhetik eminent auf der Verwendung von Graustufen beruht und was Radiolo- gInnen an und im Grau finden, wird im folgenden Teil dargestellt. III. Äquivalente Graustufen in der Computertomographie Nach diesen theoretisch-analytischen Überlegungen zum Zusammenwirken von (medien-)technischen Voraussetzungen und ästhetischen Konventionen, kann im Folgenden die spezifische Funktion von Graustufen in der diagnostischen Com- putertomographie nachvollzogen werden. In welchem medientechnischen Prozess werden die Daten aus dem Inneren des Patientenkörpers zum Erscheinen gebracht und was bietet die Darstellung in Graustufenschnittbildern ästhetisch sowie episte- misch, obwohl technologisch ein buntes Arsenal zur Verfügung stünde? Relativ Grau: Mess- als Grauwerte Das Äquivalentbildkonzept bedingt zunächst, den medientechnischen Prozess der Sichtbarmachung als eigenständigen Erkenntnisprozess und als eine eigene Ästhe- tik konstituierend zu betrachten. Bei der Frage nach dem Bild müssen zu allererst die Techniken seiner Entstehung und die dort getroffenen Voraussetzungen befragt werden. Wichtig erscheint dabei, dass die ‹medientechnische Potenz›, d.h. die ver- fügbaren Apparaturen, Verfahren und Technologien, nicht umfassend ausgeschöpft werden muss, sondern sich, einmal experimentell und erfahrungsgemäß bestätigt, in die Bahnen der Fragestellung einpasst.18 Die Computertomographie (CT) ist ein bildgebendes Verfahren, dass vorrangig in der medizinisch-diagnostischen Radiologie eingesetzt wird, um pathologische Veränderungen von Gewebe- oder von Knochenstrukturen zu visualisieren. Bei der Datenerfassung rotiert eine Röntgenröhre um den Patientenkörper, der die fä- cherförmig ausgesandte Strahlung unterschiedlich abschwächt. Die abgeschwächte Röntgenstrahlung wird von einem parallel zur Röhre rotierenden Detektor auf- genommen und in einen digitalen Datensatz gewandelt.19 Die Form bzw. die Ge- 18 Damit wird das Narrativ des stetigen Fortschritts durch technische Innovationen im konkreten An- wendungskontext zunächst retardiert, wenn nicht gebrochen. 19 Vgl. exemplarisch Willi A. Kalender: Computertomographie. Grundlagen, Gerätetechnologie, Bildqua- lität, Anwendungen. 2. Aufl. Erlangen 2006, S. 18–36. ‹Graue Suppe›? 44 stalt einzelner innerer Organe zeigt sich nicht, wie im konventionellen Röntgen, aufgrund des abgeschwächten Röntgenstrahls, der chemisch mit einer Bildfolie re- agiert, sondern aufgrund eines mehrstufigen Verarbeitungsprozess aus Datenerfas- sung, Rekonstruktion, Segmentierung und Visualisierung, der die digitalen Daten letztlich routinemäßig als zweidimensionale Graustufenschnittbilder darstellt. Dabei wird der «errechnete Schwächungskoeffizient [des Röntgenstrahls] im CT- Bild über so genannte CT-Zahlen relativ zur Schwächung von Wasser angegeben.»20 Diese CT-Werte oder CT-Zahlen werden in Hounsfield Units (HU)21 angegeben, wobei davon ausgegangen wird, dass CT-Werte […] sehr einfach und in den meisten Fällen eindeutig zu interpretieren [sind]. […] Die Erklärung, warum die Schwächung und damit der CT-Wert verän- dert ist, ist […] in den meisten Fällen unproblematisch und oft durch die klinisch- radiologische Erfahrung offensichtlich.22 Die Zuordnung der Gewebedichte geschieht in der Computertomographie dem- nach relativ zur Hounsfield Unit, die nicht numerisch, sondern in Graustufen sicht- bar gemacht wird. Verkürzt dargestellt bedeutet dies, dass der Dichte eines Gewebes ein ästhetisches Merkmal, nämlich eine bestimmte Graustufe, aufgrund von me- dientechnischen Operationen zugeordnet wird. Die Lebendigkeit des Patientenkörpers wird über Strahlungsdifferenzen in ein «array of numbers»23 transformiert, aus dem dann wiederum durch hochgradig standardisierte Prozesse eine Visualisierung generiert wird, die sich ‹erfahrungs- gemäß mit gesetzmäßiger Gleichheit› als Relativ zum ‹natürlichen Zustand› wahr- nehmen lässt.24 Ebenso wie in der Histologie die Lebendigkeit des Objekts durch Fixierung und Färbung in ein Schnittpräparat ‹übersetzt› wird, aus dem sich be- stimmte mikroskopische Ansichten erzeugen lassen, wird in der CT Körperlichkeit 20 Kalender, S. 31. 21 Auf der HU-Skala hat Wasser definitionsgemäß den Wert 0 HU, Luft entspricht -1000 HU. Diese Werte sind relativ unabhängig von der Energie der eingesetzten Röntgenstrahlung und stellen so die Fixpunkte der CT-Werteskala dar. Weniger dichte Gewebearten des menschlichen Körpers weisen «wegen ihrer niedrigen Dichte und der dadurch bedingten niedrigen Schwächung negative CT- Werte auf. Die meisten anderen Gewebe liegen im positiven Bereich, wobei dies für Muskel, Binde- gewebe und die meisten Weichteilorgane überwiegend auf die physikalische Dichte zurückzuführen ist.» Kalender, S. 32. 22 Kalender, S. 33. 23 Michael Lynch, Samuel Y. Edgerton: Aesthetics and Digital Image Processing. Representational Craft in Contemporary Astronomy. In: Gordon Fyfe, John Law (Hg.): Picturing Power. Visual Depictions and Social Relations. London 1988. S. 184–220, zit. S. 188. 24 Zu Aspekten eines ‹erfahrungsgemäßen Wahrnehmens› in der radiologischen Klinik vgl. auch Ka- thrin Friedrich: ‹Sehkollektiv›- Sight Styles in Diagnostic Computed Tomography. In: Medicine Stu- dies 2/3 (2010). S. 185–195. Zum analogen Röntgensehen vgl. Monika Dommann: ‹Das Röntgen- Sehen muss im Schweiße der Beobachtung gelernt werden.› Zur Semiotik von Schattenbildern. In: Traverse 3 (1999). S. 114–130 sowie Vera Dünkel: Röntgenblick und Schattenbild. Zur Spezifik der frühen Röntgenbilder und ihren Deutungen um 1900. In: Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel (Hg.): Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder. Ber- lin 2008. S. 136–147. 45 ‹Graue Suppe›? weitestgehend immateriell durch Digitalisierung ‹verdatet› und als tomographisch- interaktive Computerbildansichten dargestellt. Da in der Histologie das Objekt allerdings materiell völlig im Präparat und später im Bild aufgeht, ist es zur Erfassung der ‹ästhetischen Mehrschichtigkeit› digitaler Bilder notwendig, auf die unsichtbare, da algorithmisch codierte Unter- fläche sowie die visuell-zeichenhafte (Bildschirm-)Oberfläche des ‹algorithmischen Zeichens› aufmerksam zu machen. Die sichtbare Oberfläche nimmt als ‹doppeltes Bild› zwischen Algorithmik und Ästhetik die Funktion eines Interfaces, einer «com- putable visibility and […] visible computability»25 ein. Bei dem Zuordnungs- und Visualisierungsprozess in der CT sei es nun vor allem die Eigenschaft der zwei- dimensionalen Graustufendarstellungen, «CT-Werte direkt und unverfälscht zur Darstellung [zu bringen]. […] Damit ist immer eine einfache Orientierung im Vo- lumen und eindeutige Interpretierbarkeit der Bildwerte gegeben.»26 Die technische, ästhetische und epistemische Zuschreibung eines Messwertes an eine bestimmte Grauabstufung wird in der zitierten Darstellung – verkürzt – als der entscheidende Vorteil von zweidimensionalen Rekonstruktionen gesehen, die weniger informati- schen ‹Aufwand› erfordern als mehrdimensionale Modellierungen, welche zudem wenig an die bisherigen Sehkonventionen der RadiologInnen anschließen. Die Visualisierung der Datensätze in farbiger Dreidimensionalität wird im klini- schen Alltag als relativ unökonomisch erachtet, da dies sowohl mehr Zeit wie auch mehr technische und personelle Ressourcen benötigt. Bestimmte anatomische oder pathologische Strukturen in Farbe und als dreidimensionale Modellierung hervor- zuheben, dient dazu «das abgebildete Volumen in nur einem Bild und möglichst realistisch zu präsentieren und die diagnostisch relevanten Details gezielt heraus- zuarbeiten. […] Die Originalinformation aus den CT-Werten geht dabei allerdings verloren.»27 Daher erfolgen «sehr suggestive quasi-anatomische Darstellungen»28 vorrangig für andere medizinische Fachgebiete29, etwa zur OP-Planung in der Chi- rurgie oder zum Einsatz in der Medizindidaktik, wie auch zur Verwendung in Pub- likationen oder zur öffentlichkeitswirksamen Zirkulation.30 25 Frieder Nake: Surface, Interface, Subface. Three Cases of Interaction and One Concept. In: Uwe Se- ifert, Jin Hyun Kim, Anthony Moore (Hg.): Paradoxes of Interactivity. Perspectives for Media Theory, Human-Computer Interaction, and Artistic Investigations. Bielefeld 2008. S. 92–109, zit. S. 105. 26 Kalender, S. 205. 27 Kalender, S. 206. Der Medizinphysiker Jürgen Hennig nennt parametrische Bildgebungsverfah- ren wie funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und Positronenemissionstomographie (PET) als «Kerngebiete der Anwendung von Farbe». Jürgen Hennig: Farbeinsatz in der medizini- schen Visualisierung. In: Horst Bredekamp, Vera Dünkel, Matthias Bruhn, Gabriele Werner (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 4.1 Farbstrategien. Berlin 2006. S. 9–16, zit. S. 14. 28 Hennig, S. 14. 29 Kalender, S. 212. 30 Vgl. Hennig, S. 10. ‹Graue Suppe›? 46 Von Fenstern und Kontrasten CT-Bilder haben ein mögliches Darstellungsspektrum von typischerweise 4096 Graustufenwerten31 – erstaunlich determinierte Ansichten für ein ‹scheues Veil- chen›. Da das menschliche Auge je nach Umgebungsbedingungen nur etwa 40 bis 100 Graustufen gleichzeitig unterscheiden kann, wird die Zuordnung von HU zu Graustufen über eine Mapping Funktion auf einen Darstellungsumfang von 8 Bits (256 Graustufenwerte) heruntergerechnet und in ihrer Varianz ‹gebändigt›.32 This process is referred to as windowing and levelling, and establishes a (linear) trans- formation between Hounsfield units and visual greyscale: by altering the mapping, alternate tissues and phenomena become more prominent through improved visual contrast.33 Das Fenster entspricht dabei dem Bereich der HU-Skala, der in Graustufen darge- stellt wird, wobei über den Level der Mittelpunkt des Fensters festgelegt wird. Alle Werte unterhalb des gewählten Fensters werden als schwarz, alle darüber als weiß dargestellt, sodass das gesamte Grauspektrum im sichtbaren Fenster skaliert ist.34 Je kleiner das Fenster gewählt wird, desto mehr Kontrast wird in den Graustufen wahrnehmbar.35 Durch die Fensterung sind vor allem Bereiche mit sehr geringen Schwächungsun- terschieden wie das Gehirn kontrastrastreicher darstellbar, da dieses sonst ästhetisch zur «grauen Suppe»36 verkommt. Wird das Fenster hier zu groß gewählt, sind die Abstufungen im Grau nicht mehr deutlich genug zu erkennen, sodass die diagnos- 31 Vgl. Kalender, S. 32 f.. 32 Vgl. Denise Aberle et al.: A Primer on Imaging Anatomy and Physiology. In: Alex A.T. Bui, Ricky K. Taira (Hg.): Medical Imaging Informatics. New York 2010. S. 15–91, zit. S. 26. Willi A. Kalender spricht von max. 60-80 Graustufen, die unterschieden werden können (Kalender, S. 33). Hinzu kommt, dass das menschliche Auge «mit seinen 120 Millionen schwarz-weiß empfindlichen Stäb- chen im Vergleich zu 6 Millionen farbempfindlichen Zäpfchen sowohl in Bezug auf Auflösung als auch Kontrastempfindlichkeit für Schwarz-Weiß Bilder geradezu optimiert und prädestiniert» ist (Hennig, S. 9). Weiterhin macht der Kontrastumfang der Graustufen es auch für farbenblinde Men- schen möglich, die Beschränkungen des menschlichen Sehapparats zu überlisten und differenziert Bildinformationen wahrzunehmen. Vgl. Lindsay R. Rubin, Wendy L. Lackey, Frances A. Kennedy, Robert B. Stephenson: Using Color and Grayscale Images to Teach Histology to Color-Deficient Medical Students. In: Anatomical Sciences Education 2 (2009). S. 84–88. 33 Aberle et al., S. 26 (Hervorh. im Org.). 34 Vgl. Kalender, S. 33. 35 Die verbesserten Möglichkeiten zur Kontrastbildung in Graustufen stellen auch Michael Lynch und Samuel Edgerton in ihrer ethnographischen Studie zur Bildgebung in der Astronomie fest: «(…) se- veral astronomers told us that they prefer to analyze images in black-and-white, using a continuous greyscale rather than a colour palette to represent intensities. They noted that greyscale renderings are more easily interpreted. (…) A monochromatic field, according to this reasoning, more read- ily shows the substantive continuities of a nebular object, avoiding any implications of bounded segments along the contours of adjacent colours.» (Lynch, Edgerton, S. 193) Zum Übergang vom Grau- zum Farbsehen in diesem Bereich vgl. auch Tim Otto Roth: ars photoelectronica. Astronomie als Königsdisziplin der Farbe. In: Konrad Scheurmann (Hg.): rot.grün.blau.- Experiment in Farbe & Licht. Illmenau 2008. S. 90–93. 36 Aus einem persönlichen Gespräch mit einem Radiologen während der CT-Befundung. 47 ‹Graue Suppe›? Abb.1: Die HU-Skala tische Fragestellung nicht adäquat bearbeitet werden kann. Die im Zitat angespro- chene quasi-lineare Transformation einer Hounsfield Einheit in einen Grauwert ermöglicht (im Rahmen der technischen Standardisierung) die ästhetische Anpas- sung an ein bestimmtes Erkenntnisinteresse. Dabei fungiert das Oberflächenphä- nomen Grau durch mehr oder weniger kontrastreiche Abstufungen zunächst als Indikator für eine grundsätzliche visuelle Wahrnehmbarkeit. Erst wenn diese ge- geben bzw. angepasst ist, kann der Verweischarakter auf die HU-Werte mitbedacht bzw. mit gesehen werden. Die Fensterung geschieht über die Interaktionen mit der Befundungssoftware, mittels derer RadiologInnen je nach anatomischer Region und Fragestellung die Fensterung der Aufnahme einstellen können. Für bestimmte anatomische Regio- nen bestehen Standard-Fenster (z.B. Lungen-, Weichteil- oder Knochenfenster), die regulär per Shortcut über die Tastatur aufgerufen werden können und keine weiteren Arbeitsschritte erfordern.37 Wie in Abb. 1 illustriert wird, kann derselbe Ausgangsdatensatz in den Standardfenstern durch die veränderte Relation von CT- Wert (HU) zu Graustufe in je anderem Kontrastumfang dargestellt werden. Damit erscheinen beispielsweise knöcherne Strukturen im so genannten Knochenfenster wesentlich differenzierter wahrnehmbar, wohingegen sie im Lungenfenster in ei- ner fast weißlichen Unschärfe verschwinden. Durch Kenntnis der Relationalität des Grauwerts zum Messwert, d.h. der Graustufe zur Gewebebeschaffenheit, können 37 Vgl. Aberle et al., S. 26. ‹Graue Suppe›? 48 BildinterpretInnen die Skalierung so vornehmen, dass mehr oder weniger Details, mehr oder weniger Abstufungen sichtbar werden. Sollten jedoch weitere ästhetische Zweifel am ‹Indiziencharakter› der Graustufe eines Organs im Vergleich zu anderen bestehen, kann man sich per Mausklick den HU-Wert des betreffenden Organ- bzw. Bildbereichs anzeigen lassen und mit der erfahrungsgemäß normalen HU abgleichen. Passagen im Grau Neben der oben ausgeführten Grauabstufung durch Fensterung geschieht die visu- elle Abgrenzung der einzelnen Organsegmente bzw. das ‹Aufspüren› pathologischer Veränderungen durch das haptisch-visuelle ‹Durchfahren› des Datensatzes.38 Bei den meisten Softwarelösungen wird eine so genannte Cine-Funktion angebo- ten, die die Schnittbildserien automatisch wiedergibt, sodass der Effekt einer ki- nematischen Durchfahrt entsteht. Während die Organe aus dem digitalen Grau ‹hervorquellen›, werden die an röntgenologischen Graustufen- und (auch mikros- kopischen) Schnittbildern geschulten Seherfahrungen und Wahrnehmungsweisen der RadiologInnen beständig abgeglichen. Die Darstellung in Graustufen hemmt dabei die ‹Aufdringlichkeit› eines be- stimmten Bereichs, da die Grauschattierungen sich zwar kontrastieren, aber zu- gleich gegenseitig zurückdrängen, sodass sie zu ihrem eigenen Vexierbild werden. Es treten zwar je nach Wahrnehmungsfokussierung und diagnostischem Interesse einzelne Segmente in den Vordergrund, gleichzeitig werden sie aber in der vermeint- lichen Unterschiedslosigkeit der Grauanmutung nivelliert und visuell ‹gebändigt›. Durch medizinische Erfahrung und radiologische Schulung, welches Organ welche visuelle Gestalt mit welchen standardmäßigen Abweichungen aufweist sowie durch die Kenntnis, in welcher Grauigkeit im Vergleich zu benachbarten Strukturen dieses normalerweise auftritt, bieten Graustufen wahrnehmungstheoretisch die Möglich- keit, sowohl Form wie auch Eigenschaften ohne Ausbruch aus einer kohärenten und differenzierten Anmutung darzustellen.39 Graustufenvisualisierungen sind demnach während des Befundungsprozzes potentiell unabgeschossen und passen sich den diagnostischen Sehkonventionen sowie auch den physiologischen Voraussetzungen der RadiologInnen an. Diese ver- trauen gleichsam auf die medientechnische Standardisierung, die den HU verläs- slich bestimmte Grauwerte zuordnet. An der Oberfläche des Computerbildschirms treffen so die medientechnischen Operationen und Standards auf ästhetisch-dia- gnostische Konventionen, die eine zuverlässige Diagnose garantieren sollen. Sicht- 38 Vgl. Kalender, S. 205. 39 Vgl. Hennig, S. 11: «S-W-Bilder werden intuitiv und fast sogar ohne anatomische Kenntnisse in zu- sammengehörige Bereiche segmentiert, auch wenn die Intensität innerhalb dieser Bereiche variiert. In den farbigen Bildern ist hingegen die Farbe so dominant, dass eine solche strukturbasierte Seg- mentierung dar nicht oder nur mit größter Mühe und innerhalb von Flächen einheitlicher Farben möglich wird.» 49 ‹Graue Suppe›? bar wird dieses Zusammentreffen in Graustufen, die jedoch keine statische Ansicht liefern, sondern selbst operativ durch Fensterung resp. Kontrastierung und Durch- fahrten als digitales Erkenntniswerkzeug dienen. Im ‹Sehwerk› der RadiologInnen schaffen Auge und Hand40 diagnostisches und häufig stummes Wissen. Die grauen Schnittbilder machen durch ihre ‹Behandelbarkeit› sicht- und verstehbar, sie sind Erkenntnisobjekt und Werkzeug gleichermaßen. IV. Auswärts: «Wir sind ganz ausgehungert nach Technicolor hier oben…»41 Computertomographische Graustufenbilder spielen in der radiologischen Diagnos- tik trotz oder gerade wegen ihrer vermeintlichen ‹unbunten Neutralität› eine heraus- ragende und – im Sinne von populär – anschauliche Rolle. Nicht allein, weil sie als gleichwertige diagnostische Bildtechnik dienen, sondern auch, weil sie konsequent ihren artifiziellen und konstruktiven Charakter ausweisen und dennoch als Äquiva- lent zum lebendigen Inneren des Patientenkörpers wahrgenommen werden. Fasst man also die Visualisierungen des Bildgebungsverfahrens Computertomo- graphie als Äquivalentbilder auf, lässt sich differenzierter betrachten, wie sich der Bildgebungsprozess mit ins Bild setzt und Messwerten bestimmte ästhetische Ei- genschaften zuweist, die eine erfahrungs- und wahrnehmungsgemäße Beziehungs- stiftung zwischen Bild und Objekt bedingen. Diese Relation ist für alle Bildgeben- den Verfahren grundlegend, man könnte es bei dieser Benennung belassen, doch über die Umwertung des Äquivalentbildbegriffs werden auch die Erfahrungswerte und Gesetzmäßigkeiten der Bildgebung und -wahrnehmung in die Untersuchung einbezogen. Hierin anklingend wird die Abstraktionsleistung des Rezipienten deut- lich, die sich vom Ästhetischen hin zum ‹Materiellen› (auf welche materielle Eigen- schaft des Objekts verweist die sichtbare Struktur konzeptionell?) und zum Tech- nischen (welche medientechnischen Operationen haben diese Art der Sichtbarkeit unter welchen Voraussetzungen produziert?) vollzieht. So geschieht bei ‹sehenden› WissenschaftlerInnen von vornherein eine selbstreflexive Distanzierung von (le- bendigen) Objekten hin zu geronnenen Medienpraktiken und experimentellen Vo- raussetzungen, die so nicht mehr allein einer geisteswissenschaftlichen Bildkritik zugeschrieben wird. Es sind die ausgeführten Eigenschaften der Graustufenvisualisierungen bezüg- lich physiologischer Voraussetzungen, Kontrastbildung und Gestaltwahrnehmung sowie eingeübter Sehweisen in der Radiologie, die sie als Erkenntniswerkzeug (im- mer noch) unabdingbar machen und eben nicht bunte Bilder, die vermeintlich ‹oberflächlich anziehender› erscheinen, aber gerade epistemisch nicht ‹tiefgründig› genug sind. 40 Vgl. Lynch, Edgerton, S. 189. 41 Jarman, S. 69. ‹Graue Suppe›? 50 Literatur Denise Aberle et al.: A Primer on Imaging Anatomy and Physiology. In: Alex A.T. Bui, Ricky K. Taira (Hg.): Medical Imaging Informatics. New York 2010. S. 15–91. Horst Bredekamp, Matthias Bruhn, Felix Prinz, Gabriele Werner (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 8.2 Graustufen. Berlin 2011 (im Erscheinen). Horst Bredekamp, Vera Dünkel, Matthias Bruhn, Gabriele Werner (Hg): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 4.1 Farbstrategien. Berlin 2006. Georges Didi-Huberman: Die Farbe des Nicht-Ortes. In: Elisabeth von Samsonow, Eric Alliez (Hg.): Chroma Drama. Widerstand der Farbe. Wien 2001. S. 123–140. Monika Dommann: ‹Das Röntgen-Sehen muss im Schweiße der Beobachtung gelernt werden.› Zur Semiotik von Schattenbildern. In: Traverse 3 (1999). S. 114–130. Vera Dünkel: Röntgenblick und Schattenbild. Zur Spezifik der frühen Röntgenbilder und ihren Deutungen um 1900. In: Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel (Hg.): Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder. Berlin 2008. S. 136–147. Kathrin Friedrich: ‹Sehkollektiv›- Sight Styles in Diagnostic Computed Tomography. In: Medicine Studies 2/3 (2010). S. 185–195. Dominik Groß, Tobias Duncker (Hg.): Farbe, Erkenntnis, Wissenschaft. Zur epistemischen Bedeu- tung der Farbe in der Medizin. Münster u.a. 2006. Jürgen Hennig: Farbeinsatz in der medizinischen Visualisierung. In: Horst Bredekamp, Vera Dün- kel, Matthias Bruhn, Gabriele Werner (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 4.1 Farbstrategien. Berlin 2006. S. 9–16. Martina Heßler: BilderWissen. Bild- und wissenschaftstheoretische Überlegungen. In: Ralf Adel- mann, Jan Frercks, Martina Heßler, Jochen Hennig: Datenbilder. Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften. Bielefeld 2009. S. 133–161. Franz Jahnel: Franz Nissl. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 61/3 (1920). S. 751– 759. Derek Jarman: Chroma. Ein Buch der Farben. Berlin 1995. Willi A. Kalender: Computertomographie. Grundlagen, Gerätetechnologie, Bildqualität, Anwendun- gen. 2. Aufl. Erlangen 2006. Gudrun Lang: Histotechnik. Praxislehrbuch für die Biomedizinische Analytik. Wien, New York 2006. Michael Lynch, Samuel Y. Edgerton: Aesthetics and Digital Image Processing. Representational Craft in Contemporary Astronomy. In: Gordon Fyfe, John Law (Hg.): Picturing Power. Visual Depictions and Social Relations. London 1988. S. 184–220. Susanne Marschall: Farbe im Kino. Marburg 2005. Frieder Nake: Surface, Interface, Subface. Three Cases of Interaction and One Concept. In: Uwe Seifert, Jin Hyun Kim, Anthony Moore (Hg.): Paradoxes of Interactivity. Perspectives for Media Theory, Human-Computer Interaction, and Artistic Investigations. Bielefeld 2008. S. 92–109. Franz Nissl: Die Neuronenlehre und ihre Anhänger. Ein Beitrag zur Lösung des Problems der Bezie- hungen zwischen Nervenzelle, Faser und Grau. Jena 1903. Wilhelm Ostwald: Einführung in die Farbenlehre. 2. Aufl. Leipzig 1919. Manfred Richter: Einführung in die Farbmetrik. 2. Aufl. Berlin, New York 1981. Tim Otto Roth: ars photoelectronica. Astronomie als Königsdisziplin der Farbe. In: Konrad Scheurmann (Hg.): rot.grün.blau.- Experiment in Farbe & Licht. Illmenau 2008. S. 90–93. Lindsay R. Rubin, Wendy L. Lackey, Frances A. Kennedy, Robert B. Stephenson: Using Color and Grayscale Images to Teach Histology to Color-Deficient Medical Students. In: Anatomical Sci- ences Education 2 (2009). S. 84–88. Ulrich Welsch: Sobotta Lehrbuch Histologie. Zytologie, Histologie, mikroskopische Anatomie. 2. Aufl. München 2006. Wibke Larink Wissenschaftler als Bildkritiker Eine historische Skizze Bildkritik ist eine Domäne der Geisteswissenschaften. Innerhalb der humanities werden vergleichsweise wenige Bilder produziert, jedoch wird viel über Bilder pu- bliziert. Die Naturwissenschaften hingegen stellen Bilder her, nutzen sie, gehen mit ihnen um. Bilder sind hier wissenschaftliche Objekte und haben eine Vielzahl von Bildfunktionen.1 So selbstverständlich dieser Umgang mit Bildern in den Natur- wissenschaften ist, so wenig scheint er innerhalb dieser Wissenschaftsdiskurse re- flektiert zu werden. In meiner Forschung zu den Bildern des menschlichen Gehirns und den in ihnen enthaltenen Darstellungen von Seelenkonzepten habe ich jedoch einige Beispiele für eine diskursimmanente Bildkritik gefunden, die bis ins 16. Jahr- hundert zurückreichen. Dabei haben sich unter den Anatomen zwei Kritikpunkte über die Jahrhunderte erhalten: die Kritik an von Fachkollegen veröffentlichten Bildern, und die Kritik an den Künstlern bzw. an der künstlerischen Qualität der Holzschnitte, Kupferstiche und Zeichnungen oder, weitgreifender, an der Ausbil- dung der Künstler. Darüber hinaus kehrt ein dritter Kritikpunkt wieder, nämlich jener, der die mangelnde Eignung der Vorlagen beklagt. In der Anatomie war stets die Qualität der Präparate entscheidend, an denen mit bloßem Auge oder später mit dem Mikroskop Beobachtungen gemacht wurden. Es handelt sich also um eine Medienkritik dessen, was ich hier als Bildvorstufen bezeichnen möchte. Bei den hier besprochenen Bildern handelt es sich immer um Zeichnungen, die meist als Holzschnitt oder Kupferstich in ‹druckfähige Daten› übertragen und als Tafeln anatomischer Atlanten überliefert sind. Stellen heutige Wissenschaftler ihre Bilder mithilfe von Apparaturen vielfach selbst her, wurde bis ins 18. Jahrhundert hinein die wissenschaftliche Arbeit auf der einen und die künstlerische, bzw. die bildproduzierende Arbeit auf der anderen Seite nahezu ausnahmslos von verschie- denen Personen ausgeführt. Wissenschaftler und Bildproduzenten beschränkten also ihre Tätigkeiten auf ihr Fachgebiet. Im Falle anatomischer Abbildungen war zudem nicht immer derjenige, der das Forschungsinteresse hatte, identisch mit dem, der die Sektion und Präparation durchführte, also die Bildvorstufe herstellte. Beobachtungen wurden zeichnerisch festgehalten, wobei Dokumentationen von 1 Vgl. Claus Zittel: Demonstrationes ad oculos. Typologisierungsvorschläge für Abbildungsfunktio- nen in wissenschaftlichen Werken der frühen Neuzeit. In: Albert Schirrmeister (Hg.): Zergliederun- gen – Anatomie und Wahrnehmung in der frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 2005, S. 97–135; Wibke Larink: Bilder vom Gehirn. Bildwissenschaftliche Zugänge zum Gehirn als Seelenorgan. Berlin 2011a. Wissenschaftler als Bildkritiker 52 Hand stets Komponenten einer unbewussten ‹bildlichen Muttersprache› beinhal- ten. Sie prägt sich beim praktisch geübten Zeichner durch seine Sehgewohnheiten und unbewussten Annahmen sowie durch Vorbildung und Vorlieben aus und ist beeinflusst von äußeren Faktoren wie Konventionen und Moden. Die Abbildung eines Gegenstandes durch unterschiedliche Beobachter oder auch die in zeitlichem Abstand wiederholte Beobachtung durch ein und denselben Beobachter wird da- mit zu unterschiedlichen Resultaten führen. Wurden Phänomene aus dem Bereich der Natur beobachtet und zeichnerisch dokumentiert, tendierte das Ergebnis ent- weder in Richtung Naturtreue oder aber in Richtung Stilisierung. Der in histori- schen Darstellungen erreichte Grad an Verismus oder Akkuratesse hing vom Auge als höchster Instanz der Verifikation ab, das wiederum dem Einfluss der bildlichen Muttersprache untersteht. Eine Zeichnung wurde für die Publikation nacheinander in verschiedene Medien übertragen. Dies führte dazu, dass sich sukzessive die ‹Feh- lerquote› erhöhte, sich beispielsweise Proportionen veränderten oder anatomische Details ‹eingedampft› wurden. Vor dem Hintergrund dieser diversen Zwischenstationen im Entstehungsprozess anatomischer Darstellungen stellt sich nun hier die Frage, wie die Wissenschaftler vorliegendes Bildmaterial bewerteten: Was machte ein gutes, was ein schlechtes Bild aus? Welche Bildpraxen gab es über die Bildkritik, die ja als naturwissenschaftliche Praxis eher unüblich war, hinaus? Wie wurde bereits vorgefundenes/bestehendes Bildmaterial genutzt? Im Folgenden werden Naturwissenschaftler aus drei Jahrhunderten schlag- lichtartig auf ihre Forderungen an wissenschaftliche Abbildungen hin betrachtet. Besonders intensiv hat sich Nils Stensen im 17. Jahrhundert mit diesen Fragen be- schäftigt.2 Zugleich kam es zu dieser Zeit vornehmlich in den Niederlanden zu ei- nem großen qualitativen Sprung anatomischer Abbildungen.3 Welchen Anteil hatte eine bildkritische Praxis wie die Stensens an der hohen Bildqualität im Bereich der Anatomie? 2 Für das 16. Jahrhundert lassen sich in den anatomischen Texten Leonardo da Vincis und in Andreas Vesalius Fabrica (1543) Sätze oder Passagen mit bildkritischen Beobachtungen nachlesen. Vgl. dazu Larink 2011a, S. 139 u. S. 196. 3 Vgl. Wibke Larink: Terebinthenbaum und Wunderkammer. Voraussetzungen für die Bilder der nie- derländischen Anatomen Frederik Ruysch und Godefridus Bidloo. In: Stefan Grohé, Maria-Theresia Leuker (Hg.): Die sichtbare Welt. Visualität in der niederländischen Literatur und Kunst des 17. Jahr- hunderts. Münster 2011b (im Druck). 53 Wissenschaftler als Bildkritiker I. Niels Stensen (1638–1686) Unter dem Titel Discours de Monsieur Stenon sur l’Anatomie du Cerveau wurde 1669 Stenos Rede über die Anatomie des Gehirns veröffentlicht, die er vier Jahre zuvor in Paris gehalten hatte.4 Liest man, wie es Gustav Scherz in seiner Einführung zum Dis- cours vorschlägt, nur die Überschriften, so ergeben sie eine Übersicht, die sowohl die Hirnanatomie seiner Vorgänger kritisch und detailreich beleuchtet, als auch ein Pro- gramm für die zukünftige Hirnforschung darstellt. Viele der dort genannten Aspekte lassen sich auf die Problematik hirnanatomischer Abbildungsstrategien übertragen. In Kapitel II.6., Gute und schlechte Zeichnungen, sprach Steno zunächst von den Schwierigkeiten bei Sektion und Präparation sowie der Untauglichkeit manches Zeichners: «Da Sektion und Präparation so vielen Irrtümern ausgesetzt sind, und auch unsere heutigen Anatomen sich nur allzu leichtsinnig darauf einlassen, Systeme aufzustellen und ihnen die weichen Teile anzupassen, darf man sich nicht wundern, wenn die danach gezeichneten Figuren nicht genau sind.»5 Neben Mängeln, die bei der Sektion auftreten, gab Steno weitere Ursachen für misslungene Zeichnungen an, etwa ungenaues Arbeiten des Zeichners, möge dieser «sich auch mit der Schwie- rigkeit entschuldigen, die darin besteht, auf einer Zeichnung die Teile plastisch zu erhöhen und zu vertiefen». Auch in der «Frage, ob der Zeichner richtig erfasst, wo- rauf er seine Aufmerksamkeit besonders richten soll», äußerte er sich skeptisch.6 Hilfreich wären hier erklärende Anmerkungen des Anatomen, die die Aufmerksam- keit des Zeichners auf das gemäß dem Forschungsinteresse des Anatomen Wichtige richten. Ohne die Interpretation der Beobachtung durch den Fachmann wird der Künstler als potentieller anatomischer Laie nicht wissen, welche Aspekte besonders herausgearbeitet werden müssen, welche Details bildwürdig sind. Stenos Lob an Thomas Willis (1621–1675), der die bisher «besten Figuren vom Hirn»7 präsentiert habe, folgt eine detaillierte Kritik derselben. Von den Darstel- lungen Andreas Vesals (1514–1564) oder Giulio Casserios (1561–1616) wolle er gar nicht erst sprechen, denn wenn Willis’ Abbildungen «die letzten und genauesten so viel an einer erreichbaren Vollkommenheit zu wünschen übrig lassen, kann man sich leicht vorstellen, wie unvollkommen die anderen gewesen sein müssen»8. Hier wurde Steno seiner Kapitelüberschrift nicht gerecht, da er zwar die allgemeine Qua- lität der Zeichnungen in Willis’ Cerebri anatome heraushob, sonst aber nur Mängel feststellte und mit einer Auflistung der Teile im Hirn endete, die noch niemals feh- lerfrei oder richtig positioniert dargestellt worden waren. Was hätte nach seinem Dafürhalten eine gute Zeichnung ausgemacht? Einer Bildprogrammatik kam Steno im weiteren Verlauf seiner Rede immer näher. Er machte seine Zuhörer darauf aufmerksam, dass der Glaube an die Er- 4 Niels Stensen: Discours de Monsieur Stenon sur l’Anatomie du Cerveau. Paris 1669. 5 Stensen, S. 177. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 179. Wissenschaftler als Bildkritiker 54 kenntnisse, die aus einer so mangelhaften Sektionspraxis wie Darstellungsweise erwachsen, kaum gerechtfertigt sei. Auf eine ausführliche Terminologiekritik folg- te die Aufforderung an seine Kollegen, ihre Methoden zu hinterfragen, inspiriert vielleicht von René Descartes’ (1596–1650) Discours de la méthode.9 Der Anatom sollte sich auf seine Sinne verlassen, sich Zeit nehmen, selbst sezieren, wahre Wiss- begierde zeigen, die alte Hirnlehre zwar nicht völlig aburteilen, aber sehr kritisch hinterfragen, denn selbst aus deren Fehleinschätzungen gelte es zu lernen. Sicher- lich können diese Handlungsanweisungen auch für die Produktion anatomischer Abbildungen fruchtbar gemacht werden. In seinem «neuen Forschungsprogramm für die Hirnanatomie»10 wandte Steno sie selbst an. Er beschrieb bei der Sektion des Gehirns auftretende Probleme genau und schlug Strategien zu ihrer Abhilfe vor. So erdachte er beispielsweise neue Werkzeuge zur schonenden Öffnung des Kraniums.11 Würden alle dort angeführten Methoden beachtet, führe dies zu einer «korrekte[n] zeichnerische[n] Darstellung»12, wie Kapitel IV.5 überschrieben ist. Es eröffnet einen guten Einblick in die Bildprogrammatik Stenos: Hat man einen verlässlichen und genauen Plan der Teile des Gehirns angelegt, die begangenen Fehler und ihre Ursachen gefunden und die richtige Art und Weise, die- se Teile zu demonstrieren, unter Einhaltung aller möglichen Vorsichtsregeln festge- legt, sollte man endlich versuchen, das auszudrücken, was man erkannt hat. Es sollte jedoch mit Hilfe von wirklich ähnlichen und korrekten Figuren geschehen; denn besser wäre es, keine Figuren zu bringen, als schlechte oder unkorrekte. Man benützt ein Bild, wenn man einen Gegenstand nicht zur Hand hat, um ihn sich damit in die Erinnerung zurückzurufen.13 Gleich im ersten Satz macht Steno, wie vor ihm Leonardo da Vinci (1452–1519), darauf aufmerksam, dass ein anatomisches Bild Ergebnis einer Vielzahl von Beob- achtungen ist. Leonardo war der Ansicht, dass ein Forscher, «um wahres, umfassen- des Wissen» über die menschliche Anatomie zu erwerben, «über zehn Menschen- körper sezieren müsse».14 Er hatte zu bedenken gegeben, dass «ein einziger Körper nicht für eine genügend lange Zeit hinreichend war» und es für notwendig gehalten «in Schritten vorwärts zu gehen, mit so vielen Körpern, bis [das] Wissen vollstän- dig war».15 Leonardos anatomische Zeichnungen entstanden nicht aufgrund von Einzelbeobachtungen, sondern sind Ergebnis eines sorgfältigen Studiums mehrerer Präparate, sozusagen eine visuelle Zusammenfassung von Forschungsprozessen. 9 Vgl. ebd., S. 183f. 10 Ebd., S. 189. 11 Vgl. ebd., S. 193. 12 Ebd., S. 196. 13 Ebd., S. 196f. 14 Leonardo, 19070v, zit. nach Kenneth D. Keele, Carlo Pedretti: Leonardo da Vinci. Atlas der anatomi- schen Studien in der Sammlung ihrer Majestät Queen Elisabeth II in Windsor Castle. Bd.1: Leonardos anatomisch-physiologische Untersuchungen des menschlichen Körpers. Gütersloh, London 1980, S. 359. 15 Ebd. 55 Wissenschaftler als Bildkritiker Eine präzise Ausarbeitung der fleischlichen Vorlagen und verschiedene Skizzen wa- ren jeweils grundlegend für einen durchdachten Bildinhalt, bei dem das Wesentli- che auf einen Blick erfasst werden kann. Zu diesem Schluss kam auch Steno, und er statuierte, dass einer korrekten Ab- bildung Erkenntnis, das heißt eine genaue Kenntnis des Objektes zugrunde liegt. Diese beinhaltet gewissermaßen eine Geschichte der Forschungstätigkeit des jewei- ligen Wissenschaftlers: Erfahrungen (nicht nur visuelle), Thesen, Verifizierungen und Falsifizierungen. Rein praktisch drückt sich dies eben darin aus, dass mehrere Präparate die Vorlage für eine Zeichnung bilden. Darüber hinaus ist ein solches Bild immer das Ergebnis von Entscheidungen. Diese basieren auf selbst aufgestellten Re- geln. Bildwürdig ist nicht notwendigerweise das, was man in einem konkreten Fall sieht. Vielmehr soll sich laut Steno im Bild das ausdrücken, was man ‹erkannt› hat. Der Erkenntnisgewinn ist eine allgemeine oder übergeordnete Funktion naturwis- senschaftlicher Bilder. Alle weiteren Funktionen stehen mit ihr in Beziehung oder sind von ihr abhängig.16 Im Spektrum der Bildfunktionen ebenfalls vertreten ist der folgende, im zitier- ten Abschnitt angesprochene Punkt: die Fähigkeit eines Bildes zur Repräsentation.17 Hier werden zwei Varianten, das Bild zu nutzen, genannt: Entweder erinnert es an den Forschungsgegenstand (führt ihn vor Augen), oder aber es ersetzt ihn. Letzteres bedeutet, dass das Bild den Forschungsgegenstand nicht mehr nur zeigt, sondern dadurch, dass dieser im Bild repräsentiert ist, wird das Bild selbst zum Forschungs- gegenstand. Zu beiden Zwecken muss es möglichst ähnlich und möglichst richtig getroffen sein. Steno gibt die Devise aus, besser gar nicht als schlecht abzubilden und verkettet so die Funktion des Bildes, zum Erkenntnisgewinn zu führen, mit dem der Repräsentation. Über den allfälligen Widerspruch, einerseits möglichst korrekt bzw. dem Objekt ähnlich und andererseits eher Erkenntnisse als Gesehenes darzustellen, wird bei ihm nicht reflektiert. Schließlich geht auch Steno wie vor ihm Leonardo auf die notwendige Wider- standskraft des Anatomen ein: Es gibt auch manche Menschen, welche solche Dinge nie anders als in Bildern sehen. Ihr Widerwillen gegen Blut hindert sie daran, ihren Wissensdurst durch die Betrach- tung der Gegenstände und der wirklichen Verhältnisse zufriedenzustellen. Als eine Folge davon bringen ihnen Figuren, die nicht so sind, wie sie sein sollen, beim Stu- dium der Anatomie verkehrte Ideen bei; für die anderen aber, die damit nur ihrem Gedächtnis nachhelfen wollen, sind sie ärgerlich.18 Bilder ‹abzukupfern› war zu Stenos Zeit noch das übliche Vorgehen. Wie mit illus- trativen Druckvorlagen zu dieser Zeit umgegangen wurde, lässt sich anhand der 16 Vgl. Larink 2011a, S. 64ff. 17 Vgl. ebd., S. 69ff. 18 Stensen, S. 196f. Wissenschaftler als Bildkritiker 56 anatomischen Tafeln des Casserio gut zeigen.19 Wie so oft ist der Bezug zwischen Bild und Bildfunktion, den wir von dieser bildpraktischen Anleitung Stenos ablei- ten können, wechselseitig: Eine gute Abbildung zu betrachten, führt ebenso zum Erkenntnisgewinn, wie sie zu konzipieren. Sie ist das Ergebnis von Beobachtungen, die in Sinnzusammenhänge gestellt wurden, und führt Betrachter unter Umstän- den dazu, sie innerhalb eigener Forschungstätigkeit in neue Sinnzusammenhänge zu stellen. Zusammenfassend zählt Steno jene Arbeitsschritte auf, die er gerade in Bezug auf die hirnanatomische Darstellung als notwendig erachtete: Man solle alle möglichen Mittel anwenden, um genaue Zeichnungen zuwege zu bringen. Dazu ist ein geschickter Zeichner ebenso notwendig wie ein geschickter Anatom. Viel Fleiß und besonderes Studium ist auch erforderlich, um seine Maßregeln auf die rechte Weise zu treffen und zu sehen, wie die Sektion durchgeführt werden soll, und wie die Teile geordnet werden sollen, damit man deutlich alles wiedergeben kann, was man im Gehirn sehen kann. Wenn man nämlich dieses Organ zeichnet, so besteht dabei eine demselben eigentümliche Schwierigkeit. Bei anderen Organen genügt es, sie ein einziges Mal zu präparieren, um Darstellungen von ihnen anzufertigen. Wenn man das Gehirn präpariert, sinkt es zusammen, ehe die Zeichnung fertig ist, so dass man nach mehreren Exemplaren von Gehirnen zeichnen muss, um eine einzige Figur zu vollenden. Dass man dies vielleicht nicht in Erwägung gezogen hat, könnte Schuld daran sein, dass es in der Anatomie keine unvollkommeneren Darstellungen gibt als die des Gehirns.20 Vor Steno hatten aber bereits zwei Anatomen dies in Erwägung gezogen, nämlich Leonardo da Vinci und Andreas Vesal. Mit seiner Feststellung gibt Steno jedoch auch zu bedenken, dass die anatomische Darstellung des menschlichen Zentral- organs vielleicht nicht repräsentativ oder unmittelbar übertragbar auf die wissen- schaftliche Bildproduktion im Allgemeinen ist, weil es besonderer Maßnahmen be- durfte, um das Gehirn präparationsfähig zu machen. Diese waren – zumindest im 17. Jahrhundert – noch nicht ausreichend erprobt. In seiner Rede kritisierte Steno auch den von Descartes beschriebenen Sitz der Zirbeldrüse. Anhand des Bildes widerlegte er dessen Behauptungen, indem er das Organ in der seiner Meinung nach richtigen Position zeigte. Das Bild wurde zum Argument für den Gegenbeweis. Zudem dokumentiert und kommuniziert es den neuen Status quo in Bezug auf die anatomische Lage des zu dieser Zeit wichtigsten und meistdiskutierten Teils des Gehirns. Dass die dokumentierenden und kommu- nizierenden Bildfunktionen nur greifen können, wenn die Bilder greifbar sind, sich also auch in neueren Ausgaben der jeweiligen Werke finden, muss in diese Überle- gungen einbezogen werden. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung etlicher Herausgeber (bis ins 20.Jahrhundert hinein), die Zeichnungen nicht abzudrucken, 19 Vgl. Larink 2011a, S. 219ff. 20 Stensen, S. 197f. 57 Wissenschaftler als Bildkritiker völlig unverständlich. Einmal mehr zeigt sich, dass die Fähigkeit von Bildern, Wis- sen vermitteln zu können, immer wieder unterschätzt wurde. II. Johann Christoph Andreas Mayer (1747–1801) Als Lehrender der Medizin und Anatomie sowie Leibarzt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. gab Mayer 1779 die Anatomisch-Physiologische Abhandlung vom Gehirn heraus. Sie war, wie der Untertitel besagt, [f]ür Ärzte und Liebhaber der Anthropologie bestimmt.21 Er lobte die Bilder, die Albrecht von Haller (1708–1777) in seinen achtbändigen Icones anatomicæ22 vom Gehirn veröffentlicht hatte. 1740 hatte Haller die Bekanntschaft des jungen französischen Medizinstudenten Chris- tian Jeremias Rollin (1707–1781) gemacht, dessen Stich «unglaublich treffsicher»23 gewesen sei. Balmer beschreibt, wie dieser beim Zeichnen vorging: Zuerst habe Rollin die Umrisse entworfen, sie dann auf ein neues Blatt übertragen, um sie zu schattieren. Die stichfertige Vorlage sei erst auf einem dritten und vierten Blatt ent- standen. Rollin, dessen Nachfolger Joel Paul Kaltenhofer (1716–1777), der nicht wie Rollin Arzt, sondern Künstler war, und zwei Stecher «waren Hallers Stützen für das Tafelwerk»24 der Icones anatomicæ. Bei allen Tafeln dieses breit angelegten Werkes fällt auf, wie mikroskopisch fein die Stiche sind, welche Detailtreue sie an den Tag legen. Mit seinen eigenen Abbildungen wollte Mayer methodisch noch über das von Haller Geleistete hinausgehen. Er hielt Bilder für unbedingt notwendig, um das Ge- hirn zu begreifen, denn es sei fast unmöglich, «physiologische Beschreibungen, so gut wir sie auch haben, zu verstehen»25. In diesem Zusammenhang betont er die unauflösliche Verknüpfung von Bild und Text: Die anatomische Beschreibung soll, mit den Kupfern zusammengehalten, im Stande seyn: die Lage und Ordnung der Theile, welche sich im Gehirne finden, zu erklären, und zugleich die Art anzeigen, wie man dieselben in ihrer natürlichen Folge entde- cken kann.26 Auf diese Weise verdeutlicht Mayer zum einen die Wechselwirkung, die zwischen Bildern und Text besteht, und er weist zum anderen darauf hin, dass nur die Ver- bindung beider Formen der Wissensgenese oder -vermittlung zum Verständnis der jeweiligen Materie führt. So sind hier, wie auch bei anderen Beispielen, für die Autoren dies nicht so explizit herausgearbeitet haben, die Funktionen wissenschaft- 21 Johann Christoph Andreas Mayer: Anatomisch-Physiologische Abhandlung vom Gehirn, Rückenmark, und Ursprung der Nerven. Für Ärzte und Liebhaber der Anthropologie bestimmt. Berlin, Leipzig 1779. 22 Albrecht von Haller: Icones anatomicæ quibus præcipuæ aliquæ partes Corporis Humani delineatæ proponuntur & Arteriarum potissimum Historia continetur Auctore Alberto de Haller. Göttingen 1743–1756. 23 Heinz Balmer: Albrecht von Haller. Bern 1977, S. 52. 24 Ebd., S. 53. 25 Mayer, Vorrede (o.S.). 26 Ebd. Wissenschaftler als Bildkritiker 58 licher Bilder nie unabhängig von den Texten zu sehen. Wissen – in diesem Falle der Hirnanatomie – wird geordnet und organisiert. Die Wahrnehmung wird ge- leitet. Letzteres betrifft einmal mehr den Ablauf einer Sektion, die seit Dryanders Anatomia mundini (1541) bekannt und oft kopiert worden ist, und die Mayer als «natürliche Folge» bezeichnete. Sehr deutlich stellte Mayer die Provenienz der von ihm verwendeten Bilder heraus und gab sowohl seine eigene Expertise, als auch die Kunstfertigkeit des Zeichners als Richtschnur für genaues Abbilden an: Die Zeichnungen von den Kupfertafeln des Gehirns [...] sind unter meiner sorgfälti- gen Aufsicht von einem unserer vorzüglichsten Künstler, nämlich dem Herrn Hopfer in Berlin, verfertigt worden, so daß ich für deren Genauigkeit stehen kann.27 Die eigenen Präparationskünste werden bei Mayer nicht in Frage gestellt, vom aus- führenden Künstler scheint die Bildqualität abzuhängen, der vom wissenschaftli- chen Auftraggeber entsprechend anzuleiten war. Hier erfüllt Mayer Stenos unaus- gesprochene Forderung nach einer Vermittlung zwischen Präparat und Bild, wie sie nur der Anatom leisten kann, der seine Beobachtungen dem Künstler verbal und in Skizzen zu verstehen geben muss. III. Félix Vicq d’Azyr (1748–1794) Wie wir gesehen haben, war es unter Anatomen nicht unüblich, Kritik an Abbildun- gen zu üben, die Kollegen veröffentlicht hatten. Im ersten Band des groß angelegten Werks Traité d’Anatomie et de Physiologie28, das 1786 in Paris erschien, machte Félix Vicq d’Azyr von dieser Methode der eigenen Standortbestimmung reichlich Ge- brauch. Die ausführlichen Beschreibungen zu seinen Tafeln sind in fünf Partien un- terteilt. Jeder dieser Abschnitte enthält einen Nachspann, der Réflexions historiques et critiques überschrieben ist. Dort werden anatomische Lehrmeinungen und Abbil- dungen von Vorgängern und Zeitgenossen detailliert besprochen. Dieses Vorgehen kannte Vicq d’Azyr aus der Adversaria anatomica29, die Pierre Tarin (1725–1761) 1750 veröffentlicht hatte. Tarins anatomischer Atlas war für Vicq d’Azyr noch in anderer Weise und ganz wörtlich genommen Vorbild. Auch in der großformatigen Traité d’Anatomie wechseln sich 27 schwarzweiße schematische Abbildungen, deren einzelne Teile durch Zahlen bezeichnet sind, die wiederum im Text erklärt wer- den, mit dem jeweils dazu gehörigen Motiv in Farbe ab. In der Mischung von roter und schwarzer Druckfarbe mit dem weißen Blatt reicht das Farbspektrum bei Vicq d’Azyr von Braun- und Sepiatönen über Rosa- und Fleischfarben bis hin zu leucht- endem Rot. Letzteres ist den Blutgefäßen vorbehalten. Gerade indem die Farbe 27 Ebd. 28 Félix Vicq d’Azyr: Traité d’Anatomie et de Physiologie, avec des Planches Coloriées. Représentant au naturel les divers organes de l’Homme et des Animaux. Paris 1786. 29 Petro Tarin: Adversaria anatomica, De omnibus Corporis humani partium, tum descriptionibus, cum picturis, Adversaria anatomica Prima, De omnibus cerebri, nervorum & organorum functionibus ani- malibus inservientium, descriptionibus & iconismis. Paris 1750. 59 Wissenschaftler als Bildkritiker bewusst sparsam verwendet wird, können mit ihrer Hil- fe die verschiedenen Struk- turen von Hirn und Schädel nahezu fühlbar gemacht wer- den. So werden im Bild z.B. Knochen fast fotografisch herausgearbeitet. Wie bei Mayer bestimmen allerdings nicht morphologische Erwä- gungen die Reihenfolge der Bilder, sondern der Ablauf der Sektion. Darüber hinaus bediente sich Vicq d’Azyr traditioneller Bildmittel wie dem Trompe l’Oeil: Auf Tafel XV. greift er, bildlich gespro- chen, zu Nagel und Schnur – typische Hilfsmittel, um dem Betrachter die Unmittelbar- keit der Sektion und damit seine sehende Teilnahme zu suggerieren (Abb. 1). Damit Abb.1: Horizontaler Hirnschnitt auf Höhe des Chiasma opticum lassen sich diesem Bild doku- mentierende, fixierende und konservierende Funktionen zuordnen.30 Ein weiteres Element, das diesen Eindruck verstärkt, besteht in der darstellerischen Einbettung der Hirnschnitte in den Schädelknochen. Im Gegensatz zu dieser Bildpraxis ist das Gehirn in den Basalansichten jeweils buchstäblich losgelöst, als entkörperlichtes Organ dargestellt. In einer Abbildung der Traité d’Anatomie kommt der Stellenwert der Bilden- den Kunst und somit des Bildes selbst gegenüber der Wissenschaft bzw. ‹für› sie zum Ausdruck. Auf dem Titelblatt ist neben den Allegorien der Wissenschaft und Medizin die der Künste zu sehen (Abb. 2). Der Künstler31 selbst äußert sich zu den Figuren. Die Frauengestalt neben dem Leichnam ist demnach eine Personifikation des Studiums (l’Etude). Als Attribut trägt sie eine Lampe. Diese hat möglicherweise noch eine weitere Bedeutung: Die Flamme der Öllampe kann (wie die der Kerze) Symbol für die Seele sein. Sie leuchtet und rekurriert so auf das ewige Leben der Seele. Was hier aufgebahrt liegt, nämlich die zu sezierende Leiche, ist nunmehr leere 30 Vgl. Larink 2011a, S. 86ff. 31 Es handelt sich um Beaublé, von dem bekannt ist, dass er Ende des 18.Jahrhunderts als Kupfer- stecher in Paris gearbeitet hat. Vgl. Gerhard Wolf-Heidegger, Anna Maria Cetto: Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung. Basel, New York 1967, S. 289. Wissenschaftler als Bildkritiker 60 Hülle. Die Lampenträgerin deckt den Leichnam auf und beleuchtet ihn für die zeich- nende oder malende Frau (la Peinture) und die mittig stehende lorbeerbekränzte Schlangenträgerin (la Médi- cine). Lorbeer steht für das kluge Abwägen, das einer Handlung vorausgeht. Die Schlange mag auf ein Leben nach dem Tod hindeuten, ist aber ebenfalls und hier hauptsächlich Sinnbild der Medizin. Die sitzende Male- rin hält einen Skizzenblock auf den Knien. Neben ihr am Boden liegen ein Bündel mit Pinseln, die ein klassisches At- tribut der Künste darstellen, und eine Palette mit bunten Farbklecksen. Hier sind zu Vicq d’Azyrs Rot- und Sepia- tönen die Druckfarbe Blau und verschiedene Mischtöne Abb.2: Frontispiz aus Félix Vicq d’Azyr (Paris 1786) hinzugekommen. Ausgestattet mit den At- tributen Sanduhr, Harfe und Fackel schließen die oben im Bild abgebildeten männ- lichen Figuren visuell und inhaltlich einen Kreis: In der Mitte schwebt auf einer Wolke Apollon mit der Harfe, der Gott der Medizin.32 Die Sanduhr in der Hand der verkörperten Zeit (le Temps) deutet zum einen auf die Kunst des Wartens, ein Merkmal der Klugheit, hin. Zum anderen verweist sie – korrespondierend mit der Schlange – auf das Verrinnen der (Lebens)Zeit. Der Fackelträger ist der Genius der Wissenschaften (le Génie des Sciences). Die Fackel als Symbol des Morgensterns (Eosphoros) bringt Licht ins Dunkel, ein Bild, das im Jahrhundert der Aufklärung für sich spricht. Sie lässt zugleich an die Morgenröte als einen Verweis auf ewige Jugend denken.33 Vicq d’Azyrs allegorisches Blatt kann als Standpunktbestimmung der Anatomie gedeutet werden. Sie steht zwischen zwei Polen: dem Pol der verrinnenden Lebens- zeit und dem des im Bild gebannten, somit unvergänglichen Körpers. Indem sie den 32 Vgl. ebd., S. 198. 33 Vgl. Matilde Battistini: Symbole und Allegorien. Berlin 2003, S. 63, 88, 300f, 327, 360. 61 Wissenschaftler als Bildkritiker toten Körper beredt macht, kann ihm die Anatomie zur Unsterblichkeit verhelfen. Zu dieser pathetischen Deutung, die einen tradierten Zugriff auf das Thema Ana- tomie wieder aufnimmt, kommt eine weitere: Das Bild kann als ein Statement des Anatomen zur Bedeutung des Bildes in der Wissenschaft seiner Zeit gelesen werden. Die Allegorie der Malkunst seziert den Leichnam mit Zeichenfeder und Pinsel. Sie ist der Medizin gleichgestellt (wenn man ihre sitzende Position nicht als geringfü- gige Unterordnung deuten will). Auf keinem der vielen und reich ausgestalteten Frontispizen, die aus Anatomiebüchern vergangener Jahrhunderte bekannt sind, wird dies so deutlich wie hier. Der Körper ist, wenn man so will, enträtselt. Die Auf- gabe der nächsten Forschergeneration ist es, sein Bild zu perfektionieren. IV. Samuel Thomas Soemmerring (1755–1830) In seinem Werk bezog sich Soemmerring, dessen Tafeln von 1778 für Vicq d’Azyr vorbildlich waren, wiederum auf Tafeln Vicq d’Azyrs, die «freylich noch vollkom- mener seyn könnten». Zu diesem Zeitpunkt war er selbst nicht in der Lage, bessere Tafeln zu liefern, da es ihm zufolge «in Mainz an allen dazu gehörigen Künstlern fehlte».34 Das Streben nach ‹vollkommenen Abbildungen› ist bis heute Bestandteil wissenschaftlicher Praxis. Worin jeweils die Vollkommenheit besteht, unterliegt dem Wandel von Wissenschaftskulturen. Eine Zeit lang hatte Soemmerring also mit den Abbildungen Vicq d’Azyrs ge- arbeitet. Für De Basi Encephali35, das acht Jahre vor dessen Traité d’Anatomie er- schienen war, hatte Soemmerring selbst Zeichnungen nach der Natur (ad nat.) an- gefertigt, die er von Carl Christian Glassbach (*1751) in Kupfer stechen ließ, eine Technik, die eine sehr detaillierte und sorgfältige Ausführung erlaubt, und die hier in bestmöglicher Weise genutzt wurde. In den Legenden verweist Soemmerring auf seine Vorgänger, von Tarin und Haller über Frederik Ruysch (1638-1731) bis zu Charles Estienne (1504–1564) und Mondino dei Luzzi (1270-1326). In der Schrift Über das Organ der Seele publizierte Soemmerring 1796 eine neue Zeichnung eines mediosagittalen Hirnschnitts (Abb. 3). Als Zeichner hatte er Christian Koeck (1758–1818) beauftragt, den er ebenso anleitete wie den Kupferstecher Ludwig Schmidt (nachweisbar um 1787).36 Die Platten genügen höchsten künstlerischen wie auch anatomischen Ansprüchen.37 Soemmerring begründete diesen Auftrag mit einer deutlichen Kritik an den Bildern Vicq d’Azyrs, wollte aber auch seine eigene frühere Version, die Tabula III (Abb. 4) von 1778 korrigieren. An den Bildern Vicq d’Azyrs bemängelte er vor allem, dass sie die Qualität nicht durchgängig hielten: 34 Samuel Thomas Soemmerring: Vom Hirn und Rückenmark. Mainz 1788, S. xii. 35 Samuel Thomas Soemmerring: De Basi Encephali et Originibus Nervorum Cranio Egredientium Libri Quinque. Cum IV. Tabulus Aeneis. Göttingen 1778. 36 Vgl. Dieter Harmening, Erich Wimmer: Volkskultur – Geschichte – Religion. Würzburg 1992, S. 505. 37 Vgl. Edwin Clarke, Kenneth Dewhurst: An Illustrated History of Brain Function. Berkeley, Los Ange- les 1972, S. 85. Wissenschaftler als Bildkritiker 62 Abb. 3: Mediosagittaler Hirnschnitt Abbildungen des Hirns – so vortrefflich sie auch sind, so unendlich weit sie auch alle vor und nach den seinigen erschienene Abbildungen hinter sich lassen – sind doch, wie ich in den Göttingschen Gelehrten Anzeigen ausführlich angemerkt habe, von sehr verschiedener Güte. – Einige Tafeln dürfen nicht copiert werden, falls man nicht offenbare Unrichtigkeiten statt Wahrheit verbreiten will. Als sogenannte Stu- dien haben sie für Liebhaber einen Werth, wenn ihnen auch Albinische Vollendung abgeht.38 Soemmerring bezieht sich an dieser Stelle auf Bernhard Siegfried Albinus (1653–1721), den er «immer wieder als das Ideal künstlerischer und ästhetischer Gestaltung»39 herausstellte. Dass Soemmerring zur Abbildung Vicq d’Azyrs einen Katalog mit 17 Kritikpunkten aufstellte, zeigt, wie intensiv er sich mit dessen Ar- beit beschäftigt hatte. Er kritisierte u.a. die Form einzelner Organteile, aber auch 38 Samuel Thomas Soemmerring: Über das Organ der Seele. Königsberg 1796, S. 3, Hervorhebungen im Original. 39 Manfred Wenzel, Sigrid Oehler-Klein (Hg.): Samuel Thomas Soemmerring. Werke Bd. 9: Ueber das Organ der Seele. Mainz 1999, S. 290. 63 Wissenschaftler als Bildkritiker Abb. 4: Mediosagittaler Hirnschnitt schwerwiegende Fehler, wie den falschen Sitz der Zirbeldrüse oder das Fehlen des unteren und vorderen Randes der dritten Hirnhöhle.40 Neben dem Bekenntnis zu der ‹Wahrheit› entsprechenden Bildinhalten und der Kritik an künstlerischen Leistungen war es schließlich auch für Soemmerring ent- scheidend, gute Bildvorlagen zu schaffen. Eine Beschreibung von 1807 gibt einen Einblick in die Praxis der Anatomen seiner Zeit und die verschiedenen Möglichkei- ten, ein geeignetes anatomisches Präparat herzustellen: Ich beschränkte mich nie auf eine einzige Methode, gleichsam auf einen gewissen Schlendrian das Gehirn zu untersuchen, sondern ich gebrauchte sowohl stumpfe als scharfschneidende Messer, ich ließ das Gehirn bald in Wasser zergehen, bald in der Luft trocknen, ich ließ es bald frieren, bald kochen; ich zerstreifte oder zerrupfte und zerschnitt es; ich wendete Einsprützungen, Vergrößerungsgläser und chemische Reagentien an; ich beobachtete feine Veränderungen im Weingeist und während der Fäulniß; kurz ich suchte das Gehirn von allen Seiten, auf jede mir bekannte Weise zu erforschen und kennen zu lernen, und kann mir daher wenigstens Einseitigkeit bei der Untersuchung desselben keine Schuld geben.41 40 Vgl. Vicq d’Azyr, S. 3f. 41 Samuel Thomas Soemmerring: Meine Ansicht einiger Gallschen Lehrsätze. Göttingen 1829, S. 54. Geschrieben wurde dieses Buch bereits 1807. Wissenschaftler als Bildkritiker 64 Ein so vielseitiger Umgang mit dem Material Körper führt zu unterschiedlichen Endprodukten, die ebenso verschiedene Visualisierungen nach sich ziehen können, ja müssen. Wann sieht ein Gehirn aus wie ein Gehirn? Wenn es roh belassen wird, gekocht oder gefroren? Der Anatom musste Entscheidungen treffen, experimen- tieren, bis das Bild, das er drucken wollte dem entsprach, was er sich im Kopf vom Gehirn gemacht hatte. Damit ist ein Bild so gut wie sein Präparat. Von einer Dar- stellung der Funktionsweisen des Gehirns, wie sie von Leonardo oder in der post- hum veröffentlichten Schrift De Homine von Descartes beschrieben wurden, war Soemmerring mit diesem Vorgehen allerdings weit entfernt. V. Naturwissenschaftliche Bildkritik im frühen 20. Jahrhundert Willi Kuhl schreibt in seinem Lehrbuch Das wissenschaftliche Zeichnen in der Bio- logie und Medizin von 1949, dass der Versuch, das Zeichnen bis zur «Reproduk- tionsreife» zu entwickeln, nicht nur eine Steigerung der zeichnerischen Fähigkeiten bewirke, sondern auch die Genauigkeit der Beobachtung der zu untersuchenden wissenschaftlichen Objekte verbessere. Dies sei «der Zweck des wissenschaftlichen Zeichnens im Praktikum: Schärfung und Kontrolle der eigenen Beobachtung»42. In einigen naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Biologie lernen Studierende auch heute noch zu zeichnen. Im Lexikon der Kunstwissenschaft heißt es zur «Ent- schleierung der Veritas» unter dem Stichwort Naturwissenschaft und Kunst: In der Tat profitieren visuell basierte Wissenschaften (Anatomie, Zoologie, Botanik) für die Verbreitung und Vertiefung ihres Wissens von den Repräsentationstechniken vor allem der graphischen Kunst.43 Das Zeichnen als Mittel des Begreifens natürlicher Phänomene ist getragen von der Idee eines anschaulichen Denkens, wie es in der Aufklärung propagiert wurde.44 Wenngleich der Bleistift als Werkzeug nahezu ausgedient hat, und der Bereich Computervisualistik in der universitären Lehre an Bedeutung zunimmt, gilt nach wie vor die Prämisse, die Ferdinand Bruns in seinen von 1910–1917 gehaltenen Vorträgen ausgab. 1922 veröffentlichte er sie in Die Zeichenkunst im Dienst der be- schreibbaren Naturwissenschaften. Darin kündigt er an, ein Lehrverfahren vorzutra- gen, «das sich zum Ziele setzt, den Zeichner zu befähigen, solche Gegenstände mit den Ausdrucksmitteln der Zeichnung [...] nachzubilden, deren Betrachtung Aufga- be der beschreibenden Naturwissenschaften ist, oder Ideen auszudrücken, die dem Arbeitsbereich dieser Wissenschaften angehören»45. Um dies zu bewerkstelligen, seien vor allem im Ausdruck Klarheit und Sach- lichkeit gefragt, denn unerheblich sei jener Teil der Grafik, «dem der Ausdruck ein 42 Willi Kuhl: Das wissenschaftliche Zeichnen in der Biologie und Medizin. Frankfurt a.M. 1949, S. 7. 43 Erna Fiorentini: Naturwissenschaft und Kunst. In: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon der Kunst- wissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart, Weimar 2003. S. 244–248, zit. S. 245. 44 Vgl. Larink 2011a, S. 30ff. 45 Ferdinand Bruns: Die Zeichenkunst im Dienst der beschreibenden Naturwissenschaften. Jena 1922, S. 1. 65 Wissenschaftler als Bildkritiker Mittel ist, ästhetische Gefühle zu erregen, oder den Beschauer in den Bann von Stimmungen des Künstlers zu ziehen, also das kunstgewerbliche oder künstlerische Zeichnen im engeren Sinne»46. Es ging ihm nicht zuletzt um eine Trennung von seiner Ansicht nach opponie- render künstlerischer (subjektiver) und naturwissenschaftlicher (objektiver) Dar- stellungsweise. Dazu zeigte er den Weg auf: Die charakteristischen Eigentümlichkeiten der darzustellenden Gegenstände lassen sich durch den Vergleich verdeutlichen und durch Analyse aus der Gesamterschei- nung herausheben. Die Erkenntnis der Fehlerquellen, die auf dem Wege falscher Assoziationen von Vorstellungen den reinen sinnlichen Eindruck und seine Wie- dergabe gefährden, führt zur Gewinnung von Kontrollmethoden, deren sachgemäße Anwendung den Zeichner instand setzt, während des Fortganges der Arbeit die Ue- bereinstimmung zwischen Objekt und Darstellung zu prüfen und damit zur Selb- ständigkeit zu gelangen.47 Das Gemütsleben solle keinen Einfluss auf die Arbeit haben. Die sinnliche Erschei- nung sei vielmehr unermüdlich daraufhin zu prüfen, unter welchen Bedingungen sie zustande komme. Bruns mahnt den Zeichner, sich der Relativität aller Erschei- nungswerte stets bewusst zu bleiben, um einer von ihm als objektiv oder wissen- schaftlich charakterisierten Zeichenmethode gerecht zu werden.48 Die Forderung nach Ähnlichkeit, Richtigkeit, Kongruenz und Objektivität von Bildern wird hier synonym mit ihrer Wissenschaftlichkeit gesetzt. Wie wir an diversen Beispielen frü- her Bildkritik gesehen haben, wurde sie nicht erst im 20. Jahrhundert formuliert. VI. Schluss Begriffe wie Objektivität, Wahrheit oder Wirklichkeit in den Wissenschaften haben besonders in ihren Bezügen auf bildliche Repräsentationen verschiedene Implikati- onen und sind selten eindeutig definiert. Breidbach schreibt zur Objektivität in den Naturwissenschaften: Die Ebene der Objektivität ist nicht die Ebene der Objekte, es ist die Ebene, in der die Objekte in dem, was sie uns bedeuten, bewertet werden. Diese Bewertung ist nicht unabhängig vom Subjekt, die Bewertung erfolgt für das Subjekt, und auch mit ihm. So bleibt das Subjekt auch in einer Wissenschaft von der Natur erhalten, die in der Natur ihren Maßstab findet.49 Diese Einbindung des schauenden, interpretierenden aber auch gestaltenden Sub- jekts kann bewirken, dass auch in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts die Zeich- nung anderen, als ‹objektiver› geltenden Darstellungstechniken vorgezogen wird. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Vgl. ebd., S. 2. 49 Olaf Breidbach: Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung. Mün- chen 2005, S. 11. Wissenschaftler als Bildkritiker 66 Radivoj V. Krstic beispielsweise hat in den 1970er Jahren gezeichnete cytologische Atlanten veröffentlicht, deren gezeichnete Abbildungen bis heute maßgeblich sind. In den jeweiligen Vorworten äußert er sich zu der Frage, ob eine solche anachronis- tisch wirkende Darstellungsform im Zeitalter der Fotografie gerechtfertigt sei. Die Erfahrung habe gezeigt, dass die Zeichnung dank ihrer Klarheit dem Studenten oft nützlicher sei als die beste Fotografie, da sie Details auch in der dritten Dimension wiedergeben könne. Durch seine Zeichnungen könne er besonders Vorstellungen vom räumlichen Verhalten der Bauelemente einer Zelle geben.50 Darüber sagten im Durchstrahlungselektronenmikroskop gewonnene Profilbilder und selbst ras- terelektronenmikroskopische Aufnahmen kaum etwas aus: «Hier kann die Zeich- nung eine Lücke füllen, da sie die gleichzeitige Darstellung der inneren und äu- ßeren Morphologie erlaubt.»51 Mit der klar formulierten didaktischen Funktion, die Krstic seinen dreidimensionalen Strichzeichnungen zuschreibt, nämlich den Bau histologischer Strukturen anschaulich und damit leichter verständlich zu ma- chen, richtet er sich an verschiedene Adressaten, u.a. an Elektronenmikroskopiker. Daraus lässt sich ersehen, dass die Ergebnisse einer damals neuen und scheinbar objektiven Methode, wissenschaftliche Bilder zu generieren, durchaus interpreta- tionsbedürftig waren und sind. An der Zeichnung ist das Auge zu schulen, damit bloß Gesehenes zu einer wissenschaftlichen Beobachtung und damit zu etwas führt, was interpretiert werden kann. Kehren wir abschließend zu Niels Stensen zurück. Zu den oben genannten Handlungsanweisungen, die er ausführte und in praktische Bezüge setzte, kommt noch ein entscheidender hinzu: Er forderte zwar, korrekt abzubilden, doch sah er ebenso, dass ein Bild immer das Ergebnis individueller Forschungsinteressen und Herangehensweisen ist. Es geht darum, «seine Massregeln auf die rechte Weise zu treffen»52, d.h. jeder Forscher hat eigene Vorgaben, denen er im Bild oder durch das Bild entsprechen will. Dabei gilt es, aus der Fülle möglicher Forschungsschritte zu selektieren und diese Auswahl im Bild überzeugend umzusetzen. Diese Überlegun- gen machen Kategorien wie richtige und falsche, gute und schlechte Abbildungen zwar nicht obsolet, zeigen aber auf, dass es entscheidend ist, bei solchen Urteilen nie die jeweilige Fragestellung aus dem Blick zu verlieren. 50 Vgl. Radivoj V. Krstic: Ultrastruktur der Säugetierzelle. Ein Atlas zum Studium für Mediziner und Biologen. Mit 176 vom Verfasser gezeichneten Tafeln. Berlin, Heidelberg, New York 1976, Vorwort. 51 Radivoj V. Krstic: Die Gewebezelle des Menschen und der Säugetiere. Ein Atlas zum Studium für Me- diziner und Biologen. Mit 176 vom Verfasser gezeichneten Tafeln. Berlin, Heidelberg, New York 1978, S. VII. 52 Stensen, S. 197. 67 Wissenschaftler als Bildkritiker Literatur Heinz Balmer: Albrecht von Haller. Bern 1977. Matilde Battistini: Symbole und Allegorien. Berlin 2003. Olaf Breidbach: Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung. München 2005. 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[...] The images do not ‹reveal› the inner body, but instead produce the body, bringing together aspects of physical bodies and cultural, social, and economic factors in unique and locally specific ways.1 Der nachfolgende Text befasst sich mit der Wirkmacht aktueller neurowissen- schaftlicher Visualisierungen. In welchem kulturellen Kontext bewegen sich neu- rowissenschaftliche Erkenntnisprozesse? Wie thematisieren diese Bildwelten unsere Vorstellungen von der Funktion des Gehirns und unserem Denken? Welchen Anteil haben die Hirnbilder an der Konstitu tion unseres Menschen- und Weltbildes? I. Neurowissenschaftliche Bilder: Entstehung, Verbreitung und Lesart Diejenigen Hirnbilder, die schier ikonografisch die Neurowissenschaften in der Öffent lichkeit zu repräsentieren scheinen, beruhen auf dem bildgebenden Ver- fahren der funk tionellen Magnetresonanztomografie (fMRT oder englisch fMRI für functional magnetic resonance imaging). Es handelt sich um eine relativ junge Weiterentwicklung der Magnetresonanztomografie – etwa aus dem Zeitraum der 1980er/90er Jahre –, welche es erlaubt, zu Forschungs- oder Diagnosezwecken non- invasiv (transversale oder sagittale) Schnittbilder des lebenden Körpers zu erstellen, so dass innere Organe erkennbar sind. Über die Situierung im Körper und die Form der Organe hinaus werden auf diesen Aufnahmen auch Mikrostrukturen sowie die Durchblutung visualisiert. 1 Kelly Joyce: Appealing Images: Magnetic Resonance Imaging and the Production of Authoritative Knowledge. In: Social Studies of Science 35/3 (2005). S. 437–462, zit., S. 437–438. 69 «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» Das neurowissenschaft- lich eingesetzte fMRT-Verfah- ren ist insofern eine indirekte Methode, als es eben nicht direkt neuronale Aktivitäten misst, sondern den Blutfluss in den Hirnarealen regist- riert, indem die Magnetfeld- stärke durch sauerstoffange- reichertes Blut variiert.2 Weist ein Gehirnareal eine höhere neuronale Aktivität auf, so ist es stärker durchblutet – und genau dies kann die fMRT Abb. 1: Magnetresonanztomograf Varian 4T, fMRI an der Uni- detektieren. Die präsentier- versity of California, Berkeley 2005 ten Grafiken in Originalpub- likationen und auf Wissenschaftsseiten von Zeitungen und Zeitschriften stellen also nicht direkt die neuronale Aktivität im Gehirn dar, sondern die veränderte Durch- blutung und damit die Sauerstoffversorgung. Bei den durch den fMRT erhobenen Datenmengen handelt es sich um große Datenvolumen. In einem Folgeschritt werden diese zur Erstellung von grafischen Ausgabeformen in der Bildgebung ausgewertet und analysiert. Wie auch bei anderen bildgebenden Verfahren geht die fMRT dabei mit starken Komplexitätsreduktionen einher. Dieser Reduktionismus wurde auch im Fach heftig diskutiert. Ein nach der Messung erfolgendes rechnerisches Verfahren macht die grafischen Darstellungen zu kontrastreichen Bildern. Dargestellt werden diejenigen Hirnregionen, welche, verglichen mit einer Kontrollmessung, aktiv waren. Ohne diesen Zwischenschritt müssten die Bilder theoretisch farbensprühend sein, denn das Gehirn ist perma- nent aktiv. Darüber hinaus handelt es sich bei den sichtbaren Farbfeldern um so genannte Falschfarben, die ebenfalls nichts mit dem Gehirn zu tun haben. Es sind farbige Darstellungen statistischer Berechungen des Computers, welcher mit zuvor festgelegten Schwellenwerten operiert. Darunter liegende Veränderungen werden nicht mehr farbig kodiert. Die farbigen Felder rühren also nicht von der Gehirn- aktivität selbst, deren Begrenzungen generell nicht deutlich vollzogen werden kön- 2 Es handelt sich im Rahmen dieser Publikation um eine vereinfachte und stark verkürzte Darstellung. Ausführlichere Beschreibungen dieser Bildgenerierungsprozesse und der Aussagekraft der generier- ten Bilder finden sich bei: Benedict C. Albensi et al.: Elements of Scientific Visualization in Basic Neuroscience Research. In: BioScience 54/12 (2004). S. 1127–1137, hier bes. S. 1132–1133; Nikos K. Logothetsi: What we can do and what we cannot do with fMRI. In: Nature 453 (2008). S. 869–878 sowie Britta Schinzel: Digitale Bilder: Körpervisualisierungen durch Bild gebende Verfahren in der Medizin. In: Wolfgang Coy (Hg.): Bilder als technisch-wissenschaftliche Medien. Workshop der Alcatel- Stiftung und des Helmholzzentrums der HU Berlin. Online: http://mod.iig.uni-freiburg.de/filead- min/publikationen/online-publikationen/koerpervisualisierungen.pdf [Stand 5.2.2011], hier S. 2. «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» 70 nen. Sie sind den statistischen Berechnungen um einen von den jeweils forschenden Wis- senschaftlern festgelegten Schwellenwert herum ge- schuldet. Dieser weitere As- pekt trägt zur Relativierung der zugeschriebenen Bildaus- sage bei und es wird sowohl in der ‹scientific community› als auch im öffentlichen Dis- kurs problematisiert, dass die Visualisierung der Messdaten auf den kursierenden fach- lichen Modellvorstellungen beruht. Damit basieren diese Grafiken auf einer konstruk- tiven Leistung. Ein Doktorand des Massachussetts Institute Abb. 2: Der Probant abgeschirmt in der Röhre des fMRT of Technology legte mit ei- nem Artikel über «Voodoo- Korrelationen»3 den Finger in die Wunde. Ausgangspunkt der Kritik bilden Korrelati- onen (die Herstellung von Zusammenhängen zwischen zwei statistischen Variablen) – hier zwischen menschlichem Verhalten oder Gefühlen4 und Hirnaktivität – die von den Autoren unter anderem angesichts des Umgangs mit Zufallsrauschen als un- plausibel und wahrscheinlich falsch gebrandmarkt wurden. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Validität der Experimente. In der Replik durch im Artikel angegriffene Hirnforscher werfen diese den Autoren schlechte Recherche und Übertreibungen vor. Immer präsent in der Diskussion des Aufsatzes war die Befürchtung, die Neurowis- senschaft werde hierdurch per se für Laien in ein bedenkliches Licht gerückt. Resü- mierend kann für den hier vorliegenden Kontext festgestellt werden, dass es methodi- sche Probleme in der Datenerhebung und -weiterverarbeitung zu geben scheint. Was nicht im Bild zu sehen ist, sind die Aufnahmebedingungen: der Proband (siehe Abb. 2) wird in die Röhre (siehe Abb. 1) des fMRT geschoben. Der geringe 3 Der Originaltext von Edward Vul et al.: Puzzlingly High Correlations in fMRI Studies of Emotion, Per- sonality, and Social Cognition (vorheriger Titel: «Voodoo Correlations in Social Neuroscience.»). In: aps – A Journal of the Association for Psychological Science 4/3 (2009). S. 274–290. Meldung hierzu in Na- ture: Brain imaging studies under fire. Nature 457 (15.01.2009). S. 245. Replik angegriffener Hirnfor- scher: Mbemba Jabbi et al.: Response to «Voodoo Correlations in Social Neuroscience» by Vul et al. – summary information for the press. Online: http://www.bcn-nic.nl/replyVul.pdf [Stand 05.01.2011]. 4 In der von Vul kritisierten Versuchsanordnung handelte es sich um Gefühle, die bei den Probanden durch Bilder oder Worte hervorgerufen wurden. 71 «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» Durchmesser der Röhre im Magnetresonanztomografen, die ungewohnte Situation, Geräusche und Licht oder Dunkelheit können Beklem- mungs- und Angstgefühle während der 10-30-minü- tigen fMRT-Aufnahme des Gehirns auslösen. Zudem können während der Mess- datenerhebung beispielswei- se durch Bewegung der Per- son oder auch Beeinträchti- gungen durch Funkübertra- gungsgeräte Artefakte in der grafischen Umsetzung entste- hen. Zu den ‹Desillusionie- rungen› der Hirnbilder steht nicht nur der Entstehungs- Abb. 3: fMRT-Hirnbild: Die grauen Flecken im oberen Hinter- kopf sind in der farbigen Darstellung leuchtend rot kontext derselben, sondern auch die Tatsache, dass das Gehirn, dem dieses Bild zugeschrieben wird, meist gar nicht ausschließlich das Ge- hirn des Probanden darstellt. Es handelt sich vielmehr um Mittelwerte, also ein aus mehreren Grafiken verschiedener Gehirne errechnetes «Durchschnittsgehirn»5. Schließlich sind in den Aufnahmen des fMRT Hirnareale, die für spezifische ko- gnitive oder emotionale Eigenschaften zuständig sein sollen, leuchtend in schrillen Farben markiert. Als Ergebnis dieser Bildgebungsprozesse begegnen dem Betrach- tenden neurowissenschaftliche Hirnbilder mit bunten Klecksen, welche, so suggeriert zumeist die Bildlegende oder der Publikationskontext, Veranschaulichungen von Neuronenreaktionen im Gehirn (‹Gehirnaktivitäten›) darstellen. Diese technischen Bilder gehören, wie Amit Prasad dies in Anlehnung an Donna Haraway bezeichnet, dem Bereich der «cyborg visuality»6 an, welche als nullperspektivische Visualisie- rungen aus Prozessen der Bildgenerierung hervorgehen. Auf deren Grundlage nun werden weitreichende Schlüsse zu menschlichem Verhalten und Erleben gezogen. Es wird deutlich, dass es sich bei diesen mit Hilfe komplizierter Methoden ge- wonnenen Gehirndarstellungen keineswegs um Abbildungen im Sinne der mit traditionellen Abbildungsverfahren verbundenen kulturellen Zuschreibungen han- delt, wie William Mitchell dies angesichts der Digitalisierung des Bildes bereits aus- geführt hat. 5 Martin Korte: Tag- und Nachtgeschichten. In: Gegenworte 13 (2004). S. 24–29, zit. S. 27. 6 Vgl. Amid Prasad: Making Images/Making Bodies: Visibilizing and Disciplining through Magnetic Resonance Imaging (MRI). In: Science, Technology and Human Values 30/2 (2005). S. 291–316. «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» 72 Es ist hinlänglich bekannt, dass Resultate bildgebender Verfahren per se leicht ihre Entstehungshintergründe vergessen lassen. So rückt beispielsweise die Tatsache, dass sie statistische Folgerun- gen und keinesfalls Abbilder darstellen, trotz zumeist bes- seren Wissens, – also gewis- sermaßen im Hinterkopf – aus dem Blickfeld.7 Abb. 4: Abbildung im Beitrag «Die Gehirn-Visionäre» mit der Die fMRT-Bilder der Bildunterschrift «Alzheimer erkennen: Auf Spurensuche im Ge- Neurowissenschaften sugge- hirn-Bild» rieren dem Laien jedoch, die Neurowissenschaftler hätten dem Hirn beim Denken zugeschaut und dies in Analogie zur Fotografie im Bild beziehungsweise zumeist der Bildreihe festgehalten. Insofern lässt sich in Anleh- nung an Vilém Flusser von ‹Bildern von Begriffen› sprechen. Technische Bilder, so Vilém Flusser8, seien Kalkulationen, Komputationen von Begriffen. Daher mache es auch wenig Sinn, die Echtheit der Bilder zu hinterfragen, es gelte vielmehr, der Frage nachzugehen, wozu diese Bilder bedeuten: «Diese sekundären Bilder sollen die unbegreiflich gewordene körnige Welt der Begriffe wieder vorstellbar machen.»9 Damit kommen wir zu einer Komplizenschaft, welche journalistische und wissen- schaftliche Interessen zusammenführt: erste sind an spektakulären Meldungen für eine breite Öffentlichkeit orientiert, während letztere, vorschnelle Schlussfolgerun- gen dabei offenbar in Kauf nehmend, ihr gesellschaftliches Legitimationsbedürf- nis zu befriedigen suchen. Für die Medien ist diese Thematik an sich allein schon wegen der kulturellen Zuschreibungen, die dem Hirn als Organ entgegen gebracht werden, von Interesse: einerseits ist das Gehirn neben dem Herz das meist unter- suchteste Organ in den vergangenen einhundert Jahren, andererseits hat man dieses Organ zwar seziert und dem Denken mit psychologischen Modellen auf die Spur zu kommen versucht, der Gedanken jedoch konnte man (noch?) nicht ansichtig werden. Die Relevanz dieses symbolisch beladenen Organs findet auch in der leb- haften Hirntod-Diskussion sowie der Debatte um Erkrankungen wie Demenz und Alzheimer Nachhall in breiten Kreisen der Öffentlichkeit. 7 Wolfgang Ullrich bezeichnet diesen kulturellen Effekt als ‹digitalen Nominalismus›. Vgl. Wolfgang Ullrich: Digitaler Nominalismus. Zum Status der Computerfotografie. In: Fotogeschichte 17/64 (1997). S. 63–73. 8 Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen 2000. 9 Vilém Flusser: Standpunkte. Göttingen 1998, S. 74. 73 «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» Das Bedürfnis auf Seiten der Forschung und Entwicklung, Inhalte und Ergeb- nisse ihrer Forschungen öffentlichkeitswirksam und massenmedial darzustellen schafft die Notwendigkeit von Kohärenz und die Reduktion von Komplexitäten. Insofern sind die visuellen Manifestationen der Neurowissenschaften in den Mas- senmedien auch als Werbung um öffentliches Vertrauen zu verstehen. Es handelt sich um ein stetes Bemühen, Verständnis und Vertrauen in der Öffentlichkeit für diese Forschungen und Entwicklungen aufzubauen und aufrecht zu erhalten.10 Bei der populärwissenschaftlichen Aufbereitung neurowissenschaftlicher Aktivitäten ist daher häufiger von wissenschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit als von Wissenstransfer zu sprechen.11 Damit legitimiert sich die wissenschaftliche Forschung als Institu- tion, die dem menschlichen Erkenntnisgewinn und dem gesamtgesellschaftlichen Fortschritt dient. ‹Objektive Erkenntnis› wird hier an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit als höchstes Gut betrachtet, ungeachtet, in wel- che lebensweltliche Interpretation sie gebracht wird – doch diese Alltagsrelevanz ist eben im Kontext der gesellschaftlichen Reputation notwendig. Hier findet eine fatale Allianz statt, denn die massenmediale Re-Kontextualisierung dieser Bilder ist eingebettet in ein Denken, welches wissenschaftlichen Bildern Wahrheit und Ob- jektivität attestiert und welches Gefahr läuft, die Bilder und den realen Körper als quasi austauschbar wie Spiegelbilder zu betrachten. II. Wissenschaftspolitische Diskurse Die Beschäftigung mit dem Gehirn ist nicht nur auf die Diagnose und das Thera- pieren von Organerkrankungen ausgelegt, sondern erforscht das Gehirn in seiner Funktionsbreite. Dabei geht es sowohl um Leistungspotentiale des Gehirns sowie um Störungen und förderliche Bedingungen für die Gehirnleistung. Das Verspre- chen von der Steigerung der menschlichen Leistungsfähigkeit mittels wissenschaft- lich-technischer Entwicklungen ist Teil des Projektes human enhancement. Bemer- kenswert ist, dass es sich bei human enhancement auch um einen Aspekt der For- schungs- und Technologiepolitik handelt, eine Facette der ursprünglich 2001 von den USA ausgehenden Debatte in Wissenschaft und Technik um converging tech- nologies. Die mit NBIC abgekürzte fachübergreifende Zusammenarbeit der Nano-, Bio- und Informationstechnologien sowie der Kognitionswissenschaften wurde aus innovationspolitischer Perspektive als Segnung des 21. Jahrhunderts in Aussicht ge- stellt, welche nicht zuletzt die nationale Wettbewerbsfähigkeit sichern sollte. Diese 10 Hier gilt es, einen öffentlich ausgetragenen Konflikt wie jenen um die Gentechnik zu vermeiden. Als Folge der nun fast 20 Jahre währenden Gentechnikdebatte haben sich weitreichende Regulie- rungsbemühungen ergeben, wie etwa eine Risikobewertung vor der Vermarktung eines Produktes, was man angesichts der später erfolgten nanotechnologischen Entwicklungen strategisch bewusst vermeiden konnte. 11 Siehe hierzu Olaf Hoffjann: Journalismus und Public Relation. Wiesbaden 2000. «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» 74 unter etwas variierenden Be- zeichnungen12 kursierenden Forschungsausrichtungen werden von Regierungen und Privatwirtschaft voran getrieben. Sie beinhalten die synthetische Steigerung in- dividueller Fähigkeiten, aber auch weitreichende Visionen zur Zukunft der Mensch- heit: die Technisierung des menschlichen Körpers (‹Cy- borgisierung›), eine fort- schreitende Verschmelzung des menschlichen Geistes mit Abb. 5: Titelbild des US-Berichts «Converging Technologies for Maschinen sowie die Über- Improving Human Performance» 2003 windung von Alter und Tod. In der grundlegenden Studie Converging Technologies for Improving Human Performance13 werden die Rahmen- bedingungen für interdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten untersucht. Dabei zielt die Studie darauf ab, aktuelle Initiativen zu erfassen und mögliche Interessenten, Ansprechpartner und Themen im Hinblick auf eine Eta- blierung dieses Schwerpunktes zusammen zu bringen. Wie Christian Büscher aus dem Institut für Technikfolgenabschätzung (ITAS) bemerkt: Interessant ist die Beobachtung, wie im Prozess der Institutionalisierung von CT und NBIC eine politische Agenda die einer wissenschaftlichen überholt hat, und wie aus kognitiven irgendwann normative Erwartungen werden: Dies geschieht, wenn po- litisch Bedingungen für die Organisation wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion gesetzt werden.14 Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass George Bush senior als US Prä- sident zum 1. Januar 1990 die Dekade des Gehirns deklarierte, was den Startschuss für die Neurowissenschaften bedeutete, die von nun an mit beachtlichen Budgets und Forschungsprogrammen gefördert wurden. Die europäische Gemeinschaft 12 So beispielsweise converging sciences und convergence of technologies in den 6. und 7. EU-Rahmen- programmen. In den 2003 einsetzenden europäischen Forschungsansätzen ist im Vergleich zu den amerikanischen Aktivitäten der hohe Anteil sozialwissenschaftlicher Begleitforschung über gesell- schaftliche Implikationen auffällig. 13 M.C.Roco, W.S. Bainbridge: Converging Technologies for Improving Human Performance: Nanotech- nology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Science 2002. Online: http://www.wtec. org/ConvergingTechnologies/Report/NBIC_report.pdf (Stand 7.12.10). 14 Christian Büscher: Converging Technologies und NBIC als Gegenstand von Wissenspolitik? In: Technikfolgenabeschätzung – Theorie und Praxis 18/2 (2009). S. 36–43, zit. S. 42. 75 «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» griff diese Idee auf und auch Deutschland rief für die Zeit 2000 bis 2010 eine ver- gleichbare Forschungsinitiative, die «Dekade des menschlichen Gehirns» – eine Stiftungsinitiative (ausschließlich männlicher) deutscher Hirnforscher –, aus. Die seither boomende Neuro-Wissenschaften veranschaulichen, dass es kaum ein Fachgebiet gibt, welches sich nicht mit der Vorsilbe Neuro- veredeln ließe. So findet sich der Mensch des 21. Jahrhunderts von Erklärungsmodellen aus der Neu- rowissenschaft umgeben und ist versucht, sich selbst auf sein Gehirn zu reduzieren. Diesen Umstand ironisch aufgreifend diagnostiziert der amerikanische Psychologe und Rechtswissenschaftler Stephen Morse das ‹Hirnüberschätzungs-Syndrom›. Da- bei greift er die besonders unter Rechtswissenschaftlern heftig diskutierten Konse- quenzen aus Erkenntnissen neurowissenschaftlicher Forschung auf, wie die Identi- fikation von Risikoindikatoren für potentiell kriminelles Handeln, welche stark an die forensische Phrenologie des 19. Jahrhunderts erinnert. Stephen Jay Gould schließlich kritisiert Messverfahren, beispielsweise bei der Messung von Intelligenz, die Komplexitätsverhältnisse nicht ausreichend abzubil- den in der Lage sind und bezeichnet dies als «biologischen Determinismus»15. Die deterministische Reduktion der populären Darstellungen, deren Kernaussage nicht selten darauf hinaus läuft, komplexe soziale Gefüge auf einen Gehirnzustand zu- rück zu führen, legen den Slogan, der den Titel dieses Aufsatzes geprägt hat, nahe: ‹Zeig mir Dein Gehirn und ich sage Dir, wer Du bist.› Die Folgerung von neurona- len Hirnregionen auf Geisteszustände ist sicherlich reizvoll. Besonders hinsichtlich der Pathologisierung, die es ermöglicht, das Ausscheren aus der Norm mit einer Fehlfunktion gleichzusetzen, die es zu beheben gilt. Damit enthebt sich die Ge- sellschaft der Pflicht, nicht-zerebralen Ursachen und Gründen von Verhalten und Ansichten auf den Grund zu gehen. Themen wie Selbstdisziplin, Bescheidenheit und Zurückhaltung geraten vollständig aus dem Fokus. III. Neurowissenschaften im Kontext der Selbstoptimierung des Menschen Der Mensch als ‹Homo Inermis›, als Mängelwesen, ist eine Mitte des vergangenen Jahrhunderts postulierte Diagnose des Anthropologen Arnold Gehlen.16 Anknüp- fend an die Formulierung des Mängelwesens Johann Gottfried Herders bildet dies bei Gehlen die (genetische) Grundlage für die Institutionenbedürftigkeit des Men- schen, die eine stabilisierende Funktion übernimmt sowie die Rechtfertigung dafür ist, dass er zur Naturbeherrschung gezwungen sei. Die Reizüberflutung, welcher der Mensch im Gegensatz zum Tier nicht gewachsen sei, habe zur Überlastung geführt. Daraufhin habe der Mensch als Prometheus eine Art ‹zweite Natur›, eine Kultur mit stabilisierenden Institutionen, Normen und Werten, entworfen. Diese bereits in den 1968ern umstrittene Position scheint erneut an Aktualität zu gewinnen, be- obachtet man den prekären Status des biologischen Körpers. Über den Körper, das 15 Stephen Jay Gould: The Mismeasurement of Man. New York [1981], erweiterte Auflage 1996. 16 Arnold Gehlen: Anthropologische Forschung. Reinbek bei Hamburg 1961. «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» 76 ureigenste Kapital des Menschen, wünscht er volle und nun auch technikgestützte Verfügungsgewalt. Seit den 1990er Jahren wird die Neuordnung der Verhältnisse zwischen Technik und Körper als komplexe Thematik in zahlreichen Ausstellun- gen, Tagungen und Publikationen17 manifest. Der Druck auf das Individuum, sich und seine Wirklichkeit medialen Vor- bildern und Leistungsidealen anzugleichen, wird immer höher. Insofern handelt es sich keineswegs um die Fortführung von Bekanntem mit neuen Mitteln, diese Transformationsprozesse tangieren Zentralbegriffe wie Normalität und Mensch- sein. Der gesunde menschliche Körper erscheint als Ansammlung zu korrigierender Fehler und Baustellen. Simon Strick bezeichnet diese Reduktion des Körpers als den «Umschlagpunkt»18, in dem ein Nullpunkt des Selbst erreicht wird. Der Mensch scheint derzeit eine Kluft zu empfinden zwischen seinen biologischen Anlagen und den Schöpfungen seines Geistes. Der Gleichklang zwischen Körper und Geist bricht zusammen und der Mensch erscheint als Zwitterwesen, teils biologisch, teils kultu- rell. Die zunehmend einschränkend und lästig empfundenen Beschränkungen der Biologie sollen anhand technischer Entwicklungen überwunden werden, um sich dieser Bindung zu entledigen. Der Kritik an der Selbstgestaltung des Menschen tritt Jens Heisterkamp ent- gegen. Die Kenntnis des genetischen Codes, der biologischen Gesetze, die jedes Detail der menschlichen Erscheinungsform festlegen, eröffne dem Menschen neue Dimensionen zur «Selbstbestimmung», welche das Recht beinhalte, «Zufall durch Selbstschöpfung abzulösen». Er geht so weit, eine bessere Zukunft für die Mensch- heit zu prognostizieren: «Mehr Wissen und mehr Gemeinsinn – die Gentechnik liefert die Mittel, das, was bisher nur Ideal war, wirklich Fleisch werden zu lassen und diese bessere Menschheit zu schaffen.»19 Der Körper wird mehr und mehr zur Maske, seine Funktion als fühlender Kör- per rückt in den Hintergrund. Die aktuell festzustellende Körperunzufriedenheit wird marktwirtschaftlich von der Optimierungsindustrie flankiert, welche an tech- nisch-wissenschaftlichen Machbarkeitsideologien orientierte Korrekturmöglich- keiten offeriert, deren Einsatz wiederum als schöpferischer Akt an der zu optimie- renden Biomasse empfunden werden. Mit der seit Anfang der 1990er Jahre einsetzenden Normalisierung chemischer Rauschmittel wie Ecstasy wurden Drogen als sowohl Spaß- und Arbeits-Faktor etabliert. Unsere traditionellen Mittel zur Steigerung der Aufmerksamkeit und 17 Jüngste Ausstellungen wie Zukunft des Körpers und die Filmreihe Leben erfinden im Frankfurter Filmmuseum, Gunter von Hagens’ Körperwelten (Körperwelten und der Zyklus des Lebens 2009) und die Ausstellung Echte Körper in Magdeburg 2009, die interdisziplinäre Tagung: Körper, Geschlecht, Technologie an der FU Berlin 2008, die Tagung Körperdiskurse an der Philipps-Universität Marburg 2008 sowie die Publikationsreihe Körperkulturen im Transcript Verlag. 18 Simon Strick: Vorher Nachher – Anmerkungen zur Erzählbarkeit des kosmetischen Selbst. In: Pau- la-Irene Villa (Hg.): Schön normal. Bielefeld 2008. S. 199–215, hier S. 208. 19 Jens Heisterkamp: Der biotechnische Mensch. Einführung zur gleichnamigen Podiumsdiskussion. In: Harald Schwaetzer (Hg.): L`homme machine? Anthropologie im Umbruch. Ein interdisziplinäres Symposion. Hildesheim u.a. 1998. S. 265–293, zit. S. 289. 77 «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» Beeinflussung der Stimmungslage scheinen mittlerweile von smart drugs (von schlauen Pillen) erweitert zu werden: Neuro-Enhancement als Fortführungen all- täglich gewordener Stimulanzien wie Traubenzucker, Kaffee, Tee und Tabak. Der Einsatz von Medikamenten als Hilfe zur Bewältigung von Alltagsanforderungen und -sorgen scheint ein neues Ausmaß und eine neue Qualität des Konsums mit sich zu bringen. Ursachen für diesen Trend können die Entwicklung immer spezi- fischer Medikamente der Neuropharmakologie , die wachsenden Anforderungen der Leistungsgesellschaft und die Verfügbarkeit bzw. niedrige Hemmschwelle bei der Selbstmedikamentation sein. Bei dem ‹Viagra für’s Gehirn› handelt es sich um pharmakologische Mittel zum Geistes-Design, die es ermöglichen, Hirnfunktionen zu modifizieren und zu optimieren. Dabei geht es bei der Leistungssteigerung zu- nächst überwiegend um kognitive Fähigkeiten. Besonderer Beliebtheit bei gesun- den Konsumenten scheint sich beispielsweise Ritalin zu erfreuen, das laut Indikati- on zur Behandlung der Aufmerksamkeitsstörung ADHS verwendet werden sollte. Eines folgt aus dem anderen: Leistung gilt zunächst als Motivation förderndes Prin- zip, als gesellschaftliches Phänomen, findet gesteigerten Ausdruck in Form zunächst singulärer Ausprägungen wie dem Leistungssport und mündet schließlich in der Produktion synthetischer Mittel zur Leistungssteigerung. Besonders die sportliche Komponente macht deutlich, wie groß der Sinngebungsanteil dieses Anspruches ist. So feiern Sportereignisse nicht die unverdorbene Natürlichkeit, sondern die In- szenierung der technischen Verbesserung des menschlichen Körpers. Die Leistung selbst zählt, wie diese zustande kommt, ist in der Leistungsgesellschaft sekundär. Angesichts alltäglich gewordener Stimulanzien wie Kaffee, Tee, Gingko-Blattextrakt lässt sich Neuro-Enhancement als Streben nach der Verbesserung der menschlichen Fähigkeiten (worunter man auch Kaugummikauen oder das ‹pure› Lernen fassen könnte) durchaus als eine anthropologische Konstante bezeichnen. Die aktuellen Lebensumstände der Menschen der westlichen Hemisphäre im nachindustriellen Zeitalter scheinen den Gebrauch psychoaktiver Substanzen, seien sie legal oder illegal erforderlich zu machen, um dem Leistungsdruck gerecht zu werden, die Arbeit zu bewältigen und das Leben zu ertragen. Günter Amendt legt dar, wie der heutige Mensch als «Produkt eines Anpassungsprozesses an die Beschleunigungskräfte der Informationstechnologien […] auf psychoaktive Substanzen zur Herstellung des inneren Gleichgewichts angewiesen»20 ist. Dabei verwässert die Trennung zwischen Arbeits- und Freizeitdrogen.21 Der Formbarkeit des Körpers22 und dem damit ein- 20 Günter Amendt: No drugs – no future. Drogen im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt a. M. 2003, S. 15. 21 So wurde beispielsweise von der US Air Force bestätigt, dass im Afghanistan-Einsatz Aufputsch- mittel, ungeachtet der bekannten agressionsverstärkenden Nebenwirkungen, verordnet wurden. Siehe Tobias Hürter: Der Kick im Cockpit. US-Kampfpiloten halten sich während ihrer Einsätze mit Amphetaminen wach. In: Süddeutsche Zeitung (13.08.2002). Online: http://www.globalsecurity.org/ org/news/2002/020813-cockpit-speed01.htm (Stand 03.03.2011). 22 Siehe u.a. Petra Missomelius: Mediale Visionen des postbiologischen Körpers. In: Anke Abraham, Beatrice Müller (Hg.): Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein bri- santes Feld. Bielefeld 2010. S. 67–88. «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» 78 hergehenden Körperkult folgt nun also die Optimierung der Seele. Gehirndoping überholt Alkoholkonsum und Rausch. Insofern ist der Bereich des Neuro-Enhancement durch- aus als Angebot zur Selbst- dressur zu verstehen. Der Kul- turhistoriker Hans Peter Du- err warnt vor einer derartigen Endlosschleife, denn hiermit werde die Individualisierung weiter vorangetrieben sowie soziale und gesellschaftliche Bezüge noch fragiler. Bereits Günther Anders fragte in sei- nem Buch Die Antiquiertheit Abb. 6: Abbildung aus der Zeitschrift ‹USA Today› vom 7. Juli des Menschen nach der «Seele 2004 in der Rubrik ‹Lifestyle› im Zeitalter der zweiten indu- striellen Revolution». Könnte es sein, dass die mit der zunehmenden Technisierung verbundenen Lebensumstände der Beschleunigung und allgegenwärtigen Konkurrenz «etwas Übertriebenes von uns verlangen, etwas Unmögliches; und uns durch Zumutung wirklich in einen kollekti- ven pathologischen Zustand hineintreiben»23? Menschen in Zeiten chronischer Über- forderung und Überreizung nutzen scheinbar zur Harmonisierung und zum Wie- derherstellen von Ausgeglichenheit ‹mothers little helpers›. Konsequenterweise be- zeichnet der Historiker Wolfgang Schivelbusch die Verbotspolitik für Rauschdrogen in seiner Geschichte der Genussmittel als «Rückzugsgefecht bürgerlicher Rationalität und Selbstdisziplin»24. Wie sehr die individuelle Leistungsfähigkeit auch im Rahmen des converging technologies-Ansatzes im Fokus steht, machte ein Beitrag auf einer der Folgekonferenzen zur Innovationspolitik deutlich: die «mentale Gesundheit» werde zur entscheidenden «Waffe im Wettbewerb»25, da derart optimierte Personen ange- sichts ihres neuro-kompetitiven Vorteils produktiver seien. Nicht zuletzt dienen diese leicht erhältlichen Produkte des Lifestyle-Segments der Biotechnologie jedoch auch der sozialen Steuerung, womit deren Gebrauch eine weitere politische Komponente erhält: Sobald die Menschheit Probleme der Seele 23 Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriel- len Revolution. München 1961, S. 17. 24 Wolfgang Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genuss- mittel. München/Wien 1980, S. 238. 25 Zack Lynch: Neurotechnology and Society (2010-2060). In: M.C.Roco, C.D. Montemagno (Hg.): Co- evolution of Human Potential and Converging Technologies. New York 2004, S. 229–233, hier S. 232. 79 «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» mit Psychopharmaka bekämpft und Gesunde sich psychisch in Topform bringen, sind psychische Probleme nur noch in der Einzelperson selbst begründet. Das sozi- ale Umfeld oder politische Bedingungen rücken damit in den Hintergrund. Dass es mir schlecht geht, ist meine eigene Schuld – der Werkzeugkasten der Optimierungs- industrie bietet ausreichend Unterdrückungsmittel für die Symptome (wie die zur ‹Volkskrankheit› avancierte Depression) eines grundsätzlich als chemisch manipu- lierbar verstandenen Wesens. Es bildet sich ein neuer Menschheitstypus heraus, dessen Umrisse erst vage zu erahnen sind. Wie verändert sich eine Gesellschaft, wenn ein Großteil der (nicht nur erwachsenen) Bevölkerung ‹Gute-Laune-Pillen› einwirft? Wie formiert die vom Turbokapitalismus geforderte Flexiblität und Mobilität die Persönlichkeits- merkmale dieses Menschentypus? Es wundert nicht, dass der Diskurs um human enhancement als Grundlage unserer Gesellschaft und die für sie konstitutiven Men- schenbilder inzwischen stark von ethischen Fragen bestimmt wird. IV. Schlussbemerkungen Die Beschäftigung mit populären Strategien der Sichtbarmachung neurowissen- schaftlicher Forschungszweige und der Bildpraxis der Neurowissenschaften ei- nerseits vor dem Hintergrund nationaler wissenschaftspolitischer Erwägungen, andererseits einer festzustellenden gesellschaftlichen Optimierungskultur, macht deutlich, welche komplexen Wechselwirkungen in der Bildpraxis zwischen Wissen- schafts- und Populärkultur manifest werden. Ist die Neurowissenschaft auf dem Boden ihrer politischen Bedingtheit dazu aufgerufen, ihre Arbeit – mit Hilfe neuro- wissenschaftlicher Bilder – massenwirksam bekannt zu machen, so trifft sie zugleich auf eine gesellschaftliche Kultur, die diese Bilder in einen ohnehin stattfindenden Optimierungsdiskurs einreiht. Fraglos hat die neurowissenschaftliche Forschung gute Anwendungen entwik- kelt, die präzises medizinisches Arbeiten erlauben – wenn auch nicht alle Verfahren spektakulär sein müssen. An dieser Stelle soll der Neuropsychologe Lutz Jäncke, Universität Zürich, zu Wort kommen: «Es wird zu viel versprochen, zu schnell Sen- sationelles verkündet, und vor allem wollen zu viele auf den Neuro-Zug aufsprin- gen und ein wenig vom vermeintlichen Glanz abbekommen.» Er stellt eine «me- tastatisch ausufernde Flut von fragwürdigen und wissenschaftlich kaum noch zu verantwortenden ‹Befunden› aus dem Bereich der vermeintlichen Hirnforschung» fest und fordert «etwas mehr Demut im Umgang mit dem Gehirn und vor allem mit neurowissenschaftlichen Befunden.»26 Der Molekularbiologe Jacques Monod prägt in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel Zufall und Notwendigkeit die noch immer kursierende Metapher vom ‹Zigeuner am Rande des Universums› für das durch die wissenschaftliche Welterklärung existenzialistische Gefühl des in die 26 Lutz Jäncke: Jeder will auf den Neuro-Zug aufspringen. Für mehr Zurückhaltung bei der Interpre- tation von neurowissenschaftlichen Befunden. In: Neue Zürcher Zeitung (13.05.2009). S. 10. «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» 80 Welt-Geworfenseins des Menschen. Er sieht die Wissenschaftler in der Pflicht «ihre Fachdisziplin im Gesamtzusammenhang der modernen Kultur zu sehen und diese nicht nur durch technisch bedeutende Erkenntnisse zu bereichern, sondern auch durch Gedanken, die sich aus ihrer Fachwissenschaft ergeben und die nach ihrer Ansicht für die Menschheit wichtig sein könnten.»27 Letzten Endes zielen die oben ausgeführten Konvergenzprozesse auf das Ver- ständnis und Verhältnis von Natur und Technik. Schnell ist man bei der Diskussion um diese Technologien bei übergeordneten Fragen der Ethik und der Philosophie zu Menschen- und Gesellschaftsbildern angelangt. Wie aus den vorausgehenden Ausführungen deutlich wird, ist eine Wesensbestimmung des Menschen zentral. Dies erfordert eine Einbeziehung der Geisteswissenschaften in Forschungsdiskur- se der Biotechnologie. Dabei wird es auch um die weltanschaulichen Konnotatio- nen wissenschaftlich seriöser Modelle der Zukunftsentwicklung gehen. Wie Alfred Nordmann feststellt, hat sich unser zunächst vom neuzeitlichen Verständnis von Fortschritt geprägter Begriff der Zukunft hin zur Realisierung technischer Machbar- keiten gewandelt. Konsequenterweise handelt es sich dabei nicht um eine zukünfti- ge Periode veränderter Verhältnisse, sondern allenfalls um eine zeitliche Differenz, in der die Möglichkeit technischer Umsetzungen von der Verwirklichung überholt wird. Es wird ein gesellschaftlicher Diskurs um den Wert des menschlichen Körpers und Geistes geführt werden müssen, der Fragen nachgeht wie: Kann der postbiolo- gische Mensch wirklich der bessere Mensch sein? Was ist von den Wissenschaften zu halten, die eine Optimierung des Menschen und der Natur anstreben? Welche Sehnsüchte und Ideologien transportieren diese Visionen? Wird der Normalzustand als vorrangig mangelbehaftet bewertet, ist nicht zu vergessen, dass sich die Definition dessen, was als defizitär anzusehen ist, erst aus gesellschaftlichen Regeln und Maßstäben ergibt, die festlegen, welches die Ziele und Grenzen der Leistungserbringung im jeweiligen sozialen Kontext sind. Es ist kaum zu leugnen, dass im Rahmen der Antizipation dieses ‹neuen Menschen› im postindustriellen Zeitalter die Aushandlung des gesellschaftlichen Menschenbildes ansteht. Einige wissenschaftliche Disziplinen beurteilen inzwischen die hiermit ein- hergehenden Transformationen auf ethischer Ebene eher kritisch.28 27 Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. München 1971, S. 213. 28 Siehe Steve Rose: Smart Drugs: do they work? Are they ethical? Will they be legal? In: Nature Re- views Neurosciences 3/12 (1998). S. 975–979; Wayne Hall: Feeling better than well. In: EMBO Reports 5/12 (2004). S. 1105–1109; Martha Farah: Neurocognitive Enhancement: What can We Do and What should we Do. In: Nature Reviews Neuroscience 5 (2004). S. 421–425; Johann S. Ach, Arnd Pollmann: no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse. Bielefeld 2006; Bettina Schöne-Seifert et al. (Hg.): Neuro-Enhancement – Ethik vor neuen Heraus- forderungen. Paderborn 2009; Nina Degele, Sigrid Schmitz: Kapitalismuskompatible Körper. Zum wechselseitigen enhancement gesellschaftstheoretischer und naturwissenschaftlicher Körperdiskurse. In: Boike Rehbein, Klaus-Wilhelm West (Hg.): Globale Rekonfigurationen von Arbeit und Kommu- nikation. Konstanz 2009. S. 115–130 u.v.a.m. Wie sich neue Wissenschaftszweige wie die Kritische Neurowissenschaft sowie die Neuroethik in diesem Diskurs positionieren, wird sich noch erweisen. 81 «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» Literatur Alison Abbott: Brain imaging studies under fire. Nature 457 (15.01.2009). S. 245. Johann S. Ach, Arnd Pollmann: no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse. Bielefeld 2006. Benedict C. Albensi et al.: Elements of Scientific Visualization in Basic Neuroscience Research. In: BioScience 54/12 (2004). S. 1127–1137. Günter Amendt: No drugs – no future. Drogen im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt a. M. 2003. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industri- ellen Revolution. München 1961. Christian Büscher: Converging Technologies und NBIC als Gegenstand von Wissenspolitik? In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 18/2 (2009). S. 36–43. Nina Degele, Sigrid Schmitz: Kapitalismuskompatible Körper. Zum wechselseitigen enhancement gesellschaftstheoretischer und naturwissenschaftlicher Körperdiskurse. In: Boike Rehbein, Klaus-Wilhelm West (Hg.): Globale Rekonfigurationen von Arbeit und Kommunikation. Kons- tanz 2009. S. 115–130. Martha Farah: Neurocognitive Enhancement: What can We Do and What should we Do. In: Na- ture Reviews Neuroscience 5 (2004). S. 421–425. Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen 2000. Vilém Flusser: Standpunkte. Göttingen 1998. Arnold Gehlen: Anthropologische Forschung. Reinbek bei Hamburg 1961. Stephen Jay Gould: The Mismeasurement of Man. Norten, New York [1981], erweiterte Auflage, 1996. Wayne Hall: Feeling better than well. In: EMBO Reports 5/12 (2004). S. 1105–1109. Olaf Hoffjann: Journalismus und Public Relation. Wiesbaden 2000. Jens Heisterkamp: Der biotechnische Mensch. Einführung zur gleichnamigen Podiumsdiskussion. In: Harald Schwaetzer (Hg.): L`homme machine? Anthropologie im Umbruch. Ein interdiszipli- näres Symposion. Hildesheim u.a. 1998. S. 265–293. Tobias Hürter: Der Kick im Cockpit. US-Kampfpiloten halten sich während ihrer Einsätze mit Amphetaminen wach. In: Süddeutsche Zeitung (13.08.2002). 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S. 229–233. Petra Missomelius: Mediale Visionen des postbiologischen Körpers. In: Anke Abraham, Beatrice Müller (Hg.): Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld. Bielefeld 2010. S. 67–88. Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. München 1971. Amid Prasad: Making Images/Making Bodies: Visibilizing and Disciplining through Magnetic Res- onance Imaging (MRI). In: Science, Technology and Human Values 30/2 (2005). S. 291–316. M.C. Roco, W.S. Bainbridge: Converging Technologies for Improving Human Performance: Nan- otechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Science 2002. Online: http:// www.wtec.org/ConvergingTechnologies/Report/NBIC_report.pdf (Stand 7.12.10). «Zeig mir Dein Gehirn, Babe!» 82 Steve Rose: Smart Drugs: do they work? Are they ethical? Will they be legal? In: Nature Reviews Neurosciences 3/12 (1998). S. 975–979. Britta Schinzel: Digitale Bilder: Körpervisualisierungen durch Bild gebende Verfahren in der Me- dizin. In: Wolfgang Coy (Hg.): Bilder als technisch-wissenschaftliche Medien. Workshop der Alcatel-Stiftung und des Helmholzzentrums der HU Berlin. Online: http://mod.iig.uni-frei- burg.de/fileadmin/publikationen/online-publikationen/koerpervisualisierungen.pdf [Stand 05.02.2011]. Wolfgang Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genuss- mittel. München/Wien 1980. Bettina Schöne-Seifert et al. (Hg.): Neuro-Enhancement – Ethik vor neuen Herausforderungen. Pa- derborn 2009. Simon Strick: Vorher Nachher – Anmerkungen zur Erzählbarkeit des kosmetischen Selbst. In: Paula-Irene Villa (Hg.): Schön normal. Bielefeld 2008. S. 199–215. Wolfgang Ullrich: Digitaler Nominalismus. Zum Status der Computerfotografie. In: Fotogeschichte 17/64 (1997). S. 63–73. Edward Vul et al.: Puzzlingly High Correlations in fMRI Studies of Emotion, Personality, and Social Cognition (vorheriger Titel: «Voodoo Correlations in Social Neuroscience.»). In: aps – A Journal of the Association for Psychological Science 4/3 (2009). S. 274–290. Florian Arndtz Schönheit (v)errechnen ‹Facial attractiveness›, ‹composite images› und die Tücken der Technik I. Einleitung Die folgenden Überlegungen bewegen sich in einem Bereich, in dem Diskurse der Evolutionsbiologie, der Soziologie, der Ästhetik und der Kulturkritik Verbindungen mit speziellen Visualisierungstechniken eingehen. Als Beispiel einer solchen Verbin- dung möchte ich die technisch-wissenschaftliche Annexion eines primär ästhetischen Phänomens untersuchen: die menschliche Schönheit und ihre Wiedergabe im Bild. Zwei fast ein Jahrhundert voneinander getrennte und dennoch – vielleicht – in enger Beziehung stehende Bildsyntheseverfahren sollen hierfür kontrastiert werden: auf der einen Seite die Komposit-Fotografien Francis Galtons, auf der anderen die computer- gestützte Errechnung von Durchschnittsgesichtern in der neueren Psychologie. Beim Versuch, das menschliche Aussehen wissenschaftlich zu erfassen und zu beurteilen, kommen hauptsächlich quantitative Methoden wie Vermessung, Men- gen- und Durchschnittsbildung zum Tragen. Als solche sind sie als Abstraktionen gekennzeichnet, die sich von den tatsächlich existierenden Individuen unterschei- den. Wenn zum Beispiel Adolphe Quetelet seinen ‹homme moyen› als Gegenstand der ‹physique sociale› beschreibt, so stellt er klar: «[I]l est la moyenne autour de laquelle oscillent les éléments sociaux: ce sera, si l’on veut, un être fictif»1. Wir haben es also mit fiktiven Konstruktionen zu tun. Was aber geschieht, wenn der Rückgriff auf fotografische und digitale Bildsyntheseverfahren es ermöglicht, diesen Abstrak- tionen ein Aussehen zu verleihen? Es scheint sich um eine Rückkehrbewegung zu handeln: Obwohl fiktiv, sind die errechneten Wesen auf der Grundlage empirisch erhobener Daten entstanden. Jetzt erhalten sie nach ihrem Durchgang durch die Fiktion schließlich erneut eine Existenz, zumindest eine Existenz im Bilde. Bezeich- nenderweise spielt die Fotografie als vermeintlicher Realitätsgarant in diesem Ge- schehen eine fundamentale Rolle. Wie sie sich dabei zu den computergenerierten Bildern verhält, welche Schlüsse und Kurzschlüsse aus der Verbindung von Statistik und Ästhetik entstehen und was schließlich die auffällige Begriffsverschiebung von ‹Schönheit› hin zu ‹Attraktivität› damit zu tun hat – diesen Aspekten widme ich, kursorisch, die folgenden Denkansätze. 1 Adolphe Quetelet: Physique sociale ou Essai sur le développement des facultés de l’homme [1869]. Neu hg. von Éric Vilquin, Jean-Paul Sanderson. Brüssel 1997, S. 46 (I/149); übers.: «Er ist das Mittel, um das die Elemente der Gesellschaft oszillieren; er ist, wenn man so will, ein fingiertes Wesen.» Schönheit (v)errechnen 84 II. Der fotografische Anfang: Francis Galtons Projekt Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Evolutionstheorie nicht nur in der Biologie, sondern schnell auch in der Gesellschaftstheorie Fuß fasste, startete der umtriebige Gelehrte Francis Galton ein Projekt zur optischen Repräsentation bestimmter Menschentypen. Die Kompositfotografie (‹composite images›) diente ihm dazu, durch Übereinanderbelichtung mehrerer Einzelportraits deren allgemei- ne Züge herauszuarbeiten (‹generic images›). Auf diese Weise sollten unter ande- rem bestimmte Krankheiten oder Verbrechensneigungen erkenn- und selektierbar werden, so wie bei den verurteilten Dieben in Abbildung 1. Abb. 1: Vier Kompositfotografien mit verschiedenen Verdichtungsgraden von verurteilten Delinquenten Die Motivationen, Hintergründe und Implikationen des gesamten Unternehmens sind von faszinierender Vielfalt. Die Anregung erhielt Galton zuerst aus dem eng- lischen Justizsystem.2 Er beschränkte sich jedoch keineswegs darauf, sondern ver- knüpfte seine fotografischen Studien mit Forschungen zu Statistik, Psychologie und Vererbungslehre, von wo aus sie schließlich in das von ihm entscheidend voran- getriebene Programm der Eugenik einflossen.3 Fast nebenbei machte Galton aber auch eine ästhetische Beobachtung: The result [of a generic image] is a very striking face, thoroughly ideal and artistic, and singularly beautiful. It is, indeed, most notable how beautiful all composites are. Individual peculiarities are all irregularities, and the composite is always regular.4 2 Vgl. Francis Galton: Memories of my Life. London 1908, S. 259. 3 Die Verknüpfung des fotografischen Typisierungsverfahrens mit weitreichenden ideologischen und politischen Vorhaben wird in seinen Inquiries into Human Faculty and its Development gleich zu Beginn durchgeführt. So heisst es dort auf Seite 10: «The easiest direction in which a race can be improved is towards that central type […] It is only necessary to encourage as far as practicable the breed of those who conform most nearly to the central type, and to restrain as far as may be the breed of those who deviate widely from it.» 4 Francis Galton: Composite portraits. Made by combining those of many different persons into a single resultant figure. In: Journal of the Anthropological Institute 8 (1879a). S. 132–148, zit. S. 144. 85 Schönheit (v)errechnen Zwei Jahre zuvor hatte er bereits im Hinblick auf Schwerverbrecher festgestellt: All composites are better looking than their components, because the averaged por- trait of many persons is free from the irreguliarities that variously blemish the looks of each of them.5 Diese kurze Bemerkung birgt bereits eine Fülle von Anknüpfungsmöglichkeiten, insbesondere die knifflige Verbindung des Schönen mit dem Guten (bzw. dessen Gegenteil: den Verbrechern), die bereits seit der Antike vor allem idealistische On- tologien und Ästhetiken beschäftigt. Von Belang ist im Rahmen dieses Aufsatzes al- lerdings die wissenschaftlich-objektive Souveränität, mit der Galton sich einbringt. In seinen Darlegungen fällt nämlich auf, dass altbekannte Begriffe wie ‹ideal› und ‹artistic› in ein statistisches Beschreibungsregister überführt werden. Im Zuge die- ser Bewegung gelangen wir vom noch klassizistisch anmutenden ‹regular› über die analytischen ‹components› schnell zum quantitativen ‹average›, von dem aus dann wiederum die ‹irregularities› und als solche dann auch die ‹individual peculiari- ties› bestimmbar werden. Passend wirkt es, dass im Kontext dieser Äußerungen das theoretische Modell eines bloßen Eindrücke empfangenden, fotografisch-passiven Geistes auftaucht, das spätestens seit John Lockes Camera-obscura-Metapher in der Philosophie etabliert war. Galton kommt diese Denkfigur zupass, um den An- schluss an klassische empiristische Argumentationen herzustellen.6 Von großer Be- deutung dabei ist, dass die Konkretisierung an der Fotografie deren Eigenheit, ins- besondere ihren Anspruch auf Realitätsdarstellung, ins Spiel bringt. Auf diese Weise wird dem gesamten Konstrukt Evidenz und Verlässlichkeit verliehen – so als ob die synthetisch generierten, abstrakten Typen genau so eine Naturgegebenheit wären wie unsere Vorstellungen von Schönheit, nur weil sie mit Hilfe der fotografischen Metapher beschreibbar zu sein scheinen: «They are real generalizations, because they include the whole of the material under consideration.»7 Die naive, gleichwohl verlockende Verbindung liegt in der Sichtbarkeit, die vollständig und unvermit- telt, aus statistischen oder physikalischen Verhältnissen heraus, zustande kommt, ohne dass ein einzelner, wenig verlässlicher ‹Künstler› oder unberechenbarer ‹Geist› dazwischen geschaltet wäre. Wenn es faktisch möglich ist, auf ‹reale› Weise solche ‹Verallgemeinerungen› wie Kompositbilder zu erstellen, so erscheint das Argument, auch unsere allgemeinen Vorstellungen entstünden durch solche mathematisch 5 Ebd., S. 135 6 Vgl. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Hg. v. P. Nidditch. Oxford 1975. 2. Buch, Kapitel XI, Absatz 17, wo die menschliche Fähigkeit, allgemeine Vorstellungen durch «Com- pounding» (Absatz 6) und «Abstraction» (Absatz 9) zu bilden, auf ein einfaches Dispositiv zurück- geführt wird: «For, methinks, the understanding is not much unlike a closet wholly shut from light, with only some little openings left, to let in external visible resemblances, or ideas of things wit- hout.» Galtons Zeitgenosse Thomas Huxley expliziert die Analogie zum Kompositverfahren, indem er es in Beziehung zum bekannten Paradigma setzt. «This mental operation may be rendered com- prehensible by considering what takes place in the formation of compound photographs.» Thomas Huxley: Hume. London 1878, S. 95. 7 Francis Galton: Generic Images. In: Proceedings of the Royal Institution 9 (1879b). S. 161–170. zit. S. 166. Schönheit (v)errechnen 86 nachvollziehbaren Überlagerungen, plötzlich um einiges überzeugender. Ganz in diesem Sinne versteht denn auch Galton das Ideal dieser Schönheit. Um zu ihm zu gelangen, hätte ein «perfect mind» nichts anderes zu tun, als mentale Bilder «of a truly generic kind» zu erzeugen. Der fotografische Apparat ist dem «most imper- fect apparatus» unseres Geistes darin überlegen, denn dank seiner «cold-blooded verification»8 verfällt er keiner persönlichen Vorliebe, keiner kulturellen Verstri- ckung, keiner Irritation.9 Derart medientheoretisch unterfüttert, vollzieht Galton – ohne dass er dies zu wissen scheint – die Abwendung von einem einflussreichen Schönheitsparadigma. In einer klassischen Passage hatte Immanuel Kant die ‹Normalidee› im Zusammen- hang mit jenen empiristischen Erklärungen noch als relativ und unzureichend ge- genüber der eigentlichen Schönheit abgegrenzt, deren ‹Ideal› er vor allem über den Maßstab der Sittlichkeit auszuzeichnen versuchte. In der Normalidee erkennen wir ihm zufolge bloß die Richtigkeit in Darstellung der Gattung. […] Sie kann ebendarum auch nichts Spezifisch-Charakteristisches enthalten; denn sonst wäre sie nicht Normalidee für die Gattung. Ihre Darstellung gefällt auch nicht durch Schönheit, sondern bloß weil sie keiner Bedingung, unter welcher allein ein Ding dieser Gattung schön sein kann, widerspricht. Die Darstellung ist bloß schulgerecht.10 Während die konkret existierende Individualität in dieser Ästhetik einen eigenen Stellenwert im Zusammenspiel mit dem Allgemeinen behält, wird sie für Galton insignifikant: Ihm gelten die einzelnen Gesichter als unwesentlich, sie sind bloß Material zur Darstellung der Gattung. Nur dort, wo sich viele ähnliche Linien tref- fen, ergibt sich eine bedeutsame Kontur. Alle anderen Einzelheiten verblassen zu einem «blur»11. In dieser Verwischung der «irregularities» sieht Galton einen Vorteil des fotografischen Prozesses. Am besten wäre es dieser Logik zufolge, wenn gar kein «blur» entstände, sondern nur die (real nicht existierenden) Durchschnittslinien übrig blieben. Das allerdings ist mit dieser Technik kaum zu bewerkstelligen.12 8 Alle Zitate. Ebd., S. 169f. 9 Man muss Galton zugute halten, dass er sein Vorhaben bis in die absolute Ironie zu treiben ver- mochte, in welcher Ernst und Aberwitz ununterscheidbar werden. So versuchte er tatsächlich, mit Hilfe eines Komposits antiker Portrait-Münzen (!) Kleopatras Schönheit zu verifizieren und kam zu dem Ergebnis: «[I]n fact, her features are not only plain, but to an ordinary English taste are simply hideous.» Karl Pearson: The Life, Letters and Labours of Francis Galton. Bd. 2: Researches of Middle Life. London 1924, S. 295. Ebenso zeugen die Bilder auf Tafel XL hiervon. 10 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1992, S. 152f. 11 Vgl. Galton 1879b, S. 169. 12 Ironischerweise berief sich zur gleichen Zeit ein anderer Ansatz der damaligen Fotografie, der Pik- torialismus, wiederum auf die Unschärfe (die allerdings hauptsächlich durch Weichzeichnung und verschobene Fokussierung entstand), um in der Fotografie doch wieder eine mehr als bloß schulge- rechte Form von Schönheit zu erlangen. 87 Schönheit (v)errechnen III. Blickwechsel: Ist Schönheit errechenbar? Während die fotografische Komposittechnik im Laufe der Zeit eher eine Angelegen- heit der Kunstfotografie wurde, erlebte die Gesichtsbildsynthese zu wissenschaftli- chen Zwecken ungefähr 100 Jahre nach Galton eine neue Blüte. Jetzt steht Galtons Randbemerkung, die «averaged faces» seien merklich schöner als die in sie ein- gegangenen Einzelbilder, unter dem Stichwort «facial attractiveness» entschieden im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Dieses erneute Interesse geht mit einer gesteigerten Sensibilität für die Rolle der Attraktivität im sozialen und kulturellen Geschehen einher, ebenso aber auch mit der Verbreitung der neuen Möglichkeiten zur Bildverarbeitung und zur Publikation der Ergebnisse. Die Abläufe differenzieren sich infolge der digitalen Technik weiter. Was Gal- ton noch mit recht willkürlichen Festlegungen zur Größe und Belichtungsdauer zu mathematisieren versuchte, ansonsten aber der Physik und Chemie überlassen musste, wird nun zu einem tatsächlich rechnerischen, informatischen Prinzip, los- gelöst von der sichtbaren Gestalt. Das Grundprinzip besteht dabei in der Ersetzung der Bilder selbst durch eine quantitative Beschreibung. Die einzelnen fotografierten Gesichter werden mit hunderten von Referenzpunkten versehen, deren Lagedaten die Grundlage für weitere Be- rechnungen liefern. Als entscheidende tech- nische Änderung ist also die Tatsache anzusehen, dass der Synthesevorgang selbst nicht mehr optisch verläuft. Er muss zwar nach wie vor in eine op- tische Wiedergabe münden, da nur diese dem mensch- lichen Urteil zugänglich ist. Dies geschieht aber erst nach der Prozessierung der Daten, für die der Computer auf kein spezifisches Ausgabemedium angewiesen ist. Von diesem Zwiespalt wird letztlich das fotografische Modell in der Erkenntnistheorie zerrissen. An die Stelle der dunklen Kammer, in der die Bilder ent- stehen und die sich so schön Abb. 2: Gemorphtes Kompositbild aus acht Einzelbildern unter dem Label «Virtuelle Schönheit»; mit Erklärungen zur experi- mit dem Inneren unseres mentellen Verwendung zu finden unter: URL http://www.beau- (hohlen?) Kopfes vergleichen tycheck.de/cmsms/index.php/virtuelle-schoenheit Schönheit (v)errechnen 88 lässt, tritt nun ein grundlegend unanschauliches Verfahren: die Gleichungsbildung im n-dimensionalen Raum der Vermessungspunkte. Das Verfahren generiert in erster Linie, so wie gehabt, ein Durchschnittbild, je- doch eines, das keinerlei «blur» mehr in Kauf nehmen muss, wie in Abbildung 2 gut zu erkennen ist. Das Bild ist jetzt – anscheinend – so klar und deutlich wie die Daten. Darüber hinaus entsteht durch diese Verknüpfung eine neue Freiheit in der Manipulation ihrer Elemente und Parameter. So lassen sich im Rekurs auf das gewonnene Durchschnittsbild nun z. B. einzelne Gesichtspartien separat bearbei- ten sowie gezielte karikaturistische Effekte erzielen.13 Noch zu Beginn der 1990er Jahre hatten die generierten Bilder zwar die leicht gespenstische Anmutung der Galtonschen Fotografien, die üblichen technischen Verbesserungen haben mittler- weile aber zu einer eigenständigen Ästhetik geführt, die auf ganz verschiedene Ei- genschaften wie zum Beispiel die Farbe, die Auflösung oder auch die Hautstruktur Einfluss nehmen kann.14 Infolge dieser Optionalisierung wird auch der Effekt der Unschärfe und Glättung, der bei Galton als «blur» infolge der Überlagerung unwei- gerlich eintrat, als eigenständiger, manipulierbarer Faktor in der Beurteilung der ‹komponierten› Gesichter diskutiert.15 IV. Vergleich Angesichts der zeitlichen Distanz und der technischen Entwicklung, die zwischen Galtons Studien und denen von heute liegen, lohnt sich ein etwas genaueres Hinse- hen auf die unterscheidenden wie auch auf die verbindenden Aspekte beider Ansätze. Dies soll den Blick dafür schärfen, dass es sich weder um zwei völlig entkoppelte dis- kursive Ereignisse handelt noch dass hier eine klare Genealogie auszumachen wäre. Es handelt sich vielmehr um zwei Konstellationen aus verschiedenen Elementen, von denen einige gleich geblieben sind, andere sich aber grundlegend geändert haben. Zu den veränderten Elementen zählt der Realitätsstatus, der den Bildern auf- grund ihrer technischen Bedingtheit zugesprochen wird. Die Relativierung des fo- tografischen Anteils in der digitalen Technik führt zu einer bewussteren Haltung gegenüber der Fiktionalität dessen, womit wir es zu tun haben. Auch bei Galton war das streng genommen nicht von der Hand zu weisen, und doch konnte er sich stärker auf die gerade nicht durch Rationalisierung und Abstraktion entstandene 13 Vgl. zur Generierung und Bearbeitung solcher Karikaturen C. Frowd et al.: An application of caricature: how to improve the recognition of facial composites. Online: https://dspace.stir.ac.uk/ dspace/bitstream/1893/295/1/caricature_VC_final.pdf [Stand: 20.12.2010] oder D. A. Rowland et al.: Transforming Facial Images in 2 and 3-D. Online: http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/ summary?doi=10.1.1.106.3380 [Cached Version, Stand: 20.12.2010] 14 Vgl. A. J. Rubenstein et al.: What Makes a Face Attractive and Why: The Role of Averageness in Defining Facial Beauty. In: G. Rhodes, L. A. Zebrowitz (Hg.): Facial attractiveness: evolutionary, cog- nitive, and social perspectives. Westport 2002. S. 1–33, zit. S. 9f, oder auch die Beschreibung der Syn- theseverfahren auf: http://www.beautycheck.de/cmsms/index.php/morphen-der-gesichter. [Stand: 20.12.2010] 15 Vgl. Rubenstein et al., S. 9, 12. 89 Schönheit (v)errechnen Genese seiner Bilder berufen. Seine fotografischen Synthesebilder ließen sich leich- ter als passive Abbilder verstehen, d. h. als mit der Realität verbundene und damit auch für die Deutung der Realität verbindliche Repräsentationen, als diejenigen, über deren Entstehung aus einem numerischen, frei manipulierbaren Datenraum wir uns im Klaren sind. Darüber hinaus sorgen die digitale Technik und ihre Einbettung in veränder- te wissenschaftliche und ökonomische Verhältnisse für eine neue Quantität und Streuung der Forschung. Es ist nicht mehr länger der einzelne Gelehrte, der die Auswahl trifft und dabei methodische oder ästhetische Urteile fällt. Inzwischen sind eine Fülle von Institutionen und Privatpersonen an der Entstehung der Ergebnisse und der kritischen Diskussion beteiligt. Die Attraktivität der verwendeten Gesichter wird dabei ebenso von Probandengruppen beurteilt wie die der entstehenden Kom- positbilder. Das sorgt für eine Liberalisierung und Demokratisierung des Erkennt- nisprozesses bis hin zu interaktiven Dialogstrukturen.16 Auf den ideologischen Hintergrund hin betrachtet, scheint sich seit Galtons Zeit ebenfalls einiges geändert zu haben: Von Eugenik ist heutzutage kaum noch die Rede (bzw. erst allmählich wieder). Mit Ausgrenzung und Kontrolle, so wie sie sich in Kliniken und Gefängnissen manifestiert, möchte man explizit auch nicht allzu viel zu tun haben. Die Zielstellungen und Imperative haben sich offensichtlich geän- dert. Im Mittelpunkt steht lediglich die Frage nach der Attraktivität, ein im Grunde eher positives, harmloses Thema. Denn egal ob mehr oder weniger attraktiv – wir alle befinden uns auf dieser Skala, niemand ist mit ihrer Hilfe ausschließbar. Aber ist das so? Gleichen die Veränderungen klaren Brüchen oder eher Verschie- bungen? Ein Indiz für die Solidität des diskursiven Rahmens liegt in dem Begriff ‹Attraktivität›, der anstelle von Schönheit gehandhabt wird. Dieser Punkt gehört zu den zentralsten der gesamten Thematik. Er entspricht sowohl dem Drang zur Quantifizierung, die den empirischen Wissenschaften ihre Überprüfbarkeit ermög- licht, als auch dem biologistisch-evolutionistischen Denken, das sich zu Galtons Zeit noch viel unverblümter artikulieren konnte. Die obskure ‹Schönheit› ist dem- entsprechend unerheblich, was zählt, ist die dem Erfolg (und) der Fortpflanzung dienliche Anziehungskraft auf das andere Geschlecht, eben die Attraktivität. Sie lässt sich messen, sei es in Form von Paarungshäufigkeit, Gehaltsschecks oder ‹Ge- fällt mir/nicht›-Bewertungsskalen. Auf der Suche nach Schönheit im Sinne dieser Operationalisierung stießen sowohl Galton als auch die Forscher der letzten De- kaden auf die Wirkung des synthetischen Durchschnittsgesichts. Die These lautet dann – konträr zu derjenigen Kants – in ihrer am weitesten getriebenen Form: (Op- 16 Vgl. z. B. das künstlerisch ambitionierte Projekt unter http://www.faceoftomorrow.com/home. asp, [Stand: 20.12.2010] bei dem weltweit die Passanten in einzelnen Städten jeweils zum «face of London, New York, Paris» etc. verschmolzen werden; oder http://www.faceresearch.org/ [Stand: 20.12.2010], eine Seite, die es den Besuchern ermöglicht, «to participate in short online psychology experiments looking at the traits people find attractive in faces and voices.» Gleich auf der Startseite erfolgt die Einladung: «Make your own average faces with our interactive demos!» Schönheit (v)errechnen 90 tische) Durchschnittlichkeit ist das einzige Kriterium, das gleichzeitig notwendig und hinreichend für die Beurteilung von Attraktivität ist.17 Beide Ansätze handeln sich dabei anscheinend einen Widerspruch ein: Wäh- rend Schönheit als positive Besonderheit gilt und sich förderlich in der sexuellen Selektion auswirken müsste, ist von der Durchschnittlichkeit des Kompositbildes eher anzunehmen, dass sie der «regression towards mediocrity» entspricht, die den Begriff der allgemeinen ‹Masse› der Bevölkerung prägt, als dass sie eine «beautiful regularity» darstellt, wie Galton aufgrund der Regelmäßigkeit ihrer Verteilungskur- ve urteilen zu können glaubte.18 Auch in der psychologischen Forschung gibt es wi- derstreitende Ergebnisse hinsichtlich der Frage, ob nicht doch Einzelbilder attrak- tiver seien als das auf ihnen aufbauende Komposit.19 Als ein Vorschlag zur Klärung dieser Unstimmigkeit sei lediglich das Argument der physischen und genetischen Gesundheit erwähnt, demzufolge Unauffälligkeit der Gesichtszüge und Körper- proportionen für das Fehlen von Krankheiten steht, welche sich unter anderem in Asymmetrien und tendenziell nicht-glattem Hautbild manifestieren können. Wie man dieser Komplexität auch gerecht zu werden gedenkt, unabhängig da- von wird erkennbar: Ein verbindendes Element beider Ansätze liegt nicht nur in ihren darwinistischen Bezugnahmen, sondern ebenso in der statistisch untermau- erten Vorstellung von Normalität, von der aus Abweichungen definiert werden und die dabei stets Gefahr läuft, in Normativität umzuschlagen. Das tut sie bereits al- lein dadurch, dass sie einen Vergleichswert schafft, der Abweichungen beschreibbar, messbar, erfassbar macht. Auch das synthetische Portrait, insbesondere das compu- tergenerierte, folgt elementar solcher Diskriminierungslogik. Dass die Logik sich als deskriptiv und ‹cold-blooded› verstehen kann, geht vortrefflich mit der oben bereits angesprochenen bildspezifischen Dimension der Technik zusammen. Verstärkt wird die Normalität nämlich generell durch ihren Rückgriff auf vermeintlich unbestechliche Apparaturen, seien es diejenigen der fotografisch-indexikalischen Realitätsspuren oder die der mathematisch-intransi- genten Kalkulation. In beiden Fällen zieht sich der Mensch als beurteilende Instanz zurück und kommt nur vor oder nach dem eigentlichen Syntheseprozess ins Spiel. 17 Siehe A. J. Rubenstein et al., S. 21. 18 Vgl. dazu Francis Galton: Regression towards mediocrity in hereditary stature. In: Journal of the Anthropological Institute 15 (1886). S. 246–263 , zit. S.249, sowie oben, Fußnote 3. 19 Siehe den Vergleich der Einzelgesichter zu den Komposits in M. R. Cunningham et al.: Dimensions of Facial Physical Attractiveness: The Intersection of Biology and Culture. In: G. Rhodes, L. A. Zebrowitz (Hg.): Facial attractiveness: evolutionary, cognitive, and social perspectives. Westport 2002. S. 193–237. zit. S. 216ff, wo unter anderem gefragt wird, warum die average-Gesichter «not strikingly gorgeous or handsome» wirken. Eine ähnliche Beobachtung machen L. A. Zebrowitz und G. Rhodes: Nature Let a Hundred Flowers Bloom: The Multiple Ways and Wherefores of Attractiveness. In: G. Rhodes, L. A. Zebrowitz (Hg.): Facial attractiveness: evolutionary, cognitive, and social perspectives. Westport 2002. S. 261–293. zit. S. 282: «Average faces are more attractive than nonaverage face, but they are not neces- sarily beautiful.» Entschiedener äußern sich schließich D. I. Perrett et. al: Facial shape and judgments of female attractiveness. In: Nature 368 (1994). S. 239–242, zit. S. 241, die zu bedenken geben, «that highly attractive faces are systematically different in shape from average». 91 Schönheit (v)errechnen Solche Aufteilung setzt das technische Geschehen ins Zentrum und täuscht leicht darüber hinweg, dass alle Aussagen zu Schönheit bzw. Attraktivität nur von den an der Peripherie angeschlossenen Menschen gefällt werden – trotz ihrer anscheinen- den Randstellung. Was immer man als ‹objektiv› verstehen will, es kommt nur im Wechselspiel mit dieser ‹außen stehenden› Subjektivität zustande. Aus der Bildproblematik heraus ergibt sich eine weitere auffällige Gemeinsam- keit: Sowohl Galton als auch die meisten psychologischen Untersuchungen in diese Richtung konzentrieren sich auf das Gesicht (wobei einzuräumen ist, dass gelegent- lich auch Ganzkörper-Komposits angefertigt werden). Diese Reduktion ist viel- leicht ökonomisch nachvollziehbar, gerade vor dem gemeinsamen darwinistischen Hintergrund aber theoretisch unzureichend. Denn bei der Partnersuche zählt der ganze Körper mit seinen Dimorphismen und Ornamenten, seinen Gerüchen und Bewegungen, schließlich aber auch verschiedenste über den Körper hinausgehende Einflussgrößen wie z. B. die soziale Stellung oder der Zeitgeist. All das lässt sich kaum in eine Messung und Rechnung einbeziehen. Da aber Schönheit messbar und errechenbar sein soll, muss es hier zu Konflikten kommen. Insgesamt betrachtet, scheinen die Konstanten zwischen Galtons Forschungen und denen unserer Zeit also dominanter zu sein als die zwischen ihnen erfolgen- den Wechsel – eine sowohl in adaptiver als auch in kritischer Literatur zu diesem Thema durchaus häufiger anzutreffende Einschätzung.20 Doch selbst wenn es sich um eine komplette Wiederholung desselben Projektes handeln sollte, so sorgt doch allein die Tatsache, dass es eine Wiederholung ist, für Unterschiede in der kulturel- len Wirkung. Das Umfeld ist nicht gleich geblieben. Wenn heute über Präimplan- tationsdiagnostik debattiert oder über europaweite BMI-Wert-Rankings diskutiert wird, dann wirft der aus der Blütezeit der Eugenik stammende «pictorial average»21 aufs Neue ganz eigene, ganz anregende Fragen zum Verhältnis von Vermessung, Normalität – und Bild auf. V. Ideologische Effekte des Statistikapparates So neutral sich die bildgebenden Methoden in ihrer Berufung auf naturwissen- schaftliche, statistische und mathematische Methoden auch geben mögen, sie ent- gehen doch nicht einigen konzeptuellen Übertragungen, die zwischen ihnen ab- laufen und ihre Unbestechlichkeit unterminieren. Bereits Quetelet assoziierte recht unverblümt – und ohne bildliche Illustration – den statistischen Mittelwert mit 20 Während die adaptive Schiene sich ohne Umschweife in der möglichst ‹neutralen›, ‹deskriptiven› For- schung manifestiert, finden sich auf Seiten der kritischen Stimmen differente Akzente, so z. B. bei Vicki Bruce und Andy Young (In the Eye of the Beholder. The Science of Face Perception. Oxford, New York, Tokyo 1998), die Galtons Projekt direkt seiner psychologischen Wiederaufnahme durch Judith Langlois und Lori Roggman gegenüberstellen, während George Hersey (Ideal und Tyrannei des per- fekten Körpers. Berlin 1998) zum Feminismus überleitet und Winfried Menninghaus (Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt a. M. 2003) den großen Bogen zu Darwin, Kant und sogar Ovid schlägt. 21 Francis Galton: Composite Portraiture. In: Photographic Journal 5 (1881). S. 140–146, zit. S. 144. Schönheit (v)errechnen 92 ethischen und ästhetischen Wertungen. Allan Sekula weist auf die «extraordinary metaphoric conflation of individual difference with mathematical error»22 hin, die sich in Quetelets Beschreibung des Mittelwerts als sozialer Norm vollzieht. In An- lehnung an das stochastische Konzept der Normalverteilung erkennt Quetelet auch in statistischen Erhebungen ein «centre de gravité»23, dem er den Duchschnitts- menschen als «le type de tout ce qui est beau, de tout ce qui est bien»24 zuordnet. Wenngleich fiktiv, so übt doch dieser Mittelwert eine anziehende Kraft aus, (so wie etymologisch auch die ‹Attraktivität›), da er ein Maß gibt, an dem bereits alle Ver- messenen als Inputgeber beteiligt sind. Aber wie ist es um die Realität dieses Durchschnittswertes eigentlich bestellt? War er nicht eine Fiktion? Wir begegnen hier einem der häufigsten Kurzschlüsse in der oberflächlichen Handhabung verschiedener Mittelwerte der Statistik: Das arithmetische Mittel muss in keiner Weise real sein, es bildet nur einen rechneri- schen Wert ab, der sich auf der Basis bestimmter Daten ergibt. Leicht kommt aber eine Verwechslung bzw. Verschmelzung, eine «metaphoric conflation» bzw. eine Überblendung mit dem Modus zustande. Dieser markiert die größte Häufigkeit eines tatsächlichen Wertes innerhalb einer Verteilung. Eine Verteilung kann ent- sprechend mehrere Modi aufweisen. Was geschieht nun, wenn den Maßen mit Hilfe synthetischer Bilder ein Ausse- hen verliehen wird? Sekulas metaphorische Verschmelzung läuft dann so ab: Er- rechnet wird ein arithmetisches Mittel. Dafür ist es nicht nötig, dass auch nur eines der Gesichter diese Werte tatsächlich besitzt. Das dazugehörige Label «average» aber suggeriert nur zu leicht, dass es sich hierbei um einen Modus mit realen Ver- teilungen handelt. Die Vermutung stellt sich ein, dass die meisten Gesichter mehr oder weniger so aussehen. Je größer die Abweichung wird, desto unattraktiver wirke demzufolge das Gesicht, aber auch: desto seltener tauche es auf, desto mehr gehöre es dem ‹Rand›, dem Unerheblichen und Irregulären zu. Dabei ist gerade in Fragen der «facial attractiveness» unübersehbar, dass die Messwerte ausgesprochen variabel verteilt sind bzw. dass – rundheraus gesagt – jeder Mensch eigen aussieht. Das ent- spricht dem Alltagsverständnis: Um für Schönheit zu sorgen, muss ein Messpunkt (bzw. Gesichtszug) keineswegs im arithmetischen Zentrum der Gesamtmenge lie- gen. Es handelt sich faktisch um eine extrem multimodale Verteilung. Es existiert keine eindeutige Häufigkeitsspitze, kein solches Zentrum, von dem aus der Rand als Rand und als Abweichung zu verstehen wäre. Entsprechend hätte es gar keinen Sinn, hier einen Modus in Betracht zu ziehen. 22 Allan Sekula: The Body and the Archive. In: October 39 (1986). S. 3–64, zit. S. 22. Vgl. Galton 1879b, S. 166: «The blur of their outlines […] measures the tendency of individuals to deviate from the central type.» 23 Quetelet, S. 46 (I/149). 24 Ebd., S. 582 (V/391); übers.: «der Typus alles Schönen und alles Guten.» 93 Schönheit (v)errechnen Unterschiedlich stark sind die Stimmen, die dennoch gerade dem arithmetischen Zentrum eine bevorzugte Stellung in der Attraktivitätsbewertung einräumen.25 Un- abhängig davon, auf welche Seite man sich in dieser Diskussion schlagen möch- te, sorgt die Möglichkeit, dieses Zentrum visuell zu realisieren, für eine ganz neue Qualität im metaphorischen Hin und Her. Wir haben es dann nicht nur mit einer Umwertung des Durchschnitts vom Mediokren zum Attraktiven zu tun, sondern plötzlich auch mit der Illusion einer Existenz, die sich – wie schon bei Galton – in Erinnerung an die fotografischen Ausgangsbilder auf die tatsächliche Existenz der verrechneten Einzelportraits berufen kann. Es entsteht – und jetzt spreche ich selbst metaphorisch – ein neuer «blur» zwischen Realität und Projektion. Dieser hat gar nichts damit zu tun, dass man weiß, dass es sich nur um eine Fiktion handelt. Denn auch mit diesem Wissen kommt man kaum um die Annahme umhin, dass sich die meisten Gesichter – die ‹Allerweltsgesichter›?26 –, wenn schon nicht direkt im sugge- rierten Zentrum, so doch zumindest ringsherum in dessen Nähe befinden. Im Ge- gensatz zur ideal-individuellen Schönheit, die aus der ‹Masse› heraus sticht, wecken die Kompositbilder den Anschein, immer in Reichweite zu sein, d. h. einer realen Häufigkeit zu korrespondieren. Der Glaube an die Mitte ist im Konzept des Durch- schnitts zu stark verankert, als dass sie zu weit von uns entfernt sein könnte. Was wir beim klassischen Ideal als Ausnahme bewundern, auf sich und in sich beruhen lassen können, tritt uns beim «average» auf einmal überraschend nahe. Und ebenso nahe tritt uns dann vielleicht auch die Vergleichsfrage: Bin ich selbst so attraktiv? Oder eher: Bin ich unattraktiv? Die Häufigkeitssuggestion des Average-Bildes sorgt bei der Beantwortung der Frage für eine neue Stress-Qualität. Grundsätzlich hat dabei der Gedanke einige Überzeugungskraft, das Streben nach Schönheit sei nur das Negativbild des Vermeidens von Hässlichkeit (und ihrer evolutionären Nachteile). In diesem Sinn ist die primäre Differenz weniger zwischen den Eigen- schaften schön und normal zu suchen als vielmehr zwischen normal und hässlich.27 So wie Quetelet es andachte und Galton vorführte, dient die Konsolidierung des normalisierenden Durchschnitts vor allem dazu, die negativen Abweichungen zu markieren und gegebenenfalls auszugrenzen. Für diejenigen, die in diesen Ausgren- zungsprozess hineingeraten, gilt es, sich zur stabilen Mitte hin zu orientieren, um nicht geächtet zu werden. Im Hinblick auf körperliche Attraktivität ist das Streben nach Schönheit also primär als eine «avoidance of ugliness»28 zu verstehen. Stellt man sich – metaphorisch – für die statistische Verteilung der einzelnen At- traktivitätswerte eine Kreisfläche vor, so entspräche ‹Hässlichkeit› der äußeren Um- 25 Vgl. o. Fußnoten 17, 19. 26 In diesem Sinn sehen sich auch Rubenstein et al., S. 11, zu einer Differenzierung veranlasst: «It is important to be clear about what we mean by an ‹average› face. A mathematically averaged face is not an average or common face. It is not average in facial attractiveness.» 27 Menninghaus, S. 245. 28 K. Grammer et al.: Female Faces and Bodies: N-Dimensional Feature Space and Attractiveness. In: G. Rhodes, L. A. Zebrowitz (Hg.): Facial attractiveness: evolutionary, cognitive, and social perspectives. Westport 2002. S. 91–125, zit. S. 101, 117. Schönheit (v)errechnen 94 fanglinie; ‹avoidance› wäre durch einen auf die Mitte gerichteten Pfeil darstellbar. Schönheit, so ließe sich vermuten, befände sich irgendwo im Bereich der Mitte, am ehesten als eine unregelmäßige Verteilung einzelner Punkte. Mit der Etablierung eines Durchschnittgesichts passiert Folgendes: Die Mitte ist nicht länger auf einen einzelnen (Flucht)Punkt reduziert, der hin und wieder als schönes Individuum auf- blitzt, sondern sie beginnt sich auszudehnen. Der Grund dafür liegt wie beschrieben in der Annahme, der Durchschnitt hätte mit dem Modus zu tun, «resembling many faces»29, die meisten Leute befänden sich also in der Nähe des Zentrums, d. h. sähen dem Kompositbild ähnlich und wären mehr oder weniger attraktiv. Wenn nun bei einem direkten optischen Abgleich die Frage ‹Bin ich selbst so attraktiv?› negativ beantwortet wird, dann findet man sich unversehens in einem stetig kleiner wer- denden Bereich wieder: zwischen der von außen drohenden Hässlichkeit und der von innen nach außen wachsenden Normal-Attraktivität. Insofern übt diese harm- lose Durchschnittsbildung einen nicht zu unterschätzenden Druck aus, der zwar kaum so greifbar und augenscheinlich ist wie der übliche Rückgriff auf reale Mo- dels, aber in seiner vordergründigen Harmlosigkeit viel subtiler wirkt.30 Allan Seku- las Beschreibung der sozial-hierarchischen Funktionen der Fotografie: «The private moment of sentimental individuation […] was shadowed by two other more public looks: a look up, at one’s ‹betters›, and a look down, at one’s ‹inferiors›»31, lässt sich entsprechend übertragen: Im Falle der Attraktivitätsforschung mit Hilfe syntheti- scher Portraits kommt es zu einem analogen Blickwechsel, nur diesmal nicht nach oben und unten, sondern zur (attraktiven) Mitte und zum (hässlichen) Rand hin. Aus dem Stress des sich verkleinernden Zwischenbereichs zwischen beiden schlägt dann die Schönheitsindustrie – ganz unmetaphorisch – Kapital, umso stärker, je mehr ihr eine erfolgsorientierte, darwinistisch-liberalistische Gesellschaftstheorie das Feld bereitet. Diese Verbindung zum ökonomischen Denken zeigt sich ausge- rechnet dann ganz unverstellt, wenn eigentlich Partei für die Vieldimensionalität der Attraktivität ergriffen wird – die trotzdem längst zur Währung geworden ist: «It appears that there is no ‹gold standard› of attractiveness, but rather a variety of interchangeable currencies.»32 29 Ebd., S. 97. 30 Die Normierung von Modelmaßen entspricht diesem Druck und kann gerade in Anbetracht ihrer massenmedialen Verbreitung als die weitaus etabliertere Variante dieses Vorgangs gelten. Im Gegen- satz dazu werden Kompositbilder sehr begrenzt eher in wissenschaftlichen Kreisen rezipiert. Das statistische Missverständnis der Häufigkeitssuggestion bei real gar nicht vorhandener Häufigkeit ist aber gleich; vgl. dazu auch die Überlegungen zum Begriffspaar «Virtualität» – «Wirklichkeit» auf http://www.beautycheck.de/cmsms/index.php/virtuelle-schoenheit. [Stand: 20.12.2010] 31 Sekula, S. 10. 32 Zebrowitz/Rhodes, S. 268. 95 Schönheit (v)errechnen VI. Fazit Wer glaubt, Schönheit errechnen zu können, hat sie und sich verrechnet. Oder auch: Die Vermessung der Schönheit ist vermessen. Folgerichtig sprechen die meisten psychologischen Studien nur von Attraktivität als dem Objekt ihrer theoretischen Begierde. Und in der Tat ist Attraktivität nicht gleichbedeutend mit Schönheit. Doch selbst Attraktivität ist mehr als nur ein Durchschnittswert. Es sei denn, man stutzt sie rigoros auf ganz spezielle Dimensionen zurecht, um sie operationalisieren zu können. Selbst wenn man Schönheit darwinistisch auf Attraktivität herunter- bricht, rückt also die Beantwortung der Frage, was sie ‹eigentlich› sei, schnell in weite Ferne. Es ist lehrreich, diese recht banale Erkenntnis nach dem Durchgang durch eine schillernde Vielfalt von wissenschaftlichen Vorhaben und den ihnen zu Gebote stehenden Bildtechniken wiederzugewinnen. Allein schon die Reduktion und Restriktion auf das Bild macht sich hier als zwar kaum zu umgehende, aber letztlich doch entscheidende Hürde bemerkbar. Das Bild destabilisiert die Funda- mente ‹objektiver› Erkenntnis, da es selbst bereits zwischen Individualität und Ab- straktion, zwischen Realität und Fiktion, Evidenz und Vermittlung changiert. Da die Beurteilung von Schönheit aber auf bildliche Repräsentationen angewiesen ist (außer es gelänge, ein reales Forschungsobjekt überall und jederzeit verfügbar zu machen), wird sie sich von dessen «blurs» nie befreien können. Eine weitere kleine, etwas unscharfe methodologische Übertragung sei als Ab- schluss dieser Ausführungen gestattet: Die Untersuchung der Komposittechnik macht erkennbar, dass sie selbst eine Überlagerung ist, als «Compounding» ver- schiedener Diskurse stattfindet. Es gilt daher, eine ganze Reihe verschiedener An- haltspunkte zu betrachten, statt eine einsträngige Geschichte zu erzählen. So wie es nicht die eine perfekte Schönheit gibt, erst recht nicht die eine perfekte Erklärung dazu, so gibt es auch kein Ideal der wissenschaftlichen Aufarbeitung: «If all our women were to become as beautiful as the Venus de’ Medici, we should for a time be charmed; but we should soon wish for variety.»33 Literatur Vicki Bruce, Andy Young: In the Eye of the Beholder. The Science of Face Perception. Oxford, New York, Tokyo 1998. M. R. Cunningham et al.: Dimensions of Facial Physical Attractiveness: The Intersection of Biolo- gy and Culture. In: G. Rhodes, L. A. Zebrowitz (Hg.): Facial attractiveness: evolutionary, cogni- tive, and social perspectives. Westport 2002. S. 193–237. Charles Darwin: The Works of Charles Darwin. Hg. v. Barrett, P. H.; Freeman, R. B. Bd. 22: The descent of man, and selection in relation to sex, P. II. London 1989. C. Frowd et al.: An application of caricature: how to improve the recognition of facial composites. On- line: https://dspace.stir.ac.uk/dspace/bitstream/1893/295/1/caricature_VC_final.pdf (Stand: 20.12.2010). 33 Charles Darwin: The Works of Charles Darwin. Hg. v. Barrett, P. H.; Freeman, R. B. Bd. 22: The descent of man, and selection in relation to sex, P. II. London 1989, zit. S. 608. Schönheit (v)errechnen 96 Francis Galton: Composite portraits. Made by combining those of many different persons into a single resultant figure. In: Journal of the Anthropological Institute 8 (1879a). S. 132–148. Francis Galton: Generic Images. In: Proceedings of the Royal Institution 9 (1879b). S. 161–170. Francis Galton: Composite Portraiture. In: Photographic Journal 5 (1881). S. 140–146. Francis Galton: Inquiries into Human Faculty and its Development. London 1883. Francis Galton: Regression towards mediocrity in hereditary stature. In: Journal of the Anthropolo- gical Institute 15 (1886). S. 246–263. Francis Galton: Memories of my Life. London 1908. K. Grammer et al.: Female Faces and Bodies: N-Dimensional Feature Space and Attractiveness. In: G. Rhodes, L. A. Zebrowitz (Hg.): Facial attractiveness: evolutionary, cognitive, and social perspectives. Westport 2002. S. 91–125. George L. Hersey: Verführung nach Maß. Ideal und Tyrannei des perfekten Körpers. Berlin 1998. Thomas H. Huxley: Hume. London 1878. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1992. John Locke: An essay concerning human understanding. Hg. v. P. Nidditch. Oxford 1975. Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt a. M. 2003. Karl Pearson: The Life, Letters and Labours of Francis Galton. Bd. 2: Researches of Middle Life Lon- don 1924. D. I. Perrett, K. A. May, Yoshikawa, S.: Facial shape and judgments of female attractiveness. In: Na- ture 368 (1994). S. 239–242. Adolphe Quetelet: Physique sociale ou Essai sur le développement des facultés de l’homme [1869]. Neu hg. von Éric Vilquin, Jean-Paul Sanderson. Brüssel 1997. D. A. Rowland et al.: Transforming Facial Images in 2 and 3-D. Online: http://citeseerx.ist.psu.edu/ viewdoc/summary?doi=10.1.1.106.3380 (Cached Version, Stand: 20.12.2010) A. J. Rubenstein et al.: What Makes a Face Attractive and Why: The Role of Averageness in Defining Facial Beauty. In: G. Rhodes, L. A. Zebrowitz (Hg.): Facial attractiveness: evolutionary, cognitive, and social perspectives. Westport 2002. S. 1–33. Allan Sekula: The Body and the Archive. In: October 39 (1986). S. 3–64. L. A Zebrowitz, G. Rhodes: Nature Let a Hundred Flowers Bloom: The Multiple Ways and Where- fores of Attractiveness. In: G. Rhodes, L. A. Zebrowitz (Hg.): Facial attractiveness: evolutionary, cognitive, and social perspectives. Westport 2002. S. 261–293. www.galton.org [Stand: 20.12.2010] www.galton.org [Stand: 20.12.2010] www.beautycheck.de [Stand: 20.12.2010] www.faceresearch.org [Stand: 20.12.2010] www.faceoftomorrow.com [Stand: 20.12.2010] Sven Stollfuß Inside the Mother’s Body Lennart Nilssons ‹induzierte Sichtbarkeiten› Nilsson’s images disrupt discursive boundaries between science and popular media; they slide among genres of science fiction, modernism, biological illustration, and surrealism.1 I. Prolog Wenn das Verhältnis von Wissenschafts- und Populärkultur ausgelotet werden soll, insbesondere im Zusammenhang mit Verfahren naturwissenschaftlicher/medizini- scher Bildgebung und deren populäre, massenmediale Anverwandlung, kann der schwedische Wissenschaftsfotograf und Filmemacher Lennart Nilsson als ein we- sentliches Scharnier zwischen diesen beiden Komplexitäten gelten. Im Folgenden werden seine Visualisierungen des (vornehmlich weiblichen) Körperinnen, deren Valenz in und zwischen Wissenschaft wie Öffentlichkeit signifikant ist, mit Verweis auf Überlegungen aus der Wissenschaftsforschung besprochen, um deren program- matische Funktion als visuelle Kommunikationsformen (mit spezifischer Epistemik) theoretisch deutlicher zu konturieren. Dabei gilt es, sie insbesondere hinsichtlich ih- rer Partizipation an entsprechenden «Viskursen»2 zu diskutieren, in welchen sie als «induzierte Sichtbarkeiten»3 unter der Annotation des ‹Gemachten› und ‹Manipu- lierten› verhandelbar werden. Ihr populärkultureller und auch epistemischer Status 1 Sarah S. Jain: Mysterious Delicacies and Ambiguous Agents: Lennart Nilsson in National Geogra- phic. In: Configurations 6/3 (1998). S. 373–394, zit. S. 373. 2 Karin Knorr Cetina: ‹Viskurse› der Physik. Konsensbildung und visuelle Darstellung. In: Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftli- chen und virtuellen Welten. Wien, New York 2001. S. 305–319. 3 Erna Fiorentini: Inducing Visibilities. An Attempt at Santiago Ramón y Cajal’s Aesthetic Epistemol- ogy. In: Sabine Brauckmann, Denis Thieffry (Hg.): Cultures of Seeing 3D. Special Issue of Studies in History and Philosophy of Science Part C. Amsterdam 2011a (im Druck). Siehe ferner Erna Fioren- tini: Aesthetic-Epistemic Actions: A Proposition on Slides, Drawings and the Induction of Visibil- ity. In: Ilana Löwy (Hg.): Microscopic Slides. Investigating a neglected historical resource. Preprint of Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte 415. Berlin: 2011b. S. 48–58 wie auch Erna Fioren- tini: «Placing Oneself at an Adequate Point of View». Santiago Ramón y Cajal’s Drawings and the Histological Look. In: Sabine Brauckmann, Christina Brandt, Denis Thieffry, Gerd B. Müller (Hg.): Graphing Genes, Cells, and Embryos. Cultures of Seeing 3D and Beyond . Special Issue of Preprints of the Max-Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin 380 (2009). S. 133–142. Inside the Mother’s Body 98 sowie insbesondere ihre prägende visuelle Qualität entstehen doch im Wesentlichen unter den Bedingungen selektiver, subjektiver und artifizieller Figuration. Als ‹diskursverändernde› visuelle Kommunikationsformen, wie die Wissen- schaftshistorikerin Donna Haraway sie bezeichnet4, kommt Nilssons Darstellungen vergleichbar zu, was die Wissenschaftssoziologien Karin Knorr Cetina im Rahmen der Wissenschaftsforschung am Beispiel der Physik als Elemente von «Viskursen» benennt und damit das «Zusammenspiel von visuellen Darstellungen und ihre Einbettung in einen fortlaufenden kommunikativen Diskurs»5 meint. Im Zuge der unlängst in den Kultur- und Geisteswissenschaften diskutierten Valenz von Bildern bzw. (digitalen) Visualisierungen wird davon ausgegangen, dass diese das Denken in der Postmoderne, orientiert um virtuelle Paradigmen, nachhaltig zu bestimmen scheinen.6 Sie sind nicht mehr nur nachgelagerte Komponenten eines Diskurses, sondern etablieren ihre eigene ‹Viskursivität›. Eingebunden in ein zirkuläres Sy- stem unterschiedlicher visueller Formen verweisen sie aufeinander und etablieren eine referenzielle Struktur zur «Erzeugung bildlicher Evidenz»7. Eine solche ‹refe- renzielle Ökonomie› lässt sich auch für populärkulturelle und hier konkret popu- lärwissenschaftliche Verwendungszusammenhänge erkennen, in welchen gerade den Visualisierungen Nilssons besondere Bedeutung zukommt. Sie haben eben nicht nur zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit vermitteln können, sondern sind darüber hinaus maßgeblich an der Konstituierung populärwissenschaftlicher Inszenierungsstrategien um Vorgänge im Körperinnen verantwortlich – vor al- lem dann, wenn es um die Darstellung menschlicher Embryonen/Föten sowie des menschlichen Fortpflanzungsprozesses geht. So verweisen noch aktuelle populär- wissenschaftliche Dokumentationen beispielsweise von National Geographic oder der BBC immer wieder auf Nilssons visuellen Aufbau.8 Seine Aufnahmen sind mit- hin eine nachhaltig stabile «Technik des kommunikativen Verkehrs»9, die als solche, eingebunden in eine referenzielle Ökonomie, ‹viskursive› Qualitäten aufweisen. 4 Donna Haraway: Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft. Hamburg 1995, S. 62f. sowie S. 195, FN 45. 5 Knorr Cetina, S. 307. 6 Siehe hierzu maßgeblich William J. T. Mitchell: Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Represen- tation. Chicago 1994. 7 Hans-Jörg Rheinberger: Objekt und Repräsentation. In: Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten. Wien, New York 2001. S. 55–61, zit. S. 57. 8 Vgl. hierzu exemplarisch jüngst In the Womb (National Geographic, 2005) oder Fight for Life (BBC, 2007). 9 Hans J. Wulff: Die Wetterkarte im Fernsehen. Strategien visueller Kommunikation. In: Peter Drex- ler, Judith Klinger (Hg.): Bilderwelten. Strategien der Visualisierung in Wissenschaft und Kunst. Trier 2006. S. 263–277, zit. S. 263 (Herv. i.O.). Siehe hierzu auch Uwe Pörksen: Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype. Stuttgart 1997. 99 Inside the Mother’s Body A. Zum Konzept der ‹induzierten Sichtbarkeit› Wenn hinsichtlich Nilssons Darstellungen im Weiteren von ‹induzierten Sichtbar- keiten› gesprochen wird, dann sei auf das Konzept der Kunsthistorikerin Erna Fio- rentini verwiesen, die in ihren wissenschaftshistorischen Studien eine «induction of visibility» in den mikroskopischen Darstellungen des spanischen Mediziners Sant- iago Ramón y Cajal (1852–1934) herausarbeitet, die sie fernerhin vor dem Hinter- grund einer «aesthetic epistemology» verstanden wissen will.10 Um beispielsweise die dreidimensionalen Strukturen eines Präparates des zerebralen Kortex sichtbar zu machen, experimentierte Cajal mit den Möglichkeiten mikroskopischer Bild- gebung und entwickelte eine eigene Methodologie, zu welcher Fiorentini wie folgt konstatiert: Combining not only different ways to observe, but also manifold routes to render objects and observation visible, Cajal’s methodology was an escalation of the me- thods used by early and contemporary microscopists in order to guarantee the cer- tainty of their observations, such as the use of different microscopes for the same observation. So, although embedded in a broader state of mind about visualization, Cajal’s methodology displayed its own, peculiar features. The most important was the combination and tight intertwinement of two main strategies, namely selectivity and assemblage.11 Was Cajals Bildmanipulationen ausmacht, ist die Kultivierung von Manipulations- prozessen am visuellen Material, um so konkrete Strukturverhältnisse deutlich zu machen, die sich in den zu untersuchenden Objekten hervorheben lassen – unter einem experimentellen Zugang mit Bildgebungstechniken und dem Bewusstsein um eine subjektiv geprägte Herangehensweise, die vor dem Hintergrund eines sinnlich-ästhetischen Empfindens umgesetzt wird. Unterschiedliche Sichtbarkeiten mikroskopierter Objekte (vornehmlich in Zeichnungen)12 wurden von ihm zu ‹ein- zigartigen› Bild-Montagen zusammengefügt. Sein Bestreben etwas Unsichtbares sichtbar zu machen, verschränkt sich in seiner Methode sowohl mit Bemühungen um die Optimierung wissenschaftlicher Wahrnehmung, wie auch um die konzep- tuelle Verankerung einer Logik der Sichtbarmachung, die seinen determinierten Parametern und Regelsystemen folgt. Im Gefüge einer «selectivity and assemblage» entstanden somit konstruierte Bildsphären, die ihren ästhetisch-epistemischen Status aus einem kompositorischen Prozess subjektiver Eingriffe (und keiner so genannten ‹mechanisch objektiven Abbildung›13) überhaupt erst entfalten: «Such 10 Siehe Fiorentini 2011a, Fiorentini 2011b und Fiorentini 2009. 11 Fiorentini 2011a. 12 Er arbeitete auch mit der Mikrophotographie sowie der Camera lucida, schrieb aber der Zeichnung (bzw. dem Zeichnen) eine weitaus größere Bedeutung zu. Vgl. Fiorentini 2009, S. 138. 13 Siehe hierzu den programmatischen (aber nicht unkritisch kommentierten und teilweise auch in- frage gestellten) Ansatz von Lorraine Daston, Peter Galison: The Image of Objectivity. In: Represen- tations 40 (1992). S. 81–128. Zu Ansätzen, die sich gegen eine solche ‹mechanischen Objektivität› in der wissenschaftlichen Bildgebung lesen lassen, siehe u.a. Klaus Hentschel: Spectroscopic por- Inside the Mother’s Body 100 images were so composites built up from a highly differentiated selection of partial visualizations.»14 Dass Erkenntnisprozesse im Vorgang wissenschaftlicher Bildge- bung mit ästhetischen Strategien verschmelzen, beschreibt Fiorentini als ein we- sentliches Moment in den Arbeiten Cajals, die sowohl die Produktivität seiner eige- nen Vorhaben beflügelt, aber insbesondere den epistemischen Status seiner Bilder eindeutig markiert: Cajal’s strategy of visibility induction referred thus to rational and aesthetic visual sensibility likewise, and considered both to be constitutive elements of knowledge production. In a sense, thus, Cajal’s practices of observation and visualization can be considered part of an ‹aesthetic epistemology› implementing the conviction that ‹art and science... coincide in one aspect, the aesthetic aspect, [and that] every scientific work is also a work of art (Croce)›.15 Der Prozess der Sichtbarmachung in den Naturwissenschaften von etwas, das sich dem Wahrnehmungsvermögen des menschlichen Auges verschließt, ist, wie der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger festhält, «immer schon mit man- nigfachen Formen des Eingreifens in das Darzustellende und der Manipulation sei- ner Bestandteile verbunden»16. Angesichts dieser essenziellen Kopplung von Wissen und Technik spricht er auch von einer «grundsätzlichen technologischen Verfaßt- heit der naturwissenschaftlichen Erkenntnisproduktion […]»17. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass sich diese Verhältnisse auf die Visualisierungspraxis Lennart Nilssons übertragen lassen. Die nachstehenden Überlegungen stellen den Versuch dar, unter Rückgriff auf Ansätze aus der Wissenschaftsforschung entsprechende populärwissenschaftliche Visualisierungen mit Blick auf ihre Funktion als populäre epistemische Darstel- lungen zu perspektivieren. Da dies keine universale Methodologie versprechen soll, sondern stets fallbezogen anzuwenden ist, werden Nilssons Arbeiten als ‹Model- le› verstanden, um Erkenntnispotentiale im Zuge technisch manipulierter ‹Bilder› eben auch für populärwissenschaftliche Formate anzuzeigen. traiture. In: Annals of Science 59 (2002). S. 57–82; oder auch Monika Dommann: Das Röntgen- Sehen muss im Schweisse der Beobachtung gelernt werden. Zur Semiotik von Schattenbildern. In: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 6 (1999). S. 114–130. Auch Peter Geimer setzt sich mit der ambi- valenten Operationalisierung der Fotografie (konkret bei William Henry Fox Talbot) auseinander und macht deutlich, dass ein die Natur abbildender Objektivismus als instabil zu gelten hat. Siehe Peter Geimer: Fotografie als Fakt und Fetisch. Eine Konfrontation von Natur und Latour. In: David Gugerli, Barbara Orland (Hg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Zürich 2002. S. 183–194. 14 Fiorentini 2011a. 15 Ebd. 16 Hans-Jörg Rheinberger: Sichtbar Machen. Visualisierungen in den Naturwissenschaften. In: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn. Frankfurt a. M. 2009. S. 127–145, zit. S. 127. 17 Ebd. 101 Inside the Mother’s Body II. Lennart Nilsson und das ‹Leben vor der Geburt› International bekannt geworden mit den seinerzeit nicht unkritisch diskutierten mikroskopischen Aufnahmen menschlicher Embryonen/Föten, die Nilsson ab den 1960er Jahren im amerikanischen Magazin Life veröffentlichte, präsentiert er stets Visualisierungen, die sowohl für Wissenschaftler als auch für Laien von großem Interesse sind. Der Artikel «Drama of Life Before Birth»18 (1965) (Abb. 1) wurde parallel auch in großen europäischen Zeitschriften (wie Sunday Times, Stern und Paris Match) publiziert.19 Das im selben Jahr veröf- fentlichte und 1966 ins Engli- sche übersetzte Buch Ett barn blir till (A Child Is Born: The Drama of Life Before Birth)20 bildete den Auftakt zu einer ganzen Reihe von einflussrei- chen Publikationen wie Fern- sehdokumentationen Nilssons um die Vorgänge im Körperin- nen, denen immer schon die Kopplung von Wissenschaft, Populärkultur und ‹künstle- rischer Auslegung› inhärent war und ist. So heißt es in einer Rezension im Medizin- journal Pediatrics, dem offi- ziellen Journal der American Academy of Pediatrics, zum 1966 erschienen Band: «[…] the union of scientific accu- racy and artistic here reaches a pinnacle of achievement.»21 Abb. 1: ‹Life› Cover vom 30. April 1965. Dabei waren diese an- fänglichen Aufnahmen Nilssons keineswegs die ersten massenmedialen Illustra- tionen von Embryonen/Föten und deren unterschiedlichen Entwicklungsstadien. 18 Lennart Nilsson, Albert Rosenfeld: Drama of Life Before Birth. In: Life 58/17 (30. April 1965), S. 54–72A. 19 Vgl. Mette Bryld, Nina Lykke: From Rambo Sperm to Egg Queens. Two Versions of Lennart Nilsson’s Film on Human Reproduction. In: Anneke Smelik, Nina Lykke (Hg.): Bits of Life. Feminism at the Intersections of Media, Bioscience, and Technology. Seattle, London 2009. S. 79–93, hier S. 80. 20 Zuletzt 2010 in der 5. Auflage im Verlag Jonathan Cape erschienen. 21 Rezension von Dorothy V. Whipple in Pediatrics 40 (1967), S. 151–152. Inside the Mother’s Body 102 Life selbst druckte bereits in den 1950er Jahren solcherart Bilder ab.22 Doch waren es jene Nilssons, die sich als populäre Visualisierungen menschlicher Embryonen/ Föten durchsetzten. Im Unterschied zu vielen Schwarzweiß-Bildern, die zu dieser Zeit bereits verschiedentlich publiziert wurden, schuf er kontrastreiche und farblich bearbeitete, manipulierte Sichtbarkeiten. Nilssons Arbeiten sind aus mehreren Gründen interessante Hybridprodukte populärwissenschaftlich formierter Darstellungen des (vornehmlich weiblichen) Körperinnen. Zunächst einmal wurden sie in den 1960er und 1970er Jahren von brisanten Entwicklungen begleitet. Sie zirkulierten zu einer Zeit in den interna- tionalen Medien, in der die Frauenbewegung für gesetzliche Reformierungen zum Schwangerschaftsabbruch protestierte23, die Anti-Baby-Pille offiziell als Ver- hütungsmittel zugelassen wurde24, durch die Verbesserung der Laparoskopie und Mikrochirurgie die ersten Versuche zur extrakorporalen Befruchtung beim Men- schen durchgeführt wurden25 und sich das Komitee der BSCS (Biological Sciences Curriculum Study) in der Neuregulierung von Inhalten biologischer Lehrbücher in den Vereinigten Staaten vor allem der menschlichen Fortpflanzung widmete.26 In einem solchen Klima nun lancierten Nilssons Aufnahmen international, wie vie- lerorts betont, zu ‹Ikonen›, eben weil sie als ästhetisierte Produkte eines mehr oder weniger ‹unbekannten Anderen› propagiert wurden. Schon im Vorwort der 1965 publizierten Life Ausgabe wurde der «strangely beautiful and scientifically unique color essay» mit den Worten kommentiert: «This is like the first look at the back side of the moon.»27 Die metaphorische Verschränkung von ‹Weltraum› und ‹Körperinnenraum› bzw. ‹Fötus› und ‹Astronaut› gerade zu dieser Zeit ist angesichts der massenmedi- alen Präsenz des Apollo-Programms der NASA zum Zweck der ersten bemannten Mondlandung nicht zufällig. So heißt es auch in einem Artikel des Journals der Royal Photographic Society retrospektiv: In the same decade that Neil Armstrong first walked on the moon, uttering the im- mortal line, ‹One small Step for man; one giant leap for mankind›, with the 1965 22 Siehe den Artikel «The Human Embryo» in der Ausgabe vom 3. Juli 1950, S. 79–81. 23 Vgl. Carol Stabile: Shooting the Mother. Fetal Photography and the Politics of Disappearance. In: Paula A. Treichler, Lisa Cartwright, Constance Penley (Hg.): The Visible Woman. Imaging Technolo- gies, Gender, and Science. New York, London 1998, S. 171–197. 24 Suzanne White Junod, Lara Marks: Women’s Trials: The Approval of the First Oral Contracepti- ve Pill in the United States and Great Britain. In: Journal of the History of Medicine 57 (2002). S. 117–160. 25 Barbara Orland: Die menschliche Fortpflanzung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbar- keit: Die Normalisierung der Reproduktionsmedizin seit den 1970er Jahren. In: Technikgeschichte 4 (1999). S. 311–337. Das erste ‹Retortenbaby› erblickte dann auch 1978 das Licht der Welt. 26 Vgl. John L. Rudolph: Scientists in the Classroom: The Cold War Reconstruction of American Science Education. New York 2002, S. 137–191. 27 Nach Angabe des Editors stammt dieser Kommentar wohl von einem der führenden schwedischen Gynäkologen. Siehe George P. Hunt: Editor’s Note – A Remarkable Photographic Feat. In: Life 58/17 (30. April 1965). S. 3. 103 Inside the Mother’s Body publication of his photo essay, The Drama of Life Before Birth, Lennart Nilsson Hon- FRPS [Honorary Fellow of the Royal Photographic Society] was taking us in the other direction: to the very origins of human life itself, a pioneering study that con- tinues to this day.28 Angesichts der sinnbildlichen Verknüpfung von Fötus und Weltraum vor allem in populären Kontexten hat Donna Haraway darauf hingewiesen, dass [t]he fetus and the planet earth are sibling seed worlds in technoscience. If NASA photographs of the blue, cloud-swathed whole earth are icons for the emergence of global, national and local struggles over a recent natural-technical object of know- ledge called the environment, then the ubiquitous images of glowing, free-floating, human fetus condense and intensify struggles over an equally new and disruptive technoscientific object of knowledge, namely ‹life itself›. […] Both the whole earth and the fetus owe their existence as public objects to visualizing technologies.29 Die territoriale Markierung des Körperinnen30 ist, in Relation zum Weltraum, hier mithin zwar angesichts veränderter (geo-)politischer und ökonomischer, aber auch ausdrücklich mit Blick auf technologiestrategische und -epistemologische Implika- tionen zu verstehen, wenn populärwissenschaftliche Darstellungen menschlicher Föten im ‹Mutterleib›, oder Visualisierungen des Körperinnen anderer Art, vielfach in Anverwandlung eines kriegsmetaphorischen Duktus’ im Sinne eines ‹war inside the body› beschrieben werden.31 Wie fließend die Grenzen vom Welt- zum Körperinnenraum im Kontext po- pulärwissenschaftlicher Inszenierungen zur Anschauung gebracht werden können, führt Courtlandt Bryan in der Festschrift zum hundertjährigen Jubiläum der Na- tional Geographic Society vor.32 Der umherschwebende «kosmische Fötus»33 nun ist, wie Haraway deutlich macht, im Wesentlichen durch Lennart Nilssons Darstellun- gen ästhetisch geprägt. Pikant bleibt dabei jedoch, dies sei am Rande erwähnt, dass es sich bei den berühmten Aufnahmen, wie beispielsweise jene des am Daumen 28 Anonym: Lennart Nilsson HonFRPS – Giant Steps. In: Royal Photographic Society Journal 148/4 (2008). S. 150–155, zit. S. 150. Dass die unbemannten Raumsonden ‹Voyager I› und ‹Voyager II› wohl jeweils Aufnahmen aus Nilssons Buch A Child is Born an Bord hatten, soll an dieser Stelle anekdotisch vermerkt werden. Vgl. Ebd., S. 155. 29 Donna Haraway: The Virtual Speculum in the New World Order. In: Feminist Review 55 (1997). S. 22–72, zit. S. 23. Siehe hierzu auch den jüngst erschienen Artikel von Rolf F. Nohr: Sternenkind. Vom Transformatorischen, Nützlichen, dem Fötus und dem blauen Planeten. In: Image. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft 12 (2010). Online: http://www.bildwissenschaft.org/image?fun ction=fnArticle&showArticle=185 [Stand 30.01.11]. 30 Die koloniale Landnahme des Körperinnen und die Verwendung territorialer Begrifflichkeiten ist im Übrigen keine Hervorbringung des 20. Jahrhunderts, sondern lässt sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Siehe hierzu Jonathan Sawday: The Body Emblazoned. Dissection and the Human Body in Renaissance Culture. London, New York 1995. 31 Zum Körperinnen als «Schlachtfeld» siehe exemplarisch Haraway 1995, S. 62f. 32 Vgl. Courtlandt D. B. Bryan: Das große National-Geographic-Buch. Hundert Jahre Abenteuer und Entdeckungen. Hamburg 1988, S. 353–473. 33 Haraway 1995, S. 61. Inside the Mother’s Body 104 lutschenden Fötus, die ‹das Leben› visualisieren sollen, um tote bzw. abgetriebene Föten handeln soll.34 Dieser Umstand wurde jedoch gerne ungenannt gelassen.35 Angesichts der nachhaltig prägenden Funktion Nilssons Darstellungen als visu- elle Kommunikationsformen in öffentlichen Diskursen sind sie insbesondere aus feministischer Perspektive vor dem Hintergrund einer Gender motivierten Bildpo- litik kritisiert worden.36 «For years, these narratives have continued to ascribe Ram- bolike qualities to the sperm and to confer personhood on the fetus while reducing the mother to a headless container»37, mahnen Mette Bryld und Nina Lykke. Obschon dieser kritischen Anschreibungen sind Nilssons Arbeiten, und damit verbunden vor allem sein Name, eben durch die ästhetische Qualität der ‹visuellen Inszenierung› schnell zu einer ‹Marke› lanciert.38 Die beachtliche Anzahl von Aus- zeichnungen und Preisen legen dessen zusätzlich Zeugnis ab.39 So wurde er 1969 in die Swedish Society of Medicine aufgenommen, erhielt 1976 die Ehrendoktorwürde für Medizin an der medizinischen Universität Karolinska-Institut (Schweden), 2002 die Ehrendoktorwürde für Philosophie an der Technische Universität Braunschweig (Deutschland) und 2003 die Ehrendoktorwürde für Philosophie an der Universität Linköping (Schweden). Gerade in der Begründung der TU Braunschweig zur Ver- leihung wird explizit auf Nilssons «Leistungen zur Begründung und Etablierung einer wegweisenden medienbasierten Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit» hingewiesen.40 Als solch ‹wegweisende› – oder, nach Haraway, ‹diskursverändernde› – visuelle Kommunikationsformen entfalten sie ihre Bedeutungskompetenz maßgeblich un- ter der Adressierung des ‹Fremden› und ‹Artifiziellen›. Gerade hierdurch rücken sie in einen nicht eindeutig abgrenzbaren Schwellenbereich, wodurch ihr Status als visuelle Artefakte insofern indirekt wird, als sie in einen Prozess fiktionsaffiner 34 Siehe hierzu bei Donna Haraway (1995, S. 195, FN 45): «Erinnern wir uns daran, daß Nilsson (1977) die berühmten und diskursverändernden Fotografien von (in Wahrheit abgetriebenen) Föten mach- te und sie als glühende, von hinten beleuchtete Universen porträtierte, die frei von der ‹mütterlichen Umgebung› dahinschweben.» 35 Lynn Marie Morgan weist indes darauf hin, dass Nilssons Visualisierungen dies mit vielen weiteren medizinisch-wissenschaftlichen Darstellungen menschlicher Föten teilt. Vgl. Lynn Marie Morgan: Strange Anatomy: Gertrude Stein and the Avant-Garde Embryo. In: Hypatia 21/1 (2006). S. 15–34, im Besonderen S. 16–17. 36 Vgl. u.a. Barbara Duden: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Missbrauch des Begriffs Leben. Hamburg 1991, hier besonders S. 22–35; Haraway 1997 und jüngst auch Bryld, Lykke. 37 Bryld, Lykke, S. 80–81. 38 Vgl. Ebd., S. 79–93 sowie Haraway 1995, S. 62 und Haraway 1997, S. 27f. 39 Er war u.a. erster Preisträger des ‹Hasselblad Foundation International Award in Photography› 1980 und erhielt 1992 den ‹Infinity Award› des International Center of Photography. Ferner erhielt er 1972 eine Auszeichnung durch das Royal Institute of Technology sowie 1989 die ‹Big Gold Medal› durch die Royal Swedish Academy of Engineering Sciences. Für seine Fernsehdokumentationen wurde er mehrfach mit dem Emmy ausgezeichnet. Vgl. http://www.lennartnilsson.com/biography. html [Stand 12.10.10]. 40 Siehe http://www.tu-braunschweig.de/presse/medien/presseinformationen?year=2002&pinr=133a [Stand 12.10.10]. 105 Inside the Mother’s Body Konnotationen eintreten. Ihre populäre Produktivkraft ziehen sie aus dem hybri- den Status sowohl wissenschaftsverwandte visuelle wie auch ästhetisierte, populäre Konstrukte zu sein. Nilssons Visualisierungen sind, so die hier vertretene These, ‹induzierte Sichtbarkeiten›, deren visuelle Qualität und populärkultureller wie auch epistemischer Status maßgeblich unter den Bedingungen des Gemachten und Ma- nipulierten entstehen. III. Zum Verhältnis von Sichtbarkeit und Technik in Nilssons Arbeiten Für seine Aufnahmen strebt Nilsson stets das Ausloten von Kombinationsmöglich- keiten diverser Bildgebungstechniken an, um so Sichtbarkeitsphänomene zu gene- rieren, deren visueller Aufbau maßgeblich durch die verwendeten Medientechniken determiniert wird und deren ‹Kommunikationspotenzial› adäquat auch nur vor dem Hintergrund medientechnischer Induktion beschreibbar ist.41 Denn «Appa- rate», so die Philosophin Sybille Krämer, «[…] effektivieren nicht einfach das, was Menschen auch ohne Apparate schon tun, sondern erschließen etwas, für das es im menschlichen Tun kein Vorbild gibt – und das an diesem Tun vielleicht auch gar keinen Maßstab findet.»42 Nilsson nun ‹erschließt› seine Sichtbarkeits-Räume mit unterschiedlichen ‹Apparaten›: er experimentiert mit fotografischer, lichtmikroskopischer, endosko- pischer und Ultraschall-Technik, mit Wärmebildkameras sowie mit dem Raster- elektronenmikroskop. Er kombiniert Bildgebungsverfahren, testet unterschiedliche Objektive/Brennweiten und arbeitet mit Fachingenieuren zu Entwicklung neuerer Visualisierungstechnologien zusammen. In einem Interview sagt er hierzu: To be able to show the development of the foetus at all from the very earliest sta- ge, I used macro-lenses and wide-angled special optics, manufactured specially for me by Karl Storz in Germany and Jungners Optiska in Stockholm. […] Beside my Hasselblads and Nikons, which I use for normal photo-stories, I have my light- and scanning electron microscopes, made by Zeiss and Japan’s Jeol. My endoscopes have also been specially built by Karl Storz and have a focal distance of less than one milli- metre, which lets me take razor-sharp pictures inside the body. The most useful tool so far has been a flexible endoscope with a focal distance of less than one-tenth of a millimetre. It’s no bigger than eight-tenths of a millimetre in diameter, including lens and case, and can thus be introduced into various parts of the body rather like a catheter. The first ‹portrait› of a living foetus was taken in 1965 with one of these endoscopes. It was the opening picture for the Life photo-essay that same year. In the future, though, I’m going to be working mainly on improving ultrasound technolo- 41 Dieter Mersch stellt für naturwissenschaftliche Bildpraxen fest, dass sich die verwendeten Technik in die Bilder einschreiben, sie mithin ‹imprägnieren›. Siehe Dieter Mersch: Wissen in Bildern. Zur vi- suellen Epistemik in Naturwissenschaft und Mathematik. In: Bernd Hüppauf, Peter Weingart (Hg.): Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft. Bielefeld 2009. S. 107–134, hier S. 111. 42 Sybille Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat. In: dies. (Hg.): Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a. M. 1998. S. 73–94, zit. S. 84–85. Inside the Mother’s Body 106 gy. And I’m continually meeting leading technicians in these areas to develop new technological solutions for photography.43 Auch wenn er fraglos veritable Kompetenzen im Umgang mit verschiedenen Visu- alisierungstechniken besitzt und seine Kenntnisse hierüber stets erweitert, macht er fernerhin deutlich: «I’m a photographer and even if I’m not an extraordinary one, I try, as all photographers do, to compose my pictures.»44 Er verwendet mithin nicht nur naturwissenschaftliche/medizinische Bildgebungstechniken, die er vor dem Hintergrund populärwissenschaftlicher Interpretation experimentell gebraucht, sondern legt vor allem die damit generierten Sphären des Sichtbaren in einem dem Künstlerischen/Künstlichen anverwandelten Kontext entsprechend aus, indem er zusätzlich u.a. auch Position, Lichtsetzung und Farbgebung manipuliert. Er bedient sich damit aber Bildgebungsstrategien, die es in Naturwissenschaft und Medizin in dieser Form der bewussten und erkenntnisleitenden Manipulation des (visuellen) Materials schon immer gegeben hat und die unter den genuin tech- nologischen Zurichtungsbedingungen der Sichtbarmachung verstanden werden müssen. «Jedes technische Medium», so der Medientheoretiker Friedrich Kittler, «hat im Laufe unserer langen Geschichte eine Schicht des Wirklichen freigelegt: Es gäbe keine Brisanzgeschosse ohne Momentfotografie und keine Tuberkolose- behandlung ohne Wilhelm Röntgen.»45 Der Philosoph und Wissenschaftshistori- ker Olaf Breidbach konstatiert desgleichen beispielsweise für die Fotografie ganz konkret: «Das Photo fixiert eine auf die Möglichkeiten der Apparatur verkürzte Welt. Es spiegelt nicht einfach die Welt, sondern es bleibt Reflex einer Weltsicht.»46 Dieser Reflex ist mithin einerseits bestimmt durch die Apparatur selbst, wie ande- rerseits vom Akteur, der diese selektiv einsetzt. Das Geflecht aus Wahrnehmung, Wissen und Erkenntnis westlicher Zivilisationen ist hierin ein technologisch deter- miniertes, welches selektiven Entscheidungsprozessen aufsitzt. Wenn nun im Zuge wissenschaftlicher wie populärwissenschaftlicher Visualisierungen von freigelegten ‹Schichten des Wirklichen› gesprochen wird, ist damit immer eine medientechnisch induzierte Konstruktion gemeint, die stets hinsichtlich spezifischer, erkenntnisge- nerierender Prozesse auszulegen ist. Auch der 1965 in Life veröffentlichte Artikel macht verschiedentlich deutlich, dass die hier visualisierten Vorgänge im Körperin- nen ‹der werdenden Mutter› unter artifiziell hergestellten Bedingungen entstanden sind.47 Solcherart Sichtbarkeiten sind nicht als Abbilder eines apriorischen Natu- 43 Siehe Interview zwischen Hasse Persson und Lennart Nilsson auf http://www.lennartnilsson.com/ q_a.html [Stand 25.10.10]. 44 Ebd. (eigene Herv.) 45 Friedrich Kittler: Schrift und Zahl – Die Geschichte des errechneten Bildes. In: Christa Maar, Hubert Burda (Hg.): Iconic turn. Die neue Macht der Bilder. 2. Aufl. Köln 2004. S. 186–203, zit. S. 199. 46 Olaf Breidbach: Naturbild und Bildmodelle. Zur Bildwelt der Wissenschaften. In: Inge Hinterwald- ner, Markus Buschhaus (Hg.): The Picture’s Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit. München 2006. S. 23–43, zit. S. 31. 47 So wird gleich zu Beginn des Artikels eingeräumt, dass der zu sehende Embryo chirurgisch entfernt wurde (etwas kryptisch legitimiert mit «for a variety of medical reasons»), bevor Nilsson ihn auf- 107 Inside the Mother’s Body robjekts zu lesen/betrachten und zu verstehen, sondern als Konstrukte, die unter hochgradig manipulierten Bedingungen erzeugt wurden. Angesichts der tragenden Funktion von Technik in den Naturwissenschaften hält der französische Wissenschaftsphilosoph Gaston Bachelard (1884-1962) fest: «[...] der Umstand, daß die Bestimmungen des wissenschaftlichen Realen indirekt geworden sind, versetzt uns in einen neuen epistemologischen Bereich.»48 ‹Indirekt› meint hier den Einsatz spezifischer Techniken, um auf das Verborgene zugreifen zu können. Es bedeutet also ein Umdenken, «wenn dem Materialismus ein Elektris- mus hinzugefügt wird» und «wir uns mitten in der diskursiven Epistemologie [be- finden]. […] Es handelt sich um nichts weniger als den Vorrang der Reflexion vor der Wahrnehmung, um nichts weniger als die noumenale Bereitung von technisch konstituierten Phänomenen.»49 Ähnlich der Visualisierungspraxis in Naturwissen- schaft und Medizin gilt ein solch indirektes Verhältnis im Zuge technisch determi- nierter Erkenntnisprozesse ebenfalls für alle andern Praxen der Sichtbarmachung. «Erkenntnis und Umwelt», so demgemäß der Kommunikationswissenschaftler und Philosoph Siegfried J. Schmidt, «sind insofern voneinander unabhängig, als die Un- terscheidungen, die der Beobachter trifft, in der Umwelt nicht vorhanden sind. Es gibt nichts in der Umwelt, was der Erkenntnis entspricht.»50 Insofern müssen diese also konstruiert und bestimmt werden, und das geschieht im Wesentlichen unter Verwendung divergenter Medientechniken. IV. Schlussbemerkung Dem Verhältnis von Visualisierungspraxis und Erkenntnisgenese angesichts selek- tiver, manipulierter und folglich der Produktion technischer, eben nicht ‹objektiver Bilder› in Naturwissenschaft und Medizin wird jüngst in Geistes- und Kulturwis- senschaft vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei werden neben den verwen- dungsfertigen visuellen Artefakten insbesondere die divergenten Herstellungsbe- dingungen näher in den Blick der theoretischen Überlegungen genommen. So kon- statieren die KunstwissenschaftlerInnen Horst Bredekamp, Birgit Schneider und Vera Dünkel im Vorwort des Sammelbandes Das Technische Bild: Für ein Verständnis der konstruktiv prägenden Rolle wissenschaftlicher Bilder be- deutet dies, all jene Bedingungen zu berücksichtigen, die an der Form eines Bildes mitwirken. […] Namentlich stellt die Technik der Bildherstellung ein zentrales Ele- ment der Betrachtung wissenschaftlicher Bilder dar […]. Dies berührt die enorme nehmen konnte, oder dass die Darstellung des Spermienflusses unter Laborbedingungen geschaffen wurde, um ihn als solchen visualisieren zu können. 48 Gaston Bachelard: Epistemologie. Ausgewählte Texte. Frankfurt a. M. 1974, S. 19. 49 Ebd., S. 20. 50 Siegfried J. Schmidt: Jenseits von Realität und Fiktion. In: Florian Rötzer, Peter Weibel (Hg.): Strate- gien des Scheins. Kunst, Computer, Medien. München 1991. S. 83–92, zit. S. 84. Inside the Mother’s Body 108 Bedeutung der Sichtbarmachung in den Wissenschaften sowie die technisch-mediale Bedingtheit von Wissen.51 Gerade für den Bereich des wissenschaftlichen ‹technischen Bildes› sind in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Publikationen erschienen, die sich mit dem Prozess der Erkenntnisproduktion unter konkreter Hinwendung auf die tech- nischen Bildgebungsprozesse beschäftigen und in diesem Zusammenhang eben auch den selektiven, manipulativen und somit subjektiven Charakter dieserart Vi- sualisierungspraxen und ihrer Hervorbringungen betonen. Von einer «Rehabilitie- rung der menschlichen Urteilskraft» im «Zusammenhang mit der Erfindung des Computers»52 ist die Rede. Auch wenn dem gerade im Zuge gegenwärtiger digitaler Bearbeitungsvorgänge am visuellen Material in jedem Fall zuzustimmen ist, lassen die Überlegungen Erna Fiorentinis zu den Arbeiten Cajals erkennen, dass solche Prozesse vereinzelnd schon weit früher und mit veränderten Techniken stattgefun- den haben. Während also das Verhältnis von Subjektivität, technischer Manipulation und Erkenntnisproduktion für wissenschaftliche Kontexte sowohl historisch wie in Be- zug auf gegenwärtige Tendenzen noch einmal neu ausgehandelt zu werden scheint, bleibt ein vergleichbares Szenario für massenmediale Verwendungszusammenhän- ge weitestgehend aus. Hier aber besteht Nachholbedarf, dem produktiv unter kon- kreter Bezugnahme auf Überlegungen aus der Wissenschaftsforschung begegnet werden kann. Dass sich solche Ansätze jedoch nicht kritiklos in die Medienwis- senschaft implantieren lassen, haben die MedienwissenschaftlerInnen Ulrike Ber- germann et al. (für die ‹AG Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung› der Gesellschaft für Medienwissenschaft) angedeutet. Sie resümieren: «Die Medienwis- senschaft muss sich wohl erst noch darüber Klarheit verschaffen, ob sie den Medi- en (wie es die Wissenschaftsforschung mit der Wissenschaft erreicht hat) ‹Realität hinzufügen› möchte, statt sie diesen immer wieder zu entziehen.»53 An dieser Stelle sei ergänzt, dass es sich bei dieserart ‹Zufügungen von Realität› nicht um «Verdopp- lungen der außermedialen Wirklichkeit» handelt, sondern um «Medienkonstruk- tionen, die Wirklichkeiten sui generis als Resultate der Wirklichkeitskompetenz des jeweiligen Mediensystems entstehen lassen.»54 51 Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel: Editorial. Das Technische Bild. In: dies. (Hg): Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder. Berlin 2008. S. 8–11, zit. S. 9. 52 Bettina Heintz, Jörg Huber: Der verführerische Blick. Formen und Folgen wissenschaftlicher Vi- sualisierungsstrategien. In: dies. (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten. Wien, New York 2001. S. 9–40, zit. S. 21. 53 AG Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung (Ulrike Bergermann, Christine Hanke, Inge Hinterwaldner, Petra Missomelius, Rolf F. Nohr, Andrea Sick und Markus Stauff): ‹Hot Stuff›: Re- ferenzialität in der Wissenschaftsforschung. In: Harro Segeberg (Hg.): Referenzen. Zur Theorie und Geschichte des Realen in den Medien. Marburg 2009. S. 52–79, zit. S. 79. 54 Siegfried J. Schmidt: Furien des Verschwindens. Medien und/oder Wirklichkeit? In: Günter Kruck, Veronika Schlör (Hg.): Medienphilosophie – Medienethik. Frankfurt a. M. 2003. S. 63–77, zit. S. 75. 109 Inside the Mother’s Body Abb. 2: Visualisierung eines «Pockenvirus auf der Oberfläche der angegriffenen Zelle» Im Hinblick auf die Arbeiten Lennart Nilssons ist dies, so wurde deutlich, evident: ob angesichts seiner neueren, rasterelektronenmikroskopischen Visualisierungen von beispielsweise Krebszellen und Viren (Abb. 2), oder seinen älteren Darstellun- gen menschlicher Embryonen/Föten. Auch für sie gilt festzuhalten, dass sich ihr Status als populärwissenschaftliche Visualisierungen «nicht erst in ihrer Betrach- tung [entscheidet], sondern bereits in den experimentellen Verstrickungen ihrer Entstehung.»55 Und diese ‹Prozessresultate›56 bzw. ‹induzierte Sichtbarkeiten› kön- nen in «anderen Wirklichkeiten [und epistemischen Wirkungszusammenhängen] von Aktanten ganz unterschiedlich rezipiert und genutzt werden, um wiederum andere Wirklichkeiten [und Episteme] entstehen zu lassen.»57 55 Peter Geimer: Weniger Schönheit. Mehr Unordnung. Eine Zwischenbemerkung zu ‹Wissenschaft und Kunst›. In: Neue Rundschau 114/3 (2003). S. 26–38, zit. S. 37. 56 Vgl. Schmidt 2003. 57 Ebd., S. 75. Inside the Mother’s Body 110 Literatur AG Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung (Ulrike Bergermann, Christine Hanke, Inge Hinterwaldner, Petra Missomelius, Rolf F. Nohr, Andrea Sick und Markus Stauff): ‹Hot Stuff›: Referenzialität in der Wissenschaftsforschung. In: Harro Segeberg (Hg.): Referenzen. Zur Theo- rie und Geschichte des Realen in den Medien. Marburg 2009. S. 52–79. Anonym: The Human Embryo. In: Life 29/1 (3. Juli 1950). S. 79–81. Anonym: Lennart Nilsson HonFRPS – Giant Steps. In: Royal Photographic Society Journal 148/ 4 (2008). S. 150–155. Gaston Bachelard: Epistemologie. Ausgewählte Texte. Frankfurt a. M. 1974. Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel: Editorial. Das Technische Bild. In: dies. (Hg): Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder. Berlin 2008. S. 8–11. 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Studierte Medienwissenschaft, Germanistik, Anglistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und promoviert derzeit zum Thema «Refle- xionsphilosophie und technische Bilder». Kathrin Friedrich, M.A., Studium der Medienwissenschaft, Rechtswissenschaften und Soziologie an der Philipps-Universität Marburg. Derzeit künstlerisch-wis- senschaftliche Mitarbeiterin an der Kunsthochschule für Medien Köln sowie im BMBF-Forschungsverbund «Verkörperte Information. ‹Lebendige› Algorithmen und zelluläre ‹Maschinen›». Promoviert zu digitalen Bildgebungsverfahren in der Medizin. Interessenschwerpunkte: digitale Bildgebungsverfahren in der Medizin; Visual Programming im Bereich Synthetische Biologie; Software Studies; Wissen- schaftsforschung. Publikationen: ‹Sehkollektiv› – Sight Styles in Diagnostic Com- puted Tomography. In: Medicine Studies 2 (2010), Special Issue ‹Medical Imaging: Philosophy and History›, S. 185–195; (zus. mit Gabriele Gramelsberger): Techniken der Überschreitung. Fertigungsmechanismen ‹verlässlich lebensfähiger› biologi- scher Entitäten. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft Nr. 4 (1/2011): ‹Humans and Others›. (im Druck). Angela Krewani, Dr. phil., Professorin für Geschichte, Theorie und Ästhetik digi- taler Medien an der Philipps-Universität Marburg. Sie studierte Anglistik, Anlgo- Amerikanische Geschichte und Politologie in Köln. Promotion 1992 an der Univer- sität Siegen zu Moderne und Weiblichkeit. Amerikanische Schriftstellerinnen in Paris. Heidelberg 1993; Habilitation 1999 mit der Schrift Hybride Formen. New British Cinema – Television Drama – Hypermedia. Trier 2001. Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren in USA und Kanada, 2006 – 2007 Fellow am Zentrum für inter- disziplinäre Forschung in Bielefeld. SS 2008 Gastprofessorin am Brooklyn College, New York. Forschungsschwerpunkte: Theorie digitaler Medien, Film und Fernse- hen in Großbritannien, Nordamerikanischer Film, Fernsehkulturen sowie Bildge- staltung in den Naturwissenschaften. Aktuelle Publikationen: Hg. zus. mit Astrid E. Schwarz: Images of «True Nature». Marburg 2010 (Augenblick, Bd. 45); Hg. zus. mit Karen Ritzenhoff: Leiden, Trauma, Folter: Bildkulturen des Irakkriegs. Marburg 2011 (Augenblick, Bd. 48/49). Wibke Larink, Dr. phil., studierte Grafikdesign in Hamburg und Kulturwissen- schaften in Lüneburg. Nach dem Magister nahm sie am Doktorandenkolloquium Kunst- und Bildwissenschaften der Universität Lüneburg teil und wurde Stipendi- atin der Gerda Henkel Stiftung. Ihre Dissertation mit dem Titel «Hirnbilder zwi- schen Ästhetik und Anthropologie – Bildwissenschaftliche Zugänge zum Gehirn als 113 Autorinnen und Autoren Seelenorgan» erscheint unter dem Titel «Bilder vom Gehirn» im Frühjahr 2011 im Akademie-Verlag, Berlin. Wibke Larink lebt und arbeitet in Hamburg. Anja Laukötter, Dr. phil. (2006) und M.A. in Neuerer und Neuester Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2006-2010 wissenschaftliche Mitarbeite- rin am Institut für Geschichte der Medizin, Berlin. Seit April 2010 PostDoc Resear- cher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung im Fachbereich «Geschichte der Emotionen» (Prof. Ute Frevert). Aktuelles Forschungsprojekt: Emotionen und Wissen im medizinischen Film, 1910-1990. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Wissensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte der Ethnologie/Anth- ropologie und Medizin sowie des Human-Experiments, «Rasse»- und Kulturtheo- rien, Geschichte der Visualisierungen und des medizinischen Films. Publikationen (Auswahl): Anarchie der Zellen. Geschichte und Medien der Krebsaufklärung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), H. 1, S. 55–74; Kultur in Vitrinen. Zur Bedeutung der Völkerkundemuseen im beginnenden 20. Jahrhundert. In: Ursel Berger/Christiane Wanken (Hg.): Wilde Welten. Aneignung des Fremden in der Mod- erne. Berlin 2010, S. 109–126; (zusammen mit Christian Bonah) Moving pictures and medicine in the first half of the 20th century: Some notes on international historical developments and the potential of medical film research. In: Gesnerus 66 (2009) (Sonderheft zu Film und Wissenschaft), S. 121–145. Petra Missomelius, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Me- dienwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Sie studierte Neuere deutsche Literatur und Medien, Europäische Ethnologie und Kulturforschung sowie Grafik und Malerei. Promotion zu Digitale Medienkultur. Wahrnehmung – Konfiguration – Transformation. Bielefeld 2006. Arbeitsgebiete: Mobile Medien, Digitale Medien, Medienkunst, Filmanalyse und Mediengeschichte, Wahrnehmungskonfigurationen angesichts medientechnischer Entwicklungen, naturwissenschaftliche Bildgebungs- verfahren, Medien im Kontext von Tod und Sterben. Aktuelles Forschungsprojekt «Medien und Transzendenz. Dynamiken zwischen Sinnsuche und Technologie- entwicklung». Veröffentlichungen: (Hg.): ENDE. Mediale Inszenierungen von Tod und Sterben. Marburg 2008 (Augenblick, Bd. 43); Mediale Visionen des postbio- logischen Körpers. In: Anke Abraham/Beatrice Müller (Hg.): Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld. Bielefeld 2009, S. 67–87; ‹My Country is a State of Mind›. Electronic Spaces in Europe and Canada. In: Martin Küster (Hg.): Conference Proceedings. Marburg Canadian Literature Day. Marburg (im Druck). Sven Stollfuß, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissen- schaft der Philipps-Universität Marburg und leitender Redakteur der Zeitschrift MEDIENwissenschaft. Er studierte Medienwissenschaft, Europäische Ethnologie Autorinnen und Autoren 114 sowie Neuere deutsche Literatur und promoviert derzeit zu digitalen endoskopi- schen Simulationsmodellen in Wissenschaft und Massenmedien. Interessensfelder: medizinische Bildgebungstechniken in Wissenschaft und Massenmedien, Theorie digitaler Medien, Film in der Wissenschaft – Wissenschaft in Film und Fernsehen sowie Serienforschung und Populärkultur. Veröffentlichungen: Wissenschaft in Se- rie. Zur Inszenierung von Wissenschaft in aktuellen Fernsehserien. In: MEDIEN- wissenschaft 3 (2010), S. 292–303; Bewegt-Bilder in der Medizin. Der technisch zu- gerichtete ärztliche Blick zwischen Epistemologie und Spektakel. In: Ulrich Hägele/ Irene Ziehe (Hg.): Visuelle Medien und Forschung. Über den wissenschaftlich-metho- dischen Umgang mit Fotografie und Film. Münster: Waxmann 2011 (im Druck). Bildnachweise Kathrin Friedrich Abb. 1: aus Willi A. Kalender: Computertomographie. Grundlagen, Gerätetechnologie, Bildqua- lität, Anwendungen. 2. Aufl. Erlangen 2006, S. 32 (Abbildung 1.9.). Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Publicis Erlangen. Wibke Larink Abb. 1: Tafel XV aus Félix Vicq d’Azyr: Traité d’Anatomie et de Physiologie, avec des Planches Coloriées. Représentant au naturel les divers organes de l’Homme et des Animaux. Paris 1786 (eigene Fotografie). Abb. 2: Frontispiz aus Félix Vicq d’Azyr: Traité d’Anatomie et de Physiologie, avec des Planches Coloriées. Représentant au naturel les divers organes de l’Homme et des Animaux. Paris 1786 (eigene Fotografie). Abb. 3: Tafel I aus Samuel Thomas Soemmerring: Über das Organ der Seele. Königsberg 1796. © Universitäts- und Landesbibliothek in Münster (Handschriftenabteilung). Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Rolf Siemon, Kurator der Ausstellung Samuel Thomas Soem- merring (1755-1830). Mediziner und Naturwissenschaftler aus Thorn. Abb. 4: Tafel III aus Samuel Thomas Soemmerring: De Basi Encephali et Originibus Nervorum Cranio Egredientium Libri Quinque. Göttingen 1778. © Herzog August Bibliothek Wolfen- büttel. Petra Missomelius Abb. 1: wikipedia commons. http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/archive/5/5c/200 80224085340!Varian4T.jpg (Stand 03.03.2011). Abb. 2: © M. Romalis, Princeton. www.pro-physik.de/Phy/leadArticle.do?laid=8723 (Stand: 03.03.2011). Abb. 3: http://de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/423655 und http://www.klaus-sedlacek.de/Bilder/ fMRT%20Aktivitaethinten%20PD.jpg (Stand: 03.03.2011). Abb. 4: © Project Photos/Teipel. http://www.netdoktor.de/Magazin/Die-Gehirn-Visionaere-5859. html (Stand 23.02.2011). Abb. 5: Public domain. Grafik der US National Science Foundation. Abb. 6: © USA Today. http://www.usatoday.com/life/lifestyle/2004-07-07-smart-pills-main_x.htm (Stand: 03.03.2011). Florian Arndtz Abb. 1: aus Karl Pearson: The Life, Letters and Labours of Francis Galton. Bd. 2: Researches of Middle Life London 1924, Tafel XXIX (in hoher Auflösung auch zu sehen auf http://www. galton.org/composite.htm). Abb. 2: http://www.beautycheck.de/cmsms/index.php/virtuelle-schoenheit, © Beautycheck Sven Stollfuß Abb. 1: aus Lennart Nilsson: Leben. Bilder aus dem Inneren des menschlichen Körpers. München 2006, S. 291. Abb. 2: aus Lennart Nilsson: Leben. Bilder aus dem Inneren des menschlichen Körpers. München 2006, S. 277.