250 MEDIENwissenschaft 03/2022 Rezension im erweiterten Forschungskontext: Goethe medial Margrit Wyder, Barbara Naumann, Georges Felten (Hg.): Goethe medial: Aspekte einer vieldeutigen Beziehung Berlin/Boston: de Gruyter 2021, 390 S., ISBN 9783110736779, EUR 99,95 Versuche, die Wirklichkeit zu erfas- fügbar. Im Zuge der digitalen Wende sen, künstlerisch darzustellen und hat sich der Begriff ‚Medienkultur‘ als wissenschaftlich zu erörtern, zeugen Oberbegriff zur Kategorisierung medi- vom Bedürfnis, die Welt erklären enwissenschaftlicher Konzepte eta- und verstehen zu wollen. Der Buch- bliert. Von entscheidender Bedeutung druck ermöglichte erstmals, das bereits ist sein Grundwort, denn ‚Kultur‘ sug- bekannte und immer wieder aktuali- geriert auch, dass die Medialität kein sierte Wissen um die Welt massenhaft Spezifikum unserer globalen Struk- zu sammeln und zu verbreiten. Er lei- turen darstellt, sondern Transformati- tete bei der Schaffung und Verteilung onen folgt und in Gang setzt. von Informationen eine Demokratisie- In Ästhetik der Medialität (2009) rung ein, provozierte aber zugleich auch diskutiert Reiner Matzker Medialität die Bemühungen zur Schaffung eines an Platons und Aristoteles’ Auffassung Kontrollsystems mit Machtanspruch. über Bilder und deren Referenzbereiche Dieses System drohte mit dem Auf- in der Wirklichkeit und zeigt, dass kommen des Internets geschwächt zu Medialität schon in der Antike ihre werden. Die kommerzielle Phase des Wirkung findet. Aristoteles hat den Internets in den 1990er Jahren verein- Menschen als animal rationale begriffen. fachte den Zugang der Öffentlichkeit Für die Moderne argumentiert Ernst zu Wissen, führte mit den Jahren zur Cassirer, dass das herausragende Cha- Zunahme der Internetnutzung und mit rakteristikum des Menschen nicht in ihr auch zum ansteigenden Datenaus- dessen metaphysischer oder physischer tausch (vgl. Breljak 2019). Natur bestehe, sondern in seinem Mit der digitalen Datensamm- Werk. In seinem dreibändigen Werk lung und dem Datenaustausch erfährt zur Philosophie der symbolischen Formen das Sammeln und das Verbreiten von (1923-1929) unternimmt Cassirer eine Wissen eine Wende. Diese digitale thematische Untersuchung von Spra- Wende ist ein zweischneidiges Schwert: che, Mythos und Religion und erzielt Bücher und Bibliotheken finden in den aus seiner Untersuchung Erkenntnisse E-Books und den virtuellen Bücher- für die Philosophie der Moderne. Im sammlungen ihre Konkurrenzen. Was zweiten Band seiner Philosophie (1925) einst für Autorinnen und Autoren betrachtet Cassirer das mythische Den- genauso wie für die Verlage eine exi- ken als Prozess einer dialektischen stentielle Bedeutung hatte, ist nun für Entwicklung, die symbolische Formen die Öffentlichkeit als Open Access ver- der Weltbetrachtung wie Geschichte, Medien / Kultur 251 Kunst und Wissenschaft erst hervor- Werk zunächst der Frage an, wie die bringt (vgl. Cassirer 2015, S.181-274). ästhetische Darstellung der Wirk- Der Band Critical Terms for Literary lichkeit in der Literatur Impulse zu Study erörtert diesen Ansatz und bestä- möglichen Erklärungen dieser Wirk- tigt mit seiner These, dass der Mensch lichkeit geben kann. Sodann geht es stets Zeichen produziere und deute (vgl. im Buch um die Rolle und die Wir- Lentricchia/McLaughlin 1995), Cas- kung Goethes als Rezipienten und sirers Auffassung, den Menschen als Produzenten. In dieser Hinsicht wird animal symbolicum zu betrachten. Dem- im Sammelband der Weimarer Dich- nach diskutiert auch Sybille Krämer, ter mit Blick auf seinen Medienge- dass die Kommunikation menschlicher brauch als „medienbewusste[r]“ (S.2) Beobachtungen, Wahrnehmungen und und „medienreflektierte[r] Autor“ (S.1) Denkweisen ohne Hilfe von Medien vorgestellt. Schließlich bespricht der im Grunde undenkbar sei (vgl. Krä- Sammelband die Goethe-Rezeption mer 2004, S.22). Krämers Plädoyer, im Spannungsfeld der Print- und Medialität durch die Vernetzung von Digitalmedien unter dem Aspekt der medientheoretischen und kulturwis- ‚Medienkultur‘. Unter dieser Vorausset- senschaftlichen Ansätzen diskursiv zung gewinnt Goethes Präsenz in den zu erfassen, erläutert Knut Hickethier digitalen Medien eine zeitgenössisch- (2010) mit Hilfe von drei miteinander moderne Bedeutung. zusammenhängenden Aspekten: Als Die in fünf Kapiteln publizierten Erstes gelten die spezifischen Eigen- Beiträge gehen auf zwei zusammen- schaften eines Mediums, die oft in gehörende Tagungen in Zürich (2018) eine das betreffende Medium charak- und am Deutschen Literaturarchiv in terisierende Ästhetik münden (Medi- Marbach (2019) zurück, die von der alität im engeren Sinne); zweitens sind Goethe-Gesellschaft Schweiz organi- diejenigen Techniken relevant, die zur siert und in einer Zusammenarbeit mit Realisierung des Mediums verwendet der Universität Zürich, der Zentralbi- werden; drittens geht es um die Art und bliothek Zürich und dem Marbacher Weise, wie ein Medium gesellschaft- Literaturarchiv durchgeführt wurden lich institutionalisiert und verwendet (vgl. S.5). wird. Diese dreifache Perspektivierung Das erste Kapitel zu „Goethes soll verdeutlichen, dass wir Medien Umgang mit Medien“ wird mit dem gebrauchen, um uns einen Zugang zur Brief, dem prädestinierten Medium Wirklichkeit zu verschaffen. Zugleich jener Epoche, eröffnet. Nacim Ghanbari reflektieren wir über die Medien als diskutiert Goethes Brief vom 23. Mai kulturelles Organ. 1764 an Ludwig Ysenburg von Buri Aus dieser kulturtheoretischen sowohl als den ersten überlieferten Brief Perspektive betrachtet, ließe sich der Goethes als auch als das Anwerbungs- Sammelband Goethe medial in einer schreiben eines Vierzehnjährigen. Den dreifachen Verortung besprechen. Er Brief stellt Ghanbari als Medium einer nimmt sich am Beispiel von Goethes „Patron-Klient-Beziehung“ (S.9) vor 252 MEDIENwissenschaft 03/2022 und wirft einen Blick auf den gesell- mittlung und Unmittelbarkeit“ (S.97) schaftlich kodierten Stellenwert des beschreibt. Briefs. Das zweite Kapitel widmet sich Weniger der Brief als vielmehr den „Medialen Aspekten in Goethes das Schreiben selbst bildet Sebastian Werk“. Alexander Honold schildert an Böhmers Diskussionsgegenstand. Der Die Leiden des jungen Werthers (1774) Brief als Kommunikationsmedium – so zunächst diejenigen Aspekte, die einen in Goethes und Charlotte von Steins Brief überhaupt zu einem Kommuni- Korrespondenz vom 16. April 1776 – kationsmedium machen, und diskutiert setzt die Produktion von Schrift voraus dann den Stellenwert, die „kalenda- und dient in diesem Sinne als Mittel rische Synchronisierung von Lebens- der Übertragung von Sinn (vgl. S.27). geschichte und Weltlauf “ für Goethes Ausgehend von diesem Beispiel stellt „eigene narrative Identitätsbildung“ Böhmer den Brief über dessen mediale und für „seine Bemühungen um einen Funktion hinaus als Ausdruck des poe- gesellschaftlichen Resonanzraum lite- tischen Höhepunkts in der Beziehung rarischer Produktion“ (S.106) haben. zwischen Goethe und von Stein vor. Die Gesellschaft als Resonanzraum Der Brief avanciert zu einem Kommu- literarischer Produktion zu begreifen, nikationsmedium, zur Dichtung und führe nach Honold in Werther dazu, die zum Werk zugleich (vgl. S.28). Bestimmung des Menschen aus seiner Einen weiteren Schwerpunkt bilden Einbettung in eine soziale Umwelt die Kartografie und Goethes Umgang abzulesen. Solch ein gesellschaftlicher mit Karten in Margrit Wyders Bei- Resonanzraum ist jedoch ohne den trag über die Karten der Schweiz im Stellenwert des Individuums selbst Spannungsf eld von Rationalität und nicht denkbar. Imagination. An Goethes Gebrauch So diskutiert Sophie Witt die von Karten zeigt Wyder, wie sich Wis- Repräsentation des Körpers an Goethes sen und Imagination in der literarischen Formulierungen in dessen Reaktion auf Produktion verschränken. Lavaters Äußerungen in Physiogno- Gelten Wyder Karten als Wissens- mischen Fragmenten (1775-1778) und material, bezeichnet Andreas Kilcher hebt die kritischen Ansichten Goethes in seinem Beitrag Bücher als „Medien über die Reduktion des Menschen des Wissens“ (S.97). Goethe wusste auf das Äußere des Körpers hervor. sich dieser Art der Medien besonders Goethes Singspiel Lila (1777) bildet intensiv zu bedienen. Kilcher stellt mit einem umfassenden Blick auf die am Beispiel von Faust (1808) Goe- Funktions- und Bedeutungsrelevanz thes ambivalente Haltung fest, die des Theaters im 18. Jahrhundert den er jedoch nicht als negativen Wider- Diskussionsgegenstand. Witt geht spruch versteht, sondern wie Wyder es mit diesem Beispiel um die Frage, als „produktive Spannungsf läche inwieweit Goethes Lila als kritische wissenschaftlicher Praxis im Ringen Auseinandersetzung mit den physio- um Naturanschauung zwischen Ver- gnomischen Sicht- und Lesbarkeitsprä- Medien / Kultur 253 missen und als pathognomisches und seiner Vorstellung und Begeisterung mediologisches Körperdenken wirkt von einer Urwelt in den Diskursen (vgl. S.130). seiner Zeit Ausdruck verleihen konnte Wie Witt das Theater als Reprä- (vgl. S.163f.). Schnyder zeigt, dass sentationsmedium anvisiert, so geht Goethe in die intermedialen Prozesse Marisa Siguan in ihrem Beitrag auf das seiner Zeit involviert war und dass das Erzählen als solch ein Medium ein. An Riesenfaultier bei seinen Urwelt-Dis- Goethes Unterhaltungen deutscher Aus- kussionen zu einem Medium der wis- gewanderter (1795) beschreibt sie, wie senspoetologischen Reflexion avanciert. Gegenstände (hier der Schreibtisch) Goethe medial beschreibt auch die im Erzählen Bedeutungen tragen und Rezeption, Archivierung und Ver- konstituieren und wie die erzählten mittlung von Werken Goethes in sei- Geschichten selbst unterschiedliche nen Lebzeiten wie nach seinem Tod. Perspektiven zur Sprache bringen. An Anke Bosse eröffnet ausgehend von dem ,knallenden‘ und dem verbrannten der These über die Medialität der Lite- Schreibtisch ließe sich Siguans Ansicht ratur ihre Diskussion über den West- nach ablesen, wie das Medium ‚Schreib- östlichen Divan (1819/1827) und stellt tisch‘ zum einen die Rahmen- und Bin- die intermedialen Rahmungen der nenerzählungen miteinander verbindet Divan-Editionen von 1819 und 1827 und zum anderen Erklärungszusam- in den Fokus. In Bosses Beitrag treten menhänge vermittelt. Diese seien, so zwei Aspekte, nämlich die Rezeption Siguan, in der Erzählung polyvalent der persischen und der arabischen und entzögen sich daher auch einem Literatur einerseits und der produk- eindimensionalen Deutungsversuch tive Umgang Goethes im Sinne der (vgl. S.156). Herstellung von Etwas ‚Neuem‘ ande- Dass Goethe Naturelemente zum rerseits in den Vordergrund. Die Ver- Gegenstand seiner wissenspoetolo- schränkung von Altem und Neuem gischen Reflexionen erklärte, ist weit- lässt sich als Grundprinzip in Goethes aus bekannt. Nicht zuletzt trägt seine literarischem Schaffen bezeichnen, das Spinoza-Lektüre zu der Erkenntnis bei, nicht nur den Divan als literarische dass jedes Existierende ein Analog allen Form einer imaginierten Reise betrifft, Existierenden sei. Ausgehend von der sondern auch die Italienische Reise, mit Entdeckung um 1800, dass Tiere aus- deren literarischer Schilderung (1813- sterben können, zieht Peter Schnyder 1817) sich Caroline Torra-Mattenklott das Riesenfaultier in Wilhelm Meisters befasst. Dieses Grundprinzip sei, so Wanderjahre (1829) als Beispiel heran, Torra-Mattenklott, nicht nur durch um an diesem Roman nicht bloß ein Goethes Umgang mit den Dingen Phänomen der Urwelt im Kontext von charakterisiert, sondern auch durch wissens- und mediengeschichtlichen die literarische Form als Mittel zur Problemfeldern zu beschreiben; viel- ästhetischen Darstellung der Dinge mehr sieht Schnyder im Riesenfaultier- und der Beobachtungen (vgl. S.239). Skelett ein Medium, mit dem Goethe An G oethes Komposition der Italien- 254 MEDIENwissenschaft 03/2022 ischen Reise beschreibt sie die „Elemente Buschs ‚Wertheriade‘ Balduin Bählamm, einer Poetik des Reisens“ (S.234) und der verhinderte Dichter (1883) und rückt versucht, ausgehend von ihrer Idee an Goethes Werther das Verhältnis von über diese Poetik die Italienische Reise Poesie und Prosa in den Blick. Für selbst im Spannungsfeld des medial Claudia Keller spielt Goethes Nach- vermittelten Vorverständnisses und der bild-Poetik bei Peter Handke eine modellierenden epischen Erzählung zu zentrale Rolle in ihrer Diskussion über diskutieren. die vielfältigen intertextuellen Bezüge Für die literarische Komposition zu Goethes Werken. Danach eröffnet der Italienischen Reise interessiert sich Gerhard Lauer mit seinen Ansichten auch Barbara Neumann. Sie konstru- über die Lesekultur und Kulturkritik iert das Spannungsfeld von Wissen und die Perspektive darauf, dass sich in den Poesie und bemerkt überzeugend, dass sozialen Medien und vor allem unter Goethes Erkundungen nicht allein auf jungen Leserinnen und Lesern eine Gegenstände, sondern genauso inten- „Lesewelt auch der Klassiker“ (S.324) siv auf sich selbst und seine Gefühle formiert habe, die durchaus an Goethe gerichtet seien (vgl. S.249). Goethes interessiert sei. Lauers Beitrag verortet Selbstref lektionen, so Neumann, die Rezeption von Goethes Werken vollzögen sich in den „privilegierten in einem Verhältnis des Gedruckten Medien“ (S.252) des Schreibens und des und des Digitalen und unterstrei- Zeichnens, die selbst ein „gegenseitig cht das Interesse an Goethe auch im ergänzendes Verhältnis“ (S.256) zuein- digitalen Zeitalter. Die Möglichkeit, ander aufwiesen: „Defizite des jeweils Goethe digital zu lesen, widerlegt also einen Mediums“ motivierten, heißt es die populär gewordenen Thesen über weiter, „die ergänzende Darstellungs- den Lese- und Kulturverfall. Dies wird weise durch das andere“ (S.256). Aus auch durch das steigende Angebot dieser Abhängigkeit erschließt Neu- an Editionen im Netz bekräftigt. So mann das intermediale Verhältnis von schlägt Lauers Aufsatz gut den Bogen Zeichnungen und schriftlichen Auf- zum letzten Kapitel „Goethe digital: zeichnungen: „Sie bilden eine Korres- Editionen im Netz“. Thomas Richter pondenz von Leere und Fülle, von stellt hier in seinem Beitrag über den rascher, kurzer Skizze und entfalteter „Briefwechsel zwischen Goethe und Ergänzung, von Abstraktion und Kon- Lavater“ (S.339) die historisch-kritische kretion“ (S.260). Hierauf gründet auch Edition ausgewählter Briefwechsel ihre These über die hybriden Formen von Lavater im Rahmen des Projekts medialer Komposition, die, sie es noch Johann Caspar Lavater (JCLB) vor, das einmal hervorgehoben, sowohl auf die zum 1. Januar 2017 als Kooperation Italienische Reise zutrifft als auch auf unter einer gemeinsamen Leitung durch den West-östlichen Divan. die Forschungsstiftung Johann Caspar Im Kapitel „Goethe-Rezeption als Lavater und das Deutsche Seminar der mediale Spiegelung“ beschäftigt sich Universität Zürich begann. Richters zunächst Georg Feltens mit Wilhelm Ziel besteht darin, am Beispiel von Medien / Kultur 255 Brief und Briefwechsel zu zeigen, dass Der Brief wird dabei nicht allein auf deren digitale Edition wohl das geeig- seine Funktion als Kommunikations- nete Medium sei, „um weitverzweigte medium reduziert, sondern avanciert Netzwerke adäquat nachvollziehbar zu einem Medium des Erzählens. Als und erfahrbar zu machen, ohne dass Erzähltext kann er auch im Sinne eines dadurch [...] die herkömmliche Buche- Mediums bezeichnet werden, an dem dition obsolet werden würde“ (S.340). die Dynamiken einer bestimmten Epo- Damit beschreibt Richter wiederum che individuell wie kulturell erfasst und eine Art „Hybridedition“ (ebd.), in der kulturtheoretisch beschrieben werden sich die Komponenten der Digital- und können. In diesem Zusammenhang Printedition ergänzen. Diese Annahme gewinnt auch Honolds These über bestätigen auch Bernhard Fischer und den gesellschaftlichen Resonanzraum Dominik Kasper in Goethes Biogra- der Identitätsbildung (vgl. S.106) an phica und in ihrer Vorstellung der For- Relevanz. Dass Honold im Kontext schungsplattform Propyläen. Ebenfalls seiner früheren Arbeiten (vgl. Honold im Jahr 2014 wurde das Propyläen- 2013) den Brief mit Hilfe der von Projekt als langfristiges Kooperations- ihm genannten „Metadaten“ (S.107) vorhaben der Klassik Stiftung Weimar, im Sinne von personalen und chro- der Sächsischen Akademie der Wissen- nologischen Markierungen von hoher schaften zu Leipzig und der Akademie Relevanz erachtet und dies in seinem der Wissenschaften und Literatur in Beitrag an Goethes Werther erörtert, Mainz in das Akademienprogramm leuchtet ein. Zustimmen lässt sich auch aufgenommen. Gestartet ist das Projekt der Beobachtung, dass das Datum als Ende April 2015. „unmittelbarer […] Ausdruck des Das breitgefächerte Werk Goethes Zeitbezuges literarischer Schreibakte“ unter den Aspekten der Medienkul- (S.107) fingiere. Weniger überzeugend tur und der Medialität zu diskutieren, scheint jedoch der Weg vom Datieren stellt sich als eine durchaus ertragreiche zur Identitätsbildung in den Schreibak- Herausforderung dar. Einen innova- ten. Dennoch: Den Brief als Erzähl- tiven Ansatz bietet Sebastian Böhmer text zu diskutieren, macht frühere durch seinen Schwerpunkt auf Schrift Arbeiten zum Brief und zum Erzählen im Sinne eines Mediums, das ein wei- wie außerdem Edith Anna Kunzens teres Medium, nämlich den Brief, erst Beitrag zum Schreiben und Erzählen produziert. Indem Böhmer die Schrift sowie Johannes Andereggs Aufsatz zur als Mittel der Übertragung von Sinn Brieftheorie und Briefpraxis am Bei- auffasst, konzentriert er sich auf die spiel von Goethes Werk anschlussfähig literarischen Techniken der Bedeu- (vgl. Anderegg 2001, S.44ff.). tungskonstruktion bei der Entstehung Fragen wirft insbesondere die Dis- des Briefes. Diese kultursemiotische kussion über die Medialität und über Perspektive erlaubt, den Brief als lite- Goethes West-östlichen Divan auf. rarische Gattung auch im erzählthe- Goethes Verhältnis zur Medienkultur oretischen Kontext zu diskutieren. seiner Zeit ist evident (vgl. Dotzler 256 MEDIENwissenschaft 03/2022 2011, S.47-110). Ebenfalls erforscht gesprochene Sprache“, indem er „Buch sind Aspekte der Intertextualität und und Schrift intermedial “ (S.184) über- Interkulturalität, nicht nur in Bezug auf schreite, sollte hinterfragt werden, denn den Divan, sondern interessanterweise diese Charakterisierung ist nicht allein auch in Bezug auf Faust und Hafez (vgl. ein Spezifikum des Divan. Zum einen Michaeli 2019). Anke Bosse fragt nach müsste geklärt werden, welche Rolle den Bezügen, die der Divan als Medium die gesprochene Sprache überhaupt im zu anderen Medien herstellt, nach der Divan spielt. Was bedeutet, der Divan Wirkung des Medienwechsels und nach überschreite Buch und Schrift? Hätte der „lesersteuernde[n]“ (S.176) Funktion er ohne Buch und Schrift überhaupt der intermedialen Bezüge. Tatsächlich entstehen können? Ohne einen Bezug werden aber bereits bekannte, vielfach zu den formulierten Fragen bleibt auch zitierte historische und rezeptions- der letzte Abschnitt (vgl. S.189f.), der theoretische Ansätze referiert, die im von persönlichen Erfahrungen einer Grunde unter intertextueller und inter- wohl politisch motivierten Iran-Reise kultureller Voraussetzung zu begreifen berichtet. wären. Zwar werden die Bildlichkeit Wenn der Untertitel des Sam- und Mündlichkeit angesprochen; es melbands Aspekte einer vieldeutigen bleibt jedoch unklar, wie insbesondere Beziehung lautet, so erlaubt er unbeant- die Mündlichkeit die Produktion des wortete Fragen als Anlass zu weiteren Divan beeinflusste. Bosses allgemein Lesarten, Deutungen und Diskussionen zu verstehendes Fazit, der Divan insze- zu nehmen. In diesem Sinne erreicht niere „nicht nur die Ermächtigung des der Sammelband auch seine Wirkung. Mediums ,Buch‘ und damit auch des Autors“, sondern bedrohe auch „die Hamid Tafazoli (Bielefeld) Literatur Anderegg, Johannes: Schreibe mir oft! Das Medium Brief von 1750 bis 1830. Göt- tingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2001. Breljak, Anja: „Zum Zusammenhang von Affekt, Wissen und Kontrolle im Digi- talen.“ In: Mühlhoff, Rainer/Breljak, Anja/Slaby, Jan (Hg.): Affekt Macht Netz: Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft. Bielefeld: transcript, 2019, S.37-54. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen II: Das mythische Denken. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2015. Dotzler, Bernhard J.: Diskurs und Medien III. Philologische Untersuchungen: Medien Medien / Kultur 257 und Wissen in literaturgeschichtlichen Beispielen. München: Wilhelm Fink, 2011. Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart/Weimar: UTB, 2010. Honold, Alexander: Die Zeit schreiben: Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Takt- geber der Literatur. Basel: Schwabe, 2013. Krämer, Sybille: „Was haben ‚Performativität‘ und ‚Medialität‘ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ‚Aisthetisierung‘ gründende Konzeption des Perfor- mativen.“ In: dies. (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink, 2004, S.13-31. Lentricchia, Frank/McLaughlin, Thomas (Hg.): Critical Terms for Literary Study. Chicago: The University of Chicago Press, 1995. Matzker, Reiner: Ästhetik der Medialität: Zur Vermittlung von künstlerischen Welten und ästhetischen Theorien. Reinbek: Rowohlt 2009. Michaeli, Hiwan: Goethe’s Faust and the Divan of Hāfiz: Body and Soul in Pursuit of Knowledge and Beauty. Berlin/Boston: De Gruyter, 2019.