René Wilke | Hubert Knoblauch (Hrsg.) Videographie und Videoanalyse Standards standardisierter und nichtstandardisierter Sozialforschung Herausgegeben von Nicole Burzan | Paul Eisewicht | Ronald Hitzler René Wilke | Hubert Knoblauch (Hrsg.) Videographie und Videoanalyse Beiträge zur Erhebung, Analyse und Nutzung von Videodaten in der Qualitativen Forschung Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Der Text dieser Publikation wird unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0) veröffentlicht. Den vollständigen Lizenztext finden Sie unter: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de. Verwertung, die den Rahmen der CC BY 4.0 Lizenz überschreitet, ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Quellenangabe / Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Dieses Buch ist erhältlich als: ISBN 978-3-7799-8524-2 Print ISBN 978-3-7799-8525-9 E-Book (PDF) DOI 10.3262/978-3-7799-8525-9 1. Auflage 2025  © 2025 Beltz Juventa in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel Werderstraße 10, 69469 Weinheim service@beltz.de Einige Rechte vorbehalten Satz: Datagrafix, Berlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Beltz Grafische Betriebe ist ein Unternehmen mit finanziellem Klimabeitrag (ID 15985-2104-1001) Printed in Germany Weitere Informationen zu unseren Autor:innen und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de Dieser Sammelband, herausgegeben von René Wilke und Hubert Knoblauch (Technische Universität Berlin), wurde aus dem Open-Access-Publikationsfonds der Technischen Universität Berlin unterstützt. https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de mailto:service%40beltz.de?subject= http://www.beltz.de 5 Inhalt I. Theoretische und methodologische Überlegungen zu (audiovisuellen) Forschungsdaten in der empirischen Qualitativen Sozialforschung 9 Forschungsdaten der qualitativen sozialwissenschaftlichen Videoanalyse. Eine einleitende Systematisierung der audiovisuellen Datensorten in diesem Sammelband Hubert Knoblauch und René Wilke 10 Daten über Daten über Daten. Das wissenschaftssoziologische Projekt »Analyse unmittelbarer Kommunikation und Interaktion als Zugang zum Problem der Entstehung sozialwissenschaftlicher Daten« an der Universität Konstanz (1978–1982) Christian Meyer und Christian Meier zu Verl 40 Die interpretative Analyse gefilmter Praxis. Verheißungen und Fallstricke Michael Corsten 62 II. Videographische und medienanalytische Ansätze mit Vernakularen Videos natürlicher sozialer Situationen und inszenierter Inhalte 81 1. Videographische Vernakulare Videos 82 Ausbruch und Verharmlosung von Gewalt. Kontextualisierungen eines YouTube-Videos Ulrike T. Kissmann 83 Videoanalytische Rassismusforschung Christian Meyer, Hanna Grauert und Frank Oberzaucher 98 Zwischen Interaktion und Produkt. Polizeiliche Bodycamaufnahmen als hybrider Gegenstand der Videoanalyse Simon Egbert und Jasper Janssen 120 Polizeiliche Vernehmungen. Zum Wandel einer hochintensiven Kommunikationsform durch ihre audiovisuelle Aufzeichnung Mina Godarzani-Bakhtiari und René Tuma 144 6 II. Videographische und medienanalytische Ansätze mit Vernakularen Videos natürlicher sozialer Situationen und inszenierter Inhalte 167 2. Medial-gattungsförmig gestaltete Vernakulare Videos 168 Videoanalyse und Videointeraktionsanalyse als Methoden der empirischen Sexualforschung Sven Lewandowski 169 Audiovisuelles Datenmaterial in der ethnographischen (Jugend-)Szeneforschung. Rapvideo-Eigenproduktionen als Zugang zu kulturellen Wissens- und Sinnzusammenhängen Katharina Bock 186 Analyse von Videodaten. Unterschiede zwischen Feldvideos und Plattformvideos Bernt Schnettler 201 III. Interaktionsanalysen mit Ethnographischen Videos 223 1. Interaktion in Paarbeziehungen, (Klein-)Gruppen, Kollektiven und der Öffentlichkeit 224 Videodaten bei der Analyse der Kommunikation mit Menschen mit der Diagnose Demenz Jo Reichertz und Anna-Eva Nebowsky 225 Konversationsanalyse transsituativer Kollektionen. Die Erforschung projektiver Gattungen in ihren temporalen Zusammenhängen Jonas Kramer und Sarah Hitzler 237 Klangorientiertes kommunikatives Handeln. Herausforderungen und Potenziale der Videoanalyse gemeinsamen Musizierens Theresa Vollmer 254 Erhebung – Analyse – Nachnutzung. Audio-/Videodaten im Kontext sprachlicher Begabungsförderung Caterina Mempel und Jenny Winterscheid 272 Verdeckte Videographie. Datenerhebung und -analyse im Spannungsverhältnis von Erkenntnisinteresse und Forschungsethik Ajit Singh 290 7 III. Interaktionsanalysen mit Ethnographischen Videos 309 2. Interaktion und Interaktivität mit Gegenständen, Technik und digitalen Technologien 310 Analyse atypischer Kommunikation. Transkription von Videosequenzen als analytischer Ansatzpunkt von Mehrpersonengesprächen im Kontext Unterstützter Kommunikation Imke Niediek 311 Digitale Materialitäten in multizentrischen Interaktionen. Mikroethnographische Verfahren zur Untersuchung gruppenförmigen Arbeitens im Tablet-gestützten Unterricht Matthias Herrle, Matthias Proske, Aline Puzicha und Anne Zimmer 335 Eye-Viewing als Methode der qualitativen Sozialforschung. Durch Eye-Tracking-Technologie erweiterte Videographie zur Erforschung von (medienbezogenen) Praktiken in Schule und Unterricht Isabel Neto Carvalho 356 Sehen und soziale Interaktion im Kunstmuseum. MET x EMKA als neuer Ansatz der Videoanalyse Luise Reitstätter, Seda Pesen und Dirk vom Lehn 372 Autovideographie. Zur Analyse digitaler Spielpraktiken mithilfe von Multi-Kamera-Videos Marcel Thiel-Woznica 392 Nonverbale Interaktionsmuster in Mixed Reality. Videographische Analysen von Human-Agent-Interactions Jonathan Harth 408 IV. Nutzungsformen: Forschungsvideos im wissenschaftlichen Film und Forschungsdatennachnutzung 433 Wie Videoanalyse und soziologischer Film voneinander lernen können. Versuch einer theoretischen Grundlegung visualisierter Kommunikation in der Soziologie Katharina Miko-Schefzig 434 Audiovisuelle Forschungsdaten und ihre Kontexte teilen. Archivierung und Nachnutzung von Daten aus der ethnografischen Filmforschung Martin Gruber und Michaela Rizzolli 452 8 Bildungshistorische Perspektiven auf audiovisuelle Dokumente aus pädagogischen Fortbildungskontexten und der Unterrichtsforschung May Jehle 470 De- und Rekontextualisierung in der Qualitativen Sekundäranalyse von Unterrichtsvideos Anna Hamer, Jana Helbig und Michael Urban 484 Qualitative Sekundäranalyse. Zu Chancen und Herausforderungen der Nachnutzbarmachung qualitativer Daten für Forschung und Methodenlehre René Wilke 500 I. Theoretische und methodologische Überlegungen zu (audiovisuellen) Forschungsdaten in der empirischen Qualitativen Sozialforschung 10 Forschungsdaten der qualitativen sozialwissenschaftlichen Videoanalyse Eine einleitende Systematisierung der audiovisuellen Datensorten in diesem Sammelband Hubert Knoblauch und René Wilke Zusammenfassung: Dieser Text diskutiert einleitend die Begriffe »Daten« und »Forschungsdaten« im Kontext der qualitativen Sozialforschung. Aufbauend auf dem breiten Spektrum der Beiträge zu Videodaten in der deutschsprachigen qualitativen Sozialforschung, vertreten durch insgesamt 26 Einzelbeiträge in die- sem Sammelband, entwickelt dieser Beitrag eine Systematik audiovisueller For- schungsdaten, die in diesem Forschungsfeld verwendet werden. Auf Grundlage der unterschiedlichen Erhebungs- und Analysekontexte audiovisueller Daten unterscheiden wir dabei zwischen Ethnographischen Videos, die von Forschenden erzeugt werden, und Vernakularen Videos, die aus privaten oder institutionellen Alltagskontexten stammen, sowie dem großen Bereich medialer Videodaten, die Gegenstand anderer Formen der (Medien-)Analyse sind. Wir zeigen, dass, zu- gleich mit dem Erhebungskontext, teilweise auch die Gegenstände der Daten und ihr Analysekontext variieren. Abschließend wird auf Grundlage der Systemati- sierung von Erhebungskontexten, Analysekontexten und Nutzungsformen, die den wissenschaftlichen Film sowie die Sekundäranalyse umfassen, ein strukturierter Überblick über die Einzelbeiträge des Sammelbands gegeben. Schlüsselwörter: Forschungsdaten, empirische Wissenschaftstheorie, Videoana- lyse, Ethnographische Videos, Vernakulare Videos 1. Einleitung Der Sammelband entstand im Zusammenhang mit dem Versuch, eine webba- sierte Forschungsdateninfrastruktur für audiovisuelle Daten der qualitativen empirischen Sozialforschung (aviDa1) aufzubauen. Weil dieses Vorhaben nicht 1 Das Projekt aviDa wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und erstreckte sich zwischen den Jahren 2018 und 2024 über zwei Förderphasen (Projektnum- mer: 396913378). Aktuell ist die fertig entwickelte Infrastruktur ohne technischen Betrei- ber. An dieser Stelle möchten wir uns bei der DFG sowie allen Projektmitarbeiter*innen be- danken. Für Korrektur und Kommentare bedanken wir uns bei Paula Kleine-Berkenbusch. 11 nur die Erhaltung von videographischen Forschungsdaten verfolgte, sondern vor allem die wissenschaftliche Nachnutzung ermöglichen sollte, stellte sich uns die zunächst einfach erscheinende Frage: Wie können wir Videodaten so archivieren, dass sie von anderen Forscher*innen für Sekundäranalysen nachgenutzt werden können? Im Laufe des Projekts zeigte sich, dass neben technischen Details auch allgemeine Standards berücksichtigt werden müssen, um die Nachnutzbarkeit von Forschungsdaten sicherzustellen. Die Erfordernisse der Nachnutzbarkeit von Forschungsdaten berühren heterogene und durch sehr unterschiedliche Komple- xitätsgrade charakterisierte Bereiche der Forschung (vgl. Gruber/Rizzolli; Jehle; Hamer/Helbig/Urban; Wilke i. d. B.). Sie reichen von rechtlichen und materialen Aspekten (etwa dem Medium der Daten oder den Formaten ihrer Speicherung) über datenschutzrechtliche und forschungsethische bis hin zu organisatorischen, repräsentativen und methodologischen Fragen der Daten, ihrer Erhebung (Er- zeugung bzw. Sammlung), Analyse und Nutzung. All diese Aspekte sind auch relevant, wenn wir uns allgemein die Frage nach Videos als Forschungsdaten stellen. Diese Relevanz zeigte sich in der zweiten Projektphase von aviDa, als wir zur besseren potenziellen Nutzung des Archivs eine Ausweitung dessen, was wir im engeren Sinne »videographisch« (Tuma/ Schnettler/Knoblauch  2013) nannten, auf einen weiteren Kreis audiovisueller Daten vornahmen. Dabei stellte sich heraus, dass qualitative Forschung hinsicht- lich ihrer audiovisuellen Daten keineswegs leicht standardisierbar ist. Dies gilt bereits für Daten, die im weiteren Sinne ethnographisch erhoben werden, zeigt sich aber umso mehr, je weiter der Fokus auf audiovisuelle Daten eingestellt wird. Daher stellt sich die Frage, die wir in diesem Band verfolgen wollen: Was sind audiovisuelle Daten der qualitativen Sozialforschung? Wer hofft, bei der Klärung dieser Frage auf bestehendes Wissen über den Be- griff der »Daten« zurückgreifen zu können, sieht sich allerdings bald enttäuscht. Abgesehen davon, dass die Digitalisierung von Forschungsdaten selten als solche thematisiert wird, werden die Begriffe (digitale) »Daten« und »Forschungsdaten« häufig nahezu synonym verwendet. Zudem werden die allgemeinen Merkmale, die verschiedenen Arten von Forschungsdaten, heute kaum erörtert. So scheint, was Peter Gross und Thomas Luckmann schon in den 1970er Jahren bemerkt hatten, noch immer zu gelten:2 Es gibt keine »Theorie der Daten«. Deswegen stellt sich auch die Frage: Was sind eigentlich Forschungsdaten? 2 Wir nehmen hier auf ein unveröffentlichtes Manuskript von Peter Gross Bezug, das durch das Sozialwissenschaftliche Archiv Konstanz (SAK) der Universität Konstanz archiviert und unter dem Titel »Theorie und sozialwissenschaftliche Daten« (DE-SAK-LUCK-F1.084-01) auf Anfrage zugänglich gemacht wird. Der Text entstand im Kontext des Forschungspro- jekts von Luckmann und Gross »Analyse unmittelbarer Kommunikation und Interaktion als Zugang zum Problem der Entstehung sozialwissenschaftlicher Daten« (Meyer/Meier zu Verl i. d. B.). 12 Wir wollen hier und mit diesem Sammelband zur Klärung der gestellten Fra- gen beitragen. Dabei bauen wir erstens auf Erfahrungen mit audiovisuellen Daten auf, die einer der Herausgeber dieses Sammelbands im Rahmen von empirischen Forschungsprojekten seit etwa 40 Jahren gemacht hat. Zweitens reflektieren wir die Erkenntnisse, die wir gemeinsam im Rahmen des Projektes zur Archivierung audiovisueller Daten (aviDa) gewonnen haben. Schließlich und drittens basieren die Vorschläge, die wir im Folgenden erläutern, maßgeblich auf den in diesem Band versammelten Texten etablierter Wissenschaftler*innen und Nachwuchs- forscher*innen aus dem gesamten Forschungsfeld im deutschsprachigen Raum. Mit dieser Sammlung unterschiedlicher Beiträge unternehmen wir den Ver- such, die Breite der Videoforschung in der qualitativen empirischen Sozialfor- schung zumindest im deutschsprachigen Raum zu erkunden und abzubilden.3 Zu diesem Zweck haben wir zunächst eine Tagung mit sozialwissenschaftlich-qua- litativ Forschenden aus dem gesamten deutschsprachigen Raum durchgeführt, die mit einer großen Bandbreite audiovisueller Forschungsdaten arbeiten.4 Daran anschließend haben wir den Kreis erweitert und über eine weit gestreute offene Ausschreibung weitere Forscher*innen eingeladen, ihren Umgang mit audiovisu- ellen Daten vorzustellen.5 Das Ziel, das wir uns mit diesem Sammelband setzen, ist nicht allein, die aus- gewählten Beiträge zu dokumentieren. Vielmehr wollen wir  – im Sinne einer empirischen Wissenschaftstheorie6 – zur Beantwortung der genannten Fragestel- lungen beitragen: Wir behandeln deswegen in Abschnitt 2 die Frage, was For- schungsdaten im Allgemeinen sind, und, in Abschnitt 3, was audiovisuelle Daten 3 Im Vergleich zum angelsächsischen Raum, in dem die ethnomethodologisch orientierte Videographie dominiert (mustergültig dazu: Heath et al. 2010), zeichnet sich der deutsch- sprachige Raum erstaunlicherweise durch eine größere Vielfalt methodischer, theoretischer und disziplinärer Ansätze aus, die indessen, ebenso verwunderlich, auch deutlich fragmen- tierter, zuweilen auch hermetischer erscheinen. 4 Die Tagung fand unter dem Titel »Qualitative Videoanalyse – Audio-visuelle Datensorten und ihre Kontexte« am 9. und 10.11.2023 am Institut für Soziologie der TU Berlin statt. Wir bedanke uns an dieser Stelle bei allen Teilnehmer*innen und Helfer*innen, insbesondere bei Paula Kleine-Berkenbusch. 5 Auf unseren Call for Abstracts: Buchprojekt »Audio-visuelle Daten in der empirischen qua- litativen Sozialforschung: Erhebung – Analyse – Nutzung – Transkription« erhielten wir eine große Zahl von Beitragsvorschlägen. Dass wir nicht alle vorgeschlagenen Kontributio- nen in den Band aufnehmen konnten, liegt zum einen an Platzgründen, zum anderen aber maßgeblich an den äußeren Grenzen des gesetzten Themas und dem explizit methodologi- schen Fokus dieses Sammelbands. Wir bedanken uns an dieser Stelle ausdrücklich bei allen, die einen Beitrag vorgeschlagen hatten. 6 Es geht uns hier also nicht nur um die wissenssoziologische Beobachtung der forschenden Praxis, der Vorstellungen über Videodaten und deren technisch erfassbare Eigenheiten, sondern auch um eine Klärung dessen, was Videodaten sind, die als Orientierung für die Arbeit in der Archivierung und in der Forschung selbst dienen soll. Zur empirischen Wis- senschaftstheorie vgl. Knoblauch (2021). 13 der qualitativen Sozialforschung sind. Dabei grenzen wir ein, was wir als Ethno- graphische Videos bezeichnen, indem wir diese von Vernakularen Videos unter- scheiden. Letztere differenzieren wir weiter, indem wir ethnographische von me- dial-gattungsförmigen Vernakularen Videos unterscheiden. Schließlich geben wir in Abschnitt 4 einen nach Erhebungs- und Analysekontexten sowie Nutzungs- formen systematisierten Überblick über die in diesem Band versammelten Ein- zelbeiträge. Der Band gliedert sich in die folgenden Kapitel, denen wir die Einzelbeiträge gemäß unserer Datentypologie systematisch zuordnen. Verweise auf diese Kapi- tel finden sich auch in dem systematischen Überblick am Ende dieses Beitrags (Abschnitt 4): I. Theoretische und methodologische Überlegungen zu (audiovisuellen) Forschungsdaten II. Videographische und medienanalytische Ansätze mit Vernakularen Videos natürlicher sozialer Situationen und inszenierter Inhalte III. Interaktionsanalysen mit Ethnographischen Videos IV. Nutzungsformen: Forschungsvideos im wissenschaftlichen Film und Forschungsdatennachnutzung. 2. Was sind Forschungsdaten? Die Frage, was Forschungsdaten sind, erscheint zunächst leicht zu beantworten, wird der Begriff doch in jedem Methodenbuch verwendet. Dort werden seine Ausprägungen zumeist nur beispielhaft aufgelistet, wie auch in den Leitlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG): »Zu Forschungsdaten zählen u. a. Messdaten, Laborwerte, audiovisuelle Informationen, Texte, Surveydaten, Objekte aus Sammlungen oder Proben, die in der wissenschaftlichen Arbeit ent- stehen, entwickelt oder ausgewertet werden« (DFG 2015, S. 1). Während die DFG daneben auch »methodische Testverfahren, wie Fragebögen, Software und Simu- lationen« (ebd.) unter Forschungsdaten fasst,7 werden Daten in anderen Defini- tionen als Ergebnisse von Verfahren dargestellt, da sie im Zuge wissenschaftlicher Vorhaben durch »Digitalisierung, Quellforschung, Experimente, Messungen, Erhebungen oder Befragungen entstehen«.8 Diese Unklarheit hinsichtlich des »Datenbegriffs« wird zusätzlich verstärkt, indem viele Definitionen tautologisch 7 Ähnlich definiert und systematisiert auch Peter Andorfer (2015), der Forschungsdaten als Quellen (Archivdokumente) und Arbeitsdaten (Bibliographie, Exzerpte, Textentwürfe, Transkriptionen) fasst. 8 Schwerpunktinitiative »Digitale Information«: Forschungsdaten, Beschreibung des Hand- lungsfeldes der Allianzinitiative Digitale Information, zit. n. Wikipedia, »Forschungsdaten« (16.08.2024). 14 sind, d. h. dass sie »Daten« sowohl als definiens wie auch als definiendum nutzen.9 Die Situation wird noch undurchsichtiger durch den ›doppelten Datenbegriff‹: Oft bleibt unklar, ob »Daten« etwas spezifisch Forschungsbezogenes, also »For- schungsdaten«, meint oder lediglich auf den Umstand hinweist, dass diese Daten technisch als digitale Daten vorliegen. Auch wenn heutzutage die meisten For- schungsdaten digital sind, sollte der Kurzschluss vermieden werden, dass digitale Daten mit Forschungsdaten gleichzusetzen seien. Wissenschaftshistorisch erscheint der Begriff »Datum« keineswegs geklärt.10 Seine Verwendung hängt offenbar eng mit der Ausbreitung des Positivismus im 19. Jahrhundert zusammen: So suggeriert das Wort »Datum« epistemologisch den Bezug zur »Wirklichkeit«, als etwas, das unmittelbar beobachtet werden kann, sozusagen von Natur aus gegeben ist. Dagegen weist die Herkunft des Begriffs »Datum« aus der Mathematik auf einen zusätzlichen Aspekt hin, der durch das Wort »Maß« hervorgehoben wird. Erkenntnistheoretisch folgt diese Verbindung noch der (seit Galileo eingeführten) Unterscheidung zwischen den (messbaren) »primären Qualitäten«, die dem Dinge anhaften, und den sekundä- ren Qualitäten, in denen sich Objekte den menschlichen Sinnen zeigen (Luck- mann 1980, S. 17 ff.). Diese Vorstellung der sekundären Qualitäten, die Gegen- stand der »Reflexion« werden, wird im Begriff der »Sinnesdaten« (»sense data«) von John Locke formuliert. Auch wenn Forschungsdaten gerade in der jüngeren Zeit zunehmend thema- tisiert wurden, hat sich die Wissenschaftstheorie damit bisher wenig beschäftigt. So findet sich etwa in der von Jürgen Mittelstrass (2024) herausgegebenen acht- bändigen Enzyklopädie der Wissenschaftstheorie kein Eintrag zu »Daten«. Eine der wenigen namhaften wissenschaftstheoretischen Ausarbeitungen schlagen James Bogen und James Woodward (1992) vor. Um den Datenbegriff zu begrün- den, gehen sie von einem erkenntnistheoretischen Begriff des Phänomens aus, als dem, was sich dem wahrnehmenden Subjekt als Gegenstand der Beobachtung zeigt, über das eine Erkenntnis gemacht und damit Wissen erworben wird. Sie beschränken den Begriff aber nicht auf die Erkenntnis im Allgemeinen; vielmehr gehen sie davon aus, dass Phänomene insbesondere für die moderne Wissen- schaftstheorie relevant sind: Dem »zweigliedrigen Wissenschaftsmodell« zufolge (siehe Abb. 1) beziehen sich wissenschaftliche Theorien demnach auf Phänomene, die sie belegen und die von ihnen erklärt werden. Allerdings erweitern sie dieses Modell: Im Unterschied zur nicht-wissenschaftlichen Erkenntnis spielen Daten in der Wissenschaft eine Sonderrolle. Bogen und Woodward bestimmen sie als 9 Diese Tautologie findet sich auch im Wikipedia-Artikel zu (hier auch digitalen) »For- schungsdaten«: »Unter digitalen Forschungsdaten verstehen wir alle digital vorliegenden Daten, die während des Forschungsprozesses entstehen oder ihr Ergebnis sind« (16.08.2024; Herv. H. K./R. W.). 10 So enthält etwa die wissenschaftshistorische Arbeit von Lorraine Daston und Peter Gali- son (2007) zur »Objectivity« der Naturwissenschaft keinen Registereintrag zu »Daten«. 15 Messergebnisse, die dem menschlichen Wahrnehmungssystem zugänglich sind und die man daher öffentlich überprüfen kann. Daten ergänzen das zweigliedri- ge Wissenschaftsmodell daher auf eine Weise, die sich mit Bogen und Woodward (und in Anlehnung an Apel 2011) als das »dreigliedrige Wissenschaftsmodell« darstellen lässt (siehe Abb. 1). Abbildung 1: Links das »zweigliedrige Wissenschaftsmodell«, rechts das »dreigliedrige Wissenschaftsmodell« nach Bogen und Woodward (eigene Darstellung nach Apel 2011, S. 17–22) Diese Definition des Datenbegriffs ist zwar sehr grundlegend und damit sehr abs- trakt, erlaubt aber immerhin einen Vorbegriff der »Daten«, indem sie von Phä- nomenen und Theorien unterschieden werden. Diese Unterscheidung erfolgt al- lerdings gleichsam von außen (bzw. semantisch extensional), während die innere (semantisch intensionale) Bestimmung der sie auszeichnenden Merkmale dabei unzulänglich bleibt. Wenn sie Daten als »Messergebnisse« bezeichnen, haben wir zwar einerseits den Hinweis auf eine (implizit technisch vermittelte) Handlung (»Messen«) und deren Objektivierung (als »Ergebnis«). Allerdings fragt sich ge- rade bei Daten der qualitativen Sozialforschung, ob wir sie alle unter dem Be- griff des Messens fassen können. Selbst wenn wir eine breite Theorie des Messens unterstellen, wie sie in den Sozialwissenschaften möglich ist, so können doch ge- rade qualitative audiovisuelle Forschungsdaten selten darunter gefasst werden. Zwar gibt es auch im qualitativen Bereich einzelne Ansätze, die etwa Bilder in einem gewissen Sinne vermessen.11 Dennoch kann Messen als lediglich eine für die Herstellung von Daten relevante Handlungsform angesehen werden, neben der es viele andere gibt (und zwar auch in den Naturwissenschaften, wie etwa bei der biologischen Klassifikation von Pflanzen oder Tieren). 11 So z. B. Techniken aus der Kunstwissenschaft wie die Planimetrie oder der Goldene Schnitt, die in der wissenssoziologischen Videohermeneutik (Jürgen Raab), der Dokumentarischen Bild- und Videoanalyse (Ralf Bohnsack) oder der visuellen Diskursanalyse (Boris Traue) zum Einsatz kommen. 16 Für eine erste Klärung der Frage, was Daten (hier: sozial-)wissenschaftlicher Forschung sind, hat ein Forschungsprojekt von Luckmann und Gross mit der Kurzbezeichnung »Daten über Daten« sehr wesentlich beigetragen, das schon in den späten 1970er Jahren eine Art empirische Erforschung wissenschaftlicher Methoden vorgenommen und sich insbesondere mit der Frage der Konstitution sozialwissenschaftlicher Daten beschäftigt hat. Das wissenschaftsgeschichtlich gesehen sicherlich sehr innovative Projekt wurde an der Universität Konstanz durchgeführt, ist jedoch wenig bekannt und wird deswegen hier in diesem Band etwas detaillierter vorgestellt (Meyer/Meier zu Verl i. d. B.). Ähnlich wie das be- rühmtere Vorgängerprojekt der »First Five Minutes« (Pittenger/Hockett/Das- sehy 1960) bezog sich das »Daten über Daten«-Projekt u. a. auf die Frage nach Erzeugung und Verarbeitung von Interviewdaten. Im Unterschied zu seinem amerikanischen Vorbild ging es hier jedoch nicht darum, die Möglichkeiten der Analyse und Interpretation des Datums zu eruieren; vielmehr lag das Augen- merk darauf, zu untersuchen, wie sozialwissenschaftliche Daten erzeugt werden. Dazu waren Interviews, die von den Forschenden selbst durchgeführt wurden, audiovisuell aufgezeichnet worden. Diese Aufzeichnungen wurden dann auf sehr unterschiedliche Weisen transkribiert, die den Fachanforderungen der beteilig- ten Disziplinen entsprachen. Auf diese Weise wurden die Interviews in Daten transformiert, die es erlaubten, sie aus verschiedenen Perspektiven zu lesen und zu interpretieren. Die Verbindung der verschiedenen Transkriptionsweisen (vgl. Niediek; Vollmer i. d. B.) wurde »Partitur« genannt und entsprach deutlich dem, was in der linguistischen Forschung Jahrzehnte später als Multimodalität be- zeichnet wurde. Im Zusammenhang mit diesem Projekt wurden von Luckmann und Gross auch verschiedene Typologien von Daten vorgeschlagen, die damals noch auf der Grundlage zeitgenössischer analoger Datensorten beruhten. Für unsere Fra- ge nach dem, was Forschungsdaten sind, ist daher die Unterscheidung verschie- dener Objektivierungsstufen sehr viel einschlägiger, die sich aus der Transfor- mation der Daten ergeben. Auch wenn das Projekt einen sehr großen Wert auf die Wahrnehmung und eben Konstitution der Interview-Daten als Erfahrungs- gegenstände legte, so verweist der Begriff der Objektivierung (auch hier) auf de- ren handelnde Erzeugung und ihre Materialität als Erzeugnis. Erst die Be-Hand- lung der »Rohdaten« – in diesem Fall durch die Forschenden im Labor zunächst auf (U-matic-)Videokassetten festgehaltene Aufzeichnungen  – durch Anhören und Transkribieren, macht sie zu (Daten-)Transkripten, die schließlich in Daten- sitzungen analysiert werden (vgl. dazu Reichertz 2013). Entsprechend lassen sich Forschungsdaten nicht nur nach ihrer Modalität und Medialität unterscheiden (z. B. akustische oder visuelle Aufzeichnung, geschriebener Text auf Papier, digi- taler Text), sondern auch nach den Forschungstechniken, mit denen sie erzeugt (z. B. Beobachtung, Interview) und dann weiterverarbeitet bzw. transformiert 17 werden. Daten sind also handelnd konstruiert. Für die Art und Weisen, wie sie konstruiert werden, haben wir den Begriff der Datensorten vorgeschlagen. Datensorten werden kommunikativ konstruiert und sind deswegen geprägt von den »Verfahren, mit denen sie erzeugt werden« (Knoblauch 2003, S. 59). So sind Gespräche, die etwa als Leitfaden-Interviews von den Forschenden anbe- raumt, geleitet, strukturiert und aufgezeichnet werden, eine andere Datensorte als ›natürliche‹ Gespräche, die sich zwischen Handelnden abspielen und dabei von Dritten aufgezeichnet werden; entsprechend stellen große Bild-Datenkorpo- ra aus Instagram oder Textkorpora von X (vormals Twitter) andere Datensorten dar als z. B. Hochzeitsvideos, die von Laien oder Professionellen erzeugt werden (Raab 2002). In allen drei Fällen sind die Datensorten jedoch mit einem techno- logischen Medium verbunden, das sie aufzeichnet bzw. objektiviert. Wie Gross (1985) betont, zeichnen sich Daten dadurch aus, dass sie »erfah- ren« werden können. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Daten (im mög- lichen Unterschied zu dem, worauf sie sich beziehen) sinnlich wahrnehmbar sind – und das gilt selbst für Atome oder Ultraschallklänge. Auch wenn es sich bei den Gegenständen um abstrakte Phänomene handelt, die der Wahrnehm- barkeit entrückt sind (wie etwa subjektive Empfindungen, Strahlungen aus dem Weltraum oder Deutungen von Träumen), so zeichnen sich Forschungsdaten dadurch aus, dass sie objektiviert sind, um von den Forschenden sinnlich wahr- genommen und gedeutet werden zu können. Daten sind immer Objektivatio- nen (Knoblauch  2017, S. 161 ff.). Häufig werden Daten z. B. in zeichenhafte Objektivationen »transformiert«, wenn etwa neuronale Prozesse in konven- tionalisierten Farben repräsentiert (Wilke  2022, S. 215 ff.) oder musikalische Klänge in Transkriptionsmodelle integriert werden (Vollmer i. d. B.). Die oft zeichenhafte Objektivität macht sehr deutlich, dass nicht nur die Erzeugung der Daten, sondern auch ihre Transformation selbst ein Handlungsprozess ist, der zuweilen von (Mess-, Transkriptions- oder Aufnahme-)Geräten unterstützt oder heute immer häufiger auch durch sie ersetzt wird. In jedem Fall haben wir es mit Objektivationen zu tun, die in technisch vermitteltem kommunikativem Handeln erzeugt und dadurch auch für andere (intersubjektiv) beobachtbar ge- macht werden. Denken wir diese handelnde Erzeugung von Daten als Objektivationen hin- zu, erscheint die vorgeschlagene wissenschaftstheoretische Unterscheidung der Daten von den Phänomenen sehr hilfreich: Daten ›repräsentieren‹ (auf Weisen, die wir unten erläutern werden) Phänomene als Objektivationen im wissen- schaftlichen Handeln, sodass sie auch von anderen wahrnehmbar werden. Die Form der Daten selbst ist sicherlich abhängig von Methodologien, Forschungs- methoden und den Objekten. In allen Fällen allerdings sind Daten das Gegenteil von dem, was das Wort bedeutet: Sie sind nicht ›gegeben‹, sondern das Resultat von Handlungen; sie werden von den Forschenden erzeugt, mithilfe von Geräten 18 produziert oder allgemeiner: kommunikativ konstruiert.12 Das Datum ist Ergeb- nis eines Handlungszusammenhangs, der Objekte (etwa in Laboratorien) isoliert, Zahlen oder Namen identifiziert oder sie mit Gerätschaften und soziotechni- schen Systemen selbst generiert. Bei der Frage, was als Datum betrachtet wird, spielt das, was Theorie heißt, eine zentrale Rolle. Denn die Frage, was objektiviert wird, ist unmittelbar mit dem i. d. R. diskursiven Wissen verbunden, das die Phänomene und Phänomen- bereiche beschreibt und bestimmt. Der Zusammenhang zwischen Theorie, Daten und Phänomenen13 besteht jedoch nicht nur im deduktiven Erklären und Vorher- sagen, wie Bogen und Woodward nahelegen. Er spielt auch in der induktiv und abduktiv verfahrenden qualitativ orientierten empirischen Sozialforschung eine mindestens ebenso große Rolle. Angesichts der Diversität der dabei verwendeten Datensorten können wir sie hier nicht behandeln, sondern wollen uns auf die audiovisuellen Daten beschränken, die in unserem Forschungszusammenhang im Zentrum stehen. 3. Was sind audiovisuelle Daten der qualitativen Sozialforschung? Wenn wir uns dieser Frage zuwenden, geht es uns keineswegs darum, eine scho- lastische Bestimmung aus einer besonderen Position im Feld heraus willkürlich vorzunehmen, was diese Daten sind. Vielmehr nutzen wir die Unterschiedlich- keit und Vielzahl der Beiträge in diesem Sammelband selbst, um näher zu be- stimmen, was audiovisuelle Daten sind, die in der videoanalytischen qualitativen Sozialforschung behandelt werden. Der Begriff und die Systematik der audio- visuellen Daten werden also im Sinne der empirischen Wissenschaftstheorie (Knoblauch  2021) gewonnen, indem wir die Ähnlichkeiten und Unterschiede der untersuchten Gegenstände bzw., im wissenschaftstheoretischen Sinne, Phä- nomene betrachten. Daneben spielen aber auch verschiedene Kontexte eine zen- trale Rolle. Im Unterschied zur klassischen wissenschaftstheoretischen Unter- scheidung zwischen den »Contexts of Discovery« und »Contexts of Justification« (Hoyningen-Hüne 1987) spielen hier die (Handlungs-)Kontexte der (Daten-)Er- hebung, der (Daten-)Analyse und der Nutzung von Daten eine tragende Rolle. Dies erlaubt uns nicht nur (a) die epistemische Unterscheidung verschiedener Datensorten und b) die Abgrenzung zu anderen audiovisuellen Daten (z. B. der 12 Vgl. Knorr-Cetina (1984). Dabei sollten wir betonen, dass sich diese Aussagen keineswegs nur auf die qualitative oder sozialwissenschaftliche Forschung beziehen, sondern mögli- cherweise auch auf andere Felder der Wissenschaft übertragen werden können. 13 Wir werden im Weiteren den wissenschaftstheoretischen Begriff des »Phänomens« durch den des (Forschungs-)Gegenstands ersetzen, der in der empirischen Forschung gebräuch- licher ist. 19 Film-, TV- oder Laborforschung), sondern ist auch (c) Grundlage für den prak- tischen Umgang mit ihnen in der Forschung, der Archivierung und der Nach- nutzung von Forschungsdaten. Da ›Videodaten‹ durch die Digitalisierung mittlerweile von einer (aus wis- senschaftlicher Sicht) »Veralltäglichung« geprägt sind, werden sie nicht nur in hochgradig fragmentierten wissenschaftlichen, sondern auch in vielfältigen so- zialmedialen und nicht-wissenschaftlichen Kontexten genutzt, die (im system- theoretischen Sinne) sozusagen die ›Umwelt‹ der Daten darstellen, mit denen wir es hier im Kern zu tun haben. Angesichts der enormen Vielzahl Vernakularer Videos, ihrer Genres und Formen sowie ihrer Behandlung in der Forschung, müs- sen wir das, was als Datum der videoanalytischen qualitativen Sozialforschung genutzt wird, sehr viel genauer fassen. Dazu verwenden wir den Begriff »video- graphisch«: Wie immer auch qualitative Videodaten erhoben werden (gesammelt oder »im Feld« (von Forscher*innen) erzeugt), geht es in unserem Forschungs- zusammenhang im Kern nicht um die Analyse von Videos an sich und auch nicht um fiktive Inhalte oder andere Genres, die Gegenstand medienwissenschaftlicher Film- und Fernsehanalysen sind (Peltzer/Keppler 2015). Vielmehr geht es i. d. R. um Videos, die sich durch bestimmte Gegenstände auszeichnen, die auf ihnen abgebildet sind. Bei diesen Gegenständen handelt es sich um soziale Prozesse, die mit allgemeinen theoretischen Begriffen als »Interaktionen«, »Praktiken«, (kom- munikative) »Handlungen« oder in einem sehr engen (Goffman’schen) Sinn als »soziale Situationen«, »Ereignisse« oder »events« bezeichnet werden. Im Unter- schied zu z. B. Interviews, Surveys oder Laborforschungen, zeichnen sich diese Situationen dadurch aus, dass sie nicht von den Forschenden initiiert, organisiert oder manipuliert wurden und daher »(quasi-)natürliche« soziale Situationen dar- stellen.14 In diesem Sinne schlagen wir die Bezeichnung videographisch (im wei- teren Sinne) für die Vielzahl (erzeugter oder gesammelter) Videodaten vor, deren Gegenstand natürliche soziale Prozesse darstellen. Es geht uns also hier nicht nur um ethnographisch (von Forschenden im sozialen Feld) erhobene Daten (Tuma/ Schnettler/Knoblauch 2013). Vielmehr geht es uns um Daten, deren Gegenstand (bzw. »Phänomen«) soziale Prozesse sind.15 Videodaten, die von Forschenden in ethnographischen Forschungsfeldern erzeugt wurden, bezeichnen wir als Ethnographische Videos. Damit grenzen wir sie hinsichtlich ihrer Erzeugungsweise von solchen audiovisuellen Daten ab, die in alltäglichen, privaten oder Arbeitskontexten produziert und von Forschenden zwar nicht erzeugt, aber zur Analyse gesammelt wurden. Diese bezeichnen wir 14 Bei den sozialen Situationen kann es sich auch um besondere »gerahmte« Situationen han- deln, wie etwa Videoaufzeichnungen von Menschen bei der Interaktion mit KI (vgl. Harth i. d. B.) oder beim Computerspielen (vgl. Thiel-Woznica i. d. B.). 15 Vgl. dazu auch Meier zu Verl (2018, S. 76). 20 als Vernakulare Videos.16 Innerhalb der Gruppe der Vernakularen Videos muss al- lerdings ein weiteres Mal differenziert werden: Wenn Vernakulare Videos soziale Prozesse in natürlichen Situationen abbilden und diese Gegenstände als solche von Forschenden für Analysen genutzt werden, bezeichnen wir diese Videos als videographische Vernakulare Videos. Wie allerdings schon Raab (2002) am Bei- spiel von (analogen) Hochzeitsvideos zeigte, handelt es sich bei nicht zu wissen- schaftlichen Auswertungszwecken erzeugten und von Forschenden gesammelten Videodaten nicht selten auch um besonders ›gestaltete‹ Gattungen. Diese Verna- kularen Videos grenzen wir daher nochmals ab und bezeichnen sie als medial- gattungsförmige (oder gestaltete) Vernakulare Videos (siehe Abb. 2). Abbildung 2: Typologie der audiovisuellen Forschungsdaten dieses Sammelbands 3.1 Zur Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Videoanalyse Die spezifische Ausrichtung der Videoanalyse als sozialwissenschaftliche Er- hebung von Videodaten sozialer Prozesse folgt verschiedenen Pfaden der For- schung mit audiovisuellen Medien und Videos, die sich in unterschiedlichen Disziplinen, Richtungen und Ansätzen der qualitativen sozialwissenschaftlichen Forschung historisch ausgebildet haben und, wie Ramón Reichert (2007) gezeigt hat, auch durch die Entwicklung der Medientechnologie geprägt wurden. Eine wichtige Rolle spielt sicherlich der ethnologische Film, der sich schon sehr früh der Analyse des ›Verhaltens‹, ›Handelns‹, oder ›Interagierens‹ von Menschen zugewandt hat. Berühmte Autor*innen sind Alfred C. Haddon, Robert Flaherty oder Margret Mead, die den Film zur Analyse menschlichen Verhaltens einsetz- ten. Damit produzierte die Anthropologie eine große Sammlung von Filmdaten. Hauptsächlich setzte sie diese zur Dokumentation ein, etwa von Arbeitsweisen, -instrumenten und -produkten in Gesellschaften oder Kulturen. Dabei brachte sie diese Daten auch gestalterisch in die Form des dokumentarischen, ethno- logischen oder allgemeiner: des wissenschaftlichen Films (vgl. Gruber/Rizzolli; Miko-Schefzig i. d. B.). 16 Vgl. dazu Tuma (2016). Tuma zeigt zudem die Ausbildung »vernakularer« Formen der Vi- deoanalyse, die sich außerhalb der akademischen Forschung ausgebildet haben. 21 Seit den 1920er Jahren führten Kurt Lewin und Arnold Gesell filmische Analysen der Handlungen von Kindern durch (Thiel 2003). Berühmt wurden auch die Analysen des Tanzens in Bali von Gregory Bateson und Margaret Mead (1942). Darauf aufbauend wurden in der sogenannten Palo-Alto-Gruppe Filme eingesetzt, um Interaktionen zwischen Familienmitgliedern in westlichen Gesellschaften zu untersuchen. Eine ebenso »mikrosoziologische« Perspektive nahm Ray Birdwhistell  (1952) ein, der das Zusammenspiel von nonverbalem und verbalem Verhalten bis ins kleinste Detail analysierte, oder Albert E. Schef- len  (1965), der die Rolle der Körperhaltung in psychotherapeutischen Ge- sprächen auf Grundlage von Filmaufzeichnungen untersuchte. Weit über die Wissenschaft hinaus berühmt wurden die experimentellen Untersuchungen von Paul Ekman und Wallace V. Friesen (1969), die mithilfe von Filmmaterial »nonverbales Verhalten« analysierten, um menschliche »Universalien« zu er- kennen (z. B. Lachen). Während diese Analysen auf der Grundlage von Filmen durchgeführt wur- den, änderte sich Forschung mit der Einführung der Videoaufnahmetechnik in den 1970er Jahren erheblich. Mit der Miniaturisierung der Technologie wurde der Einsatz des Videos zur Erhebung von Daten in ›natürlichen‹ Situationen er- leichtert. Wichtige Anstöße erhielt die Videographie dabei durch die Ethnome- thodologie. So analysierte etwa Charles Goodwin (1981) Alltags-Gespräche, um zu zeigen, wie z. B. Blicke dazu beitragen, Interaktionen zu koordinieren. Frede- rick Erickson und Jeffrey Shultz (1982) setzten Video zur Untersuchung von Ge- sprächen zwischen Schulberater*innen und Schüler*innen ein. Christian Heath führte Videostudien durch, die komplexe soziale Situationen fokussierten, z. B. die Rolle der neu eingeführten Computer bei der Interaktion zwischen Ärzt*in- nen und Patient*innen in medizinischen Sprechstunden (Heath 1986). Angesichts der großen Rolle der Technologie für die Entwicklung der Vi- deographie hat der Übergang zur Digitalisierung weitreichende Folgen für den gesamten Forschungsbereich. Er zieht sich über die verschiedenen technischen Entwicklungen, wie etwa der Schritt vom Video-Magnetbandrekorder (VTR) zum Videokassettensystem (VCR) (ab 1969), bis schließlich zu der Integration von Videofunktionen in mobilen Telefongeräten (ab 2003) sowie der translokalen Zugänglichkeit von mit mobilen Endgeräten erstellten Videoinhalten in Clouds und auf einer großen Zahl von Social-Media-Plattformen. Diese technische Entwicklung hat nicht nur die wissenschaftliche Forschung mit audiovisuellen Daten massiv erleichtert, sondern auch zu einer Art Explosion der vernakularen Videoproduktion geführt, die von einer immer umfänglicher werdenden Zahl an individuellen, aber auch institutionellen Akteuren erzeugt und öffentlich zu- gänglich gemacht wird. Mit Vernakularen Videos ist dabei eine neue audiovisuelle Datensorte entstanden, die sich als von wachsender Bedeutung für die qualitative sozialwissenschaftliche Videoanalyse erweist. Sie überschreitet mit dieser neuen Datensorte, wie zuvor erläutert, teilweise den Bereich des Videographischen und 22 greift in den Bereich der eher kunst- und/oder medienwissenschaftlichen Me- dienproduktanalyse über (vgl. Bock; Schnettler i. d. B.). 3.2 Mediale Grundzüge von audiovisuellen Daten Die spezifisch auf die Verwendung von Videotechnologie zielende methodische Reflexion setzte in den 1980er Jahren (z. B. Erickson 1982; Heath 1997) ein und ist inzwischen in Sammelbänden (z. B. Knoblauch et al. 2006; Kissmann  2009; Bohnsack/Fritzsche/Wagner-Willi 2015), englischsprachigen Lehrbüchern (z. B. Dinkelacker/Herrle  2009; Heath et al. 2010; Knoblauch et al. 2014), in einem Handbuch der Videoanalyse (Moritz/Corsten  2018) sowie in Sammlungen für bestimmte Anwendungsbereiche wie Ethnologie, Erziehungswissenschaften, Re- ligionswissenschaft, Linguistik, Soziologie und andere Sozialwissenschaften do- kumentiert. Wir wollen hier einige Grundzüge von Videodaten zusammenfassen. Im Unterschied zum Film besteht ein Prinzip von Video darin, die audio- visuellen Aufzeichnungen im selben technischen System betrachten und be- handeln zu können: wiesen analoge Videogeräte dies durch die Zweiteilung von Aufzeichnungs- und Wiedergabefunktionen aus, so finden sich beide Funktions- bereiche auch in heutigen Smartphones zwar integriert, aber immer noch unter- teilt. Wie beim Film steht auch bei Video die Möglichkeit der Aufzeichnung auf externen Datenträgern zur Verfügung, die unabhängig vom Aufzeichnungsgerät abgespielt, gesichtet und bearbeitet werden können. Diese bereits im historischen Entwicklungspfad der Technologie angelegte Zweiteilung in Aufzeichnung und Wiedergabe ist für die sozialwissenschaftliche Videographie folgenreich, weil sie technisch, zeitlich und dann auch institutionell (etwa in Gestalt von »Datensit- zungen«) die Differenz zwischen Erhebung und Analyse (Aufbereitung, Codie- rung, Transkription etc.) zur Folge hatte. Videodaten sind zudem audiovisuelle Daten. Das bedeutet nicht nur, dass Ton und Bild gleichzeitig aufgezeichnet, sondern auch, dass sie getrennt werden können. Zwar erlaubten analoge Systeme noch keine Trennung von Ton- und Bildspur, doch wurden beide Modalitäten schon früh zu eigenen Datensorten weiterverarbeitet: der Ton konnte paraphrasiert, zusammengefasst oder tran- skribiert werden, wobei die Art der Transkription häufig schon mit besonderen Forschungsinteressen, -disziplinen oder -ansätzen verbunden war (z. B. linguisti- sche, prosodische oder konversationsanalytische Transkription); auch die Bilder konnten als eigene »Spur« in zum Teil sehr aufwändigen Verfahren verschriftlicht und damit zu einer eigenen Datensorte werden (wobei sich auch hier methodo- logische und disziplinäre Differenzen in der Art der Verschriftlichung nieder- schlugen).17 17 Zur Transkription von audiovisuellen Forschungsdaten siehe auch Moritz (2018). 23 Die Videoanalyse nutzt die allgemeinen Merkmale des Videos als audio- visuelles Medium, dessen Besonderheiten in den 1980er Jahren von Grims- haw  (1982, S. 122, dt. H. K.) so benannt wurden: »Die beiden Hauptvorteile von SIR [Sound-Image Data Records] sind Dichte und Dauer. Andere Auf- zeichnungen können das eine oder das andere dieser Attribute aufweisen; keine andere hat beides«. Was die Dauer anbelangt, so zeichnet sich das Video, wie der Film, als ein diachrones zeitliches Medium aus. Diachron werden Bildse- quenzen so wiedergegeben, dass die lineare Zeitlichkeit der von ihnen abgebil- deten Abläufe wiedererkannt werden kann (das gilt auch für die akustischen Phänomene, die von den technischen Systemen im Regelfall nur als zeitliche Abläufe wahrnehmbar gemacht werden können). Im Unterschied zum Foto re- gistriert es Abläufe in der Zeit und gibt sie in zeitlicher Abfolge wieder. Weil die Aufzeichnungen gespeichert werden, stehen sie daneben auch dauerhaft zur Verfügung. Dies galt für Videobänder oder CDs, es gilt noch mehr für digitale Speichermedien. Damit sind die aufgezeichneten Abläufe im Wesentlichen un- verändert reproduzierbar. Im Unterschied zu Feldprotokollen oder auch Audioaufzeichnungen weisen audiovisuelle Daten zum zweiten eine besondere Dichte auf. Dichte bedeutet, dass sie – neben dem zeitlichen Ablauf – in statischen Einzelbildern reichhaltige synchrone Informationen enthalten, die simultan betrachtet werden können. Sie können so zum Gegenstand semiotischer, bildhermeneutischer oder ethnogra- phischer Elizitierungsverfahren gemacht werden (Knoblauch 2004, S. 134 f.). Wie der Film oder die Fotografie tritt das Video mit dem Anspruch einer Ab- bildung auf. Es ist auch mimetisches Medium genannt worden, weil es audiovisuell registriert, worauf die Videokamera gerichtet ist.18 Mimetik sollte aber nicht als bloße Abbildung verstanden werden. Denn wie alle Forschungsdaten sind auch Videodaten, wie schon betont, Ergebnisse kommunikativer Konstruktionen, die menschliche Handlungen und Wahrnehmungen mit den Leistungen materialer- technologischer Systeme verbinden. Auch wenn der Abbildungscharakter selbst eine kulturelle Leistung ist, zeichnen sich Videos dadurch aus, dass ihr mimeti- scher Charakter über die Kulturen hinweg sehr leicht erlernt und von den auf- gezeichneten Akteuren zumeist (selbst von kleinen Kindern) leichthin erkannt werden kann. Weil die aufgezeichneten sozialen Prozesse auf diese (eingeschränkte) Weise die Phänomene repräsentieren, auf die sich auch grundlegende sozialtheoreti- sche Analyse-Begriffe (wie soziales, kommunikatives Handeln oder Interaktion) 18 Auch wenn dieses Prinzip schon für den Fotoapparat und die Filmkamera galt, hebt schon der Name »Video« das »Ich« hervor, das (mit dem Gerät) sieht. Es ist dabei sicherlich be- zeichnend, dass sich dieses »Ich« nicht notwendig auf den aufnehmenden Menschen be- ziehen muss, unbedingt aber auf das Gerät. Auf den Zusammenhang zwischen der techni- schen Fokussierung und der gegenständlich-phänomenalen Fokussierung können wir hier nicht eingehen (vgl. dazu Knoblauch/Vollmer 2019). 24 beziehen, kann diesen Daten eine außergewöhnliche Validität zugeschrieben werden. Wissenschaftstheoretisch wird mit Validität bekanntlich die inhaltliche Übereinstimmung einer empirischen Messung oder Beobachtung mit einem Konzept bezeichnet: Videos können das, worauf sie gerichtet sind, so gut wie- dergeben, dass es auch von Menschen wieder-erkannt wird, die es nur über die Videos wahrnehmen. Wir haben es daher genauer mit dem zu tun, was Ro- ger E. Kirk und Samuel A. Miller (1986) als apparant validity, als offenkundige Va- lidität, bezeichnen. Das, was analytisch bezeichnet wird, kann auch empirisch – etwa anhand von Transkripten – gezeigt werden. Ein zentraler Grundzug der Videoanalyse besteht schließlich darin, dass sie die sozialen Abläufe, die sie aufzeichnet oder deren Aufzeichnungen sie sammelt, immer auch anhand dieser Aufzeichnungen untersucht. Sie ist also nicht eine »rekonstruktive Methode«, in der das, worum es geht, nur durch die sprachli- che Referenz von z. B. Interviews oder Fragebögen präsent ist; sie zielt vielmehr darauf, dass das, was Gegenstand der Untersuchung ist, selbst auch audiovisuell abgebildet ist – und zwar im prozessualen Zeitverlauf. Daher geht es in der Ana- lyse nicht etwa darum, wie Menschen z. B. ihre Gewalt oder ihren Rassismus (vgl. Kissmann; Egbert/Janssen; Meyer/Grauert/Oberzaucher i. d. B.) (später) deuten oder legitimieren, sondern sie fokussiert auf die gewalttätigen bzw. rassifizie- renden Handlungen selbst; es geht auch nicht um die Frage, wie z. B. schulische Interaktionen (vgl. Mempel/Winterscheidt; Herrle/Proske/Puzicha/Zimmer; Jehle; Hamer/Helbig/Urban i. d. B.) später gedeutet werden, sondern um deren Ablauf. 4. Die Struktur dieses Sammelbands und die Systematik seiner Beiträge Der Sammelband versammelt insgesamt 26 Beiträge und ist in vier Kapitel unter- teilt: Kapitel I. Theoretische und methodologische Überlegungen zu (audiovisuel- len) Forschungsdaten in der empirischen Qualitativen Sozialforschung, Kapitel II. Videographische und medienanalytische Ansätze mit Vernakularen Videos natür- licher sozialer Situationen und inszenierter Inhalte (1. Videographische Vernaku- lare Videos, 2. Medial-gattungsförmig gestaltete Vernakulare Videos), Kapitel III. Interaktionsanalysen mit Ethnographischen Videos  (1. Interaktion in Paarbezie- hungen, (Klein-)Gruppen, Kollektiven und der Öffentlichkeit, 2. Interaktion und Interaktivität mit Gegenständen, Technik und digitalen Technologien) und Ka- pitel IV. Nutzungsformen: Forschungsvideos im wissenschaftlichen Film und For- schungsdatennachnutzung. Neben diesem einleitenden Beitrag finden sich noch zwei weitere Beiträge in Kapitel I., die sich aus theoretischer und/oder methodo- logischer Perspektive mit audiovisuellen Forschungsdaten der qualitativen empi- rischen Sozialforschung beschäftigen: 25 y Christian Meyer und Christian Meier zu Verl beschäftigen sich mit einem Pro- jekt von Thomas Luckmann und Peter Gross (1978–1982), das bereits Ende der 1970er Jahre im Rahmen eines Laborsettings die Erzeugung sozialwissen- schaftlicher Daten durch die audiovisuelle Analyse von face-to-face-Interak- tionen in Interviews untersuchte. y Michael Corsten beleuchtet die Möglichkeiten, soziale Praxis durch Video zu dokumentieren, und diskutiert methodologische Fragestellungen zur Analyse solcher Videos. Ein Fokus seines Textes liegt darauf, Praxis als symbolisch und materiell strukturierte Realität zu verstehen. In den Kapiteln II bis IV folgen dann 22 Beiträge, die die Grundlage für unsere folgende Systematisierung bilden, anhand derer wir sie den Kapiteln des Sam- melbands zugeordnet haben und unten im Einzelnen vorstellen werden. Zum Abschluss des Bands findet sich am Ende von Kapitel IV außerdem ein Beitrag, der sich ohne eigene Empirie dem Gegenstand der Sekundäranalyse in der quali- tativen Forschung zuwendet. Mit der folgenden Systematik, die wir aus den empirischen Beiträgen zu die- sem Sammelband gewonnen haben, wollen wir dazu beitragen, sehr genau zu bestimmen, was audiovisuelle Forschungsdaten der qualitativen Sozialforschung sind und wie sie in der zeitgenössischen Videographie und Videoanalyse behan- delt, d. h. erhoben, analysiert und genutzt werden. Wir unterscheiden dabei drei Kategorien, nach denen sich die audiovisuellen Daten bzw. Forschungsansätze in diesem Band (nicht immer völlig trennscharf) zusammenfassen und differenzie- ren lassen: y Erhebungskontexte (einschließlich der fokussierten Gegenstände), y Analysekontexte (einschließlich der Triangulation und Weiterverarbeitung der Daten), y Nutzungsformen. Quer zu dieser Systematik verläuft die bereits erläuterte Typologie audiovisueller Forschungsdaten (vgl. Abb. 2): Wir unterscheiden zwischen Ethnographischen und Vernakularen Videos sowie zwischen videographischen und medialen Gegen- ständen audiovisueller Daten. Auf diese Weise lassen sich auch eine Reihe von Vernakularen Videos aus verschiedenen Quellen (Social Media und Offline-Kon- texte) der Videographie im zuvor erläuterten Sinne zuordnen, während wir eine andere Sorte als Mediendaten betrachten, die, wie wir sehen werden, in der For- schung auch anders behandelt, d. h. anders erhoben und analysiert wird. Zugleich mit der Darstellung unserer Systematisierung werden wir die in Kapitel II bis IV dieses Sammelbands zusammengestellten Beiträge in der Rei- henfolge ihrer Wiedergabe einzeln kurz zusammenfassen. Dabei werden wir diese Beiträge entsprechend ihren Forschungsansätzen und Datensorten den 26 drei Kategorien unserer Systematik sowie den querverlaufenden Datentypen zu- ordnen. Diese Zuordnung erfolgt entsprechend charakteristischer Merkmale der Beiträge. Die Systematik selbst, die auf den genannten Kategorien (Erhebungs- kontexte, Analysekontexte, Nutzungsformen) und Datentypen (Ethnographische Videos (gelb), Vernakulare Videos (grün)) basiert, haben wir in Abbildung 3 vi- sualisiert. Abbildung 3: Systematisierung der qualitativen audiovisuellen Forschungsdaten der Beiträge in diesem Band 4.1 Erhebungskontexte Als Erhebungsmethode findet sich in der qualitativen Videoanalyse, neben der Erzeugung von Ethnographischen Videos, auch die Sammlung von Daten. Diesen Datentyp wollen wir, wie bereits kurz erläutert, als Vernakulare Vi- deos bezeichnen. Der Begriff »vernakular« soll dabei signalisieren, dass diese Videos außerhalb der Forschungswelt und ohne wissenschaftliche Intention erstellt werden. Damit eignet sich der Begriff, um die Differenz zu Ethno- graphischen Videos, die von Forscher*innen erzeugt werden, zu markieren. Vernakulare Videos können verschiedene Quellen umfassen – sie werden von privaten oder institutionellen Akteuren (z. B. in Arbeitskontexten) produziert und können online (z. B. auf Social Media) vorgefunden oder »im Feld« off- line gesammelt werden. 27 Ein folgenreicherer Unterschied macht eine Differenzierung der Vernaku- laren Videos nötig (vgl. Abb. 2 und 3) und erlaubt dabei innerhalb des Typs unterschiedliche Datensorten zu differenzieren: Deutlich lassen sich medial- gattungsförmige (bzw. gestaltete) von videographischen Vernakularen Videos unterscheiden. Medial-gattungsförmig gestaltete Vernakulare Videos bilden Gegenstände ab, die seltener dafür genutzt werden, ausschließlich interaktions- analytische Fragestellungen zu fokussieren. Häufiger werden an diese Daten- sorte hermeneutische kunst- oder medienanalytische Analyseverfahren ange- legt und auch das Handeln hinter der Kamera (Kamera-Handeln) und/oder Kamera- und Schnitttechniken analysiert. Das Vorgehen erinnert dabei dann durchaus an die älteren Film- und Fern- sehanalysen: gemeinsam sind beiden (zum Teil fiktive) mediale Gegenstände. Vernakulare Videos hingegen, die wir als videographisch bezeichnen, zeichnen sich, vergleichbar mit Ethnographischen Videos, durch videographische Gegen- stände aus. Die Forschung mit diesem Material fokussiert das, was »soziale Situationen«, »soziale Interaktionen«, »Praxis« oder kommunikative »Hand- lungen« genannt wird, bei denen einzelne Personen oder Gruppen vor der Ka- mera so handeln, dass es von den Forschenden (audiovisuell) wahrnehmbar ist. Während Forscher*innen bei der Erzeugung von Ethnographischen Videos allerdings selbst im Feld zugegen sind und dabei auch das Problem der Reakti- vität ihrer Aufzeichnung reflektieren können, gibt es im Fall von videographi- schen Vernakularen Videos nicht immer die Möglichkeit, genau zu bestimmen, ob eine Situation sich tatsächlich unter »natürlichen Gegebenheiten«, also z. B. ohne Planung oder externe Anweisungen zugetragen hat. Zur Kontrolle der Validität von videographisch analysierten Vernakularen Videos kann aber z. B. die Dokumentenanalyse dienen (vgl. Egbert/Janssen; Meyer/Grauert/Oberzau- cher i. d. B.). Videographische Vernakulare Videos finden sich in Kapitel II.1 dieses Sammel- bands: y Ulrike T. Kissmann beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der videographischen Analyse eines spontan-authentischen YouTube-Videos, das einen eskalieren- den Konflikt zwischen einer weißen Ladendiebin und einem schwarzen Dro- gerieangestellten zeigt. y Christian Meyer, Hanna Grauert und Frank Oberzaucher untersuchen eben- falls den Einsatz von Social-Media-Videos in der Erforschung rassifizierender Interaktionen und der Eskalation von Konflikten. Als Daten dienen öffentlich zugängliche Videoaufzeichnungen, die zum Teil von Betroffenen selbst pub- liziert wurden. y Simon Egbert und Jasper Janssen untersuchen die zunehmende Verwendung von Bodycams im Kontext der deutschen Polizeiarbeit und wie diese Videos zur Legitimierung polizeilicher Praktiken verwendet werden. Zu diesem 28 Zweck wenden sie eine Kombination von Interaktions- und Medienanalyse auf das in Folge eines »Leaks« einzige öffentlich zugängliche Bodycam-Video eines Polizeieinsatzes in Deutschland an. y Mina Godarzani-Bakhtiari und René Tuma widmen sich ebenfalls der Polizeiarbeit und analysieren die Auswirkung der Videoaufzeichnungen von polizeilichen Vernehmungen auf die Kommunikation in der Verneh- mungssituation. Die medial-gattungsförmigen Vernakularen Videos, die im Folgenden versam- melt sind, zeichnen sich durch eine Orientierung an Mediengattungen aus, die entweder im Kontext der Sozialen Medien neu entstanden sind (wie das ›Reel‹) oder aber sich bereits viel früher im TV (wie das Rap-Video) bzw. im Film entwickelt haben. In diesem Sinne zählen wir auch amateur-pornographische Videos (Lewandowski i. d. B.) zu den medial-gattungsförmig gestalteten Verna- kularen Videos. Schon ihre Bezeichnung als »pornographisch« legt nahe, dass es sich hierbei nicht einfach um die Abbildung von Menschen in natürlichen sozialen Situationen handelt, sondern dass ihre spezifische Form sich an die sehr alte (mediale) Gattung der Pornographie anschließen lässt. Das Video ist in diesen Fällen selbst Repräsentant eines Phänomens und wird selbst zum Gegen- stand, indem es die in ihm eingeschriebenen Techniken des Filmens, Beleuch- tens, Darstellens, Schneidens etc. – in einem Wort: Film- bzw. Videotechniken – seiner Ersteller*innen vor und hinter der Kamera repräsentiert. Demgegenüber umfasst die Sammlung von videographischen Vernakularen Videos, wie auch die Erzeugung Ethnographischer Videos, zwar die Reflexion des Erzeugungsprozes- ses, einschließlich der Standortgebundenheit der (wissenschaftlichen) Erzeu- ger*innen, das Video selbst, seine (ästhetischen) Qualitäten sowie die Differenz zwischen abbildenden und abgebildeten Bildproduzent*innen (Bohnsack/Fritz- sche/Wagner-Willi 2015, S. 14), wird dabei i. d. R. aber nicht zum Gegenstand der Analyse gemacht. Medial-gattungsförmige Vernakulare Videos finden sich in Kapitel II.2 dieses Sammelbands: y Sven Lewandowski erläutert in seinem Beitrag das Vorgehen bei der Kom- bination aus Video- und Videointeraktionsanalyse von amateurpornogra- phischen Videos im Kontext der Sexualforschung. Die untersuchten Ver- nakularen Videos stellen (quasi-)autoethnographische Dokumente dar, die Lewandowski von den Ersteller*innen persönlich zum Zweck der wissen- schaftlichen Forschung zur Verfügung gestellt wurden. y Katharina Bock beschäftigt sich mit der Analyse von gattungsförmig gestalte- ten sozialmedial geteilten Musikvideoproduktionen Jugendlicher im Gangs- ta-Rap-Milieu. Sie trianguliert dabei verschiedene qualitative Methoden, dar- unter eine ethnosemantische Analyse von Songtexten, die Transkription und 29 Analyse von Videoaufnahmen sowie die Analyse von Symbolen und spezi- fischen Darstellungsformen. y Bernt Schnettler widmet sich aus methodologischer Perspektive der Analyse von Videodaten, mit besonderem Fokus auf den Unterschied zwischen Feld- videos (von Forschenden im Rahmen eigener Feldforschung erstellte Videos) und Plattformvideos (Videos, die auf Plattformen wie Instagram, TikTok oder YouTube geteilt werden). Durch diesen Schwerpunkt schlägt der Text eine Brücke von Abschnitt II zu Abschnitt III dieses Sammelbands. Mit den gattungsförmig gestalteten medialen Gegenständen der Vernakularen Videos begeben wir uns im zweiten Teil von Abschnitt II an eine der äußeren Grenzen der qualitativen Videoanalyse, die an dieser Stelle die medienanalytische Film- und Fernsehanalyse (Peltzer/Keppler 2015), die sich der Analyse medialer Gattungen widmet, berührt oder in sie übergeht. Seitens der Ethnographischen Videos, als von Forscher*innen selbst erstellte Videos, die wir in den folgenden Kapiteln III bis IV dieses Bands zusammenge- stellt haben, wird die Grenze der qualitative Videoanalyse durch den Übergang zu Laborvideos (vgl. Meyer/Meier zu Verl; Harth i. d. B.) markiert (siehe Abb. 3), die, insofern die Laborumgebung nicht selbst als natürliche Situation in den Analysefokus gerückt wird, ihrerseits die Grenzen der qualitativen Videoanalyse überschreiten. Zwar sind auch Laborvideos von Forschenden selbst erzeugt, die »sozialen Situationen«, »sozialen Interaktionen«, die »Praxis« oder kommunika- tiven »Handlungen« die sie als Gegenstände abbilden, sind allerdings stark von den Forscher*innen beeinflusst, die sie initiieren, organisieren oder manipulie- ren. Die Arbeit mit Laborvideos berührt oder überschreitet dabei oft die Grenze zum Bereich der quantitativ-standardisierten Verfahren der Videoanalyse. Häu- fig werden solche Videos quantitativ ausgewertet, d. h. die in experimentellen Set- tings erzeugten audiovisuellen Aufzeichnungen werden anschließend systema- tisch kodiert und die Kategorien statistisch ausgezählt, um Hypothesen zu testen oder bestimmte Muster zu identifizieren (z. B. Bull 1985; Liszkowski et al. 2004; Tomasello et al. 2005). 4.2 Analysekontexte Wie die Betrachtung der Einzelbeiträge dieses Bands bereits verdeutlichte, sind die methodologischen und theoretischen Analysekontexte audiovisueller Forschungsdaten ebenso vielschichtig wie ihre Erhebungskontexte und Gegen- standsbereiche. Auch hier lässt sich allerdings eine Systematisierung entlang der querverlaufenden Typologie audiovisueller Daten, zwischen Ethnographischen Videos und videographischen bzw. medial-gattungsförmig gestalteten Vernaku- laren Videos treffen: Insbesondere für die medial-gattungsförmig gestalteten 30 Vernakularen Videos erweisen sich, wie erläutert, auch stärker hermeneutisch orientierte Auswertungsverfahren geläufig, z. B. die wissenssoziologische Herme- neutik (Raab/Stanisavljevic 2018), die Videohermeneutik (Kissmann 2014) oder die Dokumentarische Video- und Filmanalyse (Bohnsack/Fritzsche/Wagner-Wil- li 2015). Ethnographische Videos (und s. o.: videographische Vernakulare Videos) hingegen, Videos also, die videographische Gegenstände fokussieren, wie Einzel- personen, Paare, (Klein-)Gruppen oder Kollektive in natürlichen sozialen Situ- ationen, in Interaktion und/oder interaktiv bei der Nutzung von Gegenständen, Technik oder komplexen Technologien, werden zumeist (obgleich diese Differen- zierung nicht völlig trennscharf ist) mittels einer Kombination aus forschungs- feldspezifischen Theorien (z. B. Bildungswissenschaften) und interaktions- bzw. kommunikationsanalytischen Auswertungsverfahren analysiert, insbesondere Videographie (Tuma/Schnettler/Knoblauch  2013) oder ethnomethodologische Konversationsanalyse (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974). Ethnographische Videos finden sich in den Kapiteln III und IV dieses Sammel- bands. Wir konnten sie aufgrund ihrer großen Zahl weiter unterteilen. In Kapi- tel III.1 finden sich Beiträge zu Daten, die (in dieser Reihenfolge) Interaktion in Paarbeziehungen, (Klein-)Gruppen und Kollektiven fokussieren: y Jo Reichertz und Anna Eva Nebowsky analysieren in ihrem Beitrag die Kom- munikation in Paarbeziehungen bei Demenzerkrankungen. Ziel ist es, die Veränderungen in der Kommunikation und die Auswirkungen dieser Dia- gnose auf interpersonelle Beziehungen zu untersuchen. Der Fokus liegt auf Interaktionen innerhalb von Paarbeziehungen und mit den anwesenden For- scher*innen. y Jonas Kramer und Sarah Hitzler widmen sich in Familien der Entwicklung sog. projektiver Gattungen, die sich transsituativ erstrecken. Die Autor*in- nen untersuchen dabei, wie Wissensbestände über Zeit und verschiedene Situationen hinweg rekursiv hergestellt und reproduziert werden. Es geht ins- besondere um die kommunikative Verfertigung von Zukunft in alltäglichen Interaktionen und die longitudinalen Prozesse, die hierbei eine Rolle spielen. y Theresa Vollmer beschäftigt sich mit dem Forschungsfeld des gemeinsamen Musizierens eines Streich-Ensembles und eines Chores. Der Text behandelt die Herausforderungen und Potenziale der Videoanalyse des Musizierens. Ein methodologischer Schwerpunkt liegt auf der Transkription entsprechen- der audiovisueller Daten. y Caterina Mempel und Jenny Winterscheid erläutern die Erhebung, Transkrip- tion und Analyse audiovisueller Daten im Kontext der sprachlichen Bega- bungsförderung im Klassenverband. Im Zentrum ihrer Forschung steht die Förderung von sprachlich-literarischen Kompetenzen bei leistungsstarken und potenziell besonders leistungsfähigen Schüler*innen im Deutschunter- richt. 31 y Ajit Singh widmet sich der Methode der verdeckten Videographie im öffentli- chen Raum und ihrer ethischen Implikationen. Der Text untersucht die Rolle verdeckter Videoaufnahmen im Rahmen der Pandemieforschung. Er disku- tiert, welche besonderen Herausforderungen diese Form der Datenerhebung für die Forschungsethik und die Analyse darstellt. Bei den Analysekontexten zeigt sich, dass nur wenige Daten der hier versammel- ten Beiträge aus reinen Datenerhebungsprojekten (explizit: Singh i. d. B.) stam- men. Die reine Videoanalyse, die ohne Hinzuziehung von anderen Datensorten arbeitet, stellt noch eine seltene Ausnahme in der Videoanalyse dar. Der Großteil der hier vertretenen Ansätze basiert hingegen auf einer für die qualitative empi- rische Sozialforschung typischeren Kombination verschiedener Datensorten, der Datentriangulation (Flick 2011): Zur Analyse werden i. d. R. weitere Datensorten hinzugezogen, um die Sicht auf den Gegenstand perspektivisch und im Kontext der jeweiligen Forschungsfrage zu vervollständigen. Hierbei kann, wie sich auch an den versammelten Beiträgen anschaulich verdeutlichen lässt, das gesamte Spektrum von (auto-) (Thiel-Woznica i. d. B.) ethnographischen Methoden zum Einsatz kommen, insbesondere die Teil- nehmende Beobachtung bzw. Beobachtende Teilnahme (Reichertz/Nebowsky i. d. B.), Ethnographische Gespräche (ebd.) bzw. verschiedene Interviewformate (Lewandowski i. d. B.), die Dokumentenanalyse (vgl. Meyer/Grauert/Oberzau- cher i. d. B.) etc. Gleichzeitig sind aufwändige Transkriptions- (Niediek; Vollmer i. d. B.) und Annotationsverfahren (Gruber/Rizzolli; Kramer/Hitzler i. d. B.), gerade im Kontext der Analyse von Interaktionen, in die zusätzlich technische Geräte und technologische Systeme involviert sind, ein häufig zu beobachtendes Merkmal der Analyse. Transkripte und Annotationen dienen dazu, die Daten aufzubrechen, gemeinsame Datensitzungen durchzuführen sowie der Repräsen- tation erhobener Daten und von Forschungsergebnissen in wissenschaftlichen Publikationen. Ethnographische Videos, die Interaktion und Interaktivität mit Gegenständen, Technik und digitalen Technologien fokussieren, finden sich in Kapitel III.2: y Imke Niediek erläutert in ihrem Beitrag ihre Forschung zur atypischen Kom- munikation und die Analyse von Mehrpersonengesprächen, die durch die Verwendung von elektronischen Kommunikationshilfsmitteln (sogenann- ten »Talkern«) unterstützt werden. Der Text präsentiert die mehrstufige Er- zeugung von Videotranskriptionen und diskutiert, wie diese genutzt werden können, um interaktionsanalytische Studien im Bereich der Unterstützten Kommunikation durchzuführen. Neben dem Einsatz komplexer Transkriptionsverfahren zeigt sich, dass bei der Forschung mit Ethnographischen Videos, insbesondere dort, wo es um die 32 Analyse der Interaktivität zwischen Menschen und technischen Systemen geht, das Ethnographische Video häufig mit weiteren digitalen Datensorten zu einem Komposit-Datum verbunden wird. Unter Komposit-Daten verstehen wir solche Daten, die zum Zweck ihrer Analyse mit weiteren (digitalen) Daten verbunden werden. Hierzu zählen die Integration von Bildschirmaufzeichnungen (»Screen- savings«) sowie von Eye Tracking- oder Full Body Tracking-Daten in per Video- kamera aufgezeichnete audiovisuelle Daten. Die entstehenden Daten sind über- aus vielschichtig und komplex: y Matthias Herrle, Matthias Proske, Aline Puzicha und Anne Zimmer themati- sieren in ihrem Beitrag die mikroethnographische Analyse von Interaktions- und Wissensbildungsprozessen im Kontext von Tablet-gestütztem Unter- richt. Die erzeugten Ethnographischen Videos werden mit Screenrecordings der Tablets sowie mit Verbaltranskripten von Audioaufzeichnungen an den Arbeitsplätzen der Schüler*innen zusammengefügt. Zur Ergebnisdarstellung werden außerdem Skizzen hergestellt, die die prozessrelevanten Phänomene abbilden, und gegebenenfalls mit Verbaltranskripten kombinieren. y Isabel Neto Carvalho erläutert ebenfalls einen medienpädagogischen Ansatz. Die Daten umfassen Ethnographische Videos, die mit Eye-Tracking der Akteu- re kombiniert werden, um deren visuellen Fokuspunkte während der Inter- aktivität mit digitalen und physischen Artefakten zu analysieren. Zusätzlich werden Beobachtungsdaten genutzt, um die Dynamik der Mensch-Maschi- ne-Interaktionen im Klassenzimmer zu analysieren. y Luise Reitstätter, Seda Pesen und Dirk vom Lehn thematisieren ihre Analy- se des Sehens und sozialer Interaktion im Kunstmuseum auf Grundlage einer Kombination von mobilem Eye-Tracking (MET) und Ethnographischen Videos. Ziel ist es, das Zusammenspiel von visueller Aufmerksamkeit und so- zialer Interaktion während des Besuchs eines Kunstmuseums zu analysieren. Die Datensätze bestehen aus MET-Aufnahmen, Videoaufnahmen, Fragebö- gen und Stimulus-gestützten Interviews mit Museumsbesucher*innen. Durch ihren spezifischen Status als genuin digitale Daten werfen Komposit-Daten die Frage nach ihrer Ontologie auf. Insbesondere sog. »Mixed-Reality-Video- daten« (Harth i. d. B.) haben, was nicht übersehen werden sollte, einen anderen ontologischen Status als klassische Videodaten. Während Letztere i. d. R. reale Er- eignisse im physischen Raum und in linearer Zeit erfassen, sind genuin digitale Daten, wie sie bei Full Body-Scans und/oder der Aufzeichnung von Interaktivi- tät im virtuellen Raum entstehen, das Ergebnis einer Verschränkung von physi- scher Realität und digitaler, virtueller Elemente. Das bedeutet, dass sie nicht nur physische Handlungen und Interaktionen im natürlichen Raum dokumentieren, sondern auch digitale Inhalte und Inter- und Intraaktivität (Knoblauch  2017, S. 186 f.) in der virtuellen Realität enthalten. Der Gegenstand muss also in einer 33 anderen Umgebung, dem hybriden Raum, verortet werden. Daher funktionieren auch die Interaktionen dort anders als zwischen menschlichen Akteuren in der rein physischen Welt, wie insbesondere zwei Beiträge dieses Sammelbands ver- deutlichen: y Marcel Thiel-Woznica erläutert in seinem Beitrag ein autovideographisches Vorgehen zur Analyse von digitalen Spielpraktiken. Die audiovisuellen Daten bestehen aus Ethnographischen Videos, die während des Spielens erzeugt wur- den. Die Komposit-Daten zeigen schließlich sowohl das Bildschirmgeschehen als auch die physischen Handlungen des Spielers. Der Text untersucht, wie digitale Spielpraktiken im Kontext von Inter- und Intraaktivität aufgezeichnet und analysiert werden können. y Jonathan Harth widmet sich der Analyse von Mensch-Agent-Interaktionen in Mixed-Reality-Situationen. Er untersucht Interaktionsmuster zwischen menschlichen Nutzer*innen und verkörperten Konversationsagenten. Der Text behandelt Komposit-Daten, die durch »Mixed-Reality-Videographie« erhoben wurden. Die Aufnahmen integrieren sowohl physische Handlun- gen der Nutzer*in als auch die virtuellen Reaktionen des Agenten (Intra- aktion). Insbesondere anhand dieser letzten beiden Beiträge wird die ontologische Diffe- renz von Komposit-Daten zu anderen audiovisuellen Forschungsdaten deutlich, eben weil die aufgezeichneten Gegenstände in zwei unterschiedlichen »Realitä- ten« stattfinden: physisch und virtuell. In beiden Ansätzen sind die Interaktionen von Menschen und virtuellen Agenten bzw. Avataren zentral. Letztere haben al- lerdings keinen festen ontologischen Status als »real«, sondern existieren nur im digitalen Speichermedium, wodurch die menschlichen Aktionen und Reaktionen sowohl auf physische als auch auf digitale Entitäten gerichtet sind. »Mixed-Rea- lity-Daten« dokumentieren daher nicht nur physische Vorgänge, sondern auch virtuelle Handlungen und Interaktivität. Ihre Ontologie ist dadurch komplexer, nicht zuletzt, weil auch die Intraaktivität von technologischen Systemen selbst in Betracht gezogen werden muss. Im Zusammenhang mit den Analysekontexten möchten wir noch eine wei- tere Be-Handlung von Ethnographischen Videos ansprechen, die zugleich (siehe Abschnitt 4.3) eine besondere Nutzungsform darstellt. Sie findet sich im wissen- schaftlichen Film, wo die Vertextlichung der Analyseergebnisse entfällt, insofern stattdessen die Analyse durch Selektions- und Schnittentscheidungen am audio- visuellen Material stattfindet und die Analyseergebnisse daher bereits im ferti- gen Medienprodukt enthalten sind, ohne zwingend in Textform transformiert zu werden. Während alle hier vertretenen Beiträge zur qualitativen audiovisuellen For- schung sich dadurch auszeichnen, dass die im Video fixierten Prozesse von den 34 Forschenden verstanden werden müssen,19 lassen sich dabei grob zwei unter- schiedliche Ansätze unterscheiden: a) solche, die den Großteil ausmachen, bei denen die Erzeugung bzw. Sammlung der Daten räumlich und zeitlich von der Analyse bzw. Interpretation abgetrennt werden und b) die, wie der ethnographi- sche und der soziologische Film, die sich dadurch auszeichnen, dass Erhebung und Interpretation bzw. Analyse der Daten miteinander verknüpft sind.20 In die- sen Fällen geht die Deutung der Gegenstände schon in die hochgradige Selektion dessen ein, was aufgenommen bzw. herausgeschnitten wird (vgl. Miko-Schefzig; Gruber/Rizzolli i. d. B.). Wie beim dokumentarischen Film zielt die Erzeugung des Videos dabei auf die Gestaltung eines Medienproduktes, das über die For- schenden hinaus an eine transdisziplinäre Öffentlichkeit gerichtet ist. Auch wenn damit die vom ursprünglichen Videogerät geprägte Trennung von Erhebung und Analyse bzw. Interpretation aufgehoben ist, weisen auch diese auf Ethnographischen Videos basierenden wissenschaftlichen Filme, neben einer ikonographischen, d. h. einer bildlich-gegenständlichen Gemeinsamkeit mit an- deren videographischen Daten, auch die weiter oben bereits erläuterte Gemein- samkeit auf, die sie allgemein als »videographisch« kennzeichnet: Es geht auch hier um Aufzeichnungen dessen, was wir als »natürliche soziale Situationen« be- zeichnen, wobei das, was »sozial« ist bzw. als sozial betrachtet wird, natürlich stets und nicht allein hier von theoretischen und analytischen Perspektiven abhängt. In den Bereich wissenschaftlicher Film fallen in diesem Sinne videographi- sche Daten, bei denen die audiovisuelle Erhebungs- und Repräsentationsweise als »Film« bereits Konstrukte zweiter Ordnung enthalten, um so unmittelbar wissenschaftliches Verstehen und Erklären zu erzielen. Diese Form der Nutzung von audiovisuellen Daten zeigt sich z. B. auch in der am ethnographischen Film orientierten Methode der Kamera-Ethnographie von Bina Mohn  (2022) in der (in Anlehnung an Geertz) das Konzept des »dichten Zeigens« eine zentrale Rolle spielt. 4.3 Nutzungsformen Somit stellt der wissenschaftliche Film, zugleich mit seiner Besonderheit im Rah- men des Analysekontexts, auch eine besondere Nutzungsform von Ethnographi- schen Videos innerhalb der qualitativen Videoanalyse dar, insofern das Videoma- terial nicht Grundlage für eine Analyse ist, die sich in bzw. anhand von handelnd 19 Im Gegensatz zu standardisierten Verfahren, die sich mit der theoretisch abgeleiteten Co- dierung audiovisueller Daten beschäftigen (Nassauer/Legewie 2022). 20 Während die Interpretation ein alltägliches Verständnis der aufgezeichneten Prozesse (was sagen sie, was tun sie, was geschieht hier?) bezeichnet, reden wir von Analysen, wenn die Daten mit theoretisch begründeten analytischen Konzepten verbunden werden (Interak- tion, Sequenz, Turn etc.). 35 erzeugten Datentransformation z. B. Transkripten entfaltet, mittels derer die For- schungsergebnisse für andere wahrnehmbar gemacht werden. Vielmehr stellt das Material selbst, wie bereits erläutert, als fertiges Medienprodukt, das analytische Forschungsergebnis dar. Es ersetzt damit, neben der nachgelagerten Analyse, ins- besondere die textuelle oder anhand lediglich von Momentaufnahmen illustrier- te Repräsentation der Forschungsergebnisse. Kameraführung und Bildschnitt, nicht unähnlich im Dokumentarfilm, verfolgen dabei die Absicht, nicht zuletzt unter Einsatz von ästhetischen Prinzipien, audiovisuelle Beiträge zur (transdiszi- plinären) Wissensvermittlung zu erzeugen. Neben der besonderen Nutzungsform des wissenschaftlichen Films, lässt sich noch eine weitere Form unter dieser Kategorie unterscheiden: die Nach- nutzung. Zunehmend relevant ist die Sekundäranalyse von qualitativen Daten auch im Bereich der audiovisuellen Sozialforschung mit Ethnographischen Videos.21 Das zeigt eine Reihe von Beiträgen in diesem Band. Dabei erweist sich auch die wachsende Bedeutung von Forschungsdatenzentren (FDZ), da, wäh- rend früher Daten häufig von Forscher*innen untereinander geteilt wurden, die hier versammelten Beiträge die Nutzung von FDZ als institutionalisierte Intermediäre belegen, die nicht zuletzt die Berücksichtigung rechtlicher und forschungsethischer Aspekte des Datenteilens garantieren. Besonders in der Bildungsforschung (Jehle; Hamer/Helbig/Urban i. d. B.), aufgrund des spezia- lisierten FDZ-Bildung am DIPF (Frankfurt), spielt die Nachnutzung Ethno- graphischer Videos inzwischen eine große Rolle. Mit der Zusammenarbeit von Qualiservice (Universität Bremen) und dem Fachinformationsdienst der So- zial- und Kulturanthropologie (FID-SKA) entwickelt aktuell ein FDZ auch eine Lösung für die Nachnutzung audiovisueller Forschungsdaten aus der ethno- logischen Forschung (Gruber/Rizzolli i. d. B.). Trotz dieser Entwicklungen er- weist sich allerdings, wie zum Schluss und ohne den Bezug auf konkrete Daten gezeigt wird, dass die Kultur des Datenteilens in der qualitativen Forschung noch am Anfang steht (Wilke i. d. B.). 21 Die Nachnutzung von Korpora Vernakularer Videos scheint hingegen nicht etabliert. Dies mag zum einen an rechtlichen, vor allem urheberrechtlichen Aspekten liegen, die eine Archivierung und damit eine systematische Nachnutzung erschweren (dies geht mit der Problematik einher, dass diese Videos i. d. R. nicht aus dem Netz heruntergeladen und archiviert werden dürfen, womit die Gefahr eines Datenverlusts mir schwerwiegenden Her- ausforderungen für die Belegpflicht im Sinne guter wissenschaftlicher Praxis einhergehen). Vor allem aber ist dies sicherlich mit der Ubiquität und der öffentlichen Zugänglichkeit vor allem von Plattformvideos zu begründen, wodurch, anders als bei Ethnographischen Videos, ein Erfordernis der Nachnutzbar- und damit Zugänglichmachung entfällt. Schließlich liegt auch kein besonderes forschungspolitisches Interesse vor, da, anders als bei der Erzeugung von Ethnographischen Videos, bei der Produktion von Vernakularen Videos keine staatlich zur Verfügung gestellten und in der Forschungscommunity umkämpften Fördermittel ein- gesetzt werden. 36 Ethnographische Videos im wissenschaftlichen Film und in der Nachnutzung finden sich in Kapitel IV dieses Sammelbands: y Katharina Miko-Schefzig analysiert in ihrem Beitrag die unterschiedlichen Herangehensweisen des soziologischen Films und der Videographie (Tuma/ Schnettler/Knoblauch 2013) und welche Synergien oder Begrenzungen sich aus der Kombination dieser beiden Methoden ergeben können. Die zentrale Frage ist, inwiefern Filmtechniken neue Wege zur Wissensproduktion er- öffnen können und wie die visuelle Kommunikation in der Soziologie wei- terentwickelt werden kann. Die Daten stammen aus soziologischen Film- projekten. y Martin Gruber und Michaela Rizzolli widmen sich Ethnographischen Videos, die im Rahmen eines ethnographischen Dokumentarfilms erhoben wurden, der im Jahr 2015 in Kamerun gedreht wurde. Die Aufnahmen umfassen eth- nographische Beobachtungen und Interviews. Der Text setzt einen Schwer- punkt auf die Archivierung und Nachnutzung ethnographischer Filmdaten. Die Rohdaten wurden für das FDZ Qualiservice aufbereitet und zur Nach- nutzung archiviert. Die Autor*innen diskutieren die Herausforderungen bei diesem Prozess, bei dem spezielle Anforderungen an den Datenschutz, die Segmentierung und Annotation der Daten berücksichtigt werden mussten. y May Jehle erläutert ihre bildungshistorische Forschung anhand der Nachnut- zung von Ethnographischen Videos aus pädagogischen Fortbildungskontexten und der Unterrichtsforschung. Der Text befasst sich mit der Untersuchung von Unterrichtsvideographien aus der DDR und der Bundesrepublik, die für bildungshistorische Forschung genutzt werden, um die Entwicklung spezifi- scher Unterrichtspraktiken und deren Transformation im Kontext politischer und pädagogischer Reformen zu analysieren. y Anna Hamer, Jana Helbig und Michael Urban setzen sich methodologisch mit der Qualitativen Sekundäranalyse von Unterrichtsvideos auseinander. Dabei fokussieren sie auf die De- und Rekontextualisierung von Forschungsdaten. Der Text behandelt die methodologischen und forschungspraktischen He- rausforderungen der Verwendung von Ethnographischen Videos aus Unter- richtssituationen für Sekundärforschungen, insbesondere die Bedeutung des Umgangs mit Kontextinformationen bei der Sekundäranalyse. y René Wilke schließlich widmet sich den Innovationspotenzialen durch die Sekundäranalyse sowohl für die qualitative Forschung als auch als Mittel und Gegenstand der qualitativen Methodenlehre. Vor dem Hintergrund der Di- gitalisierung werden dabei insbesondere FDZ als Ressource beleuchtet. An- hand von Studien und Publikationen wird gezeigt, welche Rolle die Sekun- däranalyse bereits jetzt für die Forschung und Methodenausbildung spielt. An Beispielen wird erläutert, welche konkreten Möglichkeiten die Sekundär- analyse bietet. 37 Literatur Andorfer, Peter (2015): Forschen und Forschungsdaten in den Geisteswissenschaften. DARIAH-DE Working Papers. Göttingen: DARIAH-DE. 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Das wissen- schaftssoziologische »Pionierprojekt« (Jörg Bergmann), das als Parallelaktion zu den zeitgleichen »Laboratory Studies« gelten kann, untersuchte vor dem Hin- tergrund phänomenologischer Theorien (Husserl, Schütz), wie alltägliche Be- schreibungen und sozialwissenschaftliche Daten in Relation zueinander entste- hen. Ziel war es, den Prozess der Datenkonstruktion in den Sozialwissenschaften offenzulegen und dabei zu zeigen, dass Daten keine neutralen, »gefundenen« Objekte sind, sondern durch komplexe alltägliche und wissenschaftliche Prakti- ken entstehen. Um parallel auch ein interdisziplinäres Notations- und Transkrip- tionssystem zur adäquaten Beschreibung sozialer Interaktionen zu entwickeln, wurden im Projekt verschiedene Interaktionen audiovisuell aufgezeichnet und analysiert. Aufzeichnung und Analyse wurden wiederum aufgezeichnet und ana- lysiert, um Erhebungs- und Analysekontexte der Datenkonstitution und -pro- zessierung sowie Szenarien der Datenverwendung, abstrahiert vom Gegenstand, selbst empirisch zu erforschen. Das Projekt legte einen wichtigen Grundstein für die Etablierung und Professionalisierung qualitativer Methoden im deutschspra- chigen Raum und die Entwicklung neuer methodischer Verfahren in den Sozial- wissenschaften. Schlüsselwörter: Thomas Luckmann, Wissenschaftssoziologie, Wissenschafts- theorie, Erkenntnistheorie, qualitative Methoden, Notation, Transkription, »Pro- todaten« 41 1. Einleitung Die methodologische Selbstreflexion in den Sozialwissenschaften, wie sie der Band weiterführt, hat eine lange Tradition. Nicht nur theoretische Diskussionen und empirie-praktische Erfahrungsbestände, sondern auch medientechnische Innovationen wie die Erfindung des Tonaufnahmegeräts oder des Smartphones hatten regelmäßig großen Einfluss auf praktische sozialwissenschaftliche For- schungsprozesse und stellten die Wissenschaft immer wieder vor neue theore- tische Herausforderungen, etwa, zu bestimmen, was überhaupt als wissenschaft- liches Datum begriffen werden kann. Ein bisher noch (zu) wenig dokumentiertes und diskutiertes wissenschafts- soziologisches Forschungsprojekt, um das es im Text gehen soll, ist das von der Fritz-Thyssen-Stiftung finanzierte »Pionierprojekt« (Bergmann 2016) »Analyse unmittelbarer Kommunikation und Interaktion als Zugang zum Problem der Entstehung sozialwissenschaftlicher Daten«, dessen Kurzformel unter den Be- teiligten »Daten über Daten« lautete (vgl. auch Tuma et al. 2013, S. 28; Meier zu Verl 2018, S. 3–9). Das Projekt wurde von Thomas Luckmann in Zusammenarbeit mit Peter Gross von 1978 bis 1982 an der Universität Konstanz durchgeführt. Es kann als Teil der innovativen wissenschaftssoziologischen Bewegung der 1970er und 1980er Jahre gelten, als in mehreren Parallelaktionen damit begonnen wur- de, nach soziologischen Erklärungen für wissenschaftliche Ideen und Ideenent- wicklungen zu suchen. Das Ziel dieser Bewegung war, soziale Erklärungen nicht nur für fehlerhafte Überzeugungen und Annahmen zu liefern, sondern soziale Faktoren als Einflussfaktoren für alle, d. h. auch wissenschaftlich korrekte Über- zeugungen, zu identifizieren. Dabei wurden auch außerhalb des menschlichen Bewusstseins und der menschlichen Rationalität stehende Faktoren und Prozes- se berücksichtigt. Das Luckmann’sche Projekt wurde sehr viel weniger rezipiert als die zeitgenössischen Parallelaktionen1 von Knorr-Cetina (1981), Latour und Woolgar (1979) und Lynch (1985), die als »Laboratory Studies« bekannt wurden, 1 Wir verwenden diesen Begriff hier, um mehrere zeitgleiche, aber voneinander unabhän- gige wissenschaftssoziologische Versuche, die Lebensweltfundiertheit von Wissenschaft herauszuarbeiten, zu fassen. Luckmann selbst verwendet den Begriff der »Parallelaktion«, der ursprünglich von Robert Musil stammt, in den Projektunterlagen zur Beschreibung der simultanen Erforschung von Alltagsbeschreibungen sozialer Situationen und der Entwick- lung einer Notationspartitur, die aus seiner Sicht beide aufeinander bezogen bleiben sollen (Luckmann/Gross 1977, S. 207). Dieser Gedanke ist Teil seines allgemeinen Interesses an der Analyse der Konstitution von Zeichensystemen in der menschlichen Lebenswelt. Hier sieht er ebenfalls die Notwendigkeit einer Parallelaktion (1980b, S. 100): Erstens müsse eine phänomenologische Aufdeckung des Fundierungsverhältnisses zwischen subjektiven Be- wusstseinsleistungen und gesellschaftlichen Kommunikationssystemen geleistet werden. Zweitens müsse die empirische Bestimmtheit des Einzelbewusstseins durch ein geschicht- lich konkretes gesellschaftliches System der Wirklichkeitskonstruktion und Realitätsver- mittlung in den Blick genommen werden. Es handelt sich also um eine Parallelaktion der 42 und hatte auch andere theoretische Referenzen. Knorr-Cetina, Latour, Woolgar und Lynch stellten theoretische Bezüge zu Ludwik Fleck, Thomas Kuhn, Émile Durkheim, Marcel Mauss und dem späten Ludwig Wittgenstein her und ver- pflichteten sich methodisch der Ethnografie (bisweilen gepaart mit einem kul- turanthropologischen Perspektivenrelativismus, einer Methodenskepsis Feye- rabend’scher Art oder einer ethnomethodologischen »Radikalreflexivität«). Demgegenüber orientierte sich das Luckmann’sche Projekt an der Phänomeno- logie Edmund Husserls und Alfred Schützens und war methodisch nicht nur an neuen Potenzialen der Audio- und Videografie interessiert, wie sie in sozial- psychologischen, linguistischen und interaktionssoziologischen Forschungen Einzug hielten, sondern setzte diese Instrumente auch selbst in der empirischen Forschung ein. Auch das Erkenntnisinteresse war leicht anders gelagert. Die Autor:innen der »Laboratory Studies« forschten in naturwissenschaftlichen Laboren mit dem Ziel, ethnografisch zu rekonstruieren, wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse dort unter vielfältigen situativen und sozialen Einflüssen als Fakten entstehen. Luckmann war stärker an sozialwissenschaftlichen Forschungen interessiert und wollte deren »Daten« ganz im Sinne der neuen Wissenssoziologie (Berger/Luck- mann 1967) als gesellschaftliche Konstruktionen untersuchen. Sein Interesse galt den sozialen Prozessen, in denen Daten aus vorwissenschaftlichen Erfahrungs- und Handlungsgegebenheiten im situativ eingebetteten kommunikativen Han- deln entstehen und später transformiert und in sozialwissenschaftliche Beweis- führungen überführt  – z. B. theoretisch und begrifflich überformt oder durch Numerisierung und Metrisierung reduziert und quantifizierbar gemacht – wer- den. Die hierbei verwendeten Präparationstechniken wie etwa die Verschriftung lebensweltlicher Ereignisse sollten in ihrer Bedeutung für die Entstehung der modernen, empirisch und intersubjektiv kontrolliert arbeitenden Sozialwissen- schaften expliziert werden.2 Das exemplarische Interesse galt dabei der zeitgenös- sischen Interaktionsforschung in der Linguistik, Sozialp