Eröffnungsbeitrag Hartmut Böhme* Perspektiven der Kulturwissenschaft in historischer und gegenwartsanalytischer Perspektive © 2016 Hartmut Böhme, licensee De Gruyter Open. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License. 18 10.1515/kwg-2016-0003 | 1. Jahrgang 2016 Heft 1: 17–31 Abstract: After observations on Studies of Culture (Kulturwissenschaften) in relation to their theo- retical foundation and their subjects in the last decades, the functioning (style in the sense of Ludwik Fleck) of ‚Kulturwissenschaft‘ will be examined not systematically but exemplarily in four fields: (i) the functions of the so-called liberal and applied arts in the last 250 years, (ii) constellations of sub- jectivity in industrial society in the nineteenth century, (iii) the relation between security and risk in the present time and (iv) the relation of culture and religion in the polycentric, post-religious, but also post-Enlightenment world. Considerations on the prospects of a historic ‚Kulturwissenschaft‘ in relation to Anglo-American trends follow this course. Keywords: Fachentwicklung der Kulturwissenschaft, Kulturgeschichte, Rousseau, Arbeitsgesell- schaft, Erschöpfung, Moderne, Religiosität, Perspektiven *Prof. Dr. Hartmut Böhme: Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität Berlin, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin, email: HHBoehme@gmx.de 1 Kulturwissenschaft als ‚Fach’?1 von Nicht-Menschen unterscheiden. Scheler operiert ferner in der longue durée; das tun wir Lassen Sie mich mit einem Zitat von Max Sche- auch, doch ebenso untersuchen wir engbegrenzte ler von 1929 beginnen: „Wir sind in der ungefähr Objektfelder in chronotopischer Verdichtung. Der zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeital- Philosoph, ganz Zeitgenosse der Moderne, geht ter, in dem sich der Mensch völlig und restlos pro- von einer epochalen Identitätsdiffusion aus, die blematisch geworden ist: in dem er nicht mehr mit Reflexivitätssteigerung verbunden ist: das ist weiß, was er ist; zugleich aber auch weiß, dass das Zeitbewusstsein des Romans Der Mann ohne er es nicht weiß.“ (Scheler 1955: 120) Scheler Eigenschaften von Robert Musil. Beide, Philoso- spricht hier vom Menschen im Kollektiv-Singular; phie und Literatur, diagnostizieren für die aus- das tun wir Kulturwissenschaftler nicht: für uns differenzierte Moderne den Verlust substantieller gibt es nur Menschen als Individuen; und es gibt Werte und verbindlicher Lebensweisen, d.h. eine nicht die Kultur, sondern nur Kulturen. Aber es exponentielle Zunahme von Kontingenz. Doch gibt durchaus strukturelle Merkmale und fundie- diese Selbst-Auflösung ist selbst ein Phänomen rende Mechanismen, durch welche sich Kulturen der für die Moderne typischen Reflexivitätszu- von dem, was nicht Kultur ist, und sich Menschen nahme, oder, wie Niklas Luhmann sagt, der Beob- achtungsbeobachtung. Diese reflexive, zweite 1 Der folgende Text behält den Wortlaut des Vortrags bei Stufe von Beobachtung ist ein Konstituens der der Gründungsversammlung der Kulturwissenschaftlichen Kulturwissenschaft. Wir beobachten, analysieren, Gesellschaft in Koblenz im Januar 2015 bei und ergänzt interpretieren und erklären historisch vorfindliche diesen lediglich um Anmerkungen. Inhalte und Stil der Beobachtungen; und diese sind nichts anderes Kulturwissenschaft sind nicht aus einer Theorie der Kultur, als kulturelle Konfigurationen und Prozesse. die unser Fach allerdings auch benötigt, schlicht abzuleit- en. Darum werden nur exemplarische Felder historischer Das klingt so, als wäre die Kulturwissenschaft Forschung vorgestellt, die eingerahmt sind von Überlegun- das Zentralorgan der Philosophischen Fakultät. gen zum gegenwärtigen und vielleicht künftigen Satus des Davon kann keine Rede sein. Erwartungsgemäß Faches Kulturwissenschaft. Vollständigkeit der Gegenstän- haben sich die geisteswissenschaftlichen Dis- de, ein Überblick über Methoden und Theorien und ihre ziplinen nicht einfach zu Kulturwissenschaften Geschichte, also eine Systematik des Faches sind hier, im gewandelt – das wäre illusorisch; aber es wäre Rahmen eines Vortrags, nicht angestrebt. Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2016 19 auch nicht wünschenswert. Eine kulturwissen- ausdifferenziert wurden, die interdisziplinäre Ver- schaftliche Modernisierung ist nur sinnvoll im netzungen herzustellen, aber auch die natur- und komplementären, ergänzenden oder erweitern- technikwissenschaftlichen Praxen zu integrie- den Verhältnis zu den Traditionen der übrigen ren vermögen (Krämer/Bredekamp 2003). Uns geisteswissenschaftlichen Fächer. Andererseits besonders nahe stehen die Medienwissenschaf- hat sich vieles geändert: Anträge auf große ten, die in den tradierten Fächern ein Bewusstsein Drittmittelprojekte (Sonderforschungsbereiche dafür geweckt haben, dass kulturelle Praktiken u.ä.) haben umso eher eine Erfolgsaussicht, als überwiegend medial konstituiert und prozessiert sie sich kulturwissenschaftlich u.d.h. zumeist: werden – nicht nur, seit es technische Medien interdisziplinär ausweisen. Ganze Fächer haben gibt, sondern auch dort, wo die sog. natürlichen ihr Profil grundlegend reformiert (etwa von der Medien (z.B. die Stimme, Luft) die Vermittler Volkskunde zur Europäischen Ethnologie, vgl. kultureller Handlungen, Kommunikationen und Zimmermann 2007). Viele Philologien, etwa die Zirkulationen darstellen. Kurzum: Medienwissen- Germanistik, aber auch die Theaterwissenschaft, schaften sind Medienkulturwissenschaften. haben sich im Kern kulturwissenschaftlich reno- Im Allgemeinen ist das Bild von Kultur in den viert. Auch in Leitfächern der alten Fakultäten wie Kulturwissenschaften zu sehr auf symbolische der Philosophie, Geschichte, Kunstgeschichte und Kommunikation und soziales Handeln zentriert: Soziologie gibt es Diskussionen um die kultur- Dabei bleibt außer Blick, dass menschliche Kultu- wissenschaftliche Wende. In jüngeren Fächern, ren nur analysiert werden können in den histori- deren Gründung nicht lange zurückliegt, wie z.B. schen Verhältnissen zu dem, was nicht-mensch- in der Kommunikations- und Medienwissenschaft, lich ist: das sind die Dinge, die Tiere und Pflanzen, nehmen kulturwissenschaftliche Fragestellungen die Regionen und Landschaften, das Wetter und ein breiten Raum ein. das Klima. Wir vergessen zu leicht, dass es im Mit der Kulturwissenschaft im Singular sieht Blick auf die artifiziellen Dinge, die ‚kultivierten‘ es jedoch anders aus: Nur an einigen Universi- Tiere und Pflanzen oder die Kulturgeographien täten haben sich Disziplinen mit dem Titel Kul- eine weltweite kulturgeschichtliche Forschung turwissenschaft gebildet – allerdings mit ganz gibt, zu der wir einen lebendigen Kontakt brau- verschiedenen Ausrichtungen. Grosso modo gilt: chen, wenn man die programmatische Absicht Kulturwissenschaft im Singular will man nicht, auf ‚Kulturwissenschaft‘ einlösen will. weder in der DFG noch an den Universitäten. Aus diesen Beobachtungen haben wir gelernt: Kulturwissenschaft soll kein Fach, sondern eine Kulturwissenschaft wird sich nicht durchsetzen, Orientierung für die Fächer der Philosophischen wenn man sie nur als ein Additionsspiel von aktuel- Fakultät sein. Das kann geändert werden: Denn len Erweiterungen etablierter Disziplinen betreibt. zwischen der Institutionalisierung des Fachs Kul- Es bedarf stärkerer theoretischer Anstrengungen turwissenschaft und der kulturwissenschaftlichen und vor allem einer von Kulturtheorie(n) angelei- Perspektivierung vieler Fächer der Philosophi- teten Bestimmung der ‚Felder‘ kulturanalytischer schen Fakultäten besteht kein Widerspruch.2 Arbeit. Diese entstehen gerade nicht durch Sum- Neben der Kulturwissenschaft gibt es auch mation der Vorschläge aus den Sichten der Ein- andere Felder, die keine ‚Fächer‘ sind, aber den- zeldisziplinen. noch Querschnittsfunktionen übernehmen. Ich Im Folgenden skizziere ich, bezogen auf Ent- erwähne nur die Semiotik, die als Kultursemio- wicklungen der Moderne in den letzten 250 Jahren tik zur Rekonstruktion der Zeichen- und Bedeu- (der historische Horizont der Kulturgeschichte ist tungsprozesse von Kulturen basal sind. Ich denke natürlich viel weiter), (1) die Funktionen der sog. an die Kulturökologie (Finke 2008; Zapf 2008) – freien und der nützlichen Künste, die beide zu den ein klarer Fall für eine praktische Kulturwissen- Gegenständen unserer Fächer gehören, (2) Kon- schaft. Ich erinnere an die Kulturtechniken von stellationen der Subjektivität in der Industriege- Bild, Schrift und Zahl, durch welche neue ‘Felder’ sellschaft des 19. Jahrhunderts, (3) das Verhält- nis von Sicherheit und Risiko heute sowie (4) die 2 Assmann (2006); Därmann/Jamme (2007); Nünning Beziehung von Kultur und Religion in der polyzen- (2005); Liebsch/Rüsen/Straub (2004); Kittsteiner (2004); trischen, postreligiösen, aber auch postaufkläre- Benthien/Velten (2002); Böhme/Matussek/Müller (2007). rischen Welt. Große Themen auf engstem Raum! 20 10.1515/kwg-2016-0003 | 1. Jahrgang 2016 Heft 1: 17–31 Doch will ich nur beispielhaft zeigen, worin sich lenruhe (der epikureischen αταραξία), jenseits ein kulturwissenschaftlicher Blick auszeichnet jeder moralischen Verpflichtung, jeder Arbeits- und dass ihm Phänomene in den Fokus geraten, disziplin und jeder Wahrheitsanstrengung. Rous- die es berechtigt erscheinen lassen, von einem seau bildet in sich selbst die Insel, auf der er lebt. spezifisch kulturwissenschaftlichen Umgang mit Und diese Insularität, fern jeder Robinsonade, in historischen Objekten und Feldern zu sprechen. der es stets um Selbsterhaltung und Arbeitsethos geht, ist der Inbegriff der Ästhetik. Das Ästheti- sche teilt sich hier gerade nicht als werkschaf- 2 Das Nutzlose und das Nützliche fende Kreativität, sondern als selbstgenügsamer, nutzloser, aber erfüllter Augenblick mit. Kurz, es ist das Glück, – die Erfahrung des verweilenden 1762 war einer der radikalsten Vertreter der Augenblicks, den Faust, der Weltengierige, stets Aufklärung mal wieder auf der Flucht. Von Paris sucht und nie erreicht. Faust, der rastlos Schaf- aus hatte er sich ins schweizerische Städtchen fende, ist der Gegentyp zu Rousseau im Boot, Môtiers zurückgezogen, das zum Herrschaftsge- dem Genießenden. biet des preußischen Königs gehörte. Hier war Rousseau ist nicht nur Philosoph, sondern der berüchtigte Exzentriker dem calvinistischen auch Künstler und Musiker, der die Hetze und Pfarrer und den Bauern unliebsam geworden, so Unruhe der Zeit nur zu genau kennt. Hier auf St. dass sie ihm mit Steinen die Fenster einwarfen. Pierre lernt er eine neue Art des Ästhetischen Bereits in Paris, dann auch in Genf hatte man kennen: das Gefühl vollkommener Immanenz seine Schriften verbrannt – und einen Haftbefehl des Daseins, worin „man sich selbst genügt“ „wie ausgestellt. So musste man nicht paranoid sein, Gott“. Das nennt Peter Sloterdijk den „Urknall um sofort nach der „Steinigung“ (lapidation, wie der modernen Subjektivität“ (Sloterdijk 2003: er schreibt) erneut zu fliehen: auf die Isle St. 23). Indes, es ist keine Explosion, sondern „ein Pierre im Lac de Bienne im Jura – procul negotiis fast unmerkliches Geschehen von eher implosi- und das heißt hier: fern des „Tumultuarischen des vem oder kontemplativem Charakter“ (Rousseau gesellschaftlichen Lebens“ und einer „vollständi- 2012: 136).3 Es ist schon deswegen kein Urknall, gen Weltabwendung“ (Rousseau 2012: 139; 85). weil diese Form von Moderne deutlich auf alt- Über diesen idyllischen Aufenthalt schreibt Jean- europäische Topoi des anti-urbanen Landlebens Jacques Rousseau zwölf Jahre später die berühm- zurückgeht (Sengle 1963; Frühsorge 1993). ten Träumereien eines einsam Schweifenden. Von hier aber gehen die Theorien ästheti- Warum erzähle ich das? scher Autonomie aus, die Ansprüche der Kunst In der „fünften Träumerei“ beschreibt Rous- auf Nutzlosigkeit und Amoralität, auf Genuss seau folgende Situation: Er lässt sich mit einem und reine Gegenwart – von Schiller bis zu Ador- Boot über den See treiben und versinkt in stun- nos ästhetischer Theorie, die ihren Impuls aus denlange Träumereien, „wirr zwar, aber herr- der Figur der Negativität bezieht: In der Kunst lich“, „ohne genau umrissenen oder fest gefüg- sei aller gesellschaftlicher Anspruch gelöscht ten Gegenstand“. Ähnliche Situationen „jeglicher und eben das mache ihren unverzichtbaren Wert Mühsal des Denkens enthoben“, wodurch er indes aus. Denken wir an Joris-Karl Huysmans, Oscar umso mehr sein „Dasein voll Freude [zu] spü- Wilde oder Hugo von Hofmannsthal. Denken wir ren“ vermag, erlebt er auf der Insel oft. Die Zeit an die Selbstgenügsamkeit von Farbe und Form, wird aufgehoben, jede Minute ist wie die andere, die absolute Malerei von Cezanne bis zu Barnett jeder Tag wie der vorige. Es sei ein „dauerhaf- Newman. ter Zustand“,„wo Zeit nichts mehr gilt, wo stets Rousseaus Ästhetik der Präsenz (vgl. dazu Gegenwart herrscht, ohne jeden Merkstein sol- Mersch 2002) ist jedoch eine Geburt der Aufklä- cher Dauer und ohne jede Spur einer Abfolge, rung nicht anders als die Erfindung der nützlichen aber auch ohne jedes Gefühl von Mangel oder Künste.4 Die Encyclopédie von d’Alembert und Wonne, von Freud oder Leid, von Wunsch oder Angst, außer um unser Dasein selbst, das ganz 3 Vgl. zu diesem Zusammenhang Sloterdijk 2001: 25-28. von diesem Gefühl ausgefüllt wird“ (Rousseau 4 Nützliche Künste bezeichnen schon vor der Aufklärung 2012: 131, 133, 135). Es ist ein Zustand der See- vor allem technische Fertigkeiten, Verfahren, Apparate Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2016 21 Diderot hatte programmatisch die Kulturtechni- und der Selbstbehauptung der Kunst, die frei und ken, Gewerke und Praktiken in den Vordergrund eigensinnig sein will und dennoch ihren Schöpfer gerückt. Die Künste sollten ihre gesellschaftliche ernähren soll, bestand von Anfang an ein unauf- Nützlichkeit darstellen. Der Widerspruch zwi- hebbarer Widerspruch. schen den sog. freien und den nützlichen Küns- Gottfried Semper hatte schon 1860 die in der ten zieht sich durch die Geschichte besonders der Moderne ausdifferenzierten Techniken, Hand- Kunsthochschulen. Doch gerade die Kulturwis- werke und Künste aus frühgeschichtlichen Kul- senschaft hat hinsichtlich der artes keinerlei Pro- turtechniken rekonstruiert (Semper 1860/63 und bleme damit, beide Seiten, die praktisch-funktio- 1852). Hier ist das Konzept der angelsächsischen nale und die ästhetisch-autonome gleichermaßen arts & crafts-Bewegung, des Jugendstils und des zu berücksichtigen. Deutschen Werkbunds, aber auch des Bauhaus Vergessen wir nicht, dass Rousseau keines- vorbereitet. In anderer Weise realisierte Aby wegs nur im Boot lag und träumte: vita con- Warburg solche Konzepte, wenn er eine Kultur- templativa, sondern das Eiland im Bieler See wissenschaft begründete, welche eine Briefmarke kartographierte, um die Pflanzen systematisch derselben analytischen Sorgfalt unterzog wie die aufzunehmen; dass er die unbewohnte Nachbar- Fresken des Palazzo Schifanoia in Ferrara. insel mit Kaninchen besiedelte und sich mit dem Hannah Arendt benutzte gern ein antikes Verweser des kleinen Landguts über Agrikultur Motto, das uns an Rousseau erinnert. Es lau- beriet: vita activa (Arendt 1981). Und selbst- tet: „Niemals ist man tätiger, als wenn man dem verständlich schrieb er, der auf der Insel sein äußeren Anschein nach nichts tut, niemals ist Schreibzeug nicht anzurühren vorgab, später ein man weniger allein, als wenn man in der Ein- ganzes Buch über den Aufenthalt auf St. Pierre: samkeit mit sich allein ist.“ (Arendt 1981: 317; reflexive Kultur. s. auch Arendt 1998: 10)5 Dies ist ein Zitat aus Vergessen wir nicht, dass europaweit Gesell- Ciceros De re publica, wo Cato den Satz als Aus- schaften gegründet wurden nach dem Vorbild spruch von Scipio Africanus überliefert, der ein der Royal Society for the Encouragement of Arts, höchst dynamischer Feldherr und Staatsmann Manufactures and Commerce. Die Autonomie der war. Und gerade er formuliert einen Satz, der Kunst war ein Theorie-Phantasma des Idealis- jenen ziel- und nutzlosen Zustand im Rousseau- mus, der sich über seine materiellen und sozia- schen Boot als die höchste Tätigkeit darstellt. Das len Bedingungen hinwegtäuschte. Die glückliche scheinbar Nutzlose als höchste Tätigkeit und das Nutzlosigkeit der Kunst ist eine abstrakte Grenz- scheinbare Asoziale als höchste Form der Sozia- bestimmung, die bis heute kaum etwas mit der lität! Man versteht nun, was die Spannweite der Realität der Kunstpraxis zu tun hat. Sie ist den- Kultur ausmacht, die wir Kulturwissenschaftler zu noch wichtig, um die Kunst vor politischer Zensur, untersuchen haben. moralischen Zwecksetzungen und szientifischer Wir müssen immer wieder neu vertreten, dass Funktionalisierung zu verteidigen. Dem gegen- die Kategorie des Nutzens nicht von der einen, über standen die nützlichen Künste. An deren ökonomischen Form des Kapitals abhängt, son- Entwicklung meldete niemand ein so lebhaftes dern dass es, wie Pierre Bourdieu betont, auch Interesse an wie das Wirtschaftsbürgertum, das das symbolische und das kulturelle Kapital gibt aus demselben Stamm wuchs wie die Kunstauto- (Bourdieu 1983 und 1987). Dessen Werte aber nomie, nämlich der Aufklärung. Die Regime der sind für die Selbsterhaltung und Entwicklung der Arbeit und der Industrie gaben den Rahmen für Gesellschaft essentiell. Berufsbilder ebenso her wie für die Gestaltungs- Setzen wir also voraus, dass das Schweifende prinzipien jener Artefakte, die nur als Waren eine und Nutzlose, dass die Tätigkeiten also der Einbil- Chance für ihren Auftritt in der Welt hatten. Zwi- dungskraft, die nichts will, als sich zu verkörpern, schen kapitalistischen Verwertungsimperativen die Sphäre beschreibt, in der die Künste gedei- und Maschinen, also solche technomorphen Prozesse, die zunächst an den (Kunst- und) Gewerbeschulen, später 5 Das Zitat von Cato wurde verwendet von Söllner 1990: dann an den technischen Universitäten gelehrt und gelernt 224, später auch in: Söllner 1996: 247; übernommen von wurden. Han 2009: 104f.; vgl. auch Geisen 2011: 288. 22 10.1515/kwg-2016-0003 | 1. Jahrgang 2016 Heft 1: 17–31 hen, aber auch die Arbeitsgesellschaft und ihre schreibt: „Die Inspiration der Müdigkeit sagt Pathologien wachsen. weniger, was zu tun ist, als was gelassen werden kann. [...] Die Müdigkeit als das Mehr des weni- ger Ich.“ Müdigkeit als Kunst des Gelassen-Seins 3 A rbeitsgesellschaft und (ebd., 74f.). 7 Durchaus gilt, dass in solchen Kontrapunkten Erschöpfung zur Arbeitsgesellschaft ein rousseauistisches Erbe nachwirkt. Seit Rousseau datiert der Diskurs, Der 24-Stunden-Rhythmus der Moderne, ihre dass die fortschreitende Kultur einen unerwar- niemals erlahmende Dynamik und Mobilität, das teten Preis kostet: Sie schlägt auf die Gesund- ununterbrochene Strömen der Energien, Kräfte, heit und Natürlichkeit des Menschen zurück. Und Massen und Dinge, die Unruhe und Geschwindig- diese Denaturierung wird zum Kern des Diskurses keit, die sich am konzentriertesten in der Megalo- über Degeneration und später über Dekadenz als pole und in den Fabriken darstellten, bezeichnen Folgen der Zivilisation.8 Die Kulturkritik gehört zu eine Gesellschaft ohne Ermüdung und Erschöp- den Attitüden der Selbstbeobachtung des Bürger- fung. Müdigkeit ist ein unerwünschtes survival des tums, das der Antreiber eben jenes technischen vormodernen Körpers, der sich erholen muss, um Fortschritts und jener großstädtischen Lebensfor- wieder aufs Niveau der Maschinen zu kommen, men ist, unter denen es dann zu leiden beginnt. die das Maß aller Dinge sind. Kein Wunder, dass Die Rousseausche Linie wurde vor allem in in dieser Zeit die Thermodynamik und mit ihr eine der Romantik aufgenommen. Auch das katego- gleichsam entropische Stimmung aufkam (Nes- riale Inventar der zivilisationskritischen Diagno- wald 2006). Anson Rabinbach (1992) beschreibt, sen, nämlich das Paradigma der Nerven9 und das dass der ideale Grenzfall der Arbeitsphysiologie mit ihm fusionierte Modell der Elektrizität, sind in des 19. Jahrhunderts der ermüdungsfreie Orga- der Medizin mit der romantischen Ästhetik und nismus war: Er stünde auf einer Höhe mit den Erzählkunst gekoppelt. Erschöpfende Arbeits- Maschinen. Doch die Großstadt ohne Schlaf und welt und strenge Pflichtethik treten erstmals zu die Fabrik ohne Pause fanden ihren Gegenspieler erfüllter Muße und arbeitsloser Phantasieaktivität in der ungeheuren Müdigkeit, die sich im Herzen in einen Widerspruch. Dieser wird im Lauf des der Industriegesellschaft ausbreitete: als Ent- 19. Jahrhunderts zum Epochenwiderspruch der fremdung, Neurasthenie, chronische Erschöp- bürgerlichen Gesellschaft. Viele Leitdifferenzen fung, Depression. Von Marx bis Freud breitete entspringen hier: Erfüllung versus Entfremdung, sich ein riesiges Diskursfeld über die Sozialpatho- Muße versus Arbeit, Lust versus Pflicht, Liebe/ logien der urbanen Industriegesellschaft aus. Leidenschaft versus Ehe/ Familie, Künstlerdasein All das glauben wir heute wiederzuerkennen, versus Berufsleben, volle, ereignishafte versus wenn wir mit Byung-Chul Han (2010) von der leere, repetitive Zeit, Phantasie versus Verstand Müdigkeitsgesellschaft sprechen6: Die neurasthe- usw. Von solchen Dualismen wurden auch die nischen Symptome wiederholen sich in den ende- medizinischen Diskurse bestimmt. Je nach Posi- mischen Depressionen und Burnouts, denen man tion des Autors wurden die ruhelose Zivilisation damals wie heute mit Sport und Lebensreform, und drückende Arbeitslast für die Psychopatho- aber auch mit Alkohol und Drogen, mit Psycho- logien verantwortlich gemacht, oder umgekehrt pharmaka und Psychotherapie begegnet. Gewiss wurden die Künstler, Außenseiter, Bohemiens, wird angesichts dieser peinigenden Müdigkeit auch eine inspirierende Müdigkeit entdeckt, so 7 Zu denken ist hier auch an Heideggers (1994) Plädoyer bei Peter Handke – eine Müdigkeit der negativen für die Gelassenheit (hätte er diese 1933 doch gewahrt!); Potenz, die das quälende „Um-Zu“ allen Handelns vgl. Voigt/Meck 2005; Hobuß/Tams 2014. in ein ästhetisches „Nicht-zu“ (Handke 1989: 8 Beispielhaft nenne ich: Nordau (2012). Viele Stellen bei 62) verwandelt. Nichts darf sein, was nicht eine Nietzsche wären zu nennen. – Forschungsliteratur dazu Funktion hat; doch alles, was funktionslos ist wie z.B.: Drost (1986); Pick (1993); Constable/Denisoff/Po- diese herrliche Müdigkeit, hat Wert. Peter Handke tolsky (1998); Pross (2013); Mahoney (2015); Sherry (2015). 9 Grundlegend zum ‚nervösen Zeitalter’: Radkau (1994) 6 Vgl. auch Ehrenberg (2004); Roelcke 1999. und (1998). Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2016 23 Flaneure, Arbeitsverweigerer, Alkoholiker als ten und damit zum Titel der Zivilisation selbst degenerierte oder dekadente Subjekte stigmati- zu werden. Es ging nicht mehr um die Trägheit siert. der notorischen Faulpelze, Vagabunden, Armen, Auch Nietzsche wendet sich gegen solche Bettler, die Überarbeitung der gepressten Bauern, „Verkündiger der grossen Müdigkeit“.10 Für ihn um Furcht und Zittern der armen Söldner, um ist diese dekadent, eine „andere Welt“, die ein die acedia der Mönche und die Melancholia der „Synonym des Nicht-seins, des Nicht-lebens, Gelehrten, nicht mehr um die blasierten Müdig- des Nicht-leben-wollens“ ist11, „die gefährlichste keiten der gelangweilten Hofadligen, nicht um die und unheimlichste Form aller möglichen Formen Desperatio hochbegabter bürgerlicher Hofmeis- eines ‚Willens zum Untergang’, zum Mindes- ter oder die Erschöpfung zügelloser Libertins. ten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Diese alteuropäischen Müdigkeiten trugen eine Missmuthigkeit, Erschöpfung, Verarmung an andere soziale Physiognomie, erfuhren andere, Leben“.12 Müdigkeit, Erschöpfung und Dekadenz nämlich metaphysische, moralische oder christ- sind bei Nietzsche fast austauschbar. Wenn früher liche Deutungen – oder sie versanken im Bauch die Religion die „zur Epidemie gewordnen Müdig- der Geschichte, eine nicht-signifikative Masse, in keit und Schwere“13 bekämpfte, so sind es in der deren Stummheit sich Müdigkeit und Erschöpfung industriellen Arbeitsgesellschaft die Medizin und vermummt hatten. Gerade diese Sphären gehö- Psychiatrie. Freche Pamphlete wie „La droit a la ren zu den Arbeitsfeldern der Kulturwissenschaft. paresse“ (1883) von Paul Lafargue (1966) waren Die moderne Müdigkeit ist im Kern ein Ele- hingegen ein Anschlag auf die Primärtugenden ment der hochorganisierten Arbeit. „Die ende- der Gesellschaft, zu denen nicht das Recht, son- mische Unordnung der Ermüdung – die augen- dern die Pflicht zur Arbeit gehörte. scheinlichste und hartnäckigste Mahnung an den Man muss sich klar machen, dass Müdig- halsstarrigen Widerstand des Körpers gegen- keit und Erschöpfung zwar zu allen Zeiten als über unbegrenztem Fortschritt und Produktivität Phänomene vorkommen. Ihr Aufstieg indes zur – begleitete die Entdeckung von Krafterhaltung Epochensignatur zeigt in der Geschichte der und Entropie. Die Ermüdung wurde zur perma- physischen Befindlichkeiten, Emotionen und Men- nenten Nemesis eines Europas der Industrialisie- talitäten dennoch eine historische Besonderheit. rung.“ (Rabinbach 1992: 14) Mit der Ermüdung Das Zeitalter als eines der Nerven zu bezeichnen, fand erstmals eine negative Kraft Eingang in die ist historisch singulär. Für die zeitgenössischen Selbstbeschreibung der Moderne: die Abwesen- Beobachter schwankte die Lebenskraft perma- heit von Frische, Aufmerksamkeit, Spannung, nent zwischen Überspannung und Erschlaffung, Aktivität, Kraft, Produktion.14 Diese ließen sich Überreizung und Reizarmut. Nichts war so sehr nur von ihren Grenzen in der Ermüdung her ein Resonanzraum der Erregungen und Stim- verstehen, ja, die Fortschrittsaspirationen des mungen, der zivilisatorischen Anstrengungen Jahrhunderts kippten sogar ins Gegenteil: Die und Vergnügungen wie das System der Nerven, entropische Müdigkeit, die Neurasthenie sind der die seit 1800 eine beispiellose Karriere gemacht Normalzustand gegenüber den Phasen manischer hatten. Die Nerven reagierten sensibel oder irri- Arbeit, welche die Müdigkeit immer nur unterbre- tabel auf die endogenen Prozesse von Körper und chen. Man lese George Miller Beards American Seele ebenso wie auf die exogenen Impulse der Nervousness (1881; s. auch Beard 1880), den Zivilisation. Sie waren wie nichts anderes geeig- Erfinder der Neurasthenie, dessen Buch blitz- net, zur Leitmetapher der Zivilisationskrankhei- schnell in ganz Europa sich verbreitete und den Diskurs der Ärzte, Psychiater und Kulturkritiker 10 Nietzsche (1988): Also sprach Zarathustra, KSA IV: bestimmte. Ähnlich einflussreich war die empiri- 300. 11 Nietzsche (1988): Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888, KSA XIII: 354. 14 Mit Deleuze kann man sagen: „Der Ermüdete ver- 12 Nietzsche (1988): Versuch einer Selbstkritik – Die Ge- fügt über keinerlei subjektive Möglichkeit mehr, er kann burt der Tragödie, KSA I: 18/9 (als Kritik an der christliche also gar keine objektive Möglichkeit mehr verwirklichen. Kultur). [...] Der Ermüdete hat nur ihre Verwirklichung erschöpft, 13 Nietzsche (1988): Zur Genealogie der Moral, KSA V: während der Erschöpfte alles, was möglich ist, erschöpft.“ 378. (Deleuze 1996: 51). 24 10.1515/kwg-2016-0003 | 1. Jahrgang 2016 Heft 1: 17–31 sche Arbeit von Angelo Mosso (1892; vgl. dazu logische noch nur soziale Krankheit, doch irgend- Felsch 2006). wie alles zusammen. Wenn man im Warenhaus Angesichts dieser Zeitstimmung sind nicht die glitzernde Schauseite der Warengesellschaft mehr Subjekte müde und erschöpft, sondern die erblicken konnte (wie Émile Zola in Au Bonheur Welt drängt ihrer finalen Erschöpfung zu, wenn sie des Dames [1884] schildert), dann darf man die nicht bereits eingetreten ist. Das ist die Stimmung Neurasthenie geradezu als den Kramladen für die der Neurastheniker um 1900: „Ganz vergessener odds and ends des 19. Jahrhunderts bezeichnen. Völker Müdigkeiten / Kann ich nicht abtun von Die schön verpackten Frauen und literarischen meinen Lidern“, heißt es bei Hofmannsthal 1895 Elegants, in Salons und auf Boulevards gleicher- (Hofmannstahl 1979: 26). Finis hominis! Posthis- maßen zu Hause, mit müden Gesten und feinsin- toire, Postmoderne schon hier! nigen Bonmots, in bleicher Schönheit, gelagert in Die Robustheit der Industrie und der Tech- weichen Fauteuils, die Huldigungen der Männer nik, die Rationalität und die Wissenschaften, das und die besorgten Blicke der Ärzte hinnehmend Wachstum der Städte und des Verkehrs, die Macht – und auf der andere Seite die ausgelaugte Fab- von Staat und Militär, die Innovationskraft der rikarbeiterin, bleichsüchtig mit fünf Kindern und Medien und die Verschaltung von allen und allem einem aggressiven Alkoholiker in einer lichtlo- durch Netzwerke und logistische Infrastrukturen sen Zweizimmerwohnung lebend, und die jungen bildeten die unwiderstehliche und dynamische Burschen, die kraftlos ihrem stundenweise ver- Mitte der Gesellschaft des langen 19. Jahrhun- mieteten Schlafplatz entgegenwanken: Sie alle derts, das bis 1914 andauerte. Doch diese Mitte sind, mit Hermann Bang (1857-1912) zu spre- wurde ständig von den Rändern her heimgesucht: chen, „Hoffnungslose Geschlechter“ (1880, dt. durch Alkoholismus, Degeneration, Dekadenz, 1900). Neurasthenie, Hysterie, Psychosen, Nerven- Es ist durchsichtig, dass eine eher konserva- krankheiten, durch soziale Verwahrlosung und tive Moderne-Kritik sich mit der Medizin verbün- ‚moralischen bzw. physiologischen Schwachsinn det, um dem chaotischen Diskurs Gewicht und [des Weibes]’ (moral insanity; Paul Julis Möbius; Ansehen zu verschaffen. Es ist aber auch klar, Katinka von Rosen), „Entartung“ (Max Nordau) dass in den Sammelsurien von Symptomen sich und Kriminalität (Cesare Lombroso), durch Über- diffuse Modernisierungsschäden Ausdruck und reizung oder Reizarmut, Spiritismus und Okkul- Beachtung verschafften, die in der Tat ernst zu tismus, durch krankmachende Geschwindigkeit nehmen waren, auch wenn sie in der ideologi- sowie durch endemische Krankheiten wie Cho- schen Fusion mit Theorien über allgemeine Dege- lera, Tuberkulose, Typhus, Bleichsucht, Syphilis neration, Dekadenz und – so bei Max Nordau u.a.m. Dieser fürs 19. Jahrhundert eigentümli- – Entartung für heutige Leser schwer erträglich che Widerspruch aus stämmiger Robustheit und sind. Der medizinische Kern ist weitgehend iden- müder Schwäche ließ, als Moment der Moderne, tisch mit dem der Ermüdungswissenschaft: Der die Kulturkritik entstehen und mit ihr die Reflexi- aufgrund der Modernisierung aller Lebensver- vität und Dialektik, wie sie für die Moderne ebenso hältnisse enorm angestiegene Verbrauch an Ner- kennzeichnend sind wie Technik und Industrie. venkraft führt zu einer allgemeinen Erschöpfung Ja, man kann sagen, dass es niemals zuvor eine der psychophysischen Substanz des Individuums, Epoche gegeben hat, die in eins mit ihren unbe- aber auch des Kollektivkörpers der Gesellschaft. streitbaren Fortschritten und Gewinnen zugleich Die gesellschaftlichen Leiden führen zum Leiden die eigenen Sozialpathologien und gesundheitli- an der Gesellschaft (H.P. Dreitzel 1968). Man ist chen Kosten so radikal reflektierte wie das fin de müde, man ist der Gesellschaft müde, man ist siècle. In vieler Hinsicht ist die Neurasthenie viel- des Lebens müde. Die Mikro- und die Makroebene leicht weniger eine wirkliche Krankheit, als der wurden im Neurasthenie-Diskurs zusammenge- genau rechtzeitig erfundene Spiegel, worin die schaltet, so dass schließlich die erschlafften Sub- triumphierende Arbeitsgesellschaft ihr erschöpf- jekte sich im Gleichklang mit der Ermattung und tes Antlitz studieren konnte. In anderer Hinsicht Erschöpfung der ganzen Epoche befanden. Auch ist die Neurasthenie eine unbestimmte, alle mög- wenn die Terminologie und die wissenschaftlichen lichen Symptomatiken inkludierende, weder nur Ansprüche andere geworden sind: Die zirkulie- physische noch nur psychische, weder nur neuro- renden Diskurse über den Stress, das Burnout Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2016 25 und die endemischen Depressionen heute laufen cherungen. Dies drückt sich, in Zeiten wachsender im Prinzip noch immer auf der kulturkritischen Entstaatlichung der Daseinsvorsorge, auch in der Schiene, auf welche der Neurasthenie-Diskurs so Zunahme zivilgesellschaftlicher Dienstleistungen erfolgreich Fahrt aufgenommen hatte. Wir sind aus, die von privater Altersvorsorge bis zu Psy- krank, weil die Gesellschaft krank ist: Das ist ein chotherapie oder Fitnesstraining reichen. Und noch immer funktionierendes Erfolgsrezept der dazu gehört auch die Kultur, die angesichts der Kulturkritik. Modernisierungsschäden verstärkt nachgefragt wird, freilich nicht mehr als bildungsbürgerliche Hochkultur, sondern als Spektakel, das längst 4 R isiko und Sicherheits- auch die Opernhäuser und Kunstfestivals erreicht hat. Dilemmata in der Die in der Moderne aufgebauten Einrichtungen gegenwärtigen Gesellschaft15 der Sekurität generierten ein Lebensgefühl, das nicht mehr in religiöser Selbstvergewisserung, sondern in ökonomisch verrechneten Garantien Seit der Aufklärung gehört es zum Selbstverständ- wurzelte. Diese wurden freilich erkauft mit dem nis moderner Gesellschaften, dass die Rationali- Bewusstsein um die Zufälligkeit des eigenen Han- sierung der Welt Gewissheiten generiert, welche delns und um die Unzuverlässigkeit der staatlichen die Ordnungen des menschlichen Lebenszyklus, Institutionen: An die Stelle religiöser Heilsgaran- der Staaten und der Gesellschaft stabilisieren tien trat ein Risiko-Management, das der Staat für sollen. Die kognitiven Ordnungen und gouver- die Gesellschaft und der Bürger für sein Lebens- nementalen Regimes, welche die Transforma- skript zu entwickeln hatte. Genau diese Strate- tion traditionaler in funktional ausdifferenzierte gien und Versprechen brechen heute zusammen. Gesellschaften antrieben, erhöhten jedoch nicht Dies führt zu einer befremdlichen Diagnose: Die nur den Standard staatlicher Sicherungssysteme, Moderne stellt die Erweiterung des Möglichkeits- sondern gleichzeitig die Kontingenz. Kontingenz raums auf Dauer, während die Mentalitäten nicht meint, dass Angst und Gefahr, Zufall und Unord- in gleicher Weise mitgewachsen sind. Es verbrei- nung, Katastrophe und Unglück, Biographie und ten sich misstrauische, ungläubige, depressive Lebensformen, Erfolg und Zufriedenheit nicht Stimmungen. Dies ist die Vertigo-Moderne, der mehr durch unverfügbare Ordnungen gerahmt wir soeben beiwohnen. In traditionalen Gesell- sind. Im Ergebnis führte diese ‚Entbettung‘ für schaften war die Religion die zentrale Institution die Individuen zu massiven Überlastungen. Trotz für Sinnstiftung. Ökonomie war Heils-Ökonomie: gewachsener regierungstechnologischer Potenti- für die Tröstung bei innerweltlichen wie metaphy- ale waren strukturelle Paradoxien und unsteuer- sischen Ängsten, für die Bewältigung des allge- bare Zyklen von Aufschwung und Depression die genwärtigen Todes und für die Vermittlung von Folge. ‚Geborgenheit’ im Schoß einer Zeit, die jeden Moderne Gesellschaften müssen ihre Identität Einzelnen in das Heilshandeln Gottes zwischen auf riskanten Wandel, auf Bewegung, Zerstörung Ursprungsereignis und Endgericht einhegte. Die und Wachstum einstellen. Unsicherheit ist ihre metaphysische Rahmenlosigkeit der Moderne hat Entwicklungsvoraussetzung. Aber der Innovati- zwar die Spielräume der Kontingenz und damit onsdruck in Kombination mit der Enttraditiona- die Räume selbstregulierter Gestaltung ständig lisierung bedeutet für viele Menschen nur noch anwachsen lassen. Doch zugleich wurden den Stress. Und so erwächst aus dem Modernisie- Instanzen, die diesen Prozess vorantrieben, die rungsmodus des Möglichkeitsdenkens eine Nach- Erwartung aufgebürdet, die drohende Sinnleere, frage nach Bewältigungsformen dieser Verunsi- die Unsicherheit und Zukunftsungewissheit, den psychophysischen Stress in einer Wettbewerbs- 15 Zum Folgenden vgl. aus politikwissenschaftlicher Sicht: gesellschaft nicht nur zu beruhigen, sondern in Münkler et al. (2010); Münkler et. al (2010a): Handeln planbare Lebensläufe und in wohlfahrtsstaatliche unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vor- sorge. In die Diskussion gebracht wurde das Thema schon Garantien zu transformieren. Heute aber sind zuvor: Beck (1987), Beck (2007) und Luhmann (1991). – weder Lebensläufe planbar noch ist auf staatliche Kulturhistorisch: Bernstein (1997); Hampe (2006). Fürsorgemaßnahmen Verlass. Erwartungsüber- 26 10.1515/kwg-2016-0003 | 1. Jahrgang 2016 Heft 1: 17–31 lastung auf der einen, Erwartungsenttäuschung book oder Fernsehen. Banker und Börsenmak- auf der anderen Seite erzeugen eine Art Lähmung ler aber sind die Nihilisten unserer Tage, die ihr des für die Moderne unerlässlichen Möglichkeits- Schäfchen längst im Trocknen haben, wenn die sinns. Der Effekt ist: Die risikoaffine Dynamik der Träume der Schafherde sich in Nichts auflösen. Moderne ist eigentümlich mit risikoaversen Men- Die modernen Nihilisten sind, mit Umberto Eco, talitäten verkoppelt. die „Apokalyptiker“17, für die der Untergang zum Die Moderne hat anhaltende Schwierigkei- Risiko gehört, das heute jeder einzugehen hat, ten damit, die Prozesse ständiger Verflüssigung der mitspielen will. In dieser Welt, in der es keine und Veränderung, der Innovation und des Expe- Moral gibt, interessiert nicht die Frage danach, rimentierens auszubalancieren durch Mechanis- welches Unglück angerichtet wird, sondern nur men der sozialen und politischen Stabilität oder die Frage, wann der Zeitpunkt zum Ausstieg durch Sinnsicherung und Traditionsbildung. Das gekommen ist. Den kennen die „Integrierten“ Risikomaß, das einen Vorsprung im Wettbewerb nie. Ihnen, die auf Ruhe und Ordnung setzen, verspricht, ist nicht beliebig zu erhöhen, wenn und damit ungewollt zur Vermehrung der Risiken es keinen Gegenhalt in wirksamen Stabilitätsme- beitragen, bleibt oft nur die scheinheilige Empö- chanismen auf individueller wie gesellschaftlicher rung, dass die Welt ‚schlecht‘ ist und die master Ebene gibt. Das bedeutet: Risiko und Sicherheit of the universe nichts als kriminelle Spieler sind. sind nicht nur komplementär, sondern auch pro- Gerade mit dieser Mentalität stützen sie den apo- portional. Wächst das Risiko, muss Sicherheit kalyptischen Diskurs, von dem der Risiko-Thrill mitwachsen; werden bestimmte Niveaus von der anderen seine Renditen und Boni bezieht. Sicherheit unterschritten, lässt die Risikobereit- Die Standardposition der Moderne, nämlich schaft nach. Fortschritt durch Erhöhung von Sicherheit zu Die Frage nach Sicherheit und Risiko ist eine stabilisieren, ist in Frage gestellt. Es ist unwahr- Schlüsselfrage moderner Gesellschaften.16 Der scheinlich, dass Antworten auf die beschriebenen Zwang zu Beobachtung, Forschung und Reflexion Problemzonen nur politologisch, soziologisch und hat sich angesichts des jüngsten Finanzcrash dra- ökonomisch gefunden werden können. Gefragt matisch erhöht. Unklar aber ist, wer die neuen sind kultur- und religions-historische Forschun- Eliten bilden könnte, nachdem die alten blamiert gen, welche die Tiefendimension der Sicherheits- sind. So kann man auf der einen Seite, bei den und Risikoparadoxien der Moderne erforschen. Globalisierungsgewinnern, eine Zunahme expe- Dies könnte auch ein Beitrag zur Unvermeidlich- rimenteller, ja extremer Risikobereitschaft iden- keit der Kulturwissenschaft sein. tifizieren, während auf der anderen Seite Kon- formismus, larvierte Wut und Depression oder als Amüsement getarnte Langeweile grassieren. 5 Kulturelle Diffusion des Von beiden Seiten ist nichts zu erwarten, zumal Risikokompetenz und Sicherheitsbedürfnis ekla- Religiösen tant asymmetrisch verteilt sind. Sie differenzie- ren sich zu Stilen des Lebens aus – und reißen Die westlichen Demokratien haben darauf ver- die Gesellschaft noch stärker auseinander, nicht zichtet, normative Zentren oder sinnhafte Rah- nur ökonomisch, sondern auch mental, sozio- men auszubilden; sie setzen statt dessen auf kulturell und lebensweltlich. Denn es gibt Ver- formale Verfahren der Konfliktregulierung von lierer und Gewinner des Modernisierungsspiels. Systemebenen und Populationen, die zu verein- Es ist deutlich, dass moderne Gesellschaften heitlichen niemand sich mehr zutraut. Im Gegen- den Risiko-Habitus belohnen – den Börsenmak- teil wäre ein solcher Versuch unvereinbar mit den ler wie den Wissenschaftler in Risikozonen, den säkularen Prinzipien, auf die unsere Gesellschaf- global player wie den Kulturscout –, während es ten verpflichtet sind. Die Folge hiervon ist jedoch für die Ängstlichen und Gehemmten kaum mehr ein krasser Mangel an gesellschaftlicher Synthe- gibt als die illusionäre Teilhabe an Twitter, Face- sis. Dieser Mangel wird ausgependelt durch öko- 16 Zum Standard geworden sind Beck (1987) und Beck 17 Die Typik Apokalyptiker versus Integrierte entnehme (2007). ich: Eco (1985). Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2016 27 nomische Effizienz, politische Hegemonie und Massen zu strukturieren, ihm Sinn zu verleihen notfalls durch militärische Intervention, wie dies und es mit transzendierenden Perspektiven zu an den USA zu beobachten ist. bereichern. Es zeichnet sich zudem ab, dass die Man kann den Religions- und Weltbild-Ver- Fragen der religiösen Differenz nicht länger unter zicht die andere Seite eines wild wuchernden Ori- religiösen, sondern zunehmend unter Gesichts- entierungsbedarfs nennen. Säkularisierung und punkten der Ethnizität, der Multikulturalität, der Wiederverzauberung sind zwei Seiten derselben Migration und der Globalisierung behandelt wer- Medaille. Die widerspruchsvollen Konstellationen, den. Das aber heißt: Religionen werden kulturell die Religion und Moderne dabei eingehen, bil- beurteilt, und nicht umgekehrt Kulturen religiös. den auch den Hintergrund dafür, dass Sport oder Damit allerdings werden sozialer Sinn und Musik zu einer gewaltigen Pop-Industrie gewor- transzendierende Ereignisse kontingent: Je nach den sind: Die ehemals durch die Großreligionen Bedarf werden sinnintensive Gemeinschaftserfah- gebundenen religiösen Energien flottieren durch rungen durch Papstbesuche, Festivals oder Fuß- alle Systemebenen und stopfen die Sinn- und ball-WM inszeniert. Oder sie werden subkulturell Erlebnisleere, die durch Verfahrensrationalität ausdifferenziert, z.B. nach multiethnischen Mino- und formale Demokratie entstanden ist. Gerade ritäten (Karneval der Kulturen in Berlin), sexuel- Kirchen vermögen solche Erlebnisevidenzen nicht ler Orientierung (Christopher Street Parade) oder mehr herzustellen – es sei denn, sie agieren im Altersklassen (Festivals des Deutschen Senioren- Muster moderner Pop-Kultur. Guy Debord (1967) tags oder der katholischen Jugend). sprach schon von der Gesellschaft des Spekta- Der Verlust sozialer Synthesis einerseits sowie kels.18 Dies bestimmt weite Bereiche von Politik die Zunahme an Kontingenz andererseits haben oder der Kunst, des Rechts und sogar der Börse. den paradoxen Effekt, dass das Religiöse die In den spektakulären Performances werden die Form flottierender Energien annimmt, die alles semantischen Ressourcen und der soziale Sinn und jedes mit willkürlicher Wucht und mächtigen einer Kultur erst erzeugt. Dabei werden popkul- Bindungskräften besetzen können. Dies sind reli- turelle Großkunstwerke, wie der Fußball eines ist, giöse Phänomene einer wilden, weil kaum demo- zu einem grandiosen patchwork, das sich aus den kratisch rückgebundenen Energie und einer hei- religiösen Überlieferungen beliebiger Kulturen ßen, weil nicht reflexiv kontrollierten Dynamik, bedient. die es wahrscheinlich machen, dass sich auch Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit aber lenken die westlichen Kulturen in eine Mixtur religiöser auf ein befremdliches Phänomen: Die Moderne ist Energien verwandeln. keineswegs nur funktional differenziert, sondern Vergleichbar geht es in der Welt unserer auf- sie weist ein parasitäres Verhältnis zu überliefer- geklärten Staatsbürger zu: funktionale Effizienz ten Formen der Religiosität auf. Meine These ist: unter der Woche, kollektive Ekstasen auf Kultur- Politik und das Alltagsleben, sogar die Wissen- Events am Wochenende; rationale Zukunftssi- schaften, die Medien, der Sport, die Event-Kultur cherung hier und Suche nach Risiko-Thrill dort; und die Künste zehren von toten und lebenden ökonomischer Kalkül einerseits und andererseits Elementen der Religionen. Ich lasse offen, ob es Übernahmen aus exotischen Kulturen; Teilnahme sich hierbei um Auflösungs- oder Transformati- an demokratischen Prozessen und zugleich qua- onsprozesse des Religiösen handelt. Mein Befund sireligiöses Aufgehen in ‚Gemeinschaftskörpern‘ ist: das Religiöse ist auch in modernen Kultu- des Sports und des Entertainment. Diese wider- ren ubiquitär. Die Moderne indes, so die weitere sprüchlichen Mischungen treten dabei nicht nur These, durchschaut wiederum nicht ihre religiö- als Handlungsmuster von Gruppen auf, sondern sen Anleihen und weist darum eine unbegriffene sie wandern in die Subjekte selbst ein. Der mas- Ambivalenz von Säkularisierung und Verzaube- senmediale Star-Kult zieht ins Parlament, die rung auf. Gnosis ins Internet ein; der Kapitalismus funk- Gewiss haben die Religionen des Westens ihre tioniert nur unter Zuhilfenahme fetischistischer Fähigkeit eingebüßt, das alltägliche Leben großer Formen; der Sport arbeitet in Formen ‚mystischer Partizipation‘; Festivals entleihen ihre Attrakti- 18 Vgl. zum Folgenden auch: Böhme (2002) und Böhme vität der vergangenen Kraft von Mysterien; das (2006). gesellschaftlich Imaginäre wird – in Tausenden 28 10.1515/kwg-2016-0003 | 1. Jahrgang 2016 Heft 1: 17–31 von Filmen – von den Monstrositäten aller Zeiten zessen, die miteinander in vitaler Wechselwirkung bevölkert; ‚Gott ist tot‘ bildet nicht den Übergang und dichter Vernetzung standen. Von der frühen zu einer säkularen Gesellschaft, sondern zum Neuzeit an bildet sich ein neuartiges, europäisch Erwachen von Abertausenden neuer Götter. funktionierendes Netz der Wissenschaften und der Wichtige soziale Integrationen der Moderne Medien aus. Die Entstehung der modernen (Nati- laufen mithin über Mechanismen, welche eben onal-)Staaten ist mit einer binneneuropäischen diese Moderne als nicht zu ihr gehörig, als vormo- politischen Verflechtung und Konkurrenz ebenso dern und irrational abtut. Darin steckt auch eine verbunden wie mit der imperialen Ausweitung Gefahr: Die Moderne ist zu ihrem Erhalt auf ihr europäischer Kulturformen im globalen Maßstab. Gegenteil angewiesen. Die Zivilgesellschaft hat In den Künsten, den Wissenschaften, der Aufklä- das Irrationale, ja Barbarische nicht hinter ihrem rung und den neuen sozialen Bewegungen entste- Rücken, sondern womöglich in sich selbst. Nichts hen, teilweise im Schutz, teilweise in Opposition scheint falscher zu sein als die These von der zur staatlichen Macht, transnationale Geflechte Entzauberung der Welt. Die flottierenden Religi- der Kommunikation und des Austauschs, die von onsformen heute belehren im Gegenteil darüber, europäischen Ideen inspiriert sind. Insbesondere dass die Entzauberung im Namen der Rationalität erweisen sich die Künste und die Techniken als zu einem Schub von Wiederverzauberung geführt Motoren übernationaler, ‚europäischer‘ Praktiken hat. und kultureller Leitbilder. In dieser longue durée ist Kulturwissenschaft zu situieren. Die schneller auf kulturelle und politische Ver- 6 P erspektiven der änderungen reagierenden Humanities in den USA sind bekanntlich stark durch politische Faktoren Kulturwissenschaft bestimmt worden (Bachmann-Medick 2006; vgl. Böhme 2008). Dazu gehörten so verschiedene Im Kontext klassischer Disziplinen fällt die Schwie- Vorgänge wie die im Zuge des Postkolonialis- rigkeit auf, Methoden, Theorien und Gegenstände mus selbstbewusste Visibilisierung unterdrückter der Kulturwissenschaft bestimmen zu können.19 regionaler, ethnischer und religiöser Überliefe- Was ist ihre differentia specifica? Wenn man Kul- rungen und Minoritäten; die neuen Verteilungen turwissenschaft als Fach vertreten will, muss von Populationen, Gütern und Dienstleistungen man Handicaps hinnehmen, was ihre schwache unter Bedingungen polyzentrischer und zugleich Definiertheit angeht; man muss ihre vielen Über- hegemonialer Globalisierung, die ihrerseits neue schneidungen mit anderen Fächern akzeptieren Formen von Regionalisierung, Lokalisierung und – und zugleich muss man verteidigen, dass sie Hybridisierung hervorbringt; die Entortung ganzer kein Fach wie andere ist; man muss demonstrie- Bevölkerungsteile in den weltweiten Migrations- ren können, dass dasjenige, was ihre Schwächen und Flüchtlingsströmen; die Verschiebung, Auslö- ausmacht, zugleich ihre Stärken sind, dass ihr schung und Kreation von Zentren wie Peripherien Risiko zugleich das ist, was ihr interdisziplinäre der Macht; die globale Verbreitung von Popkultur Kompetenz ausmacht. und Warenästhetik bei gleichzeitig wachsenden Eine historische Kulturwissenschaft versteht globalisierungskritischen Widerständen; die Ent- ihre Rolle vor allem darin, die langwellige Entste- stehung transnationaler communities durch neue hung europäischer Kulturen, aber auch ihres Zugs Kommunikationstechnologien. Damit verbunden zur Globalisierung zu untersuchen. Dabei geht sie waren Krisen der westlichen Formen der Reprä- davon aus, dass ‚Europa‘ historisch längst reali- sentation kultureller Werte, Normen und Wissens- siert war. Das sog. lateinische Mittelalter ist eine ordnungen, die in ihren kolonialistischen Gesten Form transregionaler Europäisierung von religi- dekonstruiert wurden. Verbunden damit spielten ösen, politischen, sozialen und kulturellen, aber policies of sex, gender and race eine bedeutende auch wissenschaftlichen und künstlerischen Pro- Rolle und schlugen auf der Ebene universitärer Wissenschaften durch. Solche Prozesse sind es, 19 Zum Folgenden vgl. etwa Conermann (2012); Leggewie/ die zu den Transformationen tradierter Disziplinen Lang/Zifonun (2010); Allerkamp/Raulet (2010); Kusber im Zeichen der cultural turns sowie zu einer Fülle (2010); Csáky/Leitgeb (2009); Wirth (2008). von Neugründungen von Fächern oder studies Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2016 29 geführt haben. In den USA war es nicht anders als risieren zu können. Bei der relativen Neuheit von bei den englischen cultural studies, die ohne den Medienwissenschaft, Gender Studies oder Kul- politischen Hintergrund der proletarischen Kultur turwissenschaft an bundesdeutschen Universi- nicht verständlich wären. täten ist das Offenhalten dieses kognitiven und Gerade bei den cultural turns wird sichtbar, methodologischen Experimentalfeldes genau das dass die wissenschaftliche Ethik, die Verfahren, Richtige. Übrigens gilt Ähnliches für die Wissen- die Kategorien und sogar die Theorien von den schaftsgeschichte, die performance studies, die ‚Gegenständen‘ mitbestimmt bleiben, denen sich Semiotik: Sie sind mal eine ‚Orientierung‘, mal die turns verdanken. Viel mehr als andere wis- ein ‚Fach‘, mal ein ‚Feld‘ und dies jeweils anders in senschaftliche Modelle tragen die cultural turns den USA oder in Deutschland. einen politischen Index, den abzustreifen sie um das bringen würde, was sie erklärter Maßen sein wollen: nicht nur explorierende und explanative, Literaturverzeichnis sondern eingreifende Wissenschaft. So verspricht die kulturwissenschaftliche Wende neben Diffe- Allerkamp, Andrea/Raulet, Gérard (Hgg.) (2010): renzierungszuwächsen vor allem moralische und Kulturwissenschaften in Europa – eine grenzüber- politische Gewinne: eine bessere Praxis in den schreitende Disziplin? Münster: LIT. Feldern des Multikulturalität, der Minoritätenpo- Arendt, Hannah (1998): Vom Leben des Geistes. litik, des Euro- und Logozentrismus, der latent München: Piper. oder offen kolonialistischen Hierarchisierung von Arendt, Hannah (1981): Vita activa oder Vom tätigen Leben [zuerst engl. 1958]. München: Piper. Kulturen usw. Es wäre aber ein Irrtum anzuneh- Assmann, Aleida (2006): Einführung in die Kulturwis- men, dass die Kulturwissenschaft mit den Feldern senschaft: Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. gleichzusetzen wäre, die in den cultural turns ins Berlin: E. Schmidt. Spiel gebracht wurden. Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural turns. Neuori- Lassen Sie mich festhalten: Bezogen auf Fragen entierung in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt der Medien, des Geschlechts, der Kultur sind man- Beard, Georg Miller (1880): A Practical Treatise on che Universitäten den Weg gegangen, diese ‚Fel- Nervous Exhaustion (Neurasthenia), Its Symptoms, der‘ als Querschnittsorientierungen zu emp fehlen, Nature, Sequences, Treatment. New York. während andere Universitäten es bevorzugten, Beard, George Miller (1881): American Nervousness. Its neue Fächer einzurichten: Medienwissenschaft, Causes and Consequences. New York: Putnam. Kulturwissenschaft, Gender Studies. Doch bedeu- Beck, Ulrich (1987): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. tet die Entscheidung für ein ‚Fach‘ nicht dasselbe Beck, Ulrich (2007): Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche wie die für das gleiche Modell: So folgt das Fach nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt a.M.: Kulturwissenschaft in Tübingen anderen Tradi- Suhrkamp. tionen als an der HU Berlin; so kann Kulturwis- Benthien, Claudia/Velten, Hans Rudolf (Hgg.) (2002): senschaft einmal mehr Europäische Ethnologie, Germanistik als Kulturwissenschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. einmal mehr Kulturgeschichte sein; oder sie ist Bernstein, Peter L. (1997): Wider die Götter. Die ein Programmstudium verschiedener Disziplinen Geschichte von Risiko und Riskmanagement von der wie in Frankfurt/Oder. Ferner kann es auch sein, Antike bis heute. München: Gerling. dass an derselben Universität Gender, Medien Böhme, Hartmut (2002): Religion und Moderne. In: Gräb, oder Kulturwissenschaft sowohl als Orientierun- Wilhelm/Weyel, Birgit (Hgg.): Praktische Theologie gen bestehender Fächer wie auch als Einzelfächer und protestantische Kultur. Gütersloh: Kaiser, Gütersloher Verlagshaus, S. 17-35. eingerichtet werden. Kulturwissenschaft(en) und Böhme, Hartmut (2006): Religion und Kulturtheorie. cultural studies weisen unterdessen derart ausdif- In: Gräb, Wilhelm/Weyel, Birgit (Hg.): Religion in ferenzierte Theorien, Modelle und (!) Gegenstand- der modernen Lebenswelt. Erscheinungsformen felder auf, dass verschiedene disziplinäre oder und Reflexionsperspektiven. Gütersloh: Kaiser, nicht-disziplinäre, also konkurrierende Lösungen Gütersloher Verlagshaus, S. 208-230. Böhme, Hartmut (2008): Vom „turn“ zum „vertigo“. Wohin das Beste sind. Dies stellt die offene experimen- drehen sich die Kulturwissenschaften? Rezension zu: telle Situation her, die man wollen muss, um auf Doris Bachmann-Medick: „Cultural Turns. Neuorien- Dauer, durch vergleichende Evaluation, aus dem tierung in den Kulturwissenschaften“. In: JLT online Set der Optionen ein oder mehrere Modelle favo- (19.05.2008) = Journal of Literary Theory (JLT) 2. 30 10.1515/kwg-2016-0003 | 1. Jahrgang 2016 Heft 1: 17–31 Böhme, Hartmut/Matussek, Peter/Müller, Lothar (2007): Han, Byung-Chul (2010): Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was Matthes & Seitz. sie will. 3. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Handke, Peter (1989): Versuch über die Müdigkeit. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Heidegger, Martin: Gelassenheit. In: Gesamtausgabe Bd. Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen: 16. Frankfurt a.M.: Klostermann 1994, S. 517-529. Schwartz 1983, S. 183–198 [= Soziale Welt, Hobuß, Steffi/Tams, Nicola (Hgg.): Lassen und Tun. Kultur- Sonderband 2]. philosophische Debatten zum Verhältnis von Gabe und Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik kulturellen Praktiken. Bielefeld: transcript 2014. der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Hofmannsthal, Hugo von (1979): Manche freilich. 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