MEDIENwissenschaft Rezensionen | Reviews herausgegeben von Angela Krewani · Karl Riha Jens Ruchatz · Yvonne Zimmermann in Verbindung mit Andreas Dörner · Thomas Elsaesser† · Jürgen Felix Andrzej Gwóźdź · Knut Hickethier Jan-Christopher Horak · Anton Kaes · Friedrich Knilli† Gertrud Koch · Hans-Dieter Kübler Helmut Schanze · Gottfried Schlemmer · Matthias Steinle Margrit Tröhler · William Uricchio Hans J. Wulff · Siegfried Zielinski MEDIENwissenschaft Rezensionen | Reviews Begründet von Thomas Koebner und Karl Riha Herausgeber_innen: Angela Krewani (Marburg), Karl Riha (Siegen), Jens Ruchatz (Marburg), Yvonne Zimmermann (Marburg) Redaktion: Vera Cuntz-Leng (verantwortlich) Mitarbeit: Jonathan Knecht Beirat: Andreas Dörner (Marburg), Jürgen Felix (Blieskastel), Andrzej Gwóźdź (Katowice), Knut Hickethier (Hamburg), Jan-Christopher Horak (Pasadena), Anton Kaes (Berkeley), Gertrud Koch (Berlin), Hans-Dieter Kübler (Werther), Helmut Schanze (Siegen), Gottfried Schlemmer (Wien), Matthias Steinle (Paris), Margrit Tröhler (Zürich), William Uricchio (Cambridge, Mass.), Hans J. Wulff (Westerkappeln), Siegfried Zielinski (Berlin) Kontakt: Redaktion MEDIENwissenschaft Philipps-Universität Marburg Wilhelm-Röpke-Straße 6A 35039 Marburg Telefon: (0 64 21) 282 5587 Telefax: (0 64 21) 282 6993 E-Mail: medrez@staff.uni-marburg.de Website: https://mediarep.org/handle/doc/4958 Eine Veröffentlichung der Philipps-Universität Marburg. MEDIENwissenschaft erscheint vierteljährlich im Schüren Verlag GmbH, Universitätsstr. 55, 35037 Marburg, Telefon (0 64 21) 6 30 84, Telefax (0 64 21) 68 11 90. WWW: http://www.schueren-verlag.de, E-Mail: info@schueren-verlag.de Einzelheft: EUR 18,-, Jahresabonnement: EUR 60,- Anzeigenverwaltung: Katrin Ahnemann ISSN 1431-5262 © Schüren Verlag GmbH, Marburg 2024 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer- halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen. Gemäß § 10 des hessischen Pressegesetzes sind wir zum Abdruck von Gegendarstellungen – unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt – verpflichtet. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Printed in Germany. Editorial Liebe Leser:innen, in der dritten Ausgabe unseres Jubiläumsjahrgangs möchten wir erneut mit einem neuen Format experimentieren. In diesem Heft bringen wir zwei Zeit- schriften-Reviews zu Gastherausgeberschaften etablierter Zeitschriften: Yvonne Zimmermanns Sonderausgabe der Early Popular Visual Culture zum Thema „Asta Nielsen, the Film Star System and the Introduction of the Long Feature Film“, rezensiert von Chris Horak, sowie zu Eva Kuhns Frauen und Film-Heft „Femi- nistische Ökonomien und Zeitlichkeit“, besprochen von Hanna Prenzel. Wir möchten hiermit der kontinuierlichen Entwicklung im Fach Rechnung tragen, dass sich Sondernummern von Zeitschriften durch ihr rascheres Erscheinen, die niedrigeren Publikationskosten und höhere Sichtbarkeit als eine Alternative zu Sammelbänden etabliert haben. Unterbreiten Sie uns gerne zukünftig weitere Vorschläge für aktuelle Themenhefte medienwissenschaftlicher Journals, sollten Sie diese für die MEDIENwissenschaft rezensieren wollen. Im Zentrum des Perspektiven-Aufsatzes von Jennifer Eickelmann und Alisa Kronberger stehen dieses Mal medientheoretische Überlegungen zu den durch Karen Barad geprägten Konzepten der ‚Diffraktion‘ und des ‚agentiellen Realis- mus‘ sowie die Frage nach deren Einsatz, Gebrauchswert und Anschlussfähigkeit für die Medienwissenschaft. Viel Vergüngen bei der Lektüre & kollegiale Grüße Ihre Herausgeber:innen Besuchen Sie uns auf Facebook: https://www.facebook.com/medrez84 358 MEDIENwissenschaft 03/2024 Inhalt Perspektiven Potenziale diffraktiver Denktechnologien: Eine kritische Kartierung von Interferenzen und Differenzen Jennifer Eickelmann & Alisa Kronberger .............................................................364 Neuerscheinungen: Besprechungen und Hinweise Im Blickpunkt Felix Schackert: Energetik der Film-Rezeption: Mit Bergson und Deleuze Oliver Fahle ...................................................................................................383 Medien / Kultur Patricia A. Gwozdz: Virale Wissenschaft: Über die Grenzen verständlicher Forschung Birte Kuhle ....................................................................................................387 Carsten Gansel, José Fernández Pérez (Hg.): Störfall Pandemie und seine grenzüberschreitenden Wirkungen: Literatur- und kulturwissenschaftliche Aspekte Angela Krewani ..............................................................................................389 Hans Martin Esser: Polemik Jürgen Riethmüller ......................................................................................... 392 Sebastian Schädler: BilderBildung. Medien und Politik: 5 Einführungen | 5 Ausführungen Thomas Wilke ................................................................................................. 394 Mark Terry: Speaking Youth to Power: Influencing Climate Policy at the United Nations Eric Karstens .................................................................................................. 396 Vera Bachmann, Michael Fleig, Christiane Heibach, Solveig Ottmann, Silke Roesler-Keilholz (Hg.): Staunen – Rechnen – Rätseln: Explorationen des Medialen Sven Stollfuß .................................................................................................. 398 Lars Christian Grabbe, Christiane Wagner, Tobias Held (Hg.): Kunst, Design und die „Technisierte Ästhetik“ Alina Valjent ..................................................................................................400 Inhaltsverzeichnis 359 Anna Puzio: Über-Menschen: Philosophische Auseinandersetzung mit der Anthropologie des Transhumanismus Martin Janda .................................................................................................402 Iris Schäfer (Hg.): Traum und Träumen in Kinder- und Jugendmedien: Intermediale und transdisziplinäre Analysen Timo Güdemann ............................................................................................404 Ute Planert (Hg.): Todesarten: Sterben in Kultur und Geschichte Sebastian R. Richter .......................................................................................406 Sammelrezension: Religion & Popkultur Joachim Valentin, Viera Pirker (Hg.): Kirche, Kult und Krise: Christentum im neueren Film Lars de Wildt: The Pop Theology of Videogames: Producing and Playing with Religion Lena Liebau ...................................................................................................408 Buch, Presse, Druckmedien Christine Haug, Fotis Jannidis (Hg.): Der deutschsprachige Heftroman Rafael Bienia ................................................................................................. 412 Sandra Beck, Johannes Franzen (Hg.): Kriminalerzählungen der Gegenwart: Zur Ästhetik und Ethik einer Leitgattung Jochen Vogt ..................................................................................................... 414 Shiloh Carroll: The Medieval Worlds of Neil Gaiman: From Beowulf to Sleeping Beauty Vera Cuntz-Leng ............................................................................................ 416 Bettina Korintenberg: Handlungsraum Museum: Literarische Transformationen aus dem lateinamerikanischen Raum Gianna Schmitter ........................................................................................... 418 Ulrich Pätzold: Frei zu denken und zu schreiben: Journalistik und Journalismus in 50 Jahren Leben Irmela Schneider .............................................................................................422 Hermann von Engelbrechten-Ilow: Was läuft da schief im Journalismus? Warum es mit den Medien bergab geht und wie man ihnen aufhelfen kann Heinz Bonfadelli ............................................................................................425 360 MEDIENwissenschaft 03/2024 Felix Koltermann: Fotografie im Journalismus: Bildredaktionelle Praktiken in Print- und Online-Medien Hans-Dieter Kübler ........................................................................................427 Michael Schilling: Öffentlichkeit, Markt und Medien: Neue Studien zur Bildpublizistik in der Frühen Neuzeit Hans-Dieter Kübler ........................................................................................429 Sammelrezension: Kindheit & Comic Barbara Margarethe Eggert, Kalina Kupczynska, Véronique Sina (Hg.): Familie und Comic: Kritische Perspektiven auf soziale Mikrostrukturen in grafischen Narrationen Alison Halsall: Growing Up Graphic: The Comics of Children in Crisis Mario Faust-Scalisi ........................................................................................ 432 Fotografie und Film Vinzenz Hediger, Florian Hoof, Yvonne Zimmermann (Hg.): Films that Work Harder: The Circulation of Industrial Film Jan-Christopher Horak ................................................................................... 437 Joseph B. Entin: Living Labor: Fiction, Film, and Precarious Work Guido Kirsten ................................................................................................. 439 Fabienne Liptay (Hg.): PostProduktion: Bildpraktiken zwischen Film und Fotografie Martin Jehle ...................................................................................................442 Dan Golding: Star Wars after Lucas: A Critical Guide to the Future of the Galaxy Tobias Haupts ................................................................................................445 Rainer Landvogt: Die Filme von Mikio Naruse oder Spaziergänge am Fluss des Lebens Michael Wedel ................................................................................................447 Ivo Blom: Quo vadis?, Cabiria, and the Archaeologists: Early Italian Cinema’s Appropiation of Art and Archaeology Martin Loiperdinger .......................................................................................449 Yvonne Zimmermann (Hg.): Asta Nielsen, the Film Star System and the Introduction of the Long Feature Film Jan-Christopher Horak ................................................................................... 451 Inhaltsverzeichnis 361 Eva Kuhn (Hg.): Feministische Ökonomien und Zeitlichkeit Hanna Prenzel ............................................................................................... 453 Bereichsrezension: Walter Hill Brian R. Brems: The Films of Walter Hill: Another Time, Another Place Wayne Byrne: Walter Hill: The Cinema of a Hollywood Maverick Walter Chaw: A Walter Hill Film: Tragedy and Masculinity in the Films of Walter Hill Ivo Ritzer ...................................................................................................... 455 Hörfunk und Fernsehen Anne-Katrin Weber: Television before TV: New Media and Exhibition Culture in Europe and the USA, 1928-1939 Judith Keilbach ............................................................................................... 458 Ronda Racha Penrice (Hg.): Cracking The Wire during Black Lives Matter Elisabeth K. Paefgen .......................................................................................460 Maximilian Hetzelein: Alterität in Serie: „Game of Thrones“ in der Retrospektive Rolf Löchel .....................................................................................................462 Wilfried Köpke, Ulrike Brenning (Hg.): Und täglich grüßt die Tagesschau: Vom linearen zum digitalen Nachrichtenformat Sebastian Stoppe .............................................................................................465 Digitale Medien Christopher Carton: The History of the Adventure Video Game Kevin Pauliks ................................................................................................. 467 Rune Klevjer: What is the Avatar? Fiction and Embodiment in Avatar- based Singleplayer Computer Games. Revised and Commented Edition Markus Spöhrer ..............................................................................................469 Gabriele Gramelsberger: Philosophie des Digitalen zur Einführung David M. Jagella ............................................................................................ 473 Patrick Nehls, Caja Thimm (Hg.): Digitale Kulturen, Digitale Praktiken: Empirische Zugänge zur tiefgreifenden Mediatisierung Hans-Dieter Kübler ........................................................................................ 475 362 MEDIENwissenschaft 03/2024 Thomas A. Herrig: Was uns die Daten verraten: Politische Werbung bei Facebook/Meta im Bundestagswahlkampf 2021 Martin Janda ................................................................................................. 477 Miriam Meckel, Léa Steinacker: Alles überall auf einmal: Wie künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können Hans-Dieter Kübler ........................................................................................ 479 Reihenrezension: KI-Kritik Michael Klipphahn, Ann-Kathrin Koster, Sara Morais dos Santos Bruss (Hg.): Queere KI: Zum Coming-out smarter Maschinen Peter Klimczak, Christian Petersen (Hg.): AI: Limits and Prospects of Artificial Intelligence Anna Tuschling, Andreas Sudmann, Bernhard J. Dotzler (Hg.): ChatGPT und andere „Quatschmaschinen“: Gespräche mit Künstlicher Intelligenz Rafael Bienia .................................................................................................485 Sammelrezension: Museen digital Sonja Gasser: Digitale Sammlungen: Anforderungen an das digitalisierte Kulturerbe Sonja Thiel, Johannes C. Bernhardt (Hg.): AI in Museums: Reflections, Perspectives and Applications Sigrun Lehnert ...............................................................................................489 Sammelrezension: Hass online Luke Munn: Red Pilled: The Allure of Digital Hate Elisa Hoven (Hg.): Das Phänomen „Digitaler Hass“: Ein interdisziplinärer Blick auf Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen Viola Melzner ................................................................................................ 494 Medien und Bildung Lars C. Grabbe, Andrew McLuhan, Tobias Held (Hg.): Beyond Media Literacy Kai Matuszkiewicz ........................................................................................499 Inhaltsverzeichnis 363 Mediengeschichten Panorama Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden/Björn Egging (Hg.): Postkartenkilometer: Künstlerkarten in Europa von 1960 bis heute: Sammlung Jeremy Cooper Barbara Margarethe Eggert ............................................................................502 Horst Peter Koll: Drachen reiten, Freunde finden, älter werden: Entdeckungen für junge Filmfans Claudia Cabezón Doty ...................................................................................504 Thomas Koebner: Die Erfindung des Abenteuers: Notizen zu Romanen und Filmen Tina Kaiser ....................................................................................................506 Persönlichkeiten Josef Schnelle: Der unsichtbare Dritte: Hitchcock und der deutsche Film Anika Roduchnig ............................................................................................509 Manfred Krug: „Mir fällt gerade ein …“ Ein Sammelsurium Dennis Basaldella ........................................................................................... 511 Wiedergelesen Pierre Bourdieu: Konversion des Blicks: Die Kamera im Dienst soziologischer Erkenntnis Norbert M. Schmitz ........................................................................................ 513 Katja Rothe: Katastrophen hören: Experimente im frühen europäischen Radio Ole Frahm ...................................................................................................... 516 Autorinnen und Autoren .............................................................................518 364 MEDIENwissenschaft 03/2024 Perspektiven Jennifer Eickelmann & Alisa Kronberger Potenziale diffraktiver Denktechnologien: Eine kritische Kartierung von Interferenzen und Differenzen Begriffe lassen sich nicht abschlie- ßend festschreiben, sondern es kommt darauf an, wie sie ins Spiel gebracht werden. In ebendiesem Sinne widmet sich der vorliegende Beitrag dem Begriff der ‚Diffraktion‘, der hier als eine spezifische Denktechnologie verstanden und diskutiert wird. Im Zuge einer kritischen Debatte von begriffsgeschichtlichen Kontexten, kontrovers diskutierten Fragen des Politischen sowie konkreten methodi- schen Umsetzungen wirft der Beitrag die Frage nach Interferenzen und Dif- ferenzen unterschiedlicher Zugänge auf, die als kritische Kartierung der Potenziale diffraktiver Denktechnolo- gien für insbesondere die medienwis- senschaftliche Forschung produktiv gemacht werden (können). Diffraktion als Denkfigur, Metapher und Phänomen Donna Haraway entwirft zu Beginn der 1990er Jahre eine Denktechnolo- gie der auf Transformation setzenden Begegnung, die heute in unterschied- lichen (inter- und trans-)disziplinären Auseinandersetzungen hohe interfe- rierende Wellen schlägt: die Diffrak- tion. Eingebettet in das Konzept des ‚situierten Wissens‘ und damit nicht zuletzt in die feministische Wissen- schaftsforschung (vgl. Haraway 1996) geht es, buchstäblich dem Anschein nach, um die Entwicklung anderer Perspektiven: Anders meint über- schreitend, Brüche erzeugend, stets zweifelhaft (vgl. Haraway 2017). Als optisches Phänomen beschreibt Dif- fraktion in der Physik die Beugung beziehungsweise Ablenkung von Wellen an einem Hindernis. Dabei entsteht ein Beugungs- beziehungs- weise Interferenzmuster, aus dem ersichtlich wird, dass vermeintliche Eindeutigkeiten Effekte des Inter- ferierens unterschiedlicher Wellen- längen darstellen. Als Denkfigur beziehungsweise Metapher führte Haraway den Begriff in Anlehnung an Trinh Minh-has feministisch-postkoloniales Konzept der „inappropriate/d others“ (1992, S.299) als anti-essentialistische Alter- native zum Begriff der ‚Reflexion‘ ein. Während Reflektieren nichts anderes bedeutet als die Wiederholung des immer Gleichen, das heißt ein selbst- bezügliches Zurückwerfen von Licht Perspektiven 365 in ewiger Repetition (Einfallswinkel = Ausfallswinkel), so geht es bei der Dif- fraktion um einen anderen Einsatz: Differenz statt Wiederholung, partiale Verbindungen und Überlagerungen statt Reproduktion des Identischen. Bei der gleichzeitigen Betonung von Differenz und Verbindung beziehungs- weise Überlagerung handelt es sich, diffraktiv betrachtet, eben nicht um einen Widerspruch. Es ist vielmehr so, dass Differenzen gerade innerhalb von Verbindungen und Überlagerun- gen entstehen: „,difference‘ as a ,critical difference within,‘ and not as special taxonomic marks grounding diffe- rence as apartheid“ (ebd.). Mit gewiss unterschiedlichen Herangehensweisen und Ausdeutungen ist Diffraktion als Denkfigur und Methodologie wie auch physikalisches Phänomen längst zu einer zentralen begrifflichen Referenz innerhalb neo-materialistischer Theo- rien avanciert. So dürfen insbesondere die Arbeiten von Karen Barad im Feld des Neuen Materialismus als einige der am meisten rezipierten Weiterent- wicklungen und Rejustierungen des Haraway‘schen Denkwerkzeugs im interdisziplinären Spannungsfeld zwi- schen Medienwissenschaft, Gender/ Queer Studies, (Feminist) Science & Technology Studies, Kunstwis- senschaft, Bildungswissenschaft und Soziologie gelten. Nicht zuletzt vor dem Hinter- grund gemeinsamer Schnittpunkte im Bereich der feministischen Wissen- schaftsforschung stellt sich die Frage nach der Erfahrung und Produktion von Differenz inmitten multipler Ver- schränkungen sowohl bei Haraway als auch bei Barad als ein zugleich ethi- sches wie politisches Problem dar. So betrachtet ist dem Begriff der ‚Diffrak- tion‘ eine ethisch-politische Dimen- sion inhärent, denn es geht hier nicht um ‚unschuldige‘ Unterschiede oder Unterscheidungen. Stattdessen geht es darum, unter welchen hegemonialen, machtvollen, geschlechtlichen wie (neo)kolonialen Bedingungen welche Differenzen wie, wo und für wen einen Unterschied machen (können) (vgl. Trinkaus/Völker 2022, S.3): „Some differences are playful“, schreibt Hara- way in ihrem „A Cyborg Manifes to“ (1991), „some are poles of world historical systems of domination. ,Epistemology‘ is about knowing the difference“ (S.161). Liest man Haraway und Barad (diffraktiv) ‚durch-einander-hindurch‘, so lassen sich folglich auf Grundlage multipler Interferenzen auch Diffe- renzeffekte generieren. Diese ermög- lichen wiederum eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem breiten Spektrum der Befragungen und Aus- lotungen des Konzepts der ‚Diffrak- tion‘. Um uns diesen Differenzeffekten nähern zu können, scheint ein erneuter Blick auf die Metapher beziehungs- weise das Phänomen der ‚Diffraktion‘ im Spannungsfeld von physikalischer Optik einerseits und Quantenmecha- nik andererseits produktiv: Haraway setzt Diffraktion als eine materiell- semiotische Metapher ein, als eine der ‚Optik‘ entlehnte Denkfigur, der es 366 MEDIENwissenschaft 03/2024 um die Frage der ‚Vision‘ geht. Dabei wirft die Optik für Haraway stets eine Frage der verkörperten „Poli- tik der Positionierung“ (1996, S.231) auf, denn: Wenn Sehen Instrumente des Sehens erfordert, wie kann dann eine differenzierte Betrachtung und ein differenziertes Verständnis der (optischen) Apparate die kritische Betrachter:innenposition anders infor- mieren und hervorbringen? Wenn ver- meintlich eindeutig weißes Licht auf ein Beugungsgitter trifft, dann wird ebendieses als ein Interferenzmuster unterschiedlicher Lichtwellenlängen sichtbar. So betrachtet handelt es sich hierbei um eine Perspektivverschie- bung im buchstäblichen Sinn, denn es „kommt in Donna Haraways Prakti- ken der Illusion auf die Sichtweise an“ (Deuber-Mankowsky 2011, S.83). Was aber, wenn Licht nicht ein- deutig aus Wellen, sondern – je nach apparativer Bedingung – aus Teilchen bestünde, so wie es Barads Arbeiten auf Grundlage der Quantenphysik betonen (vgl. Trinkaus/Völker 2022, S.3f.)? Die Antwort ergibt sich aus einer nicht unerheblichen Verschie- bung des Begriffs der ‚Diffraktion‘ – und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens in Bezug auf die Verunklarung des Unterschieds zwischen Diffrak- tion und Interferenz: Während Dif- fraktion das Treffen von Wellen auf ein Hindernis (Beugung) bezeichnet, beschreibt der Begriff der Interferenz das Aufeinandertreffen von mindes- tens zwei Wellen und den hieraus entstehenden Überlagerungszustand; wenn aber die Differenz von Wellen und Teilchen zugunsten eines Wel- len-Teilchen-Dualismus nicht mehr uneingeschränkt gilt, dann hätten wir nun – metaphorisch gesprochen – Hindernisse zugunsten umgreifender Interferenzen aus dem Weg geräumt, das heißt Diffraktion und Interferenz fielen unter bestimmten Umständen in eins (vgl. Bath/Meißner/Trinkaus/ Völker 2013, S.21, FN 4). Daraus folgt zweitens, dass es Barad weniger um optische Täuschungen und Sichtwei- sen, sondern vielmehr um Diffraktion beziehungsweise Interferenzmuster als elementare Bestandteile einer prozess- haft gedachten Weltwerdung geht (vgl. Deuber-Mankowsky 2011). Anders als Barad bezieht sich Hara- way zwar auch auf den konkreten Sinn von Diffraktion als physikali- sches Phänomen, jedoch nicht zuvor- derst, um daraus eine neue, relationale Ontologie zu entwickeln. Haraway geht es vielmehr um ein Wechsel- spiel zwischen literaler und figuraler Bedeutung für die Imagination und Konstruktion neuer Modelle für das Denken und das Leben beziehungs- weise die Überlebensfähigkeit (vgl. ebd.; Haraway 2016). Daraus ergibt sich das Potenzial, so Haraway, auf neue Weise neue (Lebens)Geschich- ten zu entwickeln, die einen Unter- schied machen. Barad geht über den Haraway‘schen Entwurf einer „ande- ren Geometrie und Optik“ (Haraway 2017, S.52) von Differenz hinaus und argumentiert auf Grundlage femi- nistischer Wissenschaftskritik sowie Perspektiven 367 aus einer quantenphysikalischen Per- spektive für eine radikale Verschrän- kung von Ethik, Epistemologie und Ontologie (vgl. Barad 2007). Barad fasst diese Verschränkung unter dem Theorieentwurf eines ‚Agentiellen Realismus‘ (vgl. 2012a), der Materie als ‚agentiell‘ betrachtet, das heißt als im Prozess des Werdens von Welt. Im Kern rekurriert der ‚Agentielle Realis- mus‘ darauf, dass die Welt erst in und durch Beziehungen, also in medialen Prozessen, entsteht und der Mate- rialität in ihrer Wirkmächtigkeit und Unverfügbarkeit Rechnung getragen werden muss. Damit ist Materie stets als Un/Bestimmtheit und abhängig von Apparaten/diffraktiven Anord- nungen zu fassen. Als ökologischer Begriff erlaubt es die Diffraktion, Differenzen nicht als vorgängige Grenze oder Unterschied zwischen einem ‚substanziell‘ Anderen zu denken, sondern Differenzen als ‚Effekt‘ eines relationalen Gefüges zu begreifen. Anders ausgedrückt ermög- licht ein diffraktives Denken – durch- aus in Gesellschaft mit relationalen Theorien wie die von Jean-Luc Nancy, Emmanuel Levinas oder Judith Butler – eine spezifische Form der Fokussie- rung auf konstitutive Relationen, die Relata erst hervorbringen und nicht umgekehrt. Barad bleibt jedoch nicht bei einer schlichten Registrierung von Diffraktionseffekten und prozesshaf- ten (Re)Konfigurationen von Relata stehen, sondern es geht ihr um die verschränkte ‚Natur‘ von Differenzen, die einen Unterschied machen: „Dif- fraction is not about any difference but about which differences matter“ (Barad 2007, S.378), schreibt Barad in ihrem einschlägigen Buch Meeting the Universe Halfway. Ob es sich bei Diffraktion also um eine körperliche beziehungsweise ver- körperte Denkfigur und -metaphorik und damit eben auch um eine appa- rative Einstellung der Sichtweise han- delt oder aber um ein physikalisches Phänomen, das sich Geltung (Rele- vanz) inmitten apparativer Einstellun- gen materiell-diskursiver Gefüge der Weltwerdung verschafft, muss aller- dings notwendigerweise offenbleiben: Es kommt darauf an, wie der Begriff ins Spiel gebracht wird. Bei der vor- genommenen Differenzierung han- delt es sich jedenfalls keineswegs um eine Gegenüberstellung, sondern um eine (wissenschafts)kritische Ausein- andersetzung, die inmitten multipler Verschränkungen von Bedeutung und Materialität Differenzeffekte zu kar- tieren sucht. Diffraktion als Figuration der Kritik, die nicht kritiklos bleiben kann Kathrin Thiele (2020) spricht sich – im Kontext westlich-moderner Gesell- schaften – für Diffraktion als ‚neue‘ Figuration der Kritik aus (vgl. S.49). Sie setzt dabei bei Haraways Einfüh- rung des Diffraktionsbegriffs an, die mit der Frage einhergeht, was Kritik ist oder sein könnte. Denn Haraway gehe es mit dem Begriff der ‚Diffraktion‘ 368 MEDIENwissenschaft 03/2024 auch darum, „another kind of critical consciousness at the end of a rather painful Christian millennium“ (Hara- way 1997, S.273) zu denken – ein kri- tisches Bewusstsein zu entwerfen, das einen Unterschied macht beziehungs- weise machen soll. Doch die Behaup- tung, eine diffraktive Perspektive sei eine kritische Figuration, erfordert wei- tere Differenzierungen. Dies lässt sich nicht zuletzt damit begründen, dass der Begriff der ‚Kritik‘ historisch betrach- tet eine Distanznahme zu einem zu kritisierenden Objekt voraussetzt und damit westlich-moderne Dualismen wiederholt. Wie also kann eine diffrak- tive Perspektive – die gerade auf eine konstitutive Relationalität materiell- diskursiver Gefüge besteht und damit auf die Untrennbarkeit entsprechen- der Relata verweist – als eine kriti- sche Perspektive verstanden werden? Der jüngst erschienene Sammelband Szenen kritischer Relationalität (2024a) ist mit Blick auf eben diese Frage als besonders produktiv hervorzuheben, da die Autor:innen genau an diesem Problem ansetzen, nämlich: „Wie lässt sich der Kritikbegriff im Kontext eines relationalen Denkens, das den Tren- nungsgestus der Moderne überwin- den will, neu perspektivieren?“ (2024b, S.8). Mit dem Begriff der ‚Diffraktion‘ kann hierauf geantwortet werden (vgl. auch Thiele 2020, S.49). Zunächst ist festzuhalten, dass das „Vermögen des Differenzierens“ (Deuber-Mankowsky 2024, S.23) grundlegend mit dem Begriff der ‚Kritik‘ verbunden ist. Aus einer diffraktiven Perspektive handelt es sich bei eben jenen Praktiken und Prozessen der Differenzproduktion, das heißt beim Kritisieren, jedoch keines- wegs um das Gegenteil von Relationie- rungen, sondern es verhält sich genau umgekehrt: Differenz und damit auch Kritik ist ein Effekt von Prozessen des In-Beziehung-Setzens und damit eine hochgradig relationale wie relationie- rende Angelegenheit: ein „thinking- with“ (Haraway 2016, S.39; vgl. auch Schade 2024). In diesem Sinne han- delt Diffraktion ebenso von Alterität, Transformation und Entfaltung wie von Untrennbarkeit. Diffraktionsef- fekte seien „effects of connection, of embodiment, and of responsibility for an imagined elsewhere that we may yet learn to see and build here“ (Haraway 1991, S.295). Differenzen, die einem diffraktiven Denken immanent sind, werden dabei zur Möglichkeitsbedin- gung, Brücken zu bauen und multiple Allianzen zu schließen. Kritik meint also nicht Trennung, sondern Enga- gement – nicht nur Verbindungen kappen, sondern neue, solidarische Verbindungen stiften. Kritik und Rela- tionalität sind nun – und das verkör- pert die Figur der Diffraktion – keine Entitäten im ‚absoluten Widerstreit‘, sondern differente und differenzierende Komplizinnen (vgl. Thiele 2020, S.50). Wenn demnach Relationalität nicht das Andere der Kritik ist, wie ließe sich – dekonstruktivistisch oder eben kritisch formuliert – weiter differenzie- ren? Astrid Deuber-Mankowsky hat in diesem Zusammenhang und in Anleh- nung an Gilles Deleuze betont, dass es Perspektiven 369 nicht die Kritik sei, „die mit der westli- chen Denktradition in unheiliger Alli- anz verbunden ist, sondern das Gericht“ (2024, S.23). Dies sei deswegen der Fall, da es dem Gericht um das Urteil gehen müsse, was wiederum bedeu- tet, Möglichkeitsräume und Zukünfte einzuschränken. Auf Grundlage dieses Arguments tritt hervor, dass es weniger die (vermeintliche) Differenz zwischen Relationalität und Kritik ist, die von (politischer) Bedeutung ist, sondern der Unterschied zwischen der ‚Kritik als unabschließbare Praxis des Differen- zierens‘ einerseits und dem ‚Urteil als abschließender Akt des Richtens‘ ande- rerseits. Es geht also nicht um Recht haben (vgl. Thiele 2020, S.49), sondern um eine Ethik unerwarteter Verbin- dungen und Ausdehnungen, so wie sie ein diffraktives Denken als Grundlage für die Kritik voraussetzt – stets riskant und so betrachtet nicht-moralisch. Eine derartige Ethik unter diffraktiven Vor- zeichen fußt grundlegend auf der Figur der Nicht-Unschuldigkeit, die mit der Frage des Politischen einhergeht, auf die wir im folgenden Abschnitt noch weiter eingehen werden. Im Sinne Haraways geht es dabei um das kon- sequente Herausstellen der Situiertheit und Partialität der Wissensproduktion. Kathrin Thiele (2020) macht deut- lich, auf welche Weise nun Haraway die Diffraktion in die feministische Diskussion einbringt, um dem, was üblicherweise als die Bedeutung von Kritik und einer Praxis der Kritik ver- standen wird – zu widersprechen, es auseinanderzunehmen, zu demontie- ren –, neu zu justieren. Die Frage der Kritik erfährt damit eine spezifische Wendung, im Einklang mit Haraways übergreifendem feministischen Projekt, das auf Fortdauern und Weiterbeste- hen sowie deren Bedingungen besteht, statt auf Brüche und Beendigung von Geschichten zu setzen (vgl. Thiele 2020, S.46). In direkter Bezugnahme auf Haraway schlägt auch Barad vor dem Hintergrund der Frage nach der Kritik explizit die Metapher der Diffraktion als kreative, visionäre und dekonstruk- tive Praxis vor (vgl. Dolphijn/van der Tuin 2012, S.49f.). Im Interview mit Rick Dolphijn und Iris van der Tuin konstatiert Barad: „Critique is all too often not a deconstructive practice, that is, a practice of reading for the constitu- tive exclusions of those ideas we can not do without, but a destructive practice meant to dismiss, to turn aside, to put someone or something down“ (ebd., S.49). Statt eine Praxis der Negativität und einer damit einhergehenden Sub- traktion und Distanzierung geht es bei einer diffraktiven Modalität von Kritik um die performative Herstellung bezie- hungsweise Rekonfiguration von Dif- ferenzmustern, die einen Unterschied machen; nicht um ein ‚Von-Außen- auf-die-Welt-Blicken‘ und kritisch ‚über‘ sie ‚reflektieren‘, sondern um eine spezifische „Art des Verstehens von Welt von innen heraus und als Teil von ihr“ (Barad 2013, S.55). Ebenso drehen sich Barads Begriffe der ‚Rekonfigu- ration‘ und ‚agency‘ um ein Denken dynamischer Möglichkeitsräume als „a matter of possibilities for reconfiguring 370 MEDIENwissenschaft 03/2024 entanglements“ (Dolphijn/van der Tuin 2012, S.54). Ausgehend von Intraak- tionen unterschiedlicher Relata wird agency bei Barad nicht im Sinne huma- nistischer Konzeptionen von Wider- stand oder Kritik gedacht, sondern als eine Möglichkeit, die spezifischen Konfigurationen von Intraaktionen in Bewegung zu halten: „Agency is about possibilities for worldly re-con- figurings“ (ebd., S.55). Mit Blick auf Prozesse und Praktiken des Re-Kon- figurierens beziehungsweise Transfor- mierens und deren Bedingungen stellt sich ein weiterer Begriff als bedeutsam heraus: der ‚Apparat‘. Barad übernimmt den ‚Apparatus‘-Begriff von Haraway. Diese hatte den „apparatus of literary production“ (King 1991, S.92) bei der feministischen Literaturwissenschaftle- rin Katie King entlehnt und angesichts der Bedeutungsschwere von Körper- lichkeit zu einem „Apparat der kör- perlichen Produktion“ (Haraway 1996, S.236) rekonfiguriert, der sich insofern als eine visionäre Technologie darstellt, als er etwas unter spezifischen media- len wie körperlichen Bedingungen ‚in Erscheinung‘ bringt (vgl. ebd, S.236ff.). Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Barad den Begriff des ‚Appara- tes‘, der sich als materiell-diskursiv ausgerichteter Begriff im Spannungs- feld von Epistemologie und Onto- logie bewegt, deutlicher im Bereich des Ontologischen verortet. Anders ausgedrückt lässt sich der Barad‘sche Begriff des ‚Apparates‘ – und damit eben auch das Verständnis von Dif- fraktion – als eine Radikalisierung der Performativitätstheorie im Anschluss an Judith Butler verstehen (vgl. Butler 1997 [1993], S.32f.; Trinkaus in Seier/ Trinkaus 2015). Verschiedene Subjekte und Objekte menschlicher wie nicht- menschlicher Art sind nach Barads Auffassung einer posthumanistischen Performativität in einem intra-aktiven (und nicht wie bei Butler im iterativen) Geschehen Quelle einer spezifischen Wirkung und gehen aus dieser hervor. Das Problem des Politischen – zwei Spannungsfelder Davon ausgehend, dass die Feminist Science (& Technology) Studies an der Herausarbeitung der sozialen, öko- nomischen und politischen Beding- ungen der Wissensproduktion orien- tiert sind, ist es gerade die Kritik an der Kritikfähigkeit der Barad‘schen Nuancierung von Performativität als posthuman, die Spannungen hervor- gebracht hat. Dabei lassen sich ins- besondere zwei Spannungsfelder im Kontext der Auseinandersetzung mit neo-materialistischen Verständnis- sen von Diffraktion in Anlehnung an Barad ausmachen, die sich aus einer feministischen Perspektive, trotz unterschiedlicher Nuancierungen, als Problematisierung des Politischen begreifen lassen (vgl. Gregor/Schmitz/ Wuttig/Rosenzweig 2018, S.7ff.) – dies zum einen mit Blick auf die Frage nach dem Politischen in relationalen Ontologien und – damit eng verbun- den – die Frage nach dem Politischen Perspektiven 371 in physikalischen Empirien (vgl. auch Hoppe/Lemke 2021, S.74ff.). Das Politische in relationalen Ontologien In Auseinandersetzung mit dem ‚Agentiellen Realismus‘ nach Barad wurde und wird die Frage aufge- worfen, ob das Politische in einer ontologisch ausgerichteten Performa- tivitätstheorie hinreichend in Kraft gesetzt werden kann. Kritische Aus- einandersetzungen argumentieren entsprechend, dass das Barad‘sche Denken einer Ontologisierung der Diskurs- beziehungsweise Perfor- mativitätstheorie Vorschub leiste (vgl. Deuber-Mankowsky 2011, S.89; Bargetz 2017, S.9) und damit „quasi natürliche Ansichten“ (Barla 2013, S.270) generiere. Für die medienwis- senschaftliche Betrachtung ist hier- bei insbesondere interessant, dass es gerade die radikale Verschränkung von Diskurs und Materie beziehungsweise Ethik, Ontologie und Epistemolo- gie ist, in der eine „Sehnsucht nach Unmittelbarkeit“ (Lettow 2014)1 zum Ausdruck kommt. In einer Abwen- dung von der (als Abgrenzungs- und 1 Lettow bezieht sich auf neo-vitalistische und neo-materialistische Positionen und fokussiert insb. auf den vitalistischen Materialismus nach Rosi Braidotti (2013). Gleichwohl lässt sich diese Kritik, die sich letztlich an flachen Ontologien abarbei- tet, auch auf Barads ‚Agentiellen Realis- mus‘ beziehen bzw. wird er in kritischen Ansätzen zu Barad auch zitiert (vgl. bspw. Bargetz 2017), ohne beide Ansätze gleich- setzen zu wollen. Distanzierungsbewegung missverstan- denen) Kritik samt ihrer entspre- chenden Delegitimierungen werden demnach auch die „Verhältnisse, auf die sich diese Kritik richtet, ausge- blendet“ (Bargetz 2017, S.11f.). In dieser Abgrenzungsbewegung wird Diffraktion als das Andere der Kritik konzeptualisiert, so dass das kritische Potenzial von Diffraktion im oben ausgeführten Sinne unsichtbar bleibt. In Anlehnung daran lässt sich festhal- ten, dass in der Rezeption aber auch in der Anwendungspraxis des ‚Agen- tiellen Realismus‘ dessen Einbettung in die feministische Wissenschafts- forschung zum Teil nur rudimentär Erwähnung findet (vgl. van der Tuin 2008, S.413). Damit einher geht in der Tat die Gefahr, die politische Dimension des Medialen und Mate- riellen, das heißt gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhält- nisse, auszuklammern. Werden nun Haraways Konzept des ‚situierten Wissens‘ und Barads ‚Agentieller Realismus‘ diffraktiv durch-einander- hindurch gelesen, lassen sich schließ- lich sowohl genealogische Kontinuen als auch Differenzeffekte kartieren (vgl. vertiefend Deuber-Mankowsky 2017). Oder in den Worten Barads: „small differences, which can matter enormously“ ( Juelskjær/Schwennesen 2012, S.13). Dabei wird nicht zuletzt die radikale (ethische) Verschränkung von Epistemologien und Ontologie kritisch hinterfragt, und zwar im oben genannten Sinne: Die Kritik diffe- renziert – das heißt konkret, dass die 372 MEDIENwissenschaft 03/2024 (methodischen) Unterschiede zwi- schen einer Befragung von Wissens- ordnungen (Epistemologie) einerseits und der Formulierung von Aussagen über das Sein (Ontologie) andererseits kritisch aktualisiert werden. Basie- rend auf der Feststellung einer gewis- sen Geschichtsvergessenheit besteht der kritische Einsatz hier also in der Betonung der Notwendigkeit einer „historische[n] und systematische[n] Situierung der Begriffe“ (Deuber- Mankowsky 2017, S.158) – so wie es eben das Konzept des ‚situierten Wissens‘ vorsieht.2 Schließlich, und in der hier aufgeworfenen Spannung, ließe sich mit Blick auf die Figur beziehungsweise das Phänomen der Diffraktion festhalten, dass es darauf ankommt, wie das Beugungsgitter 2 Dieser Einsatz korrespondiert mit der (noch unscharfen) Beobachtung, dass der ‚Agentielle Realismus‘ insb. in der Sozio- logie breiter und intensiver rezipiert wird als die Arbeiten Haraways (mit Ausnahme der Arbeiten insb. von Hoppe im Feld der Theoretischen Soziologie). Auf Grundlage der aufgeführten Kritik könnte dies daran liegen, dass es sich bei der Soziologie nicht zuletzt um eine (nicht theoriefreie) empirische Wissenschaft handelt, die ent- sprechend zeitgenössische Erscheinungs- formen sozialer Phänomene untersucht – und damit dazu geneigt sein könnte, die Wissensgeschichte eben dieser Phä- nomene zu vernachlässigen. Angesichts der Debatte um die Rolle empirischer Forschungen innerhalb der Medienwis- senschaft ist der Blick auf die empirische Nachbardisziplin also von Bedeutung, wobei eine differenzierte Auseinander- setzung besonders produktiv erscheint (https://zfmedienwissenschaft.de/online/ debatte/methoden-der-medienwissen- schaft). gestaltet beziehungsweise der Apparat justiert wird. Weiter wird etwa von Andrea Seier argumentiert, dass die (relationale) Her- vorbringung von Wissen und Mate- rialität weniger einer ontologischen Begründung der Performativitätstheo- rie im Barad‘schen Sinne bedarf als der einer politischen (vgl. Seier/Trinkaus 2015). Im Zuge einer ‚Totalisierung‘ von Verantwortungsrelation werden schließlich ethische Beziehungen indif- ferent und damit auch das politische Moment des Media len, das heißt der Widerstreit als eine spezifische Rela- tion und Transformationsbewegung (vgl. Hoppe/Lemke 2021, S.77f.). Katharina Hoppe und Thomas Lemke folgern: „An die Stelle einer Politisie- rung von Ontologie(n) tritt die Ethi- sierung des Politischen“ (ebd., S.78). Zugespitzt formuliert steht die Frage im Raum, wie Möglichkeitsräume und -bedingungen der Politisierung, der konzeptuellen oder konkreten Kritik, imaginiert werden können, wenn die Prozesshaftigkeit, Mehrdeutigkeit oder Queerness materiell-diskursiver Phänomene als ontologische „Beschaf- fenheit einer prozesshaft gedachten Weltwerdung“ (Deuber-Mankowsky 2011, S.89) gedacht wird. Was bedeu- tet dies für ein Nachdenken und Ver- körpern differentieller Bewegungen, wenn es „kein Außen“ (Seier/Trinkaus 2015) und damit auch kein Anderes gibt? Zunächst ist festzuhalten, dass es in der relationalen, flachen Ontolo- gie Barads tatsächlich nicht um ein Perspektiven 373 „Außen von Materie“ (Seier/Trink- aus 2015) gehen mag, sondern um eine grundlegende Offenheit, die mit der Figur der ‚inneren Äußer- lichkeit‘ adressiert wird. Anhand des von Barad herangezogenen (und von Maurice Merleau-Ponty entlehnten) Beispiels einer Person, die sich mit Hilfe eines Stocks im dunklen Raum zurechtzufinden versucht, wird diese Differenzierung deutlich (vgl. Barad 2007, S.154f.). Sofern die Person den Stock fest in der Hand hält, ist dieser ein konstitutiver Teil des Apparates insofern, als er im besagten Szenario performativ beobachtend-tastend ori- entierende Effekte mit-zeitigt. Ist die Verbindung zwischen Hand und Stock aber eher lose, locker und könnte damit kaum orientierende Effekte performativ mit-hervorrufen, so ließe sich der Stock vielmehr als ein berüh- rendes Objekt und als ein erlebter Teil des Raumes begreifen und damit eben nicht als konstitutiver Teil eines ori- entierenden Apparates. Dass es sich bei der Frage nach den Grenzen des Apparates um eine offene, multipel bedingte, in jeweils spezifischen histo- rischen, gesellschaftlichen und situa- tiven Kontexten handelt, lässt sich weiter ausführen, wenn wir das Szena- rio wechseln und die Verbindung von Hand und Stock noch einmal anders situieren: Verlagern wir das Szena- rio in die Jahrhundertwende vom 18. und 19. Jahrhundert und betrachten die Verbindung von Männlichkeit, Händen und Stöcken, so treten Letzt- ere weniger als orientierende, sondern als aufrichtende, statusanzeigende Spazierstöcke in den Blick. Sofern nun der Stock performativ den aufrechten Gang stützt, so ließe er sich, ebenso wie Gender (Männlichkeit) und Klasse (Bürgerlichkeit), als konstituti- ver Teil eines den männlichen Körper aufrichtenden Apparates betrachten – zumindest an einem Sonntagnach- mittag an der frischen Luft (vgl. Eger- landmuseum 2022: Der Spazierstock. https://www.egerlandmuseum.de/ stock_0411/). Nach Barad treten also in Form von agentiellen Schnitten permanent ‚innere Äußerlichkeiten‘ in die Welt ein, wobei sich eben diese Prozesse durch Offenheit auszeichnen. Durch permanente Grenzziehungen werden schließlich (historisch und situativ kontingente) Materialisie- rungen und Sinnproduktion perfor- mativ hervorgebracht. Jene inneren Äußerlichkeiten betreffen nach Barad auch die dynamische Konstitution des Selbst, die in der Berührung als „otherness of the self, a [...] greeting of the stranger within“ (2012c, S.206) erfahrbar wird. Nichtsdestotrotz bleibt dieses Modell der ‚inneren Äußerlichkei- ten‘ hinsichtlich der Frage nach dem Politischen (zwangsläufig) ambiva- lent: Jeder agentielle, bedeutungs- konstituierende Schnitt ist machtvoll, schließt ein und zugleich aus. Glei- chermaßen verweist der agentielle Schnitt aber auch auf das stete Her- vorbringen ‚anderer‘ Differenzen, die einen Unterschied machen, was somit potenziell eine politische Kraft birgt. 374 MEDIENwissenschaft 03/2024 Barad bleibt uns letztlich die politisch relevante Frage schuldig, wie sich Ausschluss denken lässt, wenn alles stets Teil der Weltwerdung ist. Dieses Problem deutet mindes- tens ein Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Konzeptualisierun- gen von Relationalität und Differenz, zwischen epistemologischen bezie- hungsweise onto-epistemologischen Alteritätstheorien (bspw. Nancy, Levinas, Derrida, Butler) und flachen Ontologien an, das hier keineswegs aufgelöst werden kann oder soll. Denn es geht uns im diffraktiven Sinne gerade um ein Aushalten derartiger Ambivalenzen und damit auch um ein Öffnen von Möglichkeitshorizonten. Was sich hier abzeichnet, ist die noch weiter zu diskutierende, grund- legende Frage nach dem Stellenwert des Politischen in prozesshaft-ontolo- gischen Theorieentwürfen und flachen Ontologien. Welche Rolle können gesellschaftliche Institutionen und Anerkennungsordnungen innerhalb eines solchen Denkens spielen? Inwie- fern es also innerhalb einer anti-essen- tialistischen Forschung, der es gerade um das Problem der Vermitteltheit geht, einer ontologischen Bestimmung des Performativen bedarf, muss an dieser Stelle erst einmal offen bezie- hungsweise spannungsreich bleiben. Letztlich lässt sich festhalten, dass es auch auf die Les- und Spielar- ten ebensolcher Konzepte innerhalb einer performativen Forschungspraxis ankommt, deren Effekte nicht a priori bestimmt werden können. Das Politische in physikalischen Empirien Wir haben bereits darauf hingewie- sen, dass der Begriff der ‚Diffraktion‘ vor dem Hintergrund des ‚Agentiellen Realismus‘ spezifisch (re-)konfiguriert wird. Dies ist auch deswegen der Fall, weil die Quantenphysik nach Niels Bohr eine besondere Rolle innerhalb von Barads Theoriekomplex spielt, der an der radikalen (ethischen) Ver- schränkung von Epistemologie und Ontologie orientiert ist. Diffraktion ist für Barad nicht ‚lediglich‘ eine metaphorisch begründete Metho- dologie, sondern ein physikalisches Phänomen (vgl. Juelskjær/Schwenne- sen 2012, S.13). Damit haben wir es mit einer Begründungslogik zu tun, die sich an einer Ontologie empiri- scher Evidenz orientiert (vgl. Hoppe/ Lemke 2015, S.275) beziehungsweise eine eben solche auf spezifische Weise (re-)konfiguriert und dabei gleichzei- tig in Kraft setzt. Entsprechend gilt es Barad zufolge auch, die Dekon- struktion ‚empirisch‘ zu untermauern: „I mention the possibility of empirical support for deconstructive ideas like différance“ (2012b, S.45). Zur neuen „Bestimmung unserer Ontologien“ als eine „agentiell-realistische Ontologie“ (Barad 2012a, S.10) führt Barad nicht nur quantenphysikalische Experimente als Begründungszusammenhänge ein, was den Vorwurf des (vitalistischen) Szientismus zur Folge hatte und hat (vgl. Deuber-Mankowsky 2017, S.153; Hoppe/Lemke 2021, S.74ff.). Es geht Perspektiven 375 vielmehr darum, ob die Destabilisie- rung moderner Dualismen und damit letztlich auch Queerness deutlicher an ein epistemologisch-dekonstruktivi- stisches ‚Wie‘ oder an ein ontologisch- dekonstruktivistisches ‚Was‘ geknüpft werden sollte – an die Frage des Wis- sens, der machtvollen Wissensordnun- gen sowie ihren -geschichten, oder an die Frage des relationalen Seins als Werden von Welt (vgl. Deuber- Mankowsky 2017, S.152ff.). Zugleich weist Barad mit Blick auf das Verhält- nis von Dekonstruktion und Physik darauf hin, dass es ihr keineswegs um eine Privilegierung der Physik als letz- tes Urteil geht: „[I]t may be helpful to keep in mind that agential realism is not a straight read of physics, as it were, but a diffractive investigation of differences that matter, where insights from physics and poststructuralist and deconstructivist theories have been read through one another“ (Barad 2012b, S.46). Nicht zuletzt warnt Barad vor der naiven Annahme gegen- über der Physik als harte, universelle Wissenschaft, spezifisch in Bezug auf die Quantenphysik im Sinne eines ‚exotischen‘ Anderen zur Rettung der müden, westlichen Seelen (vgl. 2007, S.67). Schließlich bezieht sie dies auf die Konstitutionsfrage des Poli- tischen: „The question of what con- stitutes the political (and for whom? when? where?) must be asked insepa- rably from how we understand physics (how it is constituted as universal, for example)“ (Barad/Gandorfer 2021, S.21). Die damit aufgeworfene zen- trale Frage – die über das Konzept des ,situierten Wissens‘ hinausgeht (vgl. Deuber-Mankowsky 2017, S.154) und die Queer Theory fraglos weiterhin in Atem halten und sowohl ablehnende als auch affirmative Kritiken sowie jeweils spezifische methodologische Umgangsweisen evozieren wird, – lautet: „What if queerness were under- stood to reside not in the breech of nature/culture, per se, but in the very nature of spacetimemattering?“ (Barad 2012b, S.29). Was ist nun aus den Interferenzeffekten Haraway‘scher und Barad‘scher Theorieansätze einer- seits und aus dem ‚Was‘ und ‚Wie‘ hinsichtlich der Frage der Kritikmo- dalität und des Politischen andererseits gewonnen? Eine dezidiert diffraktive Kritik an der Barad‘schen Konzeption der Verschränkung von Epistemolo- gie und Ontologie eröffnet unseres Erachtens nicht zuletzt die Möglich- keit auszuloten (ohne jemals zu einem letzt-gesagten Urteil zu kommen), was wir unter dem Politischen eigentlich verstehen ‚wollen‘ beziehungsweise ‚können‘. Diffraktion als method(olog)ischer Ansatz für die Medienwissenschaft? Wie wir oben deutlich gemacht haben, stellt sich der Begriff beziehungsweise die Denkfigur der ‚Diffraktion‘ gegen Modelle von Repräsentation, Ähn- lichkeit, Verdopplung sowie Kopie und thematisiert demgegenüber Phä- nomene und (methodische) Bewegun- gen der Begegnung, die transformativ 376 MEDIENwissenschaft 03/2024 wirken (können). Obwohl der Begriff, die Figur beziehungsweise das Phä- nomen der ‚Diffraktion‘ wissens- geschichtlich konstitutiv mit den Arbeiten von Haraway und Barad im Schnittfeld der Feminist Science & Technology Studies und Neuen Mate- rialismen verbunden ist, wird Diffrak- tion als Zugang, Denkwerkzeug oder Methode umgekehrt keineswegs quer durch alle Arbeiten aus ebendiesem Feld hinweg fruchtbar gemacht (vgl. Gregor/Schmitz/Wuttig/Rosenzweig 2018). Umso produktiver scheint es, jene Zugänge, die sich explizit mit der potenziellen Bedeutung des Diffrakti- onsbegriffs für Fragen nach differenti- ellen Machtordnungen angesichts ihrer materiell-semiotischen Prozesshaf- tigkeit auseinandersetzen sowie ana- lytisch-methodische Fragestellungen dazu aufstellen, zu diskutieren: insbe- sondere mit Blick auf ihre Bedeutung für die Medienwissenschaft. Hier lässt sich nicht zuletzt die Frage ableiten, ob und wenn ja, medienwissenschaft- liche Zugänge zu visuellen, digitalen, virtuellen oder algorithmischen Kul- turen unter einem diffraktiven Vor- zeichen möglicherweise konzeptuell anders gedacht werden können. Was also eröffnet der Begriff ‚Diffraktion‘ für die medienkulturwissenschaftliche Diskussion? Jüngste medienwissenschaftliche Auseinandersetzungen zeugen von einer Notwendigkeit von Neuperspek- tivierungen unter diffraktiven Vorzei- chen. Sie loten auf kreative und/oder diffraktiv-kritische Weise das Potenzial eines diffraktiven Denkens im Sinne Haraways und/oder Barads für medi- enwissenschaftliche Betrachtungen aus. Darunter sind beispielsweise bild- theoretische und filmwissenschaftliche Herangehensweisen (vgl. Hofer 2017; Kronberger 2022, S.270-297; Moska- tova 2020) zu nennen, die unter ande- rem die Diffraktion als Denkfolie oder methodische Haltung konzeptualisie- ren. Während Olga Moskatova (2020) entlang Barads ‚Agentiellem Rea- lismus‘ die medienwissenschaftliche Operationalisierbarkeit für Entwürfe einer Agentialität von Bildern auslotet und Alisa Kronberger (2022) anhand medienkünstlerischer Arbeiten den neu-materialistisch verträglichen Bildbegriff des Diffraktionsereignisses erarbeitet, nutzt Kristina Pia Hofer (2017) Barads Konzept des ‚agenti- ellen Schnitts‘ für eine Neuperspek- tivierung auf semiotische Analysen filmischer Repräsentationen. Ebenso zeugt die Konferenz „Matters of Dif- ference“ im Juli 2022 an der Freien Universität Berlin von jenem derzei- tigen medienwissenschaftlichen Inter- esse, sich „filmischen, medialen und diskursiven Differenzverflechtungen“ – so der Konferenztitel – zu widmen und sich so Barads quantenphysi- kalisch inspiriertem Denken eines ‚Sowohl-als-auch‘ von Medialität und Materialität, Konstruktion und Reprä- sentation, Abstraktion und Konkre- tion zu nähern. Darüber hinaus lassen sich Arbeiten heranziehen, welche die diffraktive Bewegung der Beugung medien philosophisch entfalten, darun- Perspektiven 377 ter Lisa Handels Monografie Ontome- dialität (2019) oder Stephan Trinkaus‘ Beitrag (2022) zu einer nicht-binären Medialität des Divergierens. Angesichts der medialen Vervielfäl- tigung von Realitätsdimensionen und mit Blick auf die Transformation von Gewalt in digitalen Kulturen (vgl. Eik- kelmann 2017, S.61ff.) sowie in Kriegs- kontexten (vgl. Meis 2021, S.43ff.) haben Arbeiten aus dem Feld der feministischen Social Media-/Platt- formforschung darauf hingewiesen, dass Virtualität als ein Diffraktions- effekt verstanden werden kann (vgl. ebd.; vgl. auch Haraway 1991, S.301). Dieser Diffraktionseffekt entsteht aus der Interferenz von Realität und Fik- tionalität. Hierbei handelt es sich um eine Konzeptualisierung von Virtuali- tät, die im Kontext eines diffraktiven durch-einander-hindurch-Lesens von Haraway, Barad und den Ausfüh- rungen von Elena Esposito (1998; 2014) entwickelt und für die Frage nach der Materialität und Ästhetik des Digitalen im Kontext Sozialer Medien produktiv gemacht wurde (vgl. Eickelmann 2017). Damit wird darauf verwiesen, dass wir es im Kon- text hypermedialer Verweisstrukturen internetbasierter Öffentlichkeiten mit einem kontingenten Möglichkeits- raum zu tun haben, der durch hegemo- niale und geopolitische Macht- und Ungleichheitsgefüge gewaltvoll, le- bensbedrohlich oder gar in tötender Art und Weise vereindeutigt werden kann. Mit der „diffraktive[n] Ethno- grafie Sozialer Medien“ (Eickelmann/ Meis 2023) wurde in Anlehnung daran ein situierender Zugang vorge- schlagen, der auf flüchtige Interferen- zen im Sinne kollektiver Momente der Bedeutungs- und Wissensgenerie- rung samt ihrer Materialität in einem bestimmten sozio-kulturellen, -öko- nomischen und -politischen Kontext zielt und dabei die medialen Spezifika von Social Media method(olog)isch produktiv macht (vgl. ebd., S.6f.). Weiter haben Alice Wickström, Ari Kuismin und Saija Katila (2023) eine diffraktive Lesart algorithmi- schen Managements am Beispiel eines weltweit verbreiteten on-demand Lieferdienstes erarbeitet, indem sie mithilfe ihres Forschungsapparates die Interferenzen unterschiedlicher Formatierungs- beziehungsweise Materialisierungsweisen des Phäno- mens sichtbar machten und dabei die Frage nach den multipel bedingten Ein- und Ausschlüssen bearbeiteten (vgl. Waldmann 2024). Methodolo- gisch besonders produktiv ist der Ein- satz des storytellings: Die Autor:innen erzählen eine Geschichte über die vir- tuelle Figur namens Abeiku. Virtuell ist diese insofern, als dass die Figur und ihre Geschichte aus unterschied- lichen, dem ersten Anschein nach unabhängig voneinander existieren- den, empirischen Materialsorten (wie etwa Interviews mit Arbeiter:innen und Aktivist:innen, Zeitungsartikeln oder Social-Media-Posts) zusammen- gesetzt sind. Es handelt sich also bei Abeiku weder um eine reale Person noch um eine reine Fiktion, da sich 378 MEDIENwissenschaft 03/2024 durch das durch-einander-hindurch- Lesen der partikularen Empirien ein zugleich höchst artifizielles und den- noch empirisch rückgebundenes Beu- gungsmuster ergibt. Schließlich ließe sich noch die jüngst erschienene vierte Ausgabe des INSERT-Journals heranziehen, in der die Herausgeberinnen die Denkfigur der ‚Diffraktion‘ nutzen, um Differen- zen und diffraktive Relationalitäten in den kritischen theoretischen Positio- nierungen gegenüber dem Anthropo- zändiskurs aus queer-feministischer sowie post-/dekolonialer Perspektive herauszustellen. Mit dem Schwer- punktthema „dis/sense in der Anthro- pozänkritik“ setzen die Beiträge der Ausgabe auf diffraktive Dialoge, dis- sensuelle Begegnungen und partielle Öffnungen zwischen queer-feministi- schen und post-/dekolonialen, Indige- nen und Schwarzen Materialismen (vgl. Köppert/Kronberger/Nastold 2023). Bei aller Kritik (an der Kritik) an Barads Ontologisierung der Performa- tivität und Fehlen eines Politikbegriffs stiften Barads Begriffe und Konzepte – allen voran das der Diffraktion – dazu an, die medienwissenschaftliche sowie inter- und transdisziplinäre Forschung (weiterhin) engagiert, kri- tisch und pluralistisch zu betreiben. Trotz der teilweise szientistisch und/ oder mysteriös anmutenden Begriffe und Figurationen bieten sie weltliche und lebendige Folien für medien- wissenschaftliche Theorie- und Ana- lysearbeit. Dass diffraktive Denk- technologien zu einem Mittel werden können, die konzeptionelle Entwick- lungen in der Medienwissenschaft kritisch hinterfragen, erforschen und somit lebendig halten können, hat sich für uns als Autor:innen dieses Beitrags im gemeinsamen durch-einander-hin- durch-Denken und -Schreiben jeden- falls erneut gezeigt. Wir danken Julia Fischer herzlich für das aufmerksame Lektorat. 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Zeitschrift für Medienwissenschaft (zfm): Methoden der Medienwissenschaft, 2024. https://zfmedienwissenschaft.de/online/debatte/methoden-der-medienwissen- schaft (05.03.2024). Im Blickpunkt 383 Neuerscheinungen: Besprechungen und Hinweise Im Blickpunkt Felix Schackert: Energetik der Film-Rezeption: Mit Bergson und Deleuze Paderborn: Brill | Fink 2023 (dynamis), 435 S., ISBN 9783770568154, EUR 129,- (Zugl. Dissertation an der Muthesius Kunsthochschule Kiel, 2022) Die Auseinandersetzung mit den beiden filmphilosophischen Bänden zum Film, die Gilles Deleuze 1983 (auf Deutsch als Kino 1: Das Bewegungs- Bild. Frankfurt: Suhrkamp, 1989) und 1988 (auf Deutsch als Kino 2: Das Zeit-Bild. Frankfurt: Suhrkamp, 1991) vorgelegt hat, ist auch nach mehreren Jahrzehnten aktiv und leitet gegen- wärtig Filmwissenschaftler:innen an, das Denken Deleuzes weiterzufüh- ren. So verhält es sich auch bei Felix Schackerts Dissertationsschrift, die 2023 erschienen und mehr als 400 Seiten stark ist. Handelte auch die internationale Beschäftigung mit Deleuze in den letzten Jahren beson- ders von der Temporalität von Kinoer- fahrung und vom Affekt (u.a. Mroz, Matilda: Temporality and Film Analy- sis. Edinburgh: Edinburgh UP 2013; Esquenazi, Jean-Pierre: L’analyse de film avec Deleuze. Paris: CNRS Edi- tion, 2017), den Deleuze mit dem Bildtyp des Affektbilds wegweisend für den Film entworfen hatte, widmet sich Schackert vorwiegend der Frage nach der Filmrezeption. Diese ist – vielfach, aber nie wirklich befriedigend – in der Deleuze-Rezeption disku- tiert worden. Deleuze hat sich nicht klar dazu geäußert, was aber auch Teil seiner filmphilosophischen Konzep- tionalisierung ist. Denn diese bezieht sich zum einen auf die Entwicklung von filmischen Bildtypen, also aisthe- tische und ästhetische Kategorien, die vom Kino und seinen Regisseur:innen hervorgebracht wurden. Zum anderen geht Deleuze davon aus, dass Filme keine Medien der Repräsentation dar- stellen, die eine vorher entzifferbare 384 MEDIENwissenschaft 03/2024 Welt in Bilder, Töne und Geschichten bannt, sondern er denkt Film imma- nenzphilosophisch so, dass der Film selbst Welt herstellt und damit auch die Wahrnehmungen, Affekte und Handlungen selbst weltkonstituierend sind. Wahrnehmende und agierende Körper sind selbst darin gefangen, weshalb eine Rezeption in diesen Pro- zessen aufgehoben ist. Schackert findet diese Lösung jedoch nicht befriedigend, denn „die wesentliche Problematik besteht in Deleuzes mangelnder Thematisierung der Interaktion zwischen Individuum und Welt“ (S.126), und so unterstellt er Deleuze, dass er eine Rezeptionspo- sition in seiner Filmphilosophie offen- lässt, obwohl er sie hätte erkennen können – und zwar naheliegender- weise bei dem Philosophen, der seine Bände (neben Charles Sanders Peirce) offensichtlich speist: bei Henri Berg- son. Daher unternimmt Schackerts Untersuchung in drei umfassenden Kapiteln den Versuch, zu zeigen, wie (1) gerade Bergsons Leibphilosophie eine Theorie der Rezeption enthält, die bei Deleuze selbst aber noch weit- gehend ungedacht ist; warum daraus (2) eine energetische Idee von Film- rezeption entsteht, die sich als Perfor- manz und Energie der Zeichen lesen lässt; (3) wie bestimmte bei Deleuze gezeichnete dynamische Bildgesche- hen – wie das Intervall, das Außen und der beliebige Moment – die bei Bergson gesetzte (und von Deleuze vernachlässigte) leibliche Kinorezep- tion ausbuchstabieren. Die Schrift geht dabei äußerst prä- zise vor, indem sie besonders die Arbei- ten Bergsons (ganz besonders Materie und Gedächtnis: Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist [Hamburg: Meiner, 2001 (1896)], aber auch weitere) im Kontext der Kinophi- losophie von Deleuze einer Relektüre unterzieht. Dabei wird deutlich, dass die von Deleuze außer Acht gelasse- nen leiblichen Bewegungsdynamiken bei Bergson als Rezeptionsvorgänge verstanden werden können. Film wird in dieser Lesart erst vollständig, wenn er sich in der konkreten Dauer als leibliche Erfahrung in der Rezeption, als performative Kraft erweist. Dauer ist nach Bergson „energetisch, weil Energie hier gedacht wird nicht als Emphase und nicht synonym zu Kraft, sondern im Sinne der Akkumulation und des Potenzials, oder im Begriff Bergsons, im Sinne der Virtualität, des innewohnenden Vermögens, das sich in Gegenwärtigkeit transformiert bzw. performiert, sich aktualisiert“ (S.100). Deleuze hatte das zwar schon im Blick, aber eben nur als filmimmanente Konstruktion. So sind ja gerade die Körper im modernen Film rezipierende Körper, auch Zuschauende des Lebens, die wiederum durch die Klischees des Films geprägt sind und uns nicht mehr durch klassische Handlung, sondern durch Blicken und Schauen, Umher- irren, zusammenhangloses Erzählen, Fabulieren und ‚falsche‘ Bewegungen begegnen: Auch das sind Rezeptions- positionen. Schackert belässt es aber nicht dabei, Bergson als eine Art ‚Kor- Im Blickpunkt 385 geräten ausgelegt. Dem passt sich die Analyse an, indem sie zwei Seherfah- rungen dokumentiert: eine, die darauf basiert, dass man den Film zum ersten Mal sieht und eine zweite, die darauf aufbaut, dass man den Film schon kennt und nun völlig anders mit den Informationsvergaben und etablierten Figuren- und Zeitordnungen umge- hen kann. Das unterschätzte Bonmot von Jean-Luc Godard drängt sich auf, der meinte, dass es bedeutsam sei, einen Film nochmal anzuschauen, weil es dann das erste Mal sei, dass man ihn zum zweiten Mal sehe. In Bezug auf Scorseses Film wird erst in der zweiten Rezeption der verschachtelte Aufbau und die Relationierung von bestimm- ten Bildtypen erkennbar. Damit zeigt sich, dass die „Modellierung der Situa- tion aus Film und Zuschauer-Rezep- tion energetisch sein“ (S.286) muss, die Zuordnung von Bildtypen bleibt eben nicht stabil, sondern setzt eine virtuelle Zuschauer:innenpositionierung frei, die weder eindeutig festgelegt noch willkürlich ist, sondern aus der Offen- heit der Dauer des Leibes geschöpft wird. Auch dazu hatte Deleuze mit der Beschreibung des sogenannten ‚mentalen Bildes‘ bereits die Grund- lage bereitgestellt. Das wird im Buch an verschiedenen weiteren Beispielen ausbuchstabiert, so dass hier zweifel- los eine sehr ernstzunehmende Posi- tion entworfen wird, die sowohl der Deleuze‘schen Filmphilosophie eine bislang eher unterschätzte (oder ver- drängte) Dimension hinzufügt, die aber zugleich der Rezeptionstheorie rektur‘ aufzurufen, sondern liest auch die Deleuze‘schen Grundbegriffe wie ‚Wahrnehmungs- und Affektbild‘, das ‚Außen‘, das ‚Intervall‘ und den ‚belie- bigen Moment‘ produktiv in Richtung einer Zeit- und Leibphilosophie, in der Rezeption zu einem entscheidenden Vorgang der Filmästhetik wird. Hervorzuheben ist, dass Schak- kert nicht bei der Arbeit an Begriffen stehen bleibt, sondern seinem Zugriff eine ebenso überraschende wie beein- druckende Dimension verleiht, indem er Martin Scorseses Film Shutter Island (2010) zwei Mal präzise ana- lysiert (Rezeptionsprotokoll inklusive, vgl. S.258-276). Dabei schließt er an Thesen vom Autor dieses Textes an, der davon ausgeht, dass viele Filme ab den 2000er Jahren Bewegungs- und Zeitbilder gleichzeitig und paradox realisieren und damit eine epistemi- sche Neuausrichtung vornehmen (vgl. S.255; Fahle, Oliver: „Zeitbild und Mindgame Movie: Betrachtungen zum (paradoxen) Film der Gegen- wart.“ In: Sanders, Olaf/Winter, Rainer [Hg.]: Bewegungsbilder nach Deleuze. Köln: Herbert von Halem, 2015, S.86-95), was auch in der Eta- blierung der so genannten Mind- Game-Movies nach Thomas Elsaesser erkennbar wird (vgl. S.257; Elsaesser, Thomas: The Mind-Game Film: Dis- tributed Agency, Time Travel and Pro- ductive Pathology. New York/London: Routledge, 2021). Filme jedoch, so Schackert, sind in den Rezeptionsbe- dingungen der Gegenwart schon auf mehrmaliges Sehen an eigenen End- 386 MEDIENwissenschaft 03/2024 des Films überhaupt ein neues philo- sophisches Angebot macht. Ohne Frage: Schackerts Buch ist ein Wurf, der nicht nur (film)philoso- phisch auf bestem Niveau eine Lücke bei Deleuze akribisch unter Rück- griff auf Bergson freischaufelt und neu auslegt, sondern auch zahlreiche Anknüpfungen an aktuelle Debat- ten, etwa des Körperkinos, anbietet. Es ist präzise, aber keineswegs im Eingeweihtenduktus geschrieben, er- laubt allen, die sich mit der Film- philosophie von Deleuze beschäfti- gen, einen innovativen Blick und füllt auch den schwierigen und manchmal etwas lästigen Begriff der Rezeption durch seine Lektüren mit Leben. Die Beschäftigung mit Deleuze wird mit Blick auf die Bewegtbilder des Films in Zukunft kaum an diesem Werk vorbeikommen. Oliver Fahle (Bochum) Medien / Kultur 387 Patricia A. Gwozdz: Virale Wissenschaft: Über die Grenzen verständlicher Forschung Weilerswist: Hase & Koehler 2023, 120 S., ISBN 9783775814201, EUR 20,- Medien/Kultur Effektive Wissenschaftskommunika- tion gewinnt angesichts aktueller gesell- schaftlicher Herausforderungen wie der COVID-19-Pandemie zunehmend an Bedeutung. Wissenschaftskommunika- tion kann Debatten anregen, Lösungen für gesellschaftliche Probleme initiieren sowie demokratische und individuelle Entscheidungsprozesse unterstützen. Die COVID-19-Pandemie erforderte eine schnelle und verständliche Ver- mittlung forschungsbasierter Informa- tionen an ein breites, oft fachfremdes Publikum und förderte dadurch neue Strukturen der Wissenschaftskommu- nikation. Insbesondere digitale Medien wie Podcasts, soziale Netzwerke und Videoplattformen sind während der Pandemie zu wichtigen Kommunika- tionskanälen für die Verbreitung von forschungsbasiertem Wissen gewor- den. Vor diesem Hintergrund disku- tiert Patricia Gwozdz in ihrem Essay Virale Wissenschaft: Über die Grenzen verständlicher Forschung die Strategien und Grenzen digitaler Wissenschafts- kommunikation während der COVID- 19-Pandemie. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin promovierte zur Theorie und Geschichte populärer Wissenschaftskommunikation mit der Arbeit Homo academicus goes Pop: Zur Kritik der Life Sciences in Populärwis- senschaft und Literatur (Weilerswist: Velbrück, 2016). In ihrem aktuellen Essay knüpft sie an die Thesen aus ihrer Dissertation an und zieht nach der COVID-19-Pandemie Bilanz. Mit Blick auf die zentrale These, dass populäre Wissenschaftskommunika- tion immer schon Teil der Wissenschaft war, schreibt Gwozdz eine Geschichte der Wissenschaftskommunikation vom Ursprung der Wissenschaft über Machtverhältnisse und verschiedene Phasen der Wissenschaftspopulari- sierung bis hin zu öffentlichem Ver- stehen von Wissenschaft (Engl. public understanding of science) und Fragen nach Verständlichkeit und scientific literacy. Sie bedient sich dabei verschie- dener theoretischer, analytischer und empirischer Perspektiven und verbin- det soziologische, philosophische und wissenschaftsanthropologische Theo- rien mit inhaltlichen Analysen und 388 MEDIENwissenschaft 03/2024 Erkenntnissen aus der empirischen Rezeptionsforschung. Dass der Text durch diese breite Mischung an eini- gen Stellen an Kohärenz einbüßt, kann angesichts der vielfältigen und umfang- reichen Gesichtspunkte und Überle- gungen vernachlässigt werden. Gwozdz argumentiert, dass, um gesellschaftliche Herausforderun- gen wie die COVID-19-Pandemie zu bewältigen und „belegbare, offen über- prüfbare und wissenschaftliche Wahr- heit quer durch das Feld der Medien [zu] verbreiten, […] Wissenschaft viral gehen“ (S.72) muss. Damit ist „[j]ede Form von Wissenschaftskom- munikation populär, weil sie sich popu- lärer Massenmedien bedient und der in diesen Medien angestrebte Unter- haltungswert die Inhalte mitbestimmt“ (S.12). Statt einer grundsätzlichen Kritik an Wissenschaftspopularisie- rung zeichnet Gwozdz ein Spannungs- feld der Logiken von Wissenschaft und Medien, die es zugunsten effek- tiver Wissenschaftskommunikation zu reflektieren gilt. Auch Rezeptions- bedürfnisse sollten dabei in den Blick genommen werden. Im schnelllebigen Alltag läuft die Rezeption von Wissen- schaft auf fast food listening von Wissen- schaftspodcasts oder fast food watching von YouTube-Videos mit wissenschaft- lichem Inhalt hinaus. Wichtiger als die konkreten Formate der Wissenschafts- kommunikation sei das Maß an Ver- ständlichkeit, das den Rezipierenden angesichts ihrer Kompetenzen, etwa in Bezug auf scientific literacy, zugemutet werden könne. Anhand des Podcasts Das Coronavirus-Update (2020-2023) und der Wissenschaftsvideos von maiLab und MaithinkX verdeutlicht Gwozdz abschließend die Strategien und Grenzen viraler Wissenschafts- kommunikation. Der Essay bietet eine wertvolle Analyse der Bedeutung und Heraus- forderung digitaler Wissenschafts- kommunikation am Beispiel der COVID-19-Pandemie und liefert wichtige Impulse für zukünftige For- schung und Praxis. Insbesondere für Sozialwissenschaftler:innen, die sich empirisch mit digitaler Wissenschafts- kommunikation beschäftigen, aber auch für Praktiker:innen bietet der Essay einen kurzweiligen und den- noch umfassenden Überblick über Wissenschaftstheorien, ergänzt durch analytische und empirische Erkennt- nisse. Da Gwozdz die Popularisierung von Wissenschaft nicht als negativ, sondern als Teil der Wissenschaft und notwendigen Schritt zur Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Gesellschaft betrachtet, kann der Essay über die weitverbreitete grundlegende Kritik an populärer Wissenschaft hin- ausgehen und die gegebenen Kontexte und Anforderungen reflektiert und konstruktiv in den Fokus rücken. Birte Kuhle (Köln/Mainz) Medien / Kultur 389 Trotz der einschneidenden und lang - anhaltenden Erfahrungen der Corona- Pandemie existieren wenig systema- tische Aufarbeitungen der mit ihr zusammenhängenden rechtlichen, politischen, sozialen und kulturellen Verwerfungen. Vorliegender Band stellt eine theoriegeleitete und kri- tische Analyse der grenzüberschrei- tenden Wirkweisen der Pandemie dar, wobei die Grenzüberschreitung, das heißt das Zusammenwirken media ler, diskursiver, sprachtheoretischer und literaturwissenschaftlicher Analysen zum besseren Verständnis der Ereig- nisse beiträgt. Die Corona-Pandemie wird als Störung begriffen, welche alle gesellschaftlichen Systeme affi- ziert und diese demnach zu Dar- stellungen zwingt (vgl. S.11). Diese Überlegungen werden in den differen- zierten Vorbemerkungen von Carsten Gansel und José Pérez konkretisiert, die gleichzeitig auch die metho- dische Richtung vorgeben: Medien und ihre Strategien werden gemäß der Systemtheorie Niklas Luhmanns in korrelierende mediale Handlungs- rollen ausdifferenziert; literarische Selbstinszenierungen, Neuaushand- lungen, Distribution und Rezeption verschieben sich gemäß den Vorgaben der beteiligten Akteure. Die nachfol- genden Beiträge sind in theoretische Felder aufgeteilt: der erste Teil umfasst die medialen und datentechnischen Bedingungen der Krise, der zweite Teil fokussiert die Kommunikationsstruk- turen und -bedingungen, der dritte Teil konzentriert sich auf die histo- rischen und kulturellen Dimensionen der pandemischen Verschiebung und ihrer historischen Semantisierungen. Wie bereits erwähnt, liefern die Beiträge im ersten Teil zu Wirkweise und Materialität zeitgenössischer Massenmedien kritische Analysen der Rolle der Medien innerhalb der Pandemie. So betrachtet Michael Meyen das ‚System der Leitmedien‘ als Profiteur und Verlierer der Corona- Störung. Ausgehend von Luhmanns Leitmedien-Begriff konturiert er diese als mächtige Definitionsinstanzen des politischen und kulturellen Alltags. Die systemtheoretische Perspektive – und das gilt für viele andere Beiträge – befreit von der Referenzialität auf eine wie auch immer geartete ‚Reali- tät‘; denn insbesondere die Corona- Pandemie gilt als Beispiel für die Etablierung medialer Wahrheiten ohne gesicherte materiale Referenzen. Aufgrund ihrer Distributionsmacht können Leitmedien Themen absichern, gemäß der Devise „if men define situ- Carsten Gansel, José Fernández Pérez (Hg.): Störfall Pandemie und seine grenzüberschreitenden Wirkungen: Literatur- und kulturwissenschaftliche Aspekte Göttingen: V&R unipress 2023 (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien, Bd.33), 335 S., ISBN 9783847115113. EUR 55,- 390 MEDIENwissenschaft 03/2024 ations as real, they are real in their consequences“ (S.25). Darin liegt jedoch, wie Meyen ausführt, auch das Problem der zu starken Koppelungen begründet, welche er im „Gleich- klang“ (S.33) der politischen Eliten begründet sieht. Deren in den Leit- medien formulierte Botschaft werde in weiten Teilen der Bevölkerung nicht wahrgenommen, wie die Reaktion der diversen Demonstrationen gegen Corona-Bestimmungen und Impfpo- litik deutlich demonstrierten. Detlef Stapfs Beitrag knüpft an die Konstruktivität medialer Kommuni- kationen an und verweist nochmals auf den Einsatz ikonischer Bilder zum Zweck der Etablierung einer pandemischen Bedrohung, während vorausgegangene Pandemien medial relativ unbeachtet blieben. An diese Betrachtungen schließt Hauke Ritz‘ Beitrag zur „Coronapandemie als Krisenphänomen der Neuzeit“ an, der dem Verständnis der kulturellen Kon- struktion von Pandemien historische Tiefe verleiht. Aus der historischen Perspektive wird deutlich, wie stark die Corona-Krise kulturelle und poli- tische Entwicklungen beschleunigte: Digitalisierung, Überwachung, den transnationalen Zusammenschluss von Nationalstaaten. Ebenso beförderte sie die Metaphysierung der Naturwissen- schaften, die begannen, eine „eigene Metaphysik“ (S.67) hervorzubringen. Der Gedanke einer selbstreferentiellen Wissenschaft erscheint auch im nach- folgenden Beitrag zentral: Hier wird deutlich, wie Medienkommunika- tion mit Rekurs auf wissenschaftliche Informationen (Daten) bei gleichzei- tigem Fehlen verlässlicher Werte pro- zedieren kann. Im zweiten Teil werden die Inhalte und Formen medialer Kommunikation hauptsächlich aus linguistischer und diskurstheoretischer Perspektive the- matisiert. So widmet sich Christina Gansels Beitrag der Angstkommuni- kation der Corona-Pandemie wieder aus systemtheoretischer Perspektive, indem die Verfasserin kommunizierte Angst als Befürworterin einer mora- lischen Perspektive identifiziert (vgl. S.103). Auch dieser Beitrag bezieht kritisch Stellung gegenüber den kom- munizierten Inhalten der Pandemie und zeigt ihre politische Wirksamkeit in der Diffamierung von Gegner:innen einer staatlichen Corona- und Impf- politik auf: Berechtigte Einwände wurden sprachlich überformt, diese Strategie betrifft beispielsweise die Verniedlichung einer Impfung durch den „Piks“ (S.107) oder die Verwen- dung diffamierender Begriffe wie „Impfgegner“ oder „Impfskeptiker“ (S.113). Dennis Kaltwasser vertieft die Sprachkritik der Corona-Regierungen zum Komplex der „antidemokratischen Sprache“ (S.141ff.) und dokumentiert auch anhand der Sprachregelung das interessengeleitete Vorgehen des Staatsapparats. Ähnlich argumentiert der Beitrag von Hannah Broecker zur Neuvermessung der politischen Landschaft, innerhalb derer sich die Diskurse um Solidarität maßgeblich Medien / Kultur 391 verschoben haben und dementspre- chend eine „aktive Spaltung“ (S.169) der Gesellschaft anhand der Bruchli- nie Zustimmung oder Ablehnung der Maßnahmen attestiert wurde. Der Rückgriff auf die AIDS-Pandemie, den der Beitrag von Matthias Braun vornimmt, belegt nochmals in histo- rischer Perspektive die Wirkweise von Verschwörungstheorien. Die Beiträge im dritten Teil kon- zentrieren sich auf Fiktionen zum Thema ‚Pandemie‘, denn hier finden sich zumeist ref lektierte Verarbei- tungen des Themas wie auch Antizi- pationen gesellschaftlicher Zustände. Der Teil beginnt erfreulicherweise mit einem historischen Überblick von Dirk Brauner, welcher ausgehend von der Pest pandemische Metaphern in den Blick rückt. Der historische Rück- blick verdeutlicht die kulturelle Zen- tralität des Themas. Demgegenüber beschränkt Hans-Christian Stillmark seine Analysen auf das Nachdenken Heiner Müllers über das Thema, das der Autor systemtheoretisch dahinge- hend versteht, als dass Viren ein Mittel zum Untergang von „überintegrierten Systemen“ (S.230) darstellen. Mit- herausgeber Gansels Beitrag greift den Aspekt der Denunziation auf und wen- det dieses Verfahren auf die Akteure des Widerstands gegen die offizielle Politik der Pandemie an, hier vor allem die Aktion #allesdichtmachen. In einem nächsten Schritt überprüft er weitausholend die Aspekte literarischer Denunziation. Denis Newiak schließ- lich richtet seine Aufmerksamkeit auf die Pandemiefilme, die vielfach als realistische Antizipationen pande- mischer Zustände gelesen wurden. Stephanie Lotzow verweist in ihrem Beitrag zur Inszenierung von Pande- mien in Videospielen auf das autopoe- tische Reflexionspotenzial der Künste (vgl. S.312), das sich in der Corona- Pandemie deutlich ausgeprägt habe. Leider können hier nur einige Aspekte dieser komplexen und wich- tigen Publikation angeführt werden. Insgesamt bietet der Band eine detail- reiche und wohlreflektierte Aufarbei- tung der Corona-Pandemie auf hohem Niveau. Die verwendeten Begriffe sind deutlich definiert, und die umfassende Rolle der Medien ist theoretisch bestens reflektiert, vor allem in der Systemtheorie Luhmanns. Die Kom- plexität der theoretischen Herange- hensweise verleiht den Überlegungen den Stellenwert eines methodischen Modells, dessen Anwendungen auch für künftige Störungen Gültigkeit besitzt. Angela Krewani (Marburg) 392 MEDIENwissenschaft 03/2024 Ausgehend von der (klugerweise implizit gehaltenen) und gewiss frag- würdigen Annahme, der Möglich- keitsraum des Sich-Mitteilens sei in der Debattenkultur der post-digitalen Gesellschaft ausgerechnet im Zeitalter des ‚Das-wird-man-doch-noch-sagen- dürfen‘ und all der zugehörigen Tabu- brüche der extremen Rechten (bzw. der zunehmend entfesselten Mitte der Gesellschaft) geringer geworden, argu- mentiert Hans Martin Esser in seiner Monograf ie Polemik eine doppelte These: Erstens und sehr überzeugend, dass, wer das Phänomen der Polemik verstehen möchte, einen Bezug zur Empathie herstellen muss: Polemik ist eine enge Verwandte der Empathie, beide sind „ein Zwillingspaar“ (S.43). Zum zweiten glaubt Esser, die Dyna- miken der Streitkultur ausgerechnet über ökonomische Metaphern aus- deuten zu können, Polemik zum Bei- spiel als ‚Wettbewerb‘ zu fassen (statt kommunikationstheoretisch, z.B. mit Luhmann oder diskurstheoretisch von Foucault her) – und übersieht insofern geflissentlich, dass es hier keinesfalls um die Regulierung von Knappheit geht, dass hier auch kein Warentausch stattfindet und insofern beim zugehö- rigen ‚Angebot‘ (bzw. der ‚Nachfrage‘) die Annahme eines ‚Marktes‘ keines- falls passend ist (vgl. dazu S.131ff.). Als geistige Paten dienen Esser insbesondere literarische Kraftmeier wie Maxim Biller oder Bret Easton Ellis; und sein Ansatz ist ohnehin arg maskulinistisch: Esser gelten bei- spielsweise die 2020er Jahre – die Zeit der präpotenten „Kaliberexperten“ (so jüngst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier) – als „die Zeit der Zaude- rer“ (S.83). Sein Ansatz versteht sich so insgesamt als dezidierte Gegenrede zu Judith Butlers Hass spricht (Frankfurt: Suhrkamp 2006; vgl. dazu bei Esser S.27ff.). Auf seinem Weg durchs Debat- tengestrüpp kann Esser punktuell einiges zeigen, was diskussionswür- dig an diesem schillernden Phänomen wäre: Polemik, schon etymologisch ein Ersatzkrieg, ist nicht nur die „gelbe Karte in zeitgenössischen Debatten“, sondern auch „ein Bruch bestehender Normalitäten“ (S.7), sie ist „essence concentrée westlicher Streitkultur“ (Klappentext) und damit eben nicht nur irgendein rhetorischer Brandbe- schleuniger, sondern dient zugleich „als aufklärerisches Instrument“ und „literarische Polemik [gar] [...] als schmerzhafte Erweiterung der Spra- che“ (S.79) – all das sind wichtige Aspekte, die hier recht unterhaltsam, wenn auch ausgesprochen assoziativ- unsystematisch diskutiert werden. Leider wird der Lesefluss durch zwei stilistische Eigenheiten erheb- lich ausgebremst. Zum einen passiert dies durch die Neigung des Autors zu Hans Martin Esser: Polemik Berlin: Kulturverlag Kadmos 2023, 216 S., ISBN 9783865995124, EUR 24,90 Medien / Kultur 393 extremer sprachlicher und inhaltlicher Verknappung, was sich dann beispiels- weise wie folgt liest: „Kann ein Patrick Bateman in American Psycho noch von sich sagen, er sei einfach nicht da […], gilt für den Polemiker das Gegenteil: Der Schmerz vergewissert ihn sei- ner Anwesenheit. In Fragmente einer Sprache der Liebe sagt Roland Barthes als Poststrukturalist Fragment, man könnte aber auch Fraktale sagen. Liebe als Phänomenologie zu begehen: sie bricht also nicht, sondern fächert sich vielmehr auf. Wie dem auch sei, die verschiedenen Perspektiven auf das Phänomen: so betont Barthes den bei Liebe wie auch Polemik inhärenten, zwielichtigen Nebenast, wonach der Liebende einen Sprachdämon in sich höre und nach Vertreibung aus dem Paradies und Leiden schaffender Lei- denschaft dürstet“ (S.78f.). Zum anderen ist schwierig, dass die Argumentation sich nicht nur auf 1.001 (überwiegend) längst verges- sene Debatten aus den Politik ressorts und Feuilletons der vergangenen Jahre stützt, sondern dies auch noch meist in der raunenden Weise des bloßen Andeu- tens – oder aber gleich der Polemik – unternimmt, ohne jedenfalls (in der gebotenen Kürze) nachzuzeichnen, wer hier eigentlich was warum gesagt hat. Das gilt da, wo er eher Recht hat, etwa in Bezug auf die wissenschaftstheore- tische Debatte des Bonner Philosophen Markus Gabriel mit der epistemolo- gisch ahnungslosen Verteidigerin einer positivistischen-„Wissenschaftlichkeit“ (S.137) Mai Thi Ngyuen-Kim, wie da, wo er eher nicht Recht hat, zum Bei- spiel in seiner weitestgehend argument- freien Ablehnung anderer akademischer Philosophen wie Byung-Chul Han und Richard David Precht, welcher sich, Essers Ansicht nach, „glänzend auf das Verkaufen philosophischer Heizdecken versteht“ (ebd.) – Popularität als Makel? Überhaupt f inden sich im Text zahllose schillernde Einsprengsel beziehungsweise Seitenhiebe – wie die von „Rammstein als Sündenfresser und Stellvertreter-Teddybär der deutschen Seele im Zwielichte“ (S.126) oder jene von wiederum „Han und Precht als Lieblingsgebrauchtwagenverkäufer einer insgeheim vulgär-religiösen Dus- seligkeit mit philosophischem Zucker- gussanstrich“ (S.105) oder auch die selbstredend gänzlich unbegründete Behauptung: „War die Frankfurter Schule der 1960er schon schiefge- wickelt, potenziert sich dies bei ihren Schülern“ (S.52). Besonders irritie- rend ist eine als Exkurs markierte seitenlange Pauschalverdammung der gesamten zeitgenössisch-akade- mischen Philosophie, die ihm offenbar durchweg als absichtliche Zeitver- schwendung (vgl. S.84) und „verbeam- tetes Ballett der Mittelmäßigen“ (S.83) gilt. Bereits das Innehaben eines Lehr- stuhls mit dem zugehörigen „reputa- tionsunabhängigen Gehalt“ (ebd.) gilt solch schalem Populismus auf der Suche nach dem ‚Neuen‘ im Denken mutmaßlich als Zeichen äußerster intellektueller Korrumpiertheit. Da mit den zahlreichen Verweisen auf die Populärkultur, insbesondere 394 MEDIENwissenschaft 03/2024 aus dem Filmbereich, ähnlich erratisch verfahren wird, entsteht so stellenweise der unangenehme Eindruck bloßen Namedroppings, vor allem aber der einer geradezu furchtbaren Undifferen- ziertheit, welcher dann schon einmal so gegensätzliche Autor:innen wie Caro- lin Emcke, Sido und Henryk M. Bro- der als ein und dasselbe, nämlich als Polemiker:innen, erscheinen (vgl. S.53). Das jeweilige Wofür oder Wogegen erscheint fast schon irrelevant, was bei einer funktionalen Analyse nur folge- richtig wäre, bei einer (Meta-)Polemik wie der vorliegenden aber doch einiger- maßen irritiert. Vorbildlich demons- triert der Text so insgesamt, was für das rhetorische Streiten hoch zu Ross ohne jedes Pardon für Andersdenkende durchgängig gilt: Die argumentative Hohlheit sticht besonders dort negativ ins Auge, wo die Leser:innen die Über- zeugungen der Polemiker:innen nicht teilen, zwingt sie aber auf fast schon magisch-mimetische Weise auf deren Niveau herab. Jürgen Riethmüller (Stuttgart) Um es gleich vorweg zu nehmen: Das von Sebastian Schädler vorge- legte Buch ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Schon das handliche (Taschen-)Format fällt aus dem Rah- men, der Zugang noch mehr. Denn die hier versammelten zehn „Essays zu ausgewählten Medientheorien und deren Bezug zu aktuellen politischen Debatten“ (Klappentext) entziehen sich ganz bewusst einer Systema- tik. Sie orientieren sich an den fünf Begriffen ‚Linearität‘, ‚Authentizität‘, ‚Identität‘, ‚Kompetenz‘ und ‚Körper‘ und werden im Sinne einer Spiegelung eingeführt und dann wiederum ausge- führt. Das heißt, man kann die fünf Einführungen linear lesen und wendet im Anschluss das Buch, um dann die fünf Ausführungen zu lesen. Oder man liest, so wie der Rezensent vorgegan- gen ist, eine begriffliche Einführung, dreht das Buch und liest die begriff- lich dazugehörige Ausführung, auch wenn diese dann lediglich punktuell weiterführt, anderweitig kontextu- alisiert und schließlich teils thesen- haft abrupt endet. Die den jeweiligen Essays zugeordneten Bilder sind keine ausschließlichen Bezugnahmen oder Sebastian Schädler: BilderBildung. Medien und Politik: 5 Einführungen | 5 Ausführungen Berlin: Bertz + Fischer 2023, 257 S., ISBN 9783865057730, EUR 18,- Medien / Kultur 395 bloße Illustrationen, sie beanspruchen eine Eigenständigkeit, sind als dem Text gleichwertig zu lesen. Das hat in der Gesamterscheinung den Effekt, dass man dem gerade Gelesenen und Gesehenen unmittelbar wiederbegeg- net. Unterbrechungen finden statt, wenn die Bilder kopfstehen. Die Ent- scheidung zum Essay als Textsorte wird der Auseinandersetzung gerecht. So sind Assoziationen, Montagen und durchaus persönliche Einlassungen möglich, die in einer wissenschaft- lichen Argumentation eher Irrita- tion hervorrufen, ohne dass das den Gehalt und seine Kritik an bestehen- den Problemen – wie dem gegenwär- tigen deutschen Bildungssystem oder spezifischen Formen der Mediennut- zung – schmälert. Vielmehr gewinnt dadurch die Beschäftigung mit den diskursiv aufgeladenen Begriffen; es geht dem Autor hier nicht um eine bloße theoretische Einordnung, Her- leitung oder gar Genealogie. Auf der Textebene resultieren – als Praxis der Theorie und aus der Verknüpfung ide- engeschichtlicher wie philosophischer Fragmente, historischer Entwick- lungen und Alltagsbeobachtungen – Antworten auf Fragen der Gegen- wart (so z.B., warum eine reine Erhö- hung der Handlungsfähigkeit von Medienkompetenz reaktionär ist). Ganz verschiedene Autor