www.medienobservationen.de 1 Bernd Scheffer Loblied auf die Melancholie Der Text singt – mit vielen literarischen Beispielen aus einer langen kulturellen Tra- dition der Melancholie – ein Loblied auf die Melancholie, indem sie von der Depression abgehoben, vor allem aber, indem sie gegen das positiven Denken und den maßlosen Optimismus ins Feld geführt wird. Die positiven Effekte der Melancholie, der Zweifel, die Nachdenklichkeit, wirken gerade in Krisenzeiten. Doch Vorsicht und Kritik ist dort geboten, die sie ihre Sensibilität verliert, zur Pose erstarrt und wo sie überschwäng- lich gefeiert wird. Der Mensch, durchtrieben und gescheit, Bemerkte schon seit alter Zeit, Daß ihm hienieden allerlei Verdrießlich und zuwider sei. Die Freude flieht auf allen Wegen; Der Ärger kommt uns gern entgegen. Gar mancher schleicht betrübt umher; Sein Knopfloch ist so öd und leer […] Im Durchschnitt ist man kummervoll Und weiß nicht, was man machen soll. (Wilhelm Busch)1 Viele kennen die wunderbare Anekdote von dem Mann, der einen Arzt wegen seiner Melancholie aufsucht. Der Arzt empfiehlt einen Besuch beim Zirkus, der gerade in der Stadt ist. Der dort auftretende Clown werde ihn gewiss zum Lachen bringen. Der Mann antwortet: „Ich bin der Clown!“ Wie könnte diese Geschichte weitergehen? Was rät man dem Clown? Wie könnte er aus seinem Talent zur Komik für sich selber Gewinn zie- hen? Melancholie kann durchaus lebensfroh werden, vor allem dann, wenn man sich die eigene Melancholie radikal erlaubt und eben nicht 1 Wilhelm Busch: Balduin Bählam. Maler Klecksel. Hg. Friedrich Bohne. Zürich 1974, S. 9. Dieser Artikel erschien am 03.07.2023 in der Zeitschrift Medienobservationen. Er ist durch die DNB und media/rep/ archiviert www.medienobservationen.de 2 anhaltend mit ihr hadert, wenn man sich die eigene Melancholie nicht dau- ernd auch noch als eigenes Versagen vorwirft, sondern im Gegenteil den angeblichen Mangel in voller Überzeugung als Gewinn, als Vorteil ver- steht. Dostojewski schreibt: „Leiden und Schmerz sind in jedem Fall un- abdingbar für ein umfassendes Bewusstsein und ein tiefes Herz.“2 Ro- mano Guardini attestiert dem Schwermütigen, dass er „die tiefste Bezie- hung zur Fülle des Daseins“ unterhalte und „tief empfänglich sei für den Wertreichtum und die Schönheit der Welt.“3 Und man könnte weitere, unzählige prominente Statements anführen, die den angeblichen Mangel der Melancholie geradezu als Glück verstehen. Die Depression ist unerträglich, aber mit der Melancholie lässt sich hingegen ganz gut oder sogar ganz schön leben, zumal dann, wenn sich wenigstens gelegentlich ihre produktive Kraft zeigt, wenn sie sich äußern kann: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide“, schreibt Goethe in seiner Elegie.4 Die Abgrenzung der ‚gesunden‘ Melancholie von der ‚pathologischen‘ Depression ist frei- lich problematisch, weil es ja viele Übergänge gibt, weil jeder starken und länger andauernden Melancholie durchaus die Depression droht, gleich- wohl kann man (durchaus anders als etwa Sigmund Freud in seiner Arbeit „Trauer und Melancholie“ von 1917) die Melancholie von der Depression unterschieden: Nicht jede Melancholikerin, nicht jeder Melancholiker ist depressiv. Vielleicht ist diese Melancholie gerade der Schutzwall vor der Depression. Eine Melancholie, die sich sichtlich von einer Depression unterschei- det, müsste nicht unbedingt behandelt werden, schon gar nicht, wenn die sogenannte Selbstoptimierung dann wieder nur die Oberflächlichkeit ei- nes „Take it easy!“, eines „Don‘t worry, be happy!“, diese Art des maßlo- sen positiven Denkens, also wieder nur eine derartige gesellschaftliche Er- wünschtheit betrifft. 2 Zitiert nach Julia Kristeva: Schwarze Sonne. 3. Aufl. Frankfurt/M. 2018, S. 188. 3 Zitiert nach Ulrich Horstmann (Hg.): Die Untröstlichen. Ein Melancholie-Lesebuch. Darmstadt 2011, S. 11. 4 Goethe: Marienbader Elegie (Motto). Siehe auch: Torquato Tasso: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.“ DKV, V. 3432f. Dieser Artikel erschien am 03.07.2023 in der Zeitschrift Medienobservationen. Er ist durch die DNB und media/rep/ archiviert www.medienobservationen.de 3 Gegen das maßlos positive Denken Am deutlichsten abzugrenzen ist die Melancholie von dem maßlosen „po- sitiven Denken“ (mit Betonung auf „maßlos“), von den haltlosen massen- haften Glücksversprechungen. Wer andauernd glücklich sein will, wird mit Sicherheit unzufriedener. Selbstverständlich gibt es gleichermaßen keiner- lei Verpflichtung zur Dauer-Melancholie, zu einer ständigen vorauseilen- den Wehleidigkeit. Selbstverständlich gibt es auch einen unrealistischen, um nicht zu sagen blödsinnigen, hypochondrischen Pessimismus, mit dem niemandem geholfen ist, am wenigsten denjenigen, die ihn haben. Es mag in vielen Situationen berechtigt sein, jemanden an positive Dinge zu erin- nern, aber der Ratschlag oder der Befehl „Denk doch einfach positiv!“ nimmt zuweilen absurde Formen an. Monty Python zeigt das in Life of Brian: Noch am Kreuz hängend soll man singen „Always look on the bright side of life!“ Als der letzte DDR-Chef Egon Krenz angesichts des unwiderruflichen Untergangs der DDR buchstäblich das heulende Elend bekam, soll ihn jemand tröstend in den Arm genommen und verkündet haben: „Das wird schon wieder!“ Es gibt tatsächlich Schriften, die den Krebs als Eintrittskarte ins wahre Leben feiern.5 Melancholiker wissen, dass das Versprechen vom „wahren Leben“ und von dem „wahren Selbst“ kaum etwas anderes ist als eine grobe Fahrlässigkeit. „Selbst die Robustes- ten unter uns wissen (…), dass eine feste Identität Fiktion bleibt.“6 Die maßlosen Optimisten negieren auch noch jeden berechtigten Hin- weis auf Probleme. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagt der bekannte, beliebte und immer gut gelaunte Fernsehmoderator Kai Pflaume: „Für mich war das berühmte Glas schon immer halbvoll. (…). Meine Haltung ist grundsätzlich: Das wird schon irgendwie gutgehen. Was die Weltlage angeht, haben wir vielleicht in zwanzig Jahren Lösungen ge- funden, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können.“7 Eher ist wohl zu befürchten, dass in zwanzig Jahren wenig oder gar nichts besser geworden ist. Zugegeben, es gab auch schon schlechtere Zeiten und 5 Vgl. Anton A. Bucher: Das Glück des Traurigseins. 2018, S. 72. 6 Kristeva: Schwarze Sonne (wie Anm. 2), S. 263. 7 Johanna Adorján: „"Ich bin schon der Typ, der im Aufzug etwas sagt, wenn alle anderen schweigen"“. Süddeutsche Zeitung. https://www.sueddeutsche.de/le- ben/klein-gegen-gross-fernsehen-ehrenpflaume-youtube-ddr-1.5673937, 15.10.22 (14.06.23). Dieser Artikel erschien am 03.07.2023 in der Zeitschrift Medienobservationen. Er ist durch die DNB und media/rep/ archiviert www.medienobservationen.de 4 natürlich auch schlechtere Tage als den heutigen. Der Standard-Satz der notorisch Gutgelaunten: „Wer weiß, wozu es gut ist!“ lässt sich durchaus sinnvoll ergänzen durch den Satz: „Wer weiß, wozu es ist schlecht ist!“ Selbstverständlich sind Melancholiker keine Optimisten, sondern eher Pessimisten, aber ihr Realismus, ihre realistische Einschätzung der Dinge ist häufig treffsicherer als die Blauäugigkeit der Optimisten. Dafür gibt es viele wissenschaftliche Belege; das Buch von Anton A. Bucher Das Glück des Traurigseins ist voll davon. Nicht nur Pessimismus, sondern auch Opti- mismus kann Leben kosten: Wenn man zu spät an Flucht denkt, aus Na- zideutschland zum Beispiel. Der Musiker und Kabarettist Georg Kreissler soll gesagt haben: „Die Pessimisten landeten in Beverly Hills und die Op- timisten in den Vernichtungslagern!“ Warnungen zu diskutieren, ist in den allermeisten Fällen sinnvoller, als Entwarnungen ungeprüft zu akzeptieren. Sogar der sog. „böse Blick“ ist hellsichtiger als die melancholie-freie Blauäugigkeit. König Midas, der alles in Gold verwandelte, was er berührte und somit alles „goldig“ fand und eben deswegen auch überhaupt nichts mehr unterscheiden konnte, konnte alles Mögliche tun, aber er konnte kein genauer Beobachter von Weltläu- fen sein. Sorgfältige melancholische Befunde haben meistens recht. Hartmut Böhme schrieb vor 12 Jahren: „Die traumatischen Erfahrungen unserer Gesellschaft im Faschismus und Krieg, die niemals angemessen aufgear- beitet wurden, verbinden sich heute mit der Hoffnungslosigkeit, dass die erdrückenden militärischen, ökologischen und sozialen Bedrohungen, welche erstmals in der Geschichte den Bestand der Menschheit gefährden, nicht mehr lösbar sind. (…) Die Träume des Fortschritts sind ausge- träumt.“8 Woher kommt die Melancholie? Man kann die sogenannte Veranlagung als Ursache nennen oder schlimme Erfahrungen in Kindheit und Jugend oder auch besondere, traumatische Belastungen im Erwachsenenalter, so wie sie von Julia Kristeva beschrie- ben wurden: 8 Horstmann: Die Untröstlichen. (wie Anm. 3), S. 177 bzw. 182. Dieser Artikel erschien am 03.07.2023 in der Zeitschrift Medienobservationen. Er ist durch die DNB und media/rep/ archiviert www.medienobservationen.de 5 Die Kränkung, die mir gerade zugefügt wurde; dieses oder jenes Scheitern in der Liebe oder im Beruf, dieser Schmerz oder jene Trauer, die die Beziehungen zu meinen nächsten in Mitleidenschaft ziehen: das sind nicht selten die leicht auszumachenden Auslöser meiner Verzweiflung. Ein Verrat, eine tödliche Krankheit, jener Unfall oder jene Behinderung, die mich abrupt der von mir als nor- mal erachteten Kategorie der normalen Menschen entreißt oder die mit der gleichen radikalen Auswirkung einem Wesen; das ich liebe oder schätze, widerfährt (…) Die Liste der Heimsuchungen, die tagtäglich über uns hereinbrechen, ist endlos… Dies alles ver- setzt mich schlagartig in ein anderes Leben.9 Erwachsenwerden, das bedeutet nun einmal zwangsläufig, dass man eine Reihe schmerzlicher Trennungen zu verkraften hat. Die Psychoanalyse nennt „Geburt, Abstillen, Trennung, Frustration, Kastration. Diese Ope- rationen, ob real, imaginär oder symbolisch, strukturieren notwendiger- weise unsere Individuen.“10 Aber eigentlich betrifft die Melancholie alle Menschen, besonders dann, wenn eine Beobachtung, eine Reflexion des eigenen Zustands und des Zustands der Welt vorausgeht. Vor allem das Wissen um die eigene Sterblichkeit stimmt uns melancholisch. „Das Missverhältnis zwischen der Unendlichkeit der Welt und der Endlichkeit des Menschen ist ein ernster Grund zur Verzweiflung; (…).“11 „Schwermut ist das Merkmal der Sterb- lichkeit.“12 – oder um wieder mit Wilhelm Busch zu sprechen: „Denn hin- derlich wie überall, ist stets der eigne Todesfall.“13 Wenn man das vorträgt, lachen die Zuhörinnen und Zuhörer, und genau auf dieses Lachen kommt es hier an. Die Erfahrung, dass wir Menschen Bewusstsein haben, sei per se eine melancholische Erfahrung, meint Julia Kristeva und sie kann viele promi- nente Zeugen für diese These beibringen. Haben denn sonnige Gemüter gar kein Bewusstsein oder nur eines, das vor lauter Fröhlichkeit stark 9 Kristeva: Schwarze Sonne (wie Anm. 2), S. 11. 10 Ebd., S.143. 11 E. M. Cioran, zitiert nach Horstmann: Die Untröstlichen (wie Anm. 3), S. 115. 12 Robert Burton, zitiert nach Bucher: Das Glück des Traurigseins (wie Anm. 5), S. 83. 13 Wilhelm Busch: „Der Maulwurf“. Wilhelm Busch. Hundert Gedichte. 1. Aufl. Hg. Gudrun Schury. Berlin 2007; S. 82-84, hier S. 84. Dieser Artikel erschien am 03.07.2023 in der Zeitschrift Medienobservationen. Er ist durch die DNB und media/rep/ archiviert www.medienobservationen.de 6 verkümmert ist, ein Appendix also? Eine gewisse „Bewusstlosigkeit“ cha- rakterisiert tatsächlich die brüllende Fröhlichkeit der Ballermänner und Ballerfrauen. Wie geht man gut mit der Melancholie um? Wirklich brauchbar ist hier ein einziger Ratschlag, der merkwürdigerweise in den entsprechenden Schriften gar nicht oder nur verdeckt auftaucht, nämlich der Ratschlag der radikalen Erlaubnis: Dann wird der Mangel der Melancholie zum Gewinn. Denn wer sich im Gegenteil die eigene Melan- cholie dauerhaft übelnimmt, hat ja nicht nur das eine Problem der Melan- cholie, sondern ein zweites schlimmeres Problem oben drauf, nämlich das der eigenen Verdammung der eigenen Melancholie, an der man angeblich selbst schuld ist. Da kann man doch nur sagen: Lasst es doch bei einem Problem. Was bleibt einem schon anderes übrig als radikale Akzeptanz? Das ist die einzige Form des positiven Denkens, die dauerhaft akzeptabel erscheint. „Es ist o. k., wie du bist, zuweilen furchtbar schwierig, aber manchmal halt auch interessant und erheiternd. Und es wird sich auf der weiten Welt wohl auch noch jemand finden, der dich für liebenswert hält. Zur Not geht’s aber auch im Alleingang!“ Das Loblied Es besteht keinerlei Notwendigkeit, die Melancholiker uneingeschränkt zu feiern, denn ihr Verhalten kann auch zu einem Ärgernis werden. Unge- achtet dessen, dass die Melancholiker persönlich an ihren eigenen morali- schen Standards scheitern, ihre moralischen Anforderungen an andere Menschen, an die Welt insgesamt sind auffällig hoch, nichts selten gera- dezu peinlich hoch, zumal dann, wenn ihr Privatleben alles andere als vor- bildlich erscheint. Narzisstisch verletzt und dergestalt schwer geknickt, hält man der Welt nur noch den erhobenen Zeigefinger der Dauerempö- rung entgegen: Die Lebensfreude darf erst nach der erfolgreichen Revo- lution kommen (fordert z. B. Theodor W. Adorno in den „Minima Dieser Artikel erschien am 03.07.2023 in der Zeitschrift Medienobservationen. Er ist durch die DNB und media/rep/ archiviert www.medienobservationen.de 7 Moralia“).14 Doch man darf sich auch einmal freuen oder glücklich sein, auch wenn der Klimawandel noch nicht restlos gestoppt ist. Der Standort der melancholischen Beobachtung ist also durchaus wa- ckelig: Auffällig ist die ständige Selbstbeobachtung und die fortlaufende Bewertung der eigenen Person, ebenso überkritisch wie grandios. Melan- choliker sind Tagträumer – mit allen Vorteilen und Nachteilen. Melancho- liker stehen eben nicht wie andere, wie man so sagt: mitten im Leben, sondern im Versuch, ihre Lebensprobleme zu lösen, beziehen sie sich in erheblichem Maß auf die eigene Innenschau oder auf das was, sie aus Bü- chern, vorzugsweise aus der belletristischen Literatur kennen – und die ist selten, wenn sie denn gut ist, sachgerecht. Melancholiker sind keine Teamplayer. Sie arbeiten durchaus gerne al- lein – und auch das hat neben den Nachteilen nunmehr große Vorteile – ihre Weltbeobachtungen werden nicht sogleich entschärft durch kommu- nikative Koordination und Kompromisse. Insbesondere Kunst und Lite- ratur sind auch deshalb bedeutsam, weil sie sich eben nicht von vornherein nach den Erwartungen der anderen richten. Hellsichtige Schriftstellerei ist wohl eine eher einsame Tätigkeit, als gewissermaßen notwendige Bedin- gung ihrer Möglichkeit. Ein Loblied auf die Melancholie kann nur die produktive, vielleicht so- gar seltene Seite der Melancholie betreffen – und nicht die Lähmungser- scheinungen, die mit der Depression einhergehen, die sich dann in purer Sprachlosigkeit oder in Starrsinn, Rechthaberei, narzisstischer Kränkung oder purer Arroganz manifestieren: Nur ich allein durchschaue die Welt in meinem unsäglichen Leiden an ihr, alle anderen Zeitgenossen sind blöd oder korrupt. So betrifft das Loblied auf die Melancholie vor allem die Nachdenk- lichkeit, den Zweifel, die Reflexion, also stets den Tiefgang des Denkens und alle produktiven Äußerungen des Denkens, Fühlens und Handelns, die zuweilen daraus erwachsen können – vom Mitleid bis zum künstleri- schen Werk. Schon Aristoteles hat die Melancholie aus der Gruppe der Krankheiten herausgenommen, sie also nicht mehr pathologisiert, son- dern in der menschlichen Natur verortet. Auch das folgende Zitat wird Aristoteles zugeschrieben: „Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Menschen in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten 14 Vgl. Adorno, Theodor W.:Minima moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. 27. Aufl. Frankfurt 2011. Dieser Artikel erschien am 03.07.2023 in der Zeitschrift Medienobservationen. Er ist durch die DNB und media/rep/ archiviert www.medienobservationen.de 8 als Melancholiker“?15 Erst die christliche Theologie macht den anhalten- den Trübsinn wieder zur Sünde. Und, wen überrascht das: Protestanten sind ungleich melancholischer als Katholiken, weil die Protestanten bei Problemen die Schuld ungleich stärker bei sich selber suchen sollen. Loblied auf die Melancholie Ein Loblied auf die Melancholie betrifft die Verteidigung der Reflexion, die unbedingte Bevorzugung des Tiefgangs, immer dort und dann und ge- rade dann, wenn sich andererseits leichtfertige Oberflächlichkeit als maß- loses positives Denken breitmacht. Melancholiker haben eine gute Aus- sicht, sensibel zu sein für menschliches Leid, für das Leiden anderer, durchaus auch in der narzisstischen Annahme, das eigene Leid könne wo- möglich auch das Leid einiger anderer sein. Melancholiker haben im Ide- alfall eine gute Möglichkeit gefunden, von sich auf andere zu schließen: Mitgefühl, Mitleid, Spiegelneuronen… Die Melancholie ist die womöglich bedeutsamste Muse des intellektu- ellen und künstlerischen Schaffens. Produktivität erwächst zwar nicht al- lein, aber eben auch wesentlich aus fundamentaler Ent-Täuschung. Die fundamentalen Täuschungen der oberflächlichen, brüllenden Fröhlichkeit werden vollkommen durchschaut. Wie viele bedeutende Persönlichkeiten aus dem Bereich der Kultur, wie viele bedeutende Schriftstellerinnen, welche bedeutende Schriftsteller waren definitiv keine Melancholiker? Wie viele sind gesund alt geworden? Wie viele sind dem Wahnsinn verfallen oder haben sich das Leben genom- men? Hölderlin, Kleist, Stifter, Lenau, Keller, Trakl, van Hoddis, Kafka, Lena Christ, Celan, Bachmann, um nur einige wenige deutschsprachigen Autorinnen und Autoren zu nennen. Es beginnt spätestens mit Walter von der Vogelweide: „Ich saz uf eime steine“, und die gesamte Körperhaltung, der gebeugte Nacken, der in die Hand gestützte Kopf, das hängende Bein, 15 Aristoteles, Problemata Physica XXX, 1, in: Aristoteles, Problemata Physica. Übers. V. H. Flashar, Darmstadt 1962 (= Aristoteles, Werke in deutscher Über- setzung, hrsg. V. E. Grumach, Bd. 19), S. 250. Strenggenommen sind die Prob- lemata Physica pseudo-/nacharistotelische Schriften und das hier zitierte Kapitel ordnet die neuere Forschung Theophrast zu. Vgl. auch Eijk, Ph.J. van der: Aris- toteles über die Melancholie, Mnemosyme Vol XLIII, 1–2 (1990), S. 33–72. Dieser Artikel erschien am 03.07.2023 in der Zeitschrift Medienobservationen. Er ist durch die DNB und media/rep/ archiviert www.medienobservationen.de 9 ebenso vielleicht wie das abgelegte Schwert und der Vogel im Käfig, ja, die fehlende Körperspannung drücken diese Melancholie aus: (Abb. 1: Walther von der Vogelweide im Codex Manesse) Bedeutsame Philosophen verkünden alles andere als die „Leichtigkeit des Seins“: Sie glauben im Gegenteil eher an die „Seichtigkeit des Leims“, auf den man mit dem maßlosen positiven Denken geht: Michel de Mon- taigne, Blaise Pascal, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Sören Kier- kegaard, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, bis hin zu Julia Kristeva und Jean Starobinski, die wunderbare Bücher über die Melancholie ge- schrieben haben, sicher nicht ohne eigene Affinität zum Thema.16 In Krisensituationen kann die Melancholie endlich einmal ihre Vorteile ausspielen: Seit langem ist bekannt, dass Melancholiker, weil sie nun ein- mal eher introvertiert sind, Isolation, Lockdowns und Shutdowns ungleich besser ertragen als die Extravertierten. Endlich punkten auch einmal die 16 Vgl. Starobinski, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900. 2. Aufl. Berlin 2016 (Originalausgabe 1960) und Engelhardt, Dietrich von u. a. (Hg.): Melancholie in Literatur und Kunst. Hürtgenwald 1990. (Guido Pressler) Dieser Artikel erschien am 03.07.2023 in der Zeitschrift Medienobservationen. Er ist durch die DNB und media/rep/ archiviert www.medienobservationen.de 10 Melancholiker. Allerdings wird die Sache oft auch in einer Art Flucht nach vorne geradezu umgedreht: Dann nämlich, wenn behauptet wird, dass es keine süßere Freude im Leben gäbe als die Melancholie. „Alle meine Freu- den sind im Vergleich dazu Torheit, nichts ist so süß wie Melancholie!“17 (Er muss es ja wissen, denn sein Buch über die Melancholie umfasst im- merhin 1300 Seiten mit 6800 Fußnoten – und das im Jahr 1621!). „Ja, meine Schwermut ist die treueste Liebhaberin, die ich kennengelernt, was Wunders da, daß ich wiederliebe:“18 Oder um mit Françoise Sagan zu spre- chen: „Bonjour Tristesse!“ Oder gesteigert mit Marguerite Duras: „Hiros- hima mon amour“. Es würde Sinn machen, darüber nachzudenken, inwiefern sich weibli- che Melancholie der Tendenz nach von der männlichen unterscheidet. Hier ein Zitat Julia Kristevas, die viel zu hart mit der Melancholikerin ins Gericht geht: Die Melancholikerin ist jene Tote, die immer schon innerhalb ihrer selbst verlassen wurde und die niemals außerhalb ihrer selbst wird töten können. Schamhaft, schweigsam, ohne Bindung durch Wort oder Begehren an die Anderen verzehrt sie sich darin, sich selbst moralische und psychische Schläge zuzufügen, die ihr dennoch keine ausreichende Befriedigungen verschaffen.19 Das beschreibt, wenn überhaupt, eher die Depression als die Melancholie. Diese ist nicht die Vorstufe zur Depression, sondern der Schutzwall vor ihr. Der Blick auf die weibliche Melancholie kann daher sichtbar machen, was für die Melancholie grundsätzlich gilt.20 Der melancholische Alleingang kann zwar nicht alle Probleme des Le- bens lösen, aber als einer von mehreren Bausteinen einer guten, würdigen Lebensbewältigung ist er unentbehrlich. Die Melancholiker haben allen Grund, ihre eigene Melancholie zu verteidigen: Es gibt in der Tat so etwas wie einen lebensfrohen Pessimismus. Das ist die Melancholie in Bestform, um die es hier geht. 17 Robert Burton, zitiert nach Völker, Ludwig: Komm, heilige Melancholie. Eine An- thologie deutscher Melancholie-Gedichte. Mit Ausblick auf die europäische Melancholie-Tra- dition in Literatur- und Kunstgeschichte. Stuttgart 1983, S. 332. 18 Kierkegaard, zitiert nach ebd. S. 523. 19 Kristeva: Schwarze Sonne (siehe Anm. 6), S. 38. 20 In diesem Sinne verwendet dieser Beitrag das generische Maskulinum. Dieser Artikel erschien am 03.07.2023 in der Zeitschrift Medienobservationen. Er ist durch die DNB und media/rep/ archiviert www.medienobservationen.de 11 Wilhelm Busch, Komödianten, Clowns, Menschen, die lustige Sachen verbreitet haben, sollen überzufällig häufig Melancholiker gewesen sein. Kierkegaard schreibt: „Der Melancholische hat am meisten Sinn für das Komische.“21 Und wie macht man das praktisch? Man halte es da wie Gerhard Polt und begrenze die Melancholie auf eine einzige Stunde am Tag: Gegen 17:00 Uhr schenkt er sich ein Weißbier ein (bei anderen könnte es auch Likör oder Grappa sein) und dann resigniert er – eine Stunde lang und damit Schluss! 21 Zitiert nach Völker: Komm, heilige Melancholie. (wie Anm. 15), S. 535. Dieser Artikel erschien am 03.07.2023 in der Zeitschrift Medienobservationen. Er ist durch die DNB und media/rep/ archiviert