Jonas Frick Computer Liberation Digitale Gesellschaft 65 Jonas Frick (Dr.), geb. 1988, forscht als Literaturwissenschaftler zu Digitalisierung, Be schleunigung, Logistik und Kältepolitik. Jonas Frick Computer Liberation Zur Imaginationsgeschichte der Computer- und Netzwerkkultur, 1960-2000 Die Open-Access-Ausgabe wird publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Na tionalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dn b.de/ abrufbar. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfälti gung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wieder verwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigun gen durch den jeweiligen Rechteinhaber. 2025 © Jonas Frick transcript Verlag | Hermannstraße 26 | D-33602 Bielefeld | live@transcript-verlag.de Umschlaggestaltung: Maria Arndt Lektorat: Marlene Kienberger Druck: Elanders Waiblingen GmbH, Waiblingen https://doi.org/10.14361/9783839476345 Print-ISBN: 978-3-8376-7634-1 | PDF-ISBN: 978-3-8394-7634-5 Buchreihen-ISSN: 2702-8852 | Buchreihen-eISSN: 2702-8860 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. https://dnb.dnb.de/ https://dnb.dnb.de/ https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de https://doi.org/10.14361/9783839476345 Inhalt Einleitung ......................................................................................9 Forschungsinteresse ........................................................................... 14 Eine ewige Wiederkehr des Technikoptimismus ................................................. 22 Weitere methodische Anmerkungen ............................................................ 25 Zum Aufbau des Buches ....................................................................... 30 1. Vom Mainframe zum Personal Computer ................................................. 43 Freund und Feind: Der Computer in der Science-Fiction-Literatur der 60er- und 70er-Jahre ....... 43 Vom Großrechner zur Computer Utility: Netzwerkimagination und Computerforschung zwischen Effizienzparadigma, Markt und Demokratieversprechen ................................ 69 2. Gegenkultur und die Computer ........................................................... 99 Gegenkultur und Gegenöffentlichkeit ........................................................... 99 Auf der Suche nach der elektronischen Utopie: Der Whole Earth Katalog und die Kybernetik ....... 109 Das ›Revolutionäre‹ am Personal Computer .....................................................128 Small is Beautiful .............................................................................. 137 Gegenkultur und New Left: Die einseitige Debatte zwischen der People’s Computer Company und den Computer People for Peace ............................................................143 Die Vernetzung des Lokalen: Demokratische Entscheidungsfindung und Community Memory ...... 152 Phreaking, Hacking und die TAP: Der Hacker als subversive Figur im Computernetzwerk .......... 164 Alternativkultur in Europa: Sand im Computergetriebe ........................................... 169 3. Der Computer als konviviale Technologie ................................................183 Learning Machine: Vernetztes Lernen am Computer als demokratisierte Wissensvermittlung .......183 PLATO: Die Simulation zwischen Emanzipation und Kontrolle .....................................188 Die kreativen Möglichkeiten des Computers .................................................... 204 Informationsverarbeiter, Informationsgesellschaft und LSD: Radical Software ....................210 Computer Liberation/Dream Machine ...........................................................215 Programmieren, Software und die Frage des Eigentums ........................................ 234 4. Computer – Machine of the Year ......................................................... 253 Der Erfolg des Personal Computers und die Erfindung des Cyberspace ........................... 253 Das effiziente Zähmen der Daten: »[H]ow to turn a sea of data in data you can see« ............ 274 »The Computer, Machine of the Year«: Akzeptanzsteigerung durch Freiheitsversprechen ........ 279 Die verratene Revolution: Interventionen und Kommentare zur Entwicklung der Computerindustrie ........................................................ 293 Die Expansion der Computernetzwerke ........................................................ 303 5. Cyberpunk ...............................................................................313 Cyberpunk und die Cyberspaceimaginationen ...................................................313 ›Low Life‹ gegen ›High Tech‹ ................................................................. 323 Reality Hackers: Non-fiction-Cyberpunk und ›a life beyond limits‹ .............................. 352 ›Information wants to be free‹. Die HackerInnen-Ethik und die Neukontextualisierung der HackerInnen ............................................... 370 6. Welcome to Cyberspace ................................................................. 387 Vom Internet zum Web ....................................................................... 387 Cyberspace und Cyberkultur in der (populär-)wissenschaftlichen (Selbst-)Reflexion ...............413 Die Welt als reine Information und der Cyberspace als ›Queer Space‹? Die MUDs als wichtiger Reflexionsraum für die Cyberkultur ..................................... 475 7. Postcyberpunk im Virtual Reality Wonderland ........................................... 499 Cyberpunk 2.0 zwischen Abdankung und Fortleben ............................................. 499 »Virtual Sex, Smart Drugs and Synthetic Rock ’n’ Roll« .......................................... 505 VR zwischen kultureller Imagination und tatsächlichen Anwendungen ........................... 520 Literarischer (Post-)Cyberpunk: Der Cyberspace als VR-Welt und Shoppingmall .................. 549 8. Cyberlibertarianism und Cyberutopianism ............................................... 591 The left-right fusion of free minds and free markets ............................................591 »Beyond politics«: Das Wired als Stimme der technikoptimistischen »Postpolitics« ............. 600 Die Silicon-Valley-Startup-Kultur ...............................................................621 Libertaria in Cyberspace: Vom Cyberpunk zum Cypherpunk ..................................... 660 Gott ist ein Surfer: Vom Chaos und von den FreestylerInnen als kulturellen WegbegleiterInnen der New Economy ............................................................................. 676 Republikanischer Cyberspace: Newt Gingrich und die Cyberkultur ............................... 699 How to Mutate: Die ambivalente Haltung der Cyberpunks zu den libertären und republikanischen Vorstößen .............................................. 718 9. Another World is Possible: Hacktivism und Cyberfeminismus ........................... 727 Das Entstehen einer kritischen Netzkultur ..................................................... 727 Hacktivists & Artivists: Facetten des elektronischen zivilen Ungehorsams ....................... 740 ›The desire not to be wired‹: Nettime und Netzkritik ............................................ 765 Technorealism, Access for All und die Frage, wie das demokratische Netzwerk aussehen könnte ............................................ 792 Taking Our Place in Cyberspace: Cyberfeminismus ............................................. 828 Der Cyberspace als antipatriarchaler Raum: Literarische Auseinandersetzungen mit dem Cyberspace in (cyber-)feministischen Romanen und Kurzgeschichten .................. 848 10. Fazit .................................................................................... 873 Kontinuitäten und Brüche ..................................................................... 873 Danksagung ................................................................................. 889 Bibliografie ...................................................................................891 Personenregister ............................................................................ 997 Einleitung The Internet. That word was magic to Athena. She felt as if someone had just handed her a ticket to Camelot. The Internet was the information superhighway. It was thou sands upon thousands of computers, all talking to one another in hundreds of different languages, all over the world. Millions upon millions of users, all zipping around cy berspace like hyperactive neutrons as the soared through cosmic cables. ›Oh, the place you’ll go.‹ She recalled that marvelous phrase from a Dr. Seuss Book.1 (Ted Pedersen & Mel Gilden: Pirates on the Internet [Cybersurfers 1], 1995) Das Internet – oder, den damaligen Vorstellungen folgend, auch der Information Super highway beziehungsweise der Cyberspace – erschien in den 90er-Jahren, mit utopischen Hoffnungen verbunden, als abenteuerreiches Zugangstor zur Welt, die sich im virtuellen Raum zu einer »global community«2 zusammenfinden könnte. So zumindest vermitteln es die beiden amerikanischen Autoren Ted Pedersen und Mel Gilden in ihrer Jugend buchreihe Cybersurfers (1995–1996). Die vier darunter erschienenen Romane handeln von den beiden Jugendlichen Athena, die den Computer als kreatives Medium betrachtet, und Jason, der die Welt als Hacker unsicher macht. Im ersten Band erhalten die beiden dank eines Deals ihrer Schule mit einem Internetanbieter »access to the world«3. Da für bietet ihnen eine mitgelieferte CD ein Mailprogramm, einen Client für die Bulletin- Board-Systeme und das IRC-System, eine FTP-Software und schließlich einen Gopher- wie auch einen Web-Zugang. Letzteres bilde das »most wonderful new thing on the In ternet«4, da es aus der bisher textbasierten Online-Welt ein grafisch aufgearbeitetes und interaktiveres Angebot mache. Dabei bringt das Internet als Kommunikationsmedium nicht nur die Welt und die globale Kultur in die amerikanische Kleinstadt, es funktioniert auch anders als das TV, das ebenfalls Bilder aus aller Welt präsentiert. So erklären Athe na und Jason einer skeptischen Lehrerin, dass das Internet kein passives Medium sei, sondern der aktivierenden Interaktion und dem ständigen Lernen diene. Selbst dort, wo sich eine potenzielle Gefahr auftut, erbringen Jason und Athena den Gegenbeweis: 1 Pedersen, Ted; Gilden, Mel: Pirates on the Internet, New York 1995 (Cybersurfers 1), S. 9f. 2 Ebd., S. 62. 3 Ebd., S. 14. 4 Ebd., S. 34. 10 Jonas Frick: Computer Liberation Eine HackerInnenbande, die sich ›Piraten‹ nennt, nützt Jasons Hackfähigkeiten aus, ob wohl dieser doch getreu der sich selbst auferlegten Hacker-Ethik – und getreu dem inte gren Bildungsangebot der Jugendromane – nichts stehlen will. Doch die beiden Protago nistInnen können die Machenschaften der Piraten schließlich selbstständig aufdecken, sodass der zwischenzeitlich aufgebrachte Vorwurf, dass »computers are weakening the moral fiber of our young and impressionable children«5 ins Leere läuft. Pedersen und Gilden setzen in ihren Cyberspace-Erzählungen auf die Form einer Abenteuergeschichte. Dies betrifft als konventionelles Jugendbuch nicht nur die aben teuerreichen Angelegenheiten der beiden HeldInnen, sondern ebenso die Repräsentati on des Cyberspace. Begeben sich Jason und Athena in die virtuelle Welt, dann wird dies im typografischen Stil eines MS-DOS-Fensters, vergleichbar mit einem Rollenspiel oder einem MUD6, präsentiert.7 Auch verschiedene Referenzen bringen den Cyberspace mit einem fantastischen Raum voller Abenteuer in Verbindung. Als Athena der skeptischen Lehrerin die Geschichte des Internets erzählen soll, wird etwa auf den Märchenmodus von Alice im Wunderland verwiesen: »›Athena, why don’t you tell Ms. O’Malley about the Internet?‹ Athena nodded, but said nothing for a moment. ›There’s so much‹, she said at last. ›Where do I begin?‹ ›Start at the beginning,‹ Mr. Madison said, ›and when you come to the end, stop.‹«8 Mit »Oz«9 und dem eingangs zitierten Dr. Seuss’ Oh, the place you’ll go kommen im Verlaufe der Geschichte zwei weitere Vergleiche hinzu, die den Cyberspace mit fantastischen Welten verknüpfen. Die Auswahl der drei Anspielungen ist kein Zufall. Alle drei Traumwelten deuten in ihrer eigenen Beschaffenheit bereits an, dass sich die Abenteuer des Cyberspace nicht nur als erzähltes und erfahrbares Erlebnis einer virtuel len Datenlandschaft voller neuer Möglichkeiten bemerkbar machen, sondern dass jene auch Auswirkungen auf einen Prozess gegen innen hat, das heißt, dass der Cyberspace für das eng mit dem Web-Diskurs der 90er-Jahre verbundene Jugendbuch als weitrei chende Bewusstseins- und Selbsterfahrung funktioniert. Was damit gemeint ist, zeigt sich in der Wahrnehmung der Figuren, die in der vir tuellen Welt neue Entfaltung und Selbstbestimmung finden. Für Jason bildet die Com puterwelt »the only place he really felt alive, where he was whole«10. Dabei würde er am liebsten selbst zu einem durch das Web zirkulierenden Informationspartikel werden: »If 5 Ebd., S. 125. 6 MUDs (›Multi-User Dungeon‹) sind textbasierte Online-Plattformen, die oftmals mit Rollenspielele menten insbesondere Ende der 80er- und zu Beginn der 90er-Jahre rege als virtueller Kommuni kationsraum genutzt wurden. 7 Als Beispiel hierfür kann die Cyberspaceszene dienen, als Jason sich aufmacht, die Piraten zu be eindrucken und den Server einer Gaming-Firma betritt und dabei wie in einem ›Dungeon‹ bezie hungsweise einem Pen-&-Paper-Rollenspiel auf eine veraltete Umgebung trifft: »You’re in an in dustrial main frame.//Old. Slow.//You can almost hear the gears turning, the punch cards shuff ling.//A real antique, which makes it dangerous. Hot shots zap in form Tomorrowland, breathing hot flames […]//Move slow. Act like you belong here.« (Pedersen; Gilden: Pirates on the Internet, 1995, S. 70.) 8 Ebd., S. 17. 9 Ebd., S. 45. 10 Ebd., S. 13. Einleitung 11 he had one wish and could be anything in the universe, he would become a cosmic partic le forever zapping and zinging through space and time.«11 Dieser Wunsch wird mit dem Web Wirklichkeit, denn ist Jason einmal im »universe that exists inside computer net works«12, dann wird aus dem bisherigen Traum Realität: »His brain would go a zillion miles an hour whenever he started hacking. He would completely forget about his bo dy as he jumped through cyberspace from one computer to another.«13 Entlang dieses in den 90er-Jahren auch in Erwachsenenbüchern Verbreitung findenden Phantasmas einer virtuell ermöglichten Entkörperlichung wird nicht nur der Körper vom Geist getrennt, sondern auch verschiedene Kategorien überwunden, die bisher die Geister untereinan der trennten. So erscheint der Cyberspace als ein Ort für »some gangly kid who didn’t quite fit in and stayed up too late so he could visit the one place where he felt challen ged and accepted«14, so die Beschreibung aus dem zweiten Buch der Cybersurfers-Reihe. In der »electronic frontier«15, so wiederum der erste Roman, zählt einzig Talent, wäh rend bisher wirkungsmächtige soziale Distinktionsmechanismen, wie Geschlecht oder Ethnie, in der Anonymität des Netzes aufgehoben werden: »Anyone who logged on was judged only by his or her talents. Behind the keyboard you could be any age, any sex, any race you wanted to be, and nobody would ever know.«16 Mit solch utopischen Hoffnungen auf die Möglichkeiten eines Mediums, das qua seiner egalitären Beschaffenheit verschiedene Entfremdungserfahrungen17 rückgängig macht, machten im Diskurs der 90er-Jahre auch weitere Kinder- und Jugendbücher den Cyberspace oder den Computer schmackhaft.18 In Justine Rendals A Very Personal Com puter (1995) wird beispielsweise der ›very personal‹ Computer zum »best friend«19 wie zu gleich zum Ratgeber des zwölfjährigen Protagonisten mit dem Namen ›Pollard‹, der »had trouble fitting in«20. So hilft der Computer Pollard dabei, mit dem Verlust seines Hun des oder mit dem fehlenden Erfolg mit Mädchen umzugehen, indem er Simulationssi tuationen schafft, die zugleich Pollards Selbstbewusstsein wie seine Reflexionsfähigkeit stärken. Etwas kollektiver geht es in Doug Wilhelms The Revealers (2003) zu und her, in 11 Ebd., S. 11. 12 Ebd., S. 139. 13 Ebd., S. 42. 14 Pedersen, Ted; Gilden, Mel: Cyberspace Cowboy, Victoria 1997 (Cybersurfers 2), S. 125. 15 Pedersen; Gilden: Pirates on the Internet, 1995, S. 42. 16 Ebd. 17 Die Antwort auf die alte marxistische Debatte, inwiefern der Begriff ›Entfremdung‹ als politischer und analytischer Begriff taugt, sei außen vor gelassen. Es geht im Folgenden nicht darum, ›Ent fremdung‹ als besonders geeigneten Begriff für die kritische Zustandsbeschreibung stark zu ma chen, sondern um die (gerade in literarischen Bildern tradierten) Entfremdungskritiken bezie hungsweise Entfremdungswahrnehmungen, auf die das von Marx beobachtete mehrdimensio nale ›Auseinanderdriften‹ durchaus zutrifft, beispielsweise jene Distanz zwischen den produzier ten Waren und den Produzierenden oder jene geschaffene beziehungsweise wahrgenommene Di stanz zur eigenen Arbeit und Arbeitswelt. 18 Ein Überblick über die Kinder- und Jugendliteratur zum Thema Cyberspace findet sich bei Har ris, Marla: Contemporary Ghost Stories: Cyberspace in Fiction for Children and Young Adults, in: Children’s Literature in Education 36 (2), 01.06.2005, S. 111–128. 19 Rendal, Justine: A Very Personal Computer, New York 1995, S. 1. 20 Ebd., S. 6. 12 Jonas Frick: Computer Liberation dem sich drei SchülerInnen auf dem schulinternen ›KidNet‹ gegen die Mobbingdyna miken an ihrer Schule wehren. Dazu veröffentlichen sie auf dem internen Mailverteiler anonyme Berichte über Vorfälle. Die immer mehr werdenden kurzen Beiträge füllen den mehrfach versandten Sammelbericht mit dem Namen ›The Revealer‹, eine dem Compu terzeitalter angepasste Neuerfindung des »underground newspaper […] that challenges the establishment«21. So wird das (interne) Netz zum mächtigen Stimmverstärker für die Unterdrückten. Unterstützung erhalten die Jugendlichen durch den solidarischen Computerlehrer, der, so ein wiederkehrendes Motiv der Jugendliteratur, als technologie affiner DIY-Tüftler für die Entwicklung des lokalen Netzwerkexperiments verantwort lich ist und der sich dafür gegen die technikskeptischen anderen LehrerInnen durch setzen muss, die nur die Gefahren der neuen Technologie sehen. Als der Revealer auf eine anonyme Fake-Nachricht reinfällt, scheinen sich die skeptischen Stimmen zu be wahrheiten. Deshalb wird die Kommunikationsfunktion des internen Netzes von der Schulleitung ausgeschaltet. Doch nun begehren auch andere SchülerInnen auf. Sie wit tern Verrat an der Errungenschaft des neuen Mediums. Nachdem der innovative Nutzen des Netzwerkes »too powerful«22 wurde beziehungsweise die Schule Kontrolle über das Netzwerk verlor und sich dieses zu einem tatsächlich dezentralisierten Kommunikati onsnetzwerk entwickelte, will man ihnen den Netzwerkzugang wieder entziehen, so die im Geschichtsunterricht artikulierte Meinung eines Schülers.23 Mit einem Trick kann das KidNet dann doch noch gerettet werden: An einer Wissenschaftsmesse für Jugend liche präsentieren die Jugendlichen den Erfolg ihres Projektes, das gemäß Umfragen in der Schule zu einer radikalen Verminderung von Mobbingvorfällen führte, worauf die Schule sich gezwungen sieht, das Netz wieder einzuschalten. Auch die in der Cybersurfers-Reihe bereits angedeutete Überwindung realer ›Hin dernisse‹ beziehungsweise von Ungleichheitsmechanismen – »overcoming real world barriers with cyberspace technology«24, so das Versprechen eines VR-Forschers, der, basierend auf VPL-Anwendungen, zu Beginn der 90er-Jahren an einem »virtual wheel- chair« arbeitete – spielte in verschiedenen Büchern für Jugendliche eine Rolle. Rob, der Held von Michael Colemans Jugendroman Escape Key (1997), dem zweiten Roman aus der achtteiligen Internet Detectives-Reihe, sitzt beispielsweise im Rollstuhl.25 Doch diese Beeinträchtigung spielt in der virtuellen Welt keine Rolle mehr. Vielmehr zählen hier, wie schon bei Pedersen und Gilden, die Computerfähigkeiten, und diese sind, so der leider außerliterarisch nie umfassend erfüllte Traum, nicht an soziale und körperliche Hintergründe aus der Realität gebunden. Ähnlich geht es Webster, dem im Rollstuhl sit zenden Protagonisten aus Kate Brehenys Kinder-Kurzgeschichte The Super-Duper Word- Eating Computer (1999), und Christopher, der an Zerebralparese leidende VR-Nutzer in Ann E. Weiss’ Sachbuch für junge Erwachsene Virtual Reality: A Door to Cyberspace (1996), der als einleitendes Beispiel für die emanzipatorischen Anwendungsmöglichkeiten von 21 Wilhelm, Doug: The Revealers, New York 2003, S. 107. 22 Ebd., S. 171. 23 Vgl. ebd., S. 170. 24 Kuhn, Larry: The Virtual Wheelchair. Overcoming Real World Barriers with Cyberspace Technology, in: The Second International Conference on Cyberspace. Collected Abstracts, Santa Cruz 1991, S. 90. 25 Vgl. Coleman, Michael: Escape Key, New York 1997. Einleitung 13 VR-Technologien aufgeführt wird.26 Weiss ist zugleich ein Beispiel für zwei weitere Vorstellungen, die die Cyberkultur über längere Zeit prägten. Erstens vermischen sich darin VR und Cyberspaceimaginationen zu einem gemeinsamen Traum einer visu ell begehbaren Welt, die das bisherige soziale Zusammenleben revolutionieren wird. Dazu zitiert Weiss beispielsweise David Bonini, den CEO der VR-Firma Division Inc., der Großes prophezeit: »Properly done virtual reality has an opportunity to change the world.«27 Als Beispiele hierfür dienen neben den einleitenden Ausführungen zu den verschiedenen Projekten für RollstuhlfahrerInnen unter anderem das zukünftige Potenzial von virtuellen Arztbesuchen, das neue Bildungsangebot oder die virtuellen Ausbildungsmöglichkeiten. Zweitens bezieht sich Weiss auf die Verlautbarungen von Newt Gingrich, dem zeitweiligen republikanischen Sprecher des amerikanischen Reprä sentantenhauses und libertären Apologeten von Computer- und Internettechnologien. Dieser verbindet, so die affirmative Paraphrase von Weiss, den Cyberspace mit einem Machtgewinn für das Individuum und einem schrumpfenden Staat: Armed with knowledge, ordinary Americans will no longer have to leave it up to peo ple in the nation’s capital to examine the problems, dream up the solution, and write the rules and regulations intended to put those solution into place. People will deci de for themselves which solution are best and what rules are needed. […] The federal government will shrink as citizens seize more and more political power for themsel ves. Cyber-technology, Gingrich claims, is an ideal tool for taking authority away from government and giving it back to the people to whom it rightfully belongs.28 Was als Demokratieversprechen verkauft wird, ist bei Gingrich und seinen AnhängerIn nen Teil einer libertären29 Ideologie, die in der Cyberkultur regen Widerhall fand und in den Computer- und Kommunikationstechnologien mit einem neuen Individualismus, den Fortschrittsversprechen des freien Marktes, einer Ablehnung von Staat und Politik und wirtschaftlicher Prosperität in Verbindung gebracht wurde. Die stets geforder te Selbstbestimmung beziehungsweise Selbstregulierung wird darin zur Abwehr von 26 Vgl. Breheny, Kate: The Super-Duper Word-Eating Computer, in: Hookings, Elizabeth (Hg.): Cyber space, Bothell 1999, S. 4–13; Weiss, Ann E.: Virtual reality: A Door to Cyberspace, New York 1996, S. 7f. 27 Weiss: Virtual reality, 1996, S. 11. 28 Ebd., S. 104. 29 Im Folgenden wird ›libertär‹ beziehungsweise ›Libertarismus‹ als Überbegriff für eine (durch den amerikanischen Diskurs geprägte) Ideologie verwendet, die sich (mit Erfahrungen des Reagan schen Neoliberalismus im Rücken) auf unterschiedliche Aspekte der (späteren) Österreichischen Schule um Hayek und die Thesen der Chicagoer Schule um Milton Friedman bezieht – die unter einander nicht deckungsgleich sind. Charakteristisch für diesen hier beschriebenen libertären Dis kurs sind vor allem zwei Elemente. Erstens wird eine Ablehnung staatlicher Interventionen betont. Zweitens steht man, in der Cyberkultur oft auch stärker als über wirtschaftswissenschaftlich fun dierte Thesen, in enger Verbindung mit den gesellschaftspolitischen Werten des amerikanischen Libertarismus, insbesondere einem radikalen Individualismus, wofür man auf kulturell wirkungs mächtige VorläuferInnen wie Ayn Rand zurückgreifen kann. Vgl. Dahlberg, Lincoln: Cyberliberta rianism, in: Oxford Research Encyclopedia of Communication, 26.10.2017. 14 Jonas Frick: Computer Liberation staatlichen Regulationen, die Entbürokratisierung zur über den Cyberspace legitimier ten Austeritätspolitik, das Teilhabeversprechen zur Kritik aller bestehenden politischen Institutionen und deren Meinungsbildungsprozesse, der Dezentralisierungswunsch zur Apologie des Marktes und die realen wie imaginierten wirtschaftlichen Erfolgsge schichten aus dem Silicon Valley zu einer leistungsorientierten Vorgabe für den Rest des Landes verkehrt.30 Forschungsinteresse All diese einleitenden Beispiele aus fiktionalen oder populärwissenschaftlichen Texten bestehen aus (ideologisch unterschiedlich geprägten) utopischen Computerimaginatio nen, die im Folgenden für die Zeitspanne zwischen den 1960er- und den 2000er-Jahren kultur- und literaturwissenschaftlich untersucht werden.31 Damit gemeint sind die be schriebenen, eingeforderten, affirmierten, kritisierten oder, in einem utopischen Sinne, auch die bisher hegemonialen Diskurse destabilisierenden Vorstellungen und Narrati ve dessen, für was Computer stehen oder in Zukunft stehen werden.32 Darunter fallen im engeren Sinne Computerimaginationen, die sich den Möglichkeiten einzelner Gerä te widmen, Netzwerkimaginationen, die sich mit den Möglichkeiten vernetzter Geräte und dem Netzwerk selbst beschäftigen, und Cyberspaceimaginationen, die sich für den 30 Die meisten LeserInnen, die sich in den letzten Jahrzehnten intensiver oder auch nur am Rande mit der Geschichte der Cyberkultur beschäftigten, wissen um den ›Cyberlibertarianism‹; einerseits, weil dessen Geschichte intensiv aufgearbeitet wurde, andererseits, weil die Kritik daran, über die kritische Bewertung von Personen wie Peter Thiel oder Elon Musk, auch heute immer wieder öf fentlichkeitswirksam angebracht wird. Vgl. z.B. Barbrook, Richard; Cameron, Andy: The Californi an Ideology, Mute, 01.09.1995, , Stand: 24.01.2020; Dahlberg: Cyberlibertarianism, 2017; Borsook, Paulina: Cyberselfish: A Criti cal Romp through the Terribly Libertarian Culture of High-Tech, New York 2000; White, Keith: The Killer App: Wired Magazine, Voice of the Corporate Revolution, in: The Baffler (6), 1994, S. 23–28. 31 Ein Teil der Analysen über diese Imaginationen flossen vor dieser Monografie bereits in Artikel ein, z.B. Frick, Jonas: Die Zukunft selbst bestimmen. Politische Simulationen und Gegenkultur, in: Paidia – Zeitschrift für Computerspielforschung (Sonderausgabe »Marx und das Computerspiel«), 01.2021. Online: , Stand: 03.12.2022; Frick, Jonas: Neal Stephenson und das Metaverse, in: Ge schichte der Gegenwart, 24.11.2021, , Stand: 03.12.2022. 32 Der Begriff der Imaginationen ruft in der Technologiegeschichte Assoziationen zum Konzept der ›sociotechnical imaginaries‹ auf, wie ihn Sheila Jasanoff prägte. In der Tat bestehen Gemeinsam keiten: Auch bei Computerimaginationen handelt es sich um ›Visionen einer wünschenswerten Zukunft‹, die durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt verwirklicht werden könnten. Im Unterschied zur oft zitierten Definition Jasanoffs, die auf ›kollektiv gehaltene‹ und ›institutio nell stabilisierte‹ Visionen verweist, die sich in realen Infrastrukturprojekten materialisieren, fo kussiert diese Untersuchung auf eine Vielzahl an Imaginationen, die teils weniger stabil oder dau erhaft sind und die miteinander in Konflikt stehen können. Zudem widmet sich das vorliegende Buch auch Imaginationen, die stärker an der Gegenwart orientiert sind, das heißt, die Vorstellun gen davon formulieren, was der technologische Fortschritt in Form des Computers bereits in einer imaginierten Gegenwart zu leisten vermag. Im Zentrum steht zudem die politische Dimension dieser Imaginationen. https://www.metamute.org/editorial/articles/californian-ideology https://www.metamute.org/editorial/articles/californian-ideology https://www.paidia.de/die-zukunft-selbst-bestimmen-politische-simulationen-und-gegenkultur/ https://www.paidia.de/die-zukunft-selbst-bestimmen-politische-simulationen-und-gegenkultur/ https://geschichtedergegenwart.ch/neal-stephenson-und-das-metaverse/ https://geschichtedergegenwart.ch/neal-stephenson-und-das-metaverse/ Einleitung 15 computergenerierten virtuellen Raum interessieren. Alle drei Bereiche tangieren ganz unterschiedliche Fragestellungen. Erstens thematisieren literarische oder wissenschaft liche Texte das Verhältnis des Computers zum Menschen. Dabei geht es etwa um die Fra ge, wie menschliche Handlungsmacht durch Computer oder ein Netzwerk gestärkt wer den kann, welche Ablösungserscheinungen auftreten, dank derer der Computer selbst die Macht übernimmt, oder darum, welche spezifischen Personen einen besonders in teressanten Umgang mit Computern pflegen, beispielsweise HackerInnen oder Cyber punks. Zweitens geht es um die Frage, welcher gesellschaftlicher Nutzen beziehungs weise welches Potenzial Computer- und Netzwerktechnologien attestiert wird. Drittens geht es um das Verhältnis zwischen Realität und Virtualität, beispielsweise in der Frage stellung, ob der Cyberspace tatsächlich zum Raum wird, der unabhängig von der mate riellen Welt außerhalb des Bildschirms operiert, oder ob die Menschen im Cyberspace in der Lage sind, eigene soziale Regeln und Strukturen zu etablieren. Viertens geht es um das (Ordnungs-)Verhältnis von Technologie, Staat, Markt und Politik. Dieser Bereich be trifft unter anderem die Debatten darüber, wem man die Fähigkeit zur technologischen Innovation zuspricht, wie Entscheidungsfindungen im Computerzeitalter zu gestalten sind, welche Rolle der Markt in virtuellen Welten spielt, wie und ob Wissen und Techno logie vergesellschaftet werden soll oder welche Funktion man den bisherigen politischen Arenen in Fragen technologischer Regulation oder digitaler Selbstverwaltung zuspricht. Fünftens öffnen sich in verschiedenen Texten Ansätze einer ›Technopolitik‹, verstanden als Versuch, das Verhältnis von Gesellschaft und Technologie als Teil einer politischen Aushandlung zu verstehen, die sich beeinflussen lässt.33 Damit verknüpft sind auch die Fragen nach Nähe und Distanz zwischen Aktivismus und ›Computerkultur‹34 oder, stär ker auf den Inhalt bezogen, die Frage, welche die Gesellschaft transformierende Kraft man einem Computer oder dem Cyberspace zuspricht. Die politische Dimension der Computerimaginationen, die sich als roter Faden durch die folgende Aufarbeitung zieht, ist weniger selbsterklärend als andere Bereiche. Grundsätzlich lässt sich diese aus zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven analysieren. Einerseits sind Computer und Netzwerke politische Objekte, insofern diese auf einer Vielzahl regulatorischer Bestimmungen, infrastruktureller Grundlagen, ökonomischer Wertschöpfungsketten oder wissenschaftspolitischer Entscheide wie beispielsweise der Verteilung von Fördergeldern basieren. Andererseits, und diese Perspektive ist im Folgenden zentraler, kann dieser politische Charakter unterschiedlich dargestellt und wahrgenommen werden, beispielsweise indem der politische Aushandlungsprozess um die Implementierung neuer Technologien aktiv eingefordert wird oder aber indem der politische Bereich negiert wird, beispielsweise indem auf die Ordnungskraft des 33 Der Begriff Technopolitik ist maßgeblich durch die Lektüre von Simon Schaupp geprägt. Vgl. Schaupp, Simon: Technopolitik von unten. Algorithmische Arbeitssteuerung und kybernetische Proletarisierung, Berlin 2021. 34 Darunter verstanden wird im Folgenden ein breiter Begriff, der sowohl die sich sehr nahe am Com puter bewegende Kultur, wie beispielsweise die Netzkultur, fasst als auch weiter entfernte Be standteile, wie beispielsweise die im Folgenden genannten frühen Science-Fiction-Werke, deren AutorInnen im engeren Sinne oftmals nicht Teil der Computerkultur waren. Schlussendlich geht es also um all jene, die einen Bezug zum Computer, den Netzwerken und ihrer Kultur hatten, diesen artikulierten oder die Computerkultur durch ihr Werk prägten. 16 Jonas Frick: Computer Liberation Marktes als alleiniges Regulationsinstrument verwiesen wird. Im Wechselspiel dieser zwei Perspektiven ist im Folgenden auch die auf den ersten Blick vielleicht irritierende Beziehung zwischen Entpolitisierung der Computerimaginationen und einem stark politisierten Kontext zu verstehen, beispielsweise wenn auf ein politisches Schwerge wicht wie Newt Gingrich verwiesen wird, um in einer Vision des künftigen Cyberspace die Ablehnung politischer Aushandlungsprozesse und etablierter politischer Arenen zu betonen.35 Obwohl bestimmte politische Themen, Fragestellungen und Visionen immer wie der auftauchen, lassen sich historische Verdichtungen erkennen, die sich zu prägenden Leitbildern der Computerkultur entwickelten. Zu Beginn des Computerzeitalters domi nierten in kulturellen Zeugnissen die Ängste und dystopischen Visionen, in denen ins besondere in Science-Fiction-Werken der Computer als ein eigenständiges Wesen mit nicht kontrollierbarer Macht inszeniert wird, dessen ungewisse Entwicklung in Zukunft dem Mensch Sorgen bereiten kann, unter anderem weil man eine politische Machtab gabe an die Computer fürchtete.36 Gegen Ende der 60er-Jahre wandelte sich in einer zweiten Phase die dominante Vorstellung, auch weil die Computer und die damit zu sammengehörigen Netzwerke zum Gegenstand einer neuen politischen Auseinander setzung wurden. Ausdruck und Folgen dieser Politisierung sind beispielsweise die auf kommenden Forderungen nach einem demokratisierten Zugang, die damit verfloch tenen Netzwerkexperimente, die antistaatliche Haltung – die in politisch ganz unter schiedliche Positionen mündete –, der artikulierte Anspruch, die Trennung von Produ zentInnen und KonsumentInnen aufzuheben, oder die Entmystifizierung der Compu tertechnologie, die mit einer Stärkung der menschlichen Fähigkeiten durch die neuen Geräte verbunden wurde. Die aktiv eingeforderte Selbstbestimmung, was die technolo gische Entwicklung angeht, und mit ihr die Politisierung der Computerkultur scheiterte jedoch alsbald sowohl an ihren eigenen Grenzen und inneren Dynamiken, bei der die Gegenposition bereits angelegt war, als auch an einer Gegenbewegung: Bereits in den 70er-Jahren setzte eine Entpolitisierung ein, die schließlich in den 90er-Jahren zum do minanten Ausdruck der Computerkultur werden sollte. In dieser dritten Phase betont wurde nunmehr stärker im Sinne eines technikdeterministischen Weltbildes die trans formative Kraft der Kommunikations- und Computertechnologien, die (wie auch in den 35 Damit unterscheidet sich auch der Begriff der Politisierung von der Verwendung in anderen ak tuellen Publikationen, die unter ›Politisierung‹ vor allem die unterschiedlichen Regulierungsme chanismen beziehungsweise Formen der Gouvernementalität infolge einer ›Politisierung‹ verste hen. Auch liegt der Fokus im Folgenden in erster Linie auf dem Inhalt, während die Ästhetik- be ziehungsweise Formdiskussion an anderer Stelle ausführlich zu führen wäre – freilich spielt die Form auch im Folgenden eine Rolle, beispielsweise bezüglich des Stils der gegenkulturellen Zeit schriften oder der Form der Zeitschrift als Austauschplattform für Programmieranleitungen und kurze Erzählungen. Diese Abgrenzung sei deshalb angebracht, weil nicht abgesprochen werden soll, dass es nicht auch andere Erscheinungsformen einer politischen oder politisierenden Litera tur oder Kultur gibt. 36 Einen Überblick zu dieser ersten Phase findet sich lesenswert bei Seed, David: The Brave New World of Computing in Post-war American Science Fiction, in: Blazek, William; Glenday, Micha el (Hg.): American Mythologies. Essays on Contemporary Literature, Liverpool 2005, S. 168–201; Warrick, Patricia S.: The Cybernetic Imagination in Science Fiction, Cambridge, Massachusetts 1980. Einleitung 17 einleitend zitierten Jugendbüchern) mit einer neuen Mystifizierung des Cyberspace ein herging, oder im Rahmen eines neuen Individualismus der geforderte Schutz der Nut zerInnen vor staatlichen Entscheidungsträgern. Diese Entpolitisierung führte zugleich zu einem Wandel der imaginierten Zukunft: Während die Politisierung eine offenere Zu kunftsperspektive eröffnete, die sich in konkreten wie imaginierten Brüchen mit vorge gebenen Wegen manifestierte, schwand mit der Entpolitisierung die Imaginationskraft über plurale Gestaltungsmöglichkeiten und alternative Ansätze – wenn auch Keime hier von immer wieder hervortraten, beispielsweise am Rande der ›Antiglobalisierungsbewe gung‹. Eine solche Politisierung und Entpolitisierung der Computerimaginationen lässt sich über verschiedene Inhalte erschließen. Am einfachsten ist es dort, wo die Quellen selbst über ihr politisches Selbstverständnis sprechen. Eine größere Anzahl Beispiele hierfür findet sich in den alternativen Computerkollektiven der 70-Jahre, zum Beispiel in dem kalifornischen Netzwerkprojekt Community Memory. Ins Leben gerufen wurde dieses 1973 durch eine gegenkulturell geprägte Gruppe: die Loving Grace Cybernetics, wie sich das Kollektiv in Anspielung an Richard Brautigans Gedicht All Watched Over by Machines of Loving Grace (1967) nannte. Das in seiner ersten Phase bis 1975 bestehende Experiment wollte durch ein lokales Netzwerk eine »nonhierarchical, information- exchange system intended as a community information utility«37 aufbauen, für die, so Michael Rossman, der Begriff »Community Data Connection«38 vielleicht auch geeig neter wäre. Der »attempt to harness the power of the computer in the service of the community«39, so ein um 1972 zirkulierender Flyer, verstand sich, so eine zeitgenös sische Einschätzung, als »inescapably political«40. Allerdings vermischten sich in den zahlreichen Publikationen41 zum Projekt explizitere politische mit gegenkulturellen Visionen über neue Lebensentwürfe. Letzteres zeigt sich insbesondere in den damit ver knüpften Vorstellungen des lokal ausgerichteten Lebens. So wurde das (romantisierte) Dorfleben zum wichtigen Lieferanten für Metaphern des anvisierten Netzwerkes, etwa als ›Information Flea Market‹ oder später als ›Village Square‹ oder ›Agora‹.42 Gemeint war damit nicht Marshall McLuhans ›Global Village‹, sondern ein kommunalistisch organisiertes Dorf, wie es unter anderem Mitgründer Lee Felsenstein beschrieb, dessen Vorbild sich wahlweise eher in den Hippiekommunen oder im vietnamesischen Dorf 37 Felsenstein, Lee: Community Memory – A ›Soft‹ Computer System, in: Warren, Jim (Hg.): The First West Coast Computer Faire. Conference Proceedings, San Francisco 1977, S. 142. 38 Rossman, Michael: Implications of community memory, in: ACM SIGCAS Computers and Society 6 (4), 1975, S. 7. 39 Loving Grace Cybernetics: Community Memory!!!, 1972. Online: , Stand: 26.11.2022. 40 Rossman, Michael: Implications of community memory, in: ACM SIGCAS Computers and Society 6 (4), 1975, S. 7. 41 Vgl. z.B. Felsenstein: Community Memory – A ›Soft‹ Computer System, 1977; Colstad, Ken; Lipkin, Elfrem: Community Memory: A Public Information Network, in: ACM SIGCAS Computers and So ciety 6 (4), 1975, S. 6–7; Rossman: Implications of community memory, 1975. 42 Vgl. Felsenstein, Lee: The Commons of Information, in: Dr. Dobb’s Journal 18 (5), 01.05.1993, S. 18–24. https://web.archive.org/web/20190518173017/https://people.well.com/user/szpak/cm/cmflyer.html https://web.archive.org/web/20190518173017/https://people.well.com/user/szpak/cm/cmflyer.html 18 Jonas Frick: Computer Liberation fand.43 Mit solchen Vorbildern verknüpft wurden Vorstellungen über die verschiedenen Möglichkeiten des neuen Mediums. In einem lokal ausgerichteten Netzwerk sollte es beispielsweise keine Hierarchie mehr zwischen Produzierenden und Konsumierenden geben. Alle sollten zu ExpertInnen werden, die Informationsressourcen bereitstellen, miteinander teilen oder – je nach Position – auch als Kleingewerbe handeln.44 In den 80er-Jahren versuchte Community Memory einen Neuanfang. Damit verän derten sich auch die Wortmeldungen. Im 1983 erstmals erschienenen Newsletter posi tionierte man sich in Abgrenzung zur eigenen Geschichte. Sei es in den 70er-Jahren die »computerphobia«45 gewesen, gegen die man sich stellte, sei es nun eine falsche »compu terphilia«46, der man ideologisch den Kampf ansagte. So zeige die Realität, dass (Com puter-)Technologie gegenwärtig vor allem dazu genutzt werde »to keep track of peop le, to put them out of work, to control them«47. Noch immer plante und bastelte man zwar an einer »alternative information utility«48, doch gleichzeitig wollte man nicht wie die neuen Personal-Computer-ApologetInnen in einen unkritischen Technikoptimismus abdriften, zumal die gegenwärtigen Kräfte aufgrund ihrer Machtkonzentration sowie so verhinderten, dass eine umfassende Alternative in den Bereich des Möglichen rücke: »[W]e hope the system will demonstrate the liberatory potentials of computer technolo gy. But we doubt that many of these potentials can be realized within the status quo.«49 Die Zukunft schließt sich und mit ihr relativiert sich auch die einst von Community Me mory selbst erlassene Parole »Change is possible«50, selbst dann, wenn man aktiv an Al ternativen arbeitet. Politisch wird die Computerkultur hier nunmehr über die betonte Gefahr und nicht mehr in der utopischen Aufbruchsstimmung. Solche neuen Meldungen waren nicht einfach Resignation, sondern eine durchaus realistische Einschätzung, und dies nicht nur hinsichtlich der technologischen Selbst bestimmung. Denn anders als in den 70er-Jahren wurden die kritischen Einwände trotz ihrer anhaltenden Existenz nun weit weniger wahrgenommen. Stattdessen wurden die technikoptimistischen Vorstellungen und die damit verbundene Akzeptanz nicht direkt beeinflussbarer Entwicklungen zu einem hegemonialen Zustand, was es in den folgen den Jahren, so die Worte von Gary Chapman, der erste Vorsitzende der Computer Profes sionals for Social Responsibility, auch zunehmend unwahrscheinlich machte, die Worte ›Politik‹ und ›Computer‹ in einem positiven oder zumindest produktiven Sinne im sel 43 Vgl. Kubicek, Herbert; Schmid, Ulrich; Wagner, Rose: Bürgerinformation durch »neue« Medien?, Opladen 1997, S. 199. 44 Diese Hoffnung blieb nicht auf die Community Memory beschränkt. Vgl. dazu beispielsweise die Visionen von Umpleby, Stuart A.: Is Greater Citizen Participation in Planning Possible and Desira ble?, in: Technological Forecasting & Social Change 4 (1), 1972, S. 61–76. 45 Community Memory Project: Community Memory News Nr. 1, 1983, S. 2. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 3. 49 Ebd. 50 Resource One (Hg.): Resource One Newsletter Nr. 2, 1974, S. 8. Einleitung 19 ben Satz zu lesen.51 Diese entpolitisierten Computerimaginationen konnten sich in un terschiedlicher Form manifestieren: Zum Beispiel in den bekannten Stimmen wie dem Wired, das eine »postpolitical philosophy«52 für das Informationszeitalter ausrief, in der als »a new form of libertarianism«53 sowohl bisherige Kategorien wie ›links‹ und ›rechts‹ wegfallen als auch den bisherigen politischen Institutionen das Vertrauen aufgekündigt wird. Solche Vorstellungen zeigten sich in den 90er-Jahren zuhauf auch in anderen For men, etwa im nochmals zunehmenden Technikoptimismus, das heißt dem Glauben dar an, dass die technologische Entwicklung deterministisch gesellschaftlichen Fortschritt mit sich bringen werde – eine Auffassung, die im englischsprachigen Raum etwas allge meiner unter dem Begriff ›Techno-Optimism‹ und konkreter, auf den Cyberspace bezogen, als ›Cyber-Utopianism‹ oder, weit weniger gebräuchlich, auch als ›Cyberism‹ subsumiert wurde –, oder in anderen Zweigen des Cyber-Libertarismus, das heißt dem libertären Verständnis, dass sich das Internet als freier Ort möglichst ohne staatliche Einmischung entfalten kann und gerade dies dem Individuum größtmögliche Entfaltung biete.54 Die kulturelle Selbstwahrnehmung der politischen Dimension der Computertech nologien und -imaginationen manifestiert sich jedoch nicht nur dort, wo das Wort ›Po litik‹ explizit aufkommt. Auch eine Reihe weiterer Aspekte und Motive ermöglicht die Auseinandersetzung damit, etwa die titelgebende Computer Liberation, die zu einer die Computerkultur prägenden Kippfigur wird; einmal ausgelegt als emanzipatorische Be freiung in unterdrückenden Verhältnissen, einmal libertär als Freiheit von staatlichen Kontroll- und Regulierungsinstanzen beziehungsweise als Freiheit von Kapitalflüssen. Eine andere Dimension der Politisierung findet sich in der verhandelten Frage, inwie fern sich die Entwicklung und Implementierung von Computertechnologien beeinflus sen lassen können. In politisierten Vorstellungen werden Computer oder deren Netz werke zum Objekt einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung, für die man sich 51 »The words ›politics‹ and ›computers‹ are rarely uttered in the same sentence.« Chapman, Gary: Taming the Computer, in: Dery, Mark (Hg.): Flame Wars. The Discourse of Cyberculture, Durham 1994, S. 317f. 52 Katz, Jon: Birth of a Digital Nation, in: Wired, 01.04.1997. Online: , Stand: 06.04.2022. 53 Ebd. 54 Um Missverständnisse zu vermeiden: Die im Folgenden immer wieder betonte Gegenüberstellung von freiem Markt und Unternehmen einerseits und Staat andererseits entspricht einer Unterschei dung, die sowohl in den jeweiligen Texten und Diskursen als Vorstellungsraum entwickelt wird als auch analytisch dazu dient, ideologische Vorstellungen sichtbar zu machen. Diese Dichotomie eig net sich jedoch weder als umfassende Beschreibung der historischen Bedeutung der staatlichen Einflusssphäre, noch impliziert sie, dass eine Hinwendung zum Staat und seinen Institutionen ei ne Problemlösung oder gar ein überlegenes System darstellt. Letzteres muss betont werden, da die Kritik am Cyberlibertarismus in der Vergangenheit mitunter romantisierende Vorstellungen eines sozialdemokratisch gestützten Staatswesens hervorgebracht hat. Dabei wurde staatliche Intervention teils fälschlicherweise mit Entkommodifizierung gleichgesetzt. Darüber hinaus ent standen Positionen, die aus fehlgeleiteten Abwehrreaktionen gegenüber dem Cyberlibertarismus reale Gefahren und Prozesse verharmlosten – etwa in Bezug auf den staatlich geförderten Überwa chungsapparat, die militärischen Forschungsinteressen oder die damit zusammenhängende In dustrie- und Wissenschaftspolitik. https://www.wired.com/1997/04/netizen-3/ https://www.wired.com/1997/04/netizen-3/ 20 Jonas Frick: Computer Liberation verbündet und nach kollektiven und oftmals auch aus dem politischen Bewegungsrah men bekannten Artikulationsformen sucht. In diesem Sinne positionieren sich die Texte (unterschiedlich stark) gegen eine ›Verdinglichung‹, einen Technikdeterminismus und eine Machtlosigkeit bezüglich der technologischen Entwicklung. Die erwartete techno politische Handlungsmacht bleibt in ihrem Ergebnis allerdings offen: So folgt aus den Ansätzen ein breiteres Spektrum an Positionen, die sich am Ende auch affirmativ zum Bestehenden verhalten konnten oder auch an der Politisierung scheiterten. Eine letz te Dimension der Politisierung beziehungsweise Entpolitisierung findet sich schließ lich in der bereits angesprochenen verbundenen Öffnung beziehungsweise Schließung in Richtung einer antizipierten Zukunft. Als politisierte Objekte besitzen (imaginierte wie reale) Computer bezüglich ihrer Anwendungsmöglichkeiten und Entwicklungsper spektiven eine verhandelbare und offene Zukunft, die einen sich erweiternden Hand lungsspielraum für das bewusst(er)e und selbstbestimmte Handeln enthält – wobei sich die Subjekte, ihrer Handlungsmacht bewusst werdend, (imaginiert wie real) zusammen schließen und dabei für die Identitätsfindung und die Potenzierung der eigenen Kräfte sowohl auf neue Aspekte der Gemeinsamkeit als auch auf die bereits bekannten Klassen- oder Geschlechteraspekte setzen. Dem entgegen führt die Entpolitisierung, die ebenso oft aktiv beworben wie anhand der geforderten Praxis impliziert wird, zu einem deter ministischeren Technikverständnis zurück, bei dem die bisherige technologische Ent wicklung naturalisiert wird, während die Zukunft als nicht durch politische Aushand lungsprozesse beinflussbare Fortführung der Gegenwart erscheint – wobei es in diesem Verständnis nicht zu einer Lethargie kommt, sondern man im libertären Sinne von einer Stärkung des Individuums ausgeht. In vielen weiteren Fällen gestaltet sich die Analyse der Computerimaginationen im Hinblick darauf, ob sie für Prozesse der Entpolitisierung oder Politisierung stehen, als erstaunlich anspruchsvoll. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass in zahlreichen Quellen und der daraus abgeleiteten Praxis widersprüchliche Tendenzen erkennbar sind, beide Positionen mit utopischen Diskursen arbeiten und im durch ein zelne Texte ausgelösten Prozess Veränderungen in gegenteilige Richtungen stattfinden. Was hiermit gemeint ist, zeigt sich einleitend über eine Bemerkung aus einem Artikel, der sowohl im gegenkulturellen Newsletter der People’s Computer Company als auch in den Konferenzbeiträgen der bereits kommerziell agierenden First West Coast Computer Faire (1977) erschien. Darin wird der zuvor eingeschränkte Zugang zu Computern kritisiert, die demokratisiert gehören: »Computers are too important to be left entirely up to com puter people.«55 Mit dem in den 80er-Jahren Verbreitung findenden Personal Computer kam man der geforderten Versorgung bezüglich der Verfügbarkeit der neuen Geräte tatsächlich näher, ohne jedoch dass die Netzwerkzugänge dadurch zum vergesellschaf teten demokratischen Gut wurden. Parallel dazu dehnten sich auch die Forderungen nach demokratischer Teilhabe an den neuen Geräten und ihren Netzwerken weiter aus, verkehrten sich aber zugleich in ihr Gegenteil. So wurden etwa die Versprechen einer Demokratisierung Ende der 70er-Jahre zum ästhetisierten Gebrauchswertversprechen und so zur Werbebotschaft. »The personal computer represents increased personal 55 People’s Computer Company 6 (3), 1977, S. 40. Einleitung 21 power«56, so warb man beispielsweise in einem 1978 erschienenen Einführungswerk für den Personal Computer im Anklang an die Parolen der Gegenkultur. Und auch in dem von Blade-Runner-Regisseur Ridley Scott gedrehten Apple-Werbefilm 1984 finden sich solche Forderungen nach einer Demokratisierung. Allerdings wurden die Vorzüge des ›People’s Computer‹, so Steve Jobs’ Bezeichnung für den Macintosh, anders als zuvor nicht mehr durch ein Kollektiv politisch eingefordert, sondern sie sollten durch den Erwerb der neuen Ware auf dem freien Markt ermöglicht werden. Diese enge Verbindung von Gegenkultur und Computerkultur wie -industrie ist vor allem dank der Analyse von Fred Turner bekannt, dessen Analyse From Counterculture to Cyberculture: Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism (2006) in den letzten Jahren auch abseits engerer wissenschaftlicher Kreise gelesen wur de. Turner beschreibt ausführlich jene ideologischen Verbindungen, die den Weg für den Markterfolg legten und über die sich aufzeigen lässt, dass die Gegenkultur in vielen Fällen weniger Gegenspielerin denn katalysierender Bestandteil der marktwirtschaft lichen Ordnung war. Turners Analyse lässt sich mit verschiedensten Beispielen weiter füllen, etwa über die Abwandlung der durch die soziale Bewegung geprägten Parole ›Power to the People‹. »Computing power to the people«57, dies forderte beispielsweise Ted Nelson in seinem durch die Ästhetik der Gegenkultur58 geprägten Computerbuch Computer Lib/Dream Machines (1974), das zugleich, wie sich zeigen wird, eines jener Beispiele ist, das Entpolitisierungsansätze enthält. »Computing for the masses«59, so lautete das Ebenbild hierzu auch in der TAP, der Technologie-Zeitschrift der amerika nischen Yippies. Auch darin finden sich ambivalente Haltungen zu einem politisierten Selbstverständnis. In der TAP vertrat beispielsweise der Mitgründer Abbie Hoffman einen egalitären Ansatz, wie die Telekommunikations- und später insbesondere Com putertechnologien anders genutzt werden könnten. Diese müssten frei verfügbar sein, und solange dies nicht geschehe, müsse man selbst dafür sorgen, beispielsweise durch Anleitungen, wie man in Netzwerke eindringen oder gratis telefonieren kann. Gleich zeitig stellte Hoffman 1968 einen Kontakt zu Marshall McLuhan her, der sich ebenfalls für die Kybernetik und Möglichkeiten der neuen Netzwerke interessierte und der in den folgenden Jahrzehnten zum ›Heiligen‹ der Cyberkultur beziehungsweise vor allem zum eifrigen Zitatelieferanten wurde. Im Nachgang an ein Treffen mit McLuhan soll Hoffmann dabei einen Satz geäußert haben, der ungewollt treffend die kommende Entwicklung – oder auch die Entpolitisierung – beschrieb: »The Left is too much into Marx, not enough into McLuhan.«60 Spätestens in den 80er-Jahren wurde McLuhan 56 Bunnell, David: Personal Computing: A Beginner’s Guide, New York 1978. Online: , Stand: 10.06.2020. 57 Nelson, Ted: Computer Lib/Dream Machines, 1974, S. 3. (People’s Computer Company: Subscripti on, in: People’s Computer Company 1 (1), 10.1972, S. 8.). 58 ›Counterculture‹ dient im Folgenden als etwas breiter Oberbegriff für jene (amerikanisch gepräg te) (Jugend-)Bewegung der 60er- und 70er-Jahre, die sich vor allem als Subkultur und kulturelles Phänomen bemerkbar machte. 59 Dump, Ben: Computing for the Masses: A Devious Approach, in: TAP (61), 01.1980, S. 2. 60 Zitiert nach Grosswiler, Paul: Transforming McLuhan: Cultural, Critical, and Postmodern Perspec tives, New York, Bern 2010, S. 44. Das stieß bei McLuhan selbst nur bedingt auf Gegenliebe. https://www.decodesystems.com/mits-start.html https://www.decodesystems.com/mits-start.html 22 Jonas Frick: Computer Liberation in der Computerkultur vermutlich tatsächlich intensiver rezipiert als Marx, allerdings ohne daraus jene subversive Energie zu entfalten, für die Hoffman noch plädierte. Eine ewige Wiederkehr des Technikoptimismus Die Verlautbarungen von Hoffman lassen sich auch aufnehmen, um einen wiederkeh renden utopischen »mythos of the electronic revolution«61 zu betonen, wie er von James Carey und John Quirk anhand von McLuhan bereits 1970 ausführlich kritisiert wurde. Die beiden Kommunikationswissenschaftler Carey und Quirk sahen die Hoffnung auf die utopische Kraft der elektronischen Revolution weniger als spezifischen Ausdruck einer neuen Technologie selbst, sondern als eine Kontinuität im Sinne einer wiederkehren den Technikeuphorie und deren sozialen Mobilitäts- und Freiheitsversprechen. So wer de die Implementierung neuer Technologien oftmals von einer Fortschrittsgläubigkeit begleitet, die immer wieder von Neuem ignoriere, wie jene politischen und ökonomi schen Kräfte die neuen Technologien übernehmen und prägen, die alles andere als eine Demokratisierung im Sinne haben.62 Diese (oberflächlichen) Hinweise auf die Wieder kehr von technikutopischen Vorstellungen haben im Folgenden nicht in gleichem Um fang Einfluss auf den Untersuchungsgegenstand wie die vorherigen Ausführungen zu den Kategorien der Politisierung und Entpolitisierung. Sie sind allerdings einleitend zu erwähnen, weil sie für die Auseinandersetzung mit den utopischen Vorstellungen im Hinterkopf behalten werden müssen, gerade was die kulturellen Entwicklungen in ih rem größeren historischen Rahmen betrifft. Carey und Quirk sind nicht die einzigen ForscherInnen, die die These vertreten, dass es sich bei den technikoptimistischen und utopischen Verlautbarungen um einen wie derkehrenden ›Loop‹ handelt, der immer wieder auftritt, wenn neue (elektrische) Tech nologien auftreten. Carolyn Marvin beispielswiese betont in ihrer Monografie When Old Technologies Were New (1988), dass das Konzept hinter dem Kommunikationsgerät des Computers – und damit auch die zugehörigen Diskurse – medienhistorisch betrach tet letztlich gleich geblieben ist: »In a historical sense, the computer is no more than an instantaneous telegraph with a prodigious memory, and all the communications in ventions in between have simply been elaborations on the telegraph’s original work.«63 Noch weiter zurückgehend verweist David Gunkel in seiner 2001 erschienenen Mono grafie Hacking Cyberspace auf das 1852 erschienene Buch The Silent Revolution, or, The Future Effects of Steam and Electricity Upon the Condition of Mankind. In diesem wurde ähnlich den cyberutopischen Vorstellungen bereits »a future period« angekündigt, in der »a method of communication so unrivalled for its efficiency« erscheinen werde beziehungsweise »a 61 Vgl. Carey, James; Quirk, John: The Mythos of the Electronic Revolution, in: The American Scholar 39 (3), 1970, S. 395–424. 62 Carey und Quirk kritisierten zwar vor allem die Technikeuphorie, allerdings betonten sie ebenso ihre Ablehnung primitivistischer oder (neo-)luddistischer Auffassungen. Gerade Letztere haben die Tendenz, den Mythos, der neue Technologien umgibt, unbewusst zu verstärken, statt ihn zu demaskieren. 63 Marvin, Carolyn: When Old Technologies Were New: Thinking About Electric Communication in the Late Nineteenth Century, New York 1988, S. 3. Einleitung 23 perfect network of electrical filaments will overspread every civilized land in the world«, das »consolidate and harmonize the social union of mankind«64. Bezüglich solcher utopischen Visionen vertrat Mark Surman in einem 1996 publi zierten Aufsatz ebenfalls die These einer kulturellen Wiederholung der technikoptimis tischen Versprechen, indem er die Visionen der »›cable revolution‹ (1968–1974)« und das »excitement around the ›information highway‹ (1992–1995)«65 verglich. Bereits während der Ersteren träumte man von der »wired nation«, so der Titel eines 1972 erschienenen Buchs66 von Ralph Lee Smith, der darin eine durch die neue Kommunikationstechnolo gie ermöglichte Emanzipation ankündigte, die sich tatsächlich analog zu den späteren Cyberspacevisionen lesen lässt: »Television can become far more flexible, far more de mocratic, far more diversified in content, and far more responsive to the full range of pressing needs in today’s cities, neighborhoods, towns, and communities.«67 So sollte die Kabel-Revolution und der damit verbundene »electronic highway«68 – wie später der ›In formation Highway‹ und der »democratic and technological breakthrough«69 in Form des Internets als Grundlage einer »digital democracy«70 – all die negativen Aspekte der uni direktionalen TV-Landschaft auflösen.71 Auch andere AutorInnen versprachen in dieser Zeit in utopischen Zukunftsvisionen eine neue Form der revolutionären Vernetzung, ein ›Many-to-Many‹-Medium, das das Ende strikter Sender-Empfänger-Positionen einläu ten würde, eine erneuerte demokratische Mitbestimmung oder digitale Shopping-An gebote. Charles Tate erklärte beispielsweise im Vorwort des von ihm herausgegebenen Sammelbandes Cable Television in the Cities: Community Control, Public Access, and Minority Ownership (1971), wie mit Cable Television als »revolution in electronic communication sys tems« jede Community mit einem »local, people-oriented television and radio system« ausgestattet werden kann, »that is responsive to and reflective of the differences in cultu re, language, history, experience and race«72 und das im besten Falle zugleich noch Gel der in die produzierenden Communitys spült. Vergleichbare Versprechen wurden später auch bezüglich des Cyberspace als eines Ortes der neuen Community-Vernetzung ge macht, der zugleich für ein neues gegenseitiges Verständnis für all jene sorgen würde, die bisher aus unterschiedlichen Gründen sozial ausgeschlossen waren. 64 Garvey, Michael Angelo: The Silent Revolution, or, The Future Effects of Steam and Electricity Upon the Condition of Mankind, 1852, S. 103. Vgl. Gunkel, David J.: Hacking Cyberspace, London 2018, S. 43. 65 Surman, Mark: Wired Words: Utopia, Revolution, and the History of Electronic Highways, in: NET96 conference proceedings, 1996. Online: , Stand: 18.04.2022. 66 Der Text erschien am 18. Mai 1970 bereits als gekürzte Fassung für The Nation. 67 Smith, Ralph Lee: The Wired Nation, New York 1972, S. 8. 68 Ebd., S. 83. 69 Hauben, Michael; Hauben, Ronda: Netizens: On the History and Impact of Usenet and the Internet, Los Alamitos 1997, S. 56. 70 Carter, Dave: ›Digital democracy‹ or ›information aristocracy‹, in: Loader, Brian D. (Hg.): The Gover nance of Cyberspace Politics, Technology and Global Restructuring, London 1997, S. 136–152. 71 Vergleichbar mit den späteren Versprechen waren auch die von Smith angekündigten Gefahren beziehungsweise möglichen Probleme, beispielsweise im Bereich der Privatsphäre. 72 Tate, Charles: Cable Television in the Cities: Community Control, Public Access, and Minority Ow nership, Washington 1971, S. 3. https://web.archive.org/web/20160103053852/www.isoc.org/inet96/proceedings/e2/e2_1.htm https://web.archive.org/web/20160103053852/www.isoc.org/inet96/proceedings/e2/e2_1.htm 24 Jonas Frick: Computer Liberation Mit dem Cable-Revolution-Diskurs einher gingen nicht nur Prophezeiungen, die eng mit der sich anbahnenden Computerisierung verbunden waren – ein Resultat der ge genwärtigen Entwicklung liegt gemäß Tate in »the interconnection of computer facili ties on a nationwide basis«73 –, sondern, wie Surman aufzeigt, auch Versprechen, die man meist nur mit der späteren Epoche verband, beispielsweise das angekündigte Ende der Politik: Michael Shamberg, Mitglied einer Gruppe VideokünstlerInnen und Teil der Redaktion des 1970 erstmals erschienenen und eng mit der Cable Revolution verbundenen Magazins Radical Software, verkündete in seinem Buch Guerilla Television (1972) ganz expli zit den »Death of Politics«74: »In cybernetic culture, power grows from computer print- outs, not the barrel of a gun.«75 In Umkehrung des Mao-Zitates hält Shamberg damit den gegenkulturellen »counter-evolutionary«76 TechnikfeindInnen – »Radicals are hardware freaks who think a computer is just another thing to blow up«77 – ihren Fehler vor, wei terhin auf eine politische Gegenmacht statt auf die Kraft neuer Medien zu setzen und für bidirektionale Kommunikationskanäle zu kämpfen. Entsprechend solcher Beispiele ist Surmans These, die spätere Interneteuphorie als »historical loop of technological utopia nism«78 zu lesen, einleuchtend. Denn tatsächlich wurden auch darin zahlreiche techni koptimistische Bilder hervorgerufen, die bereits andere Medien begleiteten, neben dem Kabel-TV und der Videokunst insbesondere das Radio, das in seinen Anfängen und in den dazugehörigen linken Träumen ebenfalls die Aufhebung der Trennung von Sende rIn und EmpfängerIn versprach. Und auch ein zweiter Punkt von Surman ist erwähnens wert. So unterscheidet er zwischen jenen, die anhand der Cable Revolution technikopti mistische, utopische Bilder auf die Technologie projizierten, und jenen »public access ac tivists«79, die tatsächlich den steinernen Weg der Praxis gingen und die Demokratiever sprechen aktiv als politische Initiativen einforderten, statt nur darauf zu hoffen, dass sie durch die Technologie selbst umgesetzt würden. Beide scheiterten bezüglich der utopi schen Versprechen. Letztere sorgten mit ihren Community Channels beziehungsweise Pu blic-Access Television und ihrem politischen Druck allerdings zwischenzeitlich dafür, dass innerhalb der hegemonialen TV-Landschaft kulturelle, aktivistische und nichtkommer zielle Freiräume entstanden,80 die auch noch von den Kabel-TV-Anbietern ›subventio 73 Ebd. 74 Shamberg, Michael: Guerrilla Television, New York 1971, S. 29. 75 Ebd., S. 30. 76 Ebd., S. 29. 77 Ebd. 78 Surman: Wired Words, 1996. 79 Ebd. 80 Der linke Blick betonte dabei oftmals die aktivistischen Ansätze wie auch die Community-Zugän ge in den Städten für den ›Prime Time Activism‹ von unten (Vgl. Ryan, Charlotte: Prime Time Acti vism: Media Strategies for Grassroots Organizing, Boston 1991; Kellner, Douglas: Public Access Te levision and the Struggle for Democracy, in: Wasko, Janet; Mosco, Vincent (Hg.): Democratic Com munications in the Information Age, Norwood 1992, S. 100–113.). Ein konkretes Beispiel dafür be schrieb Arlen Ann, die in Radical Software einleitend erklärt, wie man in »Public Access channels« über den Mietstreik berichten kann und dabei, anders als die oberflächlichen TV-News von au ßen, einen Einblick von innen erhalten würde, der wiederum tatsächliche News-Relevanz enthält. (Vgl. Ann, Arlen: Public Access: The Second Coming of Television?, in: Radical Software 1 (5), 1972, S. 81–85.) Allerdings versuchten auch rechte Gruppen vom öffentlichen Angebot zu profitieren, z.B. Einleitung 25 niert‹ werden mussten, da diese auf Geheiß der Federal Communications Commission (FCC) seit 1972 Kanäle als auch Equipment für Regierungs-, Bildungs- wie auch Public- Access-Angebote zur Verfügung stellen mussten.81 Auch hier bietet sich der Vergleich zur widerständigen Geschichte des Computers und Internets an. Während sich darin die utopischen Versprechen ebenfalls in ihr Gegenteil verkehrten beziehungsweise zu Wer bezwecken einer kommerzialisierten Technologie wurden, die einst mit dem Anspruch nach Empowerment und Demokratisierung antrat, gibt es bis heute Projekte, die in ih ren größeren oder kleineren Nischen äußerst wertvolle Arbeit leisten und dabei auf die Infrastruktur des privatisierten globalen Netzes zurückgreifen können. Weitere methodische Anmerkungen Dieses Buch folgt der Entwicklung der breit gefassten Computerkultur in einer Art ana logem kulturwissenschaftlichem Distant Reading, das am Ende wohl vor allem als Hand buch für Studienzwecke zu gebrauchen ist. Diesem Vorgehen zugrunde liegt nicht wie beim eigentlichen Distant Reading oder bei damit vergleichbaren Ansätzen der Digital Humanities ein Datensatz, der sich statistisch analysieren lässt. Der Begriff sei vielmehr als methodischer Vergleich erwähnt, weil es im Folgenden ebenfalls darum geht, anhand einer großen Anzahl Quellen thematische Verdichtungen zu beobachten und Leitbilder zu entschlüsseln, deren Einflüsse aufeinander sichtbar gemacht werden können. Ver gleichbar sind auch die potenziellen Schwächen dieser Methode. ›Blind‹ ist die folgende Auseinandersetzung über die Computerimaginationen für einen Teil der Abweichun gen und (archivarisch auch nicht immer auffindbaren) Randerscheinungen einer zwar stark, aber wie beispielsweise über das französische Minitel-System oder die außereu ropäische BBS-Kultur bei weitem nicht ausschließlich amerikanisch geprägten Compu terkultur. Diese Leerstelle folgt allerdings einer inneren Logik, geht es in diesem For schungsvorhaben wesentlich um die Analyse einer ›westlichen‹ Computerkultur, die in der Ku-Klux-Klan (vgl. dazu den kurzen Überblick von Kellner, Douglas: Public Access Television, in: Encyclopedia of Television, London 1997, S. 1846–1847.). 81 Zur Geschichte vgl. auch Linder, Laura R.: Public Access Television: America’s Electronic Soapbox, Westport 1999; Streeter, Thomas: The cable fable revisited: Discourse, policy, and the making of ca ble television, in: Critical Studies in Mass Communication 4 (2), 01.06.1987, S. 174–200. Wie Laura Stein andeutete, waren die Zugeständnisse allerdings nicht nur defensiver Natur: Einige Kabel anbieterInnen hofften mit Blick auf die weitere Expansion ein gutes Verhältnis zu den Behörden als auch zur Bevölkerung aufzubauen. (Vgl. Stein, Laura: Access Television and Grassroots Politi cal Communication in the United States, in: Downing, John [Hg.], London 2001, S. 299–324.) Das Problem dahinter erkannten allerdings einige AktivistInnen bereits früh. Shirley Clarke erklärte beispielsweise in einem 1973 erschienenen Interview für Radical Software: »Public access is an im portant conceptual victory, but in reality it’s only been tokenism […].« Dies, weil der Großteil der Kanäle in den Händen des »Big Business« bleiben und die Qualität des alternativen Angebots oft noch zu gering sei. (Clarke, Shirley: Shirley Clarke: An Interview, in: Radical Software 2 (4), 1973, S. 26.) Viele Projekte versandeten nach einigen Jahren wieder, unter anderem aufgrund der be mängelten Qualität, aber auch weil der Supreme Court 1979 die Bestimmung der FCC wieder be schnitt und man dadurch abhängiger von den lokalen EntscheidungsträgerInnen wurde. 26 Jonas Frick: Computer Liberation ihrer engen Verbindung von amerikanischer Computerindustrie und -kultur hegemo nialen Anspruch hegt, und diesen auch durchsetzt.82 Einigen anderen potenziellen Einwänden und Irritationen sei ebenfalls bereits an dieser Stelle zuvorgekommen. Eine erste und einfache Klärung betrifft die Wahl wei terer Begriffe. Wenn im Folgenden von ›Technologie‹ die Rede ist, dann meint dies, dem Amerikanischen wie der mittlerweile auch populärwissenschaftlichen Verwendung ent nommen, die zu Objekten oder Medien geronnenen oder zu komplexen Verfahren ver dichteten wissenschaftlichen Kenntnisse und Methoden, während die ›Technik‹ auf die Art und Weise der Nutzung und Verfahren zielt. In diesem Sinne ist beispielsweise von Kommunikationstechnologien oder Computertechnologien die Rede, wenn es um das Internet oder den Personal Computer geht, was einer Verwendung der Begriffe entgegen der deutschsprachigen Tradition und ihrer ›Technikphilosophie‹ entspricht.83 Auch ei nige andere Begriffe sind möglicherweise gewöhnungsbedürftig. Das betrifft insbeson dere jene Kategorien, die darauf abzielen, die analysierten Imaginationen politisch, kul turell und ideengeschichtlich einzuordnen. In vielen Fällen werden hierbei Oberbegriffe verwendet, die in einem Close Reading präziser gefasst werden müssten. Dieses Vorge hen erscheint mir für den hier verfolgten Ansatz, größere kulturelle Zusammenhänge und Verdichtungen festzustellen, jedoch als angemessen, wenn auch dies in einigen Fäl len zu einer etwas inflationären Verwendung bestimmter Zuschreibungen führt, zum Beispiel in Erscheinung der Adjektive ›gegenkulturell‹ oder ›libertär‹. 82 Dennoch ergeben sich dadurch unsichtbare oder lediglich oberflächlich behandelte Ungleichzei tigkeiten, die sich nicht nur in der Vernachlässigung literarischer Quellen wie beispielsweise der la teinamerikanischen Science-Fiction-Literatur widerspiegeln. Während sich beispielsweise in den USA in den 80er-Jahren bereits eine starke Entpolitisierungswelle bemerkbar machte, startete in Deutschland mit dem Chaos Computer Club (1981) ein gegenteiliger Akteur, der eine diskursprä gende Kraft hatte. Zu diesen Ungleichzeitigkeiten hinzu kommt, dass es angesichts der reichhalti gen Produktion der sehr breit gefassten Computerkultur im Folgenden auch zahlreiche Beispiele geben wird, die sich tiefer analysieren ließen oder die überhaupt erst genannt werden müssten. Es wird zwar versucht werden, einen möglichst großen Bestand an Themen und Beispielen ab zudecken, die von bekannten Texten bis zu Nischenprodukten reichen, ob dies jedoch am Ende gelingen wird und das ausgeglichene Verhältnis zwischen Tiefe und Breite funktioniert und die Tendenz tatsächlich eine solche ist oder ob es sich dabei nicht vielmehr um eine Ansammlung einzelner Phänomene handelt, werden die Lesenden entscheiden müssen. Ein damit verknüpftes Problem stellt sich bezüglich des Vorwissens und des Niveaus der Analyse: Was für die einen als Banalität erscheinen wird – beispielsweise die aufkommende Faszination für die Kybernetik, die Verbindung von Computer- und Gegenkultur, die libertären Einflüsse oder die verschiedenen Ent wicklungsschritte des Internets –, wird für andere LeserInnen neues Wissen enthalten, wobei sich dies gerade über die verschiedenen Themen hinweg nur bedingt antizipieren lässt. Im Anspruch daran, dass dieses Buch Überblick sein soll, wurde lieber zu viel als zu wenig Hintergrundwissen eingebaut. Gleichzeitig jedoch fehlt an manchen Stellen ein Close Reading, das insbesondere ei ne Reihe von Romanen verdient hätte, deren Themenvielfalt und literarische Qualität wie auch Eigenheiten in diesem überblicksartigen Werk mitunter zu kurz kommen. 83 Das gilt allerdings nicht für etablierte Begriffe, beispielsweise bezüglich der wiederkehrenden Be griffe wie ›Technikoptimismus‹ oder ›Technikdeterminismus‹, die, der eigenen Definition folgend, eigentlich ›Technologieoptimismus‹ oder ›Technologiedeterminismus‹ heißen müssten, bei de nen allerdings zugunsten des besseren Verständnisses auf die gängigen Begriffe gesetzt wird. Einleitung 27 Einen anderen Punkt betrifft die Wahl der Quellen. So mag es auf den ersten Blick erstaunen, dass es in der Folgenden Auseinandersetzung mit der Computerkultur in vie len Fällen um Textbeiträge als untersuchte Kulturprodukt gehen wird und oft auch noch um solche, die ausschließlich in gedruckter Version erschienen sind.84 Dahinter verber gen sich neben den offensichtlichen Ursachen für den Zeitraum der 70er- und 80er-Jahre mehrere Gründe. Erstens gab es zwar immer wieder Ankündigungen und Ängste bezüg lich des Endes der Printmedien.85 Mit Cyberbooks verfasste der amerikanische Autor Ben Bova 1989 gar einen Science-Fiction-Roman, der die Entwicklung eines E-Readers the matisiert, der in naher Zukunft zur Abschaffung des gedruckten Buches führen würde – mit dem positiven Nebeneffekt, so der Schluss, dass, entgegen der Ängste, zugleich die Umwelt davon profitiere, wie die Zugänglichkeit zu Literatur steige.86 Doch real nahm die Quantität der Printtexte trotz Internets nicht ab, sondern vielmehr zu, wie beispiels weise als einer der bekannteren Befunde Steve Steinberg 1995 im Wired bemerkte: »While I can’t shed any new light on the debate over how fast the Internet is growing, I can safely tell you that the number of books about the Internet is doubling every month.«87 Ent sprechend besitzen Sachbücher wie auch literarische Werke, mögen sie in ihrem Inhalt noch so rasch obsolet werden, für die kulturwissenschaftlich inspirierte Literaturwis senschaft eine diagnostische Kompetenz für das Computerzeitalter, und dies auch dann noch, als man sich immer leichter online bewegen und auch publizieren konnte. Zwei tens erscheint das Verhältnis von Literatur auch bezüglich anderer Medien in einem Un gleichgewicht. Zwar nehmen beispielsweise Filme eine zunehmend wichtige Rolle in der kollektiven Vorstellungskraft ein. Exemplarisch hierfür steht Star Trek, das mit seinem Holodeck ein zentrales Leitbild für VR-Technologien erschuf.88 Dennoch bildete das ge druckte Wort in vielen Fällen das weit einflussreichere wie auch ursprüngliche Material. Bis zur wegweisenden Verfilmung von Matrix erschienen beispielsweise mehrere Roma ne, die sich mit vergleichbaren Fragen der Simulation und Virtuellen Realität ausein andersetzten, etwa Daniel F. Galouyes Simulacron-3 (1964) oder Greg Egans Permutation City (1994). Und der amerikanische Film Tron (1982) erschien zwar zwei Jahre vor Gibsons Neuromancer, dennoch zählen zahlreiche ComputerwissenschaftlerInnen in ihren Auto biografien und Interviews Gibsons oder Stephensons Cyberpunk-Werke und nicht Filme auf, die sie in ihrem Schaffen prägten89 – und die den Aushandlungsprozess um »the new 84 In jenen Fällen, in denen es um eine genauere Lektüre geht, wird, wenn möglich, in der Original sprache, d.h. Englisch, zitiert. In einigen Fällen, in denen es eher um einen Gesamteindruck geht, werden jedoch auch Übersetzungen zitiert; vor allem dann, wenn diese während des Schreibpro zesses bibliothekarisch leichter erhältlich waren. 85 Vgl. z.B. Smith, Anthony: Goodbye, Gutenberg: The Newspaper Revolution of the 1980s, New York 1980. 86 Vgl. Bova, Ben: Cyberbooks, London 1990. 87 Steinberg, Steve: Hype List, in: Wired, 01.02.1995. Online: , Stand: 18.04.2022. 88 Vgl. Schröter, Jens: Imagination der virtuellen Realität: Das Holodeck, in: Vigia (1), 2022, S. 20–31. 89 Vgl. Pesce, Mark: Magic Mirror: The Novel as a Software Development Platform, , Stand: 12.11.2020. Dieser Einfluss literarischer Wer ke lässt sich auch anhand eher anekdotisch überlieferter Aussagen erkennen: Tim Berners-Lee bei spielsweise bekundete mehrfach, wie Arthur Clarks Dial F for Frankenstein (1965) in seiner Idee ei ner vernetzten Welt Einfluss auf die Umsetzung des World Wide Web hatte. Steve Russell verwies https://www.wired.com/1995/02/hypelist-54/ https://www.wired.com/1995/02/hypelist-54/ http://web.mit.edu/comm-forum/legacy/papers/pesce.html http://web.mit.edu/comm-forum/legacy/papers/pesce.html 28 Jonas Frick: Computer Liberation set of metaphors, a new set of rules and behaviors«90 beeinflussten, der die Entwicklung des Cyberspace begleitete. Dass der noch heute geläufige Begriff des Cyberspace Gib sons Werk entstammt, ist entsprechend auch kein Zufall. Oder, wie Robert Markley be reits zusammenfasste: »Cyberspace, on short, is unthinkable without the print culture it claims to transcend«91. Drittens hat dieser Zugang auch pragmatische Gründe: Wäh rend in den letzten Jahren mehrere wertvolle historische Analysen erschienen, die sich verschiedenen Praktiken der Computergeschichte und -kultur widmeten, beispielsweise dem Hacking oder den Games, fehlt der literaturwissenschaftlich geschulte Blick auf die (im breiten Sinne) literarisch geprägte Cyberkultur – all das bedeutet jedoch keineswegs, dass insbesondere die Film- und Spielewelt keinen bedeutsamen kulturellen Beitrag ge leistet hätte, der einer gesonderten Untersuchung bedarf. Mit diesem literaturwissenschaftlich geschulten Forschungsinteresse am Cyber space und den Computerimaginationen wird kulturwissenschaftlich nicht nur Neuland betreten. Erstens haben Forschende wie Thomas Streeter, Patrice Flichy, Fred Turner oder Mark Dery in den letzten Jahrzehnten mit unterschiedlichem Fokus alle auf die Bedeutung des kulturellen Wandels aufmerksam gemacht, der dem technologischen Wandel vorhergeht oder diesen flankiert.92 Zweitens hat die Literatur selbst schon historische Analysen präsentiert, die einen Teil der bekannten Forschungsthesen vor wegnahmen. So wird beispielsweise die Geschichte der Computerindustrie und ihrer Kultur in einem kurzen Ausschnitt aus Persimmon Blackbridges Roman Prozac Highway (1997) treffend zusammengefasst; ein Roman, in dem es, wie sich später noch zeigen wird, auch um das soziale Leben im Cyberspace geht: I picked up an old copy of Newsday: »Generation on the Edge: The Boomers Face Aging«. Apparently everyone born between 45 and 58 was white, affluent, college educated, spent the sixties being hippie radicals, the eighties amassing large amounts of money and the nineties ruling the world.93 bei der Entwicklung seines frühen Computerspiels Spacewar (1962) auf die Science-Fiction-Werke von Edward Elmer Smith. (Vgl. Brand, Stewart: Spacewar. Fanatic Life and Symbolic Death Among the Computer Bums, in: Rolling Stone, 07.12.1972. Online: .) Und Vernor Vinges True Names (1981) war wichtiger Referenzpunkt der digi talen Verschlüsselungsindustrie. (Vgl. Frenkel, James [Hg.]: True Names: And the Opening of the Cyberspace Frontier, New York 2001.) Vgl. anekdotisch zum Einfluss von Science-Fiction-Literatur im Silicon Valley auch Romano, Carlin: America the Philosophical, New York 2012, S. 499. 90 Sterling, Bruce: The Hacker Crackdown: Law and Disorder on the Electronic Frontier, New York 1992, S. 247. 91 Markley, Robert: Introduction: History, Theory and Virtual Reality, in: Markley, Robert (Hg.): Virtual Realities and their Discontents, Baltimore, Md 1996, S. 1. 92 Vgl. Streeter, Thomas: The Internet as a Structure of Feeling: 1992–1996, in: Internet Histories 1 (1–2), 02.01.2017, S. 79–89; Flichy, Patrice: The Internet Imaginaire, Cambridge, Mass. 2007; Tur ner, Fred: From Counterculture to Cyberculture: Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago 2008; Dery, Mark: Escape Velocity: Cyberculture at the End of the Century, New York 1996. 93 Blackbridge, Persimmon: Prozac Highway, Vancouver 1997, S. 165. https://www.wheels.org/spacewar/stone/rolling_stone.html https://www.wheels.org/spacewar/stone/rolling_stone.html Einleitung 29 Diese angedeutete Transformation entsprach zugleich dem in den Zeitschriften und Büchern porträtierten Selbstbild wie auch der tatsächlichen Entwicklung, bei der sich eine Reihe erfolgreicher UnternehmerInnen mit gegenkultureller Vergangenheit eta blierte.94 Auch anderweitig trifft der kurze Ausschnitt einen Punkt. Die lautesten und einflussreichsten Stimmen entstammen einem eingrenzbaren sozialen Milieu, das über seine Kultur Narrative und (reale wie imaginierte) Regelbiografien prägte. Drittens weist Blackbridge korrekterweise auch auf eine Leerstelle der Erinnerung hin, in der das reale Ungleichgewicht nochmals potenziert wird, beispielsweise indem ›häretische‹ Ansätze oder marginalisierte Personen im Nachhinein unsichtbar gemacht werden. Gegensteuer gegen eine solche Geschichtsschreibung, die insbesondere durch populärwissenschaft liche Biografien auch in den letzten Jahrzehnten reproduziert wurde, stammt auch aus einer Reihe neuerer Forschungsbeiträge, die, beispielsweise wie Joy Lisi Rankin in ihrer People’s History of Computing (2018), auf die Vielfalt des Entwicklungsprozesses abseits der bekannten Gesichter und Genie-Narrative hinwiesen95 oder, wie Janet Abbate in Recoding Gender (2012), die weiblichen Geschichten und den Geschlechteraspekt beleuch teten oder die, wie mehrere Forschende, auf die Leistungen der subkulturellen Cracker und DIY-ProgrammiererInnen auch außerhalb der USA aufmerksam machten.96 Die vorliegende Analyse versucht sich bezüglich dieser Erkenntnisse in einem Spagat: Ei nerseits geht es an vielen Stellen um die die Computerkultur prägenden hegemonialen Stimmen, deren breiter Einfluss, gerade was seine Fülle an kultureller Produktion be trifft, nicht unterschätzt werden darf. Gleichzeitig werden immer wieder auch andere Ansätze erwähnt – mit dem erneuten Eingeständnis, dass gerade Geschichten und Erfahrungen von außerhalb der USA und Zentraleuropas zu kurz kommen.97 Und auch 94 Diese Entwicklung wird, nebenbei bemerkt, auch in Pedersens und Gildens Pirates on the Internet reflektiert: Mr. Madison, der Computerlehrer von Athena und Jason, brachte es durch den Börsen gang eines Software-Startups zu Wohlstand, bevor er sich zurückzog, um sich wieder seiner Pas sion zu widmen: dem Unterricht von Jugendlichen in Physik und Mathematik. 95 Rankin, Joy Lisi: A People’s History of Computing in the United States, Cambridge, Massachusetts 2018. 96 Vgl. Wasiak, Patryk: ›Illegal Guys‹. A History of Digital Subcultures in Europe during the 1980s, in: Zeithistorische Forschungen – Studies in Contemporary History 9 (2), 07.09.2012, S. 257–276; Erdo gan, Julia Gül: Computerkids, Freaks, Hacker: Deutsche Hackerkulturen in internationaler Perspek tive, in: Let’s historize it!, 2018, S. 61–94. Online: , Stand: 20.04.2022; Erdogan, Julia Gül: Avantgarde der Computernutzung: Hackerkultu ren der Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2021 (Geschichte der Gegenwart; v. 24); Albert, Gleb J.: Subkultur, Piraterie und neue Märkte: die transnationale Zirkulation von Heimcomputersoftware, 1986–1995, in: Bösch, Frank; Sabrow, Martin (Hg.): Wege in die digitale Gesellschaft: Computernut zung in der Bundesrepublik 1955–1990, Göttingen 2018, S. 274–299. 97 Zu verschiedenen Regionen dieser Welt gibt es jedoch seit Längerem ebenfalls ein reichhaltiges Forschungsinteresse wie auch Quellenmaterial. Vgl. z.B. Taylor, Claire; Pitman, Thea (Hg.): Latin American Cyberculture and Cyberliterature, Liverpool 2007; Sundaram, Ravi: Electronic Margina lity: Or, Alternative Cyberfutures in the Third World, Ljudmila, 1997, , Stand: 02.11.2021; Die Artikelsammlung von Covert-Vail, Lucinda; Cordone, Paolo G.; Valauskas, Edward J.: FM Reviews, in: First Monday, 01.02.1999. Online: , Stand: 26.04.2022; Ebo, Bosah (Hg.): Cyberimperialism? Global Relations in the New Electronic Frontier, Westport 2001. Zudem gibt es auch Forschung zu Europa, die im Folgenden zu kurz kommt, z.B. Pétin, Patrick; Tréguer, Félix: Building and defending the alternative Internet: the https://www.vr-elibrary.de/doi/10.7788/9783412512286.61 https://www.vr-elibrary.de/doi/10.7788/9783412512286.61 https://www.ljudmila.org/nettime/zkp4/08.htm https://www.ljudmila.org/nettime/zkp4/08.htm https://doi.org/10.5210/fm.v4i2.652 https://doi.org/10.5210/fm.v4i2.652 30 Jonas Frick: Computer Liberation andere Bereiche können im Folgenden mit Blick auf die Literatur nicht umfassend abgedeckt werden: Zu wenig betont wird neben dem Film auch die Musik. Dabei bildet das immer wieder aufgebrachte Versprechen, dass der »computer would become the ultimate musical instrument«98, neben den literarischen Visionen eine bisher zu wenig erforschte Antriebskraft der technologischen Entwicklung. Zum Aufbau des Buches Die folgenden Unterkapitel gehen entlang thematischer Schwerpunkte vor, sind jedoch in mehrere große Kapitel eingebettet, die chronologisch den verschiedenen Entwick lungsschritten seit den 60er-Jahren folgen. Die Geschichte der Computer und Compu ternetzwerke lässt sich mit Verweis auf Janet Abbate über einige Eckdaten als einleiten de Lesehilfe nochmals äußerst kurz zusammenfassen.99 Lässt man die kybernetischen Experimente während des Zweiten Weltkriegs, die ersten Universalrechner und auch die Vielzahl computerähnlicher mechanischer Rechenmaschinen außen vor, dann steht am Beginn des Computerzeitalters der 1958 erstmals entwickelte integrierte Schaltkreis, dessen eingeleiteter Miniaturisierungsprozess durch den 1971 zum ersten Mal von Intel produzierten Mikroprozessor vorangetrieben wurde. Bereits zuvor nutzte man in gro ßen Unternehmen und Universitäten allerdings Computer als Großrechner beziehungs weise ›Mainframes‹, die man, beispielsweise wie die erfolgreichen Varianten IBM 140 Serie (1959) beziehungsweise die IBM System/360 Serie (1964), mit Lochkarten bediente. Um die Wartezeit zu verkürzen beziehungsweise die Rechenkapazität optimaler aus zunützen, sollten die Mainframes verschiedene Aufgaben gleichzeitig verarbeiten kön nen und, wie das S/360-System, auch im Mehrprogrammbetrieb funktionieren. An den erfolgreichen Großrechner der 60er- und 70er-Jahre ließen sich so mehrere mit ›Tasta tur‹ oder später auch mit Bildschirm ausgestattete Terminals anschließen, von denen man auf den gemeinsam genutzten Rechner zugreifen konnte. Auf dieser ersten, meist an Universitäten erlebten Computererfahrung aufbauend, entwickelte sich in den 70er- Jahren ein wachsendes Hobbyinteresse am Computer, das zugleich einen kulturellen wie technischen Wandel auslöste: Nunmehr wollte man sich nicht mehr an einem Main frame anschließen, sondern seinen eigenen Microcomputer beziehungsweise später Per sonal Computer besitzen. Die ersten Prototypen, wie beispielsweise der mit Bildschirm, Computermaus und Graphical User Interface (GUI) ausgestattete Xerox PARC Alto (1973), zeigten bereits an, wohin die Reise gehen sollte. Doch bis zum Durchbruch dauerte es nochmals einige Jahre. birth of the digital rights movement in France, in: Internet Histories 2 (3–4), 02.10.2018, S. 281–298. Online: , Stand: 26.07.2022. 98 Johnstone, Bob: Wave of the Future, in: Wired, 01.03.1994. Online: , Stand: 03.04.2022. 99 Vgl. Abbate, Janet: The Electrical Century. Getting Small: A Short History of the Personal Compu ter, in: Proceedings of the IEEE 87 (9), 09.1999, S. 1695–1698; Abbate, Janet: Inventing the Internet, Cambridge 1999. Andere Einführungen finden sich z.B. bei Wolf, Jürgen: Computergeschichte(n): Nicht nur für Nerds., Bonn 2020. Wer die gesamte Entwicklung auf einen Blick sehen will, dem seien die Poster von Röbi Weiss (computerposter.ch) empfohlen. https://doi.org/10.1080/24701475.2018.1521059 https://www.wired.com/1994/03/waveguides/ https://www.wired.com/1994/03/waveguides/ Einleitung 31 Abbildung 1: Übersicht über die folgenden Themen mit Fokus auf die Einflüsse und die positiven, das heißt nicht alleine aus einer Abgrenzung oder Kritik bestehenden Verbindungen. Weniger exakt in dieser Darstellung ist die zeitliche Ebene. Der erste auch auf dem Markt (in bescheidenem Umfang) erfolgreiche Microcompu ter war der als Bausatz ohne Tastatur oder Bildschirm gelieferte über Schalter ›steuerba re‹ Altair 8800. Nachdem dieser im Januar 1975 auf dem Titelblatt des Popular Electronics erschienen war, wurde das angeschlagene Verkaufsziel von 400 Einheiten rasch über 32 Jonas Frick: Computer Liberation troffen, und innerhalb eines Monats wurden gut 800 Exemplare verkauft. Dies führte spätestens zu Beginn der 80er-Jahre zu einer rasch wachsenden Anzahl weiterer Geräte, die auf dem Erfolg aufbauen wollten und auf den Markt gebracht wurden. Als 1981 auch IBM in den Verkauf von PCs einstieg, war endgültig klar, dass sich der Massenmarkt für Computer anbahnte. Gemäß Statistik des US Census Bureau besaßen 1984 bereits etwas über acht Prozent der amerikanischen Haushalte einen Computer. 1989 waren es gut 15 Prozent, 1997 über 36 Prozent und 2000 wurde die 50-Prozent-Marke durchbro chen.100 Gemessen an der Nutzung gaben allerdings bereits in den 90er-Jahren mehr als 50 Prozent der Menschen an, Computer in irgendeiner Form in ihrem Alltag zu nutzen. Bei der Internetnutzung wurde die 50-Prozent-Marke in den USA erst nach der Jahrtau sendwende durchbrochen101 – in anderen Ländern wie Großbritannien und Deutsch land entwickelte sich die Nutzung mit jeweils einigen Jahren Verspätung ähnlich. Ein wesentlicher Faktor dieser Entwicklungsgeschichte bildete die Hinwendung zu einem ›user-friendly‹ Design. So wurden Computer in den 80er-Jahren mit Bildschirm, GUI und erwerbbarer Software ausgestattet, beispielsweise wie beim Apple Macintosh von 1984 oder beim 1985 eingeführten Betriebssystem Windows 1.0. In einem letzten Schritt ge lang in den 90er-Jahren schließlich der massenhafte Anschluss der Computer an das 1989 ›erfundene‹ World Wide Web, das vor allem dank dem 1993 entwickelten Mosaic Brow ser massentauglich wurde, was nochmals zu einem entscheidenden Katalysator für die Computernutzung werden sollte. Dabei war die dem zugrundeliegende Netzwerkver bindung nicht neu. Schon in den 80er-Jahren tauschte man sich über Bulletin Board Sys tems oder den Usenet Newsgroups aus. Und das die Netzwerktechnologien erstmals prä gend konfigurierende ARPANET, ein Forschungsnetzwerk mit sowohl zivilem als auch militärischem Interesse, wurde bereits 1969 eingeschaltet. 1. Vom Mainframe zum Personal Computer In einem ersten Unterkapitel geht es um die Computerimaginationen in der Science-Fic tion-Literatur. Dabei geht es unter anderem um Robert Heinleins Science-Fiction-Ro man The Moon Is a Harsh Mistress (1966), Hannes Olof Gösta Alfvéns unter dem Pseudonym Olof Johannesson veröffentlichte Science-Fiction-Geschichte SAGA vom großen Computer (1966), Ira Levins Dystopie This Perfect Day (1970), David Gerrolds bereits genanntes When HARLIE Was One (1972) und John Maddens Science-Fiction-Kurzgeschichte Julia’s Dilem ma (1979). Entlang dieser und weiterer Werke zeigt sich erstens, dass die Ängste vor dem imaginierten Computer mit einem diesem sowohl von linker als auch von libertärer Sei te zugeschriebenen Rationalisierungs- und Kontrolldrang zusammenhingen. Zweitens offenbart sich, dass es in den 60er-Jahren zu einer dem Computer gegenüber offeneren Einstellung kam, bei der dieser zum Helfer des Menschen wurde – mit einer Differenz in 100 Vgl. Computers/PCs household adoption rate in the U.S. 1984–2016, Statista, , Stand: 05.12.2022. 101 Vgl. Cohn, D’vera: Census: Computer ownership, internet connection varies widely across U.S., Pew Research Center, , Stand: 05.12.2022. https://www.statista.com/statistics/214641/household-adoption-rate-of-computer-in-the-us-since-1997/ https://www.statista.com/statistics/214641/household-adoption-rate-of-computer-in-the-us-since-1997/ https://www.pewresearch.org/fact-tank/2014/09/19/census-computer-ownership-internet-connection-varies-widely-across-u-s/ https://www.pewresearch.org/fact-tank/2014/09/19/census-computer-ownership-internet-connection-varies-widely-across-u-s/ Einleitung 33 der Einschätzung, welche Bedingungen hierfür notwendig sind. Drittens zeigt sich am Rande auch, dass man bereits früh davon ausging, dass Computer ihre Macht vor allem dann umfassend ausspielen können, wenn sie als vernetzte Geräte auftauchen. Während die Science-Fiction-Werke über die Zukunft vernetzter Computer nach dachten, begann man an Universitäten damit, Computerzugänge in Form von geteil ten Time-Sharing-Angeboten bereitzustellen. Das zweite Unterkapitel wird zeigen, wie im Rahmen dessen Mitte der 60er-Jahre eine rege Debatte um die Computer Utility ent stand, das heißt die Idee, dass die landesweite Vernetzung von Großrechnern und Termi nals, wie das Stromnetz oder das Bibliothekswesen, öffentlich organisiert werden könn te – oder aber als Gegenposition dazu, wie die neue Ressource auch liberalisiert werden könnte. Anders als in den Science-Fiction-Werken vermischte sich hier Imagination und Technologie stärker, insofern man selbst an entsprechenden Projekten arbeitete und die Wünsche und Ziele meist in eine etwas nähere Zukunft verlegte. Auch in den wissen schaftlichen Debatten zeigen sich Ansätze eines politisierten Computerdiskurses, ins besondere was die Diskussion um die Rolle des Staates, die geforderten Demokratisie rungsansätze wie auch die Forderung nach einer kollektiven Entscheidung betrifft, wo hin die Entwicklung gehen soll und wie man dabei neue Kontrollmechanismen verhin dern kann. 2. Gegenkultur und die Computer Der in den Repräsentationsvorstellungen des künftigen Netzwerkes artikulierte demo kratische Anspruch lebte in den 70er-Jahren in der gegenkulturellen Annäherung an Computertechnologien fort, allerdings unter etwas anderen ideologischen Vorzeichen. So zeigt sich, wie die Hoffnungen auf die emanzipatorischen Verwendungszwecke von Computertechnologie zu Beginn mit den Vorstellungen einer technikpessimistischen sozialen Bewegung kollidierten. Doch der Widerstand war geringer als gedacht, und bald schon wurden gegenkulturelle Computervereine gegründet. Für diesen Wandel lassen sich mehrere Faktoren aufzählen. Einerseits gab es Wortmeldungen einfluss reicher TheoretikerInnen, die das Organisationspotenzial von Computern betonten und ihnen, wie beispielsweise Murray Bookchin, explizit einen Platz in der imaginier ten kommunalistischen Zukunft zusprachen. Einen anderen Faktor spielten Medien und Unternehmen, die den Computer als egalitäres Medium inszenierten oder ein neues Verständnis von Arbeit im Computerzeitalter und damit eine Abkehr bisheriger Entfremdung versprachen. Ebenfalls Einfluss auf das sich wandelnde Technologie verständnis hatte Stewart Brand und der Whole Earth Catalog, der unter anderem mit Rückgriffen auf traditionsreiche amerikanische Freiheitsbilder oder mit dem Verspre chen einer Harmonisierung von Mensch, Natur und Technologie für eine intensivere Nutzung von Computern und anderen Technologien warb. Teil hiervon war das erneut aufkommende Interesse an der Kybernetik, die sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst auf Anklang stieß und beispielsweise über Kunstausstellungen und Bü cher über kybernetische Kunst eine technikoptimistischere und darin zugleich naivere Vorstellung von der gesellschaftlichen Nützlichkeit von Computern reproduzierte. Jene gegenkulturellen Kräfte, die ein besonders aktives Interesse an der Umset zung kybernetischer Ideen zeigten, besaßen vor allem in Kalifornien auch ein eng 34 Jonas Frick: Computer Liberation verbundenes personelles Netzwerk. Aus diesem entsprangen Vereine wie der Home brew Computer Club und die People’s Computer Company oder auch eine Reihe neuer Zeitschriften über den Microcomputer. In deren inhaltlichen Debatten zeigen sich auch verschiedene, die folgende Zeit prägende Positionierungen beziehungsweise Entwick lungen. Beispielsweise versprachen die aufkommenden PCs eine »increased personal power«102. Das enthielt allerdings unterschiedliche Bedeutungen. Einerseits wiederholt sich darin eine aktivistisch und gegenkulturell geschulte Rhetorik, die ihre Teilhabe ak tiv einfordert. Andererseits ist darin gerade mit Blick auf die Geschichte des PCs ebenso eine Abkehr von den kollektiven Vorstellungen zugunsten eines neuen Individualismus angelegt, bei der in Distanzierung von zentralisierenden Instanzen jeder und jede ihr eigenes Gerät besitzen will und die sich entsprechend leicht mit den aufkommenden libertären Ideologien, mit einer ideologisierten Kritik an den Mainframes verbinden ließ. Wie ein weiteres Unterkapitel sichtbar machen soll, gab es innerhalb der durch die soziale Bewegung und ihre Kultur sozialisierten Computerkultur der 70er-Jahre verschiedene Strömungen. Auf der einen Seite standen die personell weitaus stärkeren Kräfte, die wie die People’s Computer Company gegenkulturell inspiriert waren und die vor allem einen kulturellen Wandel anstrebten, der sich gut mit einem neuen Indivi dualismus und später dem Markt gegenüber off