CONFERENCE SERIES Series Editors: Birgit Holzner, Tilmann D. Märk innsbruck university press Theo Hug, Andreas Kriwak (Hrsg.) Visuelle Kompetenz Beiträge des interfakultären Forums Innsbruck Media Studies Theo Hug, Andreas Kriwak Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Innsbruck Gedruckt mit Unterstützung des Vizerektorats für Forschung der Universität Innsbruck und des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung. © innsbruck university press, 2010 Universität Innsbruck, Vizerektorat für Forschung 1. Auflage Alle Rechte vorbehalten. www.uibk.ac.at/iup ISBN 978-3-902719-85-0 Inhalt Editorial .................................................................................................................................... 3 Pädagogische und psychologische Aspekte Visuelle Kompetenz – Grundzüge der Bildsemantik Christian Doelker ..................................................................................................................... 9 Sehen ist lernbar – über den „blinden Fleck“ im Bildungssystem Ruth Gschwendtner-Wölfle ..................................................................................................... 28 Ikonologische Pädagogik – Versuch einiger Annäherungen Peter Stöger ............................................................................................................................ 35 Visuelle Kompetenz, Medienkompetenz und „New Literacies“ – Konzeptionelle Überlegungen in einer pluralen Diskurslandschaft Theo Hug ................................................................................................................................ 54 Vision and “the training of perception”: McLuhan’s Medienpädagogik Norm Friesen .......................................................................................................................... 75 Visuelle Wahrnehmung – Grundlagen, Phänomene, Erklärungen Pierre Sachse & Marco Furtner ............................................................................................. 87 Psychoanalyse und Bild: Das Subjekt zwischen Auge und Blick Andreas Kriwak .................................................................................................................... 102 Medien- und kommunikationstheoretische Aspekte Masken und Spiegel. Visuelle Strategien im Medienaktivismus Wolfgang Sützl ...................................................................................................................... 121 Paul Virilio: Die Sehmaschine Christina Antenhofer ............................................................................................................ 136 Text – Bild – Emotion Emotionslinguistische Analyse von Text-Bild-Zusammenhängen in den Medien Heike Ortner ......................................................................................................................... 151 Seeing is feeling. Vorder- und Hinterbühne des Emotionalen im Casting-Show-Zeitalter Katrin Döveling .................................................................................................................... 170 Filmbetrieb und Interkulturalität. Betrachtung eines Verhältnisses Verena Teissl ........................................................................................................................ 191 Methodologische und philosophische Aspekte Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft Peter M. Hejl ........................................................................................................................ 207 Die Visuelle Datenanalyse (VDA) in der vergleichenden sozialwissenschaftlichen Forschung Karl H. Müller & Armin Reautschnig .................................................................................. 236 Visuelle Kompetenz für Unternehmen Ekkehard Kappler ................................................................................................................ 251 Vom Blick zum Klang – Was wissen die Noten über mein Klavierspiel? Michael Funk ....................................................................................................................... 270 Bilder aus der Perspektive der natürlichen Theologie Kristóf Nyíri ......................................................................................................................... 285 Architekturtheoretische und ästhetische Aspekte The Style of Choice Bart Lootsma ........................................................................................................................ 309 h-aussprache – gebaute konstruktionen und wie sie kommunizieren Monika Abendstein ............................................................................................................... 319 Entschleunigung des Sehens Georg Vith ............................................................................................................................ 322 blicksicher. kein boden unter den füßen Barbara Huber & Christian Streng ...................................................................................... 334 Autorinnen und Autoren ................................................................................................ 348 Editorial Theo Hug & Andreas Kriwak Der vorliegende Sammelband enthält eine Zusammenstellung von Beiträgen, die als Vorträge, Workshops und Interventionen beim Medientag der Universität Innsbruck im November 2009 sowie bei zwei interdisziplinären Ringvorlesungen im Studienjahr 2009/10 gehalten wurden. Die Veranstaltungen wurden vom interfakultären Forum Innsbruck Media Studies1 organisiert und koordiniert. Das Rahmenthema lautete „Visuelle Kompetenz“ und wurde aus ver- schiedensten (inter-)disziplinären Perspektiven behandelt. Im entsprechend aspektreichen und vielgestaltigen Programm ging es insbesondere um • Formen der digitalen Produktion, Distribution und Rezeption von Bildern, • Fragen der kulturellen Neuorganisation des Lesens und Schauens sowie des Umgangs mit Texten und Bildern, • Zusammenhänge und Differenzen von Bildersprachen und Sprachbildern im Lichte von Oralität, Literalität und Digitalität, • Formen visueller Kommunikation und visueller Kommunikationskompetenz, • Instrumente und Strategien des Sichtbarmachens in medialisierten Umwelten, • Möglichkeiten der visuellen Organisation von Wissen, • Methoden der Analyse und Interpretation von Bildern, • Beiträge zum Verhältnis von visueller Kompetenz und Medienkompetenz. Zwischen Wort und Bild bestehen Zusammenhänge, deren Thematisierung in der Geschichte weit zurückverfolgt werden kann. Im Zuge der fortschreitenden Medialisierung der Lebens- welten sind Fragen nach der Produktion, Verbreitung und Wahrnehmung von Bildern in be- sonderer Weise virulent geworden. Dies gilt nicht nur für das Jahrhundert der Massenmedien, sondern vor allem für das Zeitalter der Digitalisierung. Wie lassen sich heute Bilder herstellen, beschreiben und interpretieren? Wie können wir uns in Bilderwelten orientieren? Welche Kompetenzen sind dazu erforderlich? Was bedeutet Lesbarkeit von Bilderwelten heute? Wie lässt sich der Zusammenhang von Bildlichkeit von Sprache und Sprachlichkeit von Bildern ausbuchstabieren und visualisieren? Was meint „visuelle Kompetenz“ im Ensemble sprach-, schrift-, buch-, bild- und computergestützter Denk- und Wahrnehmungsformen? Wie werden wir uns selbst und anderen in Zukunft Bilder von der Welt machen? Die Vortragenden gingen diesen Fragen nach und kamen zu teils überraschenden und jeden- falls diskussionswürdigen Antworten. Erfreulicherweise konnten wir bis auf wenige Ausnah- men die Autorinnen und Autoren der Beiträge zur Mitwirkung für diesen Band gewinnen. Er 1 Siehe http://medien.uibk.ac.at 4 Theo Hug & Andreas Kriwak ist in vier Teile gegliedert, in denen jeweils korrespondierende Akzentsetzungen überwiegend in deutscher Sprache, teilweise auch in englischsprachigen Beiträgen behandelt werden. Im ersten Teil sind Aufsätze zu pädagogischen und psychologischen Aspekten der Thematik versammelt. In seinem grundlagentheoretischen Beitrag stellt Christian Doelker die Thematik der visuelle Kompetenz in den Gesamtrahmen der Wahrnehmung, um sie dann als einen spezi- fischen perzeptiven Modus herauszuarbeiten. Wahrnehmung ist für ihn nicht nur die Verbin- dung des Menschen zur Welt, sondern verweist auch auf dessen phylogenetische und kulturelle Entstehungsgeschichte. Daraus leitet Doelker ein bildsemantisches Modell der Wahrnehmung ab, das neun verschiedene, sich überlagernde Bedeutungsschichten unterscheidet. Diese Be- deutungsebenen verdichten sich schließlich im Auge des Betrachters zu einer Gesamtaussage. Peter Stöger untersucht in seinem Aufsatz Ikonographie und Ikonologie im Hinblick auf ihren Stellenwert für eine „Ikonologische Pädagogik“. Diese Erziehung zum „Sprechen in Bildern“ (Ikonologie) bemüht sich neben der Aufarbeitung der vielschichtigen Entstehungsgeschichte auch um die Wirkungsweisen von Bildern. Der Artikel von Ruth Gschwendtner-Wölfle – Er- gebnis eines Workshops, den sie beim Medientag 2009 gehalten hat – zielt darauf ab, mit schulischen Vorurteilen in Sachen Kunsterziehung aufzuräumen, für ein Training im Bilderle- sen einzutreten und ein Problembewusstsein für bestehende Lücken im Lehrplan zu wecken. Theo Hug präsentiert und diskutiert in seinem Beitrag eine Auswahl von Diskursen über visu- elle Kompetenz sowie ausgewählte Begrifflichkeiten wie 'visual competence', 'media compe- tence' und 'media literacy'. Der Autor klärt einige konzeptionelle Aspekte der Thematik und stellt mit der Theorie medialer Formdynamiken (Rainer Leschke) auch die Möglichkeit der Begründung von Ansprüchen der Konzeptionalisierung, Gestaltung und Kritik von visueller Kompetenz sowie von Medienkompetenz und Medienbildung in Aussicht. Die Medienpädago- gik von Marshall McLuhan steht im Mittelpunkt der Ausführungen von Norm Friesen. Er prä- sentiert neben der Kritik McLuhans an der Dominanz der Bilder vor allem dessen besonderes Verständnis von Wahrnehmung und dessen Bedeutung für die Erziehung. Dabei betont Friesen die Aktualität des pädagogischen Konzeptes von McLuhan. Pierre Sachse und Marco Furtner heben in ihrem Aufsatz die Wichtigkeit der Wahrnehmungspsychologie für die Allgemeine Psychologie hervor. Sie beschäftigen sich vor allem mit der erkenntnistheoretischen Frage, wie aus dem beschränkten physikalischen Material, das in unseren Sinnen gegeben ist, ein derartig reichhaltiges Wissen über die Welt entstehen kann – eine Frage, die die Wahrnehmungspsy- chologie seit jeher beschäftigt hat. Andreas Kriwak beschließt den ersten Teil des Sammelban- des mit einem Einblick in die Bedeutung des Bildes für die Lacansche Psychoanalyse. Nach einer Ausarbeitung des sogenannten „Spiegelstadiums“ versucht der Autor an Hand von Bild- und Filmbeispielen verständlich zu machen, was visuelle Kompetenz im Sinne der Psycho- analyse heißen kann. Die Beiträge des zweiten Teils fokussieren medien- und kommunikationstheoretische As- pekte. Wolfgang Sützl untersucht Techniken der Maskierung und Spiegelung als visuelle In- strumente des Medienaktivismus. Maskierungen und Spiegelverzerrungen werden dabei als Möglichkeiten präsentiert, neue Lebensformen sowie den Anspruch auf Eigenmacht zu gene- rieren. Christina Antenhofer erläutert in ihrem Beitrag die historische Veränderung des abend- ländischen Blicks an Hand des Buches Die Sehmaschine von Paul Virilio. Diese, laut Virilio, Editorial 5 negative Entwicklung hat ihren Ursprung im Kriegswesen, führt über die Entwicklung opti- scher Geräte zu einer Fixierung der Bilder und letztlich zu einer Entsubjektivierung und einem passiven „Beschossenwerden“ mit Bildern, was einem bewusstlosen Sehen gleichkommt. Die emotionale Wirkung von Bildern und Texten steht im Mittelpunkt des Aufsatzes von Heike Ortner. Die Autorin präsentiert zum einen die wichtigsten Typen von Text-Bild-Emotion-Zu- sammenhängen und versucht in einem zweiten Schritt die Schlüsselkompetenzen der Emotio- nalen Intelligenz mit der Visuellen Kompetenz und den Regeln der Emotionalität zu verknüp- fen. Katrin Döveling befragt in ihrem Beitrag die auf Produktionsseite eingesetzten Inszenie- rungsstrategien bei Casting Shows wie „Deutschland sucht den Superstar“ und analysiert die Auswirkungen auf die Rezipienten, wobei insbesondere die Mittel der Fiktionalisierung und Inszenierung von Interesse sind. Schließlich untersucht Verena Teissl in ihrem Artikel das Verhältnis von Filmbetrieb und Interkulturalität. Sie geht dabei vor allem den Fragen nach, unter welchen Vorzeichen fremdkulturelle Bilder und Themen im okzidentalen Kulturkreis gelesen und verbreitet wurden und werden sowie welche Rolle dabei der Filmbetrieb, insbe- sondere Filmfestivals spielen. Im Zentrum des dritten Teils stehen Fragen der Methodologie und Philosophie. Peter M. Hejl beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Problem der medienspezifischen Beschränkungen und Möglichkeiten für die Darstellung von Gegenständen bzw. Prozessen sowie für die Prä- sentation theoretischer Argumente. Der Autor erläutert, wie unterschiedlich Text bzw. Text mit bildlichen Darstellungen oder mit Grafik in verschiedenen Disziplinen verwendet werden und diskutiert die Leistungsfähigkeit von Schrift und von bildlichen bzw. grafischen Darstellungen zur Objektivierung wissenschaftlicher Erklärungsangebote. Karl H. Müller und Armin Reau- tschnig präsentieren in ihrem Artikel die Grundzüge des neuen, aus der Sozialwissenschaft kommenden Methodenbereichs der Visuellen Datenanalyse (VDA). Sie zeigen an zwei ausge- wählten Beispielen den potentiellen Nutzen und die komparativen Vorteile dieses visuellen Verfahrens auf. Den Auswirkungen der inzwischen möglichen Bild- und Textbearbeitungen von Bilanzen und Jahresabschlüssen in Unternehmen sowie deren kreativ visualisierten Statis- tiken mit ihrer Suggestion zum Risikomanagement und der damit einhergehenden Frage, ob denn Reporting und Monitoring nichts als Schein sind, geht Ekkehard Kappler in seinem Bei- trag nach. Michael Funk untersucht in seinem Text den Zusammenhang zwischen Wissen- schaft, Kunst und Technik beim Klavierspielen aus einer technikphilosophischen Perspektive. Seine zentrale These lautet, dass visuelle Kompetenz perzeptives Wissen darstellt, das als Kompetenz zur sinnlichen Orientierung Ausdruck individueller Wahrnehmungsgewissheit ist. Dabei geht es um ein Wissen, das gegenüber propositionalem und Umgangswissen einen sys- tematisch eigenständigen Status in der philosophischen Theoriebildung erhält. Auch wenn es die Philosophie im 20. Jahrhundert sowie die Buchreligionen Judaismus und Christentum nicht wahr haben wollen, dem menschlichen Denken liegt die visuelle Dimension zugrunde, so Kristóf Nyíri in seinem Beitrag. Um sich dieser präverbalen Dimension zu nähern, geht der Autor der Natur und Vielfalt primordialer religiöser Erfahrungen nach, die grundsätzlich mit inneren mentalen Bildern und spezifischen Bildern der uns umgebenden Welt zu tun haben. Last but not least wird das Thema Visuelle Kompetenz im Lichte architekturtheoretischer und ästhetischer Perspektiven behandelt. Bart Lootsma diskutiert in seinem Beitrag mit Bezug auf 6 Theo Hug & Andreas Kriwak Rem Koolhaas (The Generic City), wie die Postmoderne die neue globale Umgangsform in Architektur und Stadtplanung geworden ist, was das bedeutet und wie darauf zu reagieren ist. Monika Abendstein fasst ihre Überlegungen zum Thema „Visuelle und soziale Kompetenz in der Architektur“ zusammen, die sie beim Medientag 2009 im Zuge eines Workshops präsen- tiert hat. Ebenfalls im Zuge eines Workshops entstand der Textbeitrag von Georg Vith, der mit Hilfe eines Baucontainers vorgeführt hat, wie eine Camera obscura funktioniert. Mit dem durch die Camera obscura ermöglichten Sehen in Zeitlupe und der damit einhergehenden Ent- schleunigung der Wahrnehmung möchte der Autor einen Kontrapunkt zur herrschenden visu- ellen Reizüberflutung setzen. Eröffnet wurde der Medientag 2009 mit einem Kunstprojekt von art.migration unter der Leitung von Barbara Huber und Christian Streng mit „blicksicher. kein boden unter den füßen“. Das zentrale Anliegen bestand darin, das Bild in den Mittelpunkt zu bringen und in Bildern zu sprechen und zu denken, anstatt zu versuchen Bilder zu verbalisie- ren. Ihr künstlerischer Beitrag, der zum Teil die Ergebnisse ihrer interaktiven Kunstinterven- tion wiedergibt, rundet den Sammelband ab. Die Initiierung, Vorbereitung und Organisation sowohl des Medientags als auch der Ringvorle- sungen waren ein kollaboratives Unterfangen. Die Durchführung der Veranstaltungen und die Herausgeberschaft des vorliegenden Sammelwerks wären nicht denkbar ohne die zahlreichen helfenden Hände in Vor- und Umfeld. Besonders danken möchten wir Katja Huebser für die organisatorische Unterstützung, Gerhard Ortner für technische Betreuungsleistungen und Lay- outarbeiten, dem Rektorat der Universität Innsbruck sowie der Fakultät für Architektur, der Fakultät für Bildungswissenschaften und der Fakultät für Politikwissenschaft und Soziologie für die finanzielle Unterstützung des Medientags, Birgit Holzner und Carmen Drolshagen von innsbruck university press für die verlegerische Betreuung sowie dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und der Universität Innsbruck für die Druckkostenzuschüsse. Wir wünschen den Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre und freuen uns über Rückmel- dungen. Innsbruck, im September 2010 Die Herausgeber Pädagogische und psychologische Aspekte Visuelle Kompetenz – Grundzüge der Bildsemantik Christian Doelker Zusammenfassung Visuelle Kompetenz wird zunächst in den Gesamtrahmen der Wahrnehmung gestellt und als spe- zifischer perzeptiver Modus herausgearbeitet und positioniert. Wahrnehmung, ganzheitlich be- trachtet, ist nicht nur die Verbindung des Menschen zur Welt (anthropologische Dimension), son- dern auch die Rückbindung auf seine Entstehungsgeschichte (phylogenetische und kulturelle Di- mensionen). Daraus lässt sich ein allgemeingültiges bildsemantisches Modell ableiten: Es unter- scheidet in visuellen Texten grundsätzlich neun verschiedene potentielle, sich überlagernde Be- deutungsschichten, die im Einzelnen erläutert werden. Im Gegensatz zu einem geologischen Schichtenmodell sind die in einem Bild vorhandenen Bedeutungsebenen durchscheinend und fü- gen und verdichten sich im interpretierenden Auge des Betrachters zu einer Gesamtaussage. Abschließend wird, mit Ausrichtung auf Schule und Ausbildung, eine didaktische Vorgehens- weise zum systematischen Lesen von Bildern vorgeschlagen. Bild galt in unserer wortgeprägten Kultur lange als quantité négligeable – dies eine Langzeit- folge des Bilderverbots und der daran anknüpfenden Bildverachtung. Während Grammatik, Linguistik, Semiotik laufend einen Ausbau erfuhren, ist der Bildwissenschaft erst in jüngerer Zeit ein gebührender Stellenwert eingeräumt worden. Mit dem Vorzug, dass nun ein breiter Aufbruch stattfinden kann. Von einem Einführungsreferat wird die Setzung eines allgemeinen Rahmens und eine struktu- rierte Grundierung des Tagungsthemas erwartet. Gleichzeitig soll die vorgetragene Theorie genügend weitmaschig angelegt sein, um zu vielfältigen Fortschreibungs- und Anwendungs- möglichkeiten in der Praxis einladen zu können. Visual literacy Lassen Sie mich bei der Begrifflichkeit des Tagungsthemas ansetzen: beim Terminus „Visuelle Kompetenz“. Im Angelsächsischen lautet der entsprechende Fachausdruck „visual literacy“, neudeutsch übernommen als „visuelle Literalität“. Literacy und Literalität sind abgeleitet von lateinisch littera (= Buchstabe); der Plural litterae heißt auch schriftliche Aufzeichnungen. Dass man nun bei der Bezeichnung der Fähigkeit, kundig mit Bild umgehen zu können, wiede- rum ausgerechnet auf Buchstabe und Schrift, also auf wortsprachliche Ausdrucksformen rekur- riert, mag zunächst stutzig machen (und wohl deshalb weicht man gerne auf den – übrigens seinerseits nicht unproblematischen – Begriff der Kompetenz aus). Auch der Ausdruck Bildal- phabetisierung weist in die gleiche wortorientierte Richtung. 10 Christian Doelker Nun, eine solche Ausrichtung macht aber durchaus auch Sinn: Einerseits wird bildtheoretisch damit ausgesagt, dass Bildwahrnehmung meistens nicht ohne kognitiven Vorspann auskommt, und anderseits wird implizit eine bildungspolitische Forderung erhoben, nämlich den etablier- ten Lesebegriff auch auf das Bild auszudehnen, also Bilderlesen als gleichwertige Kulturtech- nik wie das Lesen von verbalen Texten zu positionieren und damit in den Alphabetisierungs- auftrag der Schule einzubeziehen. Im Gleichschritt damit wird auch der Begriff „Text“, abge- leitet von lat. textum (= Geflecht, Gefüge), auf Bild (und folgerichtig ebenso auf Ton) ausge- weitet. Lesen – weit gefasst – heißt demnach, in aufgezeichneten Konfigurationen Bedeutungen aus- zumachen. Der Wortsemantik lässt sich mithin eine Bildsemantik gleichstellen. Als übergrei- fende Disziplin versteht sich die Semiotik, die Zeichenlehre: Zeichenhafte Wahrnehmungsvor- gaben werden als bedeutungstragend entschlüsselt. Sentio ergo sum Wenn wir uns nun strikt am Grundsätzlichen orientieren, müssen wir uns – vor einer spezifi- zierenden Erörterung von „Visueller Kompetenz“ – zunächst dem Thema Wahrnehmung, und zwar aus anthropologischer Sicht, zuwenden. Was nichts Geringeres meint, als Wahrnehmung als Verbindung des Menschen zu seiner Welt zu betrachten. Und nicht nur als Verbindung: Wahrnehmung ist auch ein Innewerden des Menschen in seiner Welt (ich nehme wahr, und ich nehme mich wahr, also bin ich) und eine Rückbindung des Menschen auf seine Ursprünge und die lange Geschichte seiner Entwicklung. Mit der Welt sind wir über unsere Sinne verbunden, und üblicherweise unterscheiden wir fünf Sinne: Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten/fühlen. Allein schon diese Aufzählung und damit Aufteilung lädt indes zu Voreiligkeiten ein, nämlich zur isolierten Betrachtung der einzelnen Sinnesorgane und damit auch zu einer Vorstellung, dass diese getrennt und unabhängig voneinander funktionieren. Wahrnehmung ist aber ganzheitlich. Dies bringt der Pädagoge, Architekt und Künstler Hugo Kükelhaus auf den Punkt: „Nicht das Auge sieht, der Mensch sieht. Nicht das Ohr hört, der Mensch hört“ (Kükelhaus 1978, S. 7). Ganzheitlich wahrnehmend steht also der Mensch in der ihn umgebenden Welt. Welcher Welt? Welt ist nicht platt das, was wir wahrnehmen. Und – fügen die radikalen Konstruktivisten im Kielwasser des chilenischen Biologen Humberto Maturana bei – Welt ist überhaupt nur inso- fern existent, als wir sie wahrnehmen. Das hieße mit anderen Worten: Welt könnte – quasi als Sinnestäuschung – faktisch gar nicht vorhanden sein. Visuelle Kompetenz – Grundzüge der Bildsemantik 11 Real oder virtuell? Über die Frage, ob die Dinge wirklich real (das ist nicht etwa ein Pleonasmus) oder nur in unseren Köpfen existieren, kursiert folgende Anekdote: Im 17.Jahrhundert hätten sich in China die berühmtesten Gelehrten jener Zeit versammelt, um diese epistemologische Frage ein für allemal zu klären. Während den hitzigen Disputen sei als Folge eines sintflutartigen Regens der Gelbe Fluss derart angeschwollen, dass das Kloster, in dem die Versammlung debattierte, mitsamt den anwesenden illustren Teilnehmern von der reißenden Flut weggeschwemmt wurde, noch bevor eine Beschlussfassung erfolgt sei. So habe die Frage, ob die Dinge real oder nur in unseren Köpfen existieren, bis heute nie endgültig entschieden werden können. In gewissem Sinne eine Sowohl-als-auch-Antwort lässt sich aus der Physik ableiten. Während die klassisch-mechanistische Physik, also die „alte“ Physik, die Realität als „eine Welt der Dinge, der isolierten Objekte und deren Anordnung“ (Dürr 2009, S. 112) versteht, sind für die „neue“, die Quantenphysik, die „ursprünglichen Elemente ... nicht Materie.“ Indes: „Wenn diese Nicht-Materie gewissermaßen gerinnt, zu Schlacke wird, dann wird daraus etwas „Mate- rielles“. Oder noch etwas riskanter ausgedrückt: Im Grunde gibt es nur Geist.“ (Dürr 2009, S. 95) Dieses pysikalische und epistemologische „Koan“ (Jochen Kirchhoff) mit philosophischer Eleganz aufgelöst hat antizipierenderweise bereits Kant, indem er, ebenfalls ausgehend von der naturgegebenen physiologischen Begrenztheit der Wahrnehmung, darlegte, dass unsere Er- kenntnis grundsätzlich nicht bis zu den „Dingen an sich“ vordringen könne. Dies hat dann in der Phänomenologie bei Husserl zur für uns Wahrnehmende handhabbaren Bescheidung ge- führt, es schlicht bei der Erscheinung der Dinge bewenden zu lassen. Was ja wiederum nichts Anderes heißt, als dass für den Alltagsgebrauch die Dinge in diesem eingeschränkten Sinne gleichwohl als real angesehen werden können. Relativiert wird die Realität der Welt allerdings dadurch, dass sie für jeden Betrachter aufgrund der Subjektivität der Wahrnehmung verschieden aussieht. So ist zum Beispiel ein Kirschbaum nicht einfach für alle die genau gleiche Erscheinung, sondern je nach Interessenlage und Ge- mütsverfassung, Erfahrungen und Erwartungen des jeweiligen Betrachters, ein Früchte- oder Holzlieferant, ein Schattenspender, ein Hindernis, ein Element der Landschaft oder ein ästheti- sches Event. Es gibt nun aber auch Dinge, die wir zwar sehen, und die doch nicht real sind, oder nicht sicher real: eben Dinge auf Bildern, respektive auf dem Bildschirm. So betrachtet leben wir in einer hybriden Welt, inmitten von realen Dingen und von lediglich medialen Repräsentationen von Dingen. Um nun die beiden Ebenen von realen Dingen und nur medial repräsentierten Dingen mit der nötigen Klarheit unterscheiden zu können, schlage ich aus Sicht der Medienpädagogik folgenden Kunstgriff vor. Wir bezeichnen die realen Dinge (die Dinge der primären Wirklich- keit, der W1) mit griechisch-deutschen Termini, und die repräsentierten Dinge (der sekundären Wirklichkeit, der W2) mit lateinisch-deutschen Termini. Eine entsprechende Differenzierung lässt sich aufgrund der folgenden Tabelle vornehmen. 12 Christian Doelker Tabelle 1: Zwei sensorische Fronten: die primäre und die sekundäre Wirklichkeit Für den Gesichtssinn gibt es mithin optische und visuelle Erscheinungen, für den Gehörsinn akustische und auditive, für den Geruchssinn osphrantische und odorative, für den Ge- schmackssinn geustische und gustative, für den Tastsinn haptische und taktile Phänomene. Wenn also ein Fernsehteam vor Ort (das heißt in der W1) ein optisch-akustisches Ereignis auf- zeichnet, wird dieses an die Fernsehzuschauer als audiovisuelle Realität weitergeliefert (ge- nauer: als eine audiovisuelle Repräsentation der Realität). Nach diesen Prämissen wäre der Fachausdruck „Visuelle Kompetenz“ ausschließlich für die W2 reserviert. Was hieße dann „Optische Kompetenz?“ Muss Sehen bereits im Hinblick auf die primäre Wirklichkeit gelernt werden? Arthur Zajonc berichtet in seinem Buch Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewusst- sein von einer systematischen Untersuchung an sechsundsechzig Fallgeschichten von Patien- ten, die von angeborener Blindheit geheilt werden konnten (Zadonc 2001, S. 15). Diese Studie gelangt zum Schluss, „dass solche Menschen unzählige und enorme Schwierigkeiten überwin- den müssen, um sehen zu lernen. Für sie ist die Welt beim Erwachen aus der Narkose nicht sogleich mit verständlichen Lichtern, Farben und Formen erfüllt. ... Neue Eindrücke bedrohen die Sicherheit der Welt, die (der Patient) sich bisher aus den Sinneserfahrungen des Tastens und Hörens (wir ergänzen: aus seiner haptischen und akustischen Kompetenz) konstruiert hat.“ Zajonc fasst diesen Befund dahin zusammen, „dass zum Sehen weit mehr als ein funktionsfä- higes Organ erforderlich ist. Ohne ein inneres Licht, ohne ein gestaltgebendes inneres Vor- stellungsvermögen (wir ergänzen: ohne optische Kompetenz) sind wir blind.“ Zur Verdeutlichung der beiden didaktisch unterschiedenen sensorischen Fronten noch ein an- deres Beispiel: Der Beruf des Weinschmeckers setzt eine „Osphrantisch-geustische Kompe- tenz“ voraus. Um hingegen einen riechenden Film zu beurteilen – und entsprechende Versu- che, auch eine osphrantische Wirklichkeit nachzubilden, gab es immer wieder –, bräuchte es zusätzlich zu der audiovisuellen eine odorative Kompetenz. Visuelle Kompetenz – Grundzüge der Bildsemantik 13 Multiple Wirklichkeiten Die hier angedachten Unterscheidungen sind nun nicht etwa Selbstzweck, sondern verweisen auf das medienpädagogische Substrat, aus dem nachfolgend das Konzept einer visuellen Kom- petenz entwickelt wird. Entsprechend fungiert als Hintergrundfolie das medienpädagogische „Modell der drei Wirklichkeiten.“ Bei diesem Schema hinzugefügt ist eine dritte Wirklichkeit, die wahrgenommene mediale Wirklichkeit, eine W3 also im Kopf jedes einzelnen Betrachters, subjektiv eingefärbt und umgestaltet – und damit nicht mit der W2 deckungsgleich. Man könnte daher dieses Modell auch als „Gleichung der Ungleichheiten“ bezeichnen. Denn: die W2 ist nicht gleich der W1, und die W3 ist nicht gleich der W2. Was übrigens auch für die Mediendidaktik eine Herausforderung darstellt, wenn sie eine gültige Vorstellung von Wirk- lichkeit vermitteln will. Abbildung 1: Schema Modell der drei Wirklichkeiten Im vorliegenden Zusammenhang soll dieses Schema den Umstand veranschaulichen, dass unsere direkte Umwelt zu einem hohen Anteil aus medialen Produkten besteht. Wir sind nicht nur von Straßen, Häusern, Menschen und Autos real umgeben, sondern auch von Bildern von Straßen, Häusern, Menschen und Autos – zudem in zum Teil sehr eindringlicher, ja – man denke an die Werbung – aufdringlicher Weise. Ich insistiere auf dieser selbstverständlichen, scheinbar banalen Unterscheidung von W1 und W2 vor allem auch aus folgendem Grund: Im Zuge der wachsenden Medialisierung und des zunehmenden Medienkonsums ab frühesten Lebensjahren melden einige Pädagogen und gar Medienpädagogen an, für Babys und Kleinkinder stelle eigentlich der Bildschirm den ersten Schauplatz ihrer Begegnung mit Wirklichkeit dar; deshalb sei es angemessener, als primäre 14 Christian Doelker Wirklichkeit die Medienrealität zu bezeichnen. Eine solche Umkehrung der Einstufung von Wirklichkeiten und Erfahrung geriete damit zu einer buchstäblich perversen pädagogischen Sichtweise und könnte letztlich bedeuten, dass man fortan, nach der Befruchtung in vitro, nun auch ein Heranwachsen in vitro befördern würde. Lateinisch vitrum bedeutet Glas und könnte so auch für Mattscheibe stehen. Das ursprüngliche anthropologische Setting der geschilderten Verbindung des Menschen zur Welt über die Sinne würde damit diffus, weil virtualisiert. Noch offensichtlicher wird die Sachlage, sobald wir beim Modell der drei Wirklichkeiten auch die Textsorten berücksichtigen. Abbildung 2: Schema erweitertes Modell der drei Wirklichkeiten Dokumentarische Texte wie Reportagen oder Nachrichten haben einen verbindlichen Bezug zur Faktizität. Größtmögliche Authentizität lässt sich mit indexikalischen Bildern und O-Ton erzielen. Entscheidend ist Verifizierbarkeit der Aussage. Fiktionale Texte wie Erzählungen, Spielfilme können sich zwar an Realität anlehnen (wahre Begebenheiten) oder diese sogar verdichtet wiedergeben („Dichtung“), müssen aber nicht. Ihre sogenannte Referentialität ist ungewiss. Fiktion kann sich anderseits gerade durch ihre offen- sichtliche Realitätsferne auszeichnen und der Phantasie unbegrenzten Auslauf gewähren (Sci- ence Fiction, Surrealismus...). Visuelle Kompetenz – Grundzüge der Bildsemantik 15 Ludische Texte konstituieren eine Spielwirklichkeit, die nur innerhalb bestimmter Grenzen, nämlich des Spielfelds, nach eigenen Gesetzlichkeiten, nämlich den Spielregeln, stattfindet, sich aber gleichwohl in einem alltagsnahen Milieu abwickeln und damit potentielle Bezüge zur Realität aufweisen kann (Killerspiele: Risiko des Transfers). Als intentionale Texte bezeichnen wir Werbedarbietungen, wohlwissend, dass zwar jede Form von Kommunikation von einer Absicht ausgeht, aber dass bei Werbebotschaften das Bild der Realität vollständig von der Verkaufsabsicht bestimmt und nach ihr ausgerichtet wird. Mit den eben getroffenen Unterscheidungen kommen wir nun immer näher zur Bildsemantik, vorerst im Sinne der Bildfunktionen. Zu deren Systematisierung soll nun ein weiteres Modell dienen. Funktionale Bedeutungen Abbildung 3: Schema Kreismodell Bildfunktionen Dieses Kreismodell geht davon aus, dass bei jedem Bild, schon bevor es realisiert ist, durch die ihm zugedachte Funktion eine Bedeutungseinschränkung vorweggenommen wird. Ich unterscheide zehn Funktionen, aus denen jeweils ein Bildtypus abgeleitet wird. Der besse- ren Übersicht halber fasse ich die zehn Funktionen in fünf Grundfunktionen zusammen. 16 Christian Doelker Der Kreis soll veranschaulichen, erstens, dass eine Verbindung zwischen den einzelnen Positi- onen resp. Funktionen besteht, und zweitens, dass auch Wanderungen auf dem Kreis-Itinerar, sprich Funktionswechsel möglich sind. Erstens: Bild als Wesen (Surrogatbild). Das Bild steht stellvertretend für das abgebildete We- sen: von den magischen Höhlenmalereien von Lascaux über Kaiserstandbilder im alten Rom bis hin zu den Verpackungen von Tiefkühlprodukten, bei denen das Bild der Pizza dem Auge besser schmeckt als der effektive Inhalt dem Gaumen. Zweitens: Das Bild als Beleg (Spurbild). Als Abklatsch eines Events – vom Handabdruck in der prähistorischen Malerei bis zum analogen Realbild in Foto und Film – stellt es die authenti- sche Spur eines Gegenstandes oder Events dar. Drittens: Das Bild als Repräsentation umfasst die künstliche Nachbildung von Wirklichkeit im Sinne von generiertem Abbild (generiert im Rechner oder mit Zeichenstift respektive Pinsel), von didaktischem Schaubild und von erzählendem Bild (Phantasiebild). Viertens: Bild als Form heißt: Der Inhalt tritt hinter die Form zurück, die so als Zierbild eine dekorative Funktion, als Füllbild eine phatische Funktion und als Clipbild – Bild in der Kunst als für sich seiend – eine ontische Funktion übernehmen kann. Fünftens: Beim Bild als Impuls sind wir wieder – allerdings auf anderer Ebene – bei Position eins angelangt. Hier handelt es sich aber nicht mehr um ein Bild statt des (dargestellten) Wesens (Surrogatbild), sondern um das Bild als selbständiges Bildwesen, dem eine eigene Dy- namik und Wirkung zukommt, einerseits als Pushbild in der appellativen Funktion der Wer- bung und andererseits als Mandala oder therapeutisches Bild (Wirkbild) in der energetischen Funktion. Um nochmals auf den möglichen Funktionswechsel zurückzukommen: Es finden auch Bildkar- rieren statt, indem beispielsweise ein ursprünglich registratives oder appellatives Bild (z.B. Benetton-Werbung von Oliviero Toscani) aufrückt in den Status von Kunst (ontische Funktion) oder ein narratives Bild als Schaubild für die medizinische Ausbildung (Bierbauch aus dem Film Amarcord als Gesundheitsrisiko) benutzt wird. So vermag ein Bild gelegentlich Doppel- oder Mehrfachfunktionen zu übernehmen – schon dies ist ein Aspekt von möglicher Mehrschichtigkeit. Semantische Vielschichtigkeit ist nun aber just ein weiteres konstitutives Merkmal von Bildern, das im Folgenden näher ausgeführt werden soll. Visuelle Kompetenz – Grundzüge der Bildsemantik 17 Tektonik der Bedeutungen Abbildung 4: Schema Schichtenmodell, vereinfacht Mit dem sogenannten Schichtenmodell gehe ich von der Annahme aus, dass die Gesamtbe- deutung eines Bildes in Schichten angelegt ist, und dass diese Schichten aus der langen Ent- wicklungsgeschichte des Menschen heraus verstanden werden sollen. Will heißen: von der stammesgeschichtlichen Entwicklung her, der Kulturgeschichte, der Lebensgeschichte des Bildmachers und schließlich der Geschichte rund um das dargestellte Event. Im Sinne einer groben Einteilung kann man in der Phylogenese des Menschen drei Phasen beschreiben: erstens die vorprimatische Phase (in der Stammesgeschichte vor den Primaten), zweitens die vorkulturelle Phase (Hominiden), drittens die kulturelle Phase (Homo sapiens). In der vorprimatischen und vorkulturellen Phase gab es noch keine artikulierte Verbalsprache. Alle optischen Reize und nonverbalen Signale, die eine spontane Reaktion oder ein spontanes Verhalten auslösen, fasse ich entsprechend – aus semantisierender Perspektive – als spontane Bedeutung zusammen. Es handelt sich um verhaltensbiologisch geregelte Abläufe aufgrund von bestimmten Wahrnehmungsprogrammen. Entsprechend den weit auseinander liegenden zeitlichen Distanzen lassen sich die Reizmuster der spontanen Bedeutung nach vorprimatischer und vorkultureller Phase aufteilen. Ich unter- scheide entsprechend den biologischen Kode (Signale hinsichtlich Selbsterhaltung und Arter- haltung) und den archaischen Kode (Mimik und Gestik). 18 Christian Doelker Biologischer Kode: Da beim heutigen Menschen als Bilder- und Medienrezipient die alten phylogenetisch angelegten Programme immer noch wirksam sind, reagieren wir auf hektische mediale Darbietungen, rasche Schnitte und Kamerabewegungen, kurz auf action ebenso un- willkürlich wie andere und in der Evolution längst vor dem Menschen auftretende Lebewesen auf unrhythmische Bewegungen und rasche Veränderungen, die für sie entweder fight or flight, to have lunch oder to be lunch (Dominique von Matt) signalisierten. Ebenso zwingend wie der Selbsterhaltung dienende Signale, sind Reizmuster im Dienst der Arterhaltung, beispielsweise sexuelle Signale. Quotenorientierte Veranstalter operieren deshalb vorzugsweise mit reißeri- schen Formaten, mit sex and crime (vgl. nachstehendes Bildbeispiel: Nackter weiblicher Oberkörper, klischierte Sexualität). Archaischer Kode: Gefühle, innere Befindlichkeiten sind aus Gesichtsausdruck und Körper- haltungen spontan ablesbar (vgl. Bildbeispiel: Selbstbewusste Haltung und cooler, berechnen- der Gesichtsausdruck). Allerdings werden, wie Studien ergaben, nur elementare Gefühle wie Trauer, Schmerz, Empörung, Angst, Entsetzen interkulturell relativ einheitlich interpretierbar. Es lässt sich dies jederzeit anhand von Fernsehsendungen aus Kulturen, deren Sprachen einem nicht geläufig sind, nachprüfen. Auch Gesten können als spontan verständliche Hinweise verstanden werden. Meistens sind sie indes von artikulierten – bei den Hominiden wohl lediglich prosodischen – Äußerungen be- gleitet. Die Beliebtheit von Talkshows, auch wenn diese inhaltlich noch so nichtsagend (nichts sagend) sind, dürfte sich vor allem aufgrund der vorkulturellen Konditionierung auf mimische und gestische Signale erklären. Symptomatisch ist wohl, dass offenbar auch Schimpansen Sendungen solcher Art mit Vergnügen folgen. Bei den gestischen Ausdrucksformen findet bereits der Übergang zur nächsten Zeichen- res- pektive Bedeutungsebene statt, den Zeichen mit fester Bedeutung. Denn vor allem bei der Gestik haben sich in den verschiedenen Kulturen Konventionalisierungen herausgebildet, die je nach Situation nicht mehr spontan verständlich sind, sondern sogar zu mitunter fatalen Miss- verständnissen Anlass geben. Nicht umsonst werden deshalb spezifische „Wörterbücher der Gesten“ angeboten. Den umfassendsten Bereich von Zeichen und Zeichenkonfigurationen mit fester Bedeutung bilden naheliegenderweise Piktogramme, icons, und natürlich Verkehrszeichen. Im Weiteren sind zu den konventionalisierten Zeichen auch Markenzeichen, Logos, Wappen, Embleme und – in der bildenden Kunst – kennzeichnende Accessoires zu zählen (z.B. Mann mit Schlüssel = Petrus) (vgl. Bildbeispiel: Auf Körper und Gesicht des Models und als Hintergrund projizierter Dollarschein). In der bildenden Kunst werden auch häufig Buchstaben-, Wort- und Textfragmente in eine Komposition einbezogen, wobei diese ursprünglich konventionalisierten Zeichen dann aber meistens sinnentlehrt als rein grafische Elemente figurieren. Visuelle Kompetenz – Grundzüge der Bildsemantik 19 Abbildung 5: Richard Phillips: $, 2003 Das oben stehende Bild soll auch gleich zur nächsten Bedeutungsebene überleiten, der latenten Bedeutung. Aus der bildenden Kunst ist uns vertraut, dass gewisse Motive – etwa ein Haus, ein Baum, ein Apfel – eine viel weitere Bedeutungsaura einnehmen als lediglich den Nennwert eines bestimmten Gegenstandes. Es sind dies Symbole, die mit einem weit ausholenden se- mantischen Kraftfeld gelesen werden können. So kann beispielsweise „Haus“ stehen für Ge- borgenheit, ein „Baum“ für Ganzheit, ein „Apfel“ für Fülle, Sinnlichkeit, ja für die ganze Welt (vgl. obenstehendes Bildbeispiel: Femme fatale, Käuflichkeit der Liebe, Künstlichkeit des Bildes generell). Die im vorausgehenden vereinfachten Schichtenmodell-Modell pauschal als vierte Bedeu- tungsebene bezeichnete ad-hoc-Bedeutung soll nun im folgenden erweiterten Schichtenmodell in fünf Subebenen aufgeteilt werden. 20 Christian Doelker Das bildsemantische Schichtenmodell Abbildung 6: Erweitertes Schichtenmodell Die extensive Fassung des Schichtenmodells umfasst so acht Bedeutungsebenen (die funktio- nale Bedeutung als Bedeutungsvorspann ist hier nicht mit einbezogen). Zu diesen einzelnen Subebenen nur kurze Hinweise. Die drei letztgenannten Bedeutungsebe- nen sind weitgehend deckungsgleich mit den herkömmlichen Methoden der Bildhermeneutik: man erklärt ein Bild aus werkimmanenter Sicht (kontextuell), ikonologisch aus Parallelbei- spielen der Kunstgeschichte (intertextuell) und aus historischer Perspektive (transtextuell). trans heißt entsprechend, was von jenseits (des Bildtextes) an Erklärungen beigebracht werden muss. Was ich als artikulierte Bedeutung bezeichne, umfasst alle spezifischen Betrachtungsweisen, welche die formale Gestaltung betreffen – und damit die Hauptinhalte der Lehr- und Ausbil- dungsgänge an (Hoch-)Schulen für Gestaltung, Künste, grafische Berufe. Als deklarierte Bedeutung darf eine Bildunterschrift gelten, wenn ihr der Status einer Legende zukommt: lat. legenda (Gerundivum von legere = lesen) heißt eigentlich: (wie das Bild) „gele- sen werden muss.“ Die Legende liefert also einen expliziten Hinweis zur Entschlüsselung des betreffenden Bildes. Visuelle Kompetenz – Grundzüge der Bildsemantik 21 Alle diese Bedeutungsschichten können, müssen aber nicht in einem Bild angelegt sein – mit einer Ausnahme: der artikulierten Bedeutung. Denn jede visuelle Konfiguration existiert schließlich nur dadurch, dass sie produziert und unabdingbar damit gestaltet worden ist. Ähnlich wie bei geologischen Schichten mögen nun einzelne Schichten wenig ausgeprägt sein, und andere fallen durch eine besondere Mächtigkeit auf. Im Gegensatz zu Gesteinsschichten sind aber diese Straten „durchsichtig“. Nur sind sie für das bildsemantisch ungeschulte Auge nicht „offensichtlich“. Für den kundigen Blick indessen (Visuelle Kompetenz!) schimmern alle vorhandenen Bedeutungsschichten durch und fügen sich zu einer Gesamtaussage. Diese Durchsichtigkeit der Bedeutungsschichten macht die semantische Tiefe von Bildern aus und erklärt mit die Faszination, die Bilder ausüben können. Dies sei anhand eines klassischen Beispiels aus der bildenden Kunst, eines der berühmten Papstbilder von Francis Bacon, durchexerziert: Spontane Bedeutung: Aufgerissener Mund signalisiert Bedrohung (biologischer Kode), steht im Kontrast zur Statik der Sitzhaltung und der Gestik (archaischer Kode). Feste Bedeutung: Papst-Sessel als Statuszeichen, Hierarchie der klerikalen Gewandung und Farbcodes (Violett). Latente Bedeutung: Verzweiflung ob des Eingesperrtseins und der Ausweglosigkeit der exis- tentiellen Situation (betont durch den um den Stuhl herumgeführten Vorhang, der zudem durch gelbe Abschrankungen zusammengehalten wird). Deklarierte Bedeutung: Studie nach Velasquez’ Porträt Papst Innozenz X Artikulierte Bedeutung: Dynamisch-expressive Gestaltung, schreiende Farbgebung und oszil- lierend wirkende Senkrechtstreifen (des transparenten Vorhangs, der eine Art Raum im Raum bildet). Kontextuelle Bedeutung: Engerer Kontext: die Reihe „Schreiende Päpste“ (im Ganzen 45 Variationen); im weiteren Kontext des Gesamtopus: entstellte Gesichtszüge und verformte geschundene menschliche Körper. Intertextuelle Bedeutung: Im Titel explizit genannt ist das Papst-Portrait von Innozenz X von Diego Velazquez (1650). Motiv des Schreis: Anspielung auf den Gesichtsausdruck der Mutter in Nicolas Poussins Bild „Der Bethlehemitische Kindermord“ (1628). Im Weiteren motivische Verbindung zum Bild „Der Schrei“ von Edvard Munch. Transtextuelle Bedeutung: Francis Bacon (1909-1992) hat die beiden Weltkriege aus der Nähe erlebt und war u.a. stark geprägt durch die Erfahrung von sinnloser Gewalt und Zerstörung, aber auch von Exzessen in seinem persönlichen Leben. 22 Christian Doelker Abbildung 7: Francis Bacon: Studie nach Velasquez’ Porträt von Papst Innozenz X, 1953 Visuelle Kompetenz – Grundzüge der Bildsemantik 23 Außer aus Bildlegenden lassen sich auch aus (eher seltenen) autobiografischen Zeugnissen (Tagebücher, Briefe) Hinweise auf deklarierte Bedeutung ableiten – nur: Ein Künstler erklärt in der Regel nicht zusätzlich verbal, sozusagen pleonastisch, was er mit einem Bild sagen will; seine Aussage formt er ja bildspezifisch durch die Gestaltung (artikulierte Bedeutung). In diesem Zusammenhang ist aber sehr wichtig zu beachten, dass längst nicht jede Bildunter- schrift – gewissermaßen automatisch – eine Legende (im buchstäblichen Sinn) darstellt, son- dern vielmehr zusammen mit der visuellen Konfiguration einen Gesamttext bildet, etwa wenn z.B. bei Paul Klee eine semantische Spannung zwischen dem Bildtext und dem Zu-Satz, dem beigefügten Wortstrang, erzeugt werden soll. Bild-Wort-Relation in Gesamttexten Solches Zusammenfügen von Bild- und Wortsträngen oder Bild- und Tonsträngen zu Gesamt- texten ist ein Grundprinzip in der Medienproduktion. Im Folgenden sei die Bild-Wort-Relation in der Gattung Print herausgegriffen; in die Visuelle Kompetenz soll ja auch die Modalität Schrift einbezogen werden. Es werden acht Kategorien unterschieden, die nach zunehmender Öffnung der „Bild-Wort- Schere“ angeordnet sind. Position 1 bezeichnet die engste, Position 8 die weiteste Bild-Wort- Relation. Nr. Art der Relation Erläuterung 1 pleonastisch zeichenspezifische Transkodierung 2 kongruent genuine Einheit 3 reziprok gegenseitige Bedingtheit 4 komplementär zweckmäßige Ergänzung 5 additiv angemessene Beifügung 6 assoziativ reflexive Brechung 7 extensiv atmospärische Begleitung 8 divergent sachfremde Abschweifung Tabelle 2: Schema Bild-Wort-Relation 24 Christian Doelker Die erste Stufe pleonastisch ist atypisch für den Printjournalismus, hingegen eine Basis- Voraussetzung für den audiovisuellen Sprachunterricht, weil ja mit Bild (bedeutungsmäßig) möglichst das Gleiche wie mit Wort ausgedrückt werden soll. Zweitens: kongruent. Bild und Wort „bilden“ eine „natürliche“, genuine Einheit insofern, als sie dem gleichen Ereignis entstammen. Das Bild ist ein konstitutiver Teil des Events. Diese ursprüngliche Verbindung entspricht im Fernsehen der audiovisuellen Abbildung eines akus- tisch-optischen Ereignisses. Es handelt sich sozusagen um den „Normalfall“ der Berichterstat- tung, wenn dieser von Technik und Logistik her möglich ist. Drittens: reziprok. Bild- und Worttext bedingen sich gegenseitig. Wird also zum Beispiel im Worttext über ein bestimmtes Bild berichtet, muss dieses Bild gleichzeitig gezeigt werden. Und ist von optischen Aspekten der Wirklichkeit die Rede, die nicht über bestehende, allge- mein voraussetzbare Primärerfahrung oder Bilderfahrung für das innere Auge des Lesers ab- rufbar sind, ist das Bild unentbehrlich. Viertens: komplementär. Das Bild stellt eine zweckmäßige Ergänzung zum Worttext her, leistet einen maßgebenden Beitrag für Verständlichkeit und Anschaulichkeit des verbalen Textes. Bei der Herstellung des Gesamttextes wird – aufgrund der Spezifitäten – von vorne- herein darauf geachtet, „was des Bildes ist und was des Wortes ist.“ Fünftens: additiv. Diese Relation findet sich in der täglichen Praxis der Zeitungsherstellung. Aus Platzgründen oder zur Aufwertung eines Artikels werden im Nachhinein Bilder eingefügt: „das Bild danach.“ Sechstens: assoziativ. Das Bild ist nicht einfach eine Ergänzung, sondern eine mit bildspezi- fischen Mitteln mögliche Weiterführung oder Variierung des verbalsprachlich ausgedrückten Sachverhalts oder Gedankens. Oft weisen Cartoons eine solche Qualität von reflexiver Bre- chung auf. Siebtens: extensiv. Damit sei die visuelle Begleitung eines verbalen Textes bezeichnet, die lediglich zur Begrünung der Bleiwüste dient. Ein innersemantischer Bezug kann dabei sehr weit gefasst sein. Achtens: divergent. Der letzte Typus in dieser Kasuistik meint die weiteste Fassung von Korre- lation. Die nächste Stufe wäre eine eigentliche Disrelation: Bild und Wort würden sich dann in keiner Weise mehr aufeinander beziehen. Visuelle Kompetenz – Bilderlesen in drei Schritten Abschließend sei noch auf eine mögliche Umsetzung der bis dahin ausgeführten bildsemanti- schen Theorie in eine Methodik des Bilderlesens in der Praxis, z.B. im Schulunterricht und in der Ausbildung, hingewiesen. Ein Vorgehen in drei Schritten bietet sich an, und ein Bildbei- spiel für die eigene praktische Erprobung wird gleich mitgeliefert. Visuelle Kompetenz – Grundzüge der Bildsemantik 25 Der erste Schritt: Der Betrachter spricht (subjektive Bedeutung). Der Bildrezipient beschreibt, was das Bild ihm – persönlich – sagt. Zunächst schiebt sich näm- lich für jeden Betrachter eine persönliche Bedeutsamkeit des Bildes vor. Assoziationen, Kon- notationen stellen sich ein, Bezüge zu eigenen Erfahrungen werden wach. Wie eingangs schon erwähnt, ist Wahrnehmung ein subjektiver Vorgang, der zu einem großen Teil vom Persön- lichkeitsprofil des Wahrnehmenden bestimmt wird. Den ersten Schritt in der Bilderschließung nennen wir deshalb subjektive Bedeutung. Zweiter Schritt: Das Bild spricht (inhärente Bedeutung). Es fragt sich nun, wie weit es eine „objektivere“, nach äußeren Kriterien verifizierbare Bildle- semethode gibt. Anders herum: Wie könnte man systematisch die dem Bild inhärente Bedeu- tung, d.h. die gesamthaft angelegten Bedeutungen ermitteln. Bei diesem zweiten Schritt geht es mithin darum, möglichst alle dem Bildtext innewohnenden semantischen Möglichkeiten aus- zuloten. Die Erarbeitung der inhärenten Bedeutung des Bildes entspricht dem größtmöglichen Bedeu- tungsumfang. Ein solcher kann allerdings nie abschließend festgelegt werden, denn insbeson- dere bei der Kunst zeigt sich, dass künftige Generationen einem Bild abermals zusätzliche Sinnaspekte abgewinnen, – weil ein Kunstwerk auch für spätere Zeiten und damit neue Situati- onen bedeutsam zu sein vermag. Bei der Erarbeitung der inhärenten Bedeutung ist zunächst auszumachen, welche Bildelemente in einer festen Bedeutung zu lesen sind. Eine besondere semantische Fülle erwächst aus der spezifischen Gestaltungsweise, der grafischen Artikulierung des Bildes, heraus. Einen semanti- schen „Hof“ erzeugt die latente, d.h. symbolische Bedeutung der dargestellten Gegenstände und Strukturen. Anklänge an bestehende andere Werke oder gar eigentliche Bildzitate sind Anhaltspunkte für die intertextuelle Bedeutung. Dritter Schritt: Der Bildautor (oder sein Vertreter, der Experte) spricht (intendierte Bedeutung). Angaben zur beabsichtigten Bedeutung liefern in der Regel Titel und Legende des Bildes (de- klarierte Bedeutung). Weitere Hinweise sind aus dem Gesamtwerk eines Künstlers, also aus der kontextuellen Bedeutung ableitbar. Auch Parallel-Zeugnisse über ein gleiches Event in ver- schiedenen Medien lassen sich als Kontext auswerten. Ferner können aus dem zeitgeschichtli- chen oder biografischen Hintergrund schlüssige Hinweise im Sinne einer transtextuellen Be- deutung gewonnen werden. Als Anwendungsbeispiel sei ein Bild eines koreanischen Fotokünstlers zur Verfügung gestellt, das 2008 in der Ausstellung All Inclusive. Die Welt des Tourismus in der Schirn Kunsthalle Frankfurt zu sehen war (alle nötigen zusätzlichen Angaben für das vorliegende, zur Selbst- tätigkeit einladende Anwendungsbeispiel und weitere Bildbeispiele, finden sich im gleichnami- gen Katalog, hrsg. von Hollein & Ulrich, 2008). 26 Christian Doelker Abbildung 8: Ho-Yeol Ryu: Airport, 2005, Digital Print Es bleibt die Offenheit Nach dem Abschreiten der vorgestellten Modelle ist mir zum Schluss folgende Feststellung wichtig: Die Kenntnis der Grundzüge der Bildsemantik vermag lediglich jenen Teil von visu- eller Kompetenz zu begründen, der zur Erschließung des Sinngehalts eines Bildtextes dient. Dem bildsemantischen Vorgehen sind indessen Grenzen gesetzt, wenn es um die Würdigung einer umfassenden Bedeutsamkeit des Bildes geht, zu der auch sein ästhetisch-künstlerischer Rang, seine gesellschaftliche und kulturelle Relevanz und letztlich sein Geheimnis gehören. Literatur Doelker, Christian (1991): Kulturtechnik Fernsehen. Analyse eines Mediums. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. Doelker, Christian (1998): Bilder lesen. Bildpädagogik und Multimedia. Donau-Wörth, Leipzig, Dortmund: Auer. Visuelle Kompetenz – Grundzüge der Bildsemantik 27 Doelker, Christian (2002): Ein Bild ist mehr als ein Bild – Visuelle Kompetenz in der Multime- dia-Gesellschaft. 3. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta. Doelker, Christian (2004): Sehen ist mehr als Sehen. In: Doelker, Christian, Klaus Lürzer & Ruth Gschwendtner-Wölfle (Hrsg.): Sehen ist lernbar – The Learning Eye. Nendeln: Kunstschule Liechtenstein, Band I, S. 7–97, Band II, S. 9–95. Doelker, Christian (2005): media in media – Texte zur Medienpädagogik. Zürich: Verlag Pes- talozzianum. Doelker, Christian (2007): Wort am Ende – WortplusBild am Anfang. In: Rusterholz, Peter & Zwahlen, Sara Margarita (Hrsg.): Am Ende das Wort – das Wort am Ende. Literatur als Ware und Wert. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt, S. 13–34. Dürr, Hans-Peter (2009): Warum es ums Ganze geht. Neues Denken für eine Welt im Umbruch. München: oekom verlag. Hollein, Max & Ulrich, Matthias (Hrsg.) (2008): All Inclusive. Die Welt des Tourismus. Köln: Snoeck Verlag. Kükelhaus, Hugo (2000): Hören und Sehen in Tätigkeit. 2. Aufl., Zug: Klett und Balmer. Zajonc, Arthur (2001): Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewusstsein. 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Sehen ist lernbar – über den „blinden Fleck“ im Bildungssystem Ruth Gschwendtner-Wölfle Zusammenfassung Als Kunstschaffende und Kunsterzieherin bin ich nicht nur mit „visueller Leseschwäche“ (bei KunstbetrachterInnen), sondern auch mit „visueller Schreibschwäche“ bis hin zur „Schreibver- weigerung“ (Malen, Zeichnen) bei SchülerInnen konfrontiert. Die „Leseschwäche“ hängt eng zusammen mit Entmutigung im Umgang mit Kunst. Viele Erwachsene sind der Überzeugung, Kunst sei Fachleuten vorbehalten. Viele Kinder kommen ins Gymnasium mit der Überzeugung, Zeichnen sei Begabungssache. Beide Meinungen sind falsch und müssen in mühsamer Aufbau- arbeit revidiert werden. Theoretisches Wissen über visuelle Sprachen ist hilfreich, wird aber selten unterrichtet, Training im visuellen Ausdruck wird zwar unterrichtet, jedoch im Vergleich zum sprachlichen Ausdruckstraining eher gering geschätzt. Training im Bilderlesen existiert fast nur in Bezug auf Kunstbetrachtung, und fast nicht in Bezug auf alltägliche Bilderwelten. Ziel meines Workshops an der Universität Innsbruck war es, Sensibilität, Freude und Ideenfluss im Bilderlesen zu verstärken; aber auch ein Problembewusstsein zu wecken für bestehende Lücken im Lehrplan und die Notwendigkeit, diese so schnell wie möglich zu schließen. Blockaden beseitigen: nur Begabte... Dem Malen und Zeichnen haftet, wie übrigens auch dem Singen und Musizieren, der Makel an, nicht jede/r könne es erlernen, weil es Begabungssache sei. Das ist falsch. Richtig ist, dass nicht jede/r es bis auf Kunstniveau bringt. Aber wer würde das Schreiben und Sprechen ver- weigern, nur weil kein Kunst-Niveau erreicht wird? Deshalb gilt: Wer Lesen erlernt hat, kann auch visuelle Texte erfassen (=Sehen lernen) – wer Schreiben gelernt hat, kann auch visuelle Texte wiedergeben (=Zeichnen lernen). Beides (lesen/sehen und schreiben/zeichnen) braucht sowohl kognitive wie auch feinmotorische Fähigkeiten. Visueller wie auch verbaler Sprach- erwerb ist lernbar – kein Zweifel. Und beide Sprachformen (die visuellen und die verbalen) treten sowohl in ihrer Kunstform wie auch im trivialen Alltagskontext mit all ihren Spielarten auf. Erlernbar ist die Alltagsform. Womit wir seit der ersten Klasse Grundschule vertraut gemacht werden, sind die verbalen Textarten. Wir haben sie lesend (rezeptiv/Textverständnis, Textanalyse) und schreibend (krea- tiv/Texte verfassend) geübt und (bis zu einem gewissen Grad) erlernt. Dabei ging es nicht um Begabung, sondern darum, schreiben als persönliches Ausdrucksmittel bzw. zur Verständigung mit anderen einsetzen zu können; als Zweckform, nicht als Kunstform(!). Was in der Unter- richtspraxis bis heute weit weniger systematisch praktiziert wird, ist die Vermittlung visueller Sprachformen. Auch hier geht es darum, visuelle Textarten (siehe Christian Doelker, „Sehen ist lernbar – Beiträge zur visuellen Alphabetisierung“) kennen zu lernen, zu erfassen (rezeptiv/ Sehen ist lernbar – über den „blinden Fleck“ im Bildungssystem 29 Bilder „lesend“ und dekodierend), und selbst Bilder zu erzeugen, (kreativ/malend, zeichnend, aber auch fotografierend, filmend,...). Und hier wird plötzlich von Begabung gesprochen. Ohne Begabung keine Bilder, und im Umkehrschluss: wenn da trotzdem Bilder sind, handelt es sich um visuell Begabte, um Genies, um KünstlerInnen (man spricht von Kinder„kunst“, wenn ein Pinsel bewegt wurde). Wer spricht von Kinder„literatur“, wenn der Erstklässler gerade begon- nen hat zu schreiben!? Einschränkungen beseitigen: nur die Kunst ... Bildlesekompetenz wird, wenn überhaupt, bestenfalls in Form von Kunstbetrachtung vermit- telt, während Strukturen und Spuren einer täglichen Bilderflut völlig unbeobachtet und unbear- beitet bleiben. Visuelle Sprachen – reduziert auf den winzigen Bereich der Kunst – werden so zu etwas Exklusivem: schwer vermittelbar, mehrdeutig lesbar, subjektiv deutbar, und deshalb leicht verzichtbar weil zu „vage“. Konsequenterweise wird das visuelle Sprach-Fach Kunster- ziehung/Bildnerisches Gestalten leichten Herzens als erstes gestrichen, wenn es um Einspa- rungen geht. Wer tatsächlich glaubt, die Deutung verbalsprachlicher Mitteilungen sei eindeutig (und deshalb wissenschaftlicher), vergegenwärtige sich die vielen Missverständnisse, die durch Worte ent- stehen. Bildsprache und Wortsprache – beide haben unterschiedliche Stärken und Schwächen in der Schärfe. Sie decken jeweils verschiedene Mitteilungsebenen ab. Vieldeutigkeit gibt es in jeder Sprachform, ob verbal oder visuell, ebenso wie Präzision. Wichtig ist, für beide gleicher- maßen ein Problembewusstsein zu besitzen und beide zu benutzen. Der systematische Unterricht im Lesen und Schreiben verbaler Sprachen macht (relativ früh) klar: es gibt Kunstformen und es gibt Alltagsformen, d.h. es gibt „die Literatur“ und es gibt die Alltagssprache – studierbar als Literatur- bzw. Sprachwissenschaften. Nicht so in den visuellen Sprachen. Ein Bewusstsein für Kunst ist gegeben, aber das Bewusstsein, wie viel uns die anderen visuellen Felder sagen, wie sehr sie uns beeinflussen, beeinträchtigen, beflügeln oder deprimieren, darüber ist sich bei weitem nicht jeder klar. Hier wären die entsprechenden Forschungsgebiete die Kunstwissenschaft und die Bildwissenschaft (bezeichnenderweise sogar an den Universitäten eine noch relativ junge Disziplin). Wer befasst sich schon im täglichen Leben bewusst mit dem Decodieren von Werbung, von Frauen- und Männerbildern (und den dazu gehörigen Klischees), von Farbe in der Architektur, der Mode, wer würde einen Arbeits- raum verlassen mit der Begründung, die Proportionen seien zu eng und würden sich negativ auf seine Leistungsfähigkeit auswirken ... und welcher Arbeitgeber würde dies verstehen? Auch die verbreitete Gewohnheit, Filme nur auf ihre (verbalsprachlich orientierte) Story hin zu „lesen“ führt häufig zu jenem „blinden Fleck“, der die bildsprachlichen Untertöne und meta- sprachlichen Beeinflussungen (der Gefühle) unbemerkt lässt, die ein mehrsträngig angelegter Text nun einmal in sich birgt (Christian Doelker: sehen ist lernbar – beiträge einer visuellen alphabetisierung). 30 Ruth Gschwendtner-Wölfle Ob ein Text gelesen wird oder nicht, hängt längst nicht mehr nur davon ab, ob er publiziert wurde. Ebenso wichtig wie der Inhalt sind Typografie, Bebilderung, Lesegrafik, Platzierung, Schriftgröße – alles visuelle Signale und Eigenschaften, die darüber entscheiden, ob der Text überhaupt auch nur wahrgenommen wird. Bei Vorstellungsgesprächen zählt – oft mehr als Zeugnis und gesprochenes Wort – der erste Eindruck, ein Lächeln, körpersprachliche Signale, die blitzschnell gelesen und ausgewertet werden – häufig ohne dass sie ins Bewusstsein des Rezipienten vordringen. Es entstehen Vorurteile, vorschnelle Reaktionen und Entscheidungen, deren Zustandekommen ohne Quellenangabe bleibt. Es sind gerade die Trivialformen visueller Texte, die uns wie ein Strom umgeben, und die jeden Ungeübten zur leichten Beute derer werden lässt, die uns ihre Botschaft unterjubeln und davon profitieren wollen. Aus Bildern werden (durch Wiederholung und Gewöhnung) Vorbil- der, aus Farben werden Befindlichkeiten, aus aggressiven Bildformen werden Handlungsim- pulse, Verletzungen oder gar Traumata. Das alles wäre relativ unbedenklich – solange die jeweiligen „userInnen“ geübt im aufgeklärten, freien und selbstbewussten Umgang mit visuel- len Feldern wären, d.h. im Bilderlesen. Sobald es sich aber um naive „BildbenutzerInnen“ handelt, die arglos der Meinung sind, eine gute Brille sei ausreichend für ein gutes Seh-Ergeb- nis, wächst die Gefahr, als visueller Analphabet ebenso übers Ohr gehauen zu werden wie die Analphabeten früherer Zeiten. Tempo, Mehrsträngigkeit und Virtualität machen Bilder zu äußerst komplexen Mitteilungssystemen, welche – im Gegensatz zu verbalen Texten – jeder- zeit unbewusst aufgenommen, jedoch nur selten bewusst decodiert werden. Dies macht Bilder zu „Bedeutungs-U-Booten“ und die ungeschulte Mehrheit zu leichter Manövriermasse. Denkräume erweitern: Sehen heißt verknüpfen... Der erste Schritt zum selbstbestimmten Umgang mit Bildern heißt: Weder in der Kunst noch in der Literatur noch in der Musik gibt es eindeutige Botschaften. Jede/r von uns hat das Recht, eigene Konnotationen zu entwickeln, selbst empfundene Deutungen zu äußern. Mehrdeutigkeit muss nicht Verunsicherung bedeuten, muss nicht Inkompetenz bedeuten, kann auch Freiheit heißen, kann heißen, dass es mehrere Möglichkeiten, ja mehrere Wirklichkeiten gibt. Kinder assoziieren zu einer gegenstandslosen blauen Fläche – etwa von Yves Klein – problemlos „Himmel, Meer, fliegen, Tinte, ...“ oder sie begeben sich emotional einfach wortlos hinein in dieses Blau. Sie trauen ihren spontanen Eingebungen und ihrer individuellen Lesart, die abhän- gig von den eigenen Erfahrungen und inneren Bildern ist. Sie haben noch nicht die schulbe- dingten Kategorien von „richtig“ und „falsch“ internalisiert, die freies Denken einschüchtern. Dieses frühe Selbstbewusstsein verfliegt im Laufe einer Schulzeit, viele Kinder verstummen, eben weil mit „richtig“ und „falsch“ Scham und Entmutigung einhergehen, wenn eben etwas „falsch“ war. In meiner eigenen Schulzeit habe ich die Kategorien „relevant“ und „irrelevant“ vermisst: nämlich „relevant“ in Bezug auf mich. Wo durften all die Dinge eine Rolle spielen, die mit MIR zu tun hatten und wo wurde geübt, diese eigenen Verknüpfungen, Ideen, geistigen Jonglierkunststücke zu entwickeln, wo durfte ich erfinden, übertreiben, Absurdes entwickeln? Sehen ist lernbar – über den „blinden Fleck“ im Bildungssystem 31 Nicht einmal in Kunstbetrachtungen war dies möglich, da es auch hier richtige und falsche Konnotationen zu geben schien. Zum Glück hat sich dies geändert! Im Sandkasten museums- pädagogischer Vermittlungszauberei wird heute den jungen Menschen jene Leichtigkeit im Assoziieren wieder nahe gebracht, die es braucht, um zu den eigenen geistigen Schätzen der Imagination vorzudringen, äußere Bilder mit Er-innerungen (aus dem Innern) zu verknüpfen und damit eigene, für die betrachtende Person relevante Lesarten aufzuspüren. Ein Stein ist nicht nur ein Stein ... das zeigt die Geschichte vom Zen-Mönch, der durch einen einfachen Stein, der beim Kehren an seinen Besen sprang, Erleuchtung erreichte! Abhängig von den eigenen geistigen Voraussetzungen und der Situation wird die Betrachtung einer Vor- lage bei jedem Betrachtenden ein anderes Ergebnis hervorrufen. Dabei kann niemand behaup- ten, dass die eigenen Konnotationen im Vergleich zu den anderen falsch sind. Sie können mehr oder weniger logisch, nachvollziehbar oder begründbar sein. Aber – wie in der Wortsprache auch – es können irrationale Momente auftreten, die den Lesenden zu einer ganz unvorherge- sehenen Lesart inspirieren. Es bedarf einiger Übung, um eigene Konnotationen und individu- elle Verknüpfungen ins Rollen zu bringen. Der unbrauchbar gewordene Begriff der „Kreativi- tät“ wird heute trendig mit „mind hacking“ umschrieben, was so viel bedeutet wie die innova- tiven Wege der Gedanken im eigenen Gehirn ausfindig zu machen, wenn sie (die Gedanken) neue Verknüpfungen und Lösungswege suchen und Ergebnisse erstellen. Durch Übung wird eine gewisse Geläufigkeit erreicht, diese wiederum erzeugt Freude am Erfinden, Begeisterung an mentaler Freiheit, an Möglichem und Unmöglichem. Und dies wiederum ist die Basis für jegliches wissenschaftliche Arbeiten und Forschen: eine Art kindliches Spiel ohne Konventio- nen und Berechenbarkeiten gepaart mit systematischem Einsatz von Wissen, Erfahrung und der Fähigkeit, Erkenntnisse zielführend umzusetzen. Museum ist überall – eine lustvolle Übung Diese Freude am Erfinden, Deuten und Umdeuten war Basis unserer Übung anlässlich des Medientages an der Universität Innsbruck. „Museum ist überall“ ist eine Art „Übersetzung visueller in verbale Zeichensysteme“. Die Versuchsanordnung sieht wie folgt aus: die Studie- renden wählen einen beliebigen Bereich in ihrer Umgebung, und grenzen ihn mit rot-weiß- rotem Absperrband ab. Was innerhalb der Absperrung liegt, wird zum Museum erklärt. Jedes Museum ist ein Ort des Sammelns, Forschens und Vermittelns. So auch dieses. Als Sammlung definieren wir die Objekte innerhalb der Absperrung. Verschiedene Blickwin- kel ermöglichen unterschiedliche „Lesarten“ dieser Objekte: farbliche, materialbezogene, archäologische, sozialgeschichtliche, völkerkundliche, technische, konstruktive Blickwinkel werden gewählt, entsprechende Aspekte des „Museums“ werden herausgelöst, „freigestellt“ und durch entsprechende Präsentation (Reihung, Häufung, Hervorhebung, Beschriftung, als Ensemble, ...) sichtbar gemacht. So kann aus derselben „Sammlung“ ein „Museum der Farben“ entstehen, indem die Objekte in systematischen Verläufen, nach Kontrasten oder nach Ähn- lichkeiten geordnet präsentiert werden. Oder das Museum kann ein „Stück Welt aus dem Jahre 2009“ sein, welches Aufschluss gibt, wie in jener Zeit gelebt, gegessen, gesessen,... wurde – 32 Ruth Gschwendtner-Wölfle indem man alles so lässt, wie es gerade ist, in der Vermittlung jedoch ein Jahrtausend voraus- eilt und von einer zeitverschobenen Warte die „altertümlichen“ Exponate beschreibt. Diese Methode verlangt einen völlig neuen Blick auf bekannte Dinge. Neue Prämissen, neue Kontexte müssen erfunden werden, um die Dinge dieser Welt unbelastet von gewöhnlichem Wissen und gemachten Erfahrungen neu zu definieren. Diese „Erklärung der Welt“ entspricht einem „Neu-Buchstabieren“ visueller Phänomene, bei dem es keine Fehler gibt, nur Plausibili- tät, Überzeugungskraft und innere Logik. So begaben sich denn die Studierenden in Kleingruppen ans Werk: • wählten den Ort des „Museums“ aus • bestimmten einen Aspekt/ein Thema • machten sich an die visuelle/akustische/interaktive Aufbereitung ihrer Sammlung (Reihung, Häufung, Betextung, Nummerierung, Inventarisierung, ...) • konzipierten eine Methode der Präsentation. Zur Vermittlung – in Form einer „Museumsführung“ – trafen wir uns wieder. Methodisch konnte verwendet werden: eine Art „Fachvortrag“ (als fake, absurder Text oder kabarettistische Persiflage) über das Forschungsfeld, eine Führung im herkömmlichen Stil mit den entspre- chenden Erläuterungen zu den Exponaten, oder man appellierte unmittelbar an die Imaginati- onsfähigkeit der „MuseumsbesucherInnen“, wenn es z.B. überhaupt nichts mehr zu sehen gab außer einem historisch beladenen Bedeutungs-Raum, der nur noch in der Form mündlicher Überlieferung existierte. Die Ergebnisse waren erstaunlich vielfältig: eine Gruppe der Studierenden etwa hatte lediglich einen Bleistift auf den Tisch ihres Museums gelegt. Alle waren etwas gespannt ob der Kargheit des musealen Exponats. In der Museumsführung wurde dann ausführlich erläutert, dass es sich hierbei um das Modell des neuen Museumsbaus handle, welches, einem Bleistift nachgebildet, auf affektive Weise das Thema des Museums nach außen transportiere. Funktional gesehen befinde sich im Innern des einem Bleistift nachgebildeten Gebäudes eine ideale Abfolge von Einzelräumen ... und dann folgte ein genau ausgearbeitetes Konzept, welches auf Form, Funk- tion und Ausstattung des neuen Museumsbaues einging und diesen vor dem inneren Auge der ZuhörerInnen entstehen ließ. Andere Museumsführungen präsentierten die WC-Anlage als Modell studentischen verdichteten Wohnens in multifunktionalen Klein-Modulen. Wieder andere führten durch einen gewöhnlichen Universitätsgang und wiesen auf minimale Linien, Schatten und Farbflecken an den Wänden hin, welche Teil einer Ausstellung zum Thema „Punkt, Linie, Fläche“ seien. Die visuellen Fundstücke seien dokumentiert und weiter bear- beitet worden und Ausgangspunkt, bzw. die eigentlichen Originale, welche Grundlage für großformatige Fotoarbeiten in der Aula seien. Übungen wie diese haben einen hohen Lustfaktor – sind aber nichts desto weniger effiziente Erweiterungen eigener Wahrnehmungsgewohnheiten. Sie helfen erstarrte Bilder-Lese- Gewohnheiten flexibler zu machen, die Lust am Deuten und Umdeuten zu entwickeln, das Sehen ist lernbar – über den „blinden Fleck“ im Bildungssystem 33 Bewusstsein für semantische Tiefe zu schärfen und weitgehend eingerostete Konnotations- fähigkeiten wieder zu aktualisieren. Ein flinker Geist braucht Training, ebenso wie ein ge- wandter Körper. Ceterum Censeo Immer wieder nehme ich mit Erstaunen zur Kenntnis, dass visuellen und verbalen Sprachen immer noch nicht dieselbe Wichtigkeit zugemessen wird. Dies geht offensichtlich auf einen antiquierten Bildungsbegriff zurück, der das geschriebene Wort den (Schrift-)Gelehrten zuord- net, das Bild jedoch den Analphabeten (Bilderbibel, etc.). Die Verwirklichung einer visuellen Alphabetisierung scheint auf ähnliches Unverständnis zu stoßen wie es bei der Einführung der verbalen Alphabetisierung vor 100 Jahren der Fall war. Dabei kann eine geschriebene Bot- schaft einem Analphabeten zwar nichts nützen, sie kann ihm aber auch keinen Schaden zufü- gen – im Gegensatz zu visuellen Botschaften. Ob diese dekodiert werden können oder nicht – sie treten über die Augen in das Sehbewusstsein ein und sind so Teil der Person. Die damit verbundenen unbewussten Veränderungen des Bewusstseins können sich zwischen Beeinflus- sung und Gehirnwäsche bewegen. Meinungs„mache“ ist nur mit visuellen Analphabeten mög- lich. Mündige Bürger brauchen Bildkompetenz. Die Schulung dazu sollte sinnvollerweise parallel zur verbalen Alphabetisierung stattfinden und darf nicht dem Zufall überlassen bleiben. Bilder: Ruth Gschwendtner-Wölfle, Fotos zur AUSSTELLUNG GELB (objet trouvé, Makroaufnahmen von Gusseisensäulen) als Beispiel für „Museum ist überall“ 34 Ruth Gschwendtner-Wölfle Literatur Doelker, Christian; Gschwendtner-Wölfle, Ruth & Lürzer, Klaus (2003): sehen ist lernbar – beiträge zur visuellen alphabetisierung. Sauerländerverlag, (zu beziehen jetzt über: ruth@gschwendtner.eu) 95.- € Sachs-Hombach, Klaus (2004): Wege zur Bildwissenschaft. Interviews. Köln: Herbert von Halem Verlag. Ikonologische Pädagogik – Versuch einiger Annäherungen Peter Stöger „Omnibus mundi creatura quasi liber et pictura nobis est et speculum“ (Jedes Geschöpf der Welt ist für uns gleichsam ein Buch und Gemälde und Spiegel) (Alanus ab Insulis) Zusammenfassung Ikonographie und Ikonologie werden auf ihren Stellenwert für eine „Ikonologische Pädagogik“ hin untersucht. Dabei ist auch zwischen „Bildung in Bildern“ und „Bildung durch Bilder“ zu un- terscheiden, wobei das Thema Sehkultur hereinspielt. Im Rahmen von „Bild und Bildung“ sind Fragen nach dem Ort der Bilder zentral: Erkenntnisort, psychischer Ort (Bild und Individuation) und dialogischer Ort. Ikonologie, bei Platon in einem Wort verwendet, meint „Sprechen in Bil- dern“, „Bildersprache“. Die Ikonologische Pädagogik bemüht sich, neben der sozial wie erziehe- risch, politisch wie ökonomisch relevanten Entstehungsgeschichte von „Bild“ (tonal, zeichne- risch, gestaltend…), auch die Wirkungsweisen von Bildern zu thematisieren. Eine Vorbemerkung Es war die Aufbruchszeit nach der Sandinistischen Revolution. Da machte eine Mal- und Dichterkommune am großen See von Nicaragua von sich reden. Alejandro, ein einfacher Bauer, sagte einmal: „Das Malen wird in Solentiname als Arbeit angesehen, und ein Maler pflanzt eine Bananenstaude oder ein Maisfeld auf sein Bild genauso, wie er es in den Boden pflanzt. Ich bin immer schon der Ansicht gewesen, dass jede Einzelheit eines Bildes große Be- deutung hat. Weshalb? Weil wenn ein Maler zum Beispiel ein Segelboot malt, dieses Boot immer irgendwohin unterwegs ist, der Maler weiß das. Die Hütten: Der Maler malt sie mit der gleichen Umsicht und mit der gleichen Technik, als ob er in ihnen wohnen wolle. Niemand malt die Fröhlichkeit der Menschen, die sich lachend von einem Boot zum anderen Adiós zu- winken, ohne dass dieses Lächeln und dieses kleine Boot wirklich existieren und der Maler sie gesehen hat, und außerdem glaube ich (und man sieht es auch), dass der Maler sogar selbst lächelt, wenn er dies alles malt“ (zit. in: Cardenal 2002, S. 145). Bilder begleiten uns. Sie gewanden uns. Und offenkundig bilden sie. Sie bilden das Kognitive mit und unser Gemüt und unsere Seele auch. Das geschieht nicht etwas statisch, wenngleich Bilderwelten auch fixieren können (z.B.: „schnelle Bilder, schnelles Geld“, „Schnapp-Peng- Schüsse“ auf Bildsafari-Streifzügen, Bildlawinen nach einem durchzappten Abend). Dieses Geschehnis entfaltet sich vielmehr dynamisch, prozessual. Bildbegegnung, wenn sie wirklich Begegnung ist, geschieht im Rahmen von Bezogenheiten. Dieses relationale Moment ist den 36 Peter Stöger autistisch-solipsistischen, durchanonymisierten, grell-lackierten, seitenblicke-geübten Zügen, die unsere Zeit – auch – hat, entgegengesetzt. Es ist verantwortend. 1. Das Bild und die Bildung als Prozesshaftes Unter Bilder fallen flächig angelegte aber auch räumlich erfassbare haptisch und tonal begreif- bare Ergebnisse von Produktionen oder Reproduktionen (ein Schulwandbild genauso wie ein Filzbild aus Kirgisien, ein Dia genauso wie ein Bildschnitzwerk der Gotik). Akustische Ein- drücke als Tonbilder, aber auch Bewegungsbilder, positiv, von einem Feuerwerk bis hin, reich- lich negativ, zur Choreographie eines flirrig tanzenden Gehsteig-Lichtbildtanzes unverschäm- ter und ungefragter optischer Reklameattacke, von einem Tango-Tanzschrittbild bis hin zu den Schnitzbild-Masken-Tänzen der Bobo, um einen Verstorbenen ins Jenseits zu begleiten, weil in ihrem und dem Glauben vieler Völker der Hauptwohnsitz oben und nicht herunten ist. Doch ein näheres Eingehen auf Bewegungs- und Tonbildsprache sprengte den hier gesetzten Rah- men. Die Bildungsgeschichte ist sowohl eine Text- als auch eine Bildgeschichte. Zweierlei kann unterschieden werden: (1.) „Bildung in Bildern“. Hier sieht Pöggeler (1992 c), eine pädagogisch relevante Situation „ins Bild gebracht“ (z.B. „Kind mit Spielwägelchen“ auf attischen Vasen vor Christi Geburt). Bildung in Bildern kann auch in einer symbolmächtigen Darstellung versinnenbildlicht sein: Ein Rathausfresko in Tehuacan zeigt zum Beispiel die Geburt eines Wortes (ein Maya-Bildwort verlässt als neugeborenes Wortkind den Mund, Plas- mafäden reichen zum Mund zurück). Bildung in Bildern kann in Allegorien verdichtet sein. So zeigt z.B. Chartres „Grammatica“, wie sie ihre Kinder lehrt. (2.) „Bildung durch Bilder“ (Zepf 1992): Damit ist aufgezeigt, wie (und inwiefern) Bilder im Zentrum von Lern- bzw. Reifepro- zessen stehen. Manche Therapieformen und Methoden des sozialen Lernens setzen auf Pro- zesse, die durch heilsame bzw. kathartisch wirksame Bilder promoviert werden. Bilder können in einem übertragenen Sinne auch „heilsam“ sein. Anne Frank erklärt es am 11. Juli 1942 in ihrem Tagebuch: „Das Hinterhaus ist ein ideales Versteck. (...) Unser Zimmer war mit seinen nackten Wänden bis jetzt noch sehr kahl. Dank Vater, der meine ganze Postkarten- und Film- starsammlung schon vorher mitgenommen hatte, habe ich mit Leimtopf und Pinsel die ganze Wand bestrichen und aus dem Zimmer ein einziges Bild gemacht.“ (1991, S. 38f) „Bildung durch Bilder“, das hat gerade in der religiösen Bildung eine uralte – wenngleich nicht einzige – Tradition. Das Bild und das, was gemeinhin Seele genannt wird, sind thematisch gleichfalls verbunden, in Religionen wie in Psychotherapieformen, im heilenden Aspekt dessen, was the- rapeutische oder religiöse Haltung genannt sei. In der Psychoanalyse stehen Traumbilder im Vordergrund, in der Religion heilende Urbilder oder Traumbilder als Visionen (z.B. der Ägyp- tische Josef und seine Träume). In Russland beispielsweise wurde und wird häufig noch immer dem Getauften eine Ikone für den weiteren Weg mitgegeben. Schicht für Schicht wird sie ge- malt. Zuallertiefst ist das Bild im Bildungsgeschehnis etwas Existentielles. Das Leben verdichtet sich gleichsam im Bild – wie immer es in Flächen, Räumen, Farben, Tönen herauskommt. So Ikonologische Pädagogik – Versuch einiger Annäherungen 37 kann das Bild auch unter dem Gesichtspunkt einer Wirkweise der Existenz, darin sich Bildau- toren wie Bildbetrachter begegnen, betrachtet werden. Darin ruhen sie möglicherweise auf. Das Aufruhen ist oft wie das Zentrum eines Zyklons, innen Stille, außen wirbelnde Dynamik – und beides unteilbar. Fast ist es so, als verrieten Bilder etwas über die Möglichkeit eines Ganz- seinkönnens selbst dann noch, wenn Bilder Zerrissenes zeigen. Sie tun es aber nur, wenn eine Sehnsucht nicht verloren ging. Im Ganzseinkönnen sieht Helmut Konrad den „Bildungs- anspruch schlechthin.“ Er meint dabei auch ein „Ereignis“, das der „Bildwerdung des Men- schen“ (1987, S. 44). Diese Bildwerdung war der Grund für die Beendigung des Ikonoklam- susstreites. Es ging um das Bildverbot. Du sollst dir vom Göttlichen kein Bildnis machen. Klöster sind in Flammen aufgegangen, es gab regelrechte Mönchsguerilleros. Der Streit um die Abbildung wurde auf einem Konzil gelöst: Christus selbst ist die Ikone seines Vaters und so ist es möglich, das Göttliche auch darzustellen. Allgemein ist anzumerken, dass die Bildungsge- schichte bislang vor allem textlich erfasst wurde. Ihre Erhellung (Aufarbeitung ist zu hoch gegriffen), unter bildlichen Aspekten ist immer noch vernachlässigt. 2. Begriffsklärungen: Die Lehre von den Bildern berührt mehrere Wissenschaften – nur fünf additive Beispiele, die sich zu den erziehungswissenschaftlichen Aspekten dazugesellen und davon auch nicht zu trennen sind: - die Vergleichenden Religionswissenschaften (zum Beispiel Reflexionen über die Bildzere- monien als Ausdruck die Schöpfung nachzuahmen und wieder-zu-vollziehen), - die Archäologie (denken wir an die Jagdsymbolik in den Höhlenbildern, die weit über die Jagd hinausgeht, die von der Ordnung und dem Topos des Steinzeitmenschen in seiner [inneren] Welt „schreibt“), - die Bildenden Künste und die Kunstgeschichte (zum Beispiel bei Fragen, wo es um Bildty- pologien geht), - die Psychoanalyse und die Soziologie: Denken wir an C.G. Jung und E. Neumann und an deren Überlegungen zu den Archetypen und zu den Mandalas oder an I. Caruso, mit dem wir uns noch stärker den gesellschaftlichen Aspekten von Bildern zuwenden können, - die Psychologie allgemein, resp. wenn es um Entwicklungspsychologie und die Denkent- wicklung geht oder um die Funktion der Sinne (Sehsinn und Sichtbarkeit), die Pädagogik, wenn es beispielsweise um didaktische Fragen von Bildführungen geht, medienpädago- gisch interessant, wenn es etwa um den Bildungsgehalt von Telenovelas in verarmten bra- silianischen Schichten geht, volkskundlich wie pädagogisch interessant die Icon-Bilder- kultur von Handy-Portalsignaturen bis hin zu den berühmten „smilies“, aber auch Advent- kalender, Kreuzwegstationen, bei denen ein Bild das nächste Bild eröffnet oder der große Reigen der „biblia pauperum“, wobei die Armen im Geiste einfach die Demütigen waren. 38 Peter Stöger 2.1 Eikon und Eidea Eikon (gr., lat. icon) heißt das Bild. Zu unterscheiden ist „imago“ (lat.): Bild, Porträt, ein Wort, das auch für Wachsmaske, Ahnenbild, Abbild, Ebenbild, Schatten, Scheme, Traumbild, Echo, Gleichnis, Metapher, für Trugbild, metonymisch für Anblick, Erscheinung, und metaphorisch auch für Vorstellung, Einbildung und Gedanke stehen kann (s. Der kleine Stowasser 1956). Eikonographia (gr.) ist die Abbildung, die Darstellung. Eikon ist von Eidea (Idee) zu unterscheiden. Umgangssprachlich ist Idee ein Gedanke oder eine Vorstellung, sie kann auch für „geistreicher Einfall“ oder für „Leitbild“ stehen. Philosophisch ist „Idee“ mit Platon verbunden. Die Ideen sind nach ihm das einzige, das wirklich ist. Die Dinge sind lediglich Abbilder. Die Ideen sind bei Platon ein „vollkommener Grund“, von dem es ein „apriorisches Wissen“ gibt. Die einzelnen Dinge sind deswegen nicht nichtexistent, sie sind aber „weniger“ im Vergleich zur Seinsfülle der Ideen. Erst die Partizipation, die Teilnahme an den Ideen, ermöglicht den Dingen das, „was“ sie sind, ermöglicht, „dass“ sie sind. 2.2 Ikonographie: Zum Begriff Ursprünglich war die Ikonographie eine Wissenschaft von Klassifizierung von historischen Bildern (im bes. von Porträtdarstellungen) von Insignien etc. Als solche war sie Hilfswissen- schaft für Archäologie und Geschichte. Heute ist sie die Wissenschaft der Inhaltsbestimmun- gen, Zuschreibungen, Beschreibungen, der Klassifikations-, Identifikations- und Interpretati- onssysteme von Symbolen, Themen und Gegenständen in visuellen Künsten. Allegorie, Mythologie und Emblematik sind zentrale Themen. Die Ikonographie erfuhr, über die Stil- und Formgeschichte hinaus, eine Erweiterung hin zur Erforschung der Inhalte des Bildes. Eine Unterscheidung zur Ikonologie wurde häufig nicht oder nicht durchgängig vollzogen. Die bedeutendsten ikonographischen Schulen entstanden in Hamburg um Aby Warburg und in den USA um Erwin Panofsky (s. Lex. d. Kunst, Bd. VI, 1988, S. 124f). Worauf stützt sich die Iko- nographie? Sie stützt sich wesentlich auf literarische Quellen. Für die christliche Kunst sind dies, neben den Büchern der Bibel und den Apokryphen Schriften, jene Schriften der Antike, die auf das Christentum ausstrahlen und alle Formen religiöser Dichtungen. Die Ikonographie fragt nach dem Vorrang der zeitlichen und der geographischen Motive und Inhalte. Daraus werden Schlussfolgerungen abgeleitet, um ein Kunstwerk asymptotisch nach Ort oder Zeit einordnen zu können. Mit der Dechiffrierung von Sinngehalten versucht die Ikonographie sich der künstlerischen Darstellung (in den Bildkünsten, in der Architektur ...) zu nähern. „Eine besondere Aufgabe stellt sich, wenn komplexere ikonografische Bestände zu bestimmen und historisch zu orten sind. Für diesen Vorgang hat Panofsky eine Systematik des ikonographischen Verhaltens ent- worfen: Das Kunstwerk wird vielschichtig angesehen. In einer ersten Schicht liegt das eigentli- che Motiv (Dinge, Eindrücke, usw.). Das Thema als solches liegt in einer weiteren Schicht, in der das Identifikationsproblem eine große Rolle spielt. Die eigentliche Bedeutung (intrinsic meaning) jedoch liegt da, wo das Kunstwerk, nach den Schichten richtig gelesen, seinen ,weltanschaulichen Charakter‘ preisgibt.“ (Lex. d. Kunst, Bd VI, 1988, S. 125f). In einem Ikonologische Pädagogik – Versuch einiger Annäherungen 39 Nachsatz heißt es, dass es nach Ernst Casirers Definition Aufgabe der Ikonographie sei, „die ,symbolischen Werte‘ zu erkennen“ (ebd.). Die Dechiffrierung von Sinngehalten ist also für ein näheres Kennenlernen des Kunstwerkes wichtig. Eine Verkürzung wäre es freilich zu sagen, dass sie den einzigen Zugang bietet ein Kunstwerk zu erfassen. Das Berührtsein, das Staunen, eine gewisse Ergriffenheit lassen sich nicht durch Analyse allein bewirken. 2.3 Ikonologie – Zum Begriff In Abhebung von stilgeschichtlichen bzw. formal orientierten Überlegungen ist die Ikonologie ein zentrales, von der Ikonographie aber nicht klar oder absolut trennbares Moment, nämlich die Lehre vom Inhalt und von der Bedeutung des Dargestellten (Bildes, Kunstwerkes...). Nachweis, Bestimmung, Verzeichnung, das klassische ikonographische Instrumentarium ist eine Voraussetzung, um ikonologisch nicht missdeutend vorzugehen. Ein bloß stilgeschichtli- cher Zugang, ein Zugang, der sich nur auf das Formale beschränkt, kann Wesentliches des Dargestellten nicht thematisieren. (Dies trifft auf religiöse Kunst genauso zu wie auf pädagogi- sch relevante Inhalte.) Über das Sachliche, Klassifizierbare, über den symbolischen Sinn Hinausgehende, stellt sich für die Ikonologie die Frage nach dem geistigen Hintergrund, nach dem Zweck der Bildpraxis (z.B. das Bild als „Verdichtung der Welt“ in einer tibetischen Zeremonie, das Buchstabenbild in der traditionellen spirituellen jüdischen Überlieferung, im I Ging, das А und Ω auf der Osterkerze ...). Aber auch der politische Hintergrund von Picassos „Büglerin“ oder von seinem Kriegsbild „Guernica“. Das Wort kommt von Eikonologia (gr.), bei Platon in einem Wort verwendet und meint „Spre- chen in Bildern“ oder „Bildersprache“ – im Gegensatz zu Eikonographia, der „Bilderschrift“ (Lex. d. Kunst Bd. VI, 1988, S. 126). Ikonologie wurde lange bedeutungsgleich mit Symbol- kunde gesetzt. Mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts tritt ein Bedeutungswandel ein (Warburg hat ihn zuerst belegt): Ikonologie wird nun als kunstwissenschaftliche Methode begriffen, die „die Zusammenhänge von Bildinhalten von Kunstwerken (auf der Grundlage der (...) Ikono- graphie) und deren Funktion innerhalb eines Bildprogramms (z.B. eines Flügelaltars, der Aus- stattung einer Barockkirche, der Zusammenstellung einer Ikonostase) oder eines bestimmten räumlichen Zusammenhangs (Architekturkomplexe) vor dem Hintergrund eines bestimmten geistigen Gesamtkonzeptes untersucht“ (Brockhaus, Bd. X, S. 389, PS, Abk. ausgeschrieben). (Anzufügen ist hierbei – als Hauptvertreter – Panofsky; ebd.) Die Sinnzusammenhänge sind es also, die das Thema der Ikonologie ausmachen. In der Defi- nition des Begriffs „Ikonologie“ wurde der Begriff „Gesamtkunstwerk“ (wie ihn Hans Sedlmayr versteht) wichtig. „Das Erkenntnisinteresse der Ikonologie richtet sich auf das Ge- samtkunstwerk, in dem mit den Mitteln der bildenden Kunst Symbolgefüge errichtet werden, deren Totalität mit dem hermeneutischen Verfahren der Ikonografie erforscht wird.“ (Lex. d. Kunst, Bd. VI, 1988, S. 127) Die Ikonologie geht den Quellen der Bilder nach, sie erforscht die Entwicklungsgeschichte und die Wandlungsprozesse der verschiedenen Bildtypen. 40 Peter Stöger Im Bereich der Vergleichenden Religionswissenschaften sind dabei wichtig: (1) Heilige Schriften (Bibel, Koran, Bhagavadgitta), apokryphe Schriften, (2) die Vita von Heiligen, Menschen mit besonderem Charisma und der hagiographische Kranz an Schriften rund um ihre Vita, z.B. Legenden um den Hl. Franziskus in den „Fioretti“. (3) Weltliches Schrifttum (Profanliteratur) in allegorischen Deutungen, (4) Schrifttum über Riten, kultische Bilder, ethische Allegorien. Eine Reihe von Bildern von Marc Chagall lässt sich ohne ein solches Wissen nur schwer lesen ... (s. S. Ph. de Vries 1981). Schrifttum über geistliches Schauspiel (z.B.: das Jesuitentheater) über Passionsspiele. (5) Schrifttum über Volksfrömmigkeit: z.B. über Sternsinger, Fastentücher, Kreuzwege (Bild- nisse werden abgeschritten, dazu wird gebetet, gesungen: didaktisch gesehen kommen mehrere Sinne zusammen und mehrere Aufmerksamkeitstypen sind angesprochen: der akustische, der visuelle und der motorische Typus). (6) Schrifttum über meditatives Leben: Überlegungen zu den Mandalas lassen sich somit bes- ser verstehen. (s. C.G. Jung: 1977) (Die gotischen Rosetten sind Mandalas. Sie zu erhellen heißt sich mit der Geschichte der Bauhütten, dem Templerorden, mit der Rosensymbolik, den Rosenkreuzern, den Zünften näher zu befassen.) Schrifttum über Visionen: z.B. der Hl. Hilde- gard von Bingen, die medizinische „Bilder“ schaute, des Bruder Klaus von der Flüe. (7) Schrifttum über religiöse Unterweisung, religiös-medizinische oder therapeutische Hilfe- stellung und deren bildliche Darstellung: Ich denke hier an (a) Bildergeschichten und Religionsbücher und die manchmal zeitgeschicht- lich bedingten, wenig kindgerechten Darstellungen über Hölle und Fegefeuer, Illustrierungen der „Biblischen Erzählungen“ (b) Wandbilder (die im Klassenzimmer aufgehängt werden und einige Zeit dort bleiben, heute im Zeitalter der Overheadfolien, nicht mehr so häufig verwen- det) (s. Reinhard Stach: Lernen durch schulische Wandbilder, 1992, S. 339–354; (c) Bildstöck- chen (Säulen mit Heiligenbildern); „bildschön“ hatte demnach die Bedeutung von „schön wie ein Heiligenbild“, es verdrängte damit das ältere „engelschön“. (8) Schrifttum über Bildzeremonien oder Bildschnitzgegenstände (wie Masken) im Zusam- menhang mit Meditation. Auf Mandalas wurde bereits verwiesen, hier seien das Beruhigende, Konzentrative betont. Die Bildschnitzform Maske im Zusammenhang mit uralten Ritualen (Tänzen) gibt es rund um den Erdball (von den Dogon und Bobo über die Hopi und ihre Kachinatänze bis zu den Tibetern und ihren Klostertänzen). (9) Andachtsliteratur (Gebetbuchillustrationen, Andachtsbildchen). Ikonologie wie Ikonographie sind also Begriffe, die vor allem in den Sparten der Kunstlehre und der Archäologie geläufig sind. Sie berühren ebenso auch die Pädagogik (z.B. die Ethno- und die Medienpädagogik). Auch die Lebensgeschichte des Künstlers kann aufschlussreich sein, die Ikonologie bzw. den „pädagogischen Bezug“ zu erhellen. (Denken wir z.B. an Cha- galls Bilder, an seine Heimat Witebsk und an den Geiger auf dem Dach. S. a. „Kinder im KZ“ mit Kinderzeichnungen aus Theresienstadt: 1982.) Die Ikonologische Pädagogik erfasst das Bild in „Vernetzungen“. Innerhalb der Humanwis- senschaften sind in besonderer Weise die Erziehungswissenschaft (Bild und Erziehung), die Pädagogische Psychologie (das Kind und das Bild in Bezug auf Gestaltprozesse), die Unter- Ikonologische Pädagogik – Versuch einiger Annäherungen 41 richtswissenschaft (Bild als Wegführung), die Religionspädagogik (z.B.: Bild als Inbildung wie es die Mystik des Mittelalters verstand) und die Pädagogische Soziologie (Bild als gesell- schaftliches, wirtschaftspolitisches „Ergebnis“ und Ereignis – z.B. die Wandbildkunst Riveras und die Graffiti auf der Berliner Mauer. Als „Interpretationsmethode“ geht sie „aus der Synthese, nicht aus der Analyse“, hervor. (Panofsky 1978, S. 42) Das Aufnehmen der Bilder in unsere Aufmerksamkeit ist eine Leseart von in Bild gefassten Merkmalen und Motiven. „Obgleich wir meinen, wir identifizierten die Motive auf der Grundlage unserer reinen und einfachen praktischen Erfahrung, lesen wir in Wirklichkeit das, was wir sehen‘, entsprechend der Art und Weise, wie Gegenstände und Er- eignisse unter wechselnden historischen Bedingungen durch Formen ausgedrückt werden. Indem wir das tun, unterwerfen wir unsere praktische Erfahrung einem berichtigenden Prinzip, das man Stilgeschichte nennen könnte.“ (ebd. S. 45, Hervorh. PS). 2.4 Worin bestehen die Unterschiede zwischen Ikonographie und Ikono- logie? Was nach Panofsky die Beschreibungen und Klassifizierungen der Ikonographie liefert, ist „eine begrenzte und gewissermaßen dienende Disziplin, die uns darüber informiert, wann und wo bestimmte Themen durch bestimmte Motive sichtbar gemacht wurden.“ (ebd) Sie macht zum Beispiel Mitteilung „wann und wo der gekreuzigte Christus mit einem Lendentuch oder mit einem langen Gewand bekleidet war; wann und wo er mit vier oder mit drei Nägeln ans Kreuz geschlagen war; wie die Tugenden und die Laster in verschiedenen Jahrhunderten und Umgebungen dargestellt wurden“ (1978, S. 41). Setzen wir nun Ikonographie und Ikonologie zur Pädagogik: Unter Pädagogischer Ikonologie verstehen wir die „Wissenschaft vom Sinngehalt jener Bild- werke, die Themen und Probleme der Erziehung und Bildung darstellen, sei es intentional oder funktional“ so Pöggeler (1992b, S. 13). Der Themenbogen reicht von Zeichentests als Unter- suchungswege der Persönlichkeit (Baumtest) und der kognitiven Reifung bis zur Zeichnung im Rahmen der Psychotherapie (etwa in Dürckheims Initiatischer Therapie). In besonderer Weise ist der Themenkreis Kind und Zeichnung berührt. Ein Blick in Daniel Widlöchers „Was eine Kinderzeichnung verrät“ (1987) ist aufschlussreich. Erziehungswissenschaftliche Bezüge sind in der Geschichte der Fibel genauso nachlesbar wie in der Ikonologie der Schulhausfresken (meist mit typisierten Jahreskreis- und Arbeitswelt- mustern). Sie werden auch in den Bildtraditionen politischer Bildung augenscheinlich (Wand- malereien von Orozco und Siqueiros) (s. a. Warnke 1992; Schwarz 1980.) Paraden mit Marx- bildern im ehemaligen kommunistischen Teil Europas wollten Bilderinnerungen bringen (ein Bilderkult besonderer Art, der im Westen nur in anderer Form lief). Augenscheinlich ist der pädagogische Bezug in der Illustrierungsgeschichte der Bildung. Kinderzeichnung – Schulhaus – Maiaufmarsch und Universitätssiegel: nur einige Beispiele, bis hin zur Didaktisierung von Che’s Bild weltweit (Instrumentalisierung, Kommerzialisierung). 42 Peter Stöger Panofsky bringt die Pädagogische Ikonographie ein wenig in Verlegenheit. Denn bei ihr wird das In-Fluss-Befindliche zur Ikonologie sehr deutlich. Die Frage stellt sich, ob nicht jedes Beschreiben („graphein“), wie es in den Wissenschaften, die mit „Graphie“ bezeichnet werden, allein schon durch das Wie dieses Beschreibens auf den „Logos“ hinweist (eine Reihe von Wissenschaften fügt das „Logie“ an). Damit tauchen Fragen nach den der Erkenntnis zugrun- deliegenden Mustern auf. Die Frage der Physiker vor hundert Jahren, ob es eine Subjekt- Objekttrennung geben könne, ist auch hier von größtem Interesse (wortwörtlich geht es doch um Zwischen-Sein in einem atomphysikalischen Sinne genauso wie in einem dialogpädagogi- schen Sinne, auf Letzteres verweist Martin Buber [1983]). Ein Ausfalten dieser Fragen hilft die ikonologisch-ikonographischen Aspekte der Ethnopädagogik mit größerer Tiefenschärfe zu erkennen. Panofsky versteht Ikonologie „als eine ins Interpretatorische gewandte Ikonographie, die damit zum integralen Bestandteil der Kunstwissenschaft wird, statt auf die Rolle eines vorbereiteten statistischen Überblicks beschränkt zu sein.“ (1978, S. 42) Bei der Beschäftigung mit Bildern spielt ja die Vertrautheit mit der Tradition der Wissensweitergabe eine zentrale Rolle. Panofsky fügt das Beispiel eines australischen Buschmannes an, der außerstande wäre, „das Sujet des [L]etzten Abendmahles (Letztes, Anm. P.S.) zu erkennen; ihm würde es nur die Vorstellung einer erregten Tischgesellschaft vermitteln“ und setzt fort: „Um die ikonographische Bedeu- tung des Bildes zu verstehen, müßte er sich mit dem Inhalt der Evangelien vertraut machen. Wenn es sich um Darstellungen anderer Themen als biblischer Geschichten oder historischer und mythologischer Szenen handelt, die dem durchschnittlich ,Gebildeten‘ zufällig bekannt sind, sind wir alle australische Buschleute. In solchen Fällen müssen auch wir versuchen, uns mit dem vertraut zu machen, was die Urheber jener Darstellungen gelesen hatten oder sonst wie wussten. Doch abermals ist zwar die Bekanntschaft mit bestimmten Themen und Vorstel- lungen, die durch literarische Quellen überliefert sind, eine unerlässliche und ausreichende Grundlage für eine ikonographische Analyse, doch deren Korrektheit ist dadurch noch nicht gewährleistet. Es ist für uns ebenso unmöglich, eine korrekte ikonographische Analyse dadurch zu geben, dass wir unterschiedslos und unkritisch unser literarisches Wissen auf die Motive anwenden, wie eine korrekte vorikonographische Interpretation dadurch zu geben, dass wir unterschiedslos und unkritisch unsere praktische Erfahrung auf die Formen anwenden.“ (Ebd., S. 45f) Was den australischen Buschmann betrifft ist zu sagen, dass uns ihre Universalität zu erfassen, ihre Felszeichnungen, als Grammatiken dessen, was Himmel und Erde bedeuten, zu verstehen unmöglich ist, ja ein Erfassen mit „Vokabeln“ unsinnig ist. Was aber möglich sein kann, ist auf einer archetypischen Ebene die Communio der Schöpfung mit dem Schöpfer (das Letzte und Ewig-seiende Abendmahl) zu erfühlen. Hier wird das Nachdenken spekulativ und kommt in Grenzbereiche, die C.G. Jung et al. (1991) und Teilhard de Chardin (1973) thematisiert haben. Dazu kann das Repertoire traditioneller empirischer Wissenschaft nichts beitragen und das Sprechen verlässt notwendigerweise die Konvention von Worten, die als Vokabel fungieren. Auf alle Fälle zuzustimmen ist Panofsky, wenn er zu den Prinzipien einer ikonographisch rich- tigen Beurteilung von Bildern schreibt: „Um diese Prinzipien zu erfassen, benötigen wir eine geistige Fähigkeit, die derjenigen eines Diagnostikers vergleichbar ist – eine Fähigkeit, die ich Ikonologische Pädagogik – Versuch einiger Annäherungen 43 nicht besser beschreiben kann als durch den ziemlich in Misskredit geratenen Ausdruck ,synthetische Intuition‘ und die in einem begabten Laien besser entwickelt sein kann als in einem belesenen Gelehrten.“ (Ebd. S. 48) Panofsky weist auf subjektive und irrationale Momente, die diese Quellen des Interpretativen haben können, weist darauf, dass der intuitive Ansatz durch die „Weltanschauung“ geprägt ist (ebd.). Die Weltanschauung, ein „Die-Welt-Ansehen“, ist zweifelsohne eine Folie, die der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk mit zugrundeliegt. Vielleicht könnte auch von Lebensgeschichtlichem gesprochen sein. Damit meine ich nicht zuletzt auch „das-im Leben- Geschichtete“, das tief in die Vergangenheit des Künstlers und des Interpreten zurück reicht. Je klarer diese „Geschichten des Lebens“ sind, desto klarer wird auch der interpretative Hinter- grund, also die psychische Dynamik die Welt – und damit das Bild vor mir – so und nicht anders zu sehen, so und – vorläufig – nicht anders im Bildungsprozess (etwa im bildnerischen Prozess) zum Einsatz, zur Geltung zu bringen. Noch eine Dimension fehlt, die des Bildvollzuges, des Handlungsikonischen. Was meine ich damit? Damit meine ich beispielsweise jene gläubige Frau, die vor einer Ikone betet, die die Ikone als das begreift, erahnt, spürt, was sie in der ostkirchlichen Tradition im Tiefsten „ist“. Sie weiß kein Jahrhundert, sie weiß nichts von der Malschule und hat das Wesentliche, das Wesen der Ikone trotzdem erkannt. Damit meine ich auch Tibeter, die um ein Sandbild sitzend Mantras rezitieren, für die dieses kosmogene Bild wertvoll ist und heilsam wirkt. Nun könnte jemand einwenden, dass das Anthropomorphismus, ein magisches Weltbild oder ein „primitives Denken“ sei und dabei auf Piaget verweisen, der, in Bezug auf kindliche Denkent- wicklung, über solche Denkformen sprach. Es fehlt ja auch nicht an pädagogischer Kolonialgeschichte, die Pädagogik von Völkern außer- halb des europäisch-nordamerikanischen Kulturkreises (des Kulturkreises der Wohlstandslän- der, die Kulturen, insbesondere die religiöse Bildpraxis (z.B. mit Bildschnitzereien, Masken, Puppen) aus der Warte der Bildungsmächtigen zu betrachten, die für andere wissen, was Denk- entwicklung ist. Es rührt auch an das alte Verständnis von Subjekt und Objekt. Es fehlt hier der Platz, sehr viel über die Entwicklungen in der Neueren Physik zu schreiben und darüber, wie brüchig der erkenntnistheoretische Ansatz ist, Subjekt und Objekt gesplittert zu sehen (und daraus die Paradigmatik der Objektivität abzuleiten), doch sei in diesem Diskurs auch auf eine mögliche Gefahr, nämlich die einer unbewussten pädagogisch-ikonologischen Eurozentrik aufmerksam gemacht. Anders ausgedrückt: Respekt oder Ehrfurcht (nicht unbedingt das modernste pädagogische Wort) vor einem Bild können durch das ikonographische Wissen nicht ersetzt werden. Sehr wohl aber kann dieses Wissen in Staunen und Dankbarkeit überfüh- ren. Ehrfurcht ist eine Variable, die mit dem Momentum „Erhabenheit“, die auch mit religiö- sem Vollzug zu tun hat und schon deshalb in keine operationalisierbare Sprache zu bringen ist. Phänomenlogisch ist sie aber „trotzdem“ da und hat schon deshalb als etwas, was pädagogisch relevant ist, weil wirksam „da“ ist, betrachtet zu werden. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: (a) Ehrfurcht vor einem Bild diskursiv aufzulösen („Der Betrachter ist nur von der Schönheit überwältigt“ oder „Das alles ist magisch anthropomorph“ [„kindlich-primitiv“]) oder (b) in eine Kippvariante von psychoanalytischer Relevanz (etwa der Art: Hinter diesem „Bilderzau- 44 Peter Stöger ber“ steckt nur Angst vor Sexualität, vor alten Kindheitserinnerungen, vor dem Tod ...). Und es fehlt ja auch nicht an Tendenzen, den Umgang mit dem Bild, der außerhalb des normierten (d.h. gesplitterten) Subjekt-Objektverständnisses liegt und digital-diskursiv nicht mehr hinlänglich (klassisch) wissenschaftssprachlich darstellbar ist, „abzutun“. 3. „Sehbare“ Bilder (Zwei Fragmente) 3.1 Fragment 1: Sehen Sehen heißt Bilder auf einem bestimmten Kanal unserer Sinne, nämlich mit den Augen und den dazugehörigen nervösen Systemen und Prozessen im Gehirn auffassen – wahrnehmen. (Auf optische Täuschungen sei hier nur verwiesen aber nicht eingegangen.) Das Sehen ist eine Form des Wahrnehmens. Es ist eine Wahrnehmung innerhalb eines be- stimmten Schwingungsbereiches, der uns erlaubt, bestimmte, nicht alle, Farben wahrzu- nehmen. Dass wir nicht alle Schwingungen sehen, wissen wir vom Infrarot. Nun gibt es ver- schiedenste Schwingungsverläufe und Interferenzformen. Einer der großen indischen Weisen Swami Sivananada (1887–1963) schreibt: „Die Welt und all ihre Objekte sind nichts anderes als Gedanken in unterschiedlichen Schwingungsarten und Schwingungsgraden. Deshalb ist die Welt nicht von uns getrennt.“ (1992, S. 35f.) Die Neuere Physik (Schrödinger, Heisenberg) hat Überlegungen angestellt, die nahe an das kommen, worüber alte hinduistische und buddhisti- sche Schriften berichten. Die Frage der Sichtbarkeit berührt die Ikonologie wie die Philosophie und die Physik gleich- ermaßen. Seit jeher wurde auch versucht, bildend – gestaltend das „ganz Andere“ anzudeuten. So gibt es verschiedene Sehformen und diese korrespondieren mit verschiedenen Sehkulturen. Das Bild sehen, heißt es beobachten. Dies ist auch eine Wirkform am Ureigenst-Anderen, nämlich an mir. Und dieses Beobachten ist auch eine Wirkform. „Gewöhnlich sind Bilder, selbst wenn sie völlig abstrakt sind, auf den ,Betrachter‘ hingemalt. Denn der Betrachter ist ja die ,Bedingung der Möglichkeit des Bildes‘ m i t dem Bild.“ (Berger 1993, S. 5257). Heisen- berg (1959) gemahnt an die alte Subjekt-Objektfrage. Die klassische Subjekt-Objektsplitterung scheint brüchig. Igor Caruso drückt es einmal so aus: „Der Beobachter, indem er erkennt, ver- ändert das Erkannte und bereitet neue Erkenntnis und eine Veränderung vor. Marx und Freud entdeckten vor den Physikern jene ,Mikrosoziologie‘ und jene ,Mikropsychologie‘ (...), die uns soziologische und psychologische Erkenntnisse außerhalb der ,Praxis‘ verdächtig machen. Ja, die Einheit des Wahrnehmenden mit dem Wahrgenommenen, die Veränderung jeder Situation durch die Tatsache allein der Wahrnehmung (...), erhebt jeden psychischen Vollzug, jedes Lebensmoment zum ,Symbol‘ einer Entwicklung, zur ,Praxis‘ der Geschichte.“ (1958, S. 1f) 3.2 Fragment 2: Zur Kultur des Sehens Das Sehen geschieht aber nicht nur in einem physikalischen Sinne. Es ist in eine Sehkultur hinein gebettet. Zu unterscheiden sind Sehende und Gesehenes. Ist das Sehen also ein „fronta- Ikonologische Pädagogik – Versuch einiger Annäherungen 45 ler“ Vorgang? „Gewöhnlich nimmt unser Zeitalter an, dass im Sehakt das Entscheidende die Richtung ist: das Hinfallen der ,Sehintention‘ auf ihr ,Ziel‘. Wir sind eine Kultur der (...) ,Festhalter‘ und ,Bestimmer‘. Wir dulden nicht den diffusen Blick, den ,Seitenblick‘, er wird als Konzentrationsmangel ausgelegt. Modernes Bild lebt – einem Wort Edmund Husserls ge- mäß – von einer Zentrierung des Blickes: das Auge, das ja seine schärfste Abbildungsfähigkeit in der ,Sehgrube‘, der Fovea besitzt, ist phototrop: es richtet sich auf das Licht als Teilchen- strom. Wir glauben nämlich, dass Licht Materie ist, und zwar nur Materie. Der Mangel an Licht kommt dem Mangel an Vernunft gleich: seit der Aufklärung wollen wir den Gegenstand ,erfassen‘, ,begreifen‘: Licht ist also selbst ein ,Gegenstand‘“ (Berger 1993, S. 5256). Stellen Sie sich vor, Sie sind in Südtirol, in Niederlana. Dort hat, wenige Jahre nachdem Ko- lumbus Amerika „entdeckt“ hatte, der Bildschnitzer Schnatterpeck einen der schönsten Flügel- altäre geschaffen. Er ist auch einer der größten. Und nun stellen Sie sich vor, was intellektuell betrachtet banal klingt, was aber auf der Ebene des Hineinfühlens nicht mehr so banal ist, nämlich eine Zeit ohne Elektrizität, eine Zeit, da die allermeisten – Sie auch – weder schreiben noch lesen konnten. Es gibt keine Zeitung. Stellen Sie sich vor, dass die Adventzeit vorbei ist und der Weihnachtsgottesdienst gefeiert wird. Dabei wird der Flügelaltar ausgeklappt. Sie s e h e n ihn. Sie sehen ihn voll der Sinne. Der Chorgesang begleitet dieses Sehen, der Weihrauch ebenso. Und bei der Kommunion nähern Sie sich dem Altar. Sie gehen. Sehen – hören – riechen. Dazu kommt die Bewegung, außen wie „drinnen“. Und diese Sehkultur ist wiederum nicht losgelöst von den jeweiligen Schnittflächen der politi- schen, religiösen, wirtschaftlichen Umstände und Befindlichkeiten, innerhalb derer der Be- trachter steht. Die Schnittflächen sind zum Kleinen wie zum Großen hin offen. Das heißt zu dem hin, was Bronffenbrenner als mikro-, meso- und mikrosoziale Systeme bezeichnet. Das intensive und wiederholte Sehen mag in ein Schauen münden. Das Hauptwort „Anschauung“ oder das Eigenschaftswort „beschaulich“ deuten darauf. Wir leben in einer Bildüberfluss-Zeit, die Gesehenes feststellt, verwaltet, abruft. Anders ab-origen Bildführungen: die Bilder im Fluss, „im Rad der Zeit“ (z.B. Tibets). Die Pädagogische Ikonologie berücksichtigt in beson- derer Weise Fragen, die die Didaktik der Sinne („sinnenreichen Erziehung“) betreffen. „Wir beziehen unser ,Sehen‘ seit Kant besonders im didaktischen Bereich auf die Anschaulichkeit, diese geht konform mit der Entwicklung von ,Regeln zur Anschaulichkeit‘. Diese wiederum setzen ein strikt geklärtes Verhältnis von Sprache und Bild voraus.“ (Berger 1993, S. 5259) 4. Das Bild und die Bildung 4.1 Grundsätzliches: Von der „Bildung in Bildern“ ist das Thema „Bildung durch Bilder“ zu unterscheiden (Pögge- ler 1992). Bildung in Bildern zeigt sich in Vor-Bildthemen, Erinnerungs-, Milieu-, Lehr- und Lernbildern, in Karikaturen, Symbolen und Allegorien etc. Bei diesen Typologien stellt sich die Frage nach Bildintention und Bildkompetenz. Mit Bildung durch Bilder sind jene Bereiche 46 Peter Stöger thematisiert, darin in Bildungs- und Erziehungsprozessen, (vornehmlich in Schule, Erwachse- nenbildung), Inhalte didaktisch zentral gerückt sind. (Zu diesem Bereich gehören im weitesten Sinne auch Bilder, die der Begleitung des „Schauenden“ dienen, zum Beispiel „Maria als Wegbegleiterin“, eine der wichtigsten Ikonentraditionen der Ostkirche oder die Sandbilder der Navajos und der Hopi, ausgestreut zur Heilung des Patienten. Hier tut sich ein scheinbarer Widerspruch auf. Auf der einen Seite leben wir in einer Sturzflut an Bildzeichen, auf der anderen Seite sprechen wir von dem vernachlässigten Bild der textori- entierten Schule. Die Erziehungswissenschaften sehen sich eingeladen, sich verstärkt dem Thema „Bild und Macht“ auseinanderzusetzen. Diesen Aspekt gibt es nicht etwa erst seit der Medienkonzentration auf dem elektronischen Sektor. Bild und Bildung (und was beide betrifft) waren auch früher schon in das eingebunden, was Politik und Wirtschaftsgeschichte zu nennen ist. Zudem: Das Wahrnehmen von Zeichen (Buchstaben) und Bildern war in der Zeit vor der Einführung der Buchdruckerkunst ein anderes. Denken wir an die Wirkung, die die Fresken in den mittelalterlichen Kathedralen und Kreuzgängen wohl gehabt haben. Erfindungen wie die Elektrizität haben die Wahrnehmungsweisen mitbeeinflusst (Erfindungen „passieren“ in einem ideengeschichtlich bereiteten Rahmen). Die pädagogischen Verantwortlichkeiten für den Umgang mit Bildern, z.B. in Kunst und in Medienerziehung, sind zu betonen. Hier gilt es auch auf die Gefahr mancher Computerspiele in Bezug auf politische Mitteilungen hinzuweisen. Die Formen, pädagogische Verantwortlich- keiten wahrzunehmen, haben sich geändert. Der Kern dieser Verantwortung – zu einem men- schenwürdigen Umgang mit Bildern zu erziehen – ist aber geblieben. Bild und Bildung zeigen sich, historisch ablesbar, in der besonderen Relation Bild – Text. Die Erlebnisweisen, Bilder aufzunehmen, zu verfertigen, sind einem steten Wandel unterworfen. Auf der einen Seite gibt es einen Verlust an Lesekultur und auf der anderen Seite die Tendenz zu einem Visualismus. Dem steht gegenüber und widerspricht sich trotzdem nicht, dass die Schule elementar an der Schriftlichkeit und nicht an der Bildlichkeit orientiert geblieben ist. In der Berücksichtigung dieses Umstandes liegt ein medienpädagogischer Auftrag. „In der Schule soll die Jugend nicht nur lesen, schreiben und Texte auslegen lernen, sondern auch sehen und Bilder deuten lernen. Sehfähigkeit gehört zur Lernfähigkeit nicht minder als Lese- und Schreibfähigkeit. So unglaublich es klingen mag: der Schule steht die Entdeckung und Aneig- nung der Bildlichkeit noch bevor.“ (Pöggeler 1992a, S. 8) Dem beigepflichtet zeigt ein Blick in die Bildungsgeschichte, dass in Zeiten, da breiteste Bevölkerungsschichten noch nicht zur Schule gingen, das Moment einer Bilddidaktik noch viel lebendiger war (vor allem in religiö- ser Erziehung, Bildwände der Glasfenster mit ihren theologischen „Summen“ etc.). Zu ergän- zen ist die Forderung nach Sehfähigkeit durch die Forderung nach Hörfähigkeit. Das Hören und Sehen hat ja eine tiefe Trennung erfahren. Das der Genese der Sinne nach ältere Hören ist durch die Visualisierungsgeschichte weit abgedrängt worden. Die Hypervisualisierung des Lebens (privat wie kollektiv, Verlaufsgeschichten sind wechselseitig subtilst verbunden) zeigt sich besonders in den Systemen der Unterhaltungs- und der mit ihr kurzgeschlossenen Infor- mationsindustrie. Sie zeigt sich in Mustern des Freizeitverhaltens (individuelle Ausprägungen deuten auf Scheinfreiheiten). Ikonologische Pädagogik – Versuch einiger Annäherungen 47 Mit S. Sontag ist, neben dem gesellschaftlich rapiden Wandel, vor allem die Veränderung in der Verfügbarkeit von Bildern anzumerken. (Die Geschichte der Eroberung ist auch eine Ge- schichte der kolonialen Wahrnehmung – beispielsweise in den Schnappschüssen der Fotosafa- ris.) Das Bildtempo ist in einer progressiven Kurve gewachsen, dies betrifft Produktion wie Reproduktion, Herstellung wie Aufnahme. Das, was I. Illich verschiedentlich als „kommunika- tiven Infarkt“ bezeichnet, ist auch im Bild und Bildungswege ein Gefahrenmoment geworden. Durch die Wiedergabeformen von Kunst auf dem Wege von Massenproduktion kommt es zu pankulturellen Konfrontationen, die aber nicht unbedingt zu einer dialogpädagogischen Ausei- nandersetzung mit der „anderen“ Kultur führen. Die „Abstumpfung der sensorischen Fähig- keiten“ beziehungsweise ein „stetig fortschreitender Rückgang der Schärfe unserer sinnlichen Erfahrungen“ ist offenkundig geworden (vgl. S. Sontag 1982, S. 38, in: Herta Islitzer, 1993, S. 38). Die Bilder sind mobil geworden (movies). Manchmal bereitet es Schwierigkeiten ruhende Bilder aufzunehmen. Gelegentlich gelingt diese Aufnahme bei Bildern, die zu einem meditati- ven Verweilen einladen. Es ist jener „beschauliche“ Bildtypus angesprochen, der die meisten religiösen Bilder kennzeichnet. Zum ruhigen Bildtypus sind auch Schulwandbilder zu zählen. Durch eine ungeschickte Didaktik der Bildbeschreibung (Bilder unter Druck sich anzusehen, weil damit eine Benotung verbunden ist, die berühmte Bildbeschreibung im Aufsatzunterricht) kann den Kindern allerdings die Freude am Verweilen eines solchen „Stehbildes“ leicht ge- nommen werden. (Eine Parallele dazu ist das Austreiben der Freude am Hören und beim Ver- weilen bei der Musik, wenn manche Musiklehrer meinen über Noten(!)druck bei weniger be- gabten Schülern die Aufmerksamkeit zur Musik aberpressen zu können.) 4.2 Der Ort der Bilder Der Erkenntnisort Als Erkenntnis wird gemeinhin eine als wahr empfundene Einsicht erachtet, eine Einsicht in das Wesentliche von dem, „was ist“. Auch das Resümee dieses Einsehens wird als Erkenntnis bezeichnet. Traditionell werden sinnliche Erkenntnis (Wahrnehmungen äußerer Gegebenhei- ten, Erfassungen von inneren seelischen Geschehnissen), Verstandeserkenntnis (die „Summe“ bzw. „Resultate“ von Einzelwahrnehmungen, deren Ordnungsmuster erfasst werden) und Ver- nunftserkenntnis (Wissen, das mit „ein-sichtigen“ Gründen des Seienden zu tun hat) angefügt. Die so sensible Paradigmatik des Erkenntnisortes hat Werner Heisenberg in „Ordnung der Wirklichkeit“ (1942) dargestellt. Physiker des 20. Jhd. weisen darauf, wie sehr das Wahrneh- men ein Für-Wahrnehmen ist. Bilder – insbesondere die Ikonen – können auf Grenzen der Wahrnehmung weisen, wenn die Trennung zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten brüchig geworden ist und (so lehrt die Neuere Physik auch) erkennntistheoretisch nicht, nicht mehr, haltbar zu sein scheint. Diese Grenzziehung hat es im sakralen Bereich der Bilder – im Besonderem in der Ostkirche – nie gegeben. Unabhängig, ob das Umschließende in dem das Bild „räumlich“ ist (bzw. monaden- haft, ob es sakral oder nicht sakral ist – letztlich kann das wohl keine architektonische Frage 48 Peter Stöger sein) stellt sich ikonologisch die Frage nach Ein-Sicht und Ort von Bild, nach Bild als einer Werdegestalt. Mit letzterer ist ein traditionelles Newton’sches Welt-Bild bereits von der Para- digmatik her, philosophisch (was letztgültige und alleingültige Welt-Ansichten betrifft) in manchen Punkten in Frage stellbar (vgl. Heisenberg 1989). Die Einsicht in das Bild hat we- sentlich mit dem Standort des Betrachters zu tun. Die topographische Frage stellt sich hier – auch innerseelisch – neu: Der psychische Ort der Bilder „Ich komme, mein Bild zu treffen, und mein Bild trifft mich, nimmt mich liebevoll auf, schließt mich in die Arme bei meiner Heimkehr aus dem Gefangensein.“ (Illetschko Heorgia, Talismanische Kunst in Äthiopien. Bilder, die heilen, Die Presse 1992, S. 3, in: Islitzer 1993, S. 138.). Der psychische Ort der Bilder ist vom erkenntnistheoretischen Ort nicht zu trennen. Freilich Theorie und Praxis des Erkennens splitterten in der westlichen Bild-, Bildungs-, Denk- und Kulturgeschichte. Die Ursprünglichkeit der Bilder, die mit dem Zitat ahnbar ist, ging weit- gehend verloren. Rudimentär mag sie noch in Votivtafeln angedeutet sein. Es gibt auch einen scharfen Schnitt zwischen den Traditionen Westeuropas und Osteuropas. In der Orthodoxie (der oströmischen, byzantinischen Liturgie) ist der Glaube an die wirkliche, das heißt wirk- same Präsenz des Abgebildeten in dem Abgebildeten (z.B. der Muttergottes) lebendig. Die Ikonen sind Bilder der Fülle. Und etwas von dieser Fülle geht auf den Gläubigen (der nicht nur mit den Augen sieht) über. Auch die, die sich „nur“ für Ikonen „interessieren“ scheinen von „etwas“ fasziniert zu sein, das über das Kunsthistorische hinausweist. Faszinosum wie Tre- mendum, beides geht von Ikonen aus. Der Raum, von dem das einleitende Zitat stammt, ist koptischer Raum. Tätowierungen sind Kleidungen, kultische und manifestationsartige Erzählungen, Einprägung der Erinnerung, des Herzeigens (allein zum Thema „Marine und Hautzeichnungen“ gäbe es vielerlei anzumerken). Diese in die Haut gestochenen Bilder haben oft eine Zeugnisfunktion. Die tätowierte Handfläche kann Kopten im heutigen Ägypten in große Schwierigkeiten brin- gen. (In der Herzegowina habe ich so bei älteren Frauen das Kreuzsymbol in die Hand ge- zeichnet gesehen.) Oder denken wir an das Halskreuz, das viele tragen. Viele tun es aus modi- schen Gründen. Aber es mag ja sein, dass es für manche in manchen Situationen, eine Aussage hat. Der tiefere Sinn des Pektorales (Brustkreuzes), das Bischöfe tragen (in der Ostkirche sind es oft Marienmedaillons) liegt darin, dem Abgebildeten nahe zu sein. Bilder, eine Abwandlung von „Kleider machen Leute“? Vorsicht ist geboten. Doch ist über die Symbolik über das hand- lungsikonologische Moment nachzudenken. Das Bild hat seinen innerseelischen Raum. Der Bildbetrachter sieht das Bild mit seinen Bild- orten, also mit jenen Bildern, die im Inneren wirken, er sieht mit seinen Erinnerungen. Uralte Bilder, Bilder der frühen und frühesten Kindheit, sind der Stoff, aus dem die Fähigkeit zu leben, zu lieben, (Gott) zu loben, gemacht ist. Die Bildbegegnung ist selbst schon Ergebnis von erlebten „gehandelten“, von sich ereignet-habenden-Bildern. (Ich will sie Handlungsikonen nennen.) Ikonologische Pädagogik – Versuch einiger Annäherungen 49 Der Künstler wird oft als „Vater“ seines Werkes gesehen, als „Schöpfer“. Dies liegt auf der Diskussionslinie Psychoanalyse – Narzissmus, lehnt sich aber auch bei manchen theologischen Begriffsbildungen an. Der Künstler und das (sein) Werk sind aber nicht Endstation der Be- trachtung. Jede Form eines Sich Künstlerisch Ausdrückens ist, neben einem wirtschaftlichen Reflex der jeweiligen zeitgeschichtlichen Situation, auch eine psychische Äußerung, eine Äußerung mit Sinnfragen umzugehen. Nicht uninteressant, in der Verabsolutierung aber zu kurz gegriffen, ist, das Bild und den Bildschaffenden unter dem Aspekt von Omnipotenzphan- tasien zu betrachten. Kunst, an einer Schnittstelle zwischen Libido und Thanatos, ist auch eine mögliche Reaktion auf die ödipale Situation, (aber eben nur „auch“…). Erkenntnistheoretisch haben Bilder ihren Topos. Hier ist Materie, hier Geist. Und die Bilder? Sie sind materiell, als Farb-, als Kohlestiftzeichnung auf ein Blatt gebracht, mit Öl auf eine Leinwand gebracht. Sie sind aber auch geistig erfahrbar und damit ist nicht nur (nicht nur aus- schließlich) gemeint, dass Bilder „Ergebnis“ einer Idee, einer geistesgeschichtlichen Strömung sind. Damit ist auch gemeint, dass das Bild als Symbol Teil an jenem Geschehnis hat, das I. Caruso als Personalisation, C.G. Jung und Neumann (1954, 1992) als Individuationsgeschehnis bezeichnen. Bei der Frage nach dem Ort der Bilder in einem psychischen Raum, bei der Frage nach Bild und intrapsychischer Topographie stellen sich drei Wertefragen. Erstens die Frage nach dem Wert als einem Wert (für sich), ein Thema, das in Ablehnung einer Wertepädagogik in den letzten Jahrzehnten sehr vernachlässigt wurde, zweitens (mit dieser Schlüsselfrage natürlich verbunden) die Frage nach dem Wert der Bilder (damit meine ich nicht die ästhetische Variante „das Bild ist schön“) und drittens die Frage nach dem Wert dessen, was Psyche genannt ist. Der Wert der Bilder (im Sinne von Wertigkeit) erhält also durch die Diskussion um die Sub- jekt-Objekt-Frage in der Physik (als erkenntnistheoretische Schlüsselfrage) eine mögliche erkenntnis-praktische Dimension, für die die alten (eurozentrischen) Wissenschaftsparadigmen nicht mehr allein hinlänglich sind. „Nicht mehr allein hinlänglich“ meint, dass durch Heisen- berg, Schrödinger, Bohr, Einstein und Newton ja nicht aufgehört hat „richtig“ zu sein, auch die Äpfel fallen trotz Relativität von Raum und Zeit „senkrecht von den Bäumen herunter“. Es heißt nur, dass Newtons Konzept nicht allein für sich in totaler Inanspruchnahme, sozusagen in Exklusivität richtig ist. Das ist erkenntnistheoretisch möglicherweise das Zentralste, was im 20. Jahrhundert gedacht wurde: Die prinzipielle Subjekt-Objekttrennung, Basis traditionellen na- turwissenschaftlichen Denkens ist (ausgerechnet durch die Neuere Physik) erkenntnistheore- tisch nicht mehr hinlänglich. Es geht um die Wertigkeit der Bilder und um das Wertigsein meiner selbst. Wovor? Das ist – letztlich – eine religiöse Frage. Und sie sei nicht verheimlicht. 4.3 Der dialogische Ort der Bilder Ich und das Bild ... Was ist das? Also: Was ist das Ich? (Das heißt natürlich auch: Was ist das Du?) Was ist Bild? Und was ist das, was Ich und Bild gemeinsam haben? Welches Geschehnis wirkt „dazwischen“? 50 Peter Stöger Gitta Mallasz hat dies verdeutlicht: „Hanna korrigierte nie einen Entwurf, ohne dass wir uns zutiefst betroffen fühlten, selbst wenn es sich um ganz gewöhnliche Werbegraphik handelte. Sie sah jede Zeichnung als Ausdruck eines inneren Geschehens. Während des Unterrichts hat- ten wir einen ganz anderen Kontakt mit ihr als im übrigen Leben. Sie stellte sich intuitiv auf eine andere Wellenlänge ein und las in unseren Zeichnungen wie ein Arzt in einer Röntgenauf- nahme. Dies geschah mit Liebe, Strenge und in erster Linie mit viel Humor. Bevor sie zu spre- chen begann, hatte sie keine Ahnung, was sie uns sagen würde. Ja, sie war oft erstaunt, Dinge auszusprechen, die sie vorher nicht wusste.“ (1981, S. 3) Hier ist die wohl schwierigste und zarteste didaktische Begegnung skizziert. Unmittelbares passiert, nicht nur an der Schülerin. Eine Gestalt, zwischen Künstler, Bild und Betrachter ist da. „Zwischen“ (Martin Buber spricht vom „Zwischen“ [1983, S. 22]) ist sie. Aber nicht Zwi- schen im Sinne eines unüberbrückbaren Dazwischen, sondern Zwischen als gemeinsames Tra- gendes, das das Korrektiv vertragen kann, das auch nicht in das Sentimentale abweicht. Martin Buber schreibt, dass die „unmittelbare Beziehung“ ein „Wirken am Gegenüber“ „einschließe“: „[D]ie Wesenstat der Kunst bestimmt den Vorgang, in dem die Gestalt zum Werk wird. Das Gegenüber erfüllt sich durch die Begegnung, es tritt durch sie in die Welt der Dinge ein, un- endlich fortzuwirken, unendlich Es, aber auch unendlich wieder Du zu werden, beglückend und befeuernd. Es ‚verkörpert sich‘: sein Leib steigt aus der Flut der raum- und zeitlosen Ge- genwart an das Ufer des Bestands.“ (1983, S. 21) Das dialogische Geschehen hat in der religiösen Kunst eine besondere Prägung (Votivtafeln, Marterln). Auf vielen dieser Bilder sind Dialogszenen niedergeschrieben. Die Wechselrede besteht oft in Bitte und Antwort, im Anruf und im Guten Rat. Die Bilder sind meist Dankbil- der, sind auch Bittbilder und sind Dokumente des Zeugnisgebens. Andere sollen auch davon wissen, auch glauben an Anruf und Erhörung. Dadurch wirken sie beispielhaft. Religionsdi- daktisch sind diese Bilder wertvoll, gerade weil sie schlicht sind, die Maler „aus dem Volk“. Schlicht, herb wie zärtlich, sind die Bilder naiv wie glaubwürdig. Hier schiebt sich kein Filter vor, der religiöse Auftragskunst von dem Gläubigen trennt. Oft sind die Maler die Betroffenen selbst. Diese Unverstelltheit ist wohl eines der Geheimnisse der großen Beliebtheit und Wirkung der Bilder. Seine innere Evidenz der Erfahrung steht auch für den Zweifler außer Frage: seine Schlüsse mögen andere sein, doch wird er die Glaubwürdigkeit des Menschen, der Wundersames, Wundertätiges erfahren hat, nicht anzweifeln (vgl. Guardini 1991, S. 57). Eine Nachbemerkung Eine Erinnerung an Gonder, die alte Königsstadt in Äthiopien taucht auf. Es war im Frühling, der Tag warm, von einem leicht-grauen Seidentuch überzogen. Dort war eine besondere Kir- che, eine koptische. Der Kirchendiener begleitete uns. Und so standen wir im Dunkel der Kir- che. Ja vorerst noch etwas dunkel und doch alles so vertraut. Bilder darin, uralte Fresken. Sie gemahnten alt-jung an das Leben überhaupt. Da war ein wärmendes hüllendes leichtes Dunkel und das Wissen, dass die Bilder sind ... Immer mehr kamen die Bilder zum Leuchten, das Auge adaptierte sich. Eine Kreuz-Wandbildikone war inmitten eines Sternenregens. Eine Fülle er- Ikonologische Pädagogik – Versuch einiger Annäherungen 51 goss sich. Das Bild war wirklich geworden und ich ahnte, dass diese Bilder dem Gläubigen „gegenwärtlich“ werden, seine Seele und manchmal auch den Körper mit seinem Geist gesun- den lassen. Wenn ich mich an dieses Dunkel zurückerinnere, so erinnere ich mich an das Gefühl, das diese Bilder nährten, kleideten, umhüllten und wohl auch schützten. Ein braver Student der Psycho- analyse, den Lehrer an Orthodoxie übertreffend, etwas, was bei besonders anhänglichen Schü- lern öfters vorzukommen scheint, könnte vielleicht sagen, ja die dunklen Räume ... in einer „Mutter Kirche“ ... und die Faszination darob ..., das ist nur ein Sog zurück zum Urraum und ein aufgeklärter Mensch mit einer analytisch gereinigten Seele habe diese Falle der Sehnsucht nach dem Zurück in die Zeit von Symbiose zu erkennen und den Schmerz der Nimmerwieder- kehr tapfer im Angesicht der Banalitäten, auch der Bosheiten, des Alltags zu ertragen. Und dabei mag er auch Recht haben. Auch Recht haben. Regressive Sehnsüchte sind nichts Unbe- kanntes und solche Sogwirkungen von Bildern gibt es tatsächlich. Indes – ich sage „auch“. Was ist das, was darüber hinausgeht? Was ist das „Mehr“? Dieses zu beschreiben ist schwer, Künstler, die mit Farbe und Ton schreiben, tun sich wohl etwas leichter. (Eine sorgsame Ana- lyse wird dieses Mehr belassen können, wenn es authentisch ist.) Es war ein besonderes Erlebnis für uns. Ja, die uralten Bilder. Da war dieses sanfte Dunkel und zugleich das In-die-Helle-Sehen. Aber da war auch das Standhalten. Hier die Bilder und hier Ich, aufgehoben im Wir. In der Kirche ein Mädchen. Die Bilder, sie und wir … Ohne sie hätten die Bilder kaum geleuchtet. Vielleicht ist in dem allem, in dem All etwas enthalten, was sich nur fragen lässt, weil die Antwort in der Frage und nur in der Frage enthalten ist. Wie immer. So taucht zum Schluss, weit weg von Äthiopien und zugleich mitten darin, eine Figur auf … Canetti, der meinte: „Es sind mehrere Bilder, die einer für ein eigenes Leben braucht, und wenn er sie früh findet, geht nicht zu viel von ihm verloren.“ (Zit in: Wieprecht-Roth 2004, S. 133) Literatur Antochi, Jozif (1992): Bild und Bildung bei Jan Amos Comenius. In: Pöggeler, Franz (Hrsg.): Bild und Bildung. Beiträge zur Grundlegung einer pädagogischen Ikonologie und Ikono- graphie. Frankfurt/M.: Peter Lang Verlag, S. 95–109. Arrouye, Jean; Beyer, Andreas; Bredekamp, Horst; Lavin, Irving; Schellewald, Barbara; Settis, Salvatore & Warnke, Martin (1992): Die Lesbarkeit der Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie. Berlin: Klaus Wagenbach. Berger, C.-P. (1993): Über Sichtbarkeit. Zu Friedrich Pachers „Enthauptung der heiligen Kos- mas und Damian“. Das Fenster: Tiroler Kulturzeitschrift 27 (54) , S. 5256–5260. Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden (1989): Bd. X, 19. 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In: Arrouye, Jean; Beyer, Andreas; Brede- kamp, Horst; Lavin, Irving; Schellewald, Barbara; Settis, Salvatore; Warnke, Martin: Die Lesbarkeit der Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie. Berlin: Klaus Wagenbach, S. 23–28. Widlöcher, Daniel (1987): Was eine Kinderzeichnung verrät. Methode und Beispiele psycho- analytischer Deutung. Frankfurt/M.: Fischer. Wieprecht-Roth, Stefanie (2004): Die Freiheit in der Zeit ist die Überwindung des Todes: Überleben in der Welt und im unsterblichen Werk. Eine Annäherung an Elias Canetti. Würzburg: Königshausen & Neumann. Zepf, Irmgard (1992): Bildung durch Bilder als Problem der ästhetischen Erziehung, In: Pög- geler, Franz (Hrsg.): Bild und Bildung. Frankfurt/M.: Peter Lang, S. 399–419. Visuelle Kompetenz, Medienkompetenz und „New Literacies“ – Konzeptionelle Überlegungen in einer pluralen Diskurslandschaft Theo Hug Zusammenfassung Seit Beginn der Medienkompetenz-Debatten in den 70er Jahren sind zahlreiche Modelle mit unterschiedlichsten Akzentsetzungen vorgeschlagen worden. Neuerdings werden auch Fragen der visuellen Kompetenz, der Bildkompetenz und Kompetenzen der Bilder (Ratsch et al., 2009) sowie deren Relevanz in vielen Wissenschaftsdisziplinen intensiv diskutiert. Während im deutschen Sprachraum seit einiger Zeit auch Ansätze der Media Literacy und „New Literacies“ diskutiert werden, werden umgekehrt im anglo-amerikanischen Sprachraum Konzepte der Medienkompe- tenz und der Medienbildung kaum rezipiert. Im Beitrag werden zunächst eine Auswahl ein- schlägiger Konzepte und Diskursstränge skizziert und kontrastiert. In einem zweiten Schritt werden konzeptuelle Expansionen problematisiert und Ansprüche der Literalität, Kompetenz und Bildung relationiert. Abschließend werden Überlegungen „beyond literacies“ in ihrer Bedeutung für die Medienbildung zur Diskussion gestellt. 1. Ausgangspunkte Von den Höhlenmalereien der Cro-Magnon-Menschen zu Platons Höhlengleichnis und seiner Ideenlehre, von den Bilderverboten zu den Bild gebenden Verfahren, von der „biblia paupe- rum“ zu den digitalen Präsentationsmedien, von den ersten Illustrationen in wissenschaftlichen Lehrwerken zur visuellen Wissenssoziologie (Raab 2008) und den „Netzwerken entstehender Ikono-Kratie“ (Faßler 2010) – Bilder und Fragen der Bildlichkeit waren für menschliche Kommunikationsprozesse allemal bedeutsam. Die Konjunkturen waren durchaus veränderlich und mit ihnen die korrespondierenden Relationen von Sinn und Sinnlichkeit, Vermittlungs- und Verteilungsdynamiken von Wissen und nicht zuletzt auch epistemologische und pädagogi- sche Hoffnungen und Relevanzen. Wie immer wir hier angesichts langfristiger Dynamiken Brüche und Kontinuitäten modellieren, seit einiger Zeit zeichnen sich Neuakzentuierungen und Entwicklungsdynamiken ab, die sich in qualitativer und quantitativer Hinsicht von früheren unterscheiden. Mit der Verbreitung digitaler Bildbearbeitungstechnologien und nicht zuletzt der massenhaften Nutzung netzbasierter Foto- und Videoplattformen ging eine quantitative Zunahme von Bildern einher, wie bei keinem anderen historischen Visualisierungsschub. In qualitativer Hinsicht haben sich Umgangsformen mit Bildern und Sehpraxen in vielen Lebens- bereichen geändert. Ihre Bedeutung in Wissens- und Kommunikationsprozessen wird neu überdacht, die Logik des Bildlichen (Heßler & Mersch 2009) wird thematisiert, Prozesse der „Sichtbarmachung von gedachten Gegenständen, die für unsere Sinne nicht existieren“, und Visuelle Kompetenz, Medienkompetenz und „New Literacies“ 55 Formen „Mikrologisierung der Wahrnehmung“ (Faßler 2009, S. 290f) werden reflektiert. Und mit Blick auf biokybernetische Reproduktionstechnologien schreibt W.J.T. Mitchell: „Der uralte Mythos von der Schöpfung lebendiger Bilder, der Erzeugung eines intelligenten Wesens mithilfe künstlicher, technischer Hilfsmittel, ist nun dank neuer Medienkonstellationen auf vielen verschiedenen Ebenen theore- tisch und praktisch möglich geworden. Die Konvergenz genetischer und mathematischer Technologien mit neuen Formen spekulativen Kapitals hat den Cyberspace und die Biosphäre (die innere Struktur der Organismen) in Grenzgebieten technischer Innovation, Aneignung und Ausbeutung ver- wandelt – in neue Formen der Dinghaftigkeit und Territorialität für eine neue Art von Herrschaft.“ (Mitchell 2008, S. 191; kursiv im Org.) Die Geschichte der Vorstellungsbilder von den Möglichkeiten und Grenzen der Verwirkli- chung von Vorstellungsbildern und deren Reflexion kommt damit erneut in Bewegung. Neue Formen der intentionalen Materialisierung von Vorstellungsbildern kommen in Betracht. Zu- mindest legen die milliardenschweren Investitionen in die gentechnische Forschung das nahe. Bei näherer Betrachtung der bisherigen Forschungsergebnisse erweist sich die Metapher des „In-Betracht-Kommens“ insofern als irreführend, als wir es hier eher mit typischen Technolo- gie-Versprechungen zu tun haben und weniger mit konkreten Gestaltungs- oder Wahlmöglich- keiten etwa bei der Behandlung oder Erzeugung von Krankheiten. Etwas vorsichtiger ausge- drückt könnte man sagen: Im Zusammenspiel von Bio- und Computertechnologien können errechnete Bilder in einem materialen Sinne lebendig werden, der über ästhetisch motivierte Formen der digitalen Technogenese des Sichtbaren (z.B. in der Filmindustrie)1 hinaus geht. Sie legt zumindest eine neue Lesart der Vorgängigkeit von Bildern nahe. Christian Doelker hat in seinem Buch Ein Bild ist mehr als ein Bild (2002) einige Lesarten des Diktums „Am Anfang war das Bild“ aufgelistet: „vor der Schrift war das Felsbild, vor der artikulierten Sprache der mimische Ausdruck, vor der rationalen Überlegung die mythische Vorstellung“ (ebd., S. 16). Im Zeitalter der biokybernetischen Reproduzierbarkeit kommt dazu: vor der Kreation syntheti- scher Zellen ist die Vision vom künstlichen Leben auf dem Reißbrett oder besser: mittels Computern, die von Bioingenieuren programmiert worden sind.2 Auch wenn die biokybernetischen Entwicklungen am Anfang stehen und in mehrfacher Hin- sicht kostspielig sind, so zeichnen sich mit ihnen neue Herausforderungen für die Medienan- 1 Vgl. etwa den Science-Fiction-Film Gattacca (Regie: Andrew Niccol, 1997) über gentechnologische Strategien der „Optimierung“ menschlichen Lebens und deren gesellschaftliche Auswirkungen. 2 Immerhin ist Craig Venter und seinem Team heuer die Schaffung einer lebenden Bakterienzelle gelungen, die von einem chemisch synthetisierten Genom gesteuert wird (s. http://www.ted.com/talks/lang/eng/craig_venter_unveils_ synthetic_life.html) – „Ein erster Hauch künstlichen Lebens“ übertitelte Sven Stockrahm den Bericht in der Zeit- Online Ausgabe vom 20.5.2010 (s. http://www.zeit.de/wissen/2010-05/Bakterium-kuenstliches-Leben). 56 Theo Hug thropologie, Medienepistemologie3 und Medienkritik und nicht zuletzt für die Medienkommu- nikation und Medienpädagogik ab. Dabei geht es um mehr als das Zusammenwirken von Bio- und Info-Sphären und Fragen der Ko-Evolution natürlicher und kultureller Prozesse. Für die Diskurse der visuellen Kompetenz, Medienkompetenz und „New Literacies“ ist auch ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit bedeutsam, wie Heinz Moser (2008) im Anschluss an Appadurai (1996) hervorhebt. Dabei geht es um die Rolle von Vorstellungsbildern, die im Spannungsfeld von Medien und Migration zirkulieren, und ein flexibles Framework vernetzter scapes („Sphären“, „(Land)schaften“), das für die Untersuchung kultureller Phänomene in globalisierten Ökonomien geeignet ist, die mit Zentrum-Peripherie-Modellen nicht angemessen beforscht werden können (vgl. Appadurai 1996, S. 32). Die Neologismen, die Appadurai (ebd., S. 33) hier ins Spiel bringt, lauten „Ethnoscape“ (im Sinne transnationaler Mobilität von Per- sonen), „Technoscape“ (globale Konfiguration technologischer Netzwerke), „Financescape“ (Landschaft globaler Finanzströme), „Mediascape“ (Fluss von Bildern und Medienangeboten aller Art) und „Ideoscape“ (politisch relevante Vorstellungsbilder, Ideologeme wie Freiheit, Wohlstand, Souveränität, etc.). Die einzelnen „Landschaften“ werden dabei als disjunkte Be- reiche mit eigenen Dynamiken aufgefasst, die als Bausteine für imaginierte Welten fungieren. Einmal abgesehen von der fehlenden Trennschärfe dieser Beschreibungsperspektiven müsste meines Erachtens hier stärker die Interdependenz der Entwicklungsdynamiken in den Blick genommen werden. Das betrifft nicht nur die Interaktionsdynamiken zwischen Finanzströmen und „Technoscapes“ oder die zwischen „Ideoscapes“ und medialisierten Kommunikationsfor- men. Das betrifft alle genannten Bereiche und darüber hinaus auch andere Kapitalformen4 sowie Bio- und Infoscapes. Wir haben es hier mit komplexen Relationen und nicht weniger komplexen, vernetzten Dynamiken zu tun, die allesamt nicht im medienfreien Raum, sondern unter den Bedingungen der Medialisierung und Mediatisierung ermöglicht, entfaltet, begrenzt, entfesselt, kritisiert und reflektiert werden. Mit dieser einleitenden Skizze wird bereits deutlich, wie wichtig die Reflexion zeitdiagnosti- scher Beschreibungsperspektiven auch für die Bearbeitung von Fragen der visuellen Kompe- tenz und Medienkompetenz ist. Sie eröffnen jeweils unterschiedliche Reflexionshorizonte und Möglichkeiten der Kontingenzverarbeitung, und sie legen unterschiedliche konzeptuelle Diffe- renzierungen und Problemanordnungen nahe (vgl. Hug 2008, S. 46–48). Dabei geht es weniger um möglichst einflussreiche Festlegungen von Transformationsdiagnosen oder Behauptungen über die „wirkliche“ Verfassung der gesellschaftlichen oder medialen Wirklichkeit, sondern vielmehr um die probeweise, temporäre und kontextsensitive Anwendung von begründeten Be- 3 Vgl. dazu insbesondere Schmidt (1999) sowie Faßler (2009, S. 293). Auch Ansätze der third-order cybernetics, wie sie etwa im Kontext der Organisationsentwicklungstheorie vorgelegt worden sind (vgl. Kenny & Boxer 1990), sind damit vor neue Herausforderungen gestellt. 4 Vgl. die Formen kulturellen Kapitals sensu Pierre Bourdieu, aber auch die neuen informationellen Kapitalformate, die im Zusammenwirken von „digitalem Kapitalismus” (Peter Glotz), „kognitivem Kapitalismus“ (Hanno Pahl, Lars Meyer), „topologischem Kapitalismus“ (Maristella Svampa u.a.) und „bio-politischem Kapital“ (Toni Negri et al.) entstehen (vgl. Faßler 2010, S. 19). Visuelle Kompetenz, Medienkompetenz und „New Literacies“ 57 schreibungsperspektiven und die sukzessive Überprüfung von deren Anschlussfähigkeit, Brauchbarkeit und Viabilität. Von den vielen gegenwärtig verfügbaren Konzepten gesell- schaftlicher Selbstbeschreibung erscheinen mir die folgenden besonders relevant: • Die Perspektive Medienkulturgesellschaft fokussiert die Ko-Evolution medialer, sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Veränderungen. Die Einführung neuer Medien schafft historisch immer wieder neue Spielräume der Kommunikation und Kognition so- wie der Politik und Ökonomie. Die historischen Medien-Konstellationen stellen dann je- weils für gewisse Zeiträume Strukturbedingungen der Vergesellschaftung und der Wirk- lichkeitskonstruktion dar (vgl. Schmidt 2000, S. 175ff). • In der Perspektive Wissensgesellschaft werden Dimensionen der Schaffung, Verfügung, Verteilung und Tradierung von Wissen problematisiert. Dabei geht es vor allem um die Bedeutung unterschiedlicher Wissensformen sowie um deren Zusammenspiel und deren Stellenwert als Produktionsfaktoren. Gerade die Vielgestaltigkeit des Wissens, seiner Re- präsentationsformen und seiner sozialen Verteilung stellt eine besondere Herausforderung für die Pädagogik dar. Diese lässt sich nicht mit euphorischen Wissensgesellschafts-Ver- kündungen, sondern nur mit differenzierten Reflexions- und Orientierungsangeboten be- wältigen (vgl. Stehr 1994; Höhne 2004). • In der Perspektive Netzwerkgesellschaft wird eine uralte menschliche Praxis weiter ge- dacht (vgl. Castells 2001; Faßler 2001). Durch den Einfluss der Informationstechnologien entwickeln sich aus traditionellen Netzwerken heute Informationsnetzwerke, die weit rei- chende Transformationsprozesse in Arbeits-, Bildungs- und Lebenswelten in Gang gesetzt haben. Diese zeitdiagnostischen Beschreibungsperspektiven sehe ich in einem Ergänzungsverhältnis zueinander. Sie erweisen sich unter analytischen und gestalterischen Gesichtspunkten als trag- fähig, und sie korrespondieren außerdem mit neueren Wende-Proklamationen, die für die The- matik dieses Beitrags von Interesse sind. Auch wenn solche turns seit einigen Jahrzehnten in immer kürzeren Abständen ausgerufen werden und sie in ihren Wirkungen durchwegs sehr beschränkt bleiben, halte ich vor allem die methodologischen und epistemologischen Heraus- forderungen, die mit dem pictorial turn (Mitchell 1994) sowie dem iconic turn (Boehm 1994, S. 13f) verknüpft sind, für diskussionswürdig. Analoges gilt für die Fragestellungen, die mit der Thematisierung von mediatic turns zur Diskussion gestellt worden sind. Während beim linguistic turn über weite Strecken sprachwissenschaftliche Dimensionen und in den sprach- analytischen Ausrichtungen vor allem Begriffsanalysen im Vordergrund standen, rücken beim mediatic turn symbolische, materiale, soziale und digitale Dimensionen verstärkt ins Blickfeld. In diesem Sinne meint die Rede von einer oder mehreren „medialen Wenden“ auf einer meta- theoretischen Ebene eine Alternative und Ergänzung der etablierten Paradigmen, die sich durch eine Konzentration auf Medien, Medialität und Medialisierung auszeichnet (vgl. Margreiter 1999; Friesen & Hug 2009; Hug 2009). Auf einer empirischen Ebene wird dabei die Bedeu- tung der Medien für Prozesse der Kommunikation, des Wissensaufbaus und der Wirklichkeits- konstruktion hervorgehoben. Der Ausdruck „Medialisierung der Lebenswelten“ beinhaltet gewissermaßen beide Aspekte: Die erfahrbare Alltagswelt und Beobachtungen der „Medien- 58 Theo Hug durchdringung“ sowie die Unhintergehbarkeit medialisierter Welten und deren Funktion als Ausgangspunkte für unsere Erkenntnisbestrebungen. 2. Visuelle Kompetenz und Medienkompetenz – Visuelle Literalität und Medienliteralität Die Forschungslage in den Bild- und Medienwissenschaften im Allgemeinen und im Besonde- ren mit Blick auf Fragen der visuellen Kompetenz und Medienkompetenz ist denkbar disparat. Das betrifft nicht nur die Vielzahl involvierter Disziplinen mitsamt den korrespondierenden Wissenschaftsverständnissen, methodischen Präferenzen, Fachsprachen und Kombinationen von nutzen- und/oder erkenntnisorientierten Forschungsinteressen5. Das betrifft auch Tenden- zen • der Forderung nach inter- und transdiziplinären Forschungsprojekten ohne Einrichtung von adäquaten Förderinstrumenten und Gratifikationssystemen, • der teilkulturellen Wissens- und Rezeptionsdynamik in unterschiedlichen Sprachräumen (Wer im EU-Raum nimmt Forschungsergebnisse aus Afrika, Asien oder Lateinamerika ernsthaft zur Kenntnis? Wer in Nordamerika rezipiert wissenschaftliche Texte, die in Spa- nisch, Französisch oder Deutsch verfasst sind? etc.) • der dreifachen Nähe zu Alltag, Technik und Politik in Mainstream-Diskursen. Letzteres gilt nicht zuletzt für den Mainstream der einschlägigen Medienkompetenz-Diskurse. Sie sind ungeachtet des erreichten Forschungsstandes in den Medien- und Kommunikations- wissenschaften tendenziell techniklastig und primär anwendungsorientiert. Ihre Nähe zu All- tag, Technik und Politik zeigt sich (1) im alltagstheoretischen Gebrauch von Ausdrücken, die auch in den Theorien und Modellen des Lernens und der Didaktik Verwendung finden, (2) in den Modalitäten der Auswahl und Darstellung von Themen, insofern sie sich mehr oder weni- ger am aktuellen Stand der industriellen Entwicklungen mobiler Geräte, Apparate und ein- schlägiger Technologien orientieren, und (3) in der reduktionistischen Verknüpfung von markt- wirtschaftlichen Orientierungen mit instrumentellen Lernauffassungen und Fiktionen der Bere- chenbarkeit von Lernergebnissen und Bildungserfolgen, wie sie an IKT-Förderprogrammen 5 Vgl. die Erweiterung der einflussreichen Unterscheidung von Anwendungs- und Grundlagenforschung von Vannevar Bush aus den 1940er Jahren zu einem Matrixmodell mit vier Quadranten (Stokes 1997). Dieses beinhaltet (1) Grund- lagenforschung mit differenzierten Erkenntnisinteressen ohne Anwendungsinteressen („Bohr’scher Quandrant“), (2) anwendungs- bzw. nutzenorientierte Grundlagenforschung („Pasteurs Quadrant“) und (3) angewandte Forschung ohne epistemologische Ansprüche („Edisons Quadrant“); der vierte Quadrant bleibt bei Stokes (1997) frei, er könnte mit Beispielen für isolierte Faktenbestimmungen oder unsystematische Phänomenerkundungen gefüllt werden. Diese Unterscheidungen dienen primär politischen Zwecken der Wissenschaftsförderung. In der empirischen und philosophi- schen Wissenschaftsforschung markieren sie lediglich einen Ausschnitt aus dem Panorama relevanter Differenzierun- gen von Wissensformen und Erkenntnisinteressen. Visuelle Kompetenz, Medienkompetenz und „New Literacies“ 59 ablesbar sind, bei denen sich die Aufwendungen für lern- und bildungsorientierte Aktivitäten im Zinsenbereich der Gesamtausgaben bewegen. Dabei geht es um Zielbegründungen und die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Problematisch sind nicht Technologieförderungen per se, die allemal auch gebraucht werden. Problematisch sind vielmehr die inadäquaten Verteilungen der Mittel für unterschiedliche Zwecke, die verfügungsrationalistischen Fiktionen der Steuerung sowie die pars-pro-toto-Tendenzen und Hegemonieansprüche mancher Spezialdiskurse. Wer Lern- und Bildungstechnologien fördert, hat im günstigen Fall eine Voraussetzung für gelingende Lern- und Bildungsprozesse geschaffen. Dass aber mit dem Säen von Software- Produkten nicht zwangsläufig Erfolge bei der Ernte von Lern- und Bildungserfolgen verbunden sind, das haben viele (Fehl-)Investitionen im Bereich e-Learning längst gezeigt. Umgekehrt gilt auch für kritische Bildungsverständnisse: Auch sie können für die Vermittlung von Ideologien verwendet werden oder in solche umschlagen. In alltagsweltlichen, schulischen und wissen- schaftlichen Kontexten lässt sich immer wieder beobachten, dass und wie berechtigte Kritik in die Verabsolutierung von Teilaspekten, in dogmatische Blindheit oder missionarische Über- zeugungs- und Überredungsstrategien umschlägt. Wo Technologiefeindlichkeit zum Habitus wird, werden „kritische Bildungsverständnisse“ nicht weniger fragwürdig wie IKT-Program- me, in denen neue Software-Technologien als didaktische Innovationen oder Bildungsmaß- nahmen verkauft werden. Mir geht es hier nicht darum aufzuzeigen, was im Einzelnen unter ‚gelingenden Lern- und Bildungsprozessen‘ verstanden werden kann und von welchen Instanzen solche Prozesse für erstrebenswerter als Routinen der Halb- oder Unbildung, die selten beim Namen genannt wer- den, erachtet werden. Mir geht es hier um die Frage der doppelten Dynamik von metaphori- schen Expansionen und pragmatischen Fokussierungen. Was ist damit gemeint? Mit ‚doppelter Dynamik‘ meine ich hier komplementäre Prozesse der Erweiterung von Bedeu- tungsfeldern, Gebrauchsweisen von Begrifflichkeiten sowie Routinen figurativer Übertragung von Bedeutungszusammenhängen einerseits und anwendungsorientierten Konkretisierungen, Mainstreaming Aktivitäten sowie hegemonialen Durchsetzungsansprüchen von partikularen Interessen andererseits. Diese doppelte Dynamik betrifft wissenschaftsimmanente Prozesse und solche in anderen „scapes“ sowie insbesondere in alltagsweltlichen Praxen oder politischen Diskurszusammenhängen. Das Zusammenspiel von Expansionsdynamiken und Fokussie- rungstendenzen geht dabei insofern über die bekannte Frage von vielen Optionen und wenigen Ligaturen hinaus als in Zeiten des epistemologischen Pluralismus die Diffusion von Ereignis- sen und Perspektiven sowie die Kontingenz von Methodologien und wissenschaftlichen Wis- sensformen häufig mit erweiterten Möglichkeiten der Flucht aus der Beliebigkeit (Mitterer 2001) assoziiert werden. Kurzum: Wenn ExpertInnen sich streiten, so mag das die wissen- schaftlichen Diskurse beleben und neue Möglichkeiten der Problembearbeitung befördern. Im Übrigen haben aber flüchtige Bindungen und verbindliche Unverbindlichkeiten Konjunktur, soweit sie angesichts der allgemeinen Unverbindlichkeiten brauchbar erscheinen. Das Argument metaphorischer Expansionen lässt sich im Zusammenhang der Entwicklung von Medienkompetenz-Diskursen und -Programmen verdeutlichen. Der Ausdruck ‚Medienkompe- tenz‘ hat im deutschen Sprachraum seit rund 20 Jahren Konjunktur. Der Ausgangspunkt der 60 Theo Hug Debatten liegt bekanntlich weiter zurück in den 70er Jahren. Der Begriff ‚kommunikative Kompetenz‘ wurde von Dieter Baacke (1973a) in die erziehungswissenschaftliche Diskussion eingeführt und in der weiteren Folge als Kompositum Medienkompetenz ausdifferenziert. Er gab damit den zentralen Anstoß nicht nur für die medienpädagogischen Medienkompetenz- Debatten, sondern für interdisziplinäre Anschlüsse und Weiterentwicklungen. Der Terminus ist in unterschiedlichen Ausdifferenzierungen bis heute über die Medienpädagogik hinaus im Kontext von Theorie und Praxis der Bildungs-, Sozial- und Kulturarbeit sowie in wirtschaft- lichen, politischen, rechtlichen, psychologischen, informationswissenschaftlichen und techni- schen Diskurszusammenhängen bedeutsam geblieben (vgl. Gapski 2001). Während das Gros sowohl der reflexiven, theoretisch motivierten als auch der praxisorien- tierten Medienkompetenz-Bemühungen über viele Jahre hinweg meistens auf regionale oder nationale Perspektiven beschränkt geblieben ist, haben in den letzten Jahren das Spannungsfeld von Medienkompetenz und Medienbildung (vgl. exemplarisch Schorb 2009; Spanhel 2010) und internationale Verständigungsversuche an Bedeutung gewonnen. Dabei finden vor allem Bestimmungen aus dem englischen Sprachraum Beachtung, wie zum Beispiel die Media Lite- racy Definition der NAMLE6: „Media literacy empowers people to be both critical thinkers and creative pro- ducers of an increasingly wide range of messages using image, language, and sound. It is the skillful application of literacy skills to media and technology messages. As communication technologies transform society, they impact our understanding of ourselves, our communities, and our diverse cultures, making media literacy an essential life skill for the 21st century.“7 In den Debatten wird zunehmend deutlich, dass nicht nur die sprachtheoretischen Wurzeln des Kompetenz-Konzepts, sondern die diversen Literalitäts-Konzepte, die sprachlichen und kultu- rellen Traditionen sowie die performativen Besonderheiten die europäische Diskussion nicht gerade erleichtern. Dies zeigt sich insbesondere bei den integrativen Bemühungen im Zusam- menhang der European Charter for Media Literacy.8 In ihr wird u.a. pointiert beschrieben wie folgt: „media literate people should be able to: - Use media technologies effectively to access, store, retrieve and share content to meet their individual and community needs and interests; - Gain access to, and make informed choices about, a wide range of media forms and con- tent from different cultural and institutional sources; 6 National Association for Media Literacy Education (http://namle.net/), vormals Alliance for a Media Literate America (AMLA) 7 Vgl. http://www.amlainfo.org/home/media-literacy/ 8 Vgl. http://www.euromedialiteracy.eu/charter.php Visuelle Kompetenz, Medienkompetenz und „New Literacies“ 61 - Understand how and why media content is produced; - Analyse critically the techniques, languages and conventions used by the media, and the messages they convey; - Use media creatively to express and communicate ideas, information and opinions; - Identify, and avoid or challenge, media content and services that may be unsolicited, offensive or harmful; - Make effective use of media in the exercise of their democratic rights and civic responsi- bilities.“ (ebd.) Auch wenn hier sowohl begriffliche und konzeptionelle als auch praktische und anwendungs- orientierte Aspekte im Detail weiter zu klären sind, so sind mit den internationalen Verständi- gungsversuchen wichtige Debatten in Gang gekommen, die anschlussfähig sowohl an bil- dungstheoretische Diskurse als auch an jene der Lebenskompetenz und Lebenskunst sind. Ähnliche Weiterungen und Ausdifferenzierungen können anhand der Ausdrücke ‚visuelle Kompetenz‘, ‚Bildkompetenz‘ und ‚visual literacy‘ rekonstruiert werden.9 Im deutschen Sprachraum hat Christian Doelker 1997 als erster die Ausdrücke in medienpädagogischer Absicht gebraucht und ein differenziertes Konzept vorgelegt (vgl. Doelker 2002). Dieses umfasst rezeptive und gestalterische Dimensionen. Ein wichtiges Kernstück seiner Konzeption stellt das bildsemantische Schichtenmodell dar.10 Visuelle Kompetenz bezieht sich dabei auf jene Fähigkeiten und Fertigkeiten, die zur Sondierung der Tektonik von subjektiven, inhärenten und intendierten Bedeutungen sowie von Bild-Qualitäten (Gültigkeit, Verständ- lichkeit, Stimmigkeit, Vertretbarkeit) erforderlich sind. Was die Frage nach der Literalität des Bildes betrifft, so geht Doelker von einem erweiterten Lesebegriff aus (vgl. Doelker 2002, S. 151) – ein Argument, das nicht zuletzt bei der Klärung von künstlerischen Ansprüchen bedeutsam ist. „Der Begriff Literalität ist nicht zu verwechseln mit Literalität als »deutsche« Entsprechung zu literacy = »Lesekompetenz«.“ (Doelker 2002, S. 151; Hervor- hebung im Org.) Er geht entsprechend von einem weit gefassten Begriff des ‚Lesens‘ aus, der sich auf alle For- men von aufgezeichneten Konfigurationen bezieht, in und mit denen Bedeutungen ausgemacht werden können. Das, was hier von Doelker als bildtheoretisch und bildungspolitisch motivierte Weiterung verstanden wird, wird etwa von Müller (2008) als relativ enger ‚literacy approach‘ aufgefasst, in dem viele Aspekte nicht abgedeckt werden, die in ihrem (weiteren) Begriff von ‚visueller Kompetenz‘ relevant sind (ebd., S. 102). Ihre Forschungsgruppe versteht darunter ein interdisziplinäres Konzept, genauer ein Paradigma für „basic research on the production, dis- tribution, perception, interpretation and reception of visuals, aimed at understanding visual 9 Für einen Überblick über neuere Entwicklungen zum Thema visuelle Kompetenz vgl. Anschober (2005). 10 Vgl. dazu auch seinen Beitrag in diesem Band. 62 Theo Hug communication processes in different contemporary social, cultural and political contexts“ (Müller 2008, S. 103). Abbildung 1: Visual competence cycle (Müller 2008, S. 103) Die vier Kompetenzbereiche, die in diesem Modell unterschieden werden, stehen in einem dynamischen Zusammenhang: „Visual competence, as defined by Jacobs University’s research group, is subdi- vided into four intertwined, but still distinct competencies: perceptual compe- tence, decoding and interpretation competence, production competence, and in- tra- as well as intercultural perception competence.“ (ebd., S. 105) Pädagogische Ansprüche der Vermittlung werden entsprechend als Teilaspekte in einem über- greifenden Gesamtkonzept der visuellen Kommunikation verortet. Lothar Mikos hingegen fasst visuelle Kompetenz als vorgelagerten Bereich der Medienkom- petenz auf, wobei er für eine verstärkte Berücksichtigung nicht-diskursiver ästhetischer Erfah- rungen und eine Erweiterung der diskursiven Medienkompetenz um präsentative Elemente votiert (vgl. Mikos 2000, S. 10). Er geht in seiner Argumentation von Mannheims Begriff des ‚konjunktiven Erfahrungsraums‘ aus (ebd., S. 2) und betont sozialisationstheoretische Aspekte der Thematik. Ein letzter Hinweis noch: Wenn Peez (2005) im Kontext der Kunstpädagogik fordert, von einem erweiterten Bildbegriff auszugehen (ebd., S. 24) und entsprechend produktive und re- zeptive sowie aktive und kontemplative Aspekte der Bild- und Darstellungskompetenz zu be- rücksichtigen, so zeigen die genannten Beispiele, dass dem in angrenzenden Diskurszusam- Visuelle Kompetenz, Medienkompetenz und „New Literacies“ 63 menhängen durchaus Rechnung getragen wird. Damit rücken in meinen Augen auch die ope- rativen Dimensionen in den Vordergrund. Die Forderung nach einem performative turn er- scheint damit zumindest partiell redundant, zumal im Zusammenhang früherer Diskussionen des pictorial turn und des iconic turn nicht nur enge Abbildverständnisse behandelt worden sind. Ich will es an dieser Stelle bei den exemplarischen Hinweisen belassen. Sie zeigen bereits eini- ge terminologische und translatorische Probleme und Schwierigkeiten der Relation der ver- schiedenen Konzeptualisierungen auf. Sie verdeutlichen weiters, dass auch konnotative Aspek- te eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, engere und weitere Auffassungen mitein- ander in Beziehung zu setzen. So wird die Rolle von Bildern und Bildbegriffen in Bildungs-, Sozialisations- und Erkenntnisprozessen nicht nur im Hinblick auf Mediensystemzusammen- hänge kontrovers eingeschätzt. Die Ausdifferenzierung der Kompetenz-Diskurse und Auswei- tung der Kompetenz-Metaphoriken ist mit der Frage nach den Kompetenzen der Bilder (Ratsch u.a. 2009) an einem Punkt angelangt, der ein Überdenken der Rolle von Bildlichkeit im Er- kenntnisaufbau nahe legt. 3. New Literacies – unlimited? In den aktuellen Debatten spielen nicht nur englischsprachige Ausdrücke wie ‚information li- teracy‘, ‚visual competency‘ oder auch ‚digital fluency‘ verstärkt eine Rolle. Neuerdings sind Rufe nach neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten, so genannten „new literacies“ dazugekommen. Was ist damit gemeint? Wie verhalten sich „traditionelle“ Bereiche der Lese-, Schreib-, Infor- mations-, Bild- und Medienkompetenz zu neuen „Skills“ wie Multitasking, transmediale Navi- gation oder Networking? Renee Hobbs (2008) unterscheidet in ihrer jüngsten Synopsis von Debatten über „new litera- cies“ vier Ansätze: „media literacy, information or ICT literacy, critical literacy, and media management“ (ebd., S. 433). Einerseits weisen diese Ansätze im Hinblick auf folgende As- pekte durchaus Gemeinsamkeiten auf: „1. The constructed nature both of authorship and of audiences within an eco- nomic, political and sociocultural context. 2. The circulation of messages and meanings, and the relative contribution of au- dience interpretation and specific features of message design, format and content. 3. An exploration of questions about how texts represent social realities, reflect ideologies, and influence perception, attitudes and behaviors about the social world and one's place in it.“ (Hobbs 2008, S. 437) Andererseits sind mit ihnen verschiedene Rahmungen und Problemfokussierungen samt ent- sprechend unterschiedlichen Lösungsvorschlägen verknüpft. 64 Theo Hug Exemplarisch sei hier auf das White Paper von Henry Jenkins et al. (2006) verwiesen, in dem ausgehend von aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen der Medienkonvergenz, Parti- zipation und auch der kollektiven Intelligenz ein (medien-)ökologischer Ansatz favorisiert wird: „Rather than dealing with each technology in isolation, we would do better to take an ecological approach, thinking about the interrelationship among all of these different communication technologies, the cultural communities that grow up around them, and the activities they support. Media systems consist of com- munication technologies and the social, cultural, legal, political, and economic institutions, practices, and protocols that shape and surround them.“ (Jenkins et al. 2006, p. 8) Eine besondere Bedeutung erfahren in ihrem Ansatz spielerische Formen der Problemlösung und des Lernens.11 Was die neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten betrifft, so listen die AutorIn- nen diese auf wie folgt: „Play — the capacity to experiment with one’s surroundings as a form of prob- lem-solving Performance — the ability to adopt alternative identities for the purpose of im- provisation and discovery Simulation — the ability to interpret and construct dynamic models of real- world processes Appropriation — the ability to meaningfully sample and remix media content Multitasking — the ability to scan one’s environment and shift focus as needed to salient details Distributed Cognition — the ability to interact meaningfully with tools that ex- pand mental capacities Collective Intelligence — the ability to pool knowledge and compare notes with others toward a common goal Judgment — the ability to evaluate the reliability and credibility of different in- formation sources Transmedia Navigation — the ability to follow the flow of stories and infor- mation across multiple modalities Networking — the ability to search for, synthesize, and disseminate information Negotiation — the ability to travel across diverse communities, discerning and respecting multiple perspectives, and grasping and following alternative norms.“ (Jenkins et al. 2006, p. 4; Hervorhebungen im Org.) Die AutorInnen heben dabei die besondere Rolle von „social skills“ und „collaboration and networking“ (ebd.) hervor. Sie zielen in ihren Überlegungen auf „average consumers“, und sie betonen die Anschlüsse an traditionelle Formen der Literalität: 11 Vgl. dazu die Anwendungsbeispiele der „Education Arcade“, verfügbar unter: http://www.educationarcade.org/. Visuelle Kompetenz, Medienkompetenz und „New Literacies“ 65 „These skills build on the foundation of traditional literacy, research skills, tech- nical skills, and critical analysis skills taught in the classroom.“ (Jenkins et al. 2006, p. 4) Mit diesem White Paper liegen zweifellos wichtige und diskussionswürdige Anhaltspunkte vor, die im Zusammenhang zeitgenössischer Medienkompetenz- und Media Literacy-Debatten Beachtung finden. Dies ist hier allerdings mehr im Sinne kritischer Erwägungen und nicht im einfachen affirmativen Sinne gemeint, denn die Konzentration auf populärkulturelle Entwick- lungen (Bsp. remix cultures, modding, fan fiction, videogames) verweist auf ein Problemver- ständnis, das primär auf US-amerikanische Verhältnisse ausgerichtet ist und in dem interkultu- relle, bildungspolitische und ökonomische Aspekte denkbar kurz kommen. Inwieweit handelt es sich bei solchen „new literacies“ um zukunftsweisende Konzepte und unumgängliche Innovationen angesichts medienkultureller Entwicklungen? Inwieweit stellen die „new literacies“ das Problem dar, das zu lösen sie vorgeben? Diese Fragen sind in meinen Augen nicht pauschal und auch nicht leicht zu beantworten. Einmal gilt es in diesem Zusam- menhang Paradoxien und Ambivalenzen wie die folgenden zu beachten: - Europäisierung und Internationalisierung des Bildungswesens – Reformresistenzen, man- gelnde Innovationsbereitschaft - ökonomische Leistungsfähigkeit und marktorientierte Qualifizierung – Chancengerechtig- keit und Persönlichkeitsbildung - theoretische und wissenschaftssystematische Ansprüche – ökonomische und praktische Verwertungsorientierungen - Modalitäten wissenschaftsinterner Anerkennung, Leistungsmessung und Profilbildung – anwendungsbezogene Nutzenerwartungen und förderpolitische Abhängigkeiten. Sie markieren Kontexte, die für eine Beurteilung von Sinn und Unsinn im Spannungsfeld von zukunftsweisender Innovation und Worthülsenmarketing bedeutsam sind. Zum Zweiten halte ich es für wichtig, zwischen Kontinuitäten, neuen Phänomenbereichen so- wie Übergängen und Umbrüchen zu differenzieren. Eine Neubewertung spielerischer Lernfor- men ist angesichts historisch-anthropologischer Überlegungen und zweckfrei gedachten Spiel- formen genauso angezeigt wie angesichts neuer medialisierter Formen. Dabei sollte nicht über- sehen werden, dass die Relation von Bildung und Unterhaltung nicht erst im Jahrhundert der Massenmedien oder im „digitalen Zeitalter“, sondern im Laufe der gesamten Bildungsge- schichte immer wieder thematisiert worden ist. Fragen nach wünschenswerten und problemati- schen Formen des lebendigen Lernens oder nach den wünschenswerten und problematischen Seiten unterhaltsamer Didaktiken – mit oder ohne Verwendung technischer Hilfsmittel – sind nicht so neu, wie es in manchen Edutainment-Darstellungen und auch -Kritiken den Anschein hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Fokus auf Partizipationskulturen, wie ihn Jenkins et al. (2006) in ihrem White Paper argumentieren. Einerseits weisen sie im Anschluss an Manuel Castells und Sonia Livingstone zurecht auf neue Probleme der Exklusion von Teilgruppen hin (ebd., 66 Theo Hug S. 14) und setzen in Abgrenzung von techniklastigen Argumentationen auf medienkulturelle Zusammenhänge. Andererseits kommen hier historische und systematische Überlegungen eindeutig zu kurz. Die Konjunktur von Fragen nach Partizipationschancen sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass sie zumindest in den medienpädagogischen Medienkompetenz-Debatten im deutschen Sprachraum durchgängig bedeutsam war und ist. Schon Baacke hat in seinen theoretischen Begründungen Anfang der 70er Jahre auf die Bedeutung dieses Aspekts verwie- sen (vgl. Baacke 1973b, S. 219). – Partizipationskultur ist aber auch unter systematischen Gesichtspunkten insofern kritisch abzuwägen, als Fragen der Kommerzialisierung der Kom- munikation zu bedenken sind. Auch wenn es zutrifft, dass in Ländern wie Österreich oder Deutschland kaum Bildungswerte populärkultureller Angebote in Betracht gezogen werden und hier das sprichwörtliche Kind oft mit dem Bade ausgeschüttet wird, so erscheint die Eu- phorie im Hinblick auf die Teilhabe an US-amerikanischer Populärkultur einseitig und kritik- würdig. Wenn also, um ein prototypisches Beispiel für die „Challenges of Participatory Cul- ture“ (Jenkins et al.; 2006) herauszugreifen, 12jährige Mädchen online ihre Popstars kreieren,12 um die Wette auftreten, sich gegenseitig bewerten und dann und wann mit ihren tollen Kreati- onen einen billigen Rucksack gewinnen können, dann sehe ich darin eher ein Beispiel für eine verkürzte Argumentation und keine umsichtig abwägende Überlegung zum Stellenwert kom- merzieller Dimensionen in so genannten „neuen Medienkulturen“, die auch erkenntnis- und gouvernementalitätskritischen Erwägungen standhalten könnte (vgl. Heel 2005). 4. Ausblick – Beyond Literacies? Abschließend will ich einige weitere konzeptionelle Schwierigkeiten hervorheben. Ähnlich wie im Zusammenhang der Medienkompetenz-Diskurse die sprachtheoretischen Wurzeln des Kompetenz-Konzepts lange einen blinden Fleck darstellten und vielerorts auch heute noch darstellen, verhält es sich mit den Wurzeln der Literalitätskonzepte. Vor allem bei den „new literacies“ wird deutlich, dass die figurativen Übertragungen von Literalität auf verschiedenste Kontexte diskussionswürdig ist, weil es dabei weniger um Schriftlichkeit als um Aspekte der Bildsamkeit, der Orientierung und der situationsangemessenen Handlungsfähigkeit geht. Zweifellos hat sich mit den medienkulturellen Entwicklungen vor allem der letzten 20 Jahre auch das Spektrum von Fragen und Themen im Bereich der schriftkulturellen Fähigkeiten er- weitert. Insofern geht es auch darum, Literalität als Bildungsaufgabe auszudifferenzieren (vgl. Bertschi-Kaufmann & Rosebrock 2009). Aber die Basisannahme, dass das gesellschaftliche Leben „insgesamt durch Formen schriftlicher Kommunikation bestimmt ist“ (Günther & Ludwig 1994, S. VIII), muss heute im Lichte von Prozessen der Medialisierung und Mediati- sierung (vgl. Lundby 2009) relativiert werden. Ich denke, dass einer solchen Relativierung 12 Vgl. http://mypopstudio.com/ Visuelle Kompetenz, Medienkompetenz und „New Literacies“ 67 heute viele AutorInnen zustimmen. Die Geister scheiden sich an der Frage, wie diese erfolgen kann und soll und welche Konzeptualisierungen für welche Zwecke brauchbar erscheinen. Es ist seit einiger Zeit Mode geworden, neue Verständnisse von Literalität und Literacy zu ge- nerieren und auf verschiedenste Bereiche zu übertragen und in metaphorischer Weise anzu- wenden (vgl. dazu Gee 1999; Leu 1999; Sting 2003). Das Spektrum reicht dabei von numeri- cal, visual und musical über familiy und environmental bis zu emotional und sexual literacies. Ein Ende der Neukreationen ist nicht in Sicht. Viele der Beschreibungen von „new literacies“ sind pragmatisch motiviert, manche sehr einfach gehalten (vgl. Sheridan 2000), andere durch- aus differenziert (Richardson et al. 2009) und klar fokussiert (vgl. Institute of Museum and Library Services 2009). Insgesamt zeichnet sich damit ein Klärungsbedarf ab. Street & Lefstein (2007, S. 46–47) schla- gen vor, die konzeptuelle Konfusion mittels zweier Strategien zu überwinden: Einerseits regen sie zu eigenen Forschungen an, bei denen die Objektbereiche klar umrissen und Begrifflich- keiten mittels ethnographischer Methoden im Sinne einer „closeness to the ground“ (ebd., S. 46) geklärt werden. Andererseits votieren sie für eine Reflexion der Bedeutsamkeiten von „(new) literacies“ für die Beteiligten im Spannungsfeld von lebensweltlichen Aspekten und „new work orders“ (ebd.). Hinsichtlich der geforderten begrifflichen Differenzierungen sind durchaus Arbeiten verfügbar, in denen auch epistemologische Dimensionen über einzelwissen- schaftliche Aspekte hinaus Beachtung finden (vgl. exemplarisch Olson & Torrance 1991, 2009). Auch hinsichtlich der politischen Dimensionen bestehen zahlreiche Anknüpfungs- punkte, von ideologiekritischen Überlegungen (vgl. Gee 1996) über kritische bildpädagogische Zugänge im Kontext politischer Bildung (vgl. Holzwarth 2008) bis zu Ansätzen des „Visual Activism“ (Sheridan et al. 2009), des Medienaktivismus (vgl. Meikle 2002) und Tactical Biopolitics (Da Costa & Philip 2008). Der Bedarf an Klärungen ist damit freilich nicht erschöpft. Auch wenn in den einzelwissen- schaftlichen Arbeiten epistemologische Dimensionen oft denkbar kurz kommen und nicht zuletzt in der Medienpädagogik der Ruf nach anwendungsorientierten Konzepten gleichsam allgegenwärtig ist, so führt meines Erachtens hier kein Weg an grundlagentheoretischen Refle- xionen vorbei. Diese reichen zumindest in einem zweifachen Sinne über Fragen der Literalität – beyond literacies sozusagen – hinaus. Verbreitete Modalitäten der „universalpragmatischen“ Verknüpfung von Literalität mit verschiedensten Phänomenbereichen wie oben skizziert täu- schen allzu leicht darüber hinweg, dass mit Buchstaben, Worten, Bildern,13 Ziffern, Formeln, usw. unterschiedliche Formen der Sinngebung, der Bedeutungszuschreibung und des Wissens- aufbaus verknüpft sind. Möglicherweise sollten wir besser die Charakteristika literacy, numer- acy und picturacy sowie deren Relationen klären, anstatt Ausweitungen im Sinne von mathe- matical, quantitative und visual literacy zu modellieren oder metaphorische Verwendungs- 13 Vgl. die Unterscheidung von pictures, images und icons sowie die Problematisierung der „Lesbarkeit der Welt als Hausmeister des schriftlichen Universums gegen die eindringenden Bilder“ (Faßler 2009, S. 29). 68 Theo Hug weisen in alltagstheoretischer Manier anzuwenden. Gunther Kress hat in diesem Zusammen- hang eine Benennungspraxis wie folgt vorgeschlagen: „1. words that name resources for representing and their potential – speech, writing, image, gesture; 2. words that name the use of the resources in the production of the message – literacy, oracy, signing, numeracy, (aspects of) ‘computer literacy’ and of ‘media literacy’, ‘internet-literacy’; and 3. words that name the involvement of the resources for the dissemination of meanings as message – internet publishing, as one instance.“ (Kress 2003, S. 23) Dieser Vorschlag wurde bislang noch nicht auf breiter Basis aufgegriffen, obschon er brauch- bare Anhaltspunkte für einen differenzierteren Umgang mit der Thematik eröffnet. Er ließe sich außerdem weiter ausdifferenzieren – etwa anhand der medienphilosophischen Überlegun- gen von Schmidt (2008) – und er ist anschlussfähig an designtheoretische (vgl. Krippendorff 2006) und bildlogische Fragestellungen (vgl. Nyíri 2004; Heßler & Mersch 2009). Die Tragweite der Ausarbeitung entsprechender Differenzierungen ist nicht zu unterschätzen. Dabei dürfte die eine oder andere ungewohnte Formulierung14 das geringste Problem sein, so- lange die Beschreibungen nachvollziehbar sind. Schwieriger scheint mir die Überwindung von selbstverständlichen Annahmen, wie etwa die Unterscheidung von fünf Sinnen, die bei näherer Betrachtung alles andere als selbstverständlich ist (vgl. Surana 2009). Diese und ähnliche er- kenntnisrelevante Basisunterscheidungen können vermutlich am ehesten im Kontext polylogi- scher Forschungsansätze (vgl. Wimmer 2001) relativiert werden. Freilich können sich die Medien- und die Kunstpädagogik nicht in der Auseinandersetzung mit den Resultaten medienphilosophischer oder kultursemiotischer Unternehmungen erschöpfen. Hier gilt es allemal eine Balance zwischen theoretischen und praktischen Motiven und Ansprü- chen zu finden. Insgesamt scheinen sich gegenwärtig gewisse Tendenzen der Befassung mit leichter überprüfbaren Kompetenzen statt mit schwerer überprüfbaren ästhetischen Erfahrun- gen und Bildungsprozessen abzuzeichnen. Das heißt nicht, dass damit alle entsprechenden Bemühungen schon denen jenes sprichwörtlichen Betrunkenen gleichen, der den verlorenen Schlüssel unter der Straßenlaterne sucht, weil es dort heller ist. Das bedeutet aber, dass wir die Voraussetzungen und konzeptionellen Vorannahmen möglichst explizit machen und kontextu- alisieren sollten, wenn wir uns über die Bedeutung von Medialität und Konstruktivität sowie über „gains and losses“ (vgl. Kress 2005) in neuen Medienkonstellationen verständigen wollen. Solche Verständigungsbemühungen sind unter der Annahme einer Kontingenz der Wissens- formen und unter den Bedingungen transversaler Verknüpfungen im Mediensystem nicht ge- rade einfach (ganz abgesehen von verbreiteten Interessen der strategischen Durchsetzung und 14 Vgl. z.B. „visuelle Selbstbefähigung“ sowie „Bildlichkeits-kompetenz“ und „Bildlichkeits-in-kompetenz“ bei Faßler (2002, S. 21 und S. 95). Visuelle Kompetenz, Medienkompetenz und „New Literacies“ 69 taktischen Überwindung). Am Beispiel des institutionalisierten Bildungswesens lässt sich zei- gen, wie sehr literalitätsbasierte Formen der kommunikativen Stabilisierung von Lernkulturen die Sondierung von gestalterischen, konzeptionellen und kritisch-reflexiven Spielräumen ein- schränken können. Während einerseits media literacy als Alternative zur Medienregulierung diskutiert wird (vgl. Hobbs 2008, S. 443–444), wird andererseits Schule weitgehend im Sinne einer „monomedialen Provinz“ (Böhme 2006) reguliert. Anregungen zur Medienbildung in neuen Kulturräumen (vgl. Bachmair 2010) führen da und dort zu Schulversuchen und Pilot- projekten, über weite Strecken wird Schule jedoch im Sinne einer „literalen Gegenkultur“ oder als „medienresistente Polis“ konzipiert (vgl. Böhme 2006). Franz Pöggeler schrieb zwar bereits vor annähernd 20 Jahren: „Daß die Erziehungs- und Bildungswissenschaft heute neben Printmedien Bilder sorgfältiger als in der Vergangenheit beachtet, ist sicherlich eine Folge der neuen Gewichtung der verbal-literarischen Komponente der Bildung in Relation zur vi- suellen: Im Kommunikations- und Informationssystem unserer Gesellschaft spielt die Visualisierung eine immer größere Rolle. Printmedien verlieren einen Teil ihrer Geltung und Wirkung, selbst innerhalb des Schulwesens, dessen Ge- schichte ja weitgehend mit der Geschichte der Schriftverbreitung identisch war.“ (Pöggeler 1992, S. 11) Von der hier anvisierten pädagogischen Ikonologie bis zur Realisierung neuer Bildungspoten- ziale transmedialer Netzwerkkulturen (vgl. Böhme 2006) scheint es allerdings noch ein weiter Weg zu sein. Zwei Aspekte halte ich in diesem Zusammenhang für weitere Überlegungen für wichtig: • Die Medienkompetenz-Debatten sind an einen Punkt gekommen, an dem die Opposition technikfeindliche Geistes- und Kulturwissenschaften versus techno-euphorische Ingenieur- und Naturwissenschaften historisch überholt ist. • Es darf bezweifelt werden, „ob es [...] Sinn macht, dass sich die Binnendifferenzierung eines Wissenssystems weiterhin an den Einzelmedien und ihren Dispositiven orientiert“ (Leschke 2010, S. 303). Die Schlüsselfunktion von medialen Formen in einem transversal integrierten Mediensystem ist nicht nur für die Medientheorie bedeutsam. Insofern sie „genauso gut das Material der Me- dienkommunikation wie das Ideelle der Medientechnologie“ bilden, sind mit ihnen Einsprüche „gegen die kulturwissenschaftliche Technologievergessenheit wie gegen einen monovalenten Technikdeterminismus“ (Leschke 2010, S. 300) verknüpft. Mehr noch: Die Theorie medialer Formdynamiken bietet auch zukunftsweisende Perspektiven der Begründung von Ansprüchen der Konzeptualisierung, Gestaltung und Kritik von visueller Kompetenz sowie von Medien- kompetenz und Medienbildung. Diese werden dabei nicht auf der Basis von (un-)kritischen Feststellungen ein für allemal festgesetzt, sondern als Momente der (Ko-)Evolution mediali- sierter Konstellationen immer wieder neu entfaltet. 70 Theo Hug Literatur Anschober, Barbara E. (2005): Visuelle Kompetenz. Innsbruck: unveröff. Diplomarbeit. 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It is the focus of numerous articles published throughout his career and of two significant albeit relatively obscure monographs that book-end his work on electronic media. As Janine Marchessault (2004) says, McLuhan articulates “a speci- fically argued pedagogical enterprise” that is central to his “aesthetically-based, highly performa- tive and historically grounded … contribution to the study of media” (xi, 10, 34). In this paper, I focus on this pedagogical enterprise specifically as it develops from McLuhan’s unusual under- standing of the senses – including his critique of the dominance of the visual in our culture. By reconstructing McLuhan’s understanding of senses and their relationship to education, I show how McLuhan’s contribution to media is aesthetically, historically and performatively charged, and I make the case for the ongoing currency of his pedagogical enterprise today. Media and the Senses The first of McLuhan’s two book-length texts on education and the media is his 1960 “Report on Project in Understanding New Media,” commissioned by the National Association of Edu- cational Broadcasters. This text provides material for Understanding Media: the Extensions of Man as well as for McLuhan’s second and final book on media education. It is also in this text that McLuhan presents some of the frankest formulations of his pedagogical program and also of his media theory. Early in this report, McLuhan makes the important distinction between the sensory impressions of media on the one hand, and their sensory effects, on the other: Early in 1960 it dawned on me that the sensory impression, proffered by a me- dium like movie or radio, was not the sensory effect obtained. Radio, for example, has an intense visual effect on listeners. But then there is the telephone which also proffers an auditory impression, but has no visual effect. In the same way television is watched but has a very different effect from movies. (McLuhan 1960b, p. 4; emphasis in original) The effects of media, according to McLuhan, are registered primarily on the human senses. But this effect is not simply an impression on the sense(s) to which they directly appeal. Instead, a given medium’s effects register on different sense altogether, and it is this displaced sensory impact that is important. Thus, for McLuhan, a medium like television is primarily tactile in its effect, rather than being associated with the senses of sight and sound (1960). And a printed 76 Norm Friesen image can have its principle effect not on vision, but simultaneously on the registers of hearing and touch. It is worth noting that McLuhan exploits this multisensory effect of media particu- larly in texts developed in collaboration with Quentin Fiore (The Medium is the Massage and War and Peace in the Global Village). With their full-page photographic illustrations, and the use of juxtaposed and unconventional typographical arrangements, these books can be seen to represent pictorial and typographical “performances” deliberately intended to play upon read- ers’ visual senses – ultimately to produce effects extending far beyond them. In particular, McLuhan saw his use of images and photographs as having the potential to produce powerful tactile effects. This is expressed in the title of one of these texts, The Medium is the Massage, which presents the playful substitution of the emphatically tactile process of massage or bodily manipulation with the much more abstract notion of “message” (as in the more familiar claim that “the medium is the message”). McLuhan understood the senses as constituting a kind of synaesthetic system, a “five sense sensorium” (1961), in which individual senses are in intricate interplay. McLuhan often speaks of the impressions of one sense being “translated” readily into another, of “sight translated into sound and sound [translated] into movement, and taste and smell” (1964, p. 60). So the effects of media on the senses are manifest through the response of an interdependent group or an interconnected system of the senses: …any medium which singles out one sense, writing or radio for example, by that very fact causes an exceptional disturbance among the other senses… We may be forced, in the interests of human equilibrium, to suppress various media as radio or movies for long period of time, or until the social organism is in a state to sustain such violent lopsided stimulus. (1960b, p. 9) Any question of the use of or dependency on one sense by a medium is always also a question of its reciprocity with all of the others in the sensorium. In his 1964 text Understanding Media: The Extensions of Man, McLuhan later subjected the terms “media” and “senses” to a kind of synecdochic substitution. Both are expanded to be- come much broader in significance: The senses become the nervous system, the body, or “man” as a whole, and media become all devices and technologies – from the wheel to the computer. The latter are seen, moreover, as the externalization or extension of the former, with the wheel being an extension of the foot, the book being an extension of the eye, and clothing, extensions of the skin (1967). This allows McLuhan to claim, for example, that “Our new electric technology now extends the instant processing of knowledge by interrelation that has long occurred within our central nervous system” (1964, p. 249). It also allows him to explain that the personal and social consequences of any medium—that is, of any extension of ourselves—result from the new scale that is introduced into our affairs by each extension of ourselves, or by any new technology. (1964, p. 7). Vision and the “training of perception” 77 In their effects on the senses, in other words, media have the effect of amplifying some and attenuating others. In being thus extended and amplified, the senses produce still other effects that reach to all manner of human affairs. Up to this point, McLuhan’s assertions about media and the senses are not incompatible with the terms of an analytic, mechanistic and otherwise positivist vocabulary. Indeed, as his re- ferences, above, to “nervous system”, “organism”, “processing” and “stimulus” illustrate, McLuhan himself does not hesitate to borrow from such vocabularies. However, it is important to note that these borrowings are metaphorical or allusive rather than substantive or constitu- tive of McLuhan’s conceptions. They are not expressive of a serious commitment to the princi- ples, for example, of the British empiricists, Skinnerian behaviourists or Chomskyite cognitiv- ists. McLuhan’s work instead exhibits a clear antipathy to these dominant Anglo-American constructs. It is necessary to make this clear in order to understand the next major point in McLuhan’s conception of the relationship of media and the senses: Namely, the counterintuitive claim that the (im)balance or (dis)equilibrium of the senses are constitutive of rationality, intelligence or even of consciousness itself – an idea that finds no place in empiricism, behaviorism or cogni- tivism. In making this point, McLuhan goes well outside of the mainstream of a philosophical tradition in which the senses are regularly subsumed well below the synthetic, interpretive powers of the mind. McLuhan instead relies explicitly on the Thomistic and Aristotelian no- tions of ratio and sensus communis. Both are explicated below. Aquinas endows the word “ratio” with an ambiguity that is important for McLuhan. One sig- nificant passage in this regard begins with the assertion that “…beautiful things are those which please when seen. Hence beauty consists in due proportion…” (Aquinas 1952, p. 26). In The Gutenberg Galaxy, McLuhan continues quoting this same passage as follows: “The senses delight in things duly proportioned as in something akin to them, for the sense, too, is a kind of reason as is every cognitive power” (1962, p. 107). Beauty for Aquinas is a matter of due pro- portion. This proportionality holds because the senses delight in things which reflect their own proportionality. And this delight, in turn, reflects what is rational, since the senses are as much a kind of reason as any cognitive faculty. Proportion and balance as aesthetic qualities are first transferred by Aquinas’s analogy to the senses, and the balance or equilibrium of the senses, in turn, is seen as constitutive of rationality, intelligence and consciousness. Starting with Aristotle, sensus communis develops from a distinction between perceptions unique to specific senses (colour to sight, sound to hearing, flavor to taste), and perceptions involving a plurality of senses. These include “movement, rest, number, figure, magnitude[, which] are not peculiar to any one sense, but are common to all” (1941, p. 567). 78 Norm Friesen Fig. 1: Comenius’ explanation of sensus communis from Orbis Sensualium Pictus (1659): “The common sense under the forepart of the head / comprehendeth things taken from the outward Senses.” According to Aristotle, sensus communis also refers to the fact that our perception or aware- ness of a given sense does not occur through that sense alone, but arises through a combination of perceptions from another sense. “Since we cannot perceive that we see and hear, it must be either by sight itself or by some other sense.” That other sense, Aristotle implies, is common sense, a combination or meeting up of the senses. The result, moreover, is the unified, integral image entailed in the perception of elements such as movement, rest, number or magnitude. As is explained and illustrated in Comenius’ Orbis Sensualium Pictus (Figure 1), sensus commu- nis represents an “inward sense,” which combines and thus comprehends those things out- wardly perceived. As McLuhan explains, from “Aristotle onward, the traditional function of the sensus communis is to translate each sense into the other senses, so that a unified, integral image is offered at all times to the mind.” Thus, in the posthumously published Global Village (1989), McLuhan explains that Consciousness … may be thought of as a projection to the outside of an inner synesthesia, correspondingly generally with that ancient definition of common sense. Common sense is that peculiar human power of translating one kind of Vision and the “training of perception” 79 experience of one sense into all other senses and presenting that result as a unified image of the mind. Erasmus and Moore said that a unified ratio among the senses was a mark of rationality. (McLuhan & Power, p. 94, emphasis in original) To shed further light on this unconventional intuition – and to illustrate its pivotal role in McLuhan’s thought – it is worth citing a few examples, arranged chronologically. The shift from sanguine pronouncements through to a much more guarded optimism to more alarmist sentiments is rather pronounced in McLuhan’s thinking. For example, in a 1956 article titled New Media in Arts Education (1956), McLuhan speaks of the possibility of an orchestration of media and the senses. The stage of development of the media of communication today is such that it invites a reassembly of our senses of perception. The mechanical media have helped us to rediscover [means for the] orchestration of our sense experience. And this discovery has in turn carried us back to the kind of integral awareness possessed by primeval man. (p. 17) Here it is the mechanical media of print and graphical reproduction that are bringing the senses into what an “orchestration” that McLuhan describes as both primeval and integral. And this provides an opportunity for their deliberate use in an educational “reassembly” of the senses. These ideas achieve more complete articulation in McLuhan’s Report on Understanding Media (1960), in which he describes the sensory effects of media somewhat less positively: “It is the ratio among our senses,” he explains, “which is violently disturbed by media technology. And any upset in our sense-ratios alters the matrix of thought and concept and value” (p. 9). The aesthetic principles of proportion, balance and ratio are transferred by McLuhan through means of Aristotelian analogy to the senses. From there, they are linked to “thought and con- cept and value.” But by the time this set of ideas is re-articulated in the Gutenberg Galaxy and in Understanding Media later in the 60s, this set of assertions acquires a more ominous inflec- tion. The violent disruption of human sense ratio is no longer a matter of academic indiffer- ence, but becomes a matter of grave normative concern: Our technologies, like our private senses, now demand an interplay and ratio that makes rational co-existence possible … A ratio of interplay among these extensions of our human functions is now as necessary collectively as it has always been for our private and personal rationality in terms of our private senses or ‘wits’ as they were once called. (1962, p. 5) In Understanding Media, the imbalance of the senses that would rob us of our “wits” is de- scribed in terms of hallucination, with McLuhan warning of the “endless power of men to hypnotize themselves into unawareness in the presence of challenge” (1964, p. 70). What be- gins in the aesthetic is taken, by means of epistemology and rationality, to the realm of the ethical or normative. 80 Norm Friesen Training the Senses In the first part of this paper, I recapitulated four basic points from McLuhan related to the senses: 1. A medium has its effects on a sense other than those with which it communicates. 2. This effect is registered on all senses as an interdependent sensorium, in terms of their equilibrium or ratio. 3. This ratio is constitutive of rationality or even consciousness. 4. An imbalance of the senses induced by media can deprive one of rationality or con- sciousness. In this second part of this paper, I focus on the results for education and training of the norma- tive emphasis implied in the fourth and final point above. McLuhan’s warnings about the dangers of losing our wits, our rationality or even our con- sciousness ensure a particularly important place for both pedagogy and praxis in his thought. If the intensification of some media can affect the senses in such a way as to alter “the matrix of thought and concept and value,” then it is precisely a vigorous “training” of the senses and of perception that is urgently needed to re-establish sensual interplay and unity. The “educational task,” as McLuhan explains, “is to provide … the basic tools of perception” (McLuhan 1960a, p. 6). This task, he asserts elsewhere, is to occur through the provision of “sensory situations for the training of perception” (McLuhan & Parker 1968), resulting in a kind of education that is “more concerned with training the senses and perceptions than with stuffing brains” (McLuhan & Leonard 1967, p. 24; italics added). McLuhan does not care to distinguish between these different, sensuous, instructional pro- cesses. Whether he refers to the training of the senses or perceptions, the educational provision of tools of perception, or education as a specifically “sensuous” affair his meaning does not vary. With a few notable exceptions, McLuhan was not concerned with the lexicon and dis- tinctions entailed in education as a specialization of either theory or practice. Moreover, he sees the senses or “man” overall as being formed through the total environment, and not through narrowly defined pedagogical techniques confined to the classroom. Instead of looking to the classroom, McLuhan emphasized the role of the larger urban environment and the increasingly interconnected world, the global village, or using another synecdoche, “the city.” Drawing on his synecdochic vocabulary of extension and externalization, McLuhan writes to Jacqueline Tyrwhitt about education, the sensus communis and the city as follows: Now that by electricity we have externalized all of our senses, we are in the desperate position of not having any sensus communis. Prior to electricity, the city was the sensus communis for such specialized and externalized senses as technology had developed. The city performs that function for the scattered and distracted senses, and spaces and times, of agrarian cultures. (McLuhan 1988, pp. 277–278) Vision and the “training of perception” 81 Sensus communis itself is externalized to the city or cosmopolitan environment that is respon- sible for organizing and balancing the senses. McLuhan makes it clear that electronics are creating a global village, but indicates that this might imply more a kind of universal parochi- alism than increased cosmopolitanism. For he goes on to suggest to Tyrwhitt that there is still a need for a cosmopolitan centre to properly direct and focus the senses: Today with electronics we have discovered that we live in a global village, and the job is to create a global city, as center for the village margins. Perhaps the city needed to coordinate and concert the distracted sense programs of our global village will have to be built by computers in the way in which a big airport has to coordinate multiple flights. (McLuhan 1988, pp. 277–278) Despite the fact that it applies to all elements of the environment, education, formation and training of the senses are still seen by McLuhan as benefitting from coordinated and concerted efforts. And such efforts, McLuhan further implies, can only be provided through specializa- tion and institutional contextualization (possibly by computers coordinating the social envi- ronment as if from a control tower). Perhaps that is why McLuhan was willing, at some points, to allow that some aspects of this training of perception might actually “belong in the class- room” (McLuhan, McLuhan, & Huchon, p. 165) – or at least in variations on the classroom environment (McLuhan & Leonard 1967). In fact, McLuhan’s most detailed outline for pedagogical praxis is provided in a book deliberately designed for use in the classroom – a co- authored textbook developed specifically for highschool students, titled The City as Class- room: Understanding Language and Media. This text is almost entirely performative or praxis-oriented. In fact, it can be said to practice, through questions, exercises and imperatives, many aspects of McLuhan’s life-long mediatic and pedagogical enterprise. Appropriately, it begins with a direct address to its student readers: Let us begin by wondering just what you are doing sitting there at your desk. Here [in the pages that follow] are some questions for you to explore… The questions and experiments you will find in this book are all concerned with important, relatively unexplored areas of our social environment. The research you choose to do will be important and original. (1977, p. 1) The book presents dozens of “questions and experiments,” getting students to manipulate and explore a wide range of characteristics of their social environments – focusing specifically on the environments presented by the classroom, the community and also by a wide range of con- temporary mediatic forms, from the magazine to video recording technologies. One of the first sets of research questions and experiments in the book focuses on a relatively simple gestaltist diagram (figure 1). McLuhan and his co-authors use this particular, diagram- matic, performative “sensory situation for the training of perception” as a way of getting stu- dents to work with the interrelationship of figure and ground: Some curious aspects of figure/ground relationships can be seen here. First, note that the outline of the one image [the dogs] is also the outline of the other 82 Norm Friesen [the telephone]. This is always true of structural relations: it is just as true of the drawing as figure in relation to the page as ground. Secondly, because of the shared outline, figure and ground create and define each other… the parts are reciprocal. Thirdly, contrary to a common misconception, both figures can be seen simultaneously and held in the visual field. This simultaneous perception is, at first, easier for some people than for others, because it requires a certain amount of 'un-learning'. (1977, p. 10, emphasis in original ) The training of perception that McLuhan and his co-authors are performing involves first of all a recognition of the binary multistability of figure and ground – the apparently zero sum game between one visual configuration with another. But more important is McLuhan’s encourage- ment for students to engage in what he and his co-authors refer to as the task of “un-learning” that is required for the “simultaneous perception [of] figure and ground” (1977, p. 10) They actually suggest a number of strategies for students to achieve this simultaneous perception, including “squinting” at the image, looking at it with one eye closed, and even holding the page up to the light. The text justifies its emphasis on this effect by telling their student readers that the “interplay” between figure and ground, when simultaneously perceived, “requires interval or a gap, like the space between the wheel and the axle.” And it asserts provocatively that “the interplay between figure and ground is 'where the action is'” (1977, p. 9). Fig. 2: Multistable image of dogs and phone based on a diagram provided in McLuhan’s City as Class- room. The book never reveals explicitly to its readers exactly why the suspension of figure and ground is “where the action is,” and why their “interplay” is of such concern. Nor does it clar- ify why perception would need to be retrained in order to provide access to this action or play. The answers to these questions lie not in this “highly performative” text, but in the under- standing of the senses and their relationship that underlie it. Vision and the “training of perception” 83 A gestaltist figure, after all, can be seen as a kind of latter-day, functionalist example of the type of due proportion that Aquinas observed to be characteristic of beauty. It allows the viewer to engage in the performance and maintenance of “a very delicate equilibrium” that is of the utmost importance for McLuhan and his co-authors in this textbook: This perception depends on a very delicate equilibrium: the moment one or another figure begins to exaggerate itself or to dominate the situation, the bal- ance is destroyed, and the other elements begin to recede and to form a ground for it. Now consider: all figures at once means NO figures—just outlines and interfaces, just structure. In your own experience, you are always the figure, as long as you are conscious. (McLuhan, McLuhan & Huchon 1977, p. 10 capitals and emphasis in original) This moment of simultaneous perception, for McLuhan, is a moment not just of a delicate visual equilibrium, but more generally of an all-encompassing sensual equilibrium. Although it is concerned intensively with a visual impression, the effect of this perception is ultimately registered on a completely different sense. Ultimately, this sensual effect – described by McLuhan in terms of “interplay”, “interval” and “interface” – can only be one of touch. “Touch,” as McLuhan explains, “is not skin but the interplay of the senses.” It is “the resonant interval and frontier of change and process” (McLuhan & Powers 1989, p. 13). It is, further- more, the site of “a fruitful meeting of the senses, of sight translated into sound and sound into movement…” (1964, p. 60). And it is through this awakening of the translating, interfacing power of touch that this diagram is intended to have its sensual effect. It is in this way that this “situation for the training of perception” attempts to take the reader and viewer away from the “violent lopsided stimulus” that has developed through the 500-year domination of print. It is also in this way that it can perform attainment of ratio and “sensus communis” that McLuhan tirelessly sought to restore and sustain. Conclusion In concluding, it is useful to point out one more counter-intuitive insight that McLuhan offers here: Namely, that his training of perception does not occur simply by heightening the stu- dent’s self-awareness and self-possession as is the case in various forms of media literacy and critique. Instead, it arises through the suspension of this kind of “normal” or self-aware experi- ence. McLuhan invokes a kind of experience in which there are “NO figures, just outlines and interfaces” (p. 10). He deliberately contrasts this to common “experience [in which you] are al- ways the figure, as long as you are conscious.” It follows that in the experience in which figure is not foregrounded, neither is an accompanying sense of self-possessed consciousness. What McLuhan is seeking, in other words, is to counteract one form of hypnotism and trance with another: The hypnosis produced by the 500 year hegemony of print is met by one that is more “in touch” with our wits and sensibilities overall. In an age of twitchspeed and twitter, multi- tasking and multimedia, such a cultivation of alternative sensual orientations in education can appear both current and compelling. One form of particularly witless somnambulism needs to be counteracted by another that is more closely in touch with the world beyond the classroom; 84 Norm Friesen and only then can we expect to fully awaken from the nightmare of our mediatic history, and become more alive to the multiplicity of our realities, both sensual and multimedial. Despite its figurative and metaphorical nature, such an unorthodox conclusion and pedagogical program of “sensuous education” presents some points of practical relevance to education and educators today. First, McLuhan’s unusual understanding of the senses should prompt reflec- tion on the rather different (but in some ways equally arbitrary) understandings of the senses that are accepted so readily in education today. In most cases, the senses are not seen in educa- tional theory as forces that act upon the mind and upon one another in a manner that might lead to positive coherence or dangerous imbalances. Instead, they tend to be understood as so many inputs for information: visual, auditory and other forms of sensory data). These different types of data or information, it follows, are to be used in different combinations for different educa- tional purposes. In many cases, these different sensory inputs are seen by educators as corre- sponding to different individual “styles” of learning, associated with Gardner’s (1983) multiple intelligences, and outlined explicitly in Fleming’s VARK model (Visual, Auditory, Read- ing/writing, Kinesthetic [or tactile] styles; Fleming & Mills 1992). The premise underlying this model is that different senses process sensory data in different ways, and that individuals are predisposed to use one type of sensory processing over others. A further premise is that these individual differences should be accommodated through the use of sensory variety and alterna- tive types of media and representations in delivery. It is worth wondering in this context whether other understandings of the senses might be worth adding to these particular dominant educational interpretations. In particular, on would be justified in wondering, as McLuhan does, not about the way that education can use the senses, but about how the senses “use” or otherwise determine education. We should not just ask, in other words, about how to exploit different sensory learning styles or corresponding media types for effective teaching, but in- quire as to the ways that education is itself shaped by the current, mediatically influenced con- figuration or (im)balance of the senses. McLuhan is right to answer this question by saying that education is clearly on the side of the 500 year old print media, aligned as it is with the reading/writing “style” of information pro- cessing and learning. However, for McLuhan, addressing this issue is not just a matter of using other representations in the classroom alongside of print. Instead, he sees education as being, by its very nature, irrevocably committed to print media, and he sees the authentic use of other, non-print media as necessarily occurring outside of the classroom and the school. As McLuhan puts it, schools are “custodian of print culture” (1962, p. 215), providing an officially sanc- tioned “civil defense against media fallout” (1964, p. 305) – protecting their students from al- ternative forms and media. McLuhan asserts that it is the city outside of the classroom – with its multimedial and increasingly aural bias – that is putting the school in an increasingly defensive posture. The school, in other words, is shaped by the tension that exists primarily outside of its control, in terms of its relationship with the world outside of it. For McLuhan, this relationship takes the form of a zero-sum game in which the school’s loss would be the city’s gain (and more improbably, vice-versa). In a 1968 newspaper article, for example, McLuhan is reported to have claimed that children would “burn down all the schools,” arguing that they will “refuse to go to be educated, when they are the products of a multi-billion dollar Vision and the “training of perception” 85 electronic environment” (Toronto Star, May 30). McLuhan was obviously wrong about children burning down schools in the 1960’s; but as media forms and contents become increasingly diverse and ubiquitous, one can only wonder what the future holds for the school and education. Questions concerning the senses, and their training through educational and mediatic forms, correspondingly, will only increase in their urgency and diversity. References Aquinas, T. (1952): Summa Theologica Volume I. Chicago: University of Chicago Press. Aristotle (1941): The Basic Works of Aristotle. R.P. McKeon (Ed.). New York: Random House. Comenius, J.A. (1659): Orbis Sensualium Pictus. London: Kirton. Fleming, N.D. & Mills, C. 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(1968): War and Peace in the Global Village: An Inventory of Some of the Current Spastic Situations That Could Be Eliminated by More Feedforward. New York: Bantam. McLuhan, M. & Leonard, G.B. (1967): The future of education: The class of 1989. Look, February 21, p. 23–24. McLuhan, M.; McLuhan, E. & Hutchon, K. (1977): City as Classroom: Understanding Lan- guage and Media. Agincourt, ON: Book Society of Canada. 86 Norm Friesen McLuhan, M. (1988): Letters of Marshall McLuhan. M. Molinaro, C. McLuhan & W. Toye (Eds). Oxford: Oxford University Press. McLuhan, M. & Powers B. (1989): The Global Village: Transformations in World Life and Media in the 21st Century. Oxford: Oxford UP. Visuelle Wahrnehmung – Grundlagen, Phänomene, Erklärungen Pierre Sachse & Marco Furtner Zusammenfassung Die Psychologie der Wahrnehmung ist eines der Hauptgebiete der Allgemeinen Psychologie, das im programmatischen Selbstbild der Psychologie als von größter Wichtigkeit angesehen wird. Die wissenschaftliche Psychologie wurde wesentlich durch wahrnehmungspsychologische Studien begründet. Bei dem Versuch, die Natur der menschlichen Wahrnehmung zu erfassen, wurden zwei Kernfragen formuliert: Was befähigt uns, auf der Basis der vergleichsweise beschränkten Sinnesinformationen ein so reichhaltiges Wissen über die Welt zu erwerben, das weit darüber hinausgeht, was in den Sinnen gegeben ist? Wie können aus physikalischen Energiemustern, wie sie auf die Sinnesrezeptoren treffen, bedeutungshafte Einheiten entstehen? Diese beiden Fragen, die eng mit erkenntnistheoretischen Problemen verknüpft sind, durchziehen die Wahrnehmungs- psychologie von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Eine Annäherung an diese Fragen wird in diesem Beitrag über das Sehen, also der visuellen Wahrnehmung, versucht. 1. Einleitung Unseren alltagspsychologischen Eindrücken folgend, ist das Wahrnehmen ein scheinbar un- komplizierter psychischer Vorgang. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten sind in der Regel für den gesunden Menschen „problemlose Selbstverständlichkeiten“. Dieser subjektive Eindruck täuscht über die tatsächlichen komplexen Leistungen des Wahrnehmungsapparates „hinter den Kulissen“ hinweg; Wahrnehmung „geschieht“ nicht einfach. Mit einem Wahrnehmungsphänomen möchten wir vorab die Neugier des geneigten Lesers wecken. Ein Beispiel – das Dilemma der Neuauszählung der Stimmzettel der Präsidentenwahl im Jahr 2000 im US-Bundesstaat Florida könnte nicht treffender wiedergegeben werden als durch die folgende Abbildung 1: 88 Pierre Sachse & Marco Furtner Abbildung 1: „Florida Election Recount“ Count and total black dots for Al Gore and white dots for George Bush. Recount to confirm. Wenn Sie einige Zeit die Bildmitte fixieren, werden in den weißen Schnittpunkten des Gitters schwarze Punkte sichtbar, die aber umgehend wieder verschwinden, resp. ihre Position verän- dern. Ein Auszählen der Punkte wird schlichtweg unmöglich (vgl. Schrauf, Lingelbach & Wist 1997; Müsseler 2008). Solche Sinnestäuschungen verdeutlichen eindrucksvoll, dass die menschliche Wahrnehmungs- welt keinesfalls eine 1:1-Abbildung der Realität ist. Zugleich wird verständlich, dass sich das Wahrnehmen nicht auf ein passives Aufnehmen von Informationen nach festgelegten Regeln reduzieren lässt, sondern auch kurzfristige Systemzustände unsere Wahrnehmungsinhalte un- mittelbar bestimmen. 2. Begriff der Wahrnehmung Die Wahrnehmung ist ein erkenntnisschaffender Prozess und die entscheidende Grundlage für unser Erleben und Handeln. • Der Begriff Wahrnehmung in umgangssprachlicher und wissenschaftssprachlicher Ver- wendung bezeichnet sowohl den Prozess des Wahrnehmens als auch das Ergebnis dieses Prozesses (= Perzept). • Sensorische Phänomene sind dabei der Ausgangspunkt der Wahrnehmung, die durch die Reizung der Sinnesorgane zustande kommen. Visuelle Wahrnehmung 89 • Die Wahrnehmung ist Bestandteil eines einheitlichen kognitiven Vorgangs; sie ist ver- knüpft mit Denk- und Gedächtnisleistungen, sie ist gerichtet durch unsere Motivation usw. • Die Wahrnehmung ist ein aktiver Vorgang der Informationssuche, -analyse, -interpreta- tion. • Der Mensch nimmt aus der Vielzahl der Umweltreize/Informationen nur eine begrenzte Menge wahr; Wahrnehmen ist damit zugleich ein selektiver Prozess. • Die Wahrnehmung ist gebunden an eine ausreichende Entwicklung des Bewegungsappa- rates (Beleg: Größenkonstanz). • Die Wahrnehmung ist ferner an die historische Entwicklung der Tätigkeit des Menschen gebunden (Bsp.: Tonhöhenwahrnehmung). • Die Wahrnehmung unterliegt des Weiteren a) biologischen Gesetzmäßigkeiten, b) Tätig- keiten, innerhalb derer sich bestimmte Gesetzmäßigkeiten entwickeln, c) der gesellschaft- lich erzeugten zivilisatorischen Welt, d) dem System des gesellschaftlich übernommenen Wissens. • Die Wahrnehmung ist eine Voraussetzung für das zielgerichtete Handeln (wechselseitige Beeinflussung von Wahrnehmung und Handlung). • Die Umwelt wird nicht als eine Menge einzelner Stimuli wahrgenommen, sondern es wer- den beispielsweise Dinge, Personen, Ereignisse und mit diesen zugleich auch deren Be- deutungen erfasst. • Die Wahrnehmung ist nicht allein von den Umweltreizen abhängig, sondern auch von den Einstellungen, Erwartungen, Bedürfnissen, früheren Erfahrungen etc. Das Wahrnehmungs- ergebnis kommt durch das Zusammenwirken von Umweltreizen und im Langzeitgedächt- nis gespeicherten Erfahrungen zustande (vgl. auch Kohler 1972; Metzger 1975; Hochberg 1977; Flade 1980; Gibson 1982; Rubinstein 1984; Rock 1985; Kebeck 1997; Coren, Ward & Enns 2004; Goldstein 2008). Was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, beruht nicht allein auf sensorischen, in den Sinnesor- ganen stattfindenden Vorgängen. Abbildung 2 veranschaulicht zusammenfassend das „Wahrnehmungssystem Mensch“ in seinen wesentlichsten Komponenten. 90 Pierre Sachse & Marco Furtner Abbildung 2: Darstellung der Komponenten des „Wahrnehmungssystems Mensch“ (Becker-Carus 2004, S. 88) Die Wahrnehmungspsychologie versucht dabei aufzudecken, wie die Information unserer dis- talen Umwelt aufgenommen und verarbeitet wird, wie aus ihr die Wahrnehmung entsteht die unser Erleben und Verhalten bestimmt. 3. Zentralproblem der Wahrnehmungspsychologie Zwei Probleme, die eng mit erkenntnistheoretischen Fragen verbunden sind, begleiten die Wahrnehmungspsychologie seit ihren Anfängen (vgl. Mausfeld 2002, 2005, 2006): Visuelle Wahrnehmung 91 1. Was befähigt uns, auf der Basis beschränkter Sinnesinformationen ein so reichhaltiges Wissen über die Welt zu erwerben, was in den Sinnen gegeben ist? [„Poverty of the Stimulus-Argument“ – POSA (Laurence & Margolis 2001)] 2. Wie können aus physikalischen Energiemustern, wie sie auf die Sinnesrezeptoren tref- fen, bedeutungshafte Einheiten entstehen? Wie kann ein biologisches System „Bedeu- tung“ generieren? Alle theoretischen Zugänge (z.B. Elementarismus/Assoziationslehre, Helmholtz’ Zeichentheo- rie, Gestaltpsychologie, probabilistischer Funktionalismus, Gibsons ökologische Perspektive, computationale Ansätze), die sich in der Geschichte des Faches finden, versuchten auf die ge- nannten Kernfragen eine Antwort zu geben. In einer Konvergenz unterschiedlicher Disziplinen (u.a. vergleichende Wahrnehmungs- und Verhaltensforschung, Wahrnehmungspsychologie, Kognitionsforschung) sind bezüglich der Kernfragen in den letzten Jahren die Umrisse eines gemeinsamen theoretischen Konzeptes sichtbar geworden: „Das Wahrnehmungssystem verfügt als Teil seiner biologischen Ausstat- tung über ein … Reservoir an Bedeutungskategorien. Dieses bezieht sich auf unterschiedliche interne Datentypen … mit jeweils spezifischen Attributen und Struktureigenschaften. Diese biologisch vorgegebenen Bedeutungskategorien konstituieren die Kategorien unserer Welt und stellen gleichsam das Format dar, in dem die internen computationalen Prozesse des Wahr- nehmungssystems organisiert sind. Sie sind die Kategorien, in denen die von den Sinnen gelie- ferten Informationen zergliedert und organisiert werden. Was wir als Kategorien der Außen- welt erleben, sind die uns biologisch vorgegebenen Kategorien des Wahrnehmungssystems. Die Leistung unseres Gehirnes ist, dass wir diese Kategorien der uns biologisch gegebenen konzeptuellen Grundausstattung nicht bemerken, sondern sie gleichsam von Innen nach Außen verlegen und so den Eindruck ihrer Objektivität erhalten“ (Mausfeld 2006, S. 106). 4. Visuelle Wahrnehmung Die visuelle Wahrnehmung ist die wichtigste Form der Sinneswahrnehmung und deshalb ist das Sehen repräsentativ für die wesentlichen Gesichtspunkte und Probleme der menschlichen Wahrnehmung überhaupt. Jederzeit orientiert uns der Sehsinn über die räumlichen Gegeben- heiten unserer Umgebung, über Objekte und ihre Bewegungen, über die Identität von Perso- nen, ihre Stimmungen und Absichten usw. Das Sehen erlaubt die Koordination von Greifbe- wegungen, das Vermeiden von Hindernissen. Der Sehsinn dient ferner auch dem Ausdruck und der Kommunikation. Kurzum: Es können drei Bedeutungen des Begriffs „Sehen“ unterschie- den werden (Mallot 2000, 2006): 1. das betrachtende Sehen als Datenaufnahme und Aufbau eines Umweltmodells, 2. das aktive Sehen als Teil eines Verhaltens und 3. die Visualisierung als Sichtbarmachen oder Vorstellen eines Gedankens. 92 Pierre Sachse & Marco Furtner Wichtige Aspekte und Teilprozesse des Sehens sind, simplifiziert dargestellt, folgende: Es wird eine so genannte Grautonbeschreibung erstellt, diese ähnelt einer flüchtigen Bleistiftskizze („Primärskizze“). Danach werden Variationen in der Beleuchtung einbezogen, wobei Kontrast- effekte verstärkt werden und Reizunterschiede, die unterhalb einer spezifischen Schwelle lie- gen, Prozesse der Assimilation nach sich ziehen. Daraus ergibt sich eine Grundstruktur eines Bildes, die sodann einer elaborierten Formwahrnehmung unterzogen wird. Darin begleitend enthalten ist der Identifikationsprozess des Wahrgenommenen (Objektwahrnehmung, s.u.). Ins- besondere auf dieser Ebene treten Wahrnehmungskonstanzen auf, welche die Wirklichkeit regelmäßiger erscheinen lassen, als sie tatsächlich im Netzhautbild offenbar werden. Solche Korrekturmechanismen können beispielsweise auch zu Wahrnehmungstäuschungen führen. In den nachstehenden Abschnitten werden spezifische Wahrnehmungsleistungen der visuellen Informationsaufnahme und -verarbeitung erörtert. 4.1 Farbwahrnehmung Die Unterscheidung verschiedener Farbtöne in einer außergewöhnlichen Vielfalt von Abstu- fungen ist eine der bedeutendsten Fähigkeiten unseres visuellen Systems. Es wird geschätzt, dass das menschliche Auge zwischen zwei und sieben Millionen Farbabstufungen differenzie- ren kann (Tessier-Lavigne & Gouras 1996). Grundsätzlich beruht die Farbwahrnehmung auf der Wahrnehmung eines kleinen Spektrums der elektromagnetischen Wellen: Unsere Augen sind für Wellenlängen zwischen 380 und 780 nm empfindlich. Die Farben, die wir in unserer visuellen Umwelt wahrnehmen, existieren nicht. Das Licht wird jeweils nur mit unterschiedli- cher Wellenlänge von den Oberflächen reflektiert. „The rays are not coloured“ (Isaac Newton). Die Farbwahrnehmung ist hingegen in dem Sinne objektiv, dass jeder Mensch, der über die identische Art von Farbrezeptoren (Zapfen in der Retina) verfügt, in seinem Gehirn aus den verschiedenen Wellenlängen des Lichts in gleicher Weise die gleichen Farben konstruiert. So nehmen wir beispielsweise Wellenlängen von 450–500 nm als blau, Wellenlängen von 500– 570 nm als grün und Wellenlängen von 650–780 nm als rot wahr. Es ist für die enorme Anzahl der wahrnehmbaren Farbabstufungen auf jedem Punkt der Retina augenfällig, dass nicht jede Farbnuance durch ihren eigenen Rezeptor übermittelt wird. Eher ist anzunehmen, dass eine begrenzte Anzahl von Neuronenpopulationen ein Aktivierungsmuster generiert, das zur Farbwahrnehmung führt. Solche Überlegungen hatten schon früh Theorien der Farbwahrnehmung zur Folge. Die trichromatische Theorie (Young-Helmholtz-Theorie) besagt, dass die Netzhaut des Auges über drei unterschiedlich farbempfindliche Rezeptorsys- teme verfügt. Alle anderen Farbempfindungen sind auf Mischungen der Empfindungen der Rezeptorsysteme zurückzuführen, d.h. jede Farbempfindung ist durch eine Mischung der Grundfarben Blau, Rot und Grün erzeugbar. Dennoch erklärte die Dreifarbentheorie noch nicht alle Phänomene des Farbensehens. Die Gegenfarbentheorie von Hering postulierte ferner, dass sich alle wahrnehmbaren Farben mit nur vier Farbempfindungen (Rot, Gelb, Grün, Blau) be- schreiben lassen und dass dabei Rot und Grün sowie Blau und Gelb perzeptionell zu einem Gegensatzpaar („Gegenfarben“) verbunden erscheinen. Nach der Gegenfarbentheorie resultiert die Farbwahrnehmung demnach aus antagonistisch wirkenden Gegenfarbenzellen. So stellte Visuelle Wahrnehmung 93 Hering fest, dass für die Mehrheit der Menschen nichts „rötlich-grün“ oder „gelblich-blau“ sein kann, sich diese aber leicht ein grünliches Blau oder ein rötliches Gelb vorstellen können. Es scheint also nicht möglich, dass man sich die Farben eines Gegensatzpaares gemeinsam vor- stellen oder diese gleichzeitig wahrnehmen kann. Gegenwärtig geht man auf der Grundlage neurophysiologischer Befunde davon aus, dass sich die in der trichromatischen Theorie und der Gegenfarbentheorie beschriebenen Mechanismen ergänzen. Somit lassen sich weitere Farbphänomene erklären, z.B. der Effekt des Farbnachbil- des und der Farbsimultankontrast. Unsere Fähigkeit zur Farbwahrnehmung vermittelt zusätzliche Informationen zur lediglich formgerecht wiedergegebenen Umwelt, hilft nicht nur beim Entdecken von Objekten, sondern auch beim Erkennen und Identifizieren von deutlich zu sehenden Objekten, kann die Gefühls- beziehung zu den Gegenständen steigern etc. 4.2 Raumwahrnehmung Unsere Umwelt ist dreidimensional. Die visuelle Raumwahrnehmung entsteht dabei aus den zweidimensionalen Projektionen unserer dreidimensionalen Welt auf die Retina. Dabei sind u.a. folgende Mechanismen beteiligt (vgl. Glaser 2005): Die Augenlinse kann zu einem Zeitpunkt immer nur Objekte in einer ganz bestimmten Entfer- nung scharf abbilden. Diese Entfernung wird permanent und unbewusst korrigiert (Prozess der Akkomodation, d.h. Wirksamwerden eines auf Muskelempfinden basierenden Tiefenreizes). Die Netzhautbilder beider Augen können nur dann zu einem einzigen Wahrnehmungsbild „fusionieren“, wenn die Abbildung der einzelnen Außenweltpunkte auf korrespondierende Netzhautpunkte fällt (Einstellung des Konvergenzwinkels unserer Augen in Abhängigkeit von der Entfernung der wahrzunehmenden Objekte). Der visuelle Cortex ist dabei in der Lage, Abweichungen unmittelbar als räumliche Tiefe zu interpretieren. Der Abstand, den parallele Linien, die in den Raum hineinreichen, in ihrem Netzhautbild ha- ben, nimmt mit deren Entfernung ab (z.B. Eisenbahngleise, Abb. 3). 94 Pierre Sachse & Marco Furtner Abbildung 3: „Railway Lines Illusion“ (Ponzo-Täuschung). Quelle: [Stand 22.09.2010] Dies ist ein Beleg für die statische Perspektive. Es wird ein starker Tiefeneindruck erzeugt, der sich auch beim monokularen Sehen einstellt. Zur statischen Perspektive zählen u.a. auch Ver- deckungen. Wird beispielsweise ein Objekt im Bild teilweise von einem anderen Objekt ver- deckt, so nehmen wir das verdeckte Objekt als weiter entfernt wahr, auch wenn sich beide Objekte, wie auf einem Bild, in gleicher Entfernung befinden. Hinweise auf räumliche Positionen und Orientierungen geben auch die Helligkeitsverteilung und die im Gesichtsfeld auftretenden Schatten (Abb. 4). Abbildung 4: Schatten und Tiefe Visuelle Wahrnehmung 95 Dreidimensionale Objekte weisen auf ihrer Oberfläche eine spezifische Verteilung von Licht und Schatten auf, die von der jeweiligen Position der Lichtquelle abhängt. Vertiefungen, Erhö- hungen und weitere Oberflächenmerkmale sind obendrein durch eine bestimmte Schattenform gekennzeichnet. Für die Entstehung eines räumlichen Eindrucks ist dies sehr bedeutsam. Eine weitere außerordentliche Quelle für Tiefeninformationen ist der Texturgradient (Gibson 1950; s. Abb. 5). So erscheinen Elemente des Untergrundes (beispielsweise eine Straßenpflas- terung) mit zunehmendem Abstand immer dichter gepackt. Diese nach hinten immer feiner werdende Struktur gewährt damit Hinweise auf die Raumtiefe. Abbildung 5: Texturgradienten an Boden, Decke und den Wänden (Goldstein 2008, S. 240) Die Luftperspektive ist ein weiterer bewegungsunabhängiger, monokularer Hinweisreiz auf räumliche Tiefe bzw. Entfernung. Weiter entfernte Objekte, besonders bei größeren Distanzen im Freien, weisen abhängig von ihrer Entfernung weniger scharfe Konturen und weniger klare Details auf. Infolge der Luft-, Schmutz- und Dunstpartikel erscheinen die Objekte tatsächlich unschärfer und haben weniger gesättigte Farben, so dass sie als weiter entfernt interpretiert werden. So erscheinen beispielsweise Bergketten bei trübem Wetter weit entfernt, bei klarer Wetterlage („Fön“) in greifbarer Nähe. Weitere Informationen über räumliche Verhältnisse sind verfügbar, wenn man sich in seiner Umwelt bewegt (s. May 2006). Die Eigenbewegung führt dazu, dass sich das Netzhautbild des 96 Pierre Sachse & Marco Furtner Gegenstandes kontinuierlich verschiebt. Da die Größe des Netzhautbildes von der Entfernung zum Gegenstand abhängig ist, lässt diese Verschiebung Rückschlüsse auf räumliche Relationen und Entfernungen zu (Bewegungsparallaxe). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der von uns wahrgenommene Raum multi- pel verankert ist. Wie differenziert der heutige Kenntnisstand zur Raumwahrnehmung bereits ist, offenbaren die fast perfekten Simulationen dreidimensionaler virtueller Welten mithilfe des Computers. Wir wissen, welche Tiefeninformation genutzt wird, allerdings wissen wir bislang nur wenig darüber, wie sie genutzt wird. 4.3 Bewegungswahrnehmung Wahrnehmung unter natürlichen Umgebungsbedingungen ist fast immer auch Wahrnehmung von Bewegungen, Bewegungsrichtungen usw. Sogar Flugbahnen (z.B. eines Tennisballes) kann der Mensch mit erstaunlicher Präzision erfassen. Eine zentrale Rolle bei der Erfassung der Bewegungswahrnehmung spielt die Unterscheidung zwischen Scheinbewegungen (der Beobachter hat einen Bewegungseindruck, es fehlt aber die zugehörige Reizgrundlage) und realen Bewegungen (ein Objekt bewegt sich physikalisch). Eine Scheinbewegung (stroboskopische Bewegung) wird dadurch erzeugt, dass Lichtquellen, die sich in einem räumlichen Abstand voneinander befinden, kurzzeitig nacheinander ein- und ausgeschaltet werden. Anstatt sukzessiv aufleuchtende statische Lichter wahrzunehmen, sieht man bei einem geeigneten Zeitintervall eine einzige, sich zwischen zwei Punkten kontinuier- lich bewegende Lichtquelle (vgl. Wertheimer 1912, Phi-Phänomen). Heutzutage gelten im Alltag Kino und Fernsehen als die bekanntesten Belege von Scheinbewegungen. Jedes der aufeinander folgenden Bilder unterscheidet sich nur geringfügig von dem vorhergehenden; ein kontinuierlicher Bewegungseindruck wird hervorgerufen. Scheinbewegungen werden gegenwärtig als ein Spezialfall der realen Bewegung aufgefasst (Shaw, Flascher & Mace 1995). Reale Bewegung (stationärer Beobachter, bewegtes Objekt): Diese Bewegung kann u.a. trans- versal oder radial sein. Die Bedeutung des Unterschieds kennt jeder Verkehrsteilnehmer: „Der transversalen Bewegung entspricht die Situation eines Fußgängers, der an einem Zebrastreifen die Straße überqueren will, während auf der gegenüberliegenden Fahrbahn ein Auto vorbei- fährt. Die radiale Bewegung ist dagegen gegeben, wenn der Fußgänger mitten auf dem Zebra- streifen das Auto bemerkt, das direkt auf ihn zukommt. Gemeinsam ist beiden Bewegungsar- ten, dass sie mit einer teilweisen Verdeckung und Wiederaufdeckung des Hintergrundes und anderer Objekte einhergeht. (Okklusion und Disokklusion). Der stetige Wechsel zwischen diesen beiden Prozessen gibt die Bewegungsrichtung an“ (Kebeck 1997, S. 71f). Von zentraler Bedeutung ist zudem die Beurteilung der Geschwindigkeit des bewegten Objektes (Brown 1931; Hochberg 1971; Runeson 1974; McLeod & Ross 1983). Unser komplexes visuelles Wahrnehmungssystem verfügt über verschiedene Mechanismen und Detektorsysteme, die es ermöglichen, unterschiedliche Verursachungen von Bewegung zu Visuelle Wahrnehmung 97 analysieren und reale Bewegung für uns wahrnehmbar zu machen (vgl. beispielsweise Johann- son 1986; Hecht 2006). 4.4 Objektwahrnehmung Wir sehen Personen, Tiere, Pflanzen, Gegenstände. Wir sehen also Ganzheiten und nicht ein Mosaik von einzelnen unterschiedlichen Lichtpunkten, die unsere Sinnesorgane eigentlich erreichen. Unsere Wahrnehmung bleibt meist nicht bei der Formwahrnehmung stehen, sondern ist offenbar auf höhergradige, abstrakte Repräsentationen orientiert, also auf Dinge, Gegen- stände. Die wahrgenommenen Eigenschaften wie Farbe, Glanz, Rauheit, werden als solche von Objekten erlebt und nicht als zusammenhanglose Reizmuster. Um ein Objekt zu erkennen, muss es zunächst vom Hintergrund getrennt werden. Die Unter- scheidung von Figur und Grund lässt zu einem Zeitpunkt immer nur eine Interpretation des Reizmusters zu: Es ist entweder Figur oder Grund, nicht aber beides zugleich. Die Gestaltpsy- chologen betrachteten diese Figur-Grund-Unterscheidung als einen der grundlegendsten Pro- zesse unserer Wahrnehmungsorganisation. Anschauliche Beispiele sind hierfür die Kippfigu- ren. Ein klassischer Beleg ist die so genannte „Rubinsche Becherfigur“ (s. Abb. 6). Abbildung 6: Rubinsche Becherfigur Der Beobachter sieht entweder den Becher oder die zwei Gesichter, und von Zeit zu Zeit nimmt er einen spontanen Wechsel der Figur-Grund-Zuordnung wahr. Die Figur wirkt „ding- hafter“, wird eher als „vollständig“ wahrgenommen, der Hintergrund wirkt unstrukturierter, ungeformter und scheint sich auch hinter der Figur weiter zu erstrecken (Rubin 1921). Dies bestätigen auch neuere Befunde von Driver & Baylis (1996), wonach in solchen Kippfiguren die trennende Kante der Figur zugeordnet wird, während der Hintergrund diese Kante nicht hat. Mindestens drei Faktoren bestimmen, was zur Figur und was zum Grund wird: 98 Pierre Sachse & Marco Furtner a) Symmetrie – symmetrische Gebilde werden eher als Figur wahrgenommen; b) die bedeckte Fläche – das Gebiet mit kleinerer Fläche wird wahrscheinlicher zur Figur; c) Orientierung – eine vertikale oder horizontale Ausrichtung führt leichter zur Figurbil- dung als andere Orientierungen (Städtler 2003, S. 321). Die Figur-Grund-Unterscheidung steht in engem Zusammenhang mit anderen Determinanten und Organisationsprinzipien, die durch die Gestaltgesetze vermittelt werden (vgl. Wertheimer 1923; Metzger 1966; Palmer 1999): • Gesetz der Nähe: nahe Elemente werden gruppiert; • Gesetz der Gleichartigkeit: gleichartige Elemente (Farbe, Form etc.) werden eher grup- piert; • Gesetz des Aufgehens ohne Rest: Einbeziehen aller Elemente in eine Gruppierung; • Gesetz des gemeinsamen Schicksals: in gleicher Richtung bewegte Elemente werden grup- piert; • Gesetz der Voreinstellung: das Element n+1 wird nach dem gleichen Prinzip gruppiert wie bereits die anderen n Elemente; • Gesetz der durchgehenden Linie: eine Linie wird (geradlinig oder der Krümmung folgend) fortgesetzt; • Gesetz der Geschlossenheit: Elemente, die eine geschlossene Figur ergeben, werden eher gruppiert. Das übergeordnete Organisationsprinzip („Dachgesetz“) ist dabei das „Gesetz der guten Ge- stalt“ (Prägnanzprinzip). Es besagt, dass immer die Tendenz zur einfachsten und besten Ge- samtgestalt besteht (zur Kritik an den Gestaltgesetzen vgl. Hochberg 1957; Attneave 1959; Kebeck 1997; Becker-Carus 2004). Aktuelle Forschungen zur Objektwahrnehmung basieren vielfach auf neurowissenschaftlichen Studien zur Mustererkennung und Objekterkennung (strukturelle vs. ansichtsbasierte Reprä- sentationen, vgl. u.a. Bülthoff & Bülthoff 2006). Neue Objekterkennungsansätze haben nur dann einen Erklärungswert, wenn sie unmittelbar zur Informationsreduktion beitragen; deshalb setzen sich neue Forschungskonzeptionen auch wieder verstärkt mit Klassifizierungs- und Kategorisierungsfragen sowie der eigentlichen Bedeutung und Funktion der wahrgenommenen Objekte auseinander. Nachsatz Visuelle Kompetenz – der Titel der gleichnamigen interdisziplinären Ringvorlesung und des vorliegenden Buches wurde aus „wahrnehmungspsychologischer Sicht“ offensichtlich mit Bedacht gewählt: Visuelle Wahrnehmung 99 • Die Bedeutung des Sehens für die kognitiven Leistungen des Menschen kann schwerlich überschätzt werden. • Das menschliche Wahrnehmungssystem verhält sich anforderungsgemäß und ist außer- ordentlich effektiv (= kompetent) – gelegentliche optische Täuschungen sind kein Beleg für eine etwaige „visuelle Inkompetenz“! • Visuelle Wahrnehmung passiert nicht nur einfach, sondern ist das Ergebnis hochkomple- xer Vorgänge. • Die visuelle Wahrnehmungsforschung ist heute nicht mehr nur der Gegenstandsbereich einer wissenschaftlichen Disziplin. • „Mit sehenden Augen nicht sehen“ (Matthäus, 13,13) würde den Einzelnen um Einsicht bringen. Literatur Attneave, F. (1959): Applications of information theory to psychology. A summary of basic concepts, methods, and results. 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Dabei ist Lacan nie sehr viel daran gelegen, die eingeführten Kunstwerke zu interpretieren und zu verstehen, sondern vielmehr geht es ihm um das Rätselhafte, Unergründbare und Unheimliche am Bild. Damit kommt Lacan auf das Herz der Psychoanalyse zu sprechen, nämlich das Unbewusste, ein Etwas, das dem Sub- jekt für immer entgleitet, seine Alleinherrschaft unterwandert und durchkreuzt, es aber gleichzei- tig erst möglich macht. In der Terminologie von Lacan heißt das, nach dem Verhältnis von Auge und Blick zu fragen. Der Ausgangspunkt Die Einstiegsszene zu Alfred Hitchcocks Rear Window (Das Fenster zum Hof) aus dem Jahre 1954 mit James Stewart und Grace Kelly in den Hauptrollen gleicht dem Beginn einer Thea- teraufführung, wenn sich der Vorhang langsam nach oben oder auf die Seite „verzieht“. Genau genommen sieht die Kinobesucherin oder der Fernsehzuseher drei Bambusjalousien langsam, eine nach der anderen – wie von Geisterhand – nach oben gleiten, so dass die Szene letztlich freigegeben ist. Die erste Bewegung der Kamera zeichnet sich durch ein zielstrebiges Aufsu- chen des nun geöffneten Fensters aus. Die Möglichkeit, nach außen zu blicken und das Treiben im Inneren des Hofes zu beobachten, ist zu verlockend. Die Kamera hält direkt über dem Fensterbrett an. Der mittlere Rahmen des Flügelfensters bedeckt nun vollkommen die Lein- wand. Die Sicht aus dem Zimmer fällt zusammen mit der Sicht des Publikums, ein Moment totaler Identifizierung dieser beiden Perspektiven: Wir sehen alles, was man vom Zimmer aus sehen kann; jeder, der im Zimmer war, ist jetzt im Publikum, und wir haben sozusagen sein Zimmer betreten. Sobald die Sicht aus dem Zimmer mit unserer Sicht verschmilzt, gibt die Kamera einen langsamen Überblick über den Hof, von rechts nach links – diese Aufnahme, so könnte man sagen, entspricht der ersten Bewegung unseres Riesenauges, das sich geöffnet hat und herumblickt. Die direkte Kamerabewegung auf das Fenster zu und deren Resultat, das Zusammenfallen des Riesenauges, des Fensters, mit dem „Auge“ der Kamera, mit unserem Auge also, stellt das Verschmelzen zweier Blicke – unseres und Jeffs – von hinten dar. Wir als Zuseher werden damit ins Geschehen mit hineingezogen, sind Komplizen, letztlich dieselben Psychoanalyse und Bild: Das Subjekt zwischen Auge und Blick 103 Voyeure wie L.B. Jefferies, der Protagonist des Films, der Unfall bedingt an einen Rollstuhl gefesselt ist. Wir kommen darauf noch zurück. Das Spiegelstadium Wenn es hier in der Folge um die Psychoanalyse und ihr Verhältnis zum Bild geht, d.h., wenn ich den besonderen Zugang der Psychoanalyse, insbesondere der Lacanschen Psychoanalyse zum Bild herauszuarbeiten versuche, dann steht im Zentrum des Interesses die Frage nach dem Subjekt: Wie sind der Bildbetrachter und die Bildbetrachterin einbezogen in den Vorgang des Wahrnehmens und Interpretierens, letztlich in die Konstitution von Welt? Indem Lacan das Auge bzw. das Sehen um die Kategorie des Blicks erweitert, führt er das Unbewusste sozusa- gen in die Bildtheorie ein. Er geht davon aus, dass der Mensch notwendigerweise durch Blind- heit geschlagen ist, dass er bei sehendem Auge blind ist, d.h. dass immer auch ein Blick im Spiel ist, der das Sehen überhaupt erst möglich macht. Lacan ist der Meinung, dass das Eigent- liche des Sehens einer bestimmten Optik entgehen muss. Genau genommen ist es der „geomet- rale Raum des Sehens“, der für Lacan auch den virtuellen Raum des Spiegels umfasst. Er un- terzieht diese „Herrschaft des Auges“, wie er es nennt, einer radikalen Kritik. „In unserem Verhältnis zu den Dingen, das konstituiert ist durch die Bahn des Sehens und geordnet nach den Figuren der Vorstellung, gleitet, läuft und über- trägt sich von Stufe zu Stufe etwas, das jedoch immer bis zu einem gewissen Grade umgangen wird – es ist das, was Blick heißt.“ (Lacan 1964, S. 70) Jacques Lacan wird zwar im Jahre 1901 geboren (er stirbt im September 1981 in Paris), aber die, wenn man so will, psychoanalytische Geburt, d.h. das erste Auftreten auf der Bühne der internationalen Psychoanalyse, erfolgt 1936, am 14. Kongress der International Psychoanalyti- cal Association (IPA) in Marienbad. Der Kongress wurde in Marienbad veranstaltet, damit im Notfall der schwerkranke und sich in Wien befindende Sigmund Freud rasch kontaktiert wer- den konnte. Es stand zu befürchten, dass es auf dem Kongress zu einer heftigen Auseinander- setzung zwischen den sogenannten „Kleinianern“, also den Anhängern von Melanie Klein und den UnterstützerInnen Anna Freuds und ihrer Auffassung zur Kinderanalyse kommt. In dieses Fahrwasser geriet Jacques Lacan mit seinem Vortrag zur Theorie des Spiegelstadiums. Lacan wurde nach zehn Minuten unterbrochen, konnte seinen Vortrag nicht zu Ende bringen und war darüber so verärgert, dass er umgehend in Richtung Berlin (zu den olympischen Spielen) ab- reiste und dabei sogar vergaß, sein Manuskript für den Kongressbericht abzugeben, das seither verschollen ist. Im Spiegelstadium, das seine endgültige Ausformulierung anlässlich des 16. Kongresses der IPA 1949 in Zürich (dem ersten nach dem Zweiten Weltkrieg) erhalten hat und unter dem Titel „Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Er- fahrung erscheint“ (vgl. Lacan 1949, S. 61–70) in Lacans Ecrits publiziert wurde – in diesem Spiegelstadium also, das im Laufe der Jahre immer komplexere Züge annimmt, bezieht sich 104 Andreas Kriwak Lacan auf das Freud’sche Konzept des Narzissmus, das er gleichzeitig erweitert und für die Genese des Subjekts als zentral postuliert. 1914 verfasste Sigmund Freud (1856–1939), der Begründer der Psychoanalyse, einen für die Triebtheorie und die Libidoentwicklung zentralen und wegweisenden Text, nämlich „Zur Einführung des Narzissmus“ (vgl. Freud 1914, S. 137– 170). Darin behauptet Freud unter anderem – einzig diese Erkenntnis aus seinem Text ist hier von Interesse –, dass das erste richtige (Liebes)Objekt im Laufe der Sexualentwicklung des Kindes das Bild von sich selbst ist. Die zuvor selbständig agierenden Sexualtriebe – Freud spricht, wenn es um die Frühzeit der Libidoentwicklung beim Kinde geht, vom sogenannten „Autoerotismus“ und der „polymorph-perversen Sexualität“ – finden zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung zu einer Einheit zusammen und richten sich auf ein erstes richtiges Liebesobjekt, nämlich auf das Bild, das man von sich selbst hat. Das erste Liebesobjekt ist also, dem Ovidschen Mythos von Narcissus entsprechend, ein Bild, nämlich das Bild von mir selbst – meine erste Liebe gilt mir selber, aber in Form eines Bildes. Diesen Gedanken nimmt Jacques Lacan auf und konzipiert um diese Idee sein Spiegelstadium, das er im Laufe der Jahre und Jahrzehnte immer wieder neu interpretiert, d.h. die Register des Symbolischen und des Realen darin zu verorten versucht. Das Werk von Lacan lässt sich mit der Trias ISR (Imaginäres, Symbolisches, Reales) kurz zusammenfassen. Dabei sei zur Erläu- terung nur ganz kurz und reduktionistisch darauf hingewiesen, dass das Imaginäre für das Bild und die Einheits-Bildung steht, das Symbolische hingegen mit dem Trennenden und Distanz schaffenden Moment in Verbindung gebracht wird, während das Reale der Rest bzw. Über- schuss ist, der von der symbolisch-imaginären Ordnung nicht in den Griff zu bekommen ist. Die drei Register sind eng ineinander verwoben und nicht hierarchisch zu unterteilen. Geht es bei Lacan um das Spiegelstadium, dann spricht er in erster Linie über das Konzept des Imaginären, der Welt des Bildes, der Einheit und das meint immer auch des Ideals. Zunächst, d.h. 1936 – gleichzeitig mit dem ja verschollenen Vortragstext entstandene Schriften erlauben diesen Schluss –, versteht Lacan unter dem Spiegelstadium vor allem einen entwicklungspsy- chologischen Schritt, bei dem das etwa sechs- bis achtzehnmonatige Kleinkind eine Beziehung zum eigenen Spiegelbild entwickelt. Beim Anblick des eigenen Spiegelbildes jubelt es, strahlt es, zeigt eine Glücksreaktion. Das Kind ist in diesem Alter noch eingetaucht in motorische Ohnmacht und Abhängigkeit. Lacan spricht an dieser Stelle von der „spezifischen Vorzeitig- keit der menschlichen Geburt“ (Lacan 1949, S. 66), wie sie in ähnlicher Art und Weise damals auch vom Anthropologen Adolf Portmann behauptet wurde. Mit dieser „spezifischen Vorzei- tigkeit der menschlichen Geburt“ verbindet Lacan eine das kleine Wesen quälende körperliche und psychische Spannung. Dem gegenüber birgt das Spiegelbild die täuschende Verheißung der motorischen Kontrolle und die Spannung stillende Ganzheit (vgl. Leikert 2005, S. 92). In dieser Identifikation mit dem Spiegelbild kompensiert das kleine Kind seine „eigentliche“ körperliche Ohnmacht, seine mangelhafte körperliche Koordination und Fragmentierung. Das Zentrale dabei ist, dass ich mich selber in einer Gestalt erkenne, die mich in eben diesem Mo- ment bereits von mir entfremdet: „Der durch das Spiegelbild gestiftete Beginn meiner Identität ist zugleich der Beginn meiner Alienation – der Andersheit meiner selbst“ (Hevers 2005, S. 165). Psychoanalyse und Bild: Das Subjekt zwischen Auge und Blick 105 Die Verheißung des Imaginären ist für das Subjekt eine Täuschung. Das Spiegelstadium (die Verlockungen des Imaginären) stellt für Lacan einen verhängnisvollen Käfig dar. Er spricht vom Subjekt, das „an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation“ festgehalten wird und durch eine „entfremdende Identität“ gebunden ist, die „durch ihre rigide Struktur die gesamte geistige Entwicklung beeinträchtigen wird“ (Lacan 1949, S. 67). Damit verweist Lacan auf das Ideal-Ich als einen für das Subjekt unerreichbaren Ort. Erst über die Sprache findet das Subjekt wieder einen Bezug zur Wahrheit. In der Liebe zum Spiegelbild liebe ich mich als jene ideale Gestalt, wie sie mir im Spiegel präsentiert wird. Indem ich also meine Liebe in diesem ersten anderen finde, dem Bild von mir, entferne und entfremde ich mich gleichzeitig von mir. Ich liebe ja das Bild – Ich ist ein anderer, wie Arthur Rimbaud geschrie- ben hat. Oder, wie Peter Schneider, ein Schweizer Psychoanalytiker es formuliert: „In dem Augenblick, wo das Ich Subjekt wird, indem es sich auf sich selbst als Objekt – als Bild – bezieht, geht ein Riss durch es hindurch, Insignum seiner es konstituierenden Trennung.“ (Schneider 1995, S. 97) Dass Spiegel täuschen, ist allgemein bekannt. Sie zeigen nicht alles, verhüllen, verzerren, ver- sprechen (zu viel), etc. Geht es nach Lacan, dann sieht das kleine Wesen im Spiegel ein es betörendes Bild, das ihm gleich, ihm ähnlich ist, aber dennoch eine Fremdheit in die Welt bringt. Die narzisstische Verkennung verdankt sich dem Umstand, dass der Mensch im Bild (das muss nicht nur das eigene Spiegelbild sein, es kann auch ein anderer Mensch sein, der als Vorbild dient, eine Idee, wie man sein möchte, ein Ideal, etc.) seines Ichs einen Doppelgänger sieht, dem anzugleichen er sich wünscht. Und dieses Streben, dieser Wunsch des Subjekts ist, so Lacan „die Energiequelle seines mentalen Fortschritts“ (Lacan 1938, S. 59). Das Spiegelbild steht für Identität und Dauer. Damit wird die eigentlich mangelhafte Existenz, die man darstellt und ist, überwunden. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, diese Einheit zu verlieren und beim, wie es Lacan nennt, „zerstückelten Körper“, d.h. in der Psychose zu lan- den. Denn das Subjekt sieht sich selbst losgelöst von sich, in einem anderen Medium (im Spie- gel), oder genauer: im Medium des Anderen, der vollkommener als es selbst zu sein scheint. Der Andere (im Spiegel) wird imaginiert als eine uneinholbare Vorgabe, die nicht ohne Wi- derwillen und aggressive Spannung im Feld des Imaginären eingeräumt wird: „Das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innerer Drang sich vom Ungenügen auf die Vorwegnahme (anticipation) überstürzt (précipite) – und das für das am Köder der räumlichen Identifizierung festgehaltene Subjekt die Phantasmen aus- heckt, die sich von einem zerstückelten Bild des Körpers bis hin zu einer Gestalt fortsetzen, die wir als die orthopädische seiner Ganzheit bezeichnen – und bis hin zu dem schließlich übernommenen Panzer einer entfremdeten Identität, der mit seiner starren Struktur seine ganze geistige Entwicklung prägen wird. So er- zeugt der Bruch des Zirkels von der Innenwelt zur Umwelt die unausschöpfliche Quadratur der Ichprüfungen.“ (Lacan 1949, S. 67) Schauen wir uns, um das zu verdeutlichen, das von Lacan verwendete klassische und von ihm als amüsant bezeichnete Experiment aus der Physik an – das Experiment vom umgekehrten Blumenstrauß (Abb. 1). Dieses Experiment von Henri Bouasse, einem französischen Physiker 106 Andreas Kriwak (1866–1953), weist uns den Weg, um die Topik des Imaginären zu verstehen. Dabei wird auf einem Kasten, dessen Inhalt verdeckt ist, eine Vase gestellt. Dahinter befindet sich ein Hohl- spiegel, der den nicht sichtbaren Inhalt des Kastens reflektiert und für den Betrachter sichtbar macht. In unserem Beispiel wird der verdeckte Blumenstrauß auf optischem Wege in die Vase gesteckt. Der Clou dabei ist natürlich, dass es sich um einen Hohlspiegel handelt, d.h. das Bild des Straußes wird wirklich dort erscheinen, wo er, der Strauß, nicht ist, nämlich in der Vase. Das reelle Bild einer versteckten Blume erscheint geisterhaft in einer Vase. Abbildung 1: Das Experiment mit dem umgekehrten Blumenstrauß (vgl. Lacan 1953/54, S. 103) Lacan greift hier die physikalische Unterscheidung von reellem und virtuellem Bild wieder auf, wie er sie beim französischen Physiker vorfand: Wenn das virtuelle Bild über einem planen Spiegel entsteht, so erzeugt der Konkavspiegel an einem ganz bestimmten Punkt reelle Bilder – in unserem Beispiel die Blumen, die in der Vase zu stehen scheinen. Das reelle Bild gliedert sich in die Welt der realen Objekte ein, vermischt sich mit diesen. Dabei ist für Lacan von besonderer Bedeutung, dass nur von einem einzigen Punkt aus diese Illusion in voller Pracht zu sehen ist, d.h. das Bild also kein fixes ist, es besteht die Gefahr, es zu verlieren (vgl. Hevers 2005, S. 166f.). „In diesem Augenblick, während Sie den realen Strauß, der versteckt ist, nicht sehen, sehen Sie, wenn Sie sich im richtigen Feld befinden, wie ein sehr seltsa- mer imaginärer Strauß erscheint, der sich genau über dem Hals der Vase bildet. Da sich Ihre Augen entlang derselben Linie verschieben können, haben Sie ein Gefühl von Realität, obgleich Sie spüren, dass irgendetwas sonderbar, ver- schwommen ist, weil sich die Strahlen nicht genau überschneiden. Je weiter Sie entfernt sind, desto mehr spielt die Parallaxe hinein, desto vollkommener wird die Illusion sein.“ Die Pointe bei diesem Experiment ist, dass sich die reellen Bilder außerhalb des Spiegels zei- gen. Sie erscheinen also im selben Raum, indem sich die Gegenstände befinden, im Gegensatz zum virtuellen Bild, das die Dinge da erscheinen lässt, wo sie nicht sind. Psychoanalyse und Bild: Das Subjekt zwischen Auge und Blick 107 In einem zweiten Schritt führt nun Lacan in dieses Experiment zusätzlich einen planen Spiegel ein. Dieser lässt das reelle Bild einer Vase zusammen mit einem Blumenstrauß virtuell in ei- nem Bild erscheinen. In der zweiten Abbildung sind die beiden Objekte vertauscht, d.h. die verborgenen, realen Blumen sind durch eine Vase ersetzt. Das bringt es mit sich, dass wir im sichtbaren Feld eine imaginäre Vase sehen: Metapher für das Ganzheit und Konsistenz ver- sprechende Körperbild, Zeichen der verfrühten imaginären Beherrschung des Körpers gegen- über seiner körperlichen, motorischen Unvollkommenheit. Abbildung 2: Vereinfachtes Schema der zwei Spiegel (vgl. Lacan 1953/54, S. 162) Fehlten im ersten Experiment, in dem das Bild in seiner Konsistenz nur in einem bestimmten Feld des realen Raums vor dem sphärischen Spiegel zu sehen war, der ebene Spiegel und die virtuellen Bilder, so vermischt dieser ebene Spiegel nun reale und virtuelle Räume und mar- kiert so die imaginäre Funktion beim Menschen. Der Spiegel im zweiten Experiment ist be- weglich und damit instabil. Somit können die Bilder sich verzerren oder gar ganz verschwin- den, andere tauchen erst gar nicht auf. Damit will Lacan die Verschiebbarkeit anzeigen, die eintritt, wenn der sprechende Andere mit seinen Ansprüchen und Vorlieben, die ungewiss und prekär sind, in das Spiel eintritt. Die zweite Version dieses Experiments zeigt die Vase im Kasten. Das reelle Bild der Vase umgibt nun das reale Bild der Blumen. Somit verleiht das reelle Bild der Vase den realen Ob- jekten, den Blumen, eine „imaginäre Anordnung“, d.h. es verleiht Einheit, eine Einheit des Körpers (im Bild), die dem Ich seine erste Form gibt. Es erlaubt, „das zu situieren, was Ich ist, und das, was es nicht ist. Nun sagen wir, dass das Körperbild, wenn man es in unser Schema einsetzt, wie die imaginäre Vase ist, die den realen Blumenstrauß enthält“ (Lacan 1953/54, S. 101). Das erste Ich oder auch Ur-Ich genannt, konstituiert sich durch Spaltung, d.h. durch Unterscheidung von der Außenwelt. Das reelle Bild hat die Funktion „zu enthalten und zu- gleich auszuschließen, die Bedeutung von Ich-Grenzen“ (Lacan 1953/54, S.187). Damit wird behauptet, dass das Imaginäre das Reale formt, es ein- oder ausschließt, so wie das Reale seinerseits das Imaginäre (mit Leben, Körper) füllt. Dieses Reale wird wiederum vom Symbo- 108 Andreas Kriwak lischen reguliert und situiert, in dem es die imaginären Bilder reflektiert bzw. ein- und zuordnet (vgl. Hevers 2005, S. 167). Lacan führt also die symbolische Funktion mit Hilfe des zweiten Spiegels ein. Mit dem ersten, einfacheren Experiment wollte er vor allem die herkömmliche Unterscheidung zwischen sub- jektiv und objektiv bzw. innen und außen unterlaufen und damit die Verschränkung der imagi- nären und der realen Welt illustrieren. Mit dem zweiten Spiegelexperiment treten hingegen die Virtualität der Bilder und auch ihre Relativität und Standpunktbezogenheit in den Blick. Der Planspiegel als Reflexionsfläche zeigt das Reelle als Virtuelles und noch dazu, dass dieses in den für Lacan so entscheidenden symbolischen Raum eingebunden ist: in das, was Lacan „Feld der symbolischen Ordnung“ nennt (vgl. Hevers 2005, S. 167). Erst mit dem Eintritt der Spra- che wird eine Reflexion und Anerkennung dessen was ist, ermöglicht. Das Subjekt gießt und integriert die „Ereignisse seines Lebens in ein Gesetz, in ein Feld symbolischer Bedeutungen“. Und, so Lacan weiter: „Abhängig von den Symbolen, der symbolischen Konstitution, seiner Geschichte, stellen sich jene Variationen her, unter denen das Subjekt variabel, zerbrochen, zerstückelt, das heißt gelegentlich unausgebildete, regressive Bilder seiner selbst auswählen kann.“ (Lacan 1953/54, S. 244 und S. 204) Das Symbolische steht bei Lacan aber in erster Linie für eine Trennung, eine Kluft, einen Ver- zicht. „Denn das Wort ist nicht die Sache selbst. Mit jedem Sprechen verzichten wir auf die (vermeintliche) Unmittelbarkeit des Objekts. Mehr noch, jede Benennung des Begehrens evo- ziert, wie Lacan es ausdrückt, in der Anwesenheit einer Abwesenheit und in der Abwesenheit eine Anwesenheit.“ (Hevers 2005, S. 168) Zusammenfassend muss betont werden, dass in der Psychoanalyse von einem Primat des Au- ßen gesprochen werden kann. Das Subjekt entdeckt sich aufgrund dieses Außen (des Spiegel- bildes). Es sieht ein Bild und dieses Bild wird mit Hilfe eines Dritten (z.B. der Mutter als Re- präsentantin der Sprache) benannt. Und erst auf Grund dieser Benennung bekommt das Subjekt eine Vorstellung von sich. Das heißt, dass das Symbolische von Anfang an mit der Ebene des Bildes verbunden und verzahnt ist. Das Subjekt wird über den Anderen vermittelt. Das Problem am oder im Spiegelstadium – auch am Festhalten am Spiegelstadium (letztlich ist für Lacan das Spiegelstadium eine Struktur, die das ganze Leben lang anhält) – das Problem also mit dem Spiegelstadium besteht darin, dass das Sichtbare für das Wesen (das Wesentliche) gehalten wird. Es bleiben folgende Fragen bestehen: wie ist das Sichtbare konstituiert und strukturiert bzw. was ist der Grund bzw. Antrieb des Sprechens. Das Bild ist ja immer schon die Repräsentation in einem symbolischen Zusammenhang. Demgegenüber ist das Objekt a – insbesondere in der Form des Blicks – dasjenige, was nicht symbolisiert werden kann, dasje- nige, das vom Symbolischen ausgegrenzt wird und diesem gleichzeitig permanent Anlass gibt zu Symbolisierungen. Wir werden also in der Folge, wenn wir uns dem Bild zuwenden, unse- ren Fokus auf dieses Ausgeschlossene richten. Psychoanalyse und Bild: Das Subjekt zwischen Auge und Blick 109 Der Blick im Bild Zeuxis und Parrhasios Was ist das Wesen der Malerei? Lacan verweist in diesem Zusammenhang auf den Malerwett- streit zwischen Zeuxis und Parrhasios, der in der Antike stattgefunden haben soll. Man erzählt sich, dass dabei Zeuxis Trauben in so vortrefflicher Weise zu malen wusste, dass sich sogar Vögel davon täuschen ließen. Lacan spricht in diesem Zusammenhang von der „zeichenhaften Täuschung“. Parrhasios auf der anderen Seite führte Zeuxis, seinen Konkurrenten, zu einem Vorhang. Beim Versuch, diesen Vorhang beiseite zu schieben, um dahinter ein mögliches Bild seines Konkurrenten zu schauen, musste Zeuxis mit Verwunderung feststellen, dass der Vor- hang bereits das gemalte Bild war. Parrhasios siegte somit in diesem Wettstreit. Ihm war es gelungen selbst einen Menschen zu täuschen. Der Vorhang fungierte als ein Schleier, der bei Zeuxis das Interesse hervorbrachte, dahinter zu blicken, hinter den Vorhang zu schauen, um zu wissen, was sich dahinter verbirgt. Hier, so könnte man sagen, trifft man auf ein Verständnis der Malerei, in dessen Zentrum steht, „die Realität auf eine Oberfläche abzubilden“ (Leikert 2005, S. 92). Die Malerei erscheint damit als eine Kunst, deren Aufgabe es ist, die Realität möglichst detailliert und täuschend echt wiederzugeben. Eine so verstandene Kunst ist reduziert auf das Handwerk der Imitation und somit voll und ganz auf der Ebene des Imaginären anzusiedeln. „Hier wird die Möglichkeit des Bildes, die Wirklichkeit zu verschleiern, das Begehren zu täuschen und mit einer Illusion von Ganzheit in die Irre zu leiten, zum Wesen der Malerei erklärt.“ (Leikert 2005, S. 92) Auf der anderen Seite wird auch klar, dass sich das menschliche Sehen nicht mit der Darstellung des Objekts begnügt, wie es in der geometralen Optik in Szene gesetzt wird, sondern es begehrt den Blick, es begehrt stets etwas anderes. Wenn dieser Blick umgangen wird, das Bild also eine pazifizierende und apollinische Wirkung besitzt, dann spricht Lacan von „Blickzähmung“. Der Vorhang des Parrhasios ist für Lacan gleichzeitig konstitutiv für die „Augentäuschung“, die keine Beziehung zum so genannten Figurativen, sondern zur Abwesenheit und zur Faszi- nation unterhält: Wenn „man einen Menschen täuschen will, braucht man ihm nur das Bild eines Vorhangs vor Augen zu halten, das heißt das Bild von etwas, jenseits dessen er zu sehen verlangt“ (Lacan 1964, S. 119). Im Hinblick auf das Bild beschreibt Lacan also drei Formen der visuellen Täuschung: die zeichenhafte Täuschung, die Blickzähmung und die Augentäu- schung. Welche Funktion hat aber nun die Kunst laut Lacan? Guter Kunst muss es darum gehen, eine Leere wiederzufinden, dieser Leere, so paradox das klingen mag, Raum zu geben. Diese Leere, der Lacan 1959/60, in seinem Seminar VII mit dem Titel „Die Ethik der Psychoanalyse“, an- schließend an Martin Heidegger, den Namen „das Ding“ gibt, wird später zum „objet petit a“ (Objekt klein a). Damit versucht er jenen Ort zu umkreisen, der im Innersten des Imaginä- ren/Illusionären, eben dieses in Frage stellt und aus der sprichwörtlichen Bahn wirft. Es handelt sich um jene Grenze, an der „die Illusion sich selbst transzendiert, sich zerstört, indem sie zeigt, dass sie da ist nur als signifikante“ (Lacan 1959/69, S. 168). Für Lacan liegt daher „der 110 Andreas Kriwak eigentliche Sinn des künstlerischen Suchens“ darin, im Innersten der Illusion, der Täuschung, das zu finden, „was wir als den zentralen Ort, die intime Exteriorität, die Extimität beschreiben, die das Ding ist“ (Lacan 1959/69, S. 66). Diese „intime Exteriorität“ bzw. diese Extimität, so Lacans Worterfindung, veranschaulicht er Anfang 1960 unter anderem mit der Verschlüsse- lungstechnik der Anamorphose. Im optischen Modell, von dem heute schon die Rede war, konnte durch die Drehung des Planspiegels eine bestimmte Anzahl von Objekten aus dem Gesichtsfeld verschwinden. Dieses Verschwinden der Objekte führt zu jenem Punkt, von dem aus man spricht, von dem aus gesprochen wird. Hans Holbein Die Gesandten In Abbildung 3 ist ein Bild des Renaissancemalers Hans Holbein des Jüngeren (1497–1543) zu sehen. Das Bild hängt in London in der National Gallery. Wir sehen darauf zwei Gesandte – das Bild trägt eben diesen Titel, nämlich „Die Gesandten“. Das fast zwei Mal zwei Meter große Gemälde ist ein riesiges Doppelporträt der Gesandten Jean de Dinteville und Georges de Selve. Das Bild führt die für die damalige Zeit typischen Bildtechniken vor. Es zeichnet sich ebenso durch seine Exaktheit des Dargestellten, wie durch minutiös dargestellte komplizierte geometrische Formen aus, wobei vor allem auch die Regeln der Perspektivkunst genauestens angewendet wurden. In einem Regal zwischen den beiden Gesandten werden Instrumente der damaligen Wissenschaften dargestellt, Instrumente, die auch zur Bild- und damit Weltkon- struktion der damaligen Zeit dienten. Daneben trifft das Auge des Betrachters noch auf eine Laute, die damals ein beliebtes Objekt für Malübungen darstellte – man denke nur an die be- rühmte Laute eines Albrecht Dürer (1471–1528) (vgl. Van der Heiden 2005, S. 36). Abbildung 3: Hans Holbein der Jüngere: Die Gesandten (London, National Gallery) Diese Repräsentanten der damaligen Wissenschaften und Künste galten gleichzeitig als Sym- bole der vanitas, d.h. der Eitelkeit und des Scheins. Lacan spricht davon, dass wir es hier mit einer „Monstration einer Welt des Scheins“ (Lacan 1964, S. 82) zu tun haben. Das Besondere an diesem Gemälde sind aber weder die beiden Repräsentanten von Kirche und Staat, noch Psychoanalyse und Bild: Das Subjekt zwischen Auge und Blick 111 jene von Wissenschaft und Kunst, sondern jenes längliche, schräg im Bild schwebende Ge- bilde, das den Betrachter stört und verwirrt. Dieses Etwas lässt sich nicht ohne weiteres in den restlichen Bildkontext integrieren. Dieses merkwürdige Gebilde nennt man eine „Anamor- phose“. Das Wort setzt sich aus „Morphei“, dem griechischen Wort für „Form“ und der ver- neinenden Vorsilbe „ana“ zusammen und bezeichnet sozusagen die Auflösung einer Form. Das Bild zeigt also eine Auflösung einer Form, aber welcher? Lacan befragt sein Publikum, ob sie denn wissen, was hier in Auflösung begriffen ist und fährt fort: „Sie können es nicht wissen – denn Sie wenden sich ab, um der Faszination des Bildes zu entgehen. Gehen Sie langsam aus dem Raum, in dem das Bild Sie gewiss lange festhielt. Dann, wenn Sie im Weggehen sich wenden (…) – erblicken Sie – einen Totenschädel.“ (Lacan 1964, S. 94) Erst wenn sich der Betrachter vom Bild abwendet, dessen Verführungen und Schönheit hinter sich lässt und beim Hinausgehen noch einmal sich von der Seite dem Bild zuwendet, erkennt man den Totenschädel. Steht man direkt vor dem Bild, als einer „der sich im Geometralpunkt des Bildes befindet und von ihm aus als vermeintlich wissender Betrachter die Welt des Bildes konstruieren kann, sieht [man] das Eigentliche nicht“ (Van der Heiden 2005, S. 37). Lacan: „All das zeigt, dass Holbein im Zentrum der Epoche selbst, in der sich das Subjekt abzeichnet und die geometrale Optik gefunden wird, etwas sichtbar macht, was nichts anderes ist als: das Subjekt als ein genichtetes – genichtet in einer Form, die jenes Weniger-Phi (-φ) der Kastration bildhaft inkarniert, die für uns die gesamte Organisation der Begierden quer durch den Rahmen der Grundtriebe zentriert.“ (Lacan 1964, S. 95) Somit führt uns Hans Holbein an diesem sei- nem Bild nicht nur die alte Binsenweisheit vor, dass die Perspektive der Weltbetrachtung von entscheidender Bedeutung ist, sondern vielmehr, dass man dem Wesen des Bildes erst nahe kommt, indem man es gleichsam verliert, eigentlich bereits hinter sich gelassen hat. Mikkel Borch-Jacobsen, ein Interpret der Lacanschen Theorie sagt in einer seiner Vorlesungen über dieses Bild: „Solange Sie das Bild vor sich sahen, konnten Sie ihm nicht ansehen, was Sie darin wären. Jetzt aber, wo Sie es nicht mehr sehen, nur noch von der Seite, können Sie endlich darin sehen, was Sie sind – nichts, eine Höhlung im Sichtbaren, eine leere Eitelkeit.“ (Borch- Jacobsen 1999, S. 260) Soll heißen, dass uns dieser in der Luft liegende Gegenstand unsere eigene Bedeutungslosigkeit und Nichtigkeit widerspiegelt und uns im Sinne des „Memento Mori“ mit unserer Endlichkeit und Sterblichkeit konfrontiert (vgl. Van der Heiden 2005, S. 38). Wir treffen hier, in diesem Bild von Hans Holbein zum einen die Seite des Sehens, d.h. des nach Wissen und Allmacht strebenden Auges. Worauf Lacan aber das Gewicht legt, ist die Seite des Blickes. Lacan will damit darauf hinweisen, dass das Auge keinesfalls eine Position des Geschütztseins und des aktiven Beobachtens darstellt. Der Blick betont, dass wir als Be- trachter immer schon im Bild sind, dass wir selbst dann gesehen werden, wenn niemand da ist. Damit kommen wir wieder zum Spiegelstadium zurück. Denn auch hier ist zuerst der andere da: Zum einen insofern, dass das Bild, meine erste Identität, im Außen ist, aber vor allem auch im Sinne des großen Anderen, nämlich der Sprache, der symbolischen Ordnung, die immer schon besteht, bevor ich mich selber mit ihrer Hilfe erkennen kann. Ich kann z.B. ganz allein im Wald sein und habe doch das Gefühl, ich werde angeblickt. Daran sieht man, dass eine 112 Andreas Kriwak gewisse paranoide Struktur zur Normalität gehört. Dieser Fremde, dieser Andere begleitet mich permanent. Das Subjekt ist nicht nur im Körper drin, sondern es ist auch das, was ich mit mir trage als eine Art Gegenüber. Und in der Paranoia ist dieses Etwas abgeschnitten, es hat sich verselbständigt. Dieses Gegenüber, dieser mein mir fremder Blick, sieht mich. Die Theorie Lacans über den Blick ist gerade etwas, was mich dem, was Lacan mit „Kastration“ bezeichnet aussetzt im Sinne von: der andere hat ein anderes Begehren, was will er damit? (Vgl. Widmer 2004, S. 139) Der Blick im Film Damit kommen wir zurück auf das eingangs angeführte Filmbeispiel von Alfred Hitchcock. Für Geschichte und Theorie des filmischen Sehens ist die Faszination, die von einem imaginär geschlossenen Bildraum ausgeht, nicht zu unterschätzen. Die halluzinatorische Funktion des Films besteht ja in der medialen Vorspiegelung eines ganzen Blicks, mit dem als seinem Dop- pelgänger der Zuschauer sich zwischen Ohnmacht und Allmacht gleichsam vermittlungslos identifiziert: Der Zuschauer, libidinös mit sich selbst als reiner Kraft der Wahrnehmung identi- fiziert, wird ganz Auge – verwandt dem staunenden, ängstlichen neugierigen Blick des Kindes, das untermotorisch und über-sichtig seine Identität sucht. Genau das, nämlich „untermotorisch“ und „über-sichtig“ trifft auch auf unseren Helden in Hitchcocks Rear Window zu. Dem nach einem Unfall an einen Rollstuhl gefesselten James Stewart bleibt in seiner Lage nur der Blick aus dem Fenster in den Hof. Dieses Fenster, dieser Blick, steht für sein Phantasma, d.h. seinen Rahmen, der ihm den Zugang zur Welt ermöglicht – in diesem Fall im wörtlichen Sinne. Alles, was sich vor diesem (phantasmatischen) Fenster ereignet, fesselt ihn. Der Blick aus diesem Fenster ist, mit Immanuel Kant gesprochen, die Bedingung der Möglichkeit für ihn, einen Zugang zur Welt/Realität zu finden, die Welt zu ordnen, zu strukturieren. Genau das ist übrigens das Problem von Lisa, gespielt von Grace Kelly, die Jeff in seiner Woh- nung ihre Liebe erklärt. Erwiderung findet diese Liebe erst – Jeff will diese Liaison eigentlich beenden – als Lisa am richtigen Ort erscheint, nämlich vor dem Fenster zum Hof. Damit tritt sie in sein Phantasma, den Ort, von dem er die Welt betrachtet, ein. Grace Kelly ist für James Stewart also zunächst nichts, ein Objekt unter vielen, ein Objekt ohne besondere Bedeutung. Indem sie aber vor sein Fenster und somit in sein Phantasma tritt, wird dieses Nichts zu etwas (vgl. Žižek 1992, S. 237). Es drängt sich die Auffassung auf, dass Hitchcock mit Rear Window einen Film produziert hat, der ganz in die Tradition zentralperspektivischer Techniken passt – schon im Titel scheint das bestätigt zu werden. Daran, dass das Fenster als Selbstreferenz der Leinwand zu verstehen ist, lässt der Film kaum einen Zweifel. Der Film setzt ein, wie bereits erwähnt, mit einer Kame- rabewegung direkt auf das Fenster zu, die genau über dem Fensterbrett anhält, so dass der mittlere Rahmen des Flügelfensters die Leinwand buchstäblich bedeckt (Filmstill). Die Sicht auf die Kinoleinwand wird in diesem Moment vollkommen mit der Sicht aus dem Fenster identifiziert; James Stewart ist der Doppelgänger des Kinozuschauers im Film. Der Film ist aus Psychoanalyse und Bild: Das Subjekt zwischen Auge und Blick 113 der Perspektive des voyeuristischen Auges gedreht. Jeff beobachtet – gemeinsam mit dem Kinobesucher – durch sein Fenster, das ihm den Hinterhof eröffnet, das Treiben in der gegen- überliegenden Wohnung des Ehepaars Thorwald. Dabei wird er zum Schluss genötigt, dass der Mann in der Nacht seine Frau ermordet hat (vgl. Siegert 2005, S. 104ff.). Wird diese Analogie mit der Zentralperspektive aber einem Alfred Hitchcock gerecht? „Man wird immer verkennen, um was es in Hitchcocks Kino geht, wenn man seine Filme im Allge- meinen und Rear Window im Besonderen vom Standpunkt einer Objektivierung des Sehens und des Auges begreift.“ (Siegert 2005, S. 106) Vielmehr bereitet uns Hitchcock mit seiner Fensterlogik eine voyeuristische Falle. Es geht ihm nicht allein darum, zu zeigen, dass der Blick des Kinobesuchers immer ein voyeuristischer ist. Hitchcocks Interesse besteht wohl eher darin, diesen voyeuristischen Blick auf den Zuseher zurückzuwenden, d.h. den Zuseher mit seinem eigenen Blick im Bild zu konfrontieren. Die Bedingungen dafür sind von Anfang an gegeben: Jeff ist schließlich nicht der alleinige Beobachter; er ist nicht der einzige, der an den Vorfällen im Hof interessiert ist. Jeff ist gleichzeitig Beobachter und Beobachteter. „Nicht: Ich sehe mein eigenes Sehen, sondern Etwas sieht mein Sehen, eine Logik des Anderen ist am Werk. Das Fenster ist gespalten in es selbst und den Blick dahinter, jenseits von ihm, den Fleck im Fenster. Die Augenweide, mit der das Cogito zum Schauen verführt wurde, war der Köder einer Bild-Falle.“ (Siegert 2005, S. 106) Rear Window ist also beides: Ein Film über die Gier des Auges und damit den menschlichen Voyeurismus und ein Film über die Kehrseite bzw. Grenze dieses Voyeurismus, man könnte auch sagen über den Grund desselben, dem Gegenstand dieses Appetits – Lacan spricht vom Objekt klein a als der Objekt-Ursache des Begehrens, der cause (vgl. Lacan 1964, S. 134). Es ist offensichtlich, dass das Fenster, durch das wir schauen, praktisch wie ein Auge funktio- niert, da das Zimmer einer camera obscura gleicht – was sich im Zimmer diesseits des Fens- ters ereignet, ist genau das umgekehrte Bild von dem, was sich jenseits des Wohnungsfensters auf der anderen Seite des Hofs, in der Wohnung der Thorwalds also, ereignet. Hitchcock dazu: „Auf der einen Seite das Paar Stewart-Kelly, er mit dem Bein in Gips, während sie sich frei bewegen kann, und auf der anderen Seite des Hofes die kranke, ans Bett gefesselte Frau, deren Ehemann kommt und geht.“ (Hitchcock in Truffaut 1984, S. 212) Beide sind in gleicher Weise Opfer ihrer beweglichen Partner: so wie Lars das Schicksal seiner Frau besiegelt, so verstrickt Lisa Jeff in ihre Pläne; auch ist es Lisa, die den Hof überquert, um in Thorwalds Wohnung einzudringen, und es ist Thorwald, der von der gegenüberliegenden Seite in Jeffs Wohnung kommt (vgl. Siegert 2005, S. 104). Jeffs Wohnzimmer mit seinen Wänden voller Photographien – d.h. Imitationen, Kopien, Si- mulacra – ist ein Raum, den er nicht verlassen kann, an den er gefesselt ist. Er ist zu dieser Welt der Simulakra verurteilt und somit stellt Jeff einen Mann dar, der hinter seiner eigenen Netzhaut lebt. In seinen Augen ist die äußere Welt ein Schauspiel geworden. Zu Beginn des Films wird klar angedeutet, dass das, was sich jenseits von Jeffs Fenster ereignet, einer Thea- tervorstellung gleicht: Die drei Bambusjalousien gehen langsam eine nach der anderen auf und geben die Szene frei, wie im Theater, wenn der Vorhang aufgeht. Das wird noch einmal be- 114 Andreas Kriwak stätigt als LISA in einer Szene die Jalousien zuzieht mit dem Kommentar: „Die Show ist aus für heute.“ (Vgl. Božovič 1992, S. 167) Für uns als Zuschauer bedeutet das zunächst einmal, dass alles ein Schauspiel ist, ob es sich auf dieser Seite des Fensters oder auf der anderen ereignet. Sie kann also nur bedeuten, dass alles, was sich jenseits des Fensters ereignet, auch in den Augen desjenigen im Zimmer, dies- seits des Fensters, ein Schauspiel ist. Stella, die Masseuse, sagt zu Beginn des Films – natürlich auch bezogen auf Jeff: „Die Leute sollten zur Abwechslung mal aus ihren Häusern hinausge- hen und von außen hineinschauen. Wir werden eine Rasse von Peeping Toms.“ (Vgl. Božovič 1992, S. 156) Jeff ist gefangen in einem abgeschlossenen Raum, letztlich in seinen eigenen Augen. Damit nimmt er einen absoluten Blickpunkt ein – den Blickpunkt, der es ihm verunmöglicht, einen anderen, äußeren Blick- und Standpunkt einzunehmen. Bei diesem absoluten Blickpunkt han- delt es sich um einen Punkt der Innerlichkeit, der niemals nach außen getragen werden kann, ein Punkt, von dem aus wir immer nur von innen nach außen schauen und ein Punkt, den wir nicht verlassen können, ein Punkt, von dem aus wir uns nicht selbst sehen, sondern nur andere beobachten können, mit einem Wort, ein Punkt, an dem wir nichts als Voyeure sein können (vgl. Božovič 1992, S. 156). Viele Fenster, viele Menschen und ihre Geschichten bieten sich Jeff als Objekt an. Da wäre z.B. die hübsche Tänzerin „Miss Torso“. Aber nur ein Fenster, nur eine Geschichte hinter den Fenstern fasziniert ihn, weckt sein Begehren. Man könnte sagen, dass das Fenster von den Thorwalds auf Jeff zurückblickt. „Es betrifft ihn/blickt ihn an“ in anderer Weise als alle ande- ren Fenster im Hof. Thorwalds Fenster blickt anders als alle anderen Fenster auf ihn zurück, da Jeff es anders ansieht: es ist etwas an ihm, das ihn gleichzeitig anzieht und irritiert, etwas, das er bei den anderen Fenstern so nicht findet, das in dem Fenster gleichsam mehr ist als das Fenster selbst (so eine der Definitionen von Lacan für das Objekt klein a), etwas, das Jeff be- troffen macht (vgl. Božovič 1992, S. 161). Dass es sich hierbei um sein eigenes Begehren handelt, zeigt sich, als sein Freund, der Polizist Tom Doyle Jeff zur Verzweiflung bringt, indem er ihn davon überzeugen will, dass es sich beim vermuteten Mord nur um sein Hirngespinst handelt. Jeff ist verzweifelt darüber, dass es wenig Wahrscheinlichkeit gibt, dass Thorwald das bekommt, was er will – d.h. dass Thorwald sein Begehren erfüllt und seine Frau umbringt. Das reflektiert Jeffs eigenes Begehren, Lisa in der einen oder anderen Weise loszuwerden. In Reinform findet man den Lacanschen Blick bzw. den Hitchcockschen Fleck auf der Pho- tographie, die uns gleich zu Beginn des Films einen Unfall bei einem Autorennen zeigt. Diese Photographie erinnert an den Totenschädel aus Holbeins Gesandten. Wir sehen ein einzelnes Objekt, das buchstäblich in der Luft hängt, ein Objekt, das „sich nicht einfügt“, das „heraus sticht“. Der Unterschied liegt natürlich darin, dass man den Fleck in Holbeins Gemälde nur aus einem gewissen Winkel als Totenkopf erfassen kann, während Jeff buchstäblich dem Tod ins Auge blickt. Der Fleck erweist sich als ein durch die Luft wirbelndes Rad, das direkt auf Jeff zufliegt und ihn und seine Kamera zu überrumpeln droht (s. Abb. 4). Dieses durch die Luft Psychoanalyse und Bild: Das Subjekt zwischen Auge und Blick 115 wirbelnde Rad kann nicht aus sicherer Distanz beobachtet werden, es untergräbt die „neutrale“ und „objektive“ Position des Photographen. Das Rad ist der Punkt, „an dem Jeff bereits in der Photographie geschnappt ist, der Punkt, an dem er sozusagen als Photograph selbst photogra- phiert wird“ (vgl. Božovič 1992, S. 164). Einzig in Jeffs Augen, der an Thorwalds Jagd Inte- resse zeigt, ist also dessen Fenster quasi ein sehendes. Nur ein begehrendes Subjekt sieht, dass ein Etwas, der Fleck, auf es zurückblickt, da gerade dieser Fleck die Objekt-Ursache seines Begehrens materialisiert. Abbildung 4: Bild aus Rear Window, das an einer Wand in Jeff’s Wohnung hängt und den Grund seiner Verletzung zeigt. In Rear Window kehrt sich das Schema in dem Moment um – die Wende vom aktiven Sehen und Beobachten (dem Auge) zum passiven Beobachtet-Werden, dem Lacanschen Blick –, in dem Grace Kelly, die sich in detektivischer Mission in der Wohnung der Thorwalds befindet und von Lars Thorwald überrascht wird, hinter ihrem Rücken im Blick James Stewarts den Ehering der verschwundenen Frau Thorwald zu sehen gibt. Dieses fällt Thorwald auf, dessen Blick trifft zunächst Lisa, dann aber das gegenüberliegende Haus, genauer gesagt jene Woh- nung, in der Jeff alles beobachtet hat. Jeff wird sozusagen ins Bild versetzt und das heißt zu- gleich, dass er aus dem Fenster fällt. Ganz buchstäblich passiert das am Ende des Films, als Thorwald ihn aus dem Fenster wirft. Dieses „aus dem Fenster fallen“ heißt gleichzeitig „ins Bild, ins Schauspiel fallen, an dem sich die Augen aller ergötzen. Die aggressive Dimension des Blicks wird also in jener Szene offen gelegt, in der Thorwald die Distanz überwindet und am Ort des aktiven und scheinbar unbeteiligten Subjekts erscheint (vgl. Božovič 1992, S. 169). Aus dem Fenster fallen und ins Bild, ins Schauspiel fallen, will Jeff (und mit ihm die Kinozu- schauer) aber gerade nicht – wer könnte es ihm verdenken. Vor allem will er von Lars Thorn- wald nicht gesehen werden. Das wird von Hitchcock dadurch dargestellt, dass er sich dem Mörder mit Hilfe von Blitzlichtern verteidigt. Folglich will er nicht gesehen, ein Teil des Bil- 116 Andreas Kriwak des, des Schauspiels werden, sondern versucht verzweifelt, seine Position als Zuschauer auf- rechtzuerhalten. Selbst mit der kindlichen und für den Zuschauer komisch wirkenden Geste des die Hand vor die Augen Haltens und damit den Angreifer nicht sehen zu müssen und auch nicht von diesem gesehen zu werden, versucht Jeff dem Anderen zu entgehen, ihn abzuwehren. Darin nun findet man die Kritik von Hitchcock am Voyeurismus: Der Voyeur ist kein distan- zierter Beobachter des Geschehens, sondern er ist immer bereits im Bild. Der Voyeur sucht sich, „seinen eigenen Blick im Bild; er ist von seiner eigenen Präsenz, von seinem eigenen Blick im Bild fasziniert“ (Božovič 1992, S. 170). Gerade der Fleck, dieses bedrohliche Etwas ist es, das seine Aufmerksamkeit erregt. Wenn also Lacan in die Bildtheorie die wichtige Unterscheidung von Auge und Blick einführt, wobei das Auge, wie bereits erwähnt, für die (Seh-)Bewegung vom Subjekt in Richtung auf die Gegenstände geht und der Blick jenes Moment markiert, das dem Subjekt von den Objekten entgegenkommt, dann geht es Lacan dabei vor allem darum, eine Pseudosicherheit, die sich das Subjekt konstruiert und einbilde(r)t, zu subvertieren. Diese scheinbare Sicherheit kommt von einem Subjekt-Objekt- oder aber auch Innen-Außen-Denken, einem Denken in Dualismen, wie man es z.B. bei René Descartes oder Immanuel Kant antrifft. Ein derartiges Denken würde die Psychoanalyse als eine „Abwehr der Kastration“ bzw. als „Blickzähmung“ charakterisie- ren. Auf der Ebene des Blickes, die hier von Interesse war, heißt das, dass das Subjekt immer schon im Bild ist. Ich bin nicht außerhalb der Welt, sondern ich bin immer auch gesehen, auch wenn niemand da ist. Der Voyeur – der Betrachter des Bildes von Hans Holbein, Jeff in Rear Window oder aber der Kinobesucher – will am liebsten alles heimlich machen, er versucht den Anderen zu täuschen und ist auf eine Identität, eine Ganzheit aus, wie wir sie über die Bespre- chung des Spiegelstadiums kennen gelernt haben. Die Falle, die Hitchcock Jeff ebenso wie uns, den Zuschauern, gestellt hat, könnte so in der Formel der Lacanschen Kritik am Voyeu- rismus zusammengefasst werden: „Du willst also sehen? Nun gut, dann sieh das – sieh Deinen eigenen Blick!“ Literatur Borch-Jacobsen, Mikkel (1999): Lacan: Der absolute Herr und Meister. München: Fink. Božovič, Miran (1992): Der Mann hinter seiner eigenen Netzhaut. In: Žižek, Slavoj (Hrsg.): Ein Triumph des Blicks über das Auge: Psychoanalyse bei Alfred Hitchcock. Wien: Turia & Kant. Freud, Sigmund (1914): Zur Einführung des Narzissmus. In: Ders.: Gesammelte Werke, Band X: Werke aus den Jahren 1913-1917. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1999, S. 137–170. Psychoanalyse und Bild: Das Subjekt zwischen Auge und Blick 117 Hevers, Edda (2005): Hinter dem Spiegel: Lacan und die Abgründe der Malerei. In: Blümle, Claudia & Van der Heiden, Anne (Hrsg.): Blickzähmung und Augentäuschung – Zu Lacans Bildtheorie. Zürich/Berlin: diaphanes, S. 163–179. 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Die Gegenwendigkeit der Subjektivation ent- spricht der visuellen Form des Spiegels. Im Medienaktivismus werden verzerrende Spiegelungen eingesetzt, um Fremdmacht temporär zu begrenzen, eine „Destrukturierung des Untragbaren“ (Lazzarato) zu bewirken. Das Erkennen und Verstehen von Spiegelungen und Maskierungen in der visuellen Kultur ist eine wichtige Voraussetzung für ein informiertes Handeln in ebendieser. Einführung In diesem Beitrag wird die Auffassung begründet, dass Techniken der Maskierung und der Spiegelung wichtige Werkzeuge eines spontanen und ungehorsamen Umgangs mit Medien sind, welcher häufig als „Medienaktivismus“ bezeichnet wird; ferner, dass das Erkennen und Maskierungen und Spiegelungen in visuellen Umgebungen, aber auch im eigenen visuellen Verhalten, ein wichtiger Beitrag für den Erwerb visueller Kompetenz sind. Visuelle Kompe- tenz wird dabei nicht allein als die Aneignung von Techniken oder Fertigkeiten verstanden, sondern als eine Vermehrung der Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns, also auch die Entwicklung und Ausbildung solcher Techniken und Fertigkeiten. Besonders im Hinblick auf letzteres ist die aktivistische Medienkultur ein potenziell fruchtbarer Untersuchungsgegen- stand. Denn, so die These, es geht vielen Medienaktivisten und -aktivistinnen um zweierlei: um das Durchschauen und Offenlegen jener Strukturen, Netzwerke oder Verhaltensweisen, die Gegenstand von Kritik oder Protest sind, und, in Verbindung damit, um eben jenen Ausbau von Möglichkeiten der Selbstbestimmung insbesondere in den Medien. Ersteres erfordert die kritische Aneignung bestehender Kompetenzen, letzteres die Ausbildung neuer. Da Medienak- tivismus, so wie wir ihn im Folgenden verstehen, sich vor bzw. außerhalb der Produktwerdung von Medientechnologien ereignet und sich der klassischen Archivierung etwa in Museen oder Datenbanken tendenziell entzieht, stellt er ein Untersuchungsfeld dar, welches einerseits tat- sächlich Neues bieten kann, andererseits medien- und kulturwissenschaftlich kaum erfasst ist. 122 Wolfgang Sützl Wir beginnen daher mit einer näheren Erkundung des Begriffs „Medienaktivismus“ und setzen uns dann mit der Maske als visuelle Taktik des Medienaktivismus auseinander, wobei diese für den positiven, auf die Schaffung neuer Möglichkeiten der Selbstbestimmung gerichteten As- pekt des Medienaktivismus steht, während der im Anschluss besprochene Spiegel den negati- ven, unterbrechenden, Raum schaffenden Aspekt des Medienaktivismus repräsentiert. Ab- schließend werden Überlegungen zu Maske und Spiegel als visuelle Instrumente zur eigenen Kompetenzerweiterung angestellt. Medienaktivismus Der Begriff „Medienaktivismus“ hat im gängigen Gebrauch eine sehr kurze Geschichte, die sich über weite Strecken mit jener der tactical media deckt. Taktische Medien werden von Lovink und Garcia in ihrem ABC of Tactical Media wie folgt beschrieben: „Tactical Media are what happens when the cheap ‚do it yourself’ media, made possible by the revolution in con- sumer electronics and expand forms of distribution ... are exploited by groups and individuals who feel aggrieved by or excluded from the wider culture. Tactical media do not just report events, they are never impartial, they always participate and it is this that more than anything separates them from the mainstream media.“ (Garcia & Lovink 2001, S. 90) Den Begriff der Taktik übernehmen Garcia und Lovink von Michel de Certeau. In The Practice of Everyday Life wendet sich dieser vom sozialwissenschaftlichen Kanon ab, indem er das Verhalten von Verbraucher/innen als Handlung untersucht, anstatt von der gängigen, passiven Vorstellung auszugehen, nach der „Verbrauchen“ geradezu als das Gegenteil von Handlung gilt. Die Qua- lität der Handlungen von Verbraucher/innen, ihren Umgang mit den sie umgebenden Texten und Artefakten beschreibt De Certeau als „taktisch“. Unter Taktik versteht De Certeau „a cal- culus which cannot count on a ‚proper’ (a spatial or institutional localization), nor thus on a borderline distinguishing the other as a visible totality. The place of the tactic belongs to the other.“ (De Certeau 1984, xix) Taktische Medien sind demnach also Medien ohne eigenen Ort, ohne physisches Zuhause, ohne institutionelle Verankerung, aber auch ohne feste ökonomische Grundlage. Dem gegenüber beschreibt De Certeau Produzenten als jene, welche über einen eigenen Ort verfügen und deren Handlungen daher „strategisch“ sind. Strategie ist „the calculus of force- relationships which becomes possible when a subject of will and power (a proprietor, an enter- prise, a city, a scientific institution) can be isolated from an ‚environment.’ A strategy assumes a place that can be circumscribed as proper ... and thus serve as the basis for generating rela- tions with an exterior distinct from it ...“ Der taktischen Handlung des rebellious users steht also die Strategie des Produzenten gegenüber. Anders als das strategische Handeln ist takti- sches Handeln ständig in Bewegung und Veränderung, es ist daher in der Lage, die strategisch Handelnden zu überraschen und ihnen gegenüber einen temporären Vorteil zu erzielen, es ent- stehen “temporary reversals in the flow of power“ (Garcia & Lovink 2001, S. 91). Tactical media sind also nicht ontologisch stabil, sie bilden keinen fertigen, vollständigen Gegenstand, Masken und Spiegel 123 sondern sind „never perfect, always in becoming, performative and pragmatic, involved in a continual process of questioning the premises of the channels they work with.“ (Garcia & Lovink 2001, S. 91) Im Anschluss an Garcia & Lovink und De Certeau ließen sich taktische Medien wie folgt cha- rakterisieren: als ereignishaft (gegenüber gegenständlich), und als opportunistisch (gegenüber programmatisch). Beides liegt im Wesen der Taktik selbst begründet: Taktisch Handelnde stel- len keine Gegenstände her, die gegenüber anderen Gegenständen als etwas Eigenes in Erschei- nung treten, also gewissermaßen in einem Konkurrenzkampf mit anderen Gegenständen sind, sondern sie führen Wissen, Körper und Technologie in einer vorläufigen Weise so zusammen, dass sich etwas ereignet, dessen Ausgang niemals vollständig kalkuliert werden kann. Oppor- tunistisch sind taktische Medien deswegen, weil sie sich Orte, Technologien, Wissen vorüber- gehend aneignen, und zwar dort, wo es gerade möglich ist: sie nutzen jene Freiräume, welche strategisch Handlende aufgrund ihrer relativen Schwere unvermeidlich offenlassen, und jene Projektionsflächen, welche durch die Ortsgebundenheit und notwendige Sichtbarkeit der stra- tegisch Handelnden entstehen. Damit soll nicht gesagt werden, dass mit taktischen Medien keinerlei Absichten verfolgt werden, dass taktische Medien Spielzeug seien, denn auch Takti- ker verfolgen mit ihrem Handeln ein Ziel: die temporäre Umkehrung des Machtflusses – takti- sche Medien greifen stets strategisch Handelnde an, die ausgewählt und danach auf taktisches Potenzial untersucht werden. Dabei kann es sich um spezifische Institutionen oder Diskurse handeln, der Ausgang der taktischen Handlung bleibt jedoch ungewiss und ist meist überra- schend. Gerade in dieser Möglichkeit zu überraschen liegt eine spezifische Möglichkeit takti- scher Medien, machtvolle Kommunikationsstrukturen zu stören, etwa indem strategische Or- ganisationen dazu gezwungen werden, öffentlich zu einem Thema Stellung zu nehmen, obwohl die Organisation dies als nicht in ihrem Interesse sieht (z.B. Stellungnahmen zur Abschiebe- praktik durch Lufthansa als Folge der Aktion Deportation Class, http://www.noborder.org/ archive/www.deportation-class.com/). Für die betroffenen strategischen Institutionen oder Diskurse ist die Möglichkeit, überrascht zu werden, gleichbedeutend mit dem nicht zu elimi- nierenden Restrisiko, das jeden noch so genau geplanten Kommunikationsprozess unvermeid- lich begleitet. Gegen die taktische Überraschung sind strategisch Handelnde hilflos, und genau das bildet die Stärke von taktischen Medien. Ihr Schwäche liegt darin, dass Taktik es unmöglich macht, den Ausgang von Aktionen zu ver- gegenständlichen, in eine bleibende Struktur, Institution oder Technologie zu verwandeln, weil damit das bloße zeitgebundene Ereignis zu etwas Eigenem würde, was strategisches Handeln notwendig machen würde. Die taktische Medienbewegung der Neunziger-Jahre stand daher stets vor dem Zwiespalt, einerseits den eigenen Erfolg der Taktik und den Verzicht auf die Aneignung von Ergebnissen zugunsten des Ereignisses zu schulden, andererseits genau diese Stärke nur begrenzt in größerem gesellschaftlichen Zusammenhang artikulieren zu können, etwa durch Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen oder auch nur durch die Bildung von eigenen Kommunikationsstrukturen. Ein Versuch, taktischen Medien ein diskursives Zuhause zu bieten fand die Form der Next-Five-Minutes-Festivals in Amsterdam, von denen indessen nur vier stattfanden, weil offenkundig in diesem vorsichtigen und nur auf fünf Minuten ange- 124 Wolfgang Sützl legten Versuch einer „Institutionalisierung“ bereits die Schwelle von der Taktik zur Strategie überschritten wurde (http://www.next5minutes.org/). Ereignishaftigkeit und Opportunismus bilden damit auch ein Unterscheidungskriterium zwi- schen taktischen Medien (sowie aktivistischen Medien im weiteren Sinn) und alternativen Medien. Letztere sind bestrebt, eine Alternative innerhalb der bestehenden Medienlandschaft zu ermöglichen (Zitat) und verlangen von sich nicht, sich auf Taktik zu beschränken – womit sie freilich die Schwelle zum Strategischen überschreiten und die Beweglichkeit der taktischen Medien verlieren. Deutlich wird die fehlende Möglichkeit taktischer Medien, nachhaltige Strukturen zu bauen sowie sie für eine längerfristige Planung und Zielsetzungen erforderlich sind, vor allem im Zuge der globalisierungskritischen Bewegungen am Beginn dieses Jahrtau- sends (Lovink & Schneider 2008, S. 21). Indymedia mag dabei als Beispiel eines Mediums gelten, welches versuchte, die durch taktisches Handeln gegebenen Grenzen zu überschreiten und durch seine spezifische Netzwerksstruktur andererseits die Schwere einer strategischen Organisation zu vermeiden. Aber auch der Aufbau einer Infrastruktur für kritische soziale Bewegungen ist, wie Felix Stalder anmerkt, „keine taktische Aufgabe und kann lose Netz- werke leicht überfordern“ (Stalder 2008, S. 193). Im Zuge der Entstehung von Web 2.0 wurden die Infrastrukturen immer mehr von kommerziellen Akteuren kontrolliert, auch wenn sie von Aktivistinnen und Aktivisten genutzt wurden. Um die so entstehenden neuen Zensur- und Kontrollmöglichkeiten zu umgehen, ist es zu einem erneuten Interesse an infrastrukturellen Fragen im Bereich des Medienaktivismus gekommen (Stalder 2008, S. 193). Die Debatte um autonome, der Selbstbestimmung dienliche Medien verlagerte sich ab etwa 2001, auch im Zuge der auf 9/11 folgenden Einschränkungen der Freiheit von Kunst, Kommunikation und Wissenschaft, von Fragen der Taktik auf Fragen der sozialen Kontrolle von Technologie und Information: die zunehmende Kommerzialisierung von Inhalten und Infrastruktur sowie die Verschärfung der IP-Gesetzgebung erforderte eine Auseinandersetzung mit dem Thema „Zu- gang“ und „Eigentum“, wie sie im Zuge der Open-Source-Bewegung initiiert wurde (z.B. Grassmuck 2004, Lessig 2001, Stalder 2005). Manche Aktivisten und Aktivistinnen wandten sich demonstrativ-überaffirmierend dem Thema Strategie zu (Becker 2009) oder begannen sich mit theoretischen Fragen der politischen Organisation und Koordination auseinander zu setzen (z.B. Holmes 2008, Lazzarato 2004). Im Zusammenhang mit dem politischen Paradigmenwechsel, der sich in der medienaktivisti- schen Community ab Ende der Neunziger-Jahre vollzog, nämlich die Wende von einem natio- nalstaatlich und territorial begründeten Modell der Politik zu einem „globalen“ Modell, spielte die auf Foucault (2004) zurückgehende Biopolitik eine zentrale Rolle (Negri & Hardt, Agam- ben, Braidotti). Medien wurden zunehmend zu Biomedien, und Biotechnologien zu einem neuen bevorzugten Bereich medienaktivistischer Interventionen, die eine Art Fortsetzung der taktischen Medien auf molekularer Ebene bildeten. Als beispielgebend für die biopolitische Wende im Medienaktivismus mag die Arbeit der amerikanischen Gruppe Critical Art Ensem- ble gelten: mit The Electronic Disturbance (1993) und Electronic Civil Disobedience (1996) legten sie Schlüsseltexte der taktischen Medien vor, während ab 1998 (Flesh Machine) der biologische Körper und seine Manipulation anhand von Biotechnologien im Zentrum der Auf- merksamkeit stand (http://www.critical-art.net). Für Beatriz da Costa und Kavita Philip über- Masken und Spiegel 125 nehmen die künstlerisch-aktivitischen Interventionen in der Biotechnologie einen Teil des Erbes der taktischen Medien (Da Costa & Philip 2008, xviii). Masken: die Fremdheit des Eigenen In einem 2001 erschienenen Artikel vergleicht Claudia Giannetti die „Ästhetik der Interkom- munikation“ mit den Formen der europäischen Volkskulturen des ausgehenden Mittelalters, die Michail Bachtin in seiner Studie über François Rabelais untersuchte (Giannetti 2001). Gian- netti bezeichnet die Kommunikationsformen der Populärkultur bei Bachtin als „Karnevals- Modell“, welches sich durch eine Reihe von Eigenschaften auszeichne: offene, mehrschichtige Kommunikation (nicht-hierarchisch); multimediale Kommunikation; Kommunikationsstruktur des Netzwerkes; jeder ist Zuschauer und Darsteller in einer Person; räumliche Grenzen fehlen; die Aufhebung eines einheitlichen Wirklichkeitsbilds, und die Metapher der Maske. Die Maske, so Giannetti, verberge und entblöße ihren Träger/ihre Trägerin gleichermaßen: sie verbirgt seine/ihre „eigentliche“ Identität, während die Wahl einer spezifischen Maske auch etwas über ihren Träger/ihre Trägerin verrät: „ ... the masked person gives him or herself away through the choice of mask in question.“ (Giannetti 2001, S. 164) Die Maske ist für Giannetti eine Metapher für die Relativität der Existenz, „affecting both the concept of identity and the equivalence between mind and body, between the personal subjective world and the unattaina- ble exterior world.“ (ibid.) Für Bachtin stelle die Masken-Metapher die Transformation oder das Brechen von natürlichen Grenzen dar. Das Karnevals-Modell, schreibt Giannetti, gelte auch für die virtuellen Welten des Internet: auch hier handle es sich um einen Raum ohne Außengrenzen, indem vielerlei Hierarchien aufgehoben werden, wo Menschen multimedial kommunizieren, und wo vor allem Masken getragen werden und Identitäten frei gestaltet wer- den können „On the Internet, nobody knows you’re a dog“ lautete der Text zu einem 1993 im New Yorker erschienenen und mittlerweile legendären Cartoon von Peter Steiner, der zwei Hunde vor einem PC zeigt. Für das taktische Agieren von Aktivistinnen und Aktivisten boten die unzähligen Formen der Maskierung im Internet eine Fülle von Möglichkeiten, sich Orte, Identitäten, Erscheinungsbil- der, Texte, Technologien temporär anzueignen, um nach vollzogener Aktion wieder im Cyber- space zu verschwinden. Dieser Hit-and-run-Taktik der „Kommunikationsguerilla“ waren die Großorganisationen zunächst nicht gewachsen, denn je größer diese sich im Netz präsentierten, je neuer die eingesetzten Technologien, desto größer auch die Flächen, die Aktivisten und Aktivistinnen nutzen konnten. So, wie sich in der Antike auf großen Palastmauern schöner und sichtbarer Graffiti anbringen ließen als auf Hütten, so wurde das Internet im Laufe der Neunzi- ger-Jahre zu einem Straßentheater der taktischen Medien. Wo am Marktplatz Gaukler und Buffonen Kirchenherren und Fürsten mit Spott überzogen, erschienen im Internet falsche Web- seiten, Avatare, Hacker, Doppelgänger und zahlreiche andere Arten der Masken und Masken- träger. 126 Wolfgang Sützl Die Ästhetik der Maske des Karnevalsmodells darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Möglichkeit zum Tragen einer selbst gewählten Maske nicht einfach nur Schabernack, sondern von einer politischen Bedeutung ist, die es schwierig machte, die Interventionen von Aktivisten und Aktivistinnen als harmlose Spielerei abzutun oder als Straftaten zu verfolgen. Denn die Wahl der eigenen Maske ist, wie auch Giannetti erkennt, nichts anderes als die Mög- lichkeit einer selbstbestimmten Bildung einer eigenen Identität, die, wie im Karneval, gleichbe- rechtigt neben der Identität anderer steht. Es geht bei ihr um die Freiheit zur Identitätsbildung und die damit verbundene Schwächung der Subjektivität, beides Themen, welche die Utopie des selbstbestimmten Menschen in der Demokratie widerspiegeln. Frei ist, wer sich nicht vor- schreiben lassen muss, wer er/sie ist, weil er/sie sich selbst nicht als gegeben annehmen muss und damit sich selbst fremd sein, aus sich selbst heraustreten kann. Es ist diese Möglichkeit des Heraustretens aus sich selbst, welche jeder Form von Selbstbestimmung zugrunde liegt, weil sie ein „Anderes“ der Macht darstellt und damit der Macht den Zugriff auf die Person er- schwert. Der moderne Datenschutz mag ein Beispiel dafür sein, wie Bürgerinnen und Bürger das Recht haben müssen, das, was von ihnen sichtbar ist, gewusst werden kann, in Erfahrung gebracht werden kann, selbst zu kontrollieren, um so Bürgerinnen/Bürger zu bleiben und nicht zu „Subjekten“ zu werden, die unmittelbar und ohne Rekursmöglichkeit einer Gewalt ausge- liefert sind. Deutlich wird die tiefere Bedeutung der Maske in diesem Zusammenhang im Denken Friedrich Nietzsches, wo sie eine Art roten Faden bildet, welcher sich durch die verschiedenen Schaf- fensperioden dieses Philosophen zieht (Vattimo 1974). Bereits in der Geburt der Tragödie kritisiert Nietzsche heftig den Realismus des sokratischen Dramas: die Einführung von Ursa- che und Wirkung durch Euripides beklagt er als den Untergang der attischen Tragödie und in der Folge der authentischen griechischen Kultur. Das ehemals Tragische löst sich nun in einem Realismus auf, in welchem das „dramatische Urphänomen: sich selbst verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einem andern Leib in einen andern Charakter einge- gangen wäre“ verloren geht (Nietzsche 1999, S. 61). Die einzige Maske, die es noch gibt, ist die Maske der Wirklichkeit selbst, die jedoch keine bindende Letztinstanz darstellt, sondern wiederum nur eine Maske der Masken ist. So beginnt Nietzsche die Gegensätze zwischen den verschiedenen Ausbildungen der Masken-Metapher (Fiktion, Lüge, Schein, Traum etc.) einer- seits, und der Wirklichkeit (Realität, Wahrheit, Sein, Nüchternheit etc.) aufzulösen. Der Inter- pretation Vattimos folgend ist überall dort, wo Anspruch auf eine bindende Letztinstanz er- hoben wird, keine Wahrheit gefunden worden, sondern nur Macht, die sich nicht mehr begrün- den und daher auch nicht direkt in Frage stellen oder gar widerlegen lässt. Das Spiel mit Mas- ken, wie es von Medienaktivisten und -aktivistinnen betrieben wird, ist daher ein Aufmüp- figsein gegen die Macht, welche die Macht nicht in Form eines Widerspruchs herausfordert – ein solcher ist bei einem Machtanspruch, der sich nicht begründen lässt, ja gar nicht möglich, er lässt sich nicht moralisch kritisieren oder logisch falsifizieren – sondern vielmehr in Form des Spiels eine Differenz zur Macht herstellt. Daraus entsteht eine Verunsicherung, auf welche die Macht nicht mit den herkömmlichen Methoden der Disziplinierung oder Unterdrückung antworten kann, sondern nur mehr mit dem Herstellen von Sicherheit, also mit der Reduzie- Masken und Spiegel 127 rung von Variablen in Gesellschaft und Kultur im Sinne einer Voraussagbarkeit von Ereignis- sen und einer Fixierung von Identitäten. Diese politische Bedeutung des Maskierens als Behauptung von Eigenmacht äußert sich auch in der Debatte um das Vermummungsverbot bei Demonstrationen, welches in Österreich seit 2002 und in Deutschland seit 1985 in Kraft ist. Während die Befürworter auf der Identifizier- barkeit der Demonstrierenden aus Gründen der Sicherheit beharren, führen die Gegner grund- rechtliche Bedenken ins Treffen, also jene Rechte, die es einem Bürger/einer Bürgerin ermög- lichen sollen, über sich selbst zu bestimmen, was in diesem Fall heißt, über die eigene Maske, die eigene visuelle Erscheinung. Diese Form der visuellen Selbstbestimmung ermöglicht es, das Recht auf Versammlungs- und Redefreiheit auszuüben, ohne Gefahr zu laufen, identifiziert und erfasst zu werden, womit auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung berührt wird. Aus sich selbst herauszutreten, sich selbst fremd zu sein, ist also eine Voraussetzung für plura- listische, demokratische Formen des Zusammenlebens. Jedes Mal, wenn Aktivisten und Akti- vistinnen daher Masken benutzen, seien diese nun elektronisch oder stofflich, wird diese Fremdheit zu sich selbst als Grundvoraussetzung dafür, der Macht ein Anderes entgegenzuset- zen, in Anspruch genommen. Masken sind damit keine Spielerei oder Verbrechen, sondern Instrumente des Politischen, allerdings in einer Form, die sehr wohl das Spielerische mit ein- schließt und nutzt und in der Lage ist, die Macht herauszufordern, denn überall dort, wo keine vollständige Übereinstimmung zwischen ausgeübter Fremdmacht und dem Verhalten von Menschen hergestellt werden kann, existieren „Spielräume“, die taktisch genutzt werden kön- nen bzw. solche Spielräume werden eben durch das Heraustreten aus sich selbst – die Maskie- rung geschaffen. Abbildung 1: Demaskierung: computerlesbares Passbild des Autors, neutraler Gesichtsausdruck 128 Wolfgang Sützl Angesichts dieses Potenzials der Maske ist es kein Zufall, dass Sicherheitstechnologien stets Elemente der Demaskierung beinhalten. Ein Beispiel dafür ist die Biometrie, das digitale Ver- messen von Körpereigenschaften (digitaler Fingerabdruck, Gesichtserkennung, Iris-Scan, etc.), bei der der Körper objektiviert und der autonomen Sphäre von Bürgerinnen und Bürgern ent- hoben wird. Bei der Biometrie wird die spezifische Gestalt des Körpers selbst als Sicherheitsri- siko, als Möglichkeit der Maskierung, der Täuschung begriffen und auf einen berechenbaren und damit universal austauschbaren digitalen Code heruntergebrochen. Der unvermessene, un- erfasste, nicht gerasterte Körper wird zu einem zu eliminierenden Sicherheitsrisiko, ein Um- stand, den vor allem Menschen ohne Papiere in Form von Rechtlosigkeit zu spüren bekommen, der sich aber auch schon in Reiseerschwernissen für Menschen mit nicht-biometrischen Reise- pässen zu zeigen beginnt. Identität wird mit Sicherheitstechnologien wie der Biometrie als „Unmaskiertheit“ gesetzt, wird zur „offiziellen“, vor dem Staat einzig gültigen Identität von Bürgerinnen und Bürgern. Wie weit dieser Drang zur Demaskierung geht, lässt sich daran er- messen, dass auch das unmaskierte Gesicht verdächtigt wird, jederzeit zur Maske werden zu können, indem es den Ausdruck verändert. Die neue Generation von biometrisch verwertbaren Passbildern erfordert daher ein ausdrucksloses Gesicht, ein Gesicht, das nichts über den ab- gebildeten Menschen aussagt, sondern allein eine Folie für Vermessungen darstellt (vgl. http://www.passbildkriterien.at/oesterreich_neu.html). Damit markiert das ausdruckslose Ge- sicht im Reisepass einen vorläufigen Höhepunkt der technischen Demaskierung, wobei es nicht ohne Ironie ist, dass viele einen ebensolchen Gesichtsausdruck als „maskenhaft“ beschreiben würden. Abbildung 2: Der Wiener Karlsplatz wird an Nike verkauft. Masken und Spiegel 129 Nicht wenige Medienaktivisten und -aktivistinnen zielen in ihren Aktionen daher direkt auf Technologien, Strategien und Diskurse der Sicherheit: als Beispiel seien die Aktionen des Institute for Applied Autonomy (http://www.appliedautonomy.com/) oder der Global Security Aliance (http://global-security-alliance.com/) genannt (Sützl & Cox 2008). Ebenso ist die Vermessung des Körpers, und unter den gegebenen patriarchalen Verhältnissen vor allem des weiblichen, Zielscheibe aktivistischer Interventionen (subRosa 2008). Sowohl Sicherheit als auch Körperlichkeit sind überdies zentrale Themen der oben schon angesprochenen biopoli- tisch angelegten Formen des Medienaktivismus, die u.a. auch das Ziel verfolgen, die tieferen kulturellen Konstruktionen innerhalb der Lebenswissenschaften sichtbar zu machen (Vanouse 2008, Da Costa & Philip 2008). Festzuhalten ist hier, dass die Maske als visuelles Werkzeug von Aktivistinnen und Aktivisten eine Ausdrucksform ist, die ihren Ursprung in der Möglich- keit, sich selbst fremd zu sein hat, und dass in dieser Möglichkeit eine Voraussetzung für jegli- che Art der Selbstbestimmung ist. Mit der Technik der Maskierung erfolgt also eine Stärkung von Eigenmacht. Spiegel: das Eigene der Fremdheit Bei näherer Betrachtung des ausdruckslosen Gesichts („neutraler Gesichtsausdruck“) zeigt sich bald, dass es ein völlig ausdrucksloses Gesicht nicht geben kann: selbst die „Ausdruckslosig- keit“ ist ein Ausdruck, nämlich der Absicht, nichts auszudrücken. Die Demaskierung erreicht also keinen Endpunkt, an dem das, was von unserem Bild bleibt, als etwas Anderes als wir selbst erkennbar wäre, ebenso wenig, wie es als das Eigene erkennbar ist, denn alles „Eigene“ ging im Prozess der Demaskierung verloren (und deshalb wird das ausdruckslose Gesicht als „maskenhaft“, eben als nicht das eigene, wahrgenommen). Auf der Suche danach, was nach der Demaskierung von uns geblieben ist, stoßen wir weder auf eine äußere Macht, noch auf den eigenen Willen, sondern darauf, wie wir aus der Sicht der Macht sein sollen und können. Um also den Prozess der Demaskierung begreifen zu können, müssen wir ihn als Form der Subjektivation sehen – jenes Prozesses der Subjektbildung, der einhergeht mit Unterwerfung. Judith Butler beschreibt mit Bezug auf Foucault den Prozess der Subjektivation so: „Verstehen wir mit Foucault Macht auch als das, was Subjekte allererst bildet oder formt, was dem Subjekt erst seine schiere Daseinsbedingung und die Richtung seines Begehrens gibt, dann ist Macht nicht einfach etwas, gegen das wir uns wehren, sondern zugleich im strengen Sinne das, wovon unsere Existenz abhängt und was wir in uns selbst hegen und pflegen.“ (Butler 2001, S. 8) In der Subjektivation werden wir zu Subjekten, das heißt einerseits zu handlungsfähigen Indivi- duen, andererseits werden wir eben in dieser Subjektwerdung bereits durch die Macht konsti- tuiert. Ein Versuch, sich gegen die Macht zu wehren ist unter diesen Bedingungen immer auch ein Wehren gegen die eigene Subjektivität und damit ein Widerspruch. „Diese Form der Macht wird unablässig durch eine Figur der Wendung gezeichnet, eine Rückwendung auf sich selbst oder gar gegen sich selbst.“ (Butler 2001, S. 9) 130 Wolfgang Sützl Auf visueller Ebene entspricht diese Figur der Gegenwendigkeit dem Spiegel. Das eigene Er- scheinungsbild, die eigene Bewegung, die eigene Geste wird nahezu zeitgleich zurückgewor- fen, die nach außen gerichtete Geste erweist sich im Moment ihrer Äußerung als innerlich: Das Äußere der Macht ist immer auch schon das Verinnerlichte der Macht. Spiegel stellen visuell das reflexive Element der Subjektivation als Unterordnung dar, sie zeigen uns, was wir sind, insofern wir es sein sollen, und was wir wollen, insofern wir es wollen sollen. Spiegel sind visuelle Instrumente der Fremdmacht, insofern diese Fremdmacht sich im Prozess der Sub- jektivation der Eigenmacht bemächtigt. In der visuellen Kultur zeigen uns Spiegel, dass das eigene Begehren von der Fremdmacht nicht zu unterscheiden ist. Der Spiegel ist aber nicht nur ein visuelles Instrument der Subjektivation. Er ist auch ein Sym- bol für Wahrheit, für das So-Sein der Wirklichkeit, das keinen Kommentar oder Einspruch zulässt, sondern allein eine Kenntnisnahme. Wie Rorty gezeigt hat, ist der Spiegel die zentrale Metapher der Erkenntnistheorie, der Möglichkeit, die Welt zu sehen, so wie sie ist, indem sie im Inneren eines cartesianischen Subjekts, in dessen Geist, gespiegelt wird (Rorty 1981). Die- ser Wahrheitsanspruch des Spiegels verknüpft mit der Subjektivation erweist sich demnach auf der Ebene der visuellen Kultur als die von Foucault vertretene Abhängigkeit des Wissens von der Macht im Allgemeinen, und von der liberalen Form des Regierens insbesondere, in der eine Verschiebung von der Unterdrückung von Handlungen durch eine äußere Machteinwir- kung hin zu einer Kontrolle der Folgen von Handlungen durch Disziplinierung erfolgt. In Fou- caults Machtanalyse wird Macht jedoch nicht als einseitig ausgeübter Zwang verstanden wie in der klassischen Definition Webers, sondern als Kräfteverhältnis, d.h. als Resultat zweier ge- geneinander gerichteter Kräfte. Wo immer Macht ausgeübt wird, existiert daher auch eine Ge- genbewegung, ein Widerstand, der die Macht als solche erst zur Erscheinung bringt. Im visuellen Instrumentarium des Medienaktivismus lässt sich diese Gegenbewegung am bes- ten mit gefälschten Webseiten und visuellen Symbolen veranschaulichen: bereits legendär sind fakes der Yesmen, etwa die gefälschte Webseite der World Trade Organization (http://www.gatt.org/), welche nach außen der Originalwebseite sehr ähnlich ist, jedoch Inhalte transportiert, welche der WTO unterstellt werden, anstatt ursprünglich von ihr zu stammen: etwa die Ankündigung eines formalen Marktes für Sklaverei in Afrika, die in Wahrheit eine überaffirmierende Kritik der WTO-Politiken in Afrika darstellt. Ähnlich agieren die Yesmen mit anderen Medien, etwa gefälschten Ausgaben der New York Times, die das Ende des Irak- Kriegs ankündigten (http://theyesmen.org/hijinks/newyorktimes), oder der New York Post, in welcher, als Kritik der Klimapolitik führender Industriestaaten, unmittelbar bevorstehende Klimakatastrophen geschildert werden (http://theyesmen.org/hijinks/newyorkpost). Überdies treten die Yesmen erfolgreich als falsche Vertreter von Großunternehmen (http://theyesmen.org/hijinks/bbcbhopal) oder internationalen Organisationen bei Konferenzen und im Fernsehen auf, wo sie den jeweils angegriffenen Organisationen Äußerungen in den Mund legen, die diese niemals offen machen würden, und die auf eine „Korrektur“ abzielen: die Yesmen beschreiben ihre Mission als „identity correction“ (http://theyesmen.org/). Andere Aktionen wie „Nikeground“ von Public Netbase und 0100101110101101.org (http://www.0100101110101101.org/home/nikeground/website/index.html), die den Wiener Karlsplatz an den Sportbekleidungshersteller Nike verkaufte, um ein Zeichen gegen die Kom- Masken und Spiegel 131 merzialisierung des öffentlichen Raums zu setzen, oder das „Asylabwehramt“ von ubermor- gen.com (http://www.asylabwehramt.at/), die auf die laufende Verschärfung der Asylgesetzge- bung in Österreich zielt, verfahren ähnlich: sie alle spiegeln die angegriffenen Einrichtungen oder Diskurse visuell und demaskieren sie gleichzeitig, indem sie in überaffirmierender Weise Sachverhalte ans Licht bringen, die ansonsten hinter den jeweiligen Masken verborgen blieben. Die Wirkungsrichtung der Macht wird so, wie es bei Garcia & Lovink heißt, temporär umge- kehrt. Abbildung 3: Rundsiegel des Asylabwehramts (ubermorgen.com) Die Spiegelung im Medienaktivismus wendet also die Demaskierung an ihren Ursprung in der Macht zurück, sie begrenzt Fremdmacht, und sie tut dies auf eine spezifische Weise, nämlich indem sie verunsichert und stört. Während die Demaskierung im Zusammenhang mit (politi- scher, ökonomischer, symbolischer) Macht dem Diskurs der Sicherheit eingeschrieben ist, stellen aktivistische mediale Spiegelungen eine Störung dieses Diskurses dar. Diese Störungen können eben deshalb wirksam sein, weil die Form der Spiegelung einen Wahrheitsanspruch auf seinen Ursprung zurückwirft. Dabei ist wesentlich, eine Störung von einem Widerspruch oder einer argumentierenden Kritik zu unterscheiden. Denn ein Sicherheitsdiskurs zeichnet sich da- durch aus, dass er durch Widersprüche gestärkt wird, weil er kein Äußeres, Anderes zulassen kann. Kritische Einsprüche gegen das Sicherheitsdenken laufen daher stets Gefahr, mit ihrem Gegenstand eins zu werden (Sützl 2007). Die Spiegelung, wie wir sie hier beschrieben haben, 132 Wolfgang Sützl ist daher keine direkte, verlustlose Umkehrung, sondern eine verzerrende, maskierende Um- kehrung. Die Verzerrung oder Übertreibung stellt das Element der Maskierung innerhalb der Spiegelung dar, und es ist nicht zufällig, dass in einer Lage, in der der direkte Widerspruch wirkungslos zu sein droht, Ironie und Humor eine Rolle spielt, die der von Bachtin beschriebe- nen und von Giannetti in den Bereich der elektronischen Kommunikation übertragenen Ästhe- tik des Karnevals ähnelt. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Institutionen der Sicherheit sich durch eine grimmige Ästhetik des Ernstes auszeichnen, dass das Lächeln auf Passfotos als Sicherheitsrisiko eliminiert wird und auf Flughäfen Späße über die Sicherheitsmaßnahmen sogar mit sofortiger Festnahme sanktioniert werden (Echavarría u. Koppensteiner 2008). Denn in Ironie und Humor und insbesondere in der ironisierend-verzerrenden Spiegelung liegt prä- zise jene radikale Differenz zur Sicherheit, aber auch zu den Strategien der „Global Players“, gegen die diese einen Moment lang machtlos ist, weil ihnen die Spiegelung nicht widerspricht, und damit nicht entspricht. Die ironisierend-maskierende Spiegelung markiert den toten Win- kel der Strategie und lässt damit eine temporäre Umkehrung eines Machtverhältnisses zu. Aktivistische Maskierungen und Spiegelungen richten sich allerdings nicht allein gegen staatli- che Strategien des Sicherns und der damit einhergehenden Reduzierung von kulturellen Vari- ablen und Freiräumen, sondern ebenso gegen kommerzielle Interessen, wo diese die Möglich- keiten zu erschaffen beschränken, etwa durch die Vereinnahmung von Öffentlichkeit sowohl räumlich als auch in den Medien. Nikeground.com ist ein Beispiel dafür, wie die Vereinnah- mung von Öffentlichkeit und von Alltagssymbolen durch einen globalen Konzern wirksam gespiegelt werden kann. Schluss In einem Beitrag über die Intermittents et précaires d’Ile de France untersucht Maurizio Laz- zarato die „politische Form der Koordination“ – neue Formen des Widerstands, die auf Koor- dination anstatt auf Repräsentation eins Unrechts basieren und sich damit radikal von der sozi- alistischen und kommunistischen Widerstandstradition unterscheiden. „Es handelt sich um eine Politik des Experimentierens, die eine Absetzung der vorausgesetzten Wissensformen bewirkt und sich dem Unbekannten öffnet, ohne das kein neues Leben vorstellbar ist.“ (Lazzarato 2004) In dieser Form artikuliere sich kein Widerspruch, sondern Differenz. Medienaktivismus lässt sich vor allem unter dem Gesichtspunkt der taktischen Medien und ihrer Folgeerschei- nungen als ein solcher Ausdruck von Differenz begreifen. Dabei kann die Maskierung als das gesehen werden, was Lazzarato als die „Artikulation neuer Lebensmöglichkeiten“ bezeichnet (Lazzarato 2004), oder als „Schaffung möglicher Welten“ (Lazzarato 2003). Das Heraustreten aus sich selbst durch das Schaffen von Maskierungen ist zum einen ein Grundzug visuellen Verhaltens, der auf die Möglichkeit der Identitätsbildung selbst zurückgeht. Die Maskierung erhöht die Zahl der kulturellen Variablen, sie erzeugt ein komplexes Zusammenspiel, das neue, wenn auch unstabile Möglichkeiten des Daseins, der Kommunikation, der Produktion öffnet, innerhalb derer sich eine Differenz zu bestehenden Machtverhältnissen artikulieren lässt. Das Masken und Spiegel 133 Thema Maske hat also nicht nur eine visuelle und kulturelle Dimension, sondern eine eminent politische. Umgekehrt sind Techniken der Demaskierung für jene Bereiche der Politik charakteristisch, die sich aus „Sicherheitsgründen“ am ehesten der demokratischen Kontrolle entziehen, nämlich jenen der Sicherheit. Die in der Politik der Sicherheit sich vollziehende Subjektivation ent- spricht dem auf Foucault zurückgehenden Doppelbild von Erschaffung und Unterwerfung. Wenn das eigene Bild ein von der Macht erzeugtes Bild ist, dann findet eine Spiegelung statt: man begegnet sich auf der Suche nach der Macht nur selbst. Dies zeigt sich nicht nur in den Geheimhaltungsprotokollen der staatlichen Sicherheit, die sich als Ausdruck des Volkswillens rechtfertigen, sondern auch in der Manipulation des Begehrens durch Werbung, wenn das Streben nach dem Eigenen nur mehr als das eigene Verlangen nach einem Produkt kommuni- zierbar ist. In beiden Bereichen haben Medienaktivisten und -aktivistinnen mit Techniken der Spiegelung erfolgreich interveniert, wobei Spiegelung und Maskierung in Form von Verzer- rungen, Übertreibungen, Ambivalenzen, Überaffirmationen u.Ä. zusammenwirken. Spieglun- gen als Begrenzung von Fremdmacht lassen sich in Anschluss an Lazzarato als „Destrukturie- rung des Untragbaren bezeichnen“, als negative Manifestation einer Widerstandshandlung. Aus dem Gesagten lässt sich folgern, dass das Erkennen von Maskierungen und Spiegelungen nicht nur ein Aspekt visueller Kompetenz sind, sondern in der visuellen Kultur beheimatete Voraus- setzungen für Kompetenz, also die Möglichkeit selbstbestimmten Handelns und der Kritik überhaupt. Visuelle Ausdrucksformen einer Differenz zur Macht werden in einer Kultur, in der Bildschirme jede Alltagshandlung begleiten und Visualisierungen verschiedenster Formen zu- nehmend die Möglichkeit von Handlungen bestimmen, zur Voraussetzung von demokratischer Politik. 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In weiterer Folge löst sich das Blicken zusehends vom menschlichen Subjekt, in dem Maße wie Maschinen zu sehenden Objek- ten werden, ersetzen virtuelle die „natürlichen“ Bilder, synthetische Bildwelten entstehen, die zu einer Entleerung des Universums und zum Verschwinden der Orte führen. Virilio sieht darin eine Gefahrenquelle; das aktive Sehen wird zusehends zum passiven „Beschossenwerden“ mit Bildern, zu einem bewusstlosen, dyslexischen Sehen. Paul Virilio, der sich selbst als Theoretiker der Geschwindigkeit und als Begründer einer neuen Wissenschaft bezeichnet, die er „Dromologie“ nennt und die Technikgeschichte, Kriegsstrate- gie, Urbanistik, Ästhetik, Physik und Metaphysik verbindet, setzt sich in dieser 1988 unter dem Originaltitel La machine de vision erschienenen Studie mit dem Wandel des Blicks durch die Erfindung der Photographie und in weiterer Folge der Kamera, des Films, des Videos ausei- nander.1 Diese Geschichte der Veränderung des Blicks verbindet er zugleich mit Überlegungen zur Bedeutung des Lichts, welches er wiederum in engen Zusammenhang stellt mit der Ge- schwindigkeit, gipfelnd in der Frage, ob das Licht ein Resultat der Geschwindigkeit oder die Geschwindigkeit eine Eigenschaft des Lichts sei. Eingebunden sind seine Überlegungen in die Auseinandersetzung mit der Relativierung von Raum und Zeit durch die Einstein’sche Relati- vitätstheorie und durch die Quantenphysik. Letztlich sieht Virilio den Ursprung der Verände- rung des Blicks im Kriegswesen: Die Fokussierung durch die Linse, das Schießen von Bildern bis hin zu den Strategien der Überwachung durch Maschinen… all dies sind Auswirkungen einer Entwicklung, die in einem Zustand gipfelt, den er in der Metapher der „Sehmaschine“ fasst; eine Maschine, die nicht mehr von einem Menschen bedient wird, die nur mehr akribisch Bilddaten erfasst. Mit seinen mitunter verstörenden und provokanten Thesen ebenso wie mit der eigenwilligen, zum Teil polemischen Schreibweise, die sich weniger systematisch-argumentativ, als vielmehr essayistisch dem Thema nähert, erweist sich der Text gleichermaßen als anregend für die mit diesem Sammelband aufgeworfenen Fragestellungen wie zugleich in seiner Vielschichtigkeit 1 Siehe Klappentext zur deutschen Ausgabe des Werks im Merve Verlag, die als Grundlage für diesen Beitrag herange- zogen wurde (Virilio 1989). Paul Virilio: Die Sehmaschine 137 als nicht leicht zu fassen. Virilio schreibt nicht nur, vielmehr zeichnet er mit seinen Texten Bilder. Seine Auseinandersetzung mit dem Visuellen ist, wie er selbst ausführt, in seiner Bio- graphie verankert; er war ein Schüler von Maurice Merleau-Ponty und arbeitete mit Malern wie Henri Matisse und Georges Braque (Armitage 2000a, S. 28): „I’m so involved in the world of painting and the world of art that I don’t speak about it much in my books because I live it! I’m a painter who writes, you know! Surely you feel that my books are very visual – they’re very, very, visual books! They’re not words, they’re visions!“ (Armitage 2000b, S. 16) Virilio entzieht sich klaren Zuordnungen, er selbst bezeichnet sich als Humanist und Christ. Mit 18 Jahren konvertierte er zum Christentum als so genannter Arbeiterpriester, der im Kon- takt mit den Industriearbeitern selbst sein Gehalt verdient und sich für die Armen und Obdach- losen einsetzt; insbesondere arbeitete er mit Abbé Pierre zusammen (Armitage 2000a, S. 29). Dies ebenso wie die Erfahrung des Blitzkriegs, des totalen Kriegs haben seine Biographie wie seine gesamte Arbeit geprägt: „Another thing is that I am a very marginal thinker, I do not relate to any estab- lished school of thought. Of course, I am a phenomenologist. When young, I was a pupil of [Maurice] Merleau-Ponty, I loved [Edmund] Husserl. You could call me a ‚Gestaltist‘, I was enthusiastic about the psychology of form, Paul Guil- laume, and the Berlin school: these are my intellectual origins. I have been asso- ciated with the end phase of structuralism, with [Michel] Foucault, of course, and [Gilles] Deleuze. But I am essentially a marginal figure. The main influence in my work has been the Second World War, that is, strategy, spatial planning, and this body of thinking about total war of which I was victim in my youth.“ (Armitage 2000a, S. 26) Virilios Ansatz wird häufig als „kulturpessimistisch“ attribuiert; bei aller Warnung, die er gegenüber den Veränderungen des Menschen und seiner Umwelt durch die Maschinen, die Technik, die Entlokalisierung und Geschwindigkeit ausspricht, bleibt seine Sicht dennoch dif- ferenziert: „Many people only seem to notice the pessimistic side of my writing. They don’t realize that it’s the global dimensions of the twentieth century that interest me – both the absolute speed and power of the twentieth century’s telecommunica- tions, nuclear energy and so on, and at the same time the absolute catastrophe of this same energy! We’re living with both of these things!“ (Armitage 2000b, S. 8) Dieser Beitrag versteht sich als eine Annäherung an Virilios Text, um diesen für die mit die- sem Band angerissene Diskussion nutzbar zu machen. Gerade da sich Virilios Buch einer sys- tematischen Analyse entzieht und der Reiz nicht zuletzt in seiner visuellen Sprache liegt, ori- entiert sich dieser Beitrag eng an Virilios Text, zeigt seine Argumente und jene thematischen Linien auf, die für die Diskussion einer Geschichte des Blicks besonders anregend zu sein scheinen. Die Gliederung folgt im Wesentlichen der Kapitelgliederung, die Virilio selbst wählt, 138 Christina Antenhofer erweitert um einige thematische Aspekte, die gesondert herausgestrichen wurden. Im Fokus steht das erste Kapitel, in dem Virilio kompakt die wichtigsten Etappen der historischen Ver- änderung des Blicks seit der Erfindung optischer Apparate in der Renaissance bis hin zur Ent- wicklung von Photographie und Film im 19. und 20. Jahrhundert nachzeichnet. Diese Schwer- punktsetzung auf das erste Kapitel erfolgt vor der Überlegung, dass Virilios Reflexion über die historische Veränderbarkeit und kulturelle Determiniertheit des Blicks von zentraler Bedeutung für die in diesem Band diskutierte Frage nach den Grundlagen und der Beschaffenheit einer „Visuellen Kompetenz“ ist. Kapitel I: Eine topographische Amnesie Das erste Kapitel beginnt Virilio mit den Gesprächen von Paul Gsell und dem Bildhauer Au- guste Rodin über die Frage, wie es möglich sei, dass Rodins in Erz und Stein gehauene Bild- nisse tatsächlich in Bewegung zu sein scheinen, während andererseits Momentaufnahmen von Personen Bewegung nicht wiedergeben können; vielmehr entsteht der Eindruck, die Person würde in der Luft hängen, in einer völlig unmöglichen Bewegung. Rodin führt hierzu aus: „der Künstler ist wahr, und die Photographie lügt; denn in Wirklichkeit steht die Zeit nicht still: und wenn es dem Künstler gelingt, den Eindruck einer mehrere Au- genblicke lang sich abspielenden Gebärde hervorzubringen, so ist sein Werk ganz sicher min- der konventionell, als das wissenschaftlich genaue Bild, worin die Zeit brüsk aufgehoben ist.“ (Rodin 1979, zit. nach Virilio 1989, S. 13)2 Nur der Künstler ist demnach in der Lage, in einem einzigen Bild mehrere auf die Zeit verteilte Bewegungen zu verdichten. Steht der Betrachter vor dem Bildnis, so wird er durch das Bildnis gezwungen, seinen Blick in Bewegung zu setzen und damit der Bewegung im Kunstwerk zu folgen; der Effekt der Bewegung wird durch diese natürliche Bewegung erzeugt, indem man den Blick selbst bewegt. Die Wahrhaftigkeit des Werkes hängt somit laut Virilio zum Teil von diesem Bewegungsanreiz ab, der für das Auge des Betrachters erzeugt wird.3 Das Kunstwerk benötigt somit zur Entfaltung seiner Wirkung ein Publikum, es braucht Zeugen, es dringt in eine zeitliche Tiefe der Materie vor, die auch die der Betrachter ist. Genau dieses Nachvollzie- hen der Dauer wurde durch die Erfindung der photographischen Unmittelbarkeit, so Virilio, gleichsam hintertrieben. Die Erfindung des beweglichen Bildes im Kino versetzte gewisserma- ßen die gesamte Kunst in eine Art Lähmung, die Geschwindigkeit hatte die Dauer gleichsam abgelöst. 2 Die Hervorhebungen folgen hier und im Folgenden den Hervorhebungen, welche Virilio selbst in seinem Text vor- nimmt. 3 Hier ergibt sich eine interessante Parallele zur unterschiedlichen Art des Sehens, wie sie Hans Belting am Beispiel der Gegenüberstellung abendländischer im Vergleich zur orientalischen Kunst aufzeigt. Die orientalische Kunst kenn- zeichnet sich gerade durch einen lesenden Blick, der Ornamente abtastet, ihren Linien folgt und darin zugleich Genuss und Vergnügen empfindet, während der abendländische Blick – insbesondere geprägt durch die Perspektivierung des Blicks in der Renaissance – dieses bewegte Lesen nicht (mehr) kennt; hier findet sich ein schauendes, bildhaftes Blicken, kein lesendes. Vgl. hierzu Belting 2008. Paul Virilio: Die Sehmaschine 139 Dies hat laut Virilio weitreichende Auswirkungen auf das menschliche Bewusstsein, denn er sieht die Dauer selbst als eine Produktion des Bewusstseins: „Wenn Bergson sagt, der Geist ist ein Ding, das dauert, könnte man hinzufügen: es ist unsere Dauer, die denkt, fühlt und sieht. Die erste Produktion unseres Bewußtseins wäre demnach seine eigene Geschwindigkeit gegenüber der Zeit, wodurch die Geschwindigkeit zu einer kausalen Idee wird, zu einer Idee vor der Idee.“ (Virilio 1989, S. 16) Man könnte Virilios Aussage auch weiter denken: die Dauer ist die Zeit des Menschen, die Geschwindigkeit ist die Zeit der Maschine. Diese Überlegungen zum Funktionieren des Bewusstseins und – so lässt sich implizit anneh- men – der Rolle mentaler Bilder führen Virilio hin zur Skizzierung einer besonderen Art von Gedächtnistraining, der so genannten „topographischen Methode“: Diese bereits seit der An- tike überlieferte Memorisierungstechnik, der sich antike Rhetoriker bedienten, besteht darin, dass man sich komplexe Reihenfolgen durch deren Verknüpfung mit Orten merkt. Es entsteht damit gleichsam ein Skript, eine Art mentales Video, anhand dessen zugleich Orte, Bilder und Inhalte aufgezeichnet werden. In dem Maße wie nun das menschliche Bewusstsein die Fähig- keit verliert, mentale Bilder überhaupt aufzuzeichnen, verliert es laut Virilio auch die Möglich- keit, derartige Skripten herzustellen, was wiederum das Bewusstsein an und für sich maßgeb- lich verändert. Diese Überlegung gipfelt in Virilios zentraler These in diesem ersten Kapitel, die er auf Seite 19 dezidiert artikuliert: Die optischen Apparate haben seit ihrem Auftauchen diese mentalen Bilder massiv beeinflusst, insbesondere die Vorstellungskraft, das Umsetzen in mentale Bilder ebenso wie die topographischen Kontexte der Aufnahme und der Rekonstruktion von mentalen Bildern. Je besser wir in der Lage sind, die ganze Welt photographisch abzubilden, umso mehr verlieren wir das „schwache“ Vermögen uns das noch nie Gesehene in der Phantasie vorzu- stellen. „Seit ihrem Auftauchen haben die ersten optischen Apparate (die Camera obs- cura von Al Hazen im 10. Jahrhundert, die Arbeiten von Roger Bacon im 13. Jahrhundert, die weite Verbreitung von optischen Hilfsmitteln seit der Renais- sance, Mikroskope, Linsen, astronomische Fernrohre…) die topographischen Kontexte der Aufnahme und Rekonstruktion von mentalen Bildern beträchtlich verändert. Vor allem das ‚man stelle sich vor’, diese Umsetzung der Phantasie in Bilder, die Descartes zufolge, den Mathematikern so hilfreich ist und die er als einen wirklichen Teil des Körpers, veram partem corporis, betrachtete. In dem Moment, wo wir uns die Mittel verschaffen wollen, das, was man im Universum noch nie gesehen hat, in immer größerem Maßstab und immer besser zu sehen, befinden wir uns an einem Punkt, an dem wir das schwache Vermögen verlieren, uns das noch nie Gesehene in der Phantasie vorzustellen.“ (Virilio 1989, S. 19– 20) 140 Christina Antenhofer In der Renaissance ortet Virilio den Beginn dieser Entwicklung. Hier kam es ihm zufolge zu einer ersten „Verwirrung der Sinne“; die Betrachter/innen konnten das Bild teilweise nur mehr mit Hilfe bestimmter optischer Geräte richtig wahrnehmen, ganz abgesehen von der Verände- rung des point de vue. Mechanische Geräte wurden sofort auch ideologisch eingesetzt als Pro- pagandainstrumente, mit denen etwa die Jesuiten die Chinesen beeindruckten und damit Missi- onarisierungserfolge erzielten. Über Galileos Ansicht, dass die Sprache des Universums die Mathematik sei, wendet sich Virilio nun der Vermittlung von Sprache zu. Parallel zu den mechanischen Apparaten der Bildproduktion habe der Buchdruck den Beginn zu einer Druckindustrie gelegt, die später als „Artillerie des Denkens“ bezeichnet wurde, ein Name, der auf ihre Verwendung für diplomati- sche und militärische Propaganda hinweist und sein Pendant in Marcel L’Herbiers Bezeich- nung „Rotationsmaschine für Bilder“ (Virilio 1989, S. 22) für seine Kamera findet. Den Ge- waltaspekt unter militärischem Vorzeichen, den Virilio bereits für die mechanischen Apparate der Photo(re)produktion geortet hatte, sieht er nun ebenso in der Entwicklung der Schrift gege- ben, und zwar selbst in der historischen Gestaltung des typographischen Schriftbildes, das er wiederum militärischen und propagandistischen Interessen zuschreibt: „Seit der Antike konnte man eine zunehmende Vereinfachung der geschriebenen Buchstaben und später des typographischen Schriftbildes feststellen, die der Be- schleunigung bei der Übermittlung von Botschaften entsprach und logischer- weise zu einer radikalen Verkürzung des Inhaltes der Information führte. Diese Tendenz, aus der Zeit der Lektüre eine ebenso intensive Zeit wie beim gespro- chenen Wort zu machen, ist aus den taktischen Notwendigkeiten der militäri- schen Eroberung und vor allem des Schlachtfeldes entstanden, einem Feld der flüchtigen Wahrnehmungen, dem privilegierten Raum für die Sichtweise von Reitern, von schnellen Anreizen, Parolen und anderen kriegerischen Logotypen.“ (Virilio 1989, S. 23) Auf dem Schlachtfeld sieht Virilio jenen Ort, wo die gesprochene Sprache – aufgrund der enormen Ausdehnungen und des Lärms – ihre Rolle verlor; stattdessen kamen Signalfahnen, Wimpeln zum Einsatz, und es entwickelte sich eine visuelle und zugleich „eine entlokalisierte Sprache, die nun zu kurzen und fernen Blickwechseln zusammengefaßt wurde und damit jene Vektorialisierung einleitete, die 1794 mit der ersten oberirdischen Telegraphenlinie zwischen Paris und Lille Gestalt annahm und dem Konvent den Sieg der französischen Truppen bei Condé-sur-l’Escaut verkündete.“ (Virilio 1989, S. 23) Die Entwicklungen der Renaissance hatten demnach dazu geführt, dass Text und Bild vom Ort ihrer ursprünglichen Erzeugung ebenso wie von den Subjekten der Erzeugung gelöst wurden. Diese Entwicklung fasst Virilio im Begriff der „entlokalisierten Sprache“. Mit dieser unmittel- baren Verfügbarkeit und allgegenwärtigen Präsenz der audiovisuellen Geräte wurden die alte Problematik des Ortes der Entstehung von mentalen Bildern und die Bemühung um die Stär- kung des natürlichen Gedächtnisses nun endgültig obsolet. Virilio bezeichnet diese Geräte als „visuelle und audiovisuelle Prothesen“ (Virilio 1989, S. 25). Durch deren industrielle Verbrei- tung und den „unmäßigen Gebrauch dieser Gerätschaften zur unmittelbaren Übertragung seit Paul Virilio: Die Sehmaschine 141 dem frühesten Kindesalter erlebt man von nun an eine immer stärkere Codierung von mentalen Bildern, die kaum noch gespeichert und wiederverwertet werden“ (Virilio 1989, S. 25). Zuvor hatte der Blick die Kommunikation begleitet, Raum und Zeit abgetastet, bevor die Geste und das Wort folgten. Bei den so entstandenen Bildern handelte es sich um „Bilder unserer Gedan- ken, als unsere Gedanken und kognitiven Funktionen, die keine Passivität kennen.“ (Virilio 1989, S. 25) Um diese These zu illustrieren, skizziert Virilio ein Experiment zur Steuerung des Blicks mit Neugeborenen: Hält man einen etwa drei Monate alten Säugling auf Gesichtshöhe in den Ar- men und schwenkt das Kind langsam von links nach rechts, so rollt es die Augen in entgegen gesetzte Richtung, um das Gesicht der Person, die es hält, im Blick zu behalten; diese Übung bereitet dem Kind Freude und Vergnügen.4 Das Kind freut sich auch deshalb, so Virilio, weil es sich in einer „ideal menschlichen Position“ befindet (Virilio 1989, S. 26), ideal deshalb, weil es alles erreichen kann, was in seinem Gesichtsfeld ist. Hierzu zitiert er Maurice Merleau- Ponty: „Alles, was ich sehe, ist prinzipiell in meiner Reichweite, zumindest in der Reichweite meines Blickes, es ist vermerkt auf der Karte des ›ich kann‹“ (Merleau-Ponty 1984, S. 16, zit. nach Virilio 1989, S. 26). Mit der Entlokalisierung des Blicks, wie sie durch die mechanischen Apparate bewirkt wurde, wird somit zugleich eine der Grundlagen für das menschliche Glück zerstört, das Gefühl näm- lich, die Dinge zu erreichen, die man sieht (und anstrebt) und damit zugleich auch das Gefühl des „ich kann“. Laut Virilio war es gerade dieser Aspekt der Verbindung von Blick und Reichweite, der im menschlichen Blick implizierte Gedanke des „ich kann“, der verhinderte, dass die Kunst je obszön war. So erklärt er auch, dass sich Modelle, die bereitwillig vor Malern posierten, weigerten, nackt vor der Kamera zu stehen. Das Photographieren empfanden sie als einen pornographischen Akt. Weitergedacht kann man also schließen, dass es laut Virilio Por- nographie wohl nur in Photos und Film geben kann, nicht jedoch in der Malerei und Bildhaue- rei.5 „Mit den Übertragungsgeräten wird somit nicht das produktive Unbewußte des Sehens geschaffen, von dem zu ihrer Zeit die Surrealisten angesichts des Kinos und der Photographie träumten, sondern seine Bewußtlosigkeit, ein Phänomen der Vernichtung von Orten und von Erscheinung, dessen künftige Tragweite man nur schwer ermessen kann.“ (Virilio 1989, S. 27–28) 4 Auch hier lässt sich wieder an Hans Beltings Ausführung zu den orientalischen Ornamenten denken: In Koran Manu- skripten wechselten Ornament- mit Textseiten, damit der Lesende die Augen entspannen konnte, indem er den Blick die Linien des Ornaments entlang tasten ließ. „Die geometrische Ordnung nimmt dabei den Charakter eines kosmi- schen Zeichensystems an, in welchem der Betrachter seine Augen diszipliniert und zugleich anregt. Was in einem Bild das Verhältnis zwischen Figur und Grund ausmacht, kehrt auf den Zierseiten im Verhältnis von Geometrie und Buch- seite wieder. In dieser Analogie wirkt die Zierseite für unsere heutigen Augen abstrakt, doch haben wir dafür nicht mehr den gleichen Blick eingeübt.“ (Belting 2008, S. 88) 5 Die Frage muss offen bleiben, wie es sich mit Photo- und Videokunst verhält; wenn Virilio hier von „Kunst“ spricht, scheint er tatsächlich Malerei und Bildhauerei zu implizieren, nicht jedoch eine Kunst, die selbst wieder mit Apparaten arbeitet. 142 Christina Antenhofer Die photomechanischen Apparate verhindern laut Virilio den Erwerb von mentalen Bildern, der niemals spontan geschieht, sondern vielmehr eine nach und nach sich verfestigende Wahr- nehmung darstellt. Da dieser Prozess der allmählichen, sich nach und nach verfestigenden Wahrnehmung heute laut Virilio zusehends zurückgedrängt wird, sind wir ihm zufolge letztlich alle Voyeure, die sich nur für Details interessieren und ihre Computer als große Abstellräume nutzen, die nicht mehr vergessen können.6 Virilio folgert aus dieser Situationsbeschreibung, dass wir es nun mit einem regelrechten „dyslexischen Sehen“ zu tun haben: „Seit langem haben die jüngeren Generationen Schwierigkeiten zu verstehen, was sie lesen, weil sie nicht in der Lage sind, sich das Gelesene vor-zustellen, sagen die Lehrer…Für sie haben die Worte aufgehört, Bilder hervorzurufen, weil die immer schneller wahrgenommenen Bilder die Worte ersetzen müßten, wie die Photographen, die Stummfilmer, die Propagandisten und die Publizisten zu Anfang des Jahrhunderts gemeint haben. Heute ist nichts mehr da, was sie ersetzen könnten, und die Analphabeten und Dyslexiker des Blickes werden immer mehr.“ (Virilio 1989, S. 29) Diese Entwicklung gehe einher mit einer geradezu physischen Veränderung des Sehens im Auge: Dies sei nicht länger das fokussierende Sehen, sondern immer häufiger eher ein Irren an der Peripherie, das durch diesen „Beschuss“ mit Bildern bewirkt werde und fast zu Betäu- bungszuständen führe. Die Rolle von Licht und Glanz Mit dieser pessimistischen Diagnose der Veränderung, ja Pathologisierung des Blicks, der zu einer regelrechten physischen Deformierung des Sehens im Auge führt, kommt Virilio auf das Thema des Lichtes und dessen Instrumentalisierung zu sprechen. Licht, so führt er seine Be- trachtungen zur Veränderung des Sehens weiter, werde zur Konditionierung der Massen einge- setzt. Damit wendet er sich der Beleuchtung in einer historischen Dimension zu. In der Einfüh- rung der Beleuchtung von Straßen sieht er eine bahnbrechende historische Veränderung: Plötzlich wurde die Nacht hell; Ende des 17. Jahrhunderts gab es in Paris Beleuchtungsin- spektoren, deren Aufgabe es war, die Menschen zu beruhigen und sie dazu zu ermutigen, nachts außer Haus zu gehen. Das Licht symbolisiert und bedeutet allerdings nicht nur Sicherheit, es ist zugleich ein Zeichen von Wohlstand. Die „Sucht nach Glanz“ kennzeichnet demnach die neuen Eliten. Taghelle Beleuchtung verschaffte Illusionen – Theater, Paläste, reiche Stadthäuser oder fürstliche Gärten wurden dadurch regelrecht verwandelt. Beleuchter, Feuerwerker begeisterten die Massen; sie 6 Hier verweist er auf die amerikanische Künstlerin Laurie Anderson: „Nun wird gerade dieser Vorgang des Erwerbs heute zurückgedrängt, und wie viele andere kann die junge amerikanische Künstlerin Laurie Anderson sagen, daß sie nur eine Voyeurin ist, die sich nur für Details interessiert; ansonsten ‚benutzt sie,’ wie sie sagt, ‚als unendlich großen Abstellraum jene Computer, die tragischerweise nicht vergessen können.‘“ (Virilio 1989, S. 29) Paul Virilio: Die Sehmaschine 143 waren es, die ursprünglich als „Impressionisten“ bezeichnet wurden. Durch die solcherart er- folgte permanente Blendung aber verlor die Linse ihre Fähigkeit sich anzupassen; vermehrte Augenleiden seien die Folge gewesen. Man suchte nun in der Nacht nicht mehr Menschen, sondern das Licht selbst. Das Licht wurde aber auch als Methode eingesetzt, um etwa die Obdachlosen am Verkriechen und dem Suchen eines Schlafplatzes zu hindern. „Weil die zeitgenössischen Architekten und Stadtplaner ebensowenig wie andere diesen psychotropen Zerrüttungen, dieser topographischen Amnesie entgehen konnten, die von den Neuropathologen als Elpenor-Syndrom oder als unvoll- ständiges Erwachen bezeichnet wurde, könnte man beinahe mit Agnès Varda sagen, daß die Städte, die am meisten einen städtischen Charakter haben, in sich die Möglichkeit tragen, ein Nirgendwo zu sein…die Traumkulisse des Ver- gessens.“ (Virilio 1989, S. 34) Virilio führt sodann die Bedeutung von Licht und Glanz am Beispiel der nationalsozialisti- schen und futuristischen Architektur aus, um nach diesem Exkurs wieder auf das Thema des topographischen Gedächtnisses zu kommen: Als es dieses noch gab, konnte man laut Virilio von Generationen des Sehens sprechen und sogar von einer Vererbung des Sehens von einer Generation an die nächste. Durch die Entstehung der Logistik der Wahrnehmung und die damit verbundene Delokalisierung komme es nun zu einer „Eugenik des Blicks, zu einer sofortigen Abtreibung der Vielfalt von mentalen Bildern und der Vielzahl von Bild-Geschöpfen, die dazu verurteilt waren, nicht mehr auf die Welt zu kommen und niemals irgendwo das Tageslicht zu erblicken.“ (Virilio 1989, S. 37–38) Damit einher gehe zugleich eine Veränderung der Persönlichkeit. Der Psychologe Gustave Le Bon habe bereits 1916, mitten im ersten Weltkrieg, festgestellt, dass die Idee des Menschen als mit einer festen Persönlichkeit ausgestattet heute eine Fiktion sei. Während die Landschaft durch den Krieg unaufhörlich Verwüstungen ausgesetzt wurde, fiel ihm auf, dass die einstige (angebliche) Stabilität der Persönlichkeit vor allem auf der Unveränderlichkeit ihrer Lebensbe- reiche beruhte. Dieser Lebensbereich war im Weltkrieg jedoch zu einem permanent über- wachten Schlachtfeld geworden. Propaganda Ausgehend von dieser Überlegung wendet sich Virilio abschließend dem Thema der Propa- ganda zu. Der Ursprung des Wortes Propaganda liege in der propaganda fide, der Verbreitung des Glaubens. Propaganda wird nun verglichen mit militärischen Verfahren. Die Kamera ist ein Zielgerät, das nie das Ganze sondern nur Ausschnitte sieht, die sie ins Visier nimmt: „Trotz der langen Debatte um das Problem der Objektivität von mentalen und instrumentalen Bildern ist die revolutionäre Veränderung des Sehens nicht klar erkannt worden, und die Fusion/Konfusion von Auge und Objektiv, der Über- gang vom Sehen zur Visualisierung ist ohne Schwierigkeiten Bestandteil der 144 Christina Antenhofer Lebensgewohnheiten geworden. In dem Maße, wie der menschliche Blick er- starrte und seine natürliche Geschwindigkeit und Sensibilität verlor, sind umge- kehrt die Filmaufnahmen immer schneller geworden.“ (Virilio 1989, S. 41) Dies hat zur Folge, dass man nun mit Photokameras wie mit Maschinengewehren schieße und die Menschen zusehends zu Zeugen ihrer Photographien statt zu Zeugen irgendeiner Wirklich- keit werden. Die so entstandenen Bilder führten zusehends ein Eigenleben; völlig losgelöste Zeichen, Bilder, Logotypen überziehen seit Beginn des 20. Jahrhunderts das europäische Wahrnehmungsfeld: „Geometrische Markenzeichen, Initiale, das Hakenkreuz, Chaplins Sil- houette, der blaue Vogel von Magritte oder der rotgeschminkte Mund von Marilyn führen ein parasitäres Eigenleben, das sich nicht nur durch die Möglichkeit der technischen Reproduzier- barkeit erklären läßt, von der seit dem 19. Jahrhundert so oft die Rede war.“ (Virilio 1989, S. 42–43) Virilio beschließt das Kapitel mit einem historischen Blick auf die Entwicklung der Bilder und der Malerei. Durch die Photographie wird das Detail hervorgeholt, gerät in den Fokus, fesselt den Blick. Diese Art von Bild, das den Blick fokussiert, bestimmte Details hervorhebt und andere verschwommen lässt, ist nicht nur ein Ergebnis der durch die Kamera erfolgten Fokus- sierung, sondern vor allem einer immer intensiver werdenden Beleuchtung. Bereits seit der Antike habe man sich mit der Erforschung von Maltechniken befasst; Vitruv habe bereits da- rauf verwiesen, dass man sich schon in der Antike darum bemühte, insbesondere den Theater- dekorationen die Illusion von Tiefe zu geben. Im Mittelalter wurde hingegen in der sakralen Kunst eine Parallele zwischen Sehen und Erkennen gezogen. Entsprechend gab es in der mit- telalterlichen Malerei keine unscharfen Bildabschnitte; alles war im Licht der Erkenntnis, was der Goldhintergrund signalisierte. Die Auswirkungen der Photographie bergen laut Virilio Gefahren für die Künstler in sich: Impressionisten und Pointilisten näherten sich ihm zufolge den Techniken der Photographie; Futurismus und Surrealismus setzten auf optische Effekte und gerieten in die Nähe der Wer- bung durch den Synkretismus von Bild und Wort – dies sieht er auch bei Magritte in „beängs- tigender“ Form verwirklicht. Die optischen Geräte, die Seh-Instrumente machen jedoch Virilio zufolge den Körper des Künstlers im selben Maße überflüssig, wie das Licht selbst das Bild (gewissermaßen ohne Beteiligung des Menschen) hervorbringt. Im Abendland seien der Tod Gottes und der Tod der Kunst untrennbar miteinander verbunden. Diesen Zusammenhang von Bildern, Wahrnehmung und Erkenntnis, Religion, Selbstvergewis- serung bündelt Virilio im Ausspruch des byzantinischen Patriarchen Nikephoros aus dem Bil- derstreit des 9. Jahrhunderts, mit dem er dieses erste Kapitel beendet: „Wenn man das Bild abschafft, so verschwindet nicht nur Christus, sondern auch das ganze Universum.“ (Virilio 1989, S. 49) Kapitel II: Weniger als ein Bild Der Photographie ging es laut Virilio zunächst weniger um das Schaffen eines Bildes, vielmehr interessierte die Leuchtkraft, es ging darum „Impressionen“ festzuhalten. Paul Virilio: Die Sehmaschine 145 „Die übernatürliche Wirkung des Lichtes, das entscheidende Problem der stillge- stellten Zeit bei der photographischen Pose, verleiht dem Tageslicht ein Zeitmaß, das unabhängig von dem der astronomischen Tage ist, eine Teilbarkeit von Licht und Zeit, bei der man an die Scheidung erinnert wird, die in der Bibel am Ur- sprung der Virtualitäten der sichtbaren Welt steht.“ (Virilio 1989, S. 55) Entscheidend war die Erkenntnis, dass man das Licht festhalten, bannen konnte. So wirkte auch das Kino weniger wie ein öffentliches Bild, sondern eher als eine öffentliche Beleuch- tung, eine Funktion, die bisher kein anderes Kunstwerk außer der Architektur erfüllen konnte. Im Kino wurden den Zuschauern Licht und Lichtgeschwindigkeit zur gleichzeitigen Rezeption geboten. Mit der Erfindung der Photographie war die Sicht der Welt nun nicht mehr nur eine Frage der räumlichen, sondern auch die einer zeitlichen Entfernung, die man mit diesem Me- dium überwinden konnte. Das Objektiv der Kamera ersetzt das menschliche Auge und verfügt nach der Meinung der Pioniere der Photographie auch über den Vorteil der größeren Ge- schwindigkeit, mit der komplexe Bewegungen festgehalten werden können. Doch auch hier folgert Virilio kulturpessimistisch: „Indem nun die Photographie die ,Beweise‘ für die Realität vermehrte, entleerte sie diese gleichzeitig.“ (Virilio 1989, S. 59) Die Überlegungen der Rolle des Objektivs bei der „objektiven“ Abbildung der Realität führen Virilio zur Quanten- und zur Relativitätstheorie. Er postuliert, dass die Einsteinsche Theorie bewusst mit einem Verbot belegt worden war; gerade weil sie so brisant sei, wurden nur we- nige Versuche unternommen, sie für die Menge klar und verständlich darzustellen, weil nicht erwünscht war, dass diese Erkenntnisse einer breiteren Leser/innen/schaft zukommen. Es geht ihm hier somit um die Erschütterung des Objektivitätsdogma, in dessen Wortwurzel das Ob- jektiv, die Maschine, die mechanische „Erkenntnis“ steht, die außerhalb jedes Einflusses eines Subjekts stehen sollten. Doch auch das Objektiv greift in die Realität ein, gestaltet sie, kann diese nicht neutral, „realistisch“ abbilden (vgl. aktuell Daston & Galison 2007). Zentral ist Virilios Schlussfolgerung, dass durch die Photographie, durch das Kino, eine neue Form des Gedächtnisses und der Erinnerung an historische Ereignisse entstanden sei. Hier wäre der gesamte Bereich der Kriegsphotographie und Kriegsdokumentation in Filmen, das Genre des Dokumentarfilms einzuführen. Doch so sehr sich diese Medien um Objektivität bemühen, so bleiben sie dennoch laut Virilio Opfer ihrer Perspektiven: „,Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit‘, erklärte paradoxerweise Rudyard Kipling, einer der Väter der englischen Dokumentarschule, und das Kino, das sich mit dem Realitäts- prinzip messen wollte, ersetzte schließlich das etwas elitäre Dogma von der Objektivität des Objektivs durch das nicht weniger perverse von der Unschuld der Kamera.“ (Virilio 1989, S. 67) „Utopischer“ Blick: Mensch und Maschine Der Blick des Menschen ist gebunden an die Maschinen, die er benutzt. So ist laut Virilio der Blick des Abendlandes auch der Blick des antiken Seefahrers; er verweist auf die Bedeutungen 146 Christina Antenhofer des Schiffs aber auch des Flugzeugs für die Prägung des Blicks, Bewegung und Blick fließen ineinander (was sich besonders deutlich im Futurismus zeigt). „Von Homer bis Camoës, Shakespeare oder Melville bleibt die Kraft der Bewe- gung in Aktion mit einer metaphysischen Poetik verbunden, einer Art von Zu- sammenprall, bei dem der Maler und Dichter in ihrem Werk verschwinden, weil das Werk in dem Universum verschwindet, das es geschaffen hat, weil jedes vollkommene Werk den Wunsch erweckt, darin zu leben. Aber die ,Flügel dieses Wunsches‘ sind im Abendland Segel und Ruder, eine umfangreiche Ausrüstung, ein technisches Know-how, das durch die ständige Perfektionierung seiner Zweck-Mittel-Relation und die Weiterentwicklung seiner eigenen Regeln die unvorhersehbaren Regeln des poetischen Zufalls immer weiter verdrängt.“ (Virilio 1989, S. 73–74) Damit setzt Virilio den Künstler mit dem Abenteurer gleich, dem Utopisten, der neue Welten sucht, imaginiert (der also nicht Realitäten abbildet). Die italienischen Futuristen trieben dies an die Spitze mit ihrem Gedanken der Verwandtschaft von Mensch und Maschine, Instrument. Virilio vergleicht den Vormarsch der Kultur mit dem Vormarsch einer Armee. So entsteht die Gleichzeitigkeit verschobener kulturgeschichtlicher Etappen, wie er sie anhand eines Zitats von Adolf Loos illustriert: „Ich lebe vielleicht im jahre 1908, mein nachbar aber lebt um 1900 und der dort im jahre 1880. […] Der kalser bauer lebt im zwölften jahrhundert“ (Loos 1982, S. 82, zit. nach Virilio 1989, S. 78). Entlang dieser Entwicklung der Geschwindigkeit, des Lichts, der Maschinen organisieren sich neue Formen des Kulturtourismus, die die alten Destinationen der Kulturreisen (Italien und Rom) ersetzten, die neuen Industrienationen zu Zielen der modernen „Pilgerreisen“ machten: London und Großbritannien als Land der Dampfmaschinen und der industriellen Geschwin- digkeit, gefolgt von Paris und Frankreich, dem Land der Photographie, des Kinos und der Luft- fahrt, wurden zu bevorzugten Tourismusdestinationen. Darauf folgten dann New York und die USA, die Sieger des Zweiten Weltkriegs. Mittlerweile gehe es nicht mehr um das Ziel, sondern um die Geschwindigkeit selbst, das Überwinden von Orten: „Der strategische Wert des Nicht- Ortes der Geschwindigkeit hat den des Ortes heute endgültig ersetzt“ (Virilio 1989, S. 79). Kapitel III: Das öffentliche Bild Einen weiteren Schnitt in der Entwicklung vom photographischen Blick zur Sehmaschine setzt Virilio mit der französischen Revolution, die aus der Beleuchtung ein Herrschaftsinstrument machte. Das totalitäre Streben des europäischen Abendlandes ist laut Virilio die Omnivision, die Formierung eines vollständigen Bildes durch die Ausschließung des Unsichtbaren. Dieses Zustandekommen eines totalen Bildes sei von der Beleuchtung abhängig, die durch die Ge- schwindigkeit ihrer eigenen Gesetze in zunehmendem Maße jene Bilder vernichtet, die ur- sprünglich vom Universum ausgingen. Diese Bilder des Universums strahlten laut Virilio nicht nur auf die Dinge aus, sondern sie drangen auch in Körper ein. Die Beleuchtung und damit einhergehend die permanente Untersuchung dringen ihm zufolge nun in die privaten Bereiche Paul Virilio: Die Sehmaschine 147 ein und bewirken, dass sogar innerhalb der Familien jede übermittelte Meldung nicht nur ge- fährlich ist, sondern auch zu einer persönlichen Waffe werden kann. Virilio weist darauf hin, dass sich dieser Gedanke ebenso bei Lacan und seinem Ich lasse es euch nicht sagen! findet, bei Michel Foucault in Die Geburt der Klinik und Überwachen und Strafen, bei Roland Barthes Die helle Kammer (Virilio 1989, S. 85). So entwickelte sich im 19. Jahrhundert, im Zuge der Revolutionen, als neue Art des Sehens der „öffentliche Blick“; dieser strebt vor allem die Ermittlung von spontanem Wissen an, eine Art von Wissen im Rohzustand. Dies ging einher mit der Methode der Untersuchung, die zunächst zur Zerstreuung des Publikums eingesetzt wurde, das diesem Procedere beiwohnte. Entspre- chend formulierte Benjamin über das Kino-Publikum: „Das Publikum ist ein Examinator, doch ein zerstreuter“ (Benjamin 1974, S. 505, zit. nach Virilio 1989, S. 86–87). Eng damit in Zu- sammenhang erfolgten die Entwicklung der Presse, des Journalismus sowie die Herausbildung eines kriminologischen Blicks in der nun entstehenden Gattung des Kriminalromans; es kam zur Erneuerung des Romans durch analytische Studien, die die Autoren durchführten (z.B. Gustave Flaubert). In diesen Romanen ging es letztlich darum, die Leser/innen dazu zu brin- gen, eine Art „optische Rekonstruktion“ der geschriebenen Bilder durchzuführen.7 In der Kunst entstanden in dieser Zeit „realistische“ Bilder, die den Realismus auf die Spitze trieben. Als Beispiel nennt Virilio Géricaults Portraits von Wahnsinnigen, die eine „kaltblü- tige“ Wahrnehmung wie jene eines Mediziners einnehmen, „die es dem Arzt oder Chirurgen erlaubt, das Übel nur durch den Gebrauch der Sinne und durch die Verdrängung jeder Emotion zu diagnostizieren, welche sich durch Erschrecken, Ablehnung oder Mitleid ergeben könnte“ (Virilio 1989, S. 94). Ab 1818 entstand das Riesengemälde des Schiffsuntergangs der Medusa, welches Entsetzen in der Kunstwelt auslöste. Die gewaltigen Ausmaße von 35 qm steigerten die realistische Wir- kung noch zusätzlich. In diese Entwicklung sind auch die Panoramen einzureihen, Rundge- mälde, die zugleich eine Architekturform und ein Gemälde darstellen. Der Besucher wird hier zum Voyeur; in den bewegten Panoramen wird er zum unbeweglichen Reise-Voyeur. Das bewegte Panorama ist bereits eine Maschine zum Transport des Sehens; den Höhepunkt er- reichte das passive, bewegte Sehen dann im Kino. Die Formen des Sehens ohne Gesehen zu werden führen weiter zum Blick des Anthropologen und des Soziologen. Dieser ist ein in höchstem Grade äußerlicher, unbeteiligter, beobachtender Blick, wissenschaftlich zementiert in der Formel der „teilnehmenden Beobachtung“ bzw. des „ethnologischen Blicks“. Die Begegnung mit den Kolonien und deren Methoden hatte einen großen Einfluss auf die Mittel und Arten der wissenschaftlichen und technischen Untersu- chungsformen der großstädtischen Polizei. Mit der Einführung des Fingerabdrucks als Be- weismittel verlor der Augenzeuge an Bedeutung. Die Identifizierung des Fingerabdrucks wurde am 24. Oktober 1902 erstmals erfolgreich durchgeführt und zur Klärung eines Falles 7 Der nouveau roman wird dann später versuchen, aus der Kameraperspektive zu erzählen; siehe die Romane von Marguerite Duras. 148 Christina Antenhofer eingesetzt. Dadurch erfolgte zugleich die damit einhergehende Bedeutungslosigkeit des Be- richtes des Augenzeugen, desjenigen, der da war. Fortan bezeichnete der menschliche Blick laut Virilio nicht mehr, er organisierte nicht mehr die Suche nach der Wahrheit und die daraus resultierende Zusammensetzung ihres Bildes (Virilio 1989, S. 105). Der Fingerabdruck wurde laut Virilio in der Folge „zum Werkzeug der drei großen Instanzen des Lebens und des Todes“: Justiz, Armee und Medizin (Virilio 1989, S. 106). Eine weitere Steigerung bildete die Zulassung von Videofilmen, die aus Überwachungskameras stammen. Kapitel IV: Die versteckte Kamera Das Thema der Überwachungskameras führt Virilio zur Frage des dokumentarischen Photo- graphierens und Filmens, wie sie vor allem im Krieg ihren Anfang nahmen. Kriegspropaganda und -journalismus zeichneten weitere wichtige Etappen in der Geschichte der Photographie. Die Überwachungskameras führten zum völligen Verschwinden der Subjektivität des Sehens. Das Photo gilt nunmehr als ein objektives Dokument, ein unwiderlegbares Zeugnis. Es wird zum Mittel der Luftaufklärung, die permanent, Tag für Tag Bilder, Millionen von Abzügen produziert; doch der objektive Blick ist nur eine Illusion, denn auch diese Bilder müssen gele- sen, interpretiert, entziffert werden. Den Leuten im Hinterland den Krieg zu zeigen, blieb hauptsächlich eine Aufgabe der Maler, der Photographen. Die Abfälle von Nachrichtenfilmen wurden in der Folge zu einem beliebten Montagematerial für Spielfilme, die Realität wurde selbst zum Regisseur: „Wenn Abel Gance während der Dreharbeiten zu seinem Napoleon (1925-1927) in vollem Schaffensrausch in seinem Tagebuch notierte: ‚Die Realität ist ungenü- gend…‘, so freute sich der Kritiker André Bazin 1947, als er die Montagen von alten Wochen- schauen ansah, daß er nicht Regisseur geworden sei, weil die Realität, wie er sagt, ihre Insze- nierungen besser hinkriegt als irgendjemand anderes und vor allem in völlig unnachahmlicher Weise.“ (Virilio 1989, S. 119) Das Kino wurde zum Propagandainstrument, über das die Beeinflussung der Massen erfolgte. Doch die Photographen und Filmer blieben letztlich abhängig von den Interessen der Politiker und Militärs: Mit dem Atomblitz von Hiroschima erfuhr die Geschichte der Photographie eine weitere Wende. Jene Photographen, die so sehr zum Sieg der Alliierten über die Nazis beige- tragen hatten, sollten dann allerdings auch die amerikanische Niederlage im Vietnam beschleu- nigen. Als die Militärs begriffen, dass die Photographen ihren Interessen schadeten, wurden sie wiederum aus den Kampfhandlungen ausgeschlossen. Der Falklandkrieg war beispielsweise ein Krieg ohne Bilder. Es entstand nun eine Art „detektivischer“ Journalismus, wie er im Wa- tergate Skandal gipfelte. Die Terroristen kehren mittlerweile so Virilio die Rollen um, sie betreiben selbst „wilden Do- kumentarismus“, indem sie der Presse Videos und Photos zuspielen. Kapitel V: Die Sehmaschine „Jetzt nehmen mich die Gegenstände wahr, hat bereits der Maler Paul Klee gesagt.“ (Virilio 1989, S. 135). Dieser polemische Satz, mit dem Virilio das letzte Kapitel eröffnet, birgt in sich Paul Virilio: Die Sehmaschine 149 den Kerngedanken des ganzen Buches: Der Wandel von Subjekten, die beobachten, hin zu Objekten, die abbilden, führt schließlich dazu, dass nicht länger die Menschen die Welt wahr- nehmen, sondern Objekte und Maschinen die Menschen beobachten und in Daten auflösen, die sie permanent abspeichern und weiterversenden. Hier entwickelt Virilio den Gedanken der „Visionik“, einer neuen technischen Disziplin, die ein „Sehen ohne Blick“ meint. Dies führt zur Entstehung der virtuellen Bilderwelt, die aus der Industrialisierung des Sehens hervorgeht; ein regelrechter Markt der synthetischen Wahrneh- mung entsteht. Aus dieser Situation ergeben sich nun ethische Fragen betreffend Kontrolle und Überwachung, aber auch die philosophische Frage hinsichtlich der Verdoppelung des Stand- punktes vor dem Hintergrund der traditionellen Aufteilung der Wahrnehmung der Umwelt in das Belebte (das lebendige Subjekt) und das Unbelebte (das Objekt, die „Sehmaschine“). Es eröffnet sich das (problematische) Feld der „künstlichen Intelligenz“: Maschinen erzeugen nun synthetische Bilder für Maschinen. Die derart entstehenden virtuellen Bilderwelten beeinflus- sen Virilio zufolge die mentale Bilderwelt. Synthetische Bilder schaffen synthetische Räume, sie führen zu einer Automatisierung der Wahrnehmung, zur computergestützten Wahrnehmung, der Visionik. Wir sind nun umgeben von einer Population von Objekten, die uns anstarren. Mobile Bilder fahren auf Werbefahrzeu- gen durch die Landschaft. Der Blick richtet sich über die Werbung nur mehr auf die Zukunft, das Bild bezieht sich auf Wünsche in der Zukunft, hält keine Gegenwart oder Vergangenheit mehr fest: das audiovisuelle, „phatische“ Bild hat als öffentliches Bild den öffentlichen Raum abgelöst. In den Gefängnissen wird das Fernsehen als Strafe eingesetzt, weil es Sehnsüchte nach Welten erweckt, die nie gestillt werden können. Ähnliche Blicke in eine utopische Wunschwelt eröffnen die Schaufenster in den Städten. Zugleich setzt die permanente Kontrolle aller durch die öffentliche Überwachung ein: In die- sem Raum der öffentlichen Repräsentation entstehen nun Bilder, die militärischen und strategi- schen Aspekten der Verteidigung dienen. In dieser Situation der totalen Sichtbarkeit wird die reale Zeit zu einer aufgeschobenen, in die Zukunft projizierten Zeit. Zugleich wird in diesem Kontext das Verbergen der Wahrheit der Realität vor der Sichtbarkeit wichtig – dies führt im militärischen Bereich zu Strategien der Täuschung, des Verbergens, der Fehlinformation. Hie- raus erklärt sich auch der virtuelle Charakter des Wettrüstens: Die sogenannte Abschreckung ist kein Frieden, sondern nur eine relativistische Form des Konfliktes, eine Verschleierung des aktuellen Kriegs zum virtuellen. „,Wenn ich die gegenwärtige Debatte über die Präzisionsraketen und Waffen mit hoher Sprengkraft in einem Satz zusammenfassen müßte,‘ erklärte W. J. Perry, ein ehemaliger Unterstaatssekretär im amerikanischen Verteidigungsministeri- um, ‚dann würde ich sagen: wenn man ein Ziel sehen kann, dann kann man auch davon ausgehen, daß man es zerstören kann.‘“ (Virilio 1989, S. 157) Was man wahrgenommen hat, ist also schon verloren, man muss in Verheimlichungsstrategien investieren. Virilio beendet seine insgesamt doch kulturpessimistisch anmutende Studie zur Entwicklung des Blicks – die von den künstlich erzeugten Bildern zu den Strategien der Über- 150 Christina Antenhofer wachung führte und darin gipfelte, dass in einer Welt der völligen Sichtbarkeit man nun das Dunkel und Möglichkeiten des Verbergens sucht – mit einer dystopischen Vision auf die Zu- kunft des Schreibens: „Soweit die Tatsachen – die Fabel aber ist die Fabel, die mein allerdings blinder Kugelschreiber für dich, den Leser, in den letzten Zeilen dieses Buches nieder- schreibt. Stell dir einen Augenblick lang vor, daß ich mir, um das Buch zu schreiben, den Federhalter der Zukunft leihe: den lesenden Kugelschreiber. Was würde nach deiner Meinung auf dem Bildschirm erscheinen, Beleidigungen oder Komplimente? Aber hat man jemals davon gehört, daß ein Schriftsteller für seinen Kugelschreiber schreibt….“ (Virilio 1989, S. 172) Literatur Armitage, John (2000a): From Modernism to Hypermodernism and Beyond: An Interview with Paul Virilio. In: Armitage, John (ed.): Paul Virilio. From Modernism to Hypermoder- nism and Beyond. London, Thousand Oaks, New Dehli: Sage, pp. 25–55. Armitage, John (2000b): Introduction. In: Armitage, John (ed.): Paul Virilio. From Modernism to Hypermodernism and Beyond. London, Thousand Oaks, New Dehli: Sage, pp. 1–23. Benjamin, Walter (1974): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2. Fassung) In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften Bd. 1,2. Frankfurt a.M.: Suhr- kamp. Zit. nach Virilio (1989). Belting, Hans (2008): Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München: Beck. Daston, Lorraine & Galison, Peter (2007): Objectivity. New York: Zone books. Loos, Adolf (1982): Ornament und Verbrechen. In: Loos, Adolf: Trotzdem. 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Aus der notwendigen Unterscheidung zwischen Pro- duktions-, Produkt- und Rezeptionsperspektive und anderen Differenzierungen folgt eine analyti- sche Trennung zwischen Emotionsausdruck, Emotionsdarstellung und Emotionalisierung durch Bilder, Texte oder Gesamttexte. In Anlehnung an bestehende Klassifikationen erfolgt eine Dar- stellung der wichtigsten Typen von Text-Bild-Emotion-Zusammenhängen. Abschließend werden Schlüsselkompetenzen der Emotionalen Intelligenz mit der Visuellen Kompetenz und den Regeln der Emotionalität verknüpft: Für die Entfaltung der Visuellen Kompetenz wird Wissen über Dar- stellungsregeln unserer Emotionalität, Wissen über Darstellungsregeln auf der Ebene der Text- und Bildproduktion und Wissen über die Dekodierung von emotionalen Reizen auf der Ebene der Text- und Bildrezeption benötigt. 1. Einleitung Bilder lösen Emotionen aus. Sie wirken unmittelbar, nicht-kognitiv auf uns und erklären sich selbst. Bilder werden stärker beachtet, schneller verarbeitet, besser gemerkt und sind emotional aufgeladen (vgl. Nöth 2000, S. 490; Döveling 2005, S. 223; vgl. Sachs-Hombach 2002, 2006 für eine historische Aufarbeitung dieser Haltung zu Bildern). Sprache verwenden wir, um kon- krete oder abstrakte Konzepte zu definieren, zu erzählen, zu erklären oder zu beschreiben – oder um Argumente für und wider eine Meinung darzulegen. Bilder hingegen eignen sich be- sonders zum Zeigen der äußeren Eigenschaften von Gegenständen oder Personen (vgl. z.B. Stöckl 2004, S. 95). Texte dienen der sachlichen, Bilder der emotionalen Kommunikation. So oder so ähnlich wird das Verhältnis zwischen Text und Bild beschrieben. Tatsächlich schei- nen Bilder Emotionen zu provozieren. Doch selbst gesetzt den Fall, sie wären dazu direkter als Sprache in der Lage, kann auch Texten nicht abgesprochen werden, dass sie sich zur Darstel- lung und Auslösung von Emotionen eignen. Der vorliegende Beitrag bricht mit der unzeitge- mäßen Tradition, Bilder gegen Texte auszuspielen. Vielmehr sollen einige Differenzierungen dazu beitragen, die oben angeführten Topoi zu relativieren und Voraussetzungen dafür zu klä- ren, dass Bilder und Texte Emotionen darstellen, ausdrücken und evozieren können. Dabei rücken die emotiven Eigenschaften von Texten, Bildern und Bild-Texten ins Blickfeld. Fol- gende Fragen werden behandelt: 152 Heike Ortner 1. Können wir verschiedene Typen von emotiven Bildern feststellen – und wenn ja, wel- che? 2. Wie kann eine differenzierte Auffassung des Verhältnisses zwischen Text und Bild etabliert werden? 3. Können wir emotive Text-Bild-Typen unterscheiden? 4. Was ist unter Visueller Kompetenz in Hinblick auf Text-Bild-Emotion-Zusammen- hänge zu verstehen? Das Ziel dieses Beitrags ist nicht die Erstellung einer erschöpfenden Systematik, sondern eine Sichtung möglicher Zusammenhänge und Typisierungsansätze. 2. Emotionale Bilder: Differenzierungen In diesem Abschnitt soll die globale Aussage, dass Bilder emotional aufgeladen seien, spezifi- ziert werden. Was meint man eigentlich mit dem Etikett ‚emotionales Bild‘? Worauf beruht die Emotionalisierung der Rezipientinnen und Rezipienten? 2.1. Emotive Bedeutungsebenen, Merkmale und Funktionen von Bildern Bei einer Analyse der Emotionalität eines Bildes müssen drei Ebenen auseinandergehalten werden (vgl. Müller 2003, S. 15): • die Produktionsanalyse, also die Analyse der Entstehensbedingungen von Bildern, • die Produktanalyse, also die Beschreibung von Bildern, und • die Wirkungsanalyse, also eine Überprüfung von Wirkungen auf die Rezipientinnen und Rezipienten. Derselbe Dreischritt liegt der Unterscheidung zwischen der subjektiven Bedeutung (~ Wir- kung), der inhärenten Bedeutung (~ Produkt) und der intendierten Bedeutung (~ Produktion) eines Bildes zugrunde (vgl. Doelker 2002, S. 146–151). In Hinblick auf die Produktion können emotionale Bedingungen der Produzentinnen und Produzenten im Umfeld der Entstehung des Bildes untersucht werden – eine Perspektive, die außerhalb der Erforschung von Fotografie als Kunstform selten gewählt wird. Die „Textverwendungsfaktoren“ (Stöckl 2004, S. 125) sind jedoch auch in anderen Kontexten mit den Bildurheberinnen und -urhebern verknüpft: Dazu gehören u.a. der soziale Verwendungszweck (handelt es sich z.B. um eine Karikatur oder um ein Werbebild?), der sprachliche Ko- und Kontext (ist das Bild semiotisch selbstständig oder unselbstständig?) und die Übertragungskanäle (z.B. privat, öffentlich). Die Produktanalyse kann emotive Eigenschaften von Bildern aufgrund verschiedener Faktoren zu Tage fördern, vor allem aufgrund von Formaspekten („textkonstitutive Faktoren“ – Stöckl 2004, S. 124): Beispielsweise sind hier die Bildinhalte und der Bezug zwischen Bild und Wirklichkeit bedeutsam (ist das Bild denotierend oder zeigt es einen fiktionalen Gegenstand, Text – Bild – Emotion 153 ein singuläres Objekt oder eine Klasse von Objekten?). Die Wirkungsanalyse hingegen unter- sucht die emotionalen Effekte jedweder (auch nicht emotiver) Bilder auf Rezipientinnen und Rezipienten (siehe 2.2.). Jedes Bild entfaltet seine Bedeutung auf mehreren Ebenen. Doelker (2002) unterscheidet vier Kodes (biologisch/archaisch, konventional, kategorial, flexibel), denen neun Ebenen (funktio- nale, spontane, feste, latente, deklarierte, artikulierte, kontextuelle, intertextuelle, transtextuelle Bedeutung) zugeordnet werden können (vgl. Doelker 2002, S. 70–262). Die Bedeutung eines Bildes ist also von vielen Faktoren abhängig, unter anderem von phylogenetischen Vorausset- zungen (biologischer Kode/spontane Bedeutung), vom Wissen der Rezipierenden über das gezeigte Objekt, vom Wissen über die Situation, die dargestellt wird oder in der ein Bild ge- zeigt wird (flexibler Kode/kontextuelle und transtextuelle Bedeutung), von ganz individuellen Assoziationen, die bei jedem Menschen verschieden sind, von zeit- und kulturabhängigen Kon- ventionen, wie Bilder gestaltet werden (konventionaler Kode/feste Bedeutung), von der Kom- munikationssituation, in die ein Bild eingebettet ist, von Sehgewohnheiten, die sich in einer Gesellschaft herausgebildet haben (kategorialer Kode/latente Bedeutung), von der Textsorte, in der Bilder vorkommen, und nicht zuletzt davon, ob ein Bild bereits bekannt ist oder nicht. Die Interpretation eines Bildes ist folglich ein komplexer Prozess – Bilder sind ein Bedeu- tungsangebot, das sich erst in der konkreten Rezeptionssituation entfaltet, und zwar durch eine aktive Zuschreibung (durch eine Projektion) von Bedeutung durch die Person, die das Bild betrachtet (vgl. Huber 2003, S. 186ff.). Mit anderen Worten: Bilder sind mehrdeutig, seman- tisch offen (vgl. Doelker 2002, S. 58f.; Lobinger 2009, S. 114). In allen Kodes können Emoti- onskonzepte transportiert oder Emotionen ausgelöst werden. Die einzelnen emotional bedeut- samen Bildaspekte sind gerade wegen ihrer Flexibilität sehr vielschichtig und schwer zu ver- allgemeinern. Die deklarierte Bedeutung ist hinsichtlich der Fragestellung des vorliegenden Beitrags – Text-Bild-Zusammenhänge – zentral. Aufgrund dieser Eigenschaft können Bilder viele Funktionen – oft auch mehrere gleichzeitig – erfüllen: Die funktionale Bedeutung (vgl. Doelker 2002, S. 70–83) wird beispielsweise durch die Beschreibung der Beziehung zwischen Bild und Wirklichkeit als indexikalisch, ikonisch oder symbolisch, durch den appellativen oder den phatischen (kontakterhaltenden) Charakter des Bildes bestimmt. Ganz allgemein betrachtet können Bilder der Denotation dienen, aber oft steht das Ansprechen bzw. Konstituieren einer Konnotation im Vordergrund. Bilder können einen Sachverhalt, ein Ereignis oder Personen konkretisieren, aber auch typisieren bzw. abs- trakt darstellen (vgl. Stöckl 2004, S. 13). Entgegen der Annahme, dass Bilder hauptsächlich Stimmungen vermitteln, ist ihre möglicherweise wichtigste Funktion das Informieren, selbst bei einem relativ eng gefassten Informationsbegriff (vgl. Sachs-Hombach 2002, S. 24ff.). Bil- der dienen darüber hinaus selbstverständlich auch der Unterhaltung, ermöglichen ein Miterle- ben, erzeugen den Eindruck von Authentizität, sodass sie oft eine bestimmte Interpretation von Ereignissen nahelegen (vgl. Meckel 2001, S. 26). Mit Bildern können ähnlich wie mit der Sprache ganze Handlungen vollzogen werden: z.B. warnen, verbieten, instruieren (vgl. Stöckl 2004, S. 95). Narrativ sind Bilder insofern, als sie sich zum Erzählen von Geschichten eignen – insbesondere (aber nicht ausschließlich), wenn wir es mit einer Bildfolge zu tun haben. Bilder 154 Heike Ortner dienen aber auch der Manipulation; einerseits werden Bilder an eine erwünschte Wirklichkeit angepasst, andererseits wird die Wirklichkeit an die Erfordernisse von Bildern angepasst (vgl. Müller 2003, S. 31). 2.2. Emotionalisierung durch Bilder Oft wird die Funktion von Bildern mit Emotionalisierung gleichgesetzt. Bilder dienen demnach in erster Linie dazu, beim Betrachter Emotionen hervorzurufen (vgl. Sachs-Hombach 2002, S. 27f.). Aufgrund von Merkmalen wie Farbgebung, Motiven, Bildaufbau usw. wird bestimm- ten Bildern besonders hohes Emotionalisierungspotenzial zugesprochen. Eine genaue Defini- tion oder noch besser ein vollständiger Kriterienkatalog dieser emotionalisierenden Eigen- schaften von Bildern fehlt nach wie vor. Zuerst müssen – wie schon in Abschnitt 2.1. mit einer leicht abweichenden, im Grunde aber in dasselbe Horn stoßenden Unterscheidung angespro- chen – drei Aspekte getrennt werden: Gestalt (physische Form), Produktion und Rezeption von Bildern (vgl. Müller 2003, S. 22; Kappas & Müller 2006, S. 16). Zunächst zum Gestaltungsaspekt von Bildern: Welche Bildeigenschaften führen zu der Zu- schreibung einer emotiven Bedeutungskomponente? Die Formulierung ist bewusst so gewählt, um gleich vorab zum Ausdruck zu bringen: Die analytische Trennung zwischen Bildgestal- tung, Bildproduktion und Bildrezeption soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass letztendlich auch die Beschreibung von emotiven Bildmerkmalen auf Rezeptions- bzw. Interpretationspro- zessen beruht (mit anderen Worten: auf dem Hermeneutischen Zirkel). Ganz allgemein: „Emotionen können von der ästhetischen Qualität, insbesondere aber von den Inhalten ausgehen, die anziehen oder abstoßen.“ (Doelker 2002, S. 57) Was die Inhalte angeht, reicht das Spektrum vom biologischen/archaischen Kode mit Schlüsselreizen (wie z.B. Kind- chenschema, Tiere, Landschaften, ganz bestimmte biologisch bzw. archaisch vorgeprägte Situ- ationen, vgl. auch Bosch 2004, S. 124f.) bis zu komplexen Emblemen. Eine besonders wichtige Form der Emotionalisierung besteht darin, dass Bilder die emotionale Mimik und Gestik handelnder Personen zeigen. Der nonverbale Emotionsausdruck – Gestik, Mimik, Körperhaltung, Körperbewegungen, Blickverhalten, Proxemik (Naheverhalten), Berüh- rungen – ist eines der wichtigsten Forschungsgebiete der Emotionspsychologie. Insbesondere die Mimik wird oft untersucht (vgl. Doelker 2002, S. 57). Die neuro-kulturelle Theorie des mimischen Emotionsausdrucks (besonders von Ekman geprägt) besagt, dass der mimische Ausdruck und physiologische Parameter der Basisemotionen Freude, Ärger, Traurigkeit, Ekel, Furcht und Überraschung genetisch festgelegt und somit zunächst kulturunabhängig sind. Über sogenannte display rules – erlernte Darstellungsregeln – können Menschen den mimischen Emotionsausdruck jedoch unterdrücken, abschwächen oder verstärken (vgl. Merten 2003, S. 37, 59ff.; vgl. auch Kappas & Müller 2006, S. 17). Das Verhältnis ist aber etwas komplexer: Emotionsausdruck hat Zeichenstatus. Mimik ist ei- nerseits Symptom für Emotionen. Mimik beinhaltet aber auch einen Appell an unser Gegen- über und ist darüber hinaus ein Symbol für ein dahinter stehendes Konzept. Gesichter wirken als „Eyecatcher“ (Bleuel 2009, S. 99). Emotionale Mimik auf Fotos wird in Experimenten als Text – Bild – Emotion 155 interessanter eingestuft, negative emotionale Mimik wiederum interessanter als positive (vgl. Bleuel 2009, S. 105). Ist das ein Beweis für die Formel ‚Only bad news is good news?‘ Dazu ist zu sagen: Reaktionen auf Personen auf Bildern können sehr unterschiedlich ausfallen. Es wird zwar ein Prinzip der emotionalen Ansteckung durch die Wahrnehmung der Mimik von anderen Personen angenommen, aber das trifft nicht auf jedes Bild und nicht auf jeden Kontext zu. Emotionale Mimik kann angenehm oder unangenehm wirken, ansteckend oder auch ab- stoßend, und zwar unabhängig von der Emotion, die mit ihr ausgedrückt wird – diese Effekte können auch völlig unvorhersehbar sein. Besonderes Augenmerk wird auch auf Körperbewegungen gelegt, die auf Fotografien jedoch nur angedeutet werden können (siehe das Berner System, mit dem menschliche Bewegungen in ihre Einzelteile zerlegt und mit unterschiedlichen emotiven Bedeutungen korreliert werden können; vgl. Frey 1999, S. 65–73, 113–129; Müller 2003, S. 188f.). Döveling (2005, S. 218– 223) beschreibt folgende Kategorien der Beschreibung emotiver Bildanteile: feststehende und vorübergehende Merkmale der abgebildeten Personen und Situationen (wer, wie viele, welche Rolle?), die abgebildeten Beziehungen (ausgedrückt durch die Körperhaltung), Zeitaspekte (Aktualität) und Symbolik, die durch Bewegung und Gestik angedeutete Dynamik, den mimi- schen Gefühlsausdruck, die Betonung von Körperteilen (z.B. durch Helligkeit) und den Bild- aufbau, speziell die Größe und die Position der Personen. (Anmerkung: Döveling bezieht sich dabei auf Arbeiten von Williamson 1978 und Ekman, Friesen & Ellsworth 1972.) Andere Möglichkeiten, wie Bilder emotionalisierend wirken können: • indem Bilder emotionale Szenen konstruieren (beispielsweise ein Bild von einer Be- erdigung, womit das Konzept der Trauer unmittelbar verknüpft ist); • indem sogenannte Visiotype gezeigt werden (beispielsweise steht eine abgemagerte afrikanische Frau mit einem kranken Kind im Arm für das Leid der Dritten Welt, siehe Abschnitt 5); • indem parasoziale Beziehungen etabliert werden (Personen, die oft in den Medien bildlich dargestellt werden, werden zu so etwas wie alten Bekannten, was eine affek- tive Bindung bewirken kann, vgl. Müller 2003, S. 176ff.). Ganz global können Bilder emotionalisieren, indem Assoziationen ausgelöst werden – etwa von Hassfiguren (z.B. bestimmte Politiker) oder Symbolen (z.B. das Peace-Symbol). Dies läuft oft über Archetypen (vgl. Demarmels 2009, S. 32f.), aber auch über ganz bestimmte erlernte Konzepte bzw. Symbole (vgl. Bosch 2004, S. 124). Mit dem Stichwort Assoziationen befinden wir uns jedoch bereits bei der Rezeptionsfrage, da es hier um individuelle Wirkungen von Bildern geht: Können Bilder Emotionen auslösen – und wenn ja, wie geht dieser Prozess vor sich? Eine wesentliche Aufgabe in der Bildwahrnehmung ist das Herstellen von Kohäsion und Kohä- renz (vgl. Stöckl 2004, S. 125). Scholz (2000, S. 108–116) unterscheidet mehrere Ebenen des Bildverstehens: das perzeptive Verstehen (wahrnehmungspsychologische Faktoren), das Ver- stehen eines Bildes als Zeichen (das Erkennen des Unterschiedes zwischen Realität und Abbil- dung), das Verstehen eines Bildes als bildhaftes Zeichen im Unterschied zu anderen Zeichen 156 Heike Ortner (z.B. Sprachzeichen), das Verstehen des Bildinhalts, das Verstehen des denotativen Sachbezugs (z.B. singulär vs. multipel denotierend), das Verstehen nicht-denotativer Bezüge (z.B. Muster, Gefühlsausdruck), das modale Verstehen (Einordnung der kommunikativen Rolle des Bildes) und das Verstehen des indirekt Mitgeteilten (z.B. Bildmetaphern). Der Zusammenhang mit den unter 2.1. genannten Bedeutungsebenen ist offensichtlich. All das beruht auf kognitiven Schemata, Scripts und Frames, die die Bildwahrnehmung leiten – im Sinne der Reduktion von Komplexität. Die Verarbeitung von Bildern, insbesondere von emotionalen Bildern, verläuft auf drei Ebenen: auf einer unbewussten, sensorisch-motorischen Ebene, auf der Reize vor allem nach dem Kriterium der Neuheit bewertet werden; auf einer ebenfalls unbewussten schematischen Ebene, auf der ein Abgleich zwischen dem Bild und bekannten Mustern erfolgt, und auf einer bewussten konzeptuellen Ebene, auf der eine Einord- nung in den Kontext und in das Weltwissen vorgenommen wird (vgl. Kappas & Müller 2006, S. 6f.; Müller 2003, S. 173ff.). Die Ergebnisse dieser drei Ebenen können einander auch wider- sprechen. Zudem ist der notwendige Verarbeitungsaufwand aufgrund der unterschiedlichen Komplexität von Bildern unterschiedlich hoch. Übrigens entsprechen diese drei Ebenen der Bildwahrnehmung im Wesentlichen den verschie- denen Schichten von Emotionen, die in der Emotionsforschung angenommen werden: 1. Emo- tionen als genetisch festgelegte Affektprogramme bzw. schnelle, unreflektierte Reaktionsme- chanismen (vgl. z.B. Izard 1999); 2. Emotionen als psychische Systeme mit verschiedenen Komponenten, darunter auch kognitive Prozesse (vgl. z.B. Scherer 1990) und 3. Emotionen als subjektive, durch Narrationen, soziale Regeln und kulturelle Gegebenheiten überformte Erfah- rungen (vgl. z.B. Voss 2004). Wie könnte man das Problem der individuellen Assoziationen in den Griff bekommen? Ein Ansatzpunkt ist, dass es doch offensichtlich Gemeinsamkeiten in der Wahrnehmung von Bil- dern zumindest innerhalb einer Gesellschaft gibt. Es können „Motiv- und Darstellungstraditio- nen“ untersucht werden (Müller 2003, S. 83; vgl. auch Kappas & Müller 2006, S. 12, Ikono- grafie und Ikonologie ansprechend). Bestimmte Gestaltungskonventionen sind an oft unbe- wusste Rezeptionskonventionen gebunden. Dass Menschen unterschiedlich auf Bilder reagieren – was die Regel und nicht die Ausnahme ist –, wäre nicht möglich, wenn tatsächlich spezifische Eigenschaften von Bildern spezifische Emotionen hervorrufen könnten. Ganz wesentlich ist also: Nicht Bilder lösen Emotionen aus, sondern unsere Interpretationen von Bildern. Bilder sind nur in der Lage, kognitive Operatio- nen – speziell Bewertungen – anzustoßen. Diese Bewertungen beruhen auf der kommunikati- ven Absicht, mit der Bilder produziert, kontextualisiert und analysiert werden. Eine Ausnahme bilden möglicherweise Bilder, die phylogenetisch bedingte Reaktionen auslösen (vgl. den bio- logischen bzw. archaischen Kode von Doelker, angesprochen in Abschnitt 2.1., sowie Stöckl 2004, S. 93). In der Folge werden einige experimentelle Ergebnisse und Forschungsperspekti- ven zur Emotionalisierung durch Bilder zusammengefasst, die die bisher vorgenommenen Differenzierungen verfeinern. Text – Bild – Emotion 157 Mit einem mittlerweile klassischen Versuch versuchte der Emotionspsychologe Richard S. Lazarus, seine kognitiv orientierte Emotionstheorie empirisch zu untermauern: Versuchsperso- nen wurde ein sehr unangenehmer Film über ein Beschneidungsritual mit unterschiedlichen Audiokommentaren (neutral-informierend/intellektualisierend oder aber emotionalisierend) gezeigt. Die emotionalen Reaktionen der Probandinnen und Probanden hingen wesentlich vom Audiokommentar ab (vgl. Merten 2003, S. 107; Kappas/Müller 2006, S. 9). Dass die Emotio- nalisierung durch Bilder von Bewertungen abhängt, wird dadurch unterstrichen. Mit empirischen Tests wird versucht nachzuvollziehen, wie emotionale Reize Kaufentschei- dungen lenken können (Stichwörter Neuromarketing, vgl. Traindl 2007, und Imageryfor- schung, vgl. Müller 2003, S. 186). Emotional aufgeladene Bilder, vor allem Bilder von Men- schen mit erotischen oder positiv-emotionalen Merkmalen, können auch bei peripher wahrge- nommenen Reizen die Stimmung der Konsumentinnen und Konsumenten heben und die Auf- merksamkeit auf bestimmte Produkte lenken (vgl. Traindl 2007, S. 83f.). Allerdings wirken nicht alle emotionalen Reize auf dieselbe Weise auf die einzelne Konsumentin bzw. den ein- zelnen Konsumenten, was auf den unterschiedlichen Motivstrukturen der Personen beruht (konkret auf den individuellen Dominanzverhältnissen zwischen Sicherheitsmotiv, Sozialmo- tiv, Alphamotiv und Entdeckungsmotiv) (vgl. Traindl 2007, S. 18ff.). Auch Farben haben ein gewisses Wirkungsspektrum: Beispielsweise ist rot stark aktivierend, aber sowohl im Positiven wie auch im Negativen (vgl. Traindl 2007, S. 52, 54ff.). In der Medienberichterstattung haben Bilder auf die Rezeption eines Textes empirisch nach- gewiesene Auswirkungen: z.B. verändern drastische Hautkrebsbilder die Risikoeinschätzung, selbst an Hautkrebs zu erkranken (Sargent & Zillmann 1999, zit. n. Petersen 2006, S. 39f.). Abbildungen verändern die Rezeption dazugehöriger Texte (Zillmann, Knobloch & Yu 2001, zit. n. Petersen 2006, S. 39f.; siehe aber auch Abschnitt 6!). Medienberichterstattung über ein schlimmes Ereignis – z.B. die Tsunamikatastrophe 2004 – löst signifikanten Stress bei den Rezipientinnen und Rezipienten aus (vgl. Knieper 2006). Es gibt noch keinen allgemein anerkannten Standard für eine quantitative oder qualitative In- haltsanalyse von Bildern. Das International Affective Picture System (IAPS) enthält ca. 900 Bilder mit überprüft intersubjektiv annähernd gleicher emotionaler Wirkung (vgl. Kappas & Müller 2006, S. 7). Einige Ansätze gehen noch einen Schritt weiter und versuchen, emotionale Merkmale aus Bildern zu extrahieren und zu systematisieren. Bildern sollen Emotionskate- gorien zugeordnet werden, um emotionale Bilder von Suchmaschinen auffindbar zu machen (Emotionslabels als Tags) (vgl. Machajdik 2009). Eine andere praktische Anwendung ist die Vertextung von Medienbildern als Alternativtext (Alternate Text), um Sehbehinderten den barrierefreien Zugang zu Informationen zu ermöglichen (vgl. Thompson & Wassmuth 2003). Wie gerade deutlich wurde, tragen viele Faktoren zur Emotionalisierung bei, nicht nur objektiv feststellbare Merkmale von Bildern wie der Bildaufbau, die Farbgebung, das Spiel mit Licht oder mimischer Gefühlsausdruck. Hinzu kommt, dass subjektives Empfinden und messbare Emotionsprozesse nicht deckungsgleich sind (vgl. Ulich & Mayring 2003, S. 43) – wir wissen weniger über unsere Emotionen, als wir denken, und Fragebogenverfahren können dieses Missverhältnis zwischen einem Prozess und seiner Konzeptualisierung noch weniger abbilden. 158 Heike Ortner 3. Emotionale Texte: Differenzierungen Wenn Text-Bild-Emotion-Zusammenhänge betrachtet werden, muss auch folgende Frage ge- klärt werden: Was ist ein emotionaler Text? Wie verhält es sich mit der Emotivität in der Spra- che? Dieses Thema ist Gegenstand der Emotionslinguistik. Das relativ neue Forschungsgebiet fasst sehr unterschiedliche Ansätze zusammen, von kognitionswissenschaftlichen über gram- matische bis hin zu soziolinguistischen und kulturvergleichenden Studien (vgl. z.B. Schwarz- Friesel 2007 für einen Forschungsüberblick). Obwohl Sprache oft als unbrauchbar für den Ausdruck von Emotionen empfunden wird (vgl. Schwarz-Friesel 2007, S. 235), gibt es sehr viele Möglichkeiten, Emotionen zu kommunizie- ren, und zwar auf allen linguistischen Ebenen. Neben einigen prototypischen Mitteln wie z.B. Interjektionen (aua!, oh je), Exklamativ- und Optativsätzen (z.B. Wäre er doch zu Hause ge- blieben!) und emotionalen Metaphern (z.B. In meinem Herzen brennt ein Feuer!) gibt es man- nigfaltige Möglichkeiten, die an der Textoberfläche nicht einfach festzumachen sind (vgl. Fiehler 1990, S. 96f., 167–177 sowie Jahr 2000, S. 86–100 für umfangreiche Übersichten über Möglichkeiten emotiver Sprache auf verschiedenen Ebenen). Die bisherigen Formulierungen waren jedoch unpräzise: Wir drücken nicht unsere Emotionen aus, sondern Konzepte von Emotionen. Allgemeine Konzepte, wie Emotionen beschaffen sind, und individuelle Konzepte, wie emotional wir selbst sind, wie wir normalerweise in Situatio- nen reagieren, was wir gerade von einer Sache oder von einer Person halten. Mit emotiver Sprache können Emotionen auch verändert werden (vgl. Schwarz-Friesel 2007, S. 131ff.). Ein grundlegender Unterschied ist jener zwischen Emotionsausdruck und Emotionsthematisierung. Emotionsausdruck ist die mehr oder weniger offene und deutliche Manifestation von emotio- nalen Prozessen in der Sprache – allgemeiner in allen unseren Kommunikationssystemen. Emotionsthematisierungen liegen vor, wenn wir über Emotionen sprechen, auch über Emotio- nen anderer Personen. Ein besonders wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit dem Thema Visuelle Kompetenz, auf den in Abschnitt 6 genauer eingegangen wird, ist, dass es Regeln für die richtige kommunika- tive Verarbeitung von Emotionen gibt. Fiehler (1990) unterscheidet folgende: • Emotionsregeln: Welches Gefühl ist in einer bestimmten Situation angemessen bzw. sozial erwartbar? • Manifestationsregeln: Welches Gefühl darf in einer bestimmten Situation wie intensiv zum Ausdruck gebracht werden? • Korrespondenzregeln: Welche Gefühle sind angemessen, wenn ein Kommunikations- partner ein bestimmtes Gefühl zeigt? • Kodierungsregeln: Mit welchen Verhaltensweisen und sprachlichen Handlungen kön- nen welche Emotionen kodiert werden? Oft wird hervorgehoben, dass Texte tendenziell sachlich argumentieren, Bilder hingegen emo- tional wirken und dass der Emotionsausdruck visuell einfacher sei als sprachlich (vgl. Kappas Text – Bild – Emotion 159 & Müller 2006, S. 3). Es stimmt zwar, dass schriftliche Texte in der Regel reflektiert sind und somit selten unmittelbaren Emotionsausdruck ermöglichen. Anhand der bisherigen Überlegun- gen sollte aber klar sein, dass das Konzept der Sprache als rationale Operation bzw. der Schriftlichkeit als Medium der Sachlichkeit nicht zutrifft. 4. Text und Bild: Eine Beziehung Sprache und Bild werden als grundlegend verschiedene Arten von Zeichen verstanden – Spra- che besteht aus Symbolen, Bilder sind ikonische Zeichen (vgl. z.B. Schmitz 2006, S. 187). Sprache ist ein komplexes System mit vielen einzelnen Elementen und Regeln, wie diese Ele- mente zusammengesetzt werden können. Bilder haben einen bestimmten Aufbau, sind regel- haft gestaltet – deshalb kann man auch von Bildgrammatik sprechen –, aber die Bedeutung eines Bildes entsteht nicht durch die Aneinanderreihung von Elementen und ist somit nicht in dem Maße analytisch zerlegbar wie Sprache (vgl. Müller 2003, S. 14; Doelker 2002, S. 48ff.; Lobinger 2009, S. 112f.). Allerdings wurde bereits in Abschnitt 2.1. darauf hingewiesen, dass die Bedeutung von Bildern wesentlich komplexer ist, als es eine Beschreibung als ikonische Zeichen vermuten lässt. Kommen komplexere Verstehensprozesse in Gang (z.B. bei Bildmeta- phern), sind Bilder nicht als ikonische Zeichen zu verstehen, sondern als Symbole. Sprache und Bild werden – frei nach Wittgenstein – gleichermaßen erst durch ihren Gebrauch als Zei- chen bestimmt (vgl. Sandbothe 1997, S. 2). In Bezug auf die kognitiven Prozesse wird festgestellt, dass Bilder eher holistisch, ganzheitlich, auf einen Blick aufgenommen werden; Text wird eher sequenziell erfasst (vgl. Schmitz 2006, S. 187; Nöth 2000, S. 490). Selbstverständlich ist aber sowohl Textverstehen als auch Bildver- stehen eine Kombination aus datengeleiteten Bottom-up- und wissensgeleiteten Top-down- Prozessen (vgl. Bosch 2004). Es findet sich häufig – vor allem in populärwissenschaftlichen Büchern – der Hinweis, dass Sprache in der linken, rationalen Hemisphäre verarbeitet wird, Bilder hingegen in der rechten, emotionalen Hemisphäre (vgl. z.B. Nöth 2000). Allerdings sind sowohl Sprache als auch Emotionen als auch die Verarbeitung von Bildern nicht in einer Hälfte und auch nicht in einem einzelnen Bereich des Gehirns angesiedelt. Es muss von einer gegenseitigen Stützung von Text und Bild ausgegangen werden, nicht von einer Konkurrenz. „Bilder illustrieren Texte, Texte kommentieren Bilder.“ (Nöth 2000, S. 492; vgl. auch Stöckl 2004, S. 5; Straßner 2002, S. 19ff.; Lobinger 2009, S. 114f.). Der textuelle Teil und der bildliche Teil eines Medientextes tragen zur Gesamtbedeutung der medialen Kom- munikation bei. Man spricht von „Gesamttexten“ (Doelker 2002, S. 61f.; Doelker 2006, S. 27), wenn Text und Bild kombiniert werden, womit betont wird, dass die Trennung zwischen Text und Bild eine künstliche ist. 160 Heike Ortner 5. Text-Bild-Emotion-Zusammenhänge Wie kann nun der Zusammenhang zwischen Text und Bild genauer erfasst und mit Emotionen in Verbindung gebracht werden? Zu den Text-Bild-Emotion-Zusammenhängen gibt es eine einfache Unterscheidung, die auf dem beruht, was bisher gesagt wurde: • Emotionsausdruck: Auf Bildern und in Texten oder durch Bilder und Texte werden Emotionen ausgedrückt. Die sprachlichen und die bildlichen Mittel können dabei zu- sammenwirken, einander widersprechen usw. • Emotionsthematisierung: Auf Bildern und in Texten werden Emotionen thematisiert. Die sprachlichen Mittel und die bildlichen Mittel können dabei zusammenwirken, ei- nander widersprechen usw. • Emotionalisierung: Durch Bilder und Texte werden Emotionen bei den Rezipientin- nen und Rezipienten bewirkt. Das beruht zum einen auf der Art und Weise, wie Emo- tionen in den Text-Bild-Gefügen ausgedrückt und dargestellt werden, also auf den in- haltlichen und formalen Merkmalen der Gesamttexte, zum anderen auf externen Fak- toren, auf die wir keinen guten (empirischen und theoretischen) Zugriff haben (vgl. 2.2.). Rein formal kann unterschieden werden, ob die emotive Aussage nur im Bild, nur im Text oder in Text und Bild enthalten ist. Bei letzterem Fall sind weitere Spezifizierungen möglich. Hier nur einige Beispiele: Die Aussage kann hauptsächlich im Bild enthalten sein, dessen emotive Bedeutung durch die Bildunterschrift gestützt wird. Im Haupttext ist davon jedoch nicht die Rede (loser Zusammenhang zwischen Text und Bild, vor allem bei additiver Art der Gestal- tung im Sinne von Doelker 2006, siehe unten). Andere Möglichkeiten sind etwa, dass die Aus- sage in einem Teiltext und in einem Bild enthalten ist oder aus dem Text als Ganzes und aus dem Bild als Ganzes hervorgeht. Mehrere Bilder können unterschiedliche emotive Passagen des Textes illustrieren, insbesondere bei narrativen Texten mit narrativer Bebilderung. Nun zu möglichen Systematiken von Text-Bild-Emotion-Zusammenhängen. Hier werden ei- nander drei teilweise ähnliche, teilweise unterschiedliche Einteilungen gegenübergestellt: der Ansatz von Nöth (2000, S. 492ff.), die Aufstellung von Doelker (2006, S. 29-37) und die Sys- tematik von Stöckl (2004, S. 298f., Erläuterungen in Kap. 5). Die Einteilungen von Nöth und Doelker folgen dem Kriterium der Funktionsverteilung zwischen Text und Bild und sind in manchen Aspekten ähnlich (die Kategorienbezeichnungen stammen von Nöth, Doelkers Ter- mini werden in der Folge erläutert). Der Text-Bild-Emotion-Bezug folgt hier ebenfalls der Funktion. 1. Redundanz: Doelker nennt diese Beziehung pleonastisch (zeichenspezifische Trans- kodierung). Text und Bild haben dieselbe Aussage. Redundanz bedeutet jedoch nicht, dass die Gesamtaussage gleich bleibt. In Hinblick auf Emotionsausdruck kann eine re- dundante Gestaltung z.B. der Veranschaulichung (etwa eines im Text beschriebenen Mienenspiels) dienen; Emotionsthematisierung wäre z.B. die sinnvolle Illustrierung eines emotiven Sachverhalts; Emotionalisierung kann z.B. durch eine Verstärkung des Text – Bild – Emotion 161 Eindrucks durch die doppelte Kodierung der emotionsauslösenden Aspekte in Text und Bild erfolgen. 2. Dominanz: Diese Beziehung fehlt bei Doelker. Der Text enthält mehr Informationen als das Bild oder umgekehrt. Dominant ist das Bild z.B. meistens in der Werbung. Emotional betrachtet fallen Dominanzverhältnisse in den Spannungsbereich zwischen Text und Bild, der bereits angesprochen wurde. Die Beziehungen auf den Ebenen des Emotionsausdrucks, der Emotionsthematisierung und der Emotionalisierung sind mannigfaltig. 3. Komplementarität: In dieser Beziehung ergänzen Text und Bild einander und nutzen ihre jeweiligen Eigenschaften zum besseren Verständnis des Gesamttextes aus, indem verschiedene Perspektiven auf die Gesamtaussage eröffnet werden. Bei Doelker ist diese Beziehung feiner ausgeführt und in mehrere Unterformen aufgeschlüsselt. Die Möglichkeiten der Text-Bild-Emotion-Bezüge sind ähnlich wie bei der Redundanz. Spezifische emotionale Effekte werden in der Folge bei den einzelnen Formen ge- nannt: a. Komplementär: Text und Bild wirken im Sinne der besseren Verständlichkeit und Anschaulichkeit zusammen. b. Reziprok: Text und Bild sind voneinander abhängig, z.B. wenn ein Bild in ei- nem Text beschrieben wird. c. Kongruent: Bild und Text bilden eine Einheit (laut Doelker der Normalfall; tatsächlich sind redundante/pleonastische Beziehungen sehr selten). d. Additiv: Im Medienkontext werden Bilder oft zeitlich nach dem Schreiben ei- nes Artikels ausgesucht und sind dann eine mehr oder weniger sinnvolle Illu- stration des Textes (manchmal auch nur mit metaphorischem Bezug). Bei der additiven Beziehung kann es zu unfreiwillig komischen Effekten kommen, etwa wenn in der Bildunterschrift versucht wird, den Bedeutungsbogen zu spannen, und dieser Bogen überspannt wird. e. Assoziativ: Auch als reflexive Brechung bezeichnet, da der Zusammenhang zwischen Text und Bild sehr weit hergeholt sein kann – allerdings auch be- wusst, um kognitive Konflikte auszulösen (im Sinne von Rätseln, die gelöst werden müssen). f. Extensiv: Hier tragen Bilder zur Auflockerung von Texten bei. Assoziative und extensive Verhältnisse sind besonders für die Stimmung beim Verarbeiten von Gesamttexten bedeutsam. 4. Diskrepanz/Kontradiktion: Doelker bezeichnet diese Beziehung als divergent, meint wie Nöth aber das Fehlen eines Bezugs zwischen Text und Bild oder sogar einen Wi- derspruch, der unabsichtlich oder intendiert sein kann. Mit Bezug auf Emotionsthe- matisierung und Emotionsausdruck kann es hier zu einer Art Verletzung oder Nicht- berücksichtigung der Regeln der Emotionalität kommen und von einer mangelhaften emotional-visuellen Kompetenz der Text-Bild-Gestalter ausgegangen werden. Studien 162 Heike Ortner zeigen, dass Fernsehnachrichten, bei denen emotionale Bilder und sachliche Texte kombiniert werden, nicht nur schlechter behalten, sondern auch negativer aufgenom- men werden. Eine Passung zwischen emotionalem Text- und emotionalem Bildinhalt ist demnach vorzuziehen (vgl. Cihelna 1987, S. 194ff.). In Hinblick auf die Emotio- nalisierung kann es durch Diskrepanzen zu Verärgerung kommen, aber auch zu er- höhtem Interesse, diesen Konflikt mit kognitiven Operationen zu lösen. Nun zu Stöckls Aufstellung, die die semantische und pragmatische Beziehung in den Mittel- punkt stellt. Ich möchte daher vor allem diese Systematik mit Text-Bild-Emotion-Bezügen in Verbindung bringen. Die folgende Tabelle bietet einen Überblick über die wichtigsten Text- Bild-Bezüge und ihre emotiven Aspekte. Sprache-Bild-Bezug Sprache-Bild-Emotion-Bezüge Parallelisierung: Das • Emotionsausdruck: z.B. Zeigen und Beschreiben Bild illustriert etwas, emotionaler Mimik das im Text beschrieben • Emotionsthematisierung: z.B. Zeigen und Beschreiben wird. eines emotionalen Ereignisses • Emotionalisierung: z.B. emotionale Resonanz/Ablehnung Metonymische • Emotionsausdruck: z.B. Emotionsausdruck einer einzelnen Konzeptassoziation: Person als Stellvertreter für eine Gruppe Bild und Text stehen in • Emotionsthematisierung: z.B. Beschreibung der Meinung einer metonymischen einer Einzelperson, die eine Gruppe vertritt Beziehung zueinander • Emotionalisierung: Effekte durch das Verstehen der (z.B. Teil für Ganzes) Metonymie, z.B. Empörung Symbolisierungen und • Emotionsausdruck: z.B. expressives Symbol in Text und Szenen: Das Bild sym- Bild bolisiert einen Teiltext • Emotionsthematisierung: z.B. Entwurf einer emotionalen oder den gesamten Szene Text. • Emotionalisierung: z.B. Effekte durch das Verstehen des Symbols Metaphorisierung/ • Emotionsausdruck: z.B. Verbildlichung metaphorischer Literalisierung: Eine Wendungen im Text (etwa mit Bezug auf Herz, Feuer, sprachliche Metapher Druck) wird durch ein Bild auf • Emotionsthematisierung: z.B. Redewiedergabe dieser ihre wörtliche Bedeu- Beziehung tung zurückgeführt. • Emotionalisierung: z.B. Effekte durch das Verstehen der Strategie oder Wirkenlassen Gegensatz und Analo- • Emotionsausdruck und Emotionsthematisierung: siehe oben gie: Bild und Text etab- (Redundanz, Komplementarität und Diskrepanz) lieren einen Gegensatz • Emotionalisierung: Verstehen des Gegensatzes – Irritation; bzw. eine Verstehen der Analogie – gegenseitige Verstärkung der Entsprechung. Wirkung von Text und Bild Text – Bild – Emotion 163 Prozessmodelle: Im • Emotionsthematisierung: Veranschaulichung von Bild wird ein Prozess Statistiken zu emotionalen Themen (z.B. psychische beschrieben. Krankheiten) • Emotionalisierung: z.B. durch Zeigen eines emotional aufgeladenen Vorganges (Attentate, Unfälle usw.) Temporal: Mehrere • Emotionsausdruck: z.B. Zeigen von Emotionen im Verlauf Bilder zeigen eine • Emotionsthematisierung: z.B. Beschreiben von Emotionen Handlung oder einen im Verlauf Vorgang. • Emotionalisierung: z.B. durch Ansprechen narrativer Sche- mata Speziell zum Dominanzverhältnis zwischen Text und Bild – was wirkt stärker? – hat Petersen (2005) ein interessantes vorläufiges Ergebnis präsentiert: Er untersuchte zum einen, ob eine Bildmanipulation die Wirkung eines Zeitungsartikels verändert, und zum anderen, ob unter- schiedliche Mimik auf Bildern zu einem Zeitungsartikel die Interpretation des Textes in Hin- blick auf das Kriterium Glaubwürdigkeit verändert. Einmal wurde zu einem Artikel eines Erd- bebens eine Frau mit einem Kind inmitten der Trümmer gezeigt, einmal wurde das Kind aus demselben Foto wegretuschiert. Es zeigte sich, dass die Bildmanipulation keine Auswirkung auf die emotionale Wirkung des Artikels hatte. Beim zweiten Versuch änderte sich die Inter- pretation des Artikels nicht aufgrund der Auswahl der Bilder, sondern aufgrund der Formulie- rung im Text, die nur in einem einzigen Wort abwich. Daraus lässt sich nicht schließen, dass Texte stärker als Bilder wirken, aber es ist noch einmal ein Hinweis darauf, dass eine einseitige Sicht auf die Macht der Bilder und die Ohnmacht der Worte genauso unangebracht ist. Ein letzter Punkt, der stark mit Emotionen zusammenhängt, sind die bereits angesprochenen sogenannten Visiotype (auch: visuelle Stereotype). Pörksen (1997, S. 27), der den Terminus prägte, definiert Visiotypie als den „Hang zur Veranschaulichung“ bzw. Visiotype als den „allgemein zu beobachtenden, durch die Entwicklung der Informationstechnik begünstigten Typus sich rasch standardisierender Visualisierung“ (auch sprachlicher Art; vgl. auch Stöckl 2004, S. 282ff., der als Definitionsmomente den symbolischen Gehalt und die vagen Konnota- tionen in den Vordergrund stellt). Wichtig für die Emotionalisierung durch Text und Bild ist ferner die Perspektivierung, das heißt, aus welcher Sicht Ereignisse dargestellt werden und wie Emotionen legitimiert werden (Lobinger 2009 untersuchte beispielsweise den Anteil der visuellen und textuellen Darstellung der israelischen Sperranlagen in den Medien an der Meinungsbildung). Das kann durch sprachliche und durch bildliche Faktoren bewerkstelligt werden. In multimodalen Medientex- ten – das sind Gesamttexte, in denen eine untrennbare Kombination aus Text und Bild besteht – verschmelzen auch die emotionalen Konsequenzen von Texten und Bildern. Die BILD-Zei- tung beispielsweise bedient sich sowohl der prototypischen Mittel der Emotionslinguistik – z.B. Exklamativsätze, drastische Lexik – als auch emotionalisierender Bildstrategien, beson- ders oft in narrativer Form (vgl. Voss 1999). Das führt mich zum letzten Aspekt dieses Bei- 164 Heike Ortner trags, zur Frage nach der Visuellen Kompetenz im Zusammenhang mit der Emotionalen Kom- petenz. 6. Visuelle und Emotionale Kompetenz Das Konzept der Emotionalen Intelligenz, wie es ursprünglich von Salovey & Mayer (1989, zit. n. Neubauer & Freudenthaler 2006) beschrieben wurde, ist umstritten, aber heuristisch wertvoll. Emotionale Intelligenz wird in manchen Modellen als Fähigkeit beschrieben, andererseits aber auch als Kombination verschiedener Persönlichkeitsmerkmale (z.B. Selbst- achtung, Stresstoleranz, Impulskontrolle). Im vorliegenden Beitrag wird ein Teilaspekt der emotionalen Kompetenz hervorgehoben: die Regeln der Emotionalität, die bereits im Kontext der Emotionslinguistik genannt wurden. In der folgenden Tabelle wird das Konzept der Emotionalen Intelligenz mit den angesproche- nen Regeln verknüpft und auf die Visuelle Kompetenz bezogen. Dabei werden nicht alle, son- dern nur die meines Erachtens wichtigsten Faktoren für die Visuelle Kompetenz aus dem Fra- gebogentest zur Emotionalen Intelligenz entnommen (MSCEIT, Mayer-Salovey-Caruso Emo- tional Intelligence Test; vgl. Neubauer & Freudenthaler 2006). Emotionale Regeln der Emotionalität Visuelle Kompetenz Kompetenz Fähigkeit zum Wahr- Notwendige Voraussetzung z.B. Hinterfragen von emotiona- nehmen von Emotio- für alle Emotionsregeln len Reaktionen auf Bilder und nen bei einem selbst Texte Fähigkeit zum Wahr- Notwendige Voraussetzung z.B. Einordnen von Texten und nehmen von Emotio- für alle Emotionsregeln Bildern in Kontext nen bei anderen sowie in Kunst und Kultur Fähigkeit zur Unter- z.B. Erfüllen oder Nicht-Er- z.B. Manipulationen erkennen, scheidung zwischen füllen von Regeln bei kritisch bleiben echten und unechten anderen erkennen Gefühlen Fähigkeit zu Stim- Flexible Anwendung von z.B. Perspektivierung erkennen, mungsumschwüngen, Regeln der Emotionalität eigene Position einnehmen um unterschiedliche Empathie Standpunkte zu verstehen Wissen um Ursachen Emotionsregeln flexibel z.B. von Text-Bild-Gefüge auf und Folgen von Emo- anwenden können, Muster Ursache und Konsequenzen der tionen für emotionales Verhalten geschilderten Emotionen schlie- erlernt haben ßen (z.B. Konflikte analysieren) Text – Bild – Emotion 165 Fähigkeit zum Alle Regeln der Reaktionen auf Text-Bild-Emo- Umgang mit eigenen Emotionalität einhalten, im tion-Bezüge modellieren, Text- Emotionen richtigen Augenblick aber Bild-Emotion-Bezügen nicht auch Regeldurchbrechungen ausgeliefert sein zulassen Fähigkeit zum Adäquates Reagieren auf Text-Bild-Emotion-Ausdruck Umgang mit Emotionalität anderer Perso- von TextproduzentInnen sowie Emotionen anderer nen und auf Einhalten oder dargestellten Personen aushalten, Menschen Brechen von Regeln durch einordnen, interpretieren andere Personen Immer noch finden wir die Annahme vor, dass Menschen der Macht der Bilder willenlos und hilflos ausgeliefert sind. Dass Bilder aktiv angeeignet werden, sollte aus dem bisher Gesagten klar geworden sein. Dass sich diese Aneignung bei vielen Menschen wesentlich kritischer und besser vollziehen könnte, gerade in Hinblick auf die Emotionalisierung, soll hier nicht bestrit- ten werden. Hier bleibt nur, den „Anikonismus“ (Kappas & Müller 2006, S. 4) zu bedauern und eine stärkere Thematisierung von Visueller Kompetenz im Schulunterricht zu fordern. Ich möchte nun aber noch auf die produktive Seite der Visuellen Kompetenz hindeuten. Die „Amateurisierung der Medien“ (Wiedemann 2005, S. 448) nimmt zu, indem vor allem junge Menschen die modernen Kommunikationsmittel – vor allem das World Wide Web – für die Identitätskonstruktion aktiv nutzen (siehe z.B. die Plattform YouTube, Blogs). Teilweise imi- tieren sie, teilweise schaffen sie kreativ Neues, teilweise gehen sie sehr unkritisch mit Quellen um, was auch die Gefahr der Beliebigkeit und Desinformation in sich birgt (Stichwörter: User Generated Content, kollektive Intelligenz und Schwarmintelligenz im positiven Konnotations- spektrum, Amateurisierung im negativen). Immer jedoch handelt es sich um aktive Prozesse, die zu einer ganz anderen Wahrnehmung von Bildern führen und auch dazu beitragen können, eigene und fremde Emotionen zu verarbeiten. Darin sehe ich ein großes Potenzial, auch in schulischen Kontexten. Für die Entfaltung der Visuellen Kompetenz wird Wissen über Darstellungsregeln unserer Emotionalität (display rules), Wissen über Darstellungsregeln auf der Ebene der Text- und Bildproduktion (depiction rules) und Wissen über die Dekodierung von emotionalen Reizen auf der Ebene der Text- und Bildrezeption (decoding rules) benötigt (vgl. Kappas & Müller 2006, S. 18). Hinzufügen möchte ich noch eine vierte und eine fünfte Ebene, nämlich jene der Text-Bild-Emotion-Kompetenz, die eine Integration zweier unterschiedlicher Kodes (Text und Bild) erfordert, und jene der Medienkompetenz, die all die genannten Erfordernisse der emotio- nalen Text-Bild-Kompetenz in einem bestimmten Rahmen reflektieren, synthetisieren und an- wenden muss. 166 Heike Ortner 7. Ausblick Die Bedeutung von Bildern in den Medien nimmt zu. Erstens haben sich die technischen Mög- lichkeiten und die Verfügbarkeit von Bildern verändert, nicht zuletzt durch die Digitalisierung. Zweitens haben Medienmacherinnen und -macher erkannt, dass Text und Bild unterschiedliche Aufgaben der Informationsvermittlung unterschiedlich gut erfüllen. Besonders durch das World Wide Web ist hier einiges in Bewegung geraten. Zu sehen sind zwei nicht unbedingt gegensätzliche Richtungen, die zum Abschluss gut das wechselhafte Verhältnis zwischen Text und Bild veranschaulichen können: Einerseits wird mitunter befürchtet, dass Texte in einer zunehmend visuellen Welt nur noch als „Postscriptum zum Bild“ (Schmitz 2006, S. 197) fir- mieren; andererseits ist eine „Vertextlichung des Bildmaterials“ (Scheibel 2003, 134) durch Klassifizierungen, Bildunterschriften und Beschlagwortung (Tags, Semantic Web) zu konsta- tieren. Neue Begriffe wie Infotainment und Emotainment betonen, dass auch die Informationsmedien kaum noch ausschließlich neutrale Informationen anbieten. In den Medien gibt es sowohl einen Trend hin zur Visualisierung von Informationen als auch zur Emotionalisierung von Informati- onen (vgl. Kappas & Müller 2006, S. 3f.). Eine weitere Perspektive: Wie verändern die Bildmanipulation und suggestive Argumentation in Texten die Emotionalisierung? Hier ist abschließend noch einmal darauf hinzuweisen, dass unechte Bilder und fehlinformierende Texte einen gleich großen Anteil an einer falschen Emo- tionskultur tragen können, so, wie Text und Bild einander sowohl widersprechen als auch stüt- zen können.1 Literatur Bleuel, Flavia (2009): Emotionale Visiotype. Eine Analyse von Wirkungspotenzialen. In: Petersen, Thomas & Schwender, Clemens (Hrsg.): Visuelle Stereotype. Köln: Halem, S. 96–108. Bosch, Christian (2004): Optimierung der Gestaltung und Darbietung von Bildreizen in der Emotionsmessung. Wien: Phil. Diss. Cihelna, Carmen (1987): Emotion und Kognition bei der Rezeption von Fernsehnachrichten. Der Einfluß der Wort-Bild-Beziehung. Dissertation. Wien: Phil. Diss. 1 Da in diesem Beitrag viele verschiedene, gleichwertige Text-Bild-Emotion-Beziehungen thematisiert werden, die aus Gründen des Umfangs nicht gezeigt werden können, habe ich mich dafür entschieden, die Beispiele auszulagern. Unter folgendem Link kann ein PDF einer Powerpoint-Präsentation mit zahlreichen Illustrationen der hier beschriebenen Aspekte abgerufen werden: [Stand 22.06.2010] Text – Bild – Emotion 167 Demarmels, Sascha (2009): Die Darstellung des Bösen auf politischen Plakaten. In: Petersen, Thomas & Schwender, Clemens (Hrsg.): Visuelle Stereotype. Köln: Halem, S. 31–42. Doelker, Christian (2002): Ein Bild ist mehr als ein Bild. Visuelle Kompetenz in der Multime- dia-Gesellschaft. 3., durchgesehene Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. Doelker, Christian (2006): Bild-Wort-Beziehungen in Print-Gesamttexten. In: Marci-Boehn- cke, Gudrun & Rath, Matthias (Hrsg.): BildTextZeichen lesen. Intermedialität im didakti- schen Diskurs. München: Kopaed (Medienpädagogik interdisziplinär 4), S. 27–38. Döveling, Katrin (2005): Emotionen – Medien – Gemeinschaft. Eine kommunikations-soziolo- gische Analyse. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Fiehler, Reinhard (1990): Kommunikation und Emotion. 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Vorder- und Hinterbühne des Emotio- nalen im Casting-Show-Zeitalter Katrin Döveling Zusammenfassung Vor dem Hintergrund der seit Jahren zunehmenden Popularität und Verbreitung von Casting Shows wie „Deutschland sucht den Superstar“, „Star Search“ und „Starmania“, bei denen die Grenze zwischen Fiktion und Realität, Unterhaltung und Information mehr und mehr ver- schwimmt, werden in diesem Beitrag die auf Produktionsseite eingesetzten Inszenierungsstrate- gien von „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS) ergründet und deren Auswirkungen mittels einer teilstandardisierten Rezipientenbefragung analysiert (vgl. Döveling 2007; dies. 2008; 2010). Hierzu werden zudem Erkenntnisse einer ethnographischen Studie zu „Starmania“ herangezogen (Schwarz 2007), um die inhärenten Identitäts- und Geschlechtskonstruktionen in der Aneignung der österreichischen Casting-Show zu beleuchten. Besonderes Augenmerk gilt den Mitteln der Fiktionalisierung und Inszenierung, die die Suche nach dem Star zu einem Mega-Fernsehevent transformiert (vgl. Kurotschka 2007). Denn: Die Anteilnahme am ‚Schicksal’ der in der Casting- Shows um den Titel „Superstar“ und um die Gunst der Jury und des Medienpublikums wettei- fernden Kandidaten ist beachtlich. Wie lässt sich diese Anteilnahme erklären? Welche Form „vi- sueller Kompetenz“ ist nötig, um „hinter die Bühne“ zu schauen und die Grenzüberschreitun- gen/Hybridisierung (Inhalt & Form) zu erkennen? Welche Bedeutung haben Casting Shows wie DSDS und Starmania für Kinder und Jugendliche und deren visuelle Kompetenz? Wie kann diese gelernt werden? Welche psychologischen und vor allem emotionalen Hintergründe sind in der Rezeption und Aneignung wichtig? In diesem Kontext gilt es, die damit verbundene Performati- vität der medialen Inszenierungen in der Vorder- und Hinterbühne des Emotionalen zu ergründen, um zu verstehen, inwieweit gilt: „Not only Singing, but Seeing is feeling“. Casting Shows im Auge des Betrachters Das Genre des Reality TV hat seit den 90er Jahren nicht nur wesentliche Entwicklungen der Inszenierung von „Alltagsthemen“ und „Alltagspersonen“ (Klaus & Lücke 2003, S. 105) auf- gegriffen, sondern diese auch angeregt. Charakteristisch für diesen Trend sind neben einer emotionalisierten Darstellung des Privaten in der öffentlichen Arena der Fernsehwelt ebenso die Darstellung und Präsentation zwischenmenschlicher Beziehungen und des vermeintlichen ‚Alltags’ von Privatpersonen. Das Reality TV weist insofern eine Entwicklung auf, die seit ihrem Beginn Ende der 1980er Jahre Merkmale anderer Gattungen wie der Soap Opera, der Spielshow und der Dokumentation verbindet. Das so als ‚Hybridgenre’ gekennzeichnete Rea- lity TV vereint dabei Merkmale unterschiedlicher Gattungen und Genres. Hierbei hat sich ein Trend fortgesetzt, für den die Soziologin Angela Keppler den Begriff des „performativen Rea- litätsfernsehens“ (Keppler 1994, S. 8) geprägt hat. Darunter versteht sie „Unterhaltungssen- dungen, die sich zur Bühne herausgehobener Aktionen machen, mit denen gleichwohl direkt Seeing is Feeling 171 oder konkret in die Alltagswirklichkeit der Menschen eingegriffen wird“ (Keppler 1994, S. 8; vgl. Döveling, Mikos & Nieland 2007, S. 7). Durch immer weiter veränderte Charakteristiken diversifiziert sich das Reality TV schließlich, so dass sich verschiedene Ausprägungen wie im Speziellen Casting Shows – auch Music Rea- lity TV genannt – bilden konnten (vgl. Gehrau 2001, S. 18). Innerhalb dieser vielfältigen For- men des performativen Reality TV (vgl. auch Klaus & Lücke 2003, S. 210), erscheinen jedoch Casting Shows wie „Deutschland sucht den Superstar“, „Star Search“ oder „Starmania“ nicht nur als eine besondere Ausprägung (vgl. Döveling, Kurotschka & Nieland 2007, S. 110), son- dern als „eine Weiterentwicklung des ‚performativen Realitätsfernsehens’“ (Schwarz 2007, S. 158; vgl. Keppler 1994). Die Suche nach dem ‚Star’ hat sich zunehmend auch zur Inszenierung von Leistungsvorgaben entwickelt. Und es gilt: „Es kann am Ende nur einen geben“ (vgl. Döveling 2010). „Man zeigt zwar Menschen ‚wie du und ich’, aber durch die erzwungene Inter- vention in deren Leben schreiben die Produzierenden das Leben der Teilnehmer in Drehbuchmanier fort.“ (Schwarz 2007, S. 156f.) Hierbei stellt eine produktionskritische Betrachtung dieses Prozesses die Kandidaten in Cas- ting-Shows als den „Inszenierungsstrategien von Redaktion und Regie“ (Mikos, Winter & Hoffmann 2007, S. 14) unterworfene Subjekte dar, die kein Wissen über das von der Sendung verbreitete Bild ihrer Person haben. Denn: Sowohl Fiktionalisierungs- als auch Authentisie- rungsstrategien kommen bei der Inszenierung zum Tragen, fiktionale und nicht-fiktionale Er- zählweisen werden ineinander verwoben. Vor dem Hintergrund der seit Jahren zunehmenden Popularität und Verbreitung von Hyb- ridgenres, bei denen die Grenze zwischen Fiktion und Realität, Unterhaltung und Information mehr und mehr verschwimmt, geht es hier insbesondere darum, die bei DSDS auf Produktions- seite eingesetzten Inszenierungsstrategien zu untersuchen, die den in der Musik- und Filmbran- che existierenden Vorgang „Casting“ mit Mitteln der Fiktionalisierung und Inszenierung zu einem Mega-Fernsehevent transformieren (vgl. Kurotschka 2007). Diese Perspektive ist grundlegend, um schließlich die Sicht und Faszination der Rezipienten zu verstehen, um Casting Shows ‚im Auge der Zuschauer’ zu erfassen. Denn: Die Betrachtung und Anteilnahme am ‚Schicksal’ der in der Casting-Show um den Titel „Superstar“ und um die Fürsprache der Jury und des Medienpublikums wetteifernden Kandidaten ist beachtlich, wie nachfolgende Grafik verdeutlicht. 172 Katrin Döveling Abbildung 1: Entwicklung der Zuschauerquoten aller 20 Sendungen von DSDS, 7. Staffel.(Angabe in Mio. Zuschauer) Quelle: GFK Wochenberichte 2010 Aber nicht nur das Interesse des Fernsehpublikums ist bemerkenswert; auch in den Medien wurde und wird ausgiebig über das Phänomen „Deutschland sucht den Superstar“ und im Spe- ziellen über einzelne Charaktere berichtet. So heißt es: „RTL sucht den Superdeppen“, und weiter: „Eine tänzelnde Friseurin, ein dürrer Scooter-Fan und der ‚Pipi-Kandidat‘ – zum Start von ‚Deutschland sucht den Superstar‘ konzentriert sich RTL auf talentfreie Akteure. Die Mas- sen liefern sich dem Bohlen-Tribunal mit Hingabe aus. Sie begreifen nicht: Diese Show ist keine Chance, sondern eine Hinrichtung.“1 Ein anderer schreibt: „Der Glaube, den Casting- Shows gingen allmählich die Kandidaten aus, war ein Trugschluss. Das Potential an Verkäufe- rinnen, Schülern und „Arbeitssuchenden“ (RTL), die sich durch „DSDS“ ein aufregendes Da- sein erhoffen, ist nicht erschöpft.“2 Und an anderer Stelle heißt es: „Beängstigend, was Fernsehen aus einem Menschen rausholen kann: Selbst Schüchternste werden bei ‚Deutschland sucht den Superstar‘ zu Showgrößen. Denn die Sendung hat sich perfektioniert. Statt Gesangs-Einerlei gibt es Drama, Kuriositäten, Schicksale – so viel besser als Raabs öde ‚Wok-WM‘.“3 Im diesem Beitrag wird die anhaltende Faszination der Shows vor dem Hintergrund der Rolle und Tragweite des „mediatisierten Teledarwinismus“ (vgl. Döveling 2010), vor allem im Zu- sammenhang mit dieser zunehmenden Inszenierung von Leistung, Inklusion und Exklusion 1 Peer Schader: Neue „DSDS“-Staffel ,RTL sucht den Superdeppen, in: http://www.spiegel.de/kultur/tv/0,1518,druck- 670560,00.html [Stand 07.01.2010] 2 Jörg Thomann, „Deutschland sucht den Superstar“. Der Triumph des Pausenhofs, in http://www.faz.net/-00np0h [Stand 11.01.2007] 3 Peer Schader: "Deutschland sucht den Superstar" Abgesang der Milchgesichter, in: http://www.spiegel.de/kultur/ gesellschaft/0,1518,druck-612012,00.html [Stand 08.03.2009] Seeing is Feeling 173 sowie damit zusammenhängender Stigmatisierung und Performativität medialer Inszenierun- gen diskutiert. Untersuchungsgegenstand ist daher das besondere Verhältnis von visualisierter Realität und performativer Fiktion innerhalb des Formates. Im Folgenden wird das Phänomen Casting Show im Hinblick auf die Emotionalisierung und Stigmatisierung und das inhärente Leistungs- und Auswahlprinzip eines zunehmend plebiszitären Fernsehmarktes ergründet. Die zentralen Fragen sind: • Worin liegt die Faszination dieser Formate (spez. DSDS) für das Publikum? • Welche Form „visueller Kompetenz“ ist nötig, um „hinter die Bühne“ zu schauen und die Grenzüberschreitungen/Hybridisierung (Inhalt & Form) zu erkennen? • Welche Bedeutung haben Casting Shows wie DSDS und Starmania für Kinder und Ju- gendliche und deren visuelle Kompetenz? • Wie kann diese Kompetenz gelernt werden? Welche psychologischen und vor allem emotionalen Hintergründe sind in der Rezeption und Aneignung wichtig? In der Beantwortung der Fragen gilt es, die Grenzauflösung zwischen Realität und medialer Realität (vgl. Keppler 1994) vor dem Hintergrund kultureller und gesellschaftlicher Einfluss- faktoren und Entwicklungen zu sehen (vgl. Thomas 2007, S. 112), wobei die spezifischen Charakteristika von Casting Shows in diesem Kontext diskutiert werden müssen. Faszination: Vorder- und Hinterbühne von Casting Shows Casting Shows zählen mittlerweile zu den erfolgreichsten Formaten der Fernsehunterhaltung. Das Wort „Casting“ meint dabei ursprünglich eine „Bewerbung und Prüfung des Schauspie- lers, deren Ausgang über das Engagement, die Aufnahme ins Ensemble und die Rolle ent- scheidet“ (Jähner 2005, S. 619). Im Fall von „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Starma- nia“ bedeutet es die Auswahl und Besetzung des „Superstars“. Der Zuschauer kann über Wochen und Monate diesen Auswahlprozess, den Jähner als „Mara- thon“ (2005, S. 619) bezeichnet, verfolgen. Dabei erlebt er mit, wie begabte und unbegabte Kandidaten bis zum glamourösen bzw. gar nicht glamourösen Ende mit ihren Auftritten in Szene gesetzt werden. Die Metapher der „Vorderbühne“ ist daher mehr als ein Sinnbild. Denn: Nachdem von der Jury eine Vorauswahl getroffen wurde, müssen die ausgewählten Kandida- ten sich auf einer Showbühne in den folgenden Sendungen nicht nur der Jury, sondern einem Saalpublikum, den Moderatoren, und vor allem auch einem Millionenpublikum vor den Fern- sehbildschirmen stellen, das die Kandidaten per Televoting in die nächste Runde lässt oder auch nicht. Der Gewinner der Show erhält eine Siegerprämie von 100.000 Euro. Die Sendungen zeigen, dass die Grenzen in der Inszenierung von Leistung, Intimität, Fiktion und Realität in der Dramaturgie der Shows wie auch in den zusätzlichen „Backstage-Sendun- gen“4 schwinden. Insofern lassen sich Casting-Shows als eine besondere Ausprägung des 4 Vgl. http://www.superrtl.de/TVProgramm/MusikShow/DSDSDasMagazin/Infos/DasMagazinbeiSPERRTL/tabid/ 717/ Default.aspx [Stand 06.01.2010] 174 Katrin Döveling Affektfernsehens (vgl. Bente & Fromm 1997) verstehen. Dieses kennzeichnet sich durch fol- gende Merkmale (vgl. ebd., S. 20): • Personalisierung (Darstellung von Schicksalen von Einzelpersonen) • Authentizität (Erzählung und/oder Inszenierung von Ereignissen) • Intimisierung (Darstellung persönlicher Themen zwischenmenschlicher Beziehungen) • Emotionalisierung (Betonung von Emotionen und des gefühlten Erlebens und Empfin- dens). Doch Casting Shows wie „Star Search“, „Deutschland sucht den Superstar“ und „Starmania“ verbinden zusätzlich Elemente anderer Formate (vgl. Schwarz 2007; Leidenfrost & Schadler 2005): 1. Talkshow: Eine Moderatorin führt in Backstagesendungen Gespräche mit den Teilneh- merInnen, ihren Familien, Freunden, „Fans“. 2. Beziehungsshow: Die Einzelschicksale der Kandidaten werden seriell aufgegriffen. Dabei wird beispielsweise ein Ex-Häftling gezeigt, der sich nun durch die Sendung einen Neuan- fang im Leben erhofft und mit seiner Tochter auf dem Arm in Nahaufnahme bei einem Spaziergang gezeigt wird. Die Kandidaten, die es schließlich in die „Mottoshows“ schaf- fen, werden in einem Haus oder einer Wohnung untergebracht und dort gefilmt. 3. Wettbewerb und Spieleshow: Teil des Skriptes bei „Deutschland sucht den Superstar“ ist, dass eine Jury die Leistungen der Kandidaten in allen Sendungen öffentlich bewertet. Das Prinzip der individualisierten Leistungsgesellschaft wird medial reproduziert (vgl. Jähner 2005, S. 627; vgl. Döveling 2007, dies. 2010). Der Handlungsplot basiert auf dem Prinzip der Leistungsshow und des Ausscheidungskampfes (vgl. Jähner 2005, S. 619). „Und weil die Show ganze Berufs- und Lebenswege, die Aufstiege und Abstiege in der künftigen Lebensbahn wie in einer Laborsituation komprimiert und im öffentlichen Massenexperiment zur Schau stellt, stellt sie auch die Spannweite von Karrieren (das Verhältnis von Leistung, Glück und Erfolg) zur Schau“ (ebd., S. 627). Neben der dargelegten öffentlichen Selektion durch die „Bewertung der Bewertung“ fungieren die „öffentliche Bühne der Emotionen“, „die Beobachtung und das Beachtet-Werden“, „die visualisierte Bewertung“, die „multi-mediale Vermarktung“ und die „direkte Partizipation“ durch das Votum der Zuschauer (vgl. Döveling 2007, S. 182) als entscheidende formatcha- rakteristische und quotenbringende Merkmale. Im nächsten Schritt wird die „öffentliche Bühne der Emotionen“ näher beleuchtet, bevor sie mit den damit zusammenhängenden Aspekten in Bezug gesetzt wird. In besonderer Form verschmilzt und vermischt sich die im Theater und Schauspiel noch prä- sente Dichotomie von „frontstage“ und „backstage“ und von „öffentlich“ vs. „privat “. Auf der Vorderbühne der Show sehen und erleben die Zuschauer allwöchentlich eine Darbietung, in der Kandidaten live ‚on stage’ vor einem Publikum singen, tanzen und meist im Anschluss kurz vom Moderator interviewt und von einer Jury in allen Sendungen öffentlich bewertet werden, Seeing is Feeling 175 bevor das Publikum vor den Fernsehbildschirmen votieren darf, wer es potentiell in die nächste Runde auf eben diese Bühne schafft und wer wieder in sein Alltagsleben zurückkehren muss. Vorderbühne: Hinterbühne: Ort des „offiziellen“, RTV Ort des „inoffiziellen“, für Eingeweihte, für alle sichtbaren Geschehens Beteiligte sichtbaren Geschehens Abbildung 2: Im Reality TV mischen sich Vorder- und Hinterbühne. Dabei geht es einerseits um öffentlich gezeigte Leistung, die potentiell zum Ruhm führt, um das potentiell Einzigartige, um das Außergewöhnliche, das Schaffen des Besonderen. Tanja Thomas (2004, S. 191) versteht dabei dieses Fernsehformat als eine „Werkstatt des neolibera- len Subjekts“. Bevor die Kandidaten die Bühne betreten, werden kurze Filmausschnitte von ihnen gezeigt, die das Besondere ihrer Person darstellen; Nahaufnahmen fangen die Emotions- regungen im Gesicht ein und werden musikalisch untermauert. Abbildung 3: DSDS-Kandidat Daniel Schuhmacher im Finale.5 Im Anschluss betreten die Kandidaten die Bühne, singen jede Woche ein neues Lied (meist aus den Charts) und versuchen, eine Inszenierung zu bieten, die jener der „realen“ Pop-Stars nahe kommt. Dabei zeigt sich, dass Emotionen ein zentrales Merkmal der Sendung darstellen. Es geht also andererseits vor allem auch um öffentlich gezeigte Emotionen. 5 Vgl. http://www.merkur-online.de/bilder/2009/05/10/292801/1611087011-dsdsfinale-bildern.9.jpg [Stand 06.07.2010] 176 Katrin Döveling Staged Emotions. Impression Management Emotionen werden in den gesungenen Liedern zum Ausdruck gebracht, sie werden zusätzlich aber auch durch die „Performance“, die Darstellung auf der Bühne inszeniert. Abbildung 4: Drei Teilnehmer von DSDS erwarten das Urteil der Jury.6 Diese „Staged Emotions“ zeigen sich wieder in Nahaufnahmen der Kandidaten, die durch die Kamera den Zuschauer „direkt“ anschauen, während sie singen. Doch nicht nur während die Star-Anwärter singen, werden ihre Gesichter genauer betrachtet. Abbildung 5: DSDS-Kandidat Thomas Godoj auf der Bühne.7 Nach dem Auftritt wird ein Spannungsbogen erzeugt, der zunächst bei einem Interview nach dem Gesang anfängt, dann beim Urteil der Jury voranschreitet und schließlich in der darauf am 6 Vgl. http://www.derwesten.de/img/665410-559946436/0151_495_0023459865-0053437260.JPG.jpg [Stand 06.07.2010] 7 http://www.uli-kutting.de/blog/wp-content/uploads/2008/05/dsds-finalisten-2008_01.jpg [Stand 18.08.2010] Seeing is Feeling 177 späten Abend folgenden Verkündung der Entscheidung der Fernsehzuschauer seinen emo- tionalen Ausdruckshöhepunkt findet. Die mediale Inszenierung in Form von Echtzeit- und Live-Übertragung vermittelt eine Realität, die als dramaturgisch inszenierter Wettbewerb ei- nerseits aus der normalen Realität ausgelagert wird, andererseits zugleich auf dieser aufbaut. Das Publikum wird so zum Teil eines gemeinsamen dramaturgisch aufgeladenen emotionalen Erfahrungshorizontes, der seinen emotionalen Höhepunkt vor und hinter den Kameras erlebt. Beachtet man zudem, dass die Intensität der erlebten Emotionen davon abhängt, inwiefern das Gezeigte als „ich-nah“ (vgl. Law of apparent reality, Frijda 2007) erlebt wird, so lässt sich hier festhalten, dass durch die Vermittlung des realitätsnahen Erlebens die Emotionalität des Rezi- pienten im Sinne eines „Involvement“ gesteigert wird. Casting Shows zeichnen sich dadurch aus, dass die eigentliche theatralische Hinterbühne, wie Goffman sie definiert (1959, S. 104f.) gleichzeitig zu einer medialen Vorderbühne wird. „Die Hinterbühne kann definiert werden als der zu einer Vorstellung gehörige Ort, an dem der durch die Darstellung hervorgerufene Eindruck bewußt und selbstverständlich widerlegt wird. Ein solcher Ort hat natürlich viele charakteris- tische Funktionen. Hier kann das, was eine Vorstellung hergibt, nämlich etwas außerhalb ihrer selbst Liegendes auszudrücken, erarbeitet werden; hier werden Eindrücke und Illusionen offen entwickelt.“ (Goffman 1959, S. 104) Bereits während der ersten Runden des Castings zeigen Filme Einblicke in das Leben der zu Besonderem Fähigen, wie zum Beispiel die Doppelbelastung einer Kandidatin als Mutter und Jurastudentin. Ein weiterer Film zeigt, wie ein ehemaliger Gefängnisinsasse sich durch die Sendung ein neues Leben verspricht, ein junger Vater sich den Namen seines Sohns auf den Arm tätowieren lässt.8 Hintergrundgeschichten in „DSDS – Das Magazin“ präsentieren ein weiteres mediales Fenster mit Bühnencharakter im Sinne von Goffman (1959), auf dem Weg zur potentiellen Erfüllung des Traums prominent zu werden. Casting Shows stellen so das Besondere („Star“) zusammen mit dem Alltäglichen in einen Kontext. Hierbei wird deutlich, dass das, was Goffman (1959) als Hinterbühne bezeichnet, mittlerweile Einzug in die mediatisierte Bühne gehalten hat. Die „Kontrolle über die Hinterbühne“ (Goff- man, 1959, S. 106) wird durch die mediale Präsenz aufgelöst, von ihr übernommen, sodass sie zur mediatisierten Vorderbühne wird. „Im Allgemeinen wird natürlich der Darsteller sicher sein können, daß kein Mit- glied des Publikums bis auf die Hinterbühne vordringt. Da die entscheidenden Geheimnisse des Schauspiels hinter der Bühne sichtbar werden, und weil Dar- steller aus der Rolle fallen, solange sie dort sind, muß man erwarten, daß der Zu- gang von der Vorderbühne zur Hinterbühne dem Publikum verborgen wird.“ (ebd, S. 105f.) 8 http://www.rtl.de/cms/unterhaltung/superstar/dsds-top10-kandidaten.html [Stand 16.3.2010] 178 Katrin Döveling Das soziale Leben der Kandidaten wird auf der öffentlichen Bühne des Fernsehbildschirms ge- zeigt, die verschiedenen Rollen, die jeder von ihnen ausfüllt, inszeniert. Die ursprünglich pri- vate „Eindrucksmanipulation“ wird mediatisiert und damit öffentlich. Die Vorder- und Hinter- bühnen, zu deren Erschaffung und Bewahrung kollektives Auftreten erforderlich ist, ver- schmelzen und finden ein Millionenpublikum. Castings wie „Deutschland sucht den Superstar“ wären, so Jähner (2005, S. 620), zudem alte „Talentschuppen“, erhielten sie nicht durch Vergleichbarkeit mit dem Big Brother Container- Prinzip ihr spezielles Merkmal. Denn: Die Kandidaten, die es schließlich durch alle Vorrunden medialer Auslese geschafft haben, werden in einem Haus des Senders einlogiert und dort me- dial beobachtet. Abbildung 6: Die DSDS-Stars beim Einzug in die DSDS-Villa.9 Dabei werden die Protagonisten seriell in den Mittelpunkt gesetzt und andauernde Bewertungs- angebote für ein kontinuierliches Affektangebot geboten (vgl. Bente & Fromm 1997; vgl. auch Wegener 2000, S. 50). Ausgewählte Handlungen der Akteure und stereotype Rollenmuster werden präsentiert und in den jeweiligen Hintergrundsendungen wiederholt (vgl. Strachauer 2008, S. 85). Aus der Rollenzuschreibung wird in der medialen Reproduktion eine Stigmata- Zuschreibung (vgl. Villa 2008). Gerade die mit dem Fernsehen verbundenen Visualisierungs- techniken ermöglichen und fördern die Inszenierung (vgl. Döveling 2010). Visuell und sprach- lich werden die Kandidaten stereotypisiert: Juliette, die „Glamouröse“, Lorenzo, der „Paradies- vogel“, Elli, die „Rockröhre“ (vgl. Strachauer 2008, S. 86) und aktuell der „Checker“ (Sen- dung vom 30.1.2010). 9 Vgl.http://www.news-on-tour.de/wp-content/uploads/2009/03___Maerz/2009_03_00_gemischt/dsds_2009_top10_ einzug_ in_villa.jpg [Stand 06.07.2010] Seeing is Feeling 179 Abbildung 7: DSDS-Kandidat Thomas Karaoglan („Der Checker“10). Die Reduzierung der Charaktere mittels Stereotype und Stigmata ermöglicht die Vermarktung in einer Vermarktungskette, die nicht nur das Fernsehen umfasst, sondern die Printmedien, das Radio ebenso wie das Internet und lokale Kaufhaus einschließt (Döveling, Kurotschka & Nie- land 2007, S. 111). Dies fördert die „Kommerzialisierung der Produktion von Medienpersön- lichkeiten“ (Jacke 2005, S. 114). Dies führt zur zweiten Forschungsfrage: Welche Form „visu- eller Kompetenz“ ist nötig, um „hinter die Bühne“ zu schauen und die Grenzüberschreitungen/ Hybridisierung (Inhalt & Form) zu erkennen? Visuelle Kompetenz im Casting-Show-Zeitalter Bilder, und hierzu zählen auch audiovisuelle Fernsehbilder, haben eine symbolische Qualität, da sie Bestandteil der symbolischen Kommunikation im Rahmen der Gesellschaft sind. Im Fernsehen weisen audiovisuelle Bilder eine Verbindung von Bild, Ton, Sprache und Schrift als Bestandteil von Kultur auf (vgl. Mikos 2000, S. 8). Bilder sind dabei konkreter als abstrakte Worte, unmittelbarer, emotionaler und in ihrer Bedeutung offener (Doelker 1997, S. 52ff). Sie lassen sich zur Kommunikation verwenden, weil „Ideen“ mit ihnen jenseits von Sprache und Schrift kommuniziert werden können (Mikos 2000, S. 8). Die Herausforderung im Umgang mit Bildern liegt darin begründet, dass Bildern, sofern sie einer vermeintlichen fotografischen Abbildrealität folgen, wie beispielsweise Fotos, Filmbilder und Fernsehbilder, neben der sym- bolischen Qualität auch eine ikonische Qualität, und damit Authentizität zugeschrieben wird (vgl. Mikos 2000, S. 8). Casting Shows stellen vor diesem Hintergrund besondere Anforderun- gen an das Verständnis von visueller Kompetenz. Für Mikos (2000, S. 9) bedeutet diese „die Fähigkeit, zwischen ikonischen und symbolischen Qualitäten unterscheiden zu können“. Er betont, dass diese visuelle Kompetenz der Medienkompetenz vorgelagert ist, da sie auch bei „nicht-medialen visuellen Erfahrungen“ (ebd.) eine zentrale Rolle spielt. „Das Sehen spielt im Leben von Kindern schon früh eine Rolle, noch bevor sie audiovisuelle Medien nutzen. Ihre visuellen Erfahrungen ohne und mit Medien treten neben die Erfahrungen mit der Sprache. Beide Fähigkeiten, der Umgang mit Sprache und mit Bildern und visuellen Formen, wird nach und nach erlernt. 10 Vgl. http://unterhaltung.t-online.de/b/41/00/64/16/id_41006416/tid_da/thomas-karaoglan-foto-rtl-.jpg [Stand 18.08.2010] 180 Katrin Döveling So erschließt sich die subjektive und gesellschaftliche Bedeutung der symboli- schen Formen für die Kinder nach und nach.“ (Mikos 2000, S. 9) Was bedeutet dies im Hinblick auf die Inszenierung von DSDS einerseits und andererseits auf das Sehen und die Rezeption der Sendung? Gerade im Rahmen einer medialen Inszenierung ist „Glaubwürdigkeit der Darstellung einer Einheit von innerer Überzeugung und äußerem Han- deln“ (Kurotschka 2007, S. 132) von Bedeutung. Hierbei geht es um das Erkennen der Insze- nierung, wie oben dargelegt, und um das Erkennen der Inszenierung von (emotionaler) Authentizität. Dabei zeigt sich wiederum die Dichotomie von Authentizität und Inszenierung. 1. Einerseits sind die Kandidaten reale Personen, die zudem in den meisten Fällen keine Medienerfahrungen im eigenen Leben aufweisen. Es handelt sich also nicht um „Profis“ oder Schauspieler. 2. Andererseits stellt die Inszenierung sie vor die Aufgabe, die oben dargelegten Darstellungsformen zu bedienen und die unterschiedlichen vom Skript vorgegebenen Rollen anzunehmen. Dabei stellt der moralische Anspruch der Gesellschaft nach Authenti- zität die Kandidaten vor die paradoxe Aufgabe, überzeugend darzustellen, dass sie nicht schauspielern. Wie der Zuschauer die Darstellung der Kandidaten letztlich beurteilt, „hängt von seiner jewei- ligen Definition der Rahmensituation ab“ (Kurotschka 2007, S. 145), und mehr noch von sei- ner visuellen Kompetenz. In diesem Kontext wird hier eine erweiterte Definition von visueller Kompetenz vorgeschlagen, die sich nicht nur auf das ‚Lesen’, Verstehen von Bildern bezieht, sondern die vor allem das Fühlen von Bildern einschließt und in einen emotionalen Erfah- rungshintergrund der eigenen Kultur und Sozialisation innerhalb einer bestimmten Gesell- schaft einbettet. Visuelle Kompetenz – Emotionale Kompetenz In der audiovisuellen Mediengefühlskultur werden – neben dem Verstehen von Schrift und Sprache – das Verständnis, das Interpretieren und das Fühlen von Bildern zu einer zentralen und immer bedeutsameren Aktivität der menschlichen Informationsverarbeitung. Soziokultu- relle Einflüsse und individuelle Erlebnisse spielen nicht nur eine wesentliche Rolle beim Erler- nen von Modifikationen von Gefühlsäußerungen und -darbietungen, „sondern auch bei der Entscheidung darüber, was ein Gefühl auslöst oder was ein Mensch infolge des Gefühls tun wird.“ (Wilms 1994, S. 15).11 Damit wird die Definition von visueller Kompetenz um die der emotionalen erweitert. Denn: Jeder Gefühlsausdruck verweist einerseits auf individuelle Wahr- nehmungen und andererseits auf kulturelle und gruppenspezifische Normen. Somit besitzt er Zeichencharakter. Gefühle werden audiovisuell ausgetauscht und in einem interaktiven und interpersonalen Kontext handlungswirksam. Emotionen stellen nicht nur Ressourcen im inter- personalen, sondern auch im audiovisuell-medialen Kontext dar (vgl. Döveling 2008). Das 11 Wilms greift hier ein Zitat von Izard auf: Caroll E. Izard: Die Emotionen des Menschen. Eine Einführung in die Grundlagen der Emotionstheorie, Weinheim, Basel, 1981, S. 33. Seeing is Feeling 181 performative Realitätsfernsehen zeigt diese Wechselwirkung des Ressourcenaustauschs in besonderer Form. In einer audiovisuellen „emotionalen Agenda“ wird ein Gratifikationsange- bot augenfällig, das Distanzen verringert, indem es Emotionen anbietet. In „Deutschland sucht den Superstar“ wird die dialektische Dynamik der Aufmerksamkeit und Emotionalität deutlich. Diese fungieren einerseits als Leitmotive der Sendung, andererseits als Antriebe in der sozialen wie emotionalen Interaktion (vgl. Döveling 2008, S. 75). In Anlehnung an das Konzept der Emotional Intelligence, welches wie folgt definiert wird: “the capacity to reason about emotions, and of emotions to enhance thinking. It includes the abilities to accurately perceive emotions, to access and generate emotions so as to assist thought, to understand emotions and emotional know- ledge, and to reflectively regulate emotions so as to promote emotional and in- tellectual growth” (vgl. Mayer & Salovey 1997; Mayer, Salovey & Caruso 2004, S. 197, Herv. durch Autorin) wird hier diese emotionale Kompetenz als integraler Bestandteil visueller Kompetenz mit ein- geschlossen. Als Bestandteil von Medienkompetenz bezieht sie sich nicht nur auf diskursive, sondern auch auf präsentative Kompetenzen und stellt einen wesentlichen Anteil der sozialen Handlungskompetenz dar. Dies wird hier um die emotionalen Aspekte erweitert. Hierbei be- zieht sich „emotionale Kompetenz“ auf 1. die Wahrnehmung von Emotionen 2. die Verwendung von Emotionen zur Unterstützung des Denkens 3. das Verstehen von Emotionen 4. den Umgang mit Emotionen (vgl. Mayer, Salovey & Caruso 2004). Bei Sendungen wie DSDS wird „[d]as Fernseherlebnis auf der Basis emotionaler Bewertungen und Bedürfnisorientierung zum ‚Mitfühlerlebnis‘“ (Döveling 2008, S. 75). Emotionen werden dargestellt, inszeniert, performativ in Szene gesetzt, dramaturgisch untermalt und narrativ in einen medialen Handlungsgplot gebracht. Das Erkennen und Wahrnehmen sowie das Verste- hen und der Umgang mit audiovisuellen Emotionen erweisen sich dabei als essentiell. Nach Salovey und Mayer (1990, S. 189) lassen sich hier besonders zwei Formen herausheben, die für das hier zugrunde gelegte Verständnis von visueller Kompetenz grundlegend sind: 1. Intrapersonal intelligence: „to detect and to symbolize complex and highly differenti- ated sets of feelings … to attain a deep knowledge of … feeling life. “ 2. Interpersonal intelligence: „the ability to monitor others‘ moods and temperaments and to enlist such knowledge into the service of predicting their future behavior.“ (Salovey & Mayer, 1990, S. 189) Emotionen werden kulturell geprägt, gelernt und leiten Handlungsweisen. Dies kann explizit, aber auch implizit geschehen, wie die nachfolgende Grafik verdeutlicht. 182 Katrin Döveling explizit implizit Abbildung 8: Bild und Emotionswissen (eig. Darstellung in Anlehnung an Reinmann-Rothmeier & Vohle 2002, S. 344) Bezieht man dies wiederum auf die visuelle Kompetenz, so lässt sich festhalten, dass diese in einem Aneignungsprozess emotionale Kompetenz nicht nur einschließt, sondern emotionales Handlungswissen beinhaltet. Die hier grundlegenden Aspekte und Wechselwirkungen werden nachfolgend erläutert. Seeing is (also) Feeling Casting Shows wie DSDS basieren auf der Visualisierung von Traumwelten. Die Inszenierung präsentiert „Superstars“ als „Helden der Populärkultur“ (Brugger, Matt & Miessgang 2005, S. 11). Casting Shows und ihre Kandidaten sind „sichtbare Giganten der modernen Medienge- sellschaft, ein gesellschaftliches Phänomen, das mit und durch die Massenmedien funktioniert, durch sie Wunschwelten und Sehnsuchtsofferten anbietet.“ (vgl. ebd, Herv. durch Autorin, vgl. Döveling 2008). Sie repräsentieren Stärke, Schönheit, Macht (vgl. Brugger, Matt & Miessgang 2005, S. 11). Sie binden ein mediales Publikum an Bildschirme, Leinwände, Zeitungen. Sie erhalten Bedeutsamkeit durch Aufmerksamkeit. „Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen. Ihr Bezug sticht jedes andere Einkommen aus. Darum steht der Ruhm über der Macht, darum verblaßt der Reichtum neben der Prominenz. Prominente sind die Einkommensmillionäre in Sachen Aufmerksamkeit“ (Franck 1998, S. 10). Medien erbringen in diesem Kontext wesentliche gesellschaftsrelevante Leistungen. Sie ver- mitteln in der Inszenierung von Star-Welten Gratifikationen und tragen zu einer emotionalen Bedürfnisbefriedigung bei (Saxer & Märki-Koepp 1992, S. 15). Die Fähigkeit, Emotionen und die Inszenierung emotionaler Authentizität zu erkennen, wird zum Schlüssel visueller Kompe- tenz. Wie kann diese visuelle Kompetenz gelernt werden? Welche psychologischen und vor Seeing is Feeling 183 allem emotionalen Hintergründe sind in der Rezeption und Aneignung wichtig? Zentral ist, dass die kommunikative Verarbeitung emotionaler Reaktionen auf durch die Massenmedien vermittelte Botschaften eine wichtige Strategie darstellt, mit seiner eigenen, individuellen Be- wertung der vermittelten Situation umzugehen (vgl. Döveling & Schwarz 2010, S. 98). Für Kinder und Jugendliche sind besonders Familienmitglieder und Freunde aus der Peergroup ‚relevante Andere’ für Prozesse der Identitätskonstruktion und die Aneignung von Medienin- halten. „Während die Familie vor allem für ein Verständnis der im elterlichen Haushalt situ- ierten Rezeptionssituation von Bedeutung ist, fungiert die Peergroup als zentraler Rahmen für geschlechts- und entwicklungsspezifische Aneignungsformen.“ (Schwarz 2007, S. 162). Empirische Ergebnisse legen die Tragweite der kommunikativen Aneignung dar. Die fernseh- begleitenden Gespräche, vor allem zwischen Müttern und Töchtern, weisen dabei sozialisieren- den Charakter auf (vgl. Klemm 2000; Schwarz 2007). So konnte Schwarz durch ethnogra- phisch erhobene qualitative Forschungsergebnisse zur Rezeption der österreichischen Casting- Show „Starmania“ veranschaulichen, dass das Programm von seinen Rezipienten für Prozesse der Identitatskonstruktion eingesetzt wird (vgl. Schwarz 2007, S. 155). Hierbei wurde die (ge- meinschaftliche) Aneignung der zweiten Staffel „Starmania“ untersucht. Die Mädchen konsti- tuieren sich mit der gemeinsamen Performance in der Schule als weibliche Handlungsgemein- schaft mit ähnlichen Vorlieben und Interessen. So antwortet ein Mädchen: „Na ja, manchmal machen wir ihnen schon alles nach, also beim alten Starmania die Christl haben wir noch nicht vergessen und wir singen auch noch Lieder von der.“ (ebd., S. 165) Besonders relevant erscheint das Ergebnis, dass die „Einbettung der Rezeption in das soziale System ‚Familie‘ und die Lesarten der Mutter milieuspezifischen Besonderheiten unterliegen“ (Schwarz 2007, S. 172). Eine weitere Studie (vgl. Döveling 2007) weist darauf hin, dass die Aushandlung von ‚gut‘ und ‚schlecht‘, ‚echt und nicht echt‘, von ‚fair‘ und ‚nicht fair‘ einen besonderen Stellenwert einnimmt. In teilstandardisierten Interviews in 5 Berliner Schulen wur- den Schüler verschiedener Schularten nach DSDS gefragt. So hebt ein weiblicher Fan hervor: „Na also ich sprech’ mit meiner Freundin da auch darüber. (…) Die guckt das auch immer. Na, man fragt z.B., ob man das gut fand, wer ist rausgeflogen und alles. (…) Und was die Jury z.B. gesagt hat. Und wie, ähm..., wie sie z.B. wie sie es fanden, ob’s gut war oder schlecht.“ (Zitat aus Studie, Döveling 2007, S. 197) Demnach kann resümiert werden (vgl. Döveling 2007, S. 189; vgl. auch Döveling & Sommer 2008): 1) Bewertungen von anderen, vor allem Nahestehenden, werden in der Verarbeitung und Bewertung von Casting Shows als saliente Einflussgrößen der individuellen Bewertung betrachtet. 2) Die Bewertungen von anderen beziehen sich hierbei nicht nur auf medial vermittelte Ge- schehnisse, sondern auch auf die Emotionen des „Self“. 184 Katrin Döveling 3) Das „Self“ wird nicht als isoliertes Konstrukt im Rahmen einer Transaktion betrachtet, sondern in Anlehnung an Mead (vgl. 1973) als „Self-in-relation-to others“ analytisch in einen sozialen Kontext eingebunden. Emotionen, die aus den Bewertungen resultieren, sind dabei keine rein privaten Wahrnehmun- gen; ihr individuelles Erscheinen, aber auch die Art und Intensität des Ausdrucks sind abhän- gig von kollektiven Situationen sowie kulturellen Zeichensystemen, die nicht zuletzt in medi- alen Darstellungen ihren Ausdruck finden. Emotionen sind in diesem Sinne durch die Kultur „gezeichnet“, durch kulturelle Kodes „kultiviert“, in Zeichensystemen repräsentiert, kommen durch semiotische Prozesse zum Ausdruck und werden mittels Zeichen „interpretiert“ (Vester 1991, S. 98). Entscheidend ist bei dieser Definition von Kultur zum einen, dass die Deutungs- muster und Werte sozial generalisiert sind (Gerhards 2000, S. 11).12 Somit besitzt jeder Ge- fühlsausdruck einen Zeichencharakter. Bezogen auf Casting Shows lässt sich demnach fest- halten: Die visuellen Darbietungen der emotionalen Höhe- und Tiefpunkte der Kandidaten haben sich in Casting Shows zum Standard und zentralen Charakteristikum entwickelt, und zwar auf der Bühne der Show wie auch auf der vermeintlichen Hinterbühne, die das Leben der Finalisten performativ in Szene setzt: Fan, 13, weiblich, Hauptschule: „Das fand ich voll krass. Als die da alle drei auf die Bühne geholt haben. Mann. Das war nicht in Ordnung. Da war ich sauer. Ich mein. Die haben da mit den Gefühlen der drei gespielt. Man wusste jetzt gar nicht, was passiert. Alles war durcheinander. Ich habe da voll mit gelitten und fand’s sch… . Das war unfair. Oder als die sich da vertan haben. Was war denn das? Was sollte das? Fand ich nicht in Ordnung.“ (Zitat aus Studie, Döveling 2007, S. 201) Die Fernsehproduktion und -rezeption ist im plebiszitären Fernseherlebnis (vgl. Döveling 2008; Schmidt 2003) zum „dynamischen Emotionsmanagement“ (Döveling 2008, S. 71) ge- worden, das Stigmatisierung, Leistung, Selektion (damit Inklusion und Exklusion) als gesell- schaftliche Realität visuell widerspiegelt und emotional kondensiert. Hierbei stellen nicht nur Leistung, Leistungsfokussierung, Stigmatisierung und Selektion gesellschaftliche Wirklich- keitskonstruktionen dar, die vor allem auch schon Kinder und Jugendliche betreffen (vgl. Dö- veling 2010). Das notwendige emotionale Lernen entwickelt sich dabei in der Kommunikation im sozialen Kontext, auf dem Schulhof, mit Freunden, in der Familie. Das soziale Umfeld stellt das zentrale Bezugsfeld der Vermittlung visueller und damit auch emotionaler Kompetenz dar. 12 Deutungsmuster werden in Anlehnung an Gerhards wie folgt verstanden: „Deutungen von ‚Welt‘ sind häufig mit anderen Deutungen vernetzt und bilden zusammen ein Deutungsmuster. Deutungsmuster sind Konfigurationen von Einzeldeutungen, die miteinander zu einem System verknüpft sind und zur Interpretation unterschiedlicher konkreter Sachverhalte dienen.“ (Gerhards 2000, S. 11). Seeing is Feeling 185 Denn: Visuelle Kompetenz 1. entwickelt sich im Verlauf der Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung als Ergebnis von non-medialen wie medialen Lerngeschichten, die auf das Zusammenspiel von indivi- duellen und gesellschaftlichen Lernprozessen gründen. 2. ist im jugendlichen Alter ein interaktiver Prozess, der sich durch Gespräche mit signifikan- ten Anderen ausbildet. 3. ist eng mit kommunikativer Kompetenz verbunden. Denn: Visuelle Kompetenz wird durch die Kommunikation geschult und ausgebaut. 4. ist, wie oben dargelegt, eng verbunden mit emotionaler Intelligenz. Formate wie „Starmania“, „Deutschland sucht den Superstar“ und „Star Search“ weisen zudem allein schon durch ihren Namen auf den existierenden Starkult hin. Sie fördern diesen zudem als „Katalysator … am Puls der Zeit“ (Roth 2006, S. 21). In Casting Shows wird schließlich auf dem Weg zum ‚Star’ als „Held der Populärkultur“ (Brugger, Matt & Miessgang 2005, S. 11) die mediale Aufmerksamkeit auf zentrale Charaktere fokussiert. Waren es zu besten Zeiten Hollywoods die unerreichbaren, vereinzelten und auch distanzierten Ideale der Lein- wandstars wie Marilyn Monroe oder Humphrey Bogart, so sind es nach Langer (vgl. 1997) fernsehspezifische „Personality-Systems“, prominente „instant stars“, die suggerieren: Du kannst es auch auf die mediale Bühne schaffen (vgl. hierzu auch Reichertz 2007, S. 95) – zu- mindest die durch den Pop-Art Künstler Andy Warhol bekannten 15 Minuten lang. Die medial und visuell inszenierte Suche nach dem „Superstar“ ist daher mehr eine Suche nach einem neuen Prominenten der Populärkultur als eine tatsächliche Suche nach einem Superstar. In Anlehnung an Krieg (1991, S. 134) kann DSDS als Sensor für gefühlte Bedürfnisse verstanden werden. Auf der einen Seite dient die Inszenierung der angehenden „Stars“ als „ordinary people“ in den Hintergrund-, und Backstagesendungen nach Leidenfrost und Schadler (2005, S. 27) der Ver- mittlung des Gefühls, dass „es im Grunde alle schaffen können, ‚Star des Jahres’ zu werden“. Dem Publikum wird dadurch ein Blick hinter die „Kulissen des Musikgeschäfts“, d.h. eine Darstellung des Auswahlprozesses für einen Plattenvertrag und ein Einblick in die Erlebnisse und Gefühle der Menschen, die diesen Prozess durchleben, vermittelt. Der Blick hinter die Szene wird zum Medienereignis. Auf der anderen Seite dient der Gesangsauftritt auf der DSDS-Bühne der Inszenierung als Star, der im Rampenlicht singt, vor dem Saalpublikum und zugleich auch für das Publikum vor dem Fernseher, was als „ein für das Sendeformat typischer Fall von Mehrfachadressierung“ zu verstehen ist (Leidenfrost & Schadler 2005, S. 28). Was hier zum Tragen kommt ist, dass ein Starimage nicht allein aus den Informationen und Bildern der Medien besteht, sondern vielmehr ein Produkt der Verarbeitung dieser Zeichen und Aussagen darstellt. Erst im Prozess der Rezeption entsteht das Bild eines Stars, sein spezifi- sches Image (Lowry 1997, S. 24). Hierbei spielen Faktoren eine Rolle, die nicht direkt im Image als Medienprodukt oder Zeichen enthalten sind. 186 Katrin Döveling 1. Subjektive Faktoren der Rezipienten: Individuelle, psychische und sozialpsychologische Situationen, grundlegende Mechanismen wie Identifikation, Projektion oder kognitive und emotionale Fähigkeiten. 2. Kultureller Kontext: Die in einer Fangemeinschaft vorhandenen Werte, Ideologien, Dis- kurse. Ohne diesen Kontext – in seiner spezifischen Auswirkung und Zusammensetzung für Rezipienten und Fangruppen – hätte das Starimage keine Bedeutung oder Relevanz für das Publikum. „Da das Image in seiner jeweiligen Ausprägung Produkt der interpretatorischen Arbeit der Rezipienten ist, gibt es genaugenommen nicht ein einzelnes Image, sondern mehrfache Varianten des Images, je nach Verständnis und Nutzung durch die Rezipienten. Ein Star bedeutet nicht dasselbe für seine Fans wie für neutrale oder ablehnende Personen.“ (Lowry 1997, S. 25) In der Erfahrung des „Seeing und Feeling“ der televisionären Bilderwelt können Kinder und Jugendliche sich als Teil einer ästhetisch-stilistisch-emotionalen Gemeinschaft erleben, an dieser teilnehmen und sich durch ihre Bewertungen erproben, Grenzen ausloten, erfahren und kennenlernen. Doch nur, wenn sie – wie oben dargelegt – diese im sozialen Kontext mit ande- ren verarbeiten und kritisch diskutieren können, erlernen sie den Umgang mit der televisionä- ren Inszenierung von Emotionen, das Wissen um Performativität und, damit verbunden, das Erkennen der Vielschichtigkeit der medialen Inszenierungen in der Vorder- und Hinterbühne des Emotionalen im Reality TV. Denn „Not only Singing, but Seeing is feeling“. Literatur Bente, Gary & Fromm, Bettina (1997): Affektfernsehen. Angebotsweisen und Wirkungen. Opladen: Leske + Budrich. Brugger, Ingried; Matt, Gerald & Miessgang, Thomas (2005): Einleitung. In: Brugger, Ingried (Hrsg.): Superstars. Das Prinzip Prominenz von Warhol bis Madonna. Wien, Ostfildern- Ruit: Hatje Cantz, S. 10–15. Doelker, Christian (1997): Ein Bild ist mehr als ein Bild – Visuelle Kompetenz in der Medien- gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta. Döveling, Katrin & Schwarz, Claudia (2010): Politics in the living room. 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Unter welchen Vorzeichen wurden und werden fremdkulturelle Bilder und Themen im okzidentalen Kulturkreis gelesen und verbreitet? Welche Rolle spielt dabei der Filmbetrieb, insbesondere Filmfestivals? Was heißt „interkulturell“? „Bilder funktionieren erst im Verhältnis zu den Wahrnehmenden, Bild ist Verhältnis, nicht Gegenüber. Bild ist prozessuales Verhältnis zur Welt, Formation und eben nicht Information.“ (Ute Holl) In den folgenden Ausführungen steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen Filmbetrieb und Interkulturalität im Mittelpunkt. Um diesem Verhältnis auf die Spur zu kommen, werden zum einen Besonderheiten des Mediums Film betrachtet und zum anderen die Begriffe der „visuel- len Kompetenz“ und „Interkulturalität“ auf ihre Bedeutungen befragt. Beispiele aus der Film- geschichte dienen ebenso zur Veranschaulichung wie in Rückgriff auf die Acteur-Network- Theory diese Filmbeispiele in die Kette des Filmbetriebs, insbesondere der Rolle der Filmfesti- vals, eingeordnet werden, um einen erweiterten Blick zu ermöglichen. Film ist, wie jedes Kunstwerk, erst Film, wenn er gesehen wird, wenn er wahr- und aufgenommen wird, während zugleich Produktions- und Selektionsprozesse durch Geldgeber, Verleiher und Festivalpro- gramme als konstituierende soziale Handlungen sowie Entitäten, wie sie zum Beispiel im Kontext von Filmfestivals entstehen, einen nicht unerheblichen Einfluss auf diese Wahrneh- mung haben. Vorausgreifend lässt sich die These formulieren, dass sie das Verhältnis Film- betrieb – Interkulturalität maßgeblich mit formen und zwar nicht aus einer kommerziellen, sondern aus einer kulturellen Motivation heraus. Denn wenn auch Hollywood als hegemoniales Feindbild kommerzieller Kinostrukturen ein konstituierendes Klischee darstellt, so muss ge- rade deshalb darauf verwiesen werden, dass Film als einzige Kunstform, die industriell produ- ziert und verbreitet wird, immer einem sich gegenseitig definierenden System aus Kommerz und Kunst unterliegt. Neben der Kunstgeschichte dürfte kaum eine andere Bild-Wissenschaft über eine ähnlich fun- dierte, ausdifferenzierte Theorien- und Methodengeschichte verfügen wie die Filmwissen- schaft, die über das 20. Jahrhundert gewachsen ist und eine rigorose Vielfalt an Interpretati- 192 Verena Teissl onsmodellen und Analyseinstrumenten zur Verfügung stellt. Ein Kernsatz, der die große Be- deutung des Films auch in gesellschaftlicher Hinsicht formuliert, stammt von dem Filmwissen- schaftler James Monaco: „Film hat unsere Art, die Welt zu sehen, verändert und damit in ge- wisser Weise, wie wir uns in ihr verhalten.“ (Monaco 1996, S. 238). Dieser kulturphilosophi- sche Ansatz geht zum einen auf die augenfälligste Besonderheit des Tertiärmediums Film zurück: Film sehen heißt bewegte bzw. laufende Bilder sehen, wobei die populäre Umschrei- bung der „laufenden Bilder“ implizit die Wirkung vor die Technik stellt. Es ist bekannterma- ßen eine Leistung des Gehirns, aus den projizierten Einzelbildern einen narrativen Fluss zu bilden bzw. aus diesen Einzelbildern eine Geschichte zu konstruieren und zu interpretieren. Film entsteht mindestens drei Mal: Beim Drehen, beim Schneiden und beim Betrachten. Eine weitere, weniger augenfällige, dafür umso wirkungsmächtigere Besonderheit des Films geht auf genau dieses Illusionsspiel zurück: Es ist so erlebnisintensiv, dass Film besonders während seiner Frühzeit als Medium der Wahrheitsübermittlung erlebt wurde. Man müsste also eigentlich korrigierend sagen, dass die Technik der Filmvorführung das Gehirn austrickst. Ich habe an anderer Stelle die These formuliert, dass die Entstehung von Film eine Manifesta- tion der okzidentalen Kultur-Unruhe darstellte, eine Manifestation ihres Entwicklungsdranges in technischer Hinsicht, aber auch im Versuch größtmöglichen Realismus in der Darstellung und Wiedergabe der Welt zu erreichen, ein Drang, der das 19. Jahrhundert beherrschte (vgl. Teissl 2007, S. 177ff). Der Abbildungscharakter der bewegten Bilder schien diesen Realismus 1:1 zu versprechen – während er aber vielmehr das Ergebnis von Bildkomposition (Inszenie- rung, Licht, usw.), Framing (Bildausschnitt), Tonmontage (bei Tonfilmen), Bildmontage und Vorführung ist – also das Ergebnis einer arbeitsteiligen Kombination, Planung und Technik. Realismus ist darin ein Mittel zum Ausdruck, ein Stil, einer von vielen, und scharf von der realistischen Wirkung zu trennen. Diese Wirkung kann auch bei nicht-realistischen Stilen ein- treten, denn als mächtige Brücke zwischen dem Illusionsspiel auf Leinwand oder Monitor zum Betrachter fungieren die erweckten Emotionen. Kino und Film, das ist zu allererst Erlebnis, ein kulturell normiertes Ritual, gleich einem Kirchengang, einem Theaterstück, einem Gedicht, jeder spirituellen Aufnahme, die es ermöglicht, Gefühle (Glaube, Liebe, Ästhetik) zu durchle- ben und in der inszenierten Imagination auszuleben. Durch das audiovisuelle Parallelerlebnis, das der Film bietet, prägen sich Einstellungen und Szenen oft tief ins individuelle Gedächtnis des Betrachters. Diese Prägung hat erstaunlich sel- ten mit der Story eines Films zu tun, die oftmals in Vergessenheit gerät, als vielmehr mit der Intensität dieser einzelnen Einstellungen und Szenen. Diese wiederum ist abhängig von der gewählten Ästhetik und von der „Befindlichkeit“ eines Individuums oder einer kulturellen Gemeinschaft. Die Wahl eines Stils beschreibt Monaco als „ästhetische Entscheidungen“ und diese wiederum als „grundsätzlich politisch, da sie auf die Beziehung zwischen Filmemacher, Film, Gegenstand und Zuschauer beruhen und nicht auf idealisierten abstrakten Systemen.“ (Monaco 1996, S. 238). Von der Entscheidung des Regisseurs / der Regisseurin zur Wirkung beim Publikum liegt allerdings ein weitverzweigter Weg, der zeitlich ebenso wie individuell, kulturell und politisch variieren kann, sich also eben so wenig in einem abstrakten oder allge- meingültigen System entwickelt. Filmbetrieb und Interkulturalität. Betrachtung eines Verhältnisses 193 Film als industrielles und arbeitsteiliges Produkt ist in hohem Maße involviert in Interessen der Rezeption abseits des künstlerischen Ausdruckswillens und eingebunden in eine Apparatur, die durch unterschiedlich akzentuierte Ausbildungsstätten, komplexe Finanzierungsstrukturen, nationale, politische oder kommerzielle Produktionsideologien sowie globale Verbreitungs- strukturen in unterschiedlichen Medienformaten eine Vielzahl an Akteuren in nationalen und internationalen Zusammenhängen einbindet. Die Wirkung lässt sich bis zu einem gewissen Grad steuern, jedoch nur, wenn so viele Faktoren zusammen treffen, wie dies im Falle des Mediendispositivs Propagandafilm zu Tage tritt. „Jud Süß“ (1940, Veit Harlan) In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden audiovisuelle Medien immer wieder zu pro- pagandistischen Zwecken verwendet, was nach dem Ersten Weltkrieg zu einer ersten morali- schen Hinterfragung führte. Eine der ersten repräsentativen Studien zur Erforschung der Mas- senmedien war 1927 „Propaganda Technique in the World War“ des Politologen Harold D. Lasswell (Mattelart 1999, S. 67). Mit der 1938 von Orson Welles inszeniertem Hörspiel „The War of the Worlds“ ausgelösten Massenpanik kam es wieder zu einer breiten Diskussion über den Einfluss von Medien, und der Meinungsforscher Hadley Cantril stellte fest, dass das ein- zige Mittel zur Verhütung einer Panik die Erziehung – also ein audio(visueller) Kompetenz- erwerb – sei (Mattelart 1999, S. 78). Dennoch verband FilmemacherInnen und Publikum in dieser ersten Jahrhunderthälfte eine allgemeine größere Unschuld im Umgang mit den Medien, als nach 1945 und der nationalsozialistischen Propaganda. Würde man nun „Visuelle Kompetenz“ wörtlich nehmen, so könnte man spekulieren, dass „Jud Süß“ keine oder eine viel geringere Wirkung gehabt haben könnte, hätten die Verant- wortlichen für diesen Film – Regisseur Veit Harlan, sein Team und allen voran Propagandami- nister Goebbels, der selbst Hand angelegt hatte – gegenüber dem Publikum nicht den Vorteil des Wissensvorsprungs bezüglich der Wirksamkeit des Mediums Film gehabt. Mit „wörtlich nehmen“ meine ich hier eine enge Begriffsanwendung von „Visueller Kompetenz“ auf Bild- ebene, also auf Filmsprache und Machart des Films. Auf dieser Ebene bietet visuelle Kompe- tenz zwar die Möglichkeit zur bewussten Wahrnehmung z.B. von suggestiven Einstellungen und von Stilelementen, die „Jud Süß“ zu dem gestalteten, was er sein sollte: Ein Werk, das den schwelenden Antisemitismus nicht nur offiziell machte, sondern als staatlich erwünscht etab- lierte. Diese politische Absicht fiel auf fruchtbaren Boden: In Studien zum nationalsozialisti- schen Propagandafilm „Jud Süß“ wurde deutlich, dass die antisemitische Auswirkung dieses Films, die in spontanen anti-jüdischen Demonstrationen und öffentlichen Übergriffen direkt nach dem Kinobesuch, ja schon im Vorfeld während der Marketingkampagne, Gestalt annahm, nicht möglich gewesen wäre, wäre die deutsche und österreichische Gesellschaft nicht schon durch herrschenden Antisemitismus bereit zu solchen Handlungen gewesen (Kleinhans 2003, S. 132). 20 Millionen Zuschauer wurden über das Kino erreicht, weitere zigtausende über Spezialvorführungen z.B. für die SS und SA. Der Leiter der SS, Heinrich Himmler, befahl im Herbst 1940: „Ich ersuche Vorsorge zu treffen, dass die gesamte SS und Polizei im Laufe des Winters den Film ‚Jud Süß‘ zu sehen bekommen.“ Der Film war mit den Prädikaten „künstle- 194 Verena Teissl risch und staatspolitisch besonders wertvoll“ sowie „jugendwert“ ausgestattet und Teil von Schulveranstaltungen für SchülerInnen ab 14 Jahren. Um „Visuelle Kompetenz“ in einem sehr viel tieferen Verständnis zu erfassen, lässt sich mit dem Kultursoziologen Tasos Zembylas sagen, dass „Wahrnehmung eine soziale Handlung ist und Wissen ebenso wie Können“ impliziert. „Was wir wahrnehmen ist ein Set von Relationen, das grundsätzlich mehrere Bedeutungsfelder generiert. Darum ist Wahrnehmung mit Deutung verknüpft und da, wo Be-Deutung entsteht, ist auch ein Praxisfeld, ein praktischer Hintergrund zu finden, der dem Wahrnehmungsakt vorangeht und vorstrukturiert. (…) Sehen als kulturell generierte Fähigkeit ist stets spezifisch und praxisbezogen.“ (Zembylas 2005, S. 2) Im Falle von „Jud Süß“ ist die antisemitische Absicht nicht nur gestaltgebend für den Film selbst, seine Wirkung potenzierte sich durch die propagandistische Marketingstrategie zum einen, zum anderen aber durch die umfassende staatliche Vereinnahmung des deutschen Filmbetriebs: Die Abwesenheit von ausländischen Filmen in den Kinos, die Zwangsmitgliedschaft der Kinobe- treiber bei der Reichsfilmkammer, die detailreichen Vorschriften für die Gestaltung und Pro- grammierung der Kinos, die Angebote für ein Publikum, das u.a. in Gestalt von uniformierten Offizieren den Staat in die Kinosäle brachte, der Aufbau einer deutsch-nationalen Filmindustrie mit eigenen Stars, deutschen Geschichten und Prädikatsauszeichnungen, das Arbeitsverbot für Juden auch im Filmbetrieb, die großangelegten Schulvorführungen und mobilen Kinos für die ländlichen Regionen – das Deutsche Reich erschuf sich auch aus dem Filmbetrieb heraus. Hier liegen zahlreiche „Bedeutungsfelder“, welche das Dispositiv der Propagandafilmmaschinerie nicht minder zielführend gestalteten und in dem die Filme selbst nur mehr ein Bestandteil der viel umfassenderen Beeinflussung der visuellen Wahrnehmung sind. „Realität“ wurde hier nicht mehr „nachgeahmt“, sondern erschaffen. Wahrnehmung und Wirkung wurden im Falle von „Jud Süß“ deckungsgleich. Die jüdische Kultur innerhalb der deutschen – eine interkulturelle Beziehung, die im Genozid endete – „übersetzte“ Veit Harlan auf zweierlei Arten: Zum einen über die nicht jüdischen Schauspieler – Ferdinand Marian in der Hauptrolle und Werner Krauss in der Rolle von insge- samt fünf Juden (als Sinnbild des „ewigen“ Juden) transportierten als Stars der nationalsozia- listischen Filmindustrie auch außerfilmische Werte. Zum anderen bezog Harlan 120 jüdische Statisten mit ein, welche er, wie damals üblich, aus den Ghettos holen ließ. Die dokumenta- risch anmutenden Szenen dieser aus der Stadt ziehenden Juden wurden mit der Absicht mon- tiert, in tragischer Allianz mit den bevorstehenden politischen Plänen eine Sehgewohnheit herzustellen: „Jud Süß“ führte das Bild der abwandernden Juden ein, an das sich die Bevölke- rung gewöhnen sollte. Heute ist die Gewohnheit der Abwesenheit von Juden und jüdischer Kultur im deutschen und österreichischen Film wie im Leben daraus entstanden. „Interkulturalität“ verwende ich hier in zwei Kontexten: Zum einen für das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen auf gemeinsamen Territorium, zum anderen für die Darstellung oder „Übermittlung“ außereuropäischer Kulturen nach Europa. Im folgenden Absatz steht nochmals ein exemplarisches interkulturelles Verhältnis auf gemeinsamem Territorium im Mittelpunkt: Filmbetrieb und Interkulturalität. Betrachtung eines Verhältnisses 195 Das mexikanische Melodram der Goldenen Epoche Mit weniger belastenden, dennoch fundamentalen Umständen, erlebte ebenfalls in den 1940er Jahren eine nationale Kinematographie ihre ganz andere Ausprägung politischer Einmischung in den Filmbetrieb: In Mexiko wurde nach der Revolution 1910–1920 rasch der Mangel an künstlerischen Identitätsangeboten an die ehemals kolonisierte und größtenteils analphabeti- sche Gesellschaft erkannt. Der Ausbau der Filmindustrie führte in den 1940er und 50er Jahren zur sogenannten „Goldenen Epoche“ des mexikanischen Kinos, zu einer Liebesbeziehung zwischen Film und Publikum, begleitet von zahlreichen Maßnahmen um „Film für alle“ zu ermöglichen: Billige Eintrittspreise, riesige Kinosäle, familienfreundliche Vorführzeiten und ein von Hollywood inspiriertes Star-Glamour-System im außerfilmischem Bereich sowie ein Großaufgebot an traditionellen mexikanischen Motiven und „Typen“, viel dramatische Liebe und populäre Ausdrucksweisen in den Inhalten. So weit, so schön. Doch in Mexiko, das sich besonders nach der Loslösung von Spanien zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Teil der okzi- dentalen Kultur verstand (von Europa weitgehend ignoriert), wuchs im Zuge des liberalen Wirtschaftsglaubens ein immer größer werdender Rassismus gegenüber den indigenen autochthonen Völkern – eine Art „Wirtschaftsrassismus“, wie er sich heute in Europa manifes- tiert. Die indigenen Gesellschaftsstrukturen deckten sich weder mit dem okzidentalen Demo- kratie-Modell noch mit der Kapitalwirtschaft, sie wurden deshalb als innergesellschaftliches Hindernis der liberalistischen Weiterentwicklung verstanden. Um diesem Rassismus entgegen- zutreten, agierten positive Indio-Figuren in den populären Melodramen, freilich physiogno- misch ihrer Wahrhaftigkeit beraubt, denn es waren die großen Stars, die ihnen Gesichter und Gestalt verliehen – und diese waren weiß und okzidental in Gestik und Mimik. Dennoch er- möglichte diese filmische „Einführung“ der Indígenas eine spätere kritische Auseinanderset- zung, in der weder Verdammung noch Beschönigung regierten. Kontext Filmfestivals Den europäischen und US-amerikanischen Markt eroberten diese mexikanischen Filme nur peripher, obwohl ihre filmische und unterhaltende Qualität jener der Hollywood-Produktion aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in nichts nachstand. Dies hat vor allem mit zwei Umständen zu tun: Zum einen hatte Hollywood und seine stärkste wirtschaftliche Lobby, die MPAA (Motion Picture Association of America), dank der von den Majors entwickelten „ver- tikalen“ Marketingstruktur frühzeitig eine Vormachtstellung am internationalen Markt erwirkt. Zum anderen war man in Europa, geschwächt durch Kriege und Wirtschaftskrisen, vor allem an einer Stärkung der hiesigen Nationalindustrien interessiert. Die Fokussierung auf National- bezüge sowohl kommerziell als auch künstlerisch schlug sich besonders in der Struktur der Filmfestivals nieder, welche in Europa mit der Absicht entstanden, den europäischen Markt, aber auch das kulturelle Selbstbewusstsein und die kulturellen Besonderheiten zu stärken. Diese Ausrichtung änderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als das bis heute geltende Kuratorenmodell die national geregelten Einreichverfahren ablöste. Aber bis heute sind Filmfestivals zentrale Schaltstellen, wo Filme „kulturelle Werte“ anhäufen, die oft um ein 196 Verena Teissl Vielfaches ihren kommerziellen Wert übersteigen, Orte, wo Kanonisierung mehr als Kommer- zialisierung betrieben wird. Venedig, das weltweit erste Filmfestival, wurde bald von den Faschisten vereinnahmt. Am 5. September 1940 wurde bei dem zur „deutsch-italienischen Filmwoche“ umgestaltete Festival „Jud Süß“ uraufgeführt, kritische Berichterstattung wurde verhindert, hingegen die Erwartun- gen im Deutschen Reich, wo der Film drei Wochen später anlief, durch hymnische Bespre- chungen parallel zur Kampagne in Hitler-Deutschland geweckt. Cannes, das in Reaktion auf die politische Vereinnahmung des Festivals in Venedig entstand, versuchte erneut das europäische und künstlerische Kino zu positionieren, was spätestens ab den späten 1950er Jahren mit der Bewegung der Nouvelle Vague besser glückte, als dies je erträumt war. Die Nouvelle Vague, geformt von u.a. Claude Chabrol, Jean-Luc Godard und Eric Rohmer, ging einher mit einer intellektuellen Revolte gegen das industriell kommerzielle Verständnis des Filmmarktes. In Cannes entstand 1959 der „Marché du films“ als erste Öff- nung, 1965 wurde das Filmfestival in Pesaro gegründet, das eine eindeutige epochenschrei- bende Veränderung für das Auswahlverfahren und Reglement der Festivals herbeiführte: Waren bislang Länder berechtigt, Filme aus der nationalen Produktion einzureichen, entstand in der Folge das Kuratorenmodell: Festivalleiter und ihre Teams gingen selbst auf die Suche und wählten nach künstlerischen, nicht mehr (nur) nach nationalen Kriterien aus. In den 1970ern entstanden jene Schienen, die heute hohen Prestigewert für Arthouse-Kino gewähr- leisten: die „Quinzaine des Réalisateurs“ in Cannes und das „Forum des unabhängigen Films“ in Berlin, Plattformen jeweils für Autorenkino und den innovativen Film. Hand in Hand mit dieser paradigmatischen Veränderung wurden auch Filmproduktionen und -länder außerhalb Europas und der USA verstärkt berücksichtigt: Berlin, dessen Reglement jahrzehntelang einer geopolitischen Stärkung der westlichen und antikommunistischen Hemisphäre galt, engagierte sich für das asiatische Kino, Cannes trachtete danach, auch im Wettbewerb eine internationale Auswahl zu ermöglichen und präsentierte z.B. afrikanisches Autorenkino, bereits 1954 war dem mexikanischen Melodram „María Candelaria“ (Emilio Fernández) die Goldene Palme zuerkannt worden; das Filmfestival Pesaro öffnete dem lateinamerikanischen Film eine Platt- form. Ab Mitte der 1960er Jahre entstanden auch in Lateinamerika (Festival des Neuen Latein- amerikanischen Films, Havanna 1978) und Afrika (FESPACO, Ouagadougou 1969) Filmfesti- vals, wiederum als Lobby und Sprungbrett auf den internationalen Markt für ihre jeweiligen National-Kinematographien (De Valck 2007, S. 25ff). Interkulturelle Beziehungen von Kultur zu Kultur und ohne gemeinsames nationales Territo- rium wurden also maßgeblich über Filmfestivals „geregelt“. Bis heute sind Filmfestivals ein bedeutungsgebendes Feld für Visuelle Kompetenz im erweiterten Sinne, also die Kontexte des Filmbetriebs mit bedenkend. Als Plattform jeglicher Marketingstrategie – von der Starpräsenz bis zu Publicity Stunts – ebenso wie als Sammelpunkt des journalistischen Interesses von der Yellow Press über die Filmkritik bis zum heutigen Blogg und Twitter als Graselwurzeljourna- lismus sowie auch als Provider diverser Wertsetzungen (Eröffnungsfilm, Wettbewerb), wirken alle dieser Faktoren über Ort und Zeit des Festivals hinaus, haften den Filmen an, schreiben seine „Biographie“, und schreiben, auf lange Sicht, den Kanon mit. In der Geschichte der Fes- Filmbetrieb und Interkulturalität. Betrachtung eines Verhältnisses 197 tivals kam es ab den 1970er Jahren zu einer erneuten Wende: Weltweit entstanden zahlreiche kleinere Filmtage und thematische Festivals. Sie hatten weder den Anspruch, um Uraufführun- gen zu rittern noch offerierten sie Wettbewerbsstrategien und Starglamour. Sie besaßen und besitzen eine gesellschaftspolitische Ausrichtung mit meist regionaler Wirkung. Die heutige Festivallandschaft, hierarchisch organisiert und geordnet von der Produzentenvereinigung FIAPF, bietet von den ganz Großen bis zu den ganz Kleinen ein alternatives Vertriebsnetz. Man spricht hier vom „Film Festival Circuit“, dessen Besonderheit und Phänomen es ist, ein globales Publikum anzusprechen und Werte unabhängig von nationalen und kommerziellen Filmbetriebsstrukturen herzustellen. In diesem Zusammenhang generieren auch die kleinen Filmfestivals regionale und globale Bedeutungsfelder. Ausgehend von Pesaro, wo 1968 der dreistündige Manifestfilm „La hora des los hornos“, heute ein Klassiker des politischen Films aus Lateinamerika von Octavio Getino und Fernando E. Solanas prämiert wurde, wurde der „Neue Lateinamerikanische Film“ in seiner starken Politi- sierung zunehmend zu einer „Marke“. Flankiert von der europäischen Solidaritätsbewegung mit lateinamerikanischen Befreiungskämpfen, bot diese „Marke“ politische Identifikation über kulturelle Unterschiede hinaus. Film spricht eine universelle Sprache, sagt einer der promi- nentesten Vertreter des Neuen Lateinamerikanischen Films, Fernando Birri (u.a. „Tire Dié“, 1960). Spätestens hier drängt sich die Frage auf, was „universelle“ Sprache denn bedeutet und inwie- fern das Publikum Möglichkeit hat, sich die von den Autoren intendierten universellen Lese- weisen anzueignen. Da Film wie jede Kunstform aus einer bestimmten kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Prägung heraus entsteht, ist anzunehmen, dass sich kulturelle Codes, Metaphern, Subtexte und Wertigkeiten mit der Entstehung des Films verbinden. Hier kommen zwei weitere Bedeutungsfelder zu tragen: Die Prägung durch die Ausbildungsstätte (Regie, Produktion, usw.) und die Konformität seitens der Aufnahme (Publikum). Birri hat z.B. am Centro Sperimentale di Cinematografia in Rom studiert, wie viele Regisseure und Regis- seurinnen aus Asien, Afrika und Lateinamerika an europäischen, russischen oder US-amerika- nischen Ausbildungsstätten gelernt haben. Der Filmwissenschaftler Chris Berry spricht in Zusammenhang mit der chinesischen Filmproduktion von „Global Image Transfer“: Filmema- cherInnen lassen ihre Ausbildung in diesen ausländischen Schulen sodann der Auseinanderset- zung mit Geschichte, Gesellschaft und Politik des eigenen Landes zu Gute kommen. In diesem Transfer geschehen komplexe Prozesse – die Aneignung der Technik und die Formung des Stils wird in politische und gesellschaftliche Botschaften bzw. Statements übertragen, in andere kulturelle Codes übersetzt. – 1985 gründete Fernando Birri übrigens gemeinsam mit Gabriel García Márquez die Filmschule „Escuela Internacional de Cine y Televisión“ (EICTV) in Kuba. Doch Entstehung und Motivation sagen noch wenig über die Wirkung und Teilhabe aus. Das Schicksal einiger (lateinamerikanischer, afrikanischer,….) RegisseurInnen ist es, in Europa von einem engagierten Bildungsbürgertum und intellektuellen Eliten anerkannt und bekannt ge- macht zu werden. Zugleich finden gerade die politischen Werke außerhalb von Festivals kaum Eingang in die Kinolandschaft und auch in ihren Heimatländern bleibt ihren Werken eine 198 Verena Teissl breitere Popularität versagt. Man spricht von „Festivalfilmen“ in der direkten Verwertung, einige davon finden Eingang in den Kanon, bleiben aber relativ ungesehen. Sie sind also vor allem universal, was in dieser Anordnung fast einer Heimatlosigkeit oder einem (metaphori- schen) Dasein im (visuellen) Exil gleichkommt. In pragmatischer Sichtweise heißt „universal“ also „marginal“. Dieser Kreislauf nährt eine „visuelle Kompetenz“, die auf rezeptiver Seite wesentlich von außerfilmischen Komponenten wie politischer Konformität (Solidaritätsbewe- gung) oder kultureller Sehnsüchte (das „Andere“ als tradiertes Motiv) geprägt ist. Ich möchte mit dieser vielleicht pessimistisch klingenden Aussage das Problem fokussieren, dass zwischen marktstrategischen Hegemonialansprüchen und politisch-intellektueller Rezep- tion keine Dimension herangewachsen ist, welche Filmsehen als zwangloses Erlebnis poetisch- ästhetischer Mitteilungen von wo auch immer ermöglicht. Film-Sehen war ein kultureller Lernprozess, ist eine Kulturtechnik. Das Übersetzen bzw. Begreifen von filmsprachlichen Mitteln wie z.B. der Parallelmontage war ebenso Teil der Sozialisierung des Sehens wie die Prägung von Sehgewohnheiten durch Hollywoodfilme und geopolitisches Lobbying für den Rest der Filmwelt. Und diese Parameter sind, obwohl so nicht mehr praktiziert, doch immer noch prägend. An einem aktuellen Phänomen demonstriert: Seit ein paar Jahren spricht man in cinephilen Kreisen vom Neuen Argentinischen Kino. Zu seinen Charakteristika zählt, dass es sich ästhetisch neu erfindet und kaum an die Tradition des politischen Films eines Solanas oder Birri anschließt; es schließt auch nicht an die politischen Seherwartungen gegenüber lateiname- rikanischen Filmen in Europa an. Es ist ein zwar intellektuelles Kino, jedoch mit regionaler Symbolik und von einer authentischen Jugendlichkeit. Dieses Neue Argentinische Kino exis- tiert und wird weiter produziert aufgrund der ihm zugeschriebenen Bedeutung durch den Film Festival Circuit. Auf Ebene nationaler Kinolandschaften bleibt es marginal. Eine politische Lobby fällt hier zur Gänze weg, hier agiert vielmehr die ästhetische Lobby der Filmfestivalbe- treiber und Filmkritik. – Ein Umstand, den ich fast als Paradigmenwechsel bezeichnen möchte. Meine Ausführungen haben zwei Enden: Ich möchte zum einen auf ein sehr bewegendes Bei- spiel aus der Filmgeschichte eingehen, in dem viele angesprochene Punkte unkonventionell aufeinander treffen: Der Film „Les Maîtres Fous“ (1954/57) von Jean Rouch. Zum anderen möchte ich ein aktuelles Beispiel interkultureller Wertanreicherung anführen, die deutsch- türkische Schauspielerin Sibel Kekilli. „Les Maîtres Fous” (Jean Rouch 1954/57) „Les Maîtres Fous“ von Jean Rouch ist ein halbstündiges Werk, in dem ein jährlich stattfin- dendes Ritual der Hauka-Priester gezeigt wird. Die Hauka sind ein religiöser Zusammen- schluss von größtenteils nigerianischen Arbeitsemigranten in den Ländern der Goldküste. Einmal im Jahr versammeln sie sich zu einem Besessenheitsritual und übernehmen mimetisch Rollen, die ihnen in der Gesellschaftsordnung der Kolonialmacht Großbritannien als signifi- kant erscheinen. Der Off-Text des Films ist von Jean Rouch selbst gesprochen, wobei er ver- sucht, in Intonation und Betonung die Rolle des Griot, des afrikanischen Geschichtenerzählers, einzunehmen. In technischer Hinsicht war „Les Maîtres Fous“ nur möglich, weil Rouch die relativ neu entwickelte 16mm Kamera verwendete – sich also die Leichtigkeit und Spontanität Filmbetrieb und Interkulturalität. Betrachtung eines Verhältnisses 199 der Kamera zu Nutze machte, umso mehr, als er auf ein Stativ verzichtete. Später würde er diese Art der teilhabenden Kamera als „Cine-Trance“ bezeichnen. Bedeutsam ist auch, dass „Les Maîtres Fous“ auf Wunsch und Einladung der Hauka selbst entstand – sie waren nicht daran interessiert, die Technik zu lernen, wohl aber sich den dokumentarischen Wert dieser Technik dienstbar zu machen. Der Film wurde allerdings sowohl von europäischen Ethnologen als auch von offiziellen Ver- tretern des Staates Ghana als Skandal aufgefasst. Bei seiner ersten, geschlossenen Vorführung 1955 im Pariser Musée de l’Homme rieten Kollegen, darunter der Ethnologe Marcel Griaule, Rouchs Freund und Lehrer, dieses Werk zu zerstören. Der Bruch zwischen Rouch und Griaule blieb dauerhaft. In Ghana stand der Film lange Jahre unter Aufführungsverbot, man distan- zierte sich von der „Majestätsbeleidigung“ den britischen Kolonialherren gegenüber (und ev. auch gegenüber den Arbeitsimmigranten). Der französische Produzent Pierre Braunberger übernahm jedoch eine letzte Postproduktion des Films, bei dem u.a. der Vorspann erstellt wurde, ein erklärender Text als Reaktion auf die heftige Kritik gegenüber dem Film. Rouch selbst betonte immer wieder: „Ich habe den Afrikanern, die den Film ablehnten, erklärt, dass dieser Film in erster Linie ein Film über uns, über die Weißen ist, über das Bild, das die Afri- kaner sich von uns machen. Man könnte es, was theoretisch schon viel weiter ausformuliert ist, eine Studie reziproker Anthropologie nennen. Offenkundig wird dies am Gesamtbild der Ges- ten –, in allen anderen Filmen, die ich zum Besessenheitstanz gedreht habe, sind die Gesten der Tänzer abgerundet, weich, gelöst selbst in der größten Heftigkeit, während sie in Les Maîtres Fous eckig, grobschlächtig und lächerlich sind. – Für mich ist dieser Film von allergrößter Bedeutung. Ich begreife ihn als Indikator der Überformung der schwarzen durch die weiße Kultur. Les Maîtres Fous ist, aus Les Maîtres Fous spricht die Stimme des Dionysos, die Stimme des Imaginären in unsrer Gesellschaft“. (Jean Rouch zit. in: Zischler 1978, S. 28f) „Les Maîtres Fous“ wurde 1954 gedreht und 1957 erstmals beim Festival in Venedig öffentlich aufgeführt – und prämiert. In die Filmgeschichte ging „Les Maîtres Fous“ als avantgardisti- scher Film und Wegbereiter der Nouvelle Vague ein. Jean Rouch erzählte gerne eine Anekdote anlässlich einer Aufführung in den 70er Jahren in den USA: Nach der Vorführung kam eine Journalistin zu ihm, die den Film auf Kassette haben wollte. Sie erklärte Rouch, dass der Film auf exemplarische Weise die Zurückgebliebenheit und Primitivität der Schwarzen zeige und der Film ihre diesbezüglichen Argumentationen unterstreiche. – Ich selbst kenne die Reaktion einer Studentin, die nach einem Sprichwort meinte, dass, wer über andere redet, vor allem Aussagen über sich selbst macht. Indem sie die dem Sprichwort zugrundeliegende Situation (=Klatsch) auf einen Film transferiert, der einen mimetischen Prozess darstellt, und dabei die Metaebene des Films ausschließt, weist sie erneut auf die problematische Rezeption des Films. Man kann davon ausgehen, dass „Les Maîtres Fous“ damals wie heute an der Eigendynamik der Identifikation scheitert. Welcher Europäer wird sich automatisch mit einem Trancezustand identifizieren und die befreiende Wirkung seiner Mimesis auf ihm bekannte Situationen über- tragen? Viel naheliegender ist es doch, dass der nüchterne, intellektuelle Betrachter im dunklen Kinosaal – einem zwar „heiligen“, aber eben intellektuellen, ritualisierten Ort, – vor allem schockiert oder peinlich berührt wird von der Intimität der Aufnahmen, von dem verzerrten Spiegelbild seiner Kultur. Das sind kulturelle Grenzen, die auch (bei weitem nicht nur) durch 200 Verena Teissl ethnologisch-wissenschaftliche Betrachtungen gelegt wurden und sich erst durch postkoloniale Theorien im Prozess der Befreiung befinden. „Les Maîtres Fous“ ist bis heute Avantgarde. Der Film war ein Blitzschlag in europäisch-okzidentale Sehgewohnheiten und Erwartungen, und an seiner Wirkung lässt sich bis heute der Grad der Emanzipation gegenüber nicht-europäischen Kulturen ablesen. Sibel Kekilli 2004 wurde bei der Berlinale „Gegen die Wand“ des deutsch-türkischen Regisseurs Fatih Akin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Es war das erste Mal, dass ein Film aus der „zweiten Generation“ mit solchen Ehren bedacht wurde, was auch einen symbolischen Wert in „inter- kulturellen“ Zeiten besaß. Den Preis für die beste Darstellung erhielt Sibel Kekilli, ebenfalls aus der „zweiten Generation“. Als kurz darauf die Bildzeitung über das Vorleben von Sibel Kekilli berichtete, die sich mit Pornofilmen ihr Leben verdiente, brach eine regelrechte Hetz- kampagne aus, Kekilli wurde zeitweilig unter Polizeischutz gestellt, um einen familiären „Ehrenmord“ zu verhindern. Erst Monate später rügte der Deutsche Presserat die Bildzeitung und verlangte eine Gegendarstellung. James Monaco betont, wie sehr sich in Folge der Film- welt Vorstellung und Bedeutung von „Stars“ verändert hat: Entstanden Vorstellungen von „Stars“ zuvor immer in großer Distanz oder ganz im direkten persönlichen Umfeld, so entsteht mit den Filmstars eine hybride Mischung aus beiden: Teil von Marketingkampagnen und als „Helden“ in Filmrollen bieten sie inner- und außerfilmische Identifikation, vermengen sich beide Ebenen in den Bildern, die sowohl auf der Leinwand, aber auch in den Medien von ihnen entstehen. Sie sind öffentliche Personen einer Traumwelt ebenso wie einer Medienwelt, sie erhalten symbolische Attribute, sei es das Jugend-Rebellentum eines James Dean oder der Sex- Appeal von Marilyn Monroe und Marlon Brando. Sibel Kekilli wird auf der Leinwand zum Symbol einer sich aus traditionellen Lebensbedingungen befreienden Heldin, während sie von der Bildzeitung als moralisch verwerfliche und einer fremden Welt entstammender Anti-Heldin entworfen wurde. Erst Jahre später wird Sibel Kekilli wieder eine Hauptrolle spielen: In „Die Fremde“ (Feo Aladağ 2010) wird der Titel zum Symbol einer „Interkulturalität“, wie sie von Sigrid Löffler in ihrer traurigen und ganz unromantischen Seite anhand der Literatur dargestellt wurde: Nirgendwo mehr dazu gehören in einer Welt, deren Mentalitäten sich nur widerwillig anderen Kulturen öffnen. Konklusion Die Macht des Kinoapparates, durchaus also nicht nur auf hermeneutische Sehgewohnheiten beschränkt, steht in der Industrie zumeist auf Seiten der Mehrheit: Das „Set aus Relationen“ und die Bedeutungsfelder, welche Sehgewohnheiten und Erwartungen generieren, weisen im Falle der großen Industrien fast immer affirmative Strukturen auf: Hollywood ist das Kino der weißen, bildungsbürgerlichen, kapitalfreundlichen, okzidentalen Kultur, und es brauchte schwarze Stars, das Erzählkonzept von New Hollywood und das Independent-Kino, um dies aufzubrechen. Bollywood ist das Kino einer „Indianness“ der Hindu-Mehrheit. Die Kulturan- thropologin Brigitte Schulze spart nicht mit Kritik: „Bollywood, so lautet meine zentrale Filmbetrieb und Interkulturalität. Betrachtung eines Verhältnisses 201 These, verdrängt als Typus von Indiens dominierendem industriell organisierten Kino-Kultur- Modus nicht nur mit seiner manifesten Gewalt, indem er seit den 1950er Jahren als Industrie – im Unterschied zum vorhergehenden, von Pionieren gestalteten Studiosystem (Barnouw und Krishnawani 1980) – gewinnträchtig ein Massenpublikum erreicht. Bollywood verdrängt be- gleitend durch latente Gewalt. Diese manifestiert sich in der vom national(istischen) Kino- Kultur-Modus, zu dem Bollywood gehört, popularisierten Moral: in seinen, in Abstimmung mit zeitgenössischen Narrationen über „nationale Identität“ (Bhabha 1990) projizierten ethni- schen Gefühlswelten einer ‚Indianness‘ in Indien (Ghosh 1992, S. Chakravarty 1993, Schulze 1998) und der Diaspora (Mishra 2002). Diese filmischen Projektionen von ‚Indianness‘, die im Kontext der je dominanten Identitätspolitik stehen, verengen zwischenmenschliche Basisbezie- hungen auf den starren Moralkodex des brahmanisch-hinduistisch geprägten indischen Natio- nalismus. Sie beinhalten eine Gewalt, die das menschlich Individuelle auf das je zur funktio- nalen Nationalikone Erstarrte zurückstutzt und zerstört.“ (Schulze 2009, S. 162) Und das europäische Autorenkino affirmiert das intellektuelle Europa, das Europa der Bil- dungselite. Innerhalb ihrer gesellschaftlichen Gefüge haben diese affirmativen „Bildträume“ eine stabile, normierende Ausrichtung, man könnte mit Niklas Luhmann sagen, sie sind selbst- erhaltende Systeme, die sich, um zu überleben, immer so weit anpassen, dass sie sich nicht vor sich selbst entfremden, dennoch aber in der Logik ihres Daseins verharren. Was diese Systeme aber zur Erschütterung bringt und langfristige Änderungen bewirkt, sind eine ständige Neube- fragung der Filmgeschichte und die Sensibilität der filmumgebenden Systeme: Filmkritik, Kinokultur, Publikum – und das alles auch auf individueller Ebene. Die Grundbegriffe von Filmsprache und -ästhetik lesen zu können, schließt an die biologische Fähigkeit zu sehen an, ist eine Zusatzinformation, die aus sehen in einem weiteren Schritt wahrnehmen, analysieren und reflektieren ermöglicht, ist eine Kulturtechnik, welcher eine ähnliche Bedeutung zukommt, wie dem Entschlüsseln-Können eines Alphabetes. Diese Kom- petenz alleine muss noch keine umfassende Wirkung nach sich ziehen, ermöglicht aber eine Erhöhung des Genusses von Filmsichtung ebenso wie das unmittelbare kritische Einschät- zungsvermögen über die ästhetische, handwerkliche und ethische Qualität eines Films. Visuelle Kompetenz umfasst deshalb viel mehr als die Bildebene. Technologische und histori- sche Kenntnisse über das Medium und den dahinter stehenden Betrieb, Reflexion über das außerfilmische Verhältnis der produzierten Bilder, Bewusstsein über die Wirkung der konsu- mierten Bilder vor unterschiedlichen Betrachtern. Was den Film als eines der Leitmedien des 20. Jahrhunderts betrifft, so muss man angesichts der Reichhaltigkeit von Theorien, Methoden und Studien feststellen, dass es ein Jahrhundert lang verabsäumt wurde, seine Mechanismen in die Allgemeinbildung zu integrieren. Film wurde und wird z.B. im Unterricht meist auf Inhalte reduziert, als ein Informationsträger, ohne ästhetische, produktions- und rezeptionsbedingte Kontexte zu berücksichtigen. Diese Unterlassung hat ihm eine Macht eingeräumt, die immer auf Seiten der Mehrheit stand und weder audiovisuelle Poesie noch Interkulturalität als unab- hängige Disziplinen verteidigt hat. 202 Verena Teissl Literatur: Berry, Chris (2009): Global Image Transfer. Paper (unpubliziert) zum Kongress „Global Image Transfer“ des IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, konzi- piert von Karl Sierek, 26. November 2009 Wien. Holl, Ute (2002): Kino, Trance und Kybernetik. Berlin: Verlag Brinkman & Bose. Holl, Ute (2009): Vom Kino-Eye zur You-Tube. In: Cargo Film/Medien/Kultur 03, Berlin. Groschup, Helmut & Wurm, Renate (Hrsg.) (1991): Fernando Birri: Kino der Befreiung. Inns- bruck, Wien: Südwind Verlag. Hohenberger, Eva (1988): Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm. Ethnographischer Film. Hildesheim. Ingruber, Daniela & Prutsch, Ursula (Hrsg.) (2007): Imágenes – Bilder und Filme aus Latein- amerika. Jahrbuch des österreichischen Lateinamerikainstituts. Wien: LIT Verlag. Junge, Christian (2009): Hollywood in Canne$. Die Geschichte einer Hassliebe 1939-2008. Marburg: Schüren Verlag. Kerlen, Dietrich (2003): Einführung in die Medienkunde. Stuttgart: Reclam. Kleinhans, Bernd (2003): Ein Volk, ein Reich, ein Kino. 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Daneben finden sich Fächer oder wissenschaft- liche Schulen, deren Vertreter grafische Darstellungen als hilfreich oder gar unverzichtbar anse- hen. Obwohl seit Jahrzehnten sowohl die interessierte Öffentlichkeit als auch einige Disziplinen darüber diskutieren, welche Bedeutung der Wahl unterschiedlicher Medien zukommt, scheinen diese Debatten doch nur einen geringen Einfluss auf die Medienpräferenzen in der Wissenschaft selber zu haben, selbst dann, wenn sie menschliche Wahrnehmung, Kommunikation oder gar Me- dien thematisiert. So findet man z.B. zahlreiche Arbeiten zum Einfluss von Gewaltdarstellungen im Fernsehen, die vollständig im Medium Text verbleiben oder umfangreiche Werke über soziale Systeme, deren Autoren stillschweigend annehmen, die Komplexität schriftlicher Darstellungen entspreche ihrem Gegenstand oder ihren theoretischen Überlegungen. Dieses Problem der me- dienspezifischen Beschränkungen und Möglichkeiten für die Darstellung von Gegenständen bzw. Prozessen sowie für die Präsentation theoretischer Argumente ist das Thema dieses Beitrages. Zunächst werde ich anhand einiger Beispiele aus den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften illustrieren, wie unterschiedlich Text bzw. Text mit bildlichen Darstellungen oder mit Grafik in verschiedenen Disziplinen verwendet wird. Dann skizziere ich die Bedeutung von Medien aus evolutionstheoretischer Sicht und gehe auf Sprache als ein Mittel der Wirklichkeitskonstruktion ein. Es folgen systematisierende Überlegungen sowie Beispiele zur Leistungsfähigkeit einerseits von Schrift und andererseits von bildlichen bzw. grafischen Darstellungen, um Wahrnehmungen bzw. wissenschaftliche Erklärungsangebote zu objektivieren. Den Abschluss bilden einige unbe- antwortete Fragen für die Fortsetzung der Diskussion. 1. Einleitung Wie immer man „Wissenschaft“ auch bestimmt, immer geht es um „Gegenstände“ und ihre „Merkmale“, die dargestellt und erörtert werden. Solche „Gegenstände“ können physikalische Gegenstände sein, Lebewesen oder Verhaltensweisen von Lebewesen oder der Gruppen, die sie bilden. „Merkmale“ hingegen können einfacher Art sein, etwa eine charakteristische Fär- 1 Der Beitrag basiert auf dem gleichnamigen Vortrag während des Symposiums. Einige dabei verwendete bildliche Darstellungen wurden weggelassen bzw. durch besser druckgeeignete Abbildungen ersetzt. Der Vortragsstil wurde teilweise beibehalten. 208 Peter M. Hejl bung, oder komplex, z.B. mehrstufige verschachtelte Wirkungsketten, die das Verhalten des Gegenstandes beeinflussen. Welche Gegenstände und welche Merkmale auch immer es sind, mit denen Wissenschaftler sich beschäftigen, immer müssen sie so dargestellt werden, dass Leser oder Zuhörer sich die Gegenstände, ihre Merkmale und das, was über sie ausgesagt wird, so vorstellen können, dass ihre Vorstellungen zumindest in gewissen Grenzen denen der Spre- cher oder Schreiber entsprechen. Natürlich gelingt dies stets nur in eingeschränktem Maße. Jede Vorstellung ist bekanntlich ein konstruktiver Prozess. Sein Ablauf und damit sein Ergeb- nis wird durch die Inputs der Sprecher/Schreiber ausgelöst bzw. verändert. Jeder kognitive Prozess läuft aber – wie jede Systemdynamik2 – immer „im System“ ab und ist deshalb davon abhängig, wie Beobachter Ereignisse wahrnehmen und verarbeiten. Dies gilt auch für die Ver- arbeitung von Kommunikationsangeboten über Gegenstände und ihre Merkmale in der Wis- senschaft. Die Auseinandersetzung mit ihnen ist stets in die Erfahrungen der Wissenschaftler mit den ihnen bekannten Gegenständen und ihren Merkmalen eingebettet. Mein Beitrag thematisiert zwei wichtige Klassen visueller Kommunikationsangebote, „Schrift“ und „Grafik“. Während „Schrift“ ausreichend genau als „geschriebene Sprache“ oder als „gra- fische Notation von Sprache“ umschrieben werden kann, ist die Bestimmung von „Grafik“ im vorliegenden Zusammenhang schwieriger. Ich möchte hier nicht alle Verwendungen zweidi- mensionaler Darstellungen thematisieren, die nicht unter „Sprache“ fallen. Insbesondere möchte ich also nicht auf die nichtnumerische Darstellung statistischer Ergebnisse3 eingehen oder auf Illustrationen, wie sie z.B. in pädagogischen Zusammenhängen verwendet werden (Bucchi 2006). Ich werde auch nicht Versuche kommentieren, bildliche Darstellungen als Sprachen zu behandeln (Bildsemiotik). Ebenfalls nicht eingegangen werden kann auf evolutio- näre Aspekte von Kunst, wo grafisch-bildliche Darstellungen oft thematisiert werden (Gram- mer & Voland 2003). Unter „Grafik“ werden hier – sehr viel bescheidener – Gegenstandsdar- stellungen verstanden, deren primäres Ziel es ist, die Komplexität des jeweiligen Themas so darzustellen, dass einzelne Betrachter (Autor, Leser), Arbeitsgruppen in Organisationen oder auch studentische Seminare den Gegenstand thematisieren können, ohne dass seine Komplexi- tät bereits durch die Darstellung in unkontrollierter Weise reduziert oder sein Verständnis un- nötig erschwert wird. Da jede „Repräsentation“ von Gegenständen Annahmen über die Leistungen der verwendeten Medien und damit über die Kompetenzen der Adressaten macht, werde ich zunächst im An- schluss an Ernst von Glasersfeld auf Schwierigkeiten des Repräsentationsbegriffs eingehen. Anschließend werden zur Illustration der vorherrschenden Situation in den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften einige Beobachtungen zur Verwendung von Schrift und Grafik skiz- ziert. Danach gehe ich knapp auf Kommunikation und Sprache ein und diskutiere Schrift und Grafik als Medien unter dem Gesichtspunkt ihrer Leistungsfähigkeit. Ich schließe nicht mit „Ergebnissen“ sondern mit Fragen, von denen ich hoffe, dass sie weitere Überlegungen auslö- 2 Damit werden die einem System aufgrund seines Funktionierens möglichen Abfolgen von Zuständen bezeichnet. 3 Tufte 2001. Vgl als Einstieg in die Darstellungsproblematik statistischer Beziehungen auch Jacobs 1999. Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft 209 sen werden, nicht zuletzt mit Blick auf die Verbesserung der wissenschaftlichen Kommunika- tion und Lehre, für die durchaus ein Defizit „visueller Kompetenz“ konstatiert werden kann. 2. „Repräsentation“ E. von Glasersfeld4 hat mit großer Klarheit die Mehrdeutigkeit des aus dem Französischen und Englischen in den deutschsprachigen Bereich importierten Substantivs „Repräsentation“ bzw. des Verbs „repräsentieren“ herausgearbeitet, die in kommunikations- und medienwissenschaft- lichen Zusammenhängen häufig verwendet werden5. Diese Mehrdeutigkeit besteht in den Ur- sprungssprachen und wird durch die Übernahme teilweise in den deutschsprachigen Bereich importiert, wo das Wort mindestens vier deutlich klarere Begriffe und die mit ihnen verbunde- nen Vorstellungen ersetzt. Wenn also im Deutschen von „Repräsentation“ oder „repräsentie- ren“ die Rede ist, bleibt meist unklar, was genau gemeint ist. Der erste wichtige Gebrauch verwendet „Repräsentation“ im Sinne von „Vertretung“/ „vertre- ten“. Ein „Vertreter“ handelt „für“ oder im Namen eines anderen Akteurs, sei dieser nun ein Einzelner – so gilt z.B. der Papst Katholiken als „Vertreter Gottes“ – oder ein Kollektiv, etwa als Völkerrechtssubjekte anerkannte Staaten oder Organisationen, die von einem Regierungs- chef oder einem anderen Sprecher vertreten werden, bzw. juristische Personen wie Unterneh- men oder Organisationen, die durch verschiedene „Vertreter“ (z.B. Vorstandsvorsitzende aber auch Handelsvertreter) mit ihrer Umwelt interagieren. „Repräsentation“ steht ferner für „Bedeutung“/ „bedeuten“ und zwar nicht im Sinne von „wichtig“ sondern von „verweisen“ oder „anzeigen“. So kann Fieber „bedeuten“, dass eine In- fektion vorliegt, ein Wahlverlust „bedeutet“ (in Demokratien) Regierungs- und damit Macht- verlust, die Einführung von Marktmechanismen in ein soziales System „bedeutet“ eine Zu- nahme konkurrierenden Verhaltens etc. Der Grundgedanke ist hier, dass zwei Ereignisse so zusammenhängen, dass das Auftreten des einen entweder auf das andere verweist, es auslöst oder von ihm ausgelöst wird und damit eine Indikatorfunktion besitzt. „Repräsentation“ wird aber auch im Sinne von „Darstellung“/ „darstellen“ gebraucht, wobei das Dargestellte sehr konkret allgemein beobachtbaren Gegenständen zugeordnet wird oder auch das Ergebnis z.B. komplexer Verfahren zur Datenerhebung und -verarbeitung sein kann.6 So mag ein Foto z.B. das Innsbrucker Schloss „darstellen“ oder die Merkmale einer Tierart. Eine Kurve kann die empirisch erhobenen Zustimmungswerte zu einer politischen Partei „dar- 4 Das hier verwendete Typoskript deckt sich weitgehend mit der Druckfassung, vgl. Glasersfeld 1987. 5 Eine Internetsuche mit Google zu den Suchbegriffen „Medien“ und „Repräsentation“ ergab ungefähr 290000 Treffer, Altavista meldete 822000 Treffer und Yahoo Deutschland kam gar auf 1530000 Ergebnisse (alle am 5.2.2010, beide Wörter sollten vorhanden sein). 6 Vgl. zur Unterschiedlichkeit darzustellender Gegenstände in der Wissenschaft Pauwels 2006b, S. 2ff. 210 Peter M. Hejl stellen“. „Darstellungen“ können aber auch das Ergebnis indirekter Messungen und Verrech- nungen sein, die bildliche Darstellungen erzeugen ohne dass ein direkter Vergleich mit dem Dargestellten möglich ist, z.B. bei bildlichen Darstellungen interstellarer Prozesse oder bei kernspinntomographisch erzeugten Darstellungen. Schließlich können „Darstellungen“ auch Überlegungen, innovative Einfälle oder Träume zum Gegenstand haben. Wichtig ist jedoch, dass bei Darstellungen immer ein Text, eine andere grafische Darstellung mit unterschiedlichen Elementen oder ein dreidimensionales physisches oder virtuelles Modell produziert wird, das für Wahrnehmungen des Darstellenden (und seiner Darstellungstechnik) steht und das andere wahrnehmen können. Das Dargestellte wird so für andere als Modell wahrnehmbar und kann Gegenstand für Diskussionen, evtl. auch Untersuchungen oder Versuche werden. Schließlich bezeichnet Repräsentation insbesondere im Englischen auch noch „Vorstellung“/ „vorstellen“ wie in dem Beispiel, das Glasersfeld (1987, S. 2) anführt: „Jane („mentally“) re- presents something to herself“. Natürlich kann man sich konkrete Dinge oder Personen vor- stellen, aber auch, man könne fliegen oder alle Menschen verhielten sich kooperativ. Der Kern des Vorstellungskonzepts besteht darin, dass Menschen kognitiv „Bilder“, „Gegenstände“ oder „Ereignisse“ erzeugen können, die ausschließlich in den Köpfen derer lokalisiert sind, die „sich etwas vorstellen“. Vorstellungen sind deshalb niemand anderem zugänglich – es sei denn, sie werden dargestellt! Damit wird die Bedeutung des Umgangs mit Medien in der Wissenschaft deutlich. Folgt man der Theorie der doppelten Vererbung7 und versteht unter „Kultur“ die Menge des durch Kom- munikation weitergegebenen Wissens, dann werden der Darstellungsaspekt von Kultur und die zentrale Bedeutung von Medienkompetenz deutlich – und damit auch der Darstellungsaspekt der kulturellen Aktivität „Wissenschaft“. Verschärft bedeutet dies: Produktive wissenschaft- liche Kommunikation hängt auch von den verwendeten Darstellungsmitteln ab und damit von Wissenschaftlern, die aufgrund ihrer Medienkompetenz (welches Medium für welchen Gegen- stand für welchen Adressaten?) ihre Gegenstände so präzise und gut nachvollziehbar darstellen können, dass sie zu Objekten sozialer und damit kommunikativ zu erreichender Problemlösun- gen werden. 3. Einige Beobachtungen Grundsätzlich finden wir in den Veröffentlichungen aller Fächer Schrift, Tabellen und Grafi- ken sowie verschiedene Formen elaborierter Bildverwendung. Aber der Anteil der einzelnen Medien variiert stark ebenso wie die jeweils verwendeten Medienkombinationen. Natürlich ist hier keine systematische Untersuchung der Anteile textlicher bzw. anderer graphischer Ele- 7 Vgl. etwa Weingart u.a. 1997; Richerson & Boyd 2005. Zu nennen wäre auch das auf R. Dawkins zurückgehende verwandte Modell der Meme, vgl. ders. 2006. Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft 211 mente in wissenschaftlichen Texten möglich.8 Die Unterschiede zwischen den Disziplingrup- pen sollen aber zumindest anhand von Beispielen illustriert werden. Schaut man etwa N. Luhmanns Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft (1998) durch, so finden sich auf 1138 Textseiten gerade zwei nichttextliche graphische Elemente, eine Vierfel- dertabelle (S. 336) und die unten wiedergegebene Grafik, die seine Überlegungen zu dem zu- sammenfasst, was er als „Sinndimensionen“ bezeichnet (S. 1138). Abbildung 1: Zusammenfassung der Diskussion der Sinndimensionen (N. Luhmann 1998, S. 1138). Da die Konzeptdarstellung lediglich aus Wörtern und zwischen ihnen angeordneten Strichen (nicht Pfeilen) besteht, ist es schwierig, die Darstellung ohne umfangreichen Rückgriff auf den Text zu interpretieren. Wenn das aber notwendig ist, dann ist der Erkenntnisgewinn der „Zu- sammenfassung“ mindestens problematisch. Sicher könnte man darauf verweisen, dass Luhmann ursprünglich Jurist war und seine wissen- schaftliche Sozialisation ihn deshalb besonders stark auf Texte orientierte. Tatsächlich ist seine fast ausschließlich textliche Darstellung jedoch keineswegs eine Ausnahme, wenn auch bei Autoren anderer Orientierung graphische Elemente deutlich stärker vertreten sind. So finden sich bereits bei J. Habermas (1982a, b) im Vergleich zu N. Luhmann mehr Tabellen und gra- phische Darstellungen postulierter Wirkungszusammenhänge, um Konzepte und Begriffe zu präzisieren. H. Essers empirische und auf Explizitheit zielende Orientierung schlägt sich schließlich nicht zuletzt auch in Schaubildern nieder (z.B. in Esser 1993), mit denen unter- suchte oder/ und diskutierte Beziehungen und Wirkungen dargestellt und prinzipiell testbar 8 Zu dieser Frage gibt es noch wenige Untersuchungen. Vgl. jedoch die Beiträge in Pauwels 2006a sowie die beeindru- ckenden Arbeiten von E. Tufte (1997, 2001, 2006), bei denen freilich wissenschaftssoziologische und -psychologische Aspekte kaum thematisiert werden. 212 Peter M. Hejl gemacht werden sollen. Dagegen finden sich in R. Mayntz (2002) trotz des Themas „Akteure – Mechanismen – Modelle“ gerade vier Graphiken, während M. Schmid (2006) – im Gegensatz zum Thema „Die Logik mechanismischer Erklärungen“ – sogar ganz auf diese Darstellungs- möglichkeit verzichtet. Ändert sich das Bild, wenn wir auf Arbeiten zur Kultursoziologie oder zu Medien und Kom- munikation blicken? P. Bourdieu (1979) schrieb in seiner massiv empirisch untermauerten La distinction. Critique social du jugement nicht nur über unterschiedliche geschmackliche Präfe- renzen der französischen Bevölkerung in Abhängigkeit von Bildung und Einkommen. Er nutzte auch zahlreiche Möglichkeiten, seine Argumente durch Statistiken, Fotos und Repro- duktionen verschiedener Druckmaterialien nachvollziehbar zu machen. Unterstützt wurde dies durch wörtlich wiedergegebene Interviews zusammen mit Illustrationen der Vorlieben, mit denen seine Interviewpartner sich von anderen unterschieden, sodass ihre Lebenswelten bis hin zu ihren Medienverwendungen textlich und graphisch-bildlich deutlich wurden (s.u.). Im Ver- gleich dazu kommt beispielsweise die – freilich einen eingeschränkteren Anspruch stellende – Medien- und Kommunikationssoziologie, die K. Neumann-Braun und S. Müller-Dohm (2000) herausgegeben haben, fast ganz ohne graphisch-bildliche Mittel aus. Selbst Die Erlebnisgesell- schaft von G. Schulze (1997, 749 S.) oder die Grundzüge der Medien- und Kommunikations- geschichte von J. Wilke (2000, 420 S.), enthalten wenig grafisches Material im Vergleich mit Bourdieu, auch wenn sich einige Schaubilder, Tabellen und erklärende Skizzen finden. Fasst man die hier nur illustrierte Situation zusammen, so kann man zur Verwendung von Text und Grafik in den Geistes- und Sozialwissenschaften feststellen: • Veröffentlichungen dieser Fächer kennzeichnet eine Dominanz geschriebener (meistens nicht-formalisierter) Sprache, wobei es sich oft um Darstellungen von Beobachtungen und Überlegungen zu Vorstellungen handelt. • Verbreitet sind – oft zweidimensionale – Klassifikationstabellen à la T. Parsons AGIL- Schema. • Es finden sich einige wenige grafische Darstellungen von Konzepten (Darstellungen von Vorstellungen). • Soweit empirisch gearbeitet wird, stellen die Autoren ihre Ergebnisse mit Hilfe von Zahlen und Diagrammen vor. Wie ist die Situation bei Arbeiten, die in der Tradition der Ingenieur- und Naturwissenschaften stehen? Hier ist ein Beispiel für eine technische Zeichnung: Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft 213 Abbildung 2: Beispiel für eine technische Zeichnung mit illustrierendem Foto, der „Postrolli“ (Quelle: Tram-Museum Zürich) Wie das Foto zeigt, ist der gezeichnete Gegenstand keine Vorstellung, sondern verwirklicht. Es ist der „Postrolli“ der Limmattal-Straßenbahn aus der Schweiz9. Typisch für technische Zeich- 9 Für die Hilfe bei der Beschaffung der Druckvorlage danke ich Herrn D. Blunschy vom Tram-Museum Zürich. 214 Peter M. Hejl nungen sind drei Ansichten mit Maßzahlen. Im Prinzip kann jeder Betrachter prüfen, ob die Zeichnung konsistent ist, also etwa die Detailzahlen den Globalmaßen entsprechen etc. Soweit dies der Fall ist und die benötigten Detailzeichnungen vorhanden sind, kann der dargestellte Gegenstand gebaut werden. Dies ist denn auch oft das Ziel technischer Zeichnungen, wobei freilich die Notwendigkeit hinzukommt, für Zwecke der Teilebeschaffung und der Qualitäts- kontrolle eine Referenz zu erhalten. Aufgrund ihrer unproblematischen Nachvollziehbarkeit dient die Darstellung überdies der Weiterentwicklung und Verbesserung der dargestellten Ge- genstände. Das folgende Beispiel (Abb. 3) ist einem biologischen Lehrbuch zur Bioenergetik (Lehninger 1982) entnommen. Oben sieht man die Strukturdarstellung von ATP (Adenosintriphosphat). Der Text verwendet standardisierte Begriffe und die übliche graphische Darstellung von Mole- külen. Zusätzlich werden auch dreidimensionale Modelle verwendet, die es erlauben, die kom- plexe Anordnung der einzelnen Teile besser wahrzunehmen (vgl. Abbildung 4). Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft 215 Abbildung 3: Ein Beispiel aus der Biochemie. Quelle: A.L. Lehninger 1982, S. 42. 216 Peter M. Hejl Abbildung 4: Kalottenmodell des Adenosintriphosphats (ATP). Quelle: [Stand 28.07.2010] Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft 217 Abbildung 5: Verwendung von Zeichnungen, um Merkmale hervorzuheben und vergleichbar zu machen. Quelle: Boyd & Silk 2003, S. 413, Seite gekürzt. 218 Peter M. Hejl Abb. 5 reproduziert schließlich eine Seite aus einem Anthropologielehrbuch, nicht der philoso- phischen Anthropologie, sondern der „physical anthropology“10. Im Kontext der Frage nach der Evolution leistungsfähiger Kommunikationsmittel diskutieren die Autoren die Überein- stimmungen und Differenzen zwischen Menschen und Schimpansen, die uns genetisch am engsten verwandt sind. Wie auch hier erkennbar, ist mit Blick auf die Darstellungsproblematik wichtig, dass besonders in Biologie und Medizin gern auf Zeichnungen zurückgegriffen wird, wenn Merkmale deutlich gemacht werden sollen. Fotos enthalten oft zu viele Details und bil- den deshalb, je nach Vorlage, die interessierenden Merkmale nur mehr oder weniger deutlich ab. Schematisierende grafische Darstellungen sind daher nach wie vor unersetzlich. Zur Verwendung von Text und Grafik in den Natur- und Ingenieurwissenschaften lässt sich zusammenfassend sagen: • Neben normaler Schriftsprache begegnet man häufig Text, der formalisierte bzw. konven- tionalisierte Notationen zu Darstellungen von Beobachtungen, Konzepten oder Überle- gungen enthält. • Es finden sich zahlreiche mehr oder weniger „realistische“ Darstellungen, z.B. Fotos, typi- sierende(!) Zeichnungen, grafische Funktionsschemata beobachteter oder prinzipiell empi- risch untersuchbarer „Gegenstände“ (z.B. Tiere, Organe, Wetterkarten, Funktionszusam- menhänge [„Vulkanismus“]). • Insgesamt überwiegen „Darstellungen von Beobachtungen“ die „Darstellungen von Vor- stellungen“. 4. Kommunikation und Sprache Zur Erklärung der Funktionsweise des Mediums Text, das in den Geistes- und Sozialwissen- schaften dominiert, ist ein Blick auf Kommunikation und Sprache hilfreich. Text und wissen- schaftliche Kommunikation sind ausschließlich menschliche Phänomene. Die Frage nach der evolutionsrelevanten Funktion von Kommunikation ist deshalb erhellend. Lebewesen kommunizieren, um ihr Verhalten und Handeln zu koordinieren (Maturana & Varela 1987, S. 210). Dabei geht es fundamental um zwei unterscheidbare Problembereiche. Einerseits erlaubt durch Kommunikation koordiniertes Gruppenhandeln in der Umwelt ver- teilte, evtl. gar bewegliche und immer beschränkte Ressourcen für den Erhalt von Leben (das eigene und das von Verwandten bzw. Gruppenmitgliedern) wirksamer zu sichern als dies ein- zelnen Akteuren möglich wäre. Da für Menschen die eigene Gruppe die wichtigste Umwelt ist, 10 Der disziplinäre Bezug ist oft unklar, weil der Mensch, seine Herkunft und allgemeinen Merkmale von zahlreichen Disziplinen thematisiert werden. Allein mit Blick auf „Anthropologie“ wären neben der „philosophischen Anthro- pologie“ die „biologische Anthropologie“ aber auch die verschiedenen Varianten der Volkskunde, Ethnologie bzw. Ethnographie zu nennen. Ich danke C. Antweiler für Hinweise zur Vielfalt der verwendeten Bezeichnungen und zu einigen ihrer historischen und ideologischen Hintergründe. Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft 219 erlaubt Kommunikation überdies sowohl die Koordination von Gruppenhandeln als auch die Weitergabe sozial relevanten Wissens über gruppeninterne Situationen und ihre Veränderung. Aiello und Dunbar (Aiello & Dunbar 1993; Dunbar 1998) haben deshalb das Argument entwi- ckelt, die menschliche Sprache als das differenzierteste und effizienteste Kommunikations- medium sei im Kontext und angesichts des selektiv wirkenden Vorteils „Klatsch und Tratsch“ entstanden, als menschliche Gruppen zahlenmäßig so wuchsen, dass die nonverbalen und we- niger leistungsfähigen akustischen Kommunikationsmöglichkeiten unserer Verwandten nicht mehr ausreichten. Damit es zu nonverbaler oder verbaler Kommunikation kommt, ist es nicht notwendig, dass den Kommunizierenden das übergeordnete Ziel „Verhaltenskoordination“ bewusst ist. Aller- dings müssen Selbst- und Fremd- bzw. Umweltwahrnehmungen und auf sie gerichtete Überle- gungen kommunikativ so angeboten werden, dass es den Adressaten möglichst gut gelingt, ihrerseits Vorstellungen zu entwickeln, über • die Wahrnehmung der gemeinsamen Umwelt aus Sicht der Anbieter, • deren jeweiligen emotionalen Zustand, • ihre Wünsche und • wie sie das Verhalten der Adressaten beurteilen bzw. welche Handlungen sie vorschlagen oder wünschen. Mit Blick auf die soziale Gruppe als Umwelt erlaubt vor allem das in seiner Differenziertheit einzigartige Kommunikationsmittel Sprache, sich mit Gruppenmitgliedern auszutauschen über • an- oder abwesende als wichtig wahrgenommene Gruppenmitglieder11, • die Gruppe selber und • potenzielle externe Feinde. Im kommunikativen Austausch werden Adressaten ihrerseits zu Produzenten kommunikativer Angebote. Bei diesen Interaktionen kommt es zu Veränderungen, in denen sich die Beteiligten gegenseitig gewissermaßen kognitiv parallelisieren.12 Eben deshalb können sie relativ erfolg- reich kommunizieren. Diese kognitive Parallelität und die damit ausgebildeten Vorstellungen über die Wahrnehmungen, das Denken und die Interessen der Menschen, mit denen interagiert wird, sind faktisch „Bewusstseinstheorien“ [„theories of mind“]), d.h. Alltagstheorien über die Wahrnehmungen sowie das Denken und Empfinden anderer Menschen. Alle Akteure, die an sozialen und damit kommunikativen Interaktionen teilnehmen, bilden sie normalerweise be- reits während der kindlichen Entwicklung aus.13 Bewusstseinstheorien erlauben Menschen 11 Daher kann „Klatsch und Tratsch“ als evolutionär entstandene menschliche Universalie verstanden werden. 12 Vgl. zum Zusammenhang zwischen solchen Parallelisierungen und der Entstehung sozialer Systeme Hejl 1992, S. 123ff. 13 Können solche Bewusstseinstheorien nicht ausgebildet werden, so liegt Autismus vor, vgl. z.B. Baron-Cohen 1997. 220 Peter M. Hejl sowohl sich verständlich mitzuteilen als auch einander besonders erfolgreich zu beeinflussen (d.h. auch, sich gegenseitig glaubhaft zu belügen und so zu manipulieren).14 Bei kommunikativen Interaktionen werden in der Regel Zeichen verwendet, wobei die Über- einstimmung der Zeichenrepertoires und die Bedeutung der Zeichen nicht nur in Übersetzungs- situationen (vgl. Abb. 6) ein Problem ist. Abbildung 6: Kommunikation als Verhaltenskoordination. Quelle: [Stand 24.10.2010] Cartoon von Muhsin Omurca. Schon auf vorsprachlicher Ebene besitzen wir evolvierte kognitive und physiologische Mecha- nismen, um mit den Akteuren unserer wichtigsten Umwelt zu kommunizieren – unserer Fami- lie bzw. unmittelbaren sozialen Gruppe. So verfügen wir über ein ganzes Repertoire nicht- sprachlicher „Zeichen“ zusammen mit der Fähigkeit, sie mehr oder weniger bewusst einzuset- 14 Der Klassiker zu diesem Zusammenhang ist nach wie vor Byrne & Whiten 1988, vgl. als Rückblick auf diese Diskussion auch de Waal 2006, S. 69ff. Man geht heute davon aus, dass die Vorteile dieser positiven und negativen Beeinflussungsmöglichkeiten aufgrund des Wissens über die „Funktionsweise“ von Menschen (Ausbildung einer „theory of mind“) so groß waren, dass sie in der menschlichen Evolution diejenigen unserer Vorfahren begünstigten, die sich auch deshalb sozial erfolgreicher verhalten konnten. Zahlreiche Arbeiten zur „sozialen Intelligenz“ (Barkow 2001; Flinn, Geary & Ward 2005; Kummer u.a. 1997) bzw. zu menschlichen Universalien (Brown 1991, vgl. zu Täuschung ebd., S. 131; Antweiler 2009) oder zu Anwendungen im „Neuromarketing“ (Walter u.a. 2005) bauen auf diesem Zusammenhang auf. Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft 221 zen bzw. sie wahrzunehmen und zu interpretieren. Dabei scheinen insbesondere Emotions- ausdrücke und ihre Verarbeitung eine genetische Basis zu haben. Natürlich ist unser non-ver- bales Verhalten nicht vollständig geerbt. Einiges wird gelernt und wohl alles wird kulturell geformt (Segerstrale & Molnar 1997; Frey 2000; Corballis 2002; Payer 2006). Obwohl oder gerade weil die nonverbale Ebene eine Menge „alter“ Kommunikationsmittel enthält, ist sie mit Blick auf Sprache und Text nach wie vor wichtig: in der face-to-face Kommunikation bildet sie den faktisch unersetzlichen Kontext gesprochener Sprache! Wie man an öffentlichen Auftritten z.B. von Politikern und an Berichten über „Medienberater“ in Politik und Wirtschaft ablesen kann, gibt es keine „rein sprachliche“ Kommunikation in all- täglichen Kontexten!15 Wenn wir sprechen, verwenden wir gleichzeitig Gesten, Gesichtsaus- drücke, Augenbewegungen etc. Anders formuliert: „normale“ oder „natürliche“ Kommunika- tion verwendet gleichzeitig mehrere Modalitäten. Welche Beziehungen bestehen zwischen diesen unterschiedlichen Kommunikationsarten? Sprache erlaubt uns, sowohl Beobachtungen oder Vorstellungen als auch die Beziehungen zwi- schen ihnen darzustellen. Wir können über Mengen sprechen und Zeitaspekte einbeziehen. Wir können unsere Partner über andere Akteure informieren und deren wahrgenommene Merkmale thematisieren: Alter, Geschlecht, Status, Fähigkeiten, Vertrauenswürdigkeit etc. Solange wir in einer Face-to-Face-Situation sprechen, werden wir das Gesagte überdies nonverbal kommen- tieren. Durch Gesichtsausdrücke oder Bewegungen unterstreichen wir wichtige Passagen oder signalisieren, dass das Gesagte nicht oder nur teilweise ernst zu nehmen ist. Die sprachlich gleiche Aussage kann, je nach begleitender nonverbaler Kommentierung, sehr unterschiedliche Bedeutungskonstruktionen auslösen. Verbale und nonverbale Kommunikation sind im Alltag komplementär und Redner, die ohne jede Gestik oder Mimik Text produzieren, gelten schnell als verhaltensauffällig. 5. Schrift als eindimensionales Medium Was passiert vor diesem Hintergrund, wenn geschriebener Text zum dominierenden Medium wird? Mit J. Goody (1977) bzw. Goody & Watt (1986) formuliert, geht es um die Frage „Was ist ein Text?“ bzw. „Was ist in einem Text?“ Betrachten wir seine raumzeitliche Struktur. Wie Abb. 7 schematisch zeigt, ist jeder Text eine Abfolge grafischer Zeichen. Bei den westli- chen Alphabetschriften stehen dabei die einzelnen Zeichen für Konsonanten und Vokale, die zu Wörtern gruppiert sind und einander von oben links nach unten rechts folgen. Daneben 15 Die sprachliche Ebene ist oft nicht einmal entscheidend für die Einschätzung der Glaubhaftigkeit eines Sprechers. So wurde dem amerikanischen Präsidenten Reagan ein „Teflon-Effekt“ nachgesagt, der sich so auswirkte, dass der frühere Schauspieler Reagan aufgrund seiner nonverbalen Kommunikationsfähigkeiten auch dann als glaubwürdig einge- schätzt wurde, wenn ihm inhaltliche Fehler unterliefen bzw. Kenntnislücken deutlich wurden (vgl. Frey 2000, S. 123ff). 222 Peter M. Hejl findet man vor allem die älteren Konsonantenschriften, Silbenschriften und logografische Schreibsysteme, wobei sich neben der Zeichenfolge von links nach rechts auch die Umkehrung findet sowie vor allem asiatische Schriften, in denen die Schriftzeichen von oben nach unten angeordnet sind.16 Abbildung 7: Grundstruktur (westlicher) Texte Der hier zentrale Aspekt von Schrift besteht darin, dass durch den Übergang von der audiovi- suellen Medienkombination gesprochener Sprache und nonverbaler Kommunikation zum Me- dium Schrift die Gleichzeitigkeit nonverbaler und verbaler Kommunikation in eine raumzeit- lich lineare Abfolge graphischer Zeichen verwandelt wird. Natürlich besteht Linearität auch in der gesprochenen Sprache. Schließlich können Dinge nur nacheinander angesprochen werden. Trotzdem sind die Möglichkeiten komplexer Darstellun- gen nicht zu umfangreicher Gegenstände in der face-to-face Situation aus den genannten Grün- den rein textlichen Darstellungen überlegen. Wir haben es hier jedoch mit einem Bedingungs- gefüge von medialen Möglichkeiten und kognitiven Beschränkungen zu tun, das die Vorbe- halte bezüglich Menge und Differenziertheit der Inhalte, die mit verbaler und nonverbaler Kommunikation bewältigt werden können, notwendig macht. Wie die Entstehung von Mnemo- techniken in vielen Kulturen zeigt, stößt die Erinnerung größerer Inhaltsvolumina schnell an die Grenzen menschlicher Erinnerungsfähigkeit. Schrift als externes Gedächtnis wird deshalb in den ökonomisch-administrativen Kontexten entstehender staatlicher Hochkulturen mehrfach erfunden.17 In diesem Sinne ist Schrift ein Hilfsmittel um die Grenzen unserer Erinnerungs- fähigkeit bezüglich der Menge aber auch der Detailgenauigkeit des zu reproduzierenden Inhalts 16 Vgl. zur Schriftgeschichte Ehlich 1980; Schmandt-Besserath 1996; Haarmann 2002 und 2006 sowie, trotz der Fokussierung auf die europäische Schrift- und Buchkultur vor dem Internet, Martin 1988. 17 Die von Haarmann 2002, S. 16ff vertretene Position, Schrift sei bereits vor ihrer Entstehung im Nahen Osten in einer älteren Donaukultur entstanden, scheint eine Einzelmeinung zu sein. Seine Ausführungen zum sozialen Kontext dieser Schriftentwicklung sind sozialanthropologisch zumindest erstaunlich. Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft 223 zu überschreiten. Das Hilfsmittel Schrift stößt jedoch bei umfangreichen und komplexen Ge- genständen seinerseits an die Grenzen unserer Verarbeitungsmöglichkeiten, die bereits zur Ent- stehung von Schrift geführt haben. In dieser Situation entstehen offenbar in den sich bildenden Natur- und Ingenieurwissenschaften bildliche Darstellungen als komprimierte „Schreibungen“ komplexer und umfangreicher Inhalte. Die angesprochene Transformation in grafische Linearität beim Übergang von der gesproche- nen Sprache der face-to-face Situation zur Schrift gilt medial und inhaltlich. Beim Übergang zum Medium Schrift muss dieses, zusätzlich zu den Leistungen, die schon immer mit Sprache erbracht wurden, auch die Kommunikationsfunktionen nonverbaler Kommunikation überneh- men, wenn diese gebraucht werden, also z.B. weniger in technischen Zusammenhängen als in solchen, bei denen es um Machtfragen, religiöse Überzeugungen oder um die Rolle des Men- schen in verschiedenen Kontexten geht. Es handelt sich also um die Darstellung von Vorstel- lungen, Überzeugungen oder Überlegungen. Während jedoch gesprochene Sprache aufgrund ihrer unvermeidlichen Verbindung mit nonverbaler Kommunikation multimedial ist, ist ge- schriebene Sprache monomedial. Das wiederum ist für die Kommunikationsleistung geschrie- bener Sprache folgenreich. Die Medienwahl ist zugleich eine Vorentscheidung über die Mög- lichkeiten der Inhaltspräsentation. Damit verändert die Medienwahl auch die Darstellung von Inhalten und damit die Angebote, die den Adressaten als „Ausgangsmaterial“ für ihre Bedeu- tungskonstruktionen dienen. In jedem Medium ist es schwer, komplexe physiko-chemische oder auch konzeptuelle Netz- werke mit mehreren oder gar zahlreichen Ursachen und Wirkungen darzustellen. Bei der Re- duktion auf geschriebene Sprache müssen die Leser/Betrachter aber Anforderungen erfüllen, die leicht über das hinausgehen, was face-to-face Kommunikation aber auch Grafik erlauben: sie müssen sich oft über erhebliche Zeiträume erinnern und das Erinnerte für die Konstruktion des Dargestellten verwenden, wobei häufig nacheinander Dargestelltes als gleichzeitige Wir- kung zu rekonstruieren ist. Hinzu kommen natürlich unvermeidliche Bedeutungsnuancen der verwendeten Wörter. Der Vergleich mit den Natur- und Ingenieurwissenschaften legt nahe, dass geschriebene Sprache (obwohl sie den Vorteil besitzt, dass Texte mehrfach gelesen wer- den können) nicht eindeutig und nicht komplex genug ist für die wissenschaftliche18 Darstel- lung von Systemen mit zahlreichen Komponenten und Beziehungen zwischen ihnen sowie ihrem Verhalten in der Zeit. Deshalb verwendet man grafische Darstellungen als Ergänzung von (und teilweise statt) Text. Die Beschränkung auf Text durch einen Schreiber verlangt vom Leser die Kompetenz, mit Text umzugehen. Diese Forderung ist nicht prinzipiell inhaltlich sondern in vielen Fällen durch die Medienwahl begründet. Die Auseinandersetzung mit manchen Gegenständen wird also schwierig, nicht weil die Gegenstände an sich zu komplex sind, sondern weil die Auseinander- setzung mit ihnen nur auf Grundlage textlicher Beschreibungen erfolgt. Im Ergebnis kommt es 18 Im Anschluss an Maturana 1982, S. 236f wird darunter verstanden, dass ein Gegenstandsbereich abgrenzbar sein und empirisch prüfbare Modellierungen erlauben muss. 224 Peter M. Hejl zur Entstehung von „Richtungen“ oder „Schulen“ auf der Grundlage unterschiedlicher Textin- terpretationen. Sie finden sich inner- und außerhalb der Wissenschaft sowohl bei den Anhän- gern von Buchreligionen als auch in der Jurisprudenz, vor allem soweit die Rechtsprechung als „Anwendung“ schriftlich fixierter Gesetze erfolgt. Wenn es, aus welchen Gründen auch immer, nicht gelingt, eine Institution zu schaffen, die letztlich autoritativ festlegt, was „in“ den jeweils relevanten Texten steht, was sie „bedeuten“ (dies ist eine wichtige Funktion des Papsttums bzw. von Obergerichten), dann kommt es zur Bildung unterschiedlicher Meinungen, einer „herrschenden Lehre“ und „Minderheitsauffassungen“, zu Kirchen und Sekten bzw. zu konkur- rierenden Strömungen der gleichen Religion. Die ausschließliche Verwendung des Mediums Text begünstigt also eine Reihe von Tenden- zen: 1. Aus dem Bemühen, die wahrgenommene Komplexität des Gegenstandes angemessen sprachlich wiederzugeben, entsteht oft ein Trend zu langen, verschachtelten Sätzen und abstrakter Terminologie. Sie ist oft unscharf definiert und/oder wird inkonsistent verwen- det. Zusätzlich überrascht allerdings oft, wie selten mit definierten und konsistent verwen- deten Begriffen gearbeitet wird. 2. Insbesondere in den Geisteswissenschaften lässt sich eine verstärkte Aufmerksamkeit für den Stil geschriebener Texte beobachten. Natürlich findet sich Stil als Rhetorik auch in der gesprochenen Sprache. Mit dem Übergang zur monomedialen Schriftsprache müssen je- doch Leistungen der nonverbalen Kommunikation durch signalisierende stilistische Merk- male versprachlicht werden. 3. Ebenso findet sich relativ oft eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Kommunika- tionsquelle und der Kodierung der Kommunikation. Klassisch: Was will der Autor sagen? Wobei „Autor“ sowohl ein Wissenschaftler als auch eine Institution wie „der Gesetzgeber“ (Jurisprudenz!) bzw. eine vorgestellte Einheit (Was will Gott uns hier sagen?) sein kann. Schweigt der „Autor“ jedoch, dann kann man nur nach plausiblen Lesarten der Texte su- chen.19 4. Als Ergebnis der Interpretationsproblematik kommt es zur Bildung von Schulen um einen Lehrer bzw. eine Kerngruppe von Autoritäten. Damit soll nicht gesagt werden, dass es in medial anders orientierten Fächergruppen keine Schulen gebe und dass nicht auch schlicht Karriereinteressen hinter Schulenbildungen stehen. 19 Es wäre interessant, der Frage nachzugehen, ob und wie weit es ein Merkmal unserer Kultur der „heiligen Schrift“ ist, Texten, die für viele Leser unklar sind, nicht „Konfusion“ sondern „Tiefe“ zu unterstellen. Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft 225 6. Grafik als komplexes Medium Schauen wir anhand von drei grafischen Beispielen auf die Leistungsfähigkeit von Grafik, stehe sie nun allein oder ergänze sie geschriebene Sprache, wobei ich besonders sozialwissen- schaftliche Zusammenhänge im Auge habe. 1. Die oben bereits angesprochene Darstellung aus P. Bourdieu (1979) La distinction. Critique sociale du jugement gibt zwei farblich unterschiedene übereinander (!) gedruckte Grafiken wieder, die den „Raum der sozialen Positionen“ (schwarz) und den „Raum der Lebensstile“ (rot) im Frankreich der 1970er Jahre abbilden. Im hier (leider nur einfarbig) reproduzierten französischen Original ist die Darstellung technisch wenig perfekt (handschriftliche Einträge!). Gemessen an heute üblichen Standards ist auch die Schrift in vielen Fällen zu klein.20 Trotz- dem hat diese Grafik die empirische Kultursoziologie bis heute nachhaltig beeinflusst. Der Grund ist, dass die Darstellung in komprimierter Form (und im Kontext eines Buches mit über 600 S.) die Beziehungen zwischen sozialen Positionen (schwarz, bestimmt u.a. durch Bil- dungsabschlüsse, Einkommen, berufliche Position, Arbeitsbelastung und Kinderzahl) und Lebensstilen (rot, konkretisiert über das jeweilige Interesse an Kunst, politischer und unterhal- tender Literatur, Wohnpräferenzen, Urlaubsgestaltung, Ess- und Trinkpräferenzen, aber auch den Präferenzen für Sänger und Schauspieler, Medien und Autotypen) in einem Koordinaten- system abbildet, dessen horizontale Achse die Extreme „hohes kulturelles Kapital“ bei niedri- gem „ökonomischen Kapital“ bzw. „niedriges kulturelles Kapital“ bei „hohem ökonomischen Kapital“ aufweist, während die vertikale Achse das Kapitalvolumen (+ = hoch, - = niedrig) angibt. Dabei werden als grafische Elemente nicht nur einige Säulendiagramme, Pfeile und in Kästen gesetzte Texte verwendet. Durch die Einordnung der Merkmale in das Koordinaten- system wird vielmehr die Linearität normaler Texte aufgehoben. Faktisch werden die Textele- mente hier so verwendet, dass sie einen Teil ihrer Bedeutung durch den Ort ihres Auftretens erhalten. Durch die zweidimensionale Relationierung von Text- und Grafikelementen wird insgesamt eine Komplexität erreicht, die über die Linearität normaler Texte weit hinausgeht. Wer das Frankreich der 70er Jahre kannte, konnte sich und sein jeweiliges soziales Netz ein- ordnen! Wissenschaftlich ließen sich – trotz einer Reihe theoretischer und methodischer Kriti- ken (Hejl 2007) – zahlreiche Folgefragen anknüpfen und in Forschungsprogramme umsetzen. 20 Die Darstellung überschreitet bei weitem die Darstellungsmöglichkeiten von PowerPoint, vgl. dazu Tufte 2006b und Coy & Pias 2009. 226 Peter M. Hejl Abbildung 8: „Grafique 5 - Espaces des positions sociales“ und „Grafique 6 - Espaces des styles de vie“ Quelle: P. Bourdieu 1979, S. 141. Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft 227 2. Schauen wir nun auf ein berühmtes historisches Beispiel, die Darstellung der sukzessiven Menschenverluste während Napoleons Russlandfeldzug. Abbildung 9: Kartendarstellung der einander folgenden Verluste an Menschenleben der französischen Armee während des Russlandfeldzuges 1812–1813 von Charles Joseph Minard. aus: E.R. Tufte 2006a, S. 136. 228 Peter M. Hejl Man sieht auf der „Carte Figurative“, wie zwischen Sommer und Dezember 1812 aus der „Grande Armée“ von ca. 422 000 Soldaten auf dem Weg nach Moskau und zurück ein Rest von ca. 10 000 Überlebenden wurde. Die Verluste, dargestellt als ein Band, dessen Breite pro- portional zur Mannschaftsstärke abnimmt, sind in eine Landkarte des zurückgelegten Weges eingetragen und somit örtlich identifizierbaren Gegebenheiten zugeordnet. Die Kurve unterhalb der Darstellung gibt die Temperaturen mit entsprechendem Datum an.21 Man erkennt aufgrund der Darstellung sehr schnell, dass es keine entscheidende Schlacht gab und dass der in Frank- reich zum (bis heute verwendeten) Schlagwort gewordene „Übergang über die Beresina“ nur unwesentlich das bereits vorhandene Desaster verstärkte.22 3. Die letzte Grafik (Abb. 10) entstand als Grundlage für die Abschlussdiskussion eines Semi- nars für Medienstudenten im Diplomstudium zum Thema „Kooperation und Konkurrenz“.23 Während des Seminars war eine Reihe theoretischer Konzepte aus Evolutionstheorie, Spielthe- orie und Mediensoziologie vorgestellt und diskutiert worden. Ziel war es, Erklärungen dafür zu finden, dass sich die Medienangebote im fiktionalen Bereich und darüber hinaus bezüglich Themen und Typen von Protagonisten relativ wenig ändern, ohne dass dies die Nachfrage merklich mindert, ein Befund der eigentlich kontraintuitiv und deshalb erklärungsbedürftig ist. Es galt also, eine medienwissenschaftliche Thematik im Lichte theoretischer Konzepte und empirischer Befunde anderer Disziplinen zu erörtern. Die Seminarteilnehmer hatten einen überwiegend geisteswissenschaftlichen, nicht zuletzt literaturwissenschaftlichen Hintergrund und kaum jemals Zugang zu naturwissenschaftlichen Argumentationen. Überdies waren für Examenskandidaten wichtige Argumentationszusammenhänge des Seminars anzusprechen und zu diskutieren. 21 Vgl. zur genaueren Analyse der Darstellung Tufte 2006, S. 122ff. 22 Neueste Untersuchungen (Raoult 2006) legen nahe, dass der ständige Menschenverlust durch Krankheiten ve- rursacht wurde, die Läuse übertragen haben. Aufgrund der auch in der Darstellung gut erkennbaren tiefen Tempera- turen vermieden es die Soldaten, sich zu sicherlich ohnedies schwierigen Reinigungszwecken auszuziehen und streif- ten vermutlich zusätzlich die Kleidung derer über, die an von Läusen übertragenen Krankheiten verstorben waren. 23 Faktisch habe ich die Grafik zunächst in vereinfachter Form als Teil der Seminarvorbereitung mit c-map erstellt und dann für die Abschlussdiskussion überarbeitet. Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft 229 Abbildung 10: Seminarzusammenfassung Bei der Vorbereitung der Abschlussdiskussion wurde schnell deutlich, dass eine Zusammen- fassung, die Knappheit und Übersichtlichkeit im gegebenen Zeitrahmen anstrebte und die für Studierende gedacht war, die sich ein Semester lang mit der Thematik beschäftigt hatten, nicht aus einem Textvortrag mit PowerPoint-Folien bestehen konnte. Der Verfasser entschied sich deshalb für eine grafische Darstellung der wichtigsten Aspekte und der Beziehungen zwischen ihnen. Obwohl damit nur schlagwortartig Konzepte und Befunde angesprochen werden konn- ten, war es doch möglich, die Hauptargumente und das theoretisch-empirische Beziehungsge- flecht zu skizzieren, das sie bilden. Bei der Arbeit an der Grafik wurde auch deutlich, dass die 230 Peter M. Hejl PowerPoint–Foliendesigns wegen ihrer Auflösung und ihrer strukturierenden Merkmale für den angestrebten Zweck unbrauchbar waren.24 Die Darstellung wurde deshalb lediglich als Bild über PowerPoint projiziert. Alle Seminarteilnehmer wurden eingeladen, sich so dicht vor die Leinwand zu setzen, dass sie die Grafik lesen konnten. Die „Zusammenfassung“ bestand dann darin, dass nach einer knappen Einführung Dozent und Studierende die auf der Grafik thematisierten Zusammenhänge mit häufiger Referenz auf die Darstellung diskutierten. Zu- mindest bezogen auf die Studierendengruppe lässt sich feststellen, dass viele Teilnehmer die systematischen Zusammenhänge verstanden und die Präsentation als hilfreich erlebt hatten, was auch an Abschlussklausuren bzw. Diplomarbeiten ablesbar war. Gleichzeitig zeigte sich aber auch, und dieses Ergebnis verdient genauere Untersuchungen, dass eine kleinere Teil- menge der Studierenden sich durch die Komplexität überfordert fühlte, die ihnen erst durch die grafisch dargestellten Aspekte und die Beziehungen zwischen ihnen deutlich wurde. Diese Komplexität hatten sie offenbar bei der Beschäftigung mit der (erheblichen) Seminarliteratur nicht wahrgenommen! Zusammenfassend kann man eine Reihe von Leistungen nennen, für die grafische Darstellun- gen besonders geeignet sind. Zunächst verwendet Grafik natürlich auch Schrift, um Gegen- stände, Akteure, Prozesse zu bezeichnen oder zu charakterisieren. Insofern ist Grafik kaum ohne Schrift vorstellbar – das „oder“ im Titel des Beitrages hat also eine stilistisch-didaktische Funktion. Überdies sind graphische Darstellungen oft und notwendigerweise in Texte einge- bettet, in denen das graphisch Dargestellte diskutiert wird. Trotzdem erlaubt Grafik im Ver- gleich mit ausschließlich textlichen Darstellungen eine höhere (explizite, thematisierbare) Komplexität. Diese Komplexität bleibt dabei stets wahrnehmbar und damit als ein Kontext erhalten, der berücksichtigt werden muss bzw. dessen Vernachlässigung erklärungsbedürftig ist. Eine erhebliche Stärke etwa der graphischen Darstellung von Beziehungen oder Wirkungen liegt darin, dass Verzweigungen nicht in eine Abfolge aufgelöst werden müssen. Auch dass eine Ursache mehrere Wirkungen haben kann bzw. dass mehrere Ursachen zusammenwirken müssen, damit ein bestimmtes Ergebnis zustande kommt, ist grafisch sehr einfach skizierbar. Ebenso wird schnell deutlich, wenn in einem Zusammenhang von parallelen Prozessen die Rede ist, zwischen denen unklare Beziehungen bestehen. Schließlich sind sowohl positive als auch negative Rückkopplungen gut darstellbar. 7. Offene Fragen Statt einer Zusammenfassung möchte ich vier Fragen stellen und mit ihnen verknüpfte Fragen- komplexe zumindest ansprechen. 24 Le Figaro (Donnerstag 29. April 2010, S. 6) berichtet über Tendenzen im amerikanischen Militär, mehr oder weni- ger angemessen PowerPoint-Folien zu verwenden. Dabei reproduziert der Artikel eine Grafik zur Komplexität Situa- tion in Afghanistan, die jedoch offenbar gerade nicht mit PowerPoint erstellt wurde, da sie dafür erheblich zu komplex war. Text oder Grafik? Zur visuellen Wirklichkeitskonstruktion in der Wissenschaft 231 1. Gibt es unterschiedliche kognitive Stile der Darstellung, Kommunikation und Diskussion wissenschaftlicher Themen, etwa einen „text-zentrierten“ und einen „grafik-zentrierten“ Stil? Dabei kann „Grafik-Zentriertheit“ mit einer stärkeren Orientierung auf die Gegenstände der Naturwissenschaften und ihrer Anwendungen zusammengehen. Freilich muss dies nicht der Fall sein, da auch Konzepte, historische Prozesse, komplexe soziale Systeme (etwa aus dem Bereich der Betriebswirtschaftslehre) oft grafisch dargestellt werden. Wie der Begriff „kogni- tive Stile“ andeutet, geht es hier auch um Fragen wie: sind Präferenzen für Text oder Grafik gelernt und/oder verweisen sie auf ererbte Dispositionen? 2. Was wissen wir über die „Transport-“ und/oder „Stimulationskapazität“ von Medien, die von Akteuren des einen oder anderen kognitiven Stils verwendet werden? 3. Was wissen wir über die Beziehungen zwischen Medienverwendung und der kognitiven/ konzeptuellen Konstruktion von Forschungsgegenständen? Dabei geht es darum, ob unter- schiedliche Medienpräferenzen mit ihnen jeweils zuordenbaren Themenselektionen und/oder Modellierungen von Themen einhergehen. Hier steht ebenfalls der Zusammenhang zwischen unterschiedlichen kognitiven Stilen, wie sie sich in Medienpräferenzen ausdrücken, und Grup- pen wissenschaftlicher Disziplinen im Zentrum der Aufmerksamkeit. 4. Was wissen wir schließlich über die Beziehung zwischen einer kognitiven Text- bzw. Gra- fikorientierung und Studienpräferenzen? Bei dieser Fragestellung geht es nicht nur um Ent- scheidungen für oder gegen Studienrichtungen. Vielmehr ist zu erwarten, dass systematische Zusammenhänge zwischen den vermuteten kognitiven Stilen auch dazu führen, dass Kommu- nikationsprobleme zwischen Wissenschaftlern mit unterschiedlichen Stilen auftreten müssen, die in kaum zu überwindender Weise Interdisziplinarität verhindern. Literatur Aiello, Leslie C. & Dunbar, R.I.M. (1993): Neocortex Size, Group Size and the Evolution of Language. Current Anthropology 34, pp. 184–193. Antweiler, Christoph (2009): Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. 2. 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Am Schluss werden noch die weiteren Entwicklungspotentiale der Visuellen Datenanalyse zusammengefasst und der neue Zusammenhang von quantitativen, qualitativen und visuellen Methoden erläutert, der als ein triadischer und generativer, d.h. sich wechselseitig selbst erzeugender Komplex be- trachtet werden sollte. In den letzten Jahren ist es zu einem starken Anstieg von visuellen Methoden in den Sozialwis- senschaften gekommen, in deren Zentrum Bilder unterschiedlicher Genres – Filme, Fotogra- fien, künstlerische Werke – stehen (Müller 2003). Relativ selten sind hingegen visuelle An- sätze geblieben, gesellschaftliche Daten, Bilder und sozialwissenschaftliche Analysen zu ver- binden. Einer der frühen und nicht weiter entwickelten Versuche stellt hier insbesondere Otto Neurath und die von ihm geschaffene „Wiener Methode der Bildstatistik“ und später ISO- TYPE (International System of Typographic Education) dar (Müller 1991a,b), allerdings wurde der Neurathsche Ansatz mit seinem Tod im Jahr 1945 ebenfalls nicht mehr weiter ent- wickelt. Gegenwärtig beschränkt man sich in den meisten Fällen darauf, im Rahmen der nor- malen sozialwissenschaftlichen Produktion in Zeitschriftenartikeln oder in sozialwissenschaft- lichen Büchern datenbasierte Grafiken zu integrieren, die aber über nur wenig kognitiven Mehrwert gegenüber Tabellen oder Beschreibungen verfügen und im Wesentlichen repräsen- tative Funktionen besitzen. Der folgende Artikel möchte einen knappen Überblick zur Visuel- len Datenanalyse (VDA) als einem eigenständigen Cluster von sozialwissenschaftlichen Me- thoden vermitteln, die nicht ex post zur Illustration von Forschungsergebnissen eingesetzt wird, sondern die eigenständig Forschungsergebnisse produziert. Den Anwendungsbereich, in dem diese Visuelle Datenanalyse vorgestellt und erläutert wird, bildet die vergleichende Forschung, die speziell im letzten Jahrzehnt im europäischen Kontext einen dramatischen Aufschwung genommen hat. (Zur Übersicht vgl. Harkness, Van de Vijver & Mohler 2003) Die Visuelle Datenanalyse (VDA) in der vergleichenden sozialwissenschaftlichen Forschung 237 1. Virtuelle Labors als Orte der Visuellen Datenanalyse Dieser Artikel wird seinen Anfang aber zunächst damit nehmen, einen wissenschaftssoziolo- gisch neuerdings zentralen Begriff einzuführen, nämlich den des Labors, der in einer seiner gängigen Umschreibungen im Wesentlichen das konkrete Setting wissenschaftlicher Arbeits- und Produktionsbedingungen umfasst. “The laboratory allowed ... to consider the technical activities of science within the wider con- text of equipment and symbolic practices within which they are embedded ... In other words, the study of laboratories has brought to the fore the full spectrum of activities involved in the production of knowledge.” (Knorr 1995, S. 3) Laboratorien sind gemäß dieser Umschreibung auf allen möglichen Ebenen des szientifischen Tätigkeitsspektrums vorhanden und instanziierbar, von den Teilchenbeschleunigern der Hoch- energiephysik bis hin zu den Interviewstudios der Meinungsforschung; von den bench-mark- Laboratorien der Molekularbiologie bis hin zu den Rechenanlagen für komplexe dynamische Systeme – und den Gemächern des philosophischen Diskurses (Knorr-Cetina 1992). Was den Begriff der virtuellen Laboratorien auszeichnet, betrifft dabei einige besondere Aus- stattungsmerkmale, welche für diese Art des Labors konstitutiv werden. Im Wesentlichen lassen sich dazu zwei Bereiche identifizieren: “A virtual laboratory can be divided into two components: the application programs, data files and textual descriptions that comprise the experiments; and the system support that provides the framework on which these domain-dependent experiments are built.” (Prusinkiewicz & Lindenmayer 1990, S. 194) Zu den basalen Elementen von virtuellen Laboratorien zählen, je nach intendierten Anwen- dungsbereichen, einerseits eine reichhaltige Programm- und Hypertextumgebung und anderer- seits hinreichend sophistizierte grafische PC-Workstations samt den entsprechenden grafikfä- higen Peripherien. Für virtuelle Laboratorien steht auf der Programmebene derzeit bereits eine Fülle an Verfahren offen, die von biomorphen, ontogenetischen Modellen, evolvierenden Computer-Prozessen oder Netzwerken bis hin zu Robotics-Verfahren, viralen Replikations- formen oder zellularen Automaten reichen und die auf jeweils unterschiedliche Problemstel- lungen unterschiedlich zufriedenstellende Heuristiken und Methoden bereithalten. Von virtuellen sozialwissenschaftlichen Laboratorien soll demgemäß dann die Rede sein, wenn die zu analysierenden Prozesse in gesellschaftlichen Milieus angesiedelt sind, seien diese nun auf den Mikroniveaus – auf individuellen Meinungen wie Einstellungen, auf Kommunikati- onsprozessen, auf Kleingruppeninteraktionen, etc. – oder auch auf den Makrodomänen behei- matet, nämlich auf den gerne als ausdifferenzierte Subsysteme moderner Gesellschaften titu- lierten Feldern wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kultur und dergleichen mehr. Solche virtuelle sozialwissenschaftliche Laboratorien sind in den letzten Jahrzehnten zunehmend mit der entsprechenden Hard- wie Software ausgestattet worden und verfügen ein über beträchtliches Analyseinstrumentarium im Bereich der vergleichenden sozialwissenschaft- 238 Karl H. Müller & Armin Reautschnig lichen Forschung, aber in der Regel über keine visuellen Analyseprogramme. (Toš & Müller 2009). 2. Visuelle Datenanalyse als eine eigenständige Methode im virtu- ellen sozialwissenschaftlichen Labor Bislang stehen visuelle Komponenten im Kontext virtueller sozialwissenschaftlicher Laborato- rien in Form von Grafikprogrammen zur Verfügung, die aber zumeist repräsentative Funktio- nen besitzen und keine analytischen Aufgaben übernehmen. Üblicherweise werden nach Ab- schluss der analytischen Tätigkeiten ausgesuchte Ergebnisse eigens in visueller Form reprä- sentiert. Was die Visuelle Datenanalyse primär auszeichnet, ist ihr Operationsgebiet als analytische Methode, deren Grundlagen durch die Abbildung 1 dargestellt werden können (vgl. dazu auch Card, Mackinlay & Shneiderman 1999 oder Chen, Härdle & Unwin 2007). Aus dieser Abbil- dung wird ersichtlich, dass im Kern der Visuellen Datenanalyse ein visuelles Programm – im konkreten Fall WISDOMIZE 2.0 – steht, das sozialwissenschaftlich relevante Daten – im kon- kreten Fall Survey- oder Paneldaten – in Muster transformiert, die dann seitens einer kompe- tenten sozialwissenschaftlichen ForscherIn analysiert werden. Der wichtigste Prozess der Vi- suellen Datenanalyse besteht in der visuellen Interaktion, die einen rekursiv-geschlossenen Prozess bildet und der in der Regel zu stabilen Eigenwerten, nämlich zu speziellen Musterer- kennungen führt. Abbildung 1: Grundlagen der Visuellen Datenanalyse Die Visuelle Datenanalyse (VDA) in der vergleichenden sozialwissenschaftlichen Forschung 239 Die Visuelle Datenanalyse kann auf zwei Wegen eingesetzt werden, nämlich einerseits als generatives Verfahren zur Datenerzeugung und andererseits als transformatorische Methode zur Datenanalyse. Generative Methoden dienen zur Datenerzeugung und in diesem Segment besitzt die Visuelle Datenanalyse ein bislang nur wenig ausgeschöpftes Potential als Ersatz zu den konventionellen Verfahren der textbasierten Fragebogenkonstruktion in der Survey- oder Panelforschung. Die Abbildung 2 zeigt eine typische Musterkollektion, die im Rahmen der Survey- oder Panelfor- schung für komplexere Fragestellungen wie die bisherige Lebensgeschichte oder den berufli- chen Karriereweg eingesetzt werden kann. RespondentInnen wählen üblicherweise spontan, vollständig und hoch reliabel eines der Muster aus der Abbildung 2, das ihrem bisherigen Le- bens- oder Karriereweg am besten entspricht. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Abbildung 2: Visuelle Muster für den bisherigen Lebensverlauf Daneben können RespondentInnen gebeten werden, selbst einfache visuelle Muster in ein-, zwei- oder seltener dreidimensionalen Konfigurationen zu erzeugen, beispielsweise die Rele- vanz von Lebensbereichen auf einer Linie mit den Endpunkten sehr hoher Relevanz einerseits und völliger Irrelevanz. In diesem Sinne können im Prinzip Survey- oder Panelfragebögen konstruiert werden, die sich im großen Ausmaß solcher visueller Muster und Mustererzeugun- gen durch RespondentInnen bedienen. Neben der visuellen Datenanalyse als generativer Methode steht ihr Aufgabenbereich als trans- formatorische Methode, worin Datensets mit Hilfe der Visuellen Datenanalyse in Forschungs- ergebnisse transformiert werden und die im Zentrum der weiteren Ausführungen stehen wird. 240 Karl H. Müller & Armin Reautschnig 3. Die Visuelle Datenanalyse als Transformationsmethode Die Visuelle Datenanalyse als Transformationsmethode wird im Weiteren hinsichtlich einer Datenklasse skizziert, die sich in den letzten Jahrzehnten in einer Reihe von sozialwissen- schaftlichen Disziplinen in den Vordergrund geschoben hat, nämlich von Survey- und Panel- daten. Die Tabelle 1, die auf Kalkulationen von Willem E. Saris und Irmtraud N. Gallhofer (2007, S. 2f.) basiert, gibt einen Überblick dazu, wie stark diese Daten mittlerweile die Pro- duktion von sozialwissenschaftlichen Zeitschriftenartikeln dominieren. Ökonomie Soziologie Politik Sozial- Öffentliche wissenschaften psychologie Meinung (39.4%) (59.6%) (28.9%) (48.7%) (95.0%) 1949/50 5.7% 24.1% 2.6% 22.0% 43.0% 1964/65 32.9% 54.8% 19.4% 14.6% 55.7% 1979/80 28.7% 55.8% 35.4% 21.0% 90.6% 1994/95 42.3% 69.7% 41.9% 49.9% 90.3% Tabelle 1: Prozentwerte von sozialwissenschaftlichen Zeitschriftenartikeln mit Survey- oder Paneldaten 1949/50–1994/95 Genauer geht es bei der transformatorischen Visuellen Datenanalyse darum, reichhaltige Mus- ter zu erzeugen, mit denen kompetente BeobachterInnen aus unterschiedlichen sozialwissen- schaftlichen Disziplinen interagieren können, um in diesem Prozess wesentliche Eigenschaften von Datensätzen zu erkennen. Daten → Visuelle Transformation → Muster ↔ SozialwissenschaftlerIn Einen gewichtigen theoretischen Hintergrund für die Visuelle Datenanalyse bilden demgemäß auch die Kognitionswissenschaften – und hier im Besonderen jene Bereiche, die sich mit Mustererzeugung, Mustererkennung und Wahrnehmung befassen (Foerster 1985, Hofstadter 1982 & 1985, Kosslyn 1980, Osherson, Kosslyn & Hollerbach 1990, Ware 2004), aber auch die Kunsttheorie (Arnheim 1969, Goodman 1973 & 1984) oder das Informationsdesign (Pick- over 1990, Thalmann 1990, Tufte 1983 & 1991, Young, Valero-Mora & Friendly 2006). Von den zugrundeliegenden Datensätzen kann die Visuelle Datenanalyse mit nahezu beliebig großen Datensätzen operieren, die von wenigen Variablen hin zu sehr großen Survey- oder Paneldatensätzen reichen. Was nun diese interaktiven Muster betrifft, so lassen sie sich in ins- gesamt fünf Hauptgruppen untergliedern, welche für jeweils unterschiedliche Frage- und Problemstellungen geeignet sind: Die Visuelle Datenanalyse (VDA) in der vergleichenden sozialwissenschaftlichen Forschung 241 • Extremwerte – visuelle Muster zur schnellen Entdeckung von Extremwerten und Outliers in einem gegebenen Datensatz • Abweichungen vom Mittelwert – die rasche Mustererkennung unter- wie überdurch- schnittlicher Regionen einer Datenmenge • Visuelle Kohärenzanalyse – die schnelle Erkennung von Zusammenhängen speziell zwi- schen mehreren Datengruppen • Visuelles Clustering – die rasche Spezifizierung von Gruppen oder Typen in einer Daten- menge • Visuelle Distanzen – große Abstände oder Nähen zwischen einzelnen Datengruppen Für jede dieser fünf Hauptgruppen steht jeweils eine größere Anzahl von unterschiedlichen Mustern zur Verfügung, die vom Programm WISDOMIZE 2.0 zur Verfügung gestellt werden und die im Prozess der visuellen Datenanalyse forscherseitig ausgesucht werden können. Jede dieser Hauptgruppen von Mustern kann zudem nach zwei grundsätzlichen Aspekten diffe- renziert werden, nämlich nach statischen und nach dynamischen Analysen. Im statischen Fall steht ein Datensatz zur Verfügung, der zu einem spezifischen Zeitpunkt generiert wurde und über nur einen einzigen Beobachtungszeitpunkt verfügt. Im dynamischen Fall sind hingegen Datensätze vorhanden, die im Minimalfall Beobachtungen für zwei verschiedene Zeitpunkte enthalten, aber im Prinzip sich auch über eine größere Anzahl von solchen Messzeitpunkten erstrecken können. Weiters wird für die Visuelle Datenanalyse wichtig, dass sie sich auf eine eigene Testtheorie stützen kann, die ausschließlich mit visuellen Mustern operiert. Für jede der Hauptgruppen können nämlich ex ante die Bedingungen formuliert werden, unter denen ein Muster als er- kennbar oder nicht erkennbar zu qualifizieren ist. Wird nun ein spezielles Muster in einer der Hauptgruppen generiert, so erhält die Forscherseite eine Reihe von Hinweisen, ob die Voraus- setzungen für ein bestimmtes Muster gegeben sind – oder nicht. Einer visuellen Testtheorie fehlen zwar die Vorzüge ihres statistischen Pendants in der Angabe von Signifikanzniveaus, etc., doch kann eine solche visuelle Testtheorie so aufgebaut werden, dass sie weitgehend frei von zufälligen oder geschmäcklerischen Musterspezifizierungen bleibt und wertvolle beglei- tende Hinweise für den Prozess der interaktiven visuellen Datenanalysen offeriert. 4. Die Visuelle Datenanalyse im Kontext der vergleichenden sozial- wissenschaftlichen Forschung Wahrscheinlich den größten kognitiven Mehrwert bringt die Visuelle Datenanalyse im Bereich der vergleichenden Forschung, die in der Regel über Datensätze aus einer größeren Menge von regionalen Einheiten – Staaten, aber auch Regionen oder Städte – verfügt. Die vergleichende Forschung operiert gegenwärtig nahezu ausschließlich mit statistischen Methoden unterschied- licher Komplexitätsgrade, einschließlich der Konstruktion von einfachen linearen und seltener: 242 Karl H. Müller & Armin Reautschnig nicht-linearen Modellen. Und genau in diesem Kontext kann die Visuelle Datenanalyse höchst gewinnbringend eingesetzt werden. Im Weiteren sollen zwei typische Beispiele vorgeführt werden, in denen die Vorteile der Visuellen Datenanalyse klar demonstriert werden können. 4.1 Multidimensionale visuelle Kohärenzanalysen Das erste Beispiel führt in das Feld der visuellen Kohärenzanalysen, die für eine Reihe unter- schiedlicher Problemstellungen eingesetzt werden können. Von den Daten her werden mehrere Bereiche von vergleichenden Surveys oder Panels benötigt, wobei sich jeder dieser Bereiche oder Feldern aus mehreren Variablen oder Dimensionen zusammensetzen sollte. Solche Berei- che können sich einerseits aus der Struktur von vorhandenen Surveys oder Panels ergeben, lassen sich im Prinzip aber frei forscherseitig definieren und kompilieren. Die zwei grundlegenden Forschungsfragen für multidimensionale Kohärenzanalysen lauten, ob sich zwischen zwei oder mehreren Feldern deutliche Kohärenzen – oder Inkohärenzen – erken- nen lassen. Je nach erkenntnisleitender Forschungsfrage wird eine visuelle Testtheorie so auf- gebaut, dass zunächst forscherseitig die Auswahl Kohärenz beziehungsweise Inkohärenz ge- troffen wird. Die visuelle Nullhypothese lautet nun, dass – in Abhängigkeit von der gewählten Option – ein konträres Muster vorhanden ist, dessen Eigenschaften durch das Programm selbst – im konkreten Fall WISDOMIZE 2.0 – festgesetzt werden. Das konkrete Beispiel besitzt als Datengrundlage die verschiedenen Wellen des Europäischen Sozialen Survey (ESS), der vor allem Einstellungen und Lebensbedingungen auf eine qualita- tiv sehr hochstehende Art abfragt und dessen Daten gegenwärtig als europäische best practice- Beispiele im Bereich der vergleichenden Forschung firmieren. Der ESS lässt sich im Prinzip in eine sehr große Zahl von Feldern segmentieren, die für entsprechende Kohärenzanalysen her- angezogen werden könnten. Im vorliegenden Fall wurden wegen einer schon lange laufenden Debatte über objektive und subjektive Survey-Dimensionen die zwei Felder von tendenziell objektiven Arbeitsbedingungen und stärker subjektiven Arbeitsbewertungen ausgewählt, wobei die theoretische Erwartung zunächst dahin geht, dass beide Felder sich durch eine Kohärenzbe- ziehung auszeichnen. Für jedes dieser Felder wurden nun die entsprechenden Dimensionen ausgesucht, die zu einem Muster in Gestalt von Abbildung 3 führen. Für die konkrete Darstellung wurden für die Kohä- renzanalyse die Abweichungen von einem benutzerdefinierten Referenzwert gewählt. Und als Referenzpunkt wurde der Skalenmittelwert von 5 selektiert, da alle zwölf Dimensionen der beiden Felder eine Skala von 0 bis 10 verwendeten. Demgemäß sieht man in der Abbildung 3 in jedem europäischen Land auf der linken Seite den Bereich der eher objektiven Arbeitsbe- dingungen (Flexibilität, Möglichkeit der Selbstbestimmung von Arbeitsabläufen, Einfluss auf Arbeitsumgebung, Einfluss auf Entscheidungsabläufe, Möglichkeit auf einen ähnlichen Beruf, Möglichkeit des Selbständigwerdens) und auf der rechten Seite das Feld der stärker subjekti- ven Arbeitsevaluationen (Arbeitszufriedenheit, Zufriedenheit mit dem Verhältnis von Arbeit und Leben, Beruf als interessante Tätigkeit, Beruf und Stress, Möglichkeit der Arbeitslosigkeit, Bewertung der Entlohnung). Sogar auf den ersten Blick wird in der Abbildung 3 erkennbar, Die Visuelle Datenanalyse (VDA) in der vergleichenden sozialwissenschaftlichen Forschung 243 dass sich das linke Feld quer durch Europa stark differenziert: In den skandinavischen Ländern ist das linke Feld deutlich über dem Skalenmittelwert gelegen, wogegen in den mittel- und osteuropäischen, aber auch in südwesteuropäischen Ländern die entsprechenden Ausprägungen deutlich unter dem Skalenmittelwert liegen. Konträr verhält es sich hingegen beim rechten Feld, das sich quer über Europa nahezu in den gleichen Verteilungen präsentiert. Abbildung 3: Eine visuelle Kohärenzanalyse zwischen subjektiven und objektiven Arbeitsbedingungen in Europa (Quelle: Europäischer Sozialer Survey) In einer solchen Konstellation – ein Feld mit starken Binnendifferenzierungen, ein zweites Feld mit einem sehr hohen Ausmaß an Homogenität – führt die visuelle Kohärenzanalyse zum Er- gebnis, dass keinerlei Kohärenz, auch keine schwache, zwischen den eher subjektiven und den stärker subjektiven Arbeitsbedingungen besteht, ein Ergebnis, das durch die mitlaufende visu- elle Testtheorie auch abgestützt wird. Ein solches Ergebnis kann dann als Ausgangspunkt für weitergehende visuelle oder statistische Explorationen genommen werden, aber auch für theoretische Überlegungen, wie sinnvoll die Inklusion eines Feldes ist, wenn sich die Werte nahezu in gleicher Weise quer über Europa reproduzieren, obwohl die jeweiligen Arbeitsumgebungen – das linke Feld in der Abbildung 2 244 Karl H. Müller & Armin Reautschnig – durchaus unterschiedlich gestaltet sind und auch sehr unterschiedlich wahrgenommen wer- den. 4.2 Multidimensionales Visuelles Clustern Das zweite Beispiel eines multidimensionalen Clusterns setzt in der Regel komplexere Daten- mengen voraus. Die Datengrundlagen bestehen normalerweise aus m Feldern mit n Dimensio- nen für o unterschiedliche regionale Einheiten. In ihrer visuell am leichtesten erkennbaren Form können Felder und Dimensionen quadratisch angeordnet sein, es sind aber auch Recht- eckformen sowie – allerdings um den Preis ungleich schwierigerer Mustererkennungen – unre- gelmäßige Vielecke spezifizierbar. Im vorliegenden Fall wurde – wieder auf dem Hintergrund der Daten für den Europäischen Sozialen Survey – eine 4 x 6 Darstellung ausgesucht – vier Felder mit jeweils sechs verschiedenen Dimensionen. Diese Felder betreffen die Bereiche: • Arbeitsbedingungen (Flexibilität, Möglichkeit der Selbstbestimmung von Arbeitsabläufen, Einfluss auf Arbeitsumgebung, Einfluss auf Entscheidungsabläufe, Möglichkeit auf einen ähnlichen Beruf, Möglichkeit des Selbständigwerdens) • Arbeitsbewertungen (Arbeitszufriedenheit, Zufriedenheit mit dem Verhältnis von Arbeit und Leben, Beruf als interessante Tätigkeit, Beruf und Stress, Möglichkeit der Arbeitslo- sigkeit, Bewertung der Entlohnung) • Vertrauen in Institutionen (Vertrauen in das nationale Parlament, in das Rechtssystem, in die Polizei, in PolitikerInnen, in politische Parteien, in das Europäische Parlament) • Subjektiver Gesamtzustand (Vertrauen in andere, Hilfe durch andere, Lebenszufriedenheit, Glück, Soziale Teilnahme, Gesundheit) In diesem Fall wird visuell nach Clustern von Ländern gesucht. Die visuelle Testtheorie wird in diesem Fall so aufgebaut, dass forscherseitig zunächst eine bestimmte Anzahl von Clustern festgelegt wird und dass benutzerseitig ein Vorschlag für eine Gruppenbildung mit der selek- tierten Gruppenzahl vorgenommen wird. Der Test in diesem Fall besteht darin festzustellen wie gut das forscherseitig vorgenommene Clustering ausfällt – und ob bessere Alternativen für die gewählte Anzahl von Clustern zur Verfügung stehen. Und damit kann zur Abbildung 3 übergeschwenkt werden, welche ein 4 x 6 Muster für die einzelnen ESS-Länder reproduziert, das sich im Prinzip visuell in zwei, drei oder mehrere Cluster separieren lässt. Dieses Muster wurde so konstruiert, dass für jede einzelne Dimension eines Feldes die Länderverteilung in drei annähernd gleich große Gruppen separiert wird und die Farbgebung diese Gruppenseparierung wiedergibt: weiß für das obere, grau für das mittlere und schwarz für das untere Länderdrittel in einer spezifischen Dimension. Diese Separierung wird für jede der ausgewählten Dimension eines Feldes sowie über alle Felder durchgeführt, so dass jedes Land als ein Muster mit insgesamt 4 x 6 weißen, grauen und schwarzen Flächen erscheint. Die Visuelle Datenanalyse (VDA) in der vergleichenden sozialwissenschaftlichen Forschung 245 An Hand der Abbildung 3 lässt sich dann beispielsweise ein visuelles Clustern mit drei Grup- pen durchführen, das benutzerseitig zwar in unterschiedliche Sets separiert werden kann, im vorliegenden Fall aber zu den folgenden Clustern führt: • Cluster 1: Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark, Niederlande, Schweiz • Cluster 2: UK, Irland, Frankreich, Belgien, Slowenien, Österreich • Cluster 3: Portugal, Spanien, Polen, Ungarn, Deutschland Wie immer das Ergebnis des visuellen Clusterns ausfällt, man erhält forscherseitig einerseits eine Rückmeldung, ob das gewählte Clustern konsistent durchgeführt wurde und ob sich im Prinzip homogenere Cluster spezifizieren ließen. In diesem Fall läuft die visuelle Testtheorie über eine Gesamtbewertung pro Land, worin die Verteilung der hellen, grauen und dunklen in Zahlenwerte (-1, 0, +1) transformiert wird und daraus ein Gesamtwert errechnet wird, der seinerseits zu einer Länderverteilung führt, die dann – in Abhängigkeit von der forscherseitig vorgenommenen Anzahl von Clustern – zu einer spezifischen Clusterbildung führt, die mit den forscherseitig vorgenommenen Clustern numerisch verglichen werden kann. Abbildung 4: Visuelles Clustern mit vier Feldern und jeweils sechs Dimensionen (Quelle: Europäischer Sozialer Survey) 246 Karl H. Müller & Armin Reautschnig Damit wären zwei Beispiele für die Visuelle Datenanalyse im Kontext der vergleichenden Forschung etwas näher vorgestellt. 5. Komparative Vorteile der Visuellen Datenanalyse Mit den visuellen Kohärenzanalysen und dem visuellen Clustern wurden konkrete Anwen- dungsfälle der Visuellen Datenanalyse gezeigt, die gleichzeitig auch den Nutzen dieser Me- thode vor Augen führen. Zusammenfassend lassen sich die potentiellen Vorteile der Visuellen Datenanalyse im Kontext der vergleichenden Forschung in folgende Punkte zusammenfassen. Der wahrscheinlich gewichtigste Vorteil liegt darin, dass die Visuelle Datenanalyse eine sehr schnelle Einsicht in grundlegende komplexe Dateneigenschaften vermittelt. Speziell das Bei- spiel mit dem visuellen Clustern verdeutlicht, dass an sich komplexe multidimensionale Daten sehr schnell in entsprechende Muster transformiert werden können, die dann sofort visuell analysiert werden können. Im konkreten Beispiel wurden 4x6 Dimensionen verwendet, es könnten aber – je nach Datensätzen und Forschungsinteressen – auch 7x7 oder 12 x 12 Felder und Dimensionen sein, mit denen eine Visuelle Datenanalyse vergleichsweise schnell operie- ren kann. Ein weiterer gewichtiger Vorteil der Visuellen Datenanalyse liegt darin, dass sie auf einem höchst komplexen und differenzierten System aufbaut, nämlich der menschlichen Wahrneh- mungsfähigkeit mit ihren praktisch unendlich feinen Distinktionen. Dieser Punkt ist auch des- wegen so interessant, weil die Visuelle Datenanalyse durchaus immer wieder auch nicht-inten- dierte Resultate zu generieren vermag, weil man beispielsweise forscherseitig in einem Muster für visuelles Clustern auch andere relevante Eigenschaften in einem Datensatz entdeckt, die gar nicht im intendierten Anwendungsbereich der visuellen Clusteranalyse liegen. Der dritte nicht unbeträchtliche Vorteil liegt darin, dass die Visuelle Datenanalyse auch mit sehr großen sozialwissenschaftlichen Datensätzen umgehen kann. Beispielsweise lassen sich auch mehrere ESS-Wellen heranziehen und mit denselben Haupttypen der Visuellen Datenana- lyse untersuchen, zumal das Programm WISDOMIZE spezielle Darstellungen für mehrere Zeitpunkte bereithält. Ein weiterer und nicht unwichtiger Vorteil liegt darin, dass sich viertens Visuelle Datenanaly- sen direkt mit dem eingelebten Repertoire an quantitativen Methoden verknüpfen lassen. Bei- spielsweise können dem visuellen Clustern die statistischen Clusteranalysen als anschlussfähi- ger Bereich gegenübergestellt werden und tiefergehende Analysen auf der Basis der Ergebnisse des visuellen und des statistischen Clusterns unternommen werden. Derselbe Punkt kann fünftens – ebenfalls unter der Rubrik der komparativen Vorteile – für die Seite der qualitativen Daten vorgebracht werden, worin sich ein ähnlich anschlussfähiges Po- tential verbirgt, das allerdings im Kontext der gegenwärtigen Programmarchitekturen noch nicht genutzt werden kann. Aber im Prinzip ist es vorstellbar, einen Kontext von Die Visuelle Datenanalyse (VDA) in der vergleichenden sozialwissenschaftlichen Forschung 247 Qualitative Daten → Visuelle Transformation → Muster ↔ SozialwissenschaftlerIn aufzuspannen und qualitative Daten in visuelle Muster zu transformieren, die dann forscher- seitig interaktiv analysiert werden können. Gerade die letzten beiden Punkte können noch generalisiert und zur Abbildung 5 verdichtet werden. Quantitative und qualitative Methoden lassen sich über visuelle Methoden in einen geschlossen triadischen Verbund transformieren, deren Elemente sich wechselseitig erzeugen oder generieren. Anders ausgedrückt können erst über visuelle Methoden die Potentiale bishe- riger sozialwissenschaftlicher Verfahren voll genutzt werden, da erst – so die Abbildung 5 – der Weg von Triangulierungen ziel- und ergebnisgerichtet beschritten werden kann: Visuelle Analysen können zu quantitativen Untersuchungen führen, die zu weiteren qualitativen Studien anregen. Quantitative Forschung kann in visuellen Explorationen überleiten, die in qualitative Forschung münden. Oder qualitative Studien werden zum Anlass für visuelle Designs genom- men und quantitativ weiter umgesetzt. Abbildung 5: Der triadische Verbund von quantitativen, qualitativen und visuellen Methoden und seinen generativen Relationen (G) 6. Ausblicke Die Visuelle Datenanalyse im Kontext von virtuellen sozialwissenschaftlichen Laboratorien könnte, wird und muss um eine Reihe weiterer Komponenten erweitert werden, die bislang noch gar nicht thematisiert worden sind und die zumindest ausblickhaft angerissen werden sollen. Die erste Erweiterung könnte als interne bezeichnet werden, betrifft sie doch vornehmlich Aspekte im Umkreis des bisherigen Programms WISDOMIZE 2.0. Diese Ausbauten werden sich in den folgenden Feldern vollziehen: 248 Karl H. Müller & Armin Reautschnig • eine Vergrößerung der Datenbasis jenseits des bisherigen Fokus auf den Europäischen Sozialen Survey um weitere europäische und vergleichende Datensätze, aber auch natio- nale Surveys mit geeigneten regionalen Partitionierungen • der Ausbau der Haupttypen von visuellen Mustern um neue wie beispielsweise multidimensionale Faces, visuelle Trends, etc. • die Erweiterung der visuellen Testtheorie • die Rekombination von bestehenden visuellen Mustern zu komplexeren Mustern. Die zweite Erweiterung lässt sich als prozessorientiert apostrophieren und handelt von beweg- ten Mustern und der Visualisierung von gesellschaftlichen Prozessen, die aber immer streng im Kontext von sozialwissenschaftlichen Methoden und Analysen ablaufen und in denen es um die visuelle Identifizierung von Prozessverläufen geht. Ein weites Feld für die Visuelle Datenanalyse bieten darüber hinaus die verschiedenen Verfah- ren der explorativen Datenanalyse, in denen es summarisch ausgedrückt um die schnelle Er- kennung basaler Muster in sehr großen Datensätzen geht. Solche Ansätze werden für die Sozi- alwissenschaften besonders dann relevant, wenn verstärkt prozessgenerierte elektronische Massendaten zur Verfügung stehen, welche die bisherigen Survey- oder Paneldaten zumindest teilweise ablösen. Eine besonders interessante und für die Sozialwissenschaften schon derzeit relevante Methode stellt im explorativen Feld jene der Parallelen Koordinaten dar, mit denen die Variablen von Datensätzen als jeweils vertikale Dimensionen parallel arrangiert werden (Inselberg 2009) und mit denen auch geometrische Algorithmen erzeugt werden können. Und darüber hinaus können schließlich auch noch regelbasierte Modelle visuell umgesetzt werden, womit sich vielfältige Möglichkeiten für sozialwissenschaftliche Experimente erge- ben. Solche Erweiterungen, die in das Feld von genuinen Bildersprachen führen, produzieren visuelle Gestalten von rekursiven dynamischen Prozessen. Nicht selten bietet hier die Visuali- sierung – und nur die Visualisierung – Lösungskapazitäten bei Modell- und Simulationsprob- lemen, in denen herkömmliche alpha-numerische Darstellungen notwendigerweise versagen müssen. Damit wäre eine Erstübersicht zu den Potentialen einer Visuellen Datenanalyse abgeschlossen, welche – so eine der Hauptbotschaften dieses Artikels – ein autonomes Methodenspektrum innerhalb der Sozialwissenschaften begründet. Mehr noch, in den Welten der virtuellen sozial- wissenschaftlichen Laboratorien entstehen derzeit Musterbildungen und Bilder-Sprachen, welche die bisherigen Arbeitsformen innerhalb der Sozialwissenschaften nicht nur grundlegend erweitern und ihre Explorations- und Simulationsmöglichkeiten potenzieren werden, sondern welche auch viele der früheren Versuche der Integration von Bildern, Zahlen und Sprachen auf eine Weise umsetzen, in der in vergangenen Jahrzehnten oder Jahrhunderten nicht einmal ge- träumt werden konnte. Die Visuelle Datenanalyse (VDA) in der vergleichenden sozialwissenschaftlichen Forschung 249 Literatur Arnheim, Rudolf (1969): Visual Thinking. Berkeley: University of California Press. 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In Zeiten wie diesen ist man versucht, das Kinderspiel in ein Erwachsenenspiel abzuwandeln, das freilich kein Spiel mehr ist: „Ich kassiere etwas, was Sie nicht sehen, und das steht auch nicht in der Bilanz.“ Aber die Bilanzbroschüre bzw. der Jahresabschluss und der Geschäftsbericht sind textlich und graphisch bestens designed. Längst werden uns nicht mehr nur die X für Us vorgemacht. Aus den ersten Overheadfolien ist die Powerpointisierung der Welt geworden. Der inzwischen möglichen belie- bigen Bild- und Textbearbeitung steht freilich die in Beamer-Bilder-Vorträgen verbreitete Be- hauptung, dass die Banken und die entsprechenden wissenschaftlichen Institute mit ihren Wahr- scheinlichkeitsfantasien und kreativ visualisierten Statistiken in der Lage sind Risikomanagement zu betreiben, in nichts nach. Leistung, die Leiden schafft! Sind Reporting und Monitoring nichts als schöner Schein? Es ist vorstellbar, dass das schief in den Angeln hängende Tor zum Parkplatz einer Firma, das beim zweiten Besuch, sechs Wochen später, noch immer schief und nun schon ziemlich stau- big in den Angeln hängt, mehr über die Firma aussagt als die Bilanz, der Lagebericht des Vor- stands und der uneingeschränkte Prüfungsvermerk des Wirtschaftsprüfers. „Was uns beunruhigt oder bedroht, hat nicht immer die Form eines Schwertes, das über unseren Köpfen hängt; es kann ebenso gut, ja mehr noch in dem Staub sein, der über uns und um uns tanzt, der schwebende Staub, den ein Lichtstrahl plötzlich sichtbar macht, der Staub, den wir sogar einatmen. Doch in der Schwebe sein bedeutet auch eine Ungewissheit, eine Drohung. Der Staub lädt uns ein, uns eine Art Prophezeiung vorzustellen, die weder ausgesprochen noch wirklich sichtbar ist, aufgelöst in winzige Partikel, die stumm durch die Luft tanzen wie zufällig verstreute Pünktchen: Punkte der Zukunft. So beginne ich unwillkürlich, wenn ein Bild, das ich in Händen habe, mir geheime Komplizität mit dem Staub enthüllt, in ihm diffuse Gespinste zu erträumen.“ (Didi-Huberman 2002, S. 434) 1 Ich schreibe diesen Aufsatz in Erinnerung an Michael Bockemühl, weil er Kunst nicht als Kunstgeschichte vermit- telte, was er auch gekonnt hätte, sondern seine Zuhörer das Sehen lehrte. Es war eine Sensation der besonderen Art, wenn man mit ihm ein Bild betrachten konnte. Seine visuelle Kompetenz schien unerschöpflich und fehlt. (vgl. Bockemühl 1985; ders.1981; ders.: 1991; Bockemühl & Scheffold 2007) 252 Ekkehard Kappler Reporting und Monitoring (Berichtswesen und Prozesssteuerung) Von Zeit zu Zeit finden in Unternehmen Zusammenkünfte statt, auf denen über das vergangene Jahr, den gegenwärtigen Stand der Geschäfte und Aktivitäten sowie die Pläne für die Zukunft berichtet wird. Soll und Ist werden verglichen. Das Soll sind Pläne, die am Planungszeitpunkt festhalten, was in einem späteren Zeitraum oder zu einem Zeitpunkt sein soll, gewünscht wird, zu erreichen anzustreben ist: Berichte über gewünschten Umsatz, Aufwand und Ertrag, Ge- winn, Kunden, Ausfälle, Subventionseinwerbungen, Entwicklungspläne, Trends, usw. Weitest- gehend werden die vorgetragenen Informationen visualisiert. Mit dem Soll wird das Ist verglichen. Die geplanten Aktionen und ihre Zahlen, Diagramme. Analysen der Differenzen, Bewertungen und Einschätzungen des abgelaufenen Planungszeit- raums, also der gegenwärtige Stand der Dinge und der Budgets – z.B. nach Ablauf des Pla- nungszeitraums oder am Ende eines Quartals des laufenden Jahres – werden dem Soll gegen- über gestellt, diskutiert und auf ihren Informationsgehalt für weitere Pläne und Aktionen „ab- geklopft“. Nach außen, etwa auf einer Pressekonferenz, wird die Präsentation in der Regel der Vorstand und der Aufsichtsrat übernehmen. Sie und ihre Berichte repräsentieren, so schreibt später die Wirtschaftspresse, das Unternehmen. Bilanzkritiker kommen mitunter zu einer ande- ren Meinung. Für die interne Vorbereitung präsentiert meist die Abteilung für Controlling – besser wäre: Abteilung für Controllingservice (denn Controlling ist Managementaufgabe; vgl. Kappler 2006) – die Charts mit Zahlen und Bildern sowie Berichten. Manche bezweifeln, dass diese Abteilung die Vorgänge „richtig“ repräsentiert. Neuhochdeutsch heißen die Berichte Reports, ihre Erarbeitung Reporting. Auch wenn das Wis- senschaftlern als unfein gilt, hier genügt, was Wikipedia schreibt: „Unter dem Begriff betrieb- liches Berichtswesen (auch Reporting) versteht man die Einrichtungen, Mittel und Maßnahmen eines Unternehmens zur Erarbeitung, Weiterleitung, Verarbeitung und Speicherung von Infor- mationen über den Betrieb und seine Umwelt in Form von Berichten. Als Berichte werden für eine übergeordnete Zielsetzung zusammengefasste Informationen verstanden.“ (Reporting 2010) Auf gleiche Weise lässt sich auch von Monitoring kurz und knapp ein erster Eindruck gewinnen: „Monitoring ist ein Überbegriff für alle Arten der unmittelbaren systematischen Erfassung (Protokollierung), Beobachtung oder Überwachung eines Vorgangs oder Prozesses mittels technischer Hilfsmittel oder anderer Beobachtungssysteme. Dabei ist die wiederholende Durchführung ein zentrales Element der jeweiligen Untersuchungsprogramme, um anhand von Ergebnisvergleichen Schlussfolgerungen ziehen zu können. Die Funktion des Monitoring be- steht darin, bei einem beobachteten Ablauf bzw. Prozess steuernd einzugreifen, sofern dieser nicht den gewünschten Verlauf nimmt bzw. bestimmte Schwellenwerte unter- bzw. über- schreitet.“ (Monitoring 2010). Übersetzen lässt sich Monitoring mit laufender Prozessbeo- bachtung und Prozesssteuerung. Das kann automatisch erfolgen oder manuell. Beispielsweise können in einem Walzwerk die weiteren Walzvorgänge dem bisherigen Verlauf entsprechend nachjustiert werden. Der Druck kann etwa erhöht werden, wenn das bis dahin gewalzte Blech nicht die angegebene Soll-Stärke erreicht. Andere Beispiele für Nachsteuerungen sind die Visuelle Kompetenz für Unternehmen 253 Überwachung und Verringerung von Kundenreklamationen oder die datenrechtlich problema- tische Beobachtung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, um (Fehl-)Verhalten zu erkennen und steuernd einzugreifen. Die Darstellungen bzw. Berichte werden meist in Tabellen- und Diagrammform unterschied- lichster Ausprägungen vorgelegt. Verdichtet und mehr oder weniger vereinfacht sollen die gefundenen, erhobenen, erfragten, erforschten, analysierten Informationen Muster erkennen lassen, die Möglichkeiten eröffnen, weitere Maßnahmen zu treffen oder Unterlassungen zu fordern. Und damit beginnt das Kernproblem. Die Berichte und die Powerpointfolien sind nicht „die Welt“. Schon gar nicht, wenn es um nicht triviale, komplexe Zusammenhänge geht. Was zei- gen die Bilder, und was zeigen sie nicht? Was betonen sie, und wovon lenken sie ab? Zum Beispiel ist der „Körper“ in Abbildung 1 kein Körper, sondern nur eine Illusion und nur eine von vielen Möglichkeiten Komplexität zu visualisieren. H.C. Escher, Vasarely, Magritte und viele andere schufen auf dieser Basis verwirrende Bilder. Im Unternehmen gelingt das mitunter schon durch Systematik suggerierende Kennzahlensysteme und in Bezug auf ihre Voraus- setzungen nicht hinterfragte Software. Abbildung 1: Das ist kein Polyeder Inwiefern beeinflusst die Darstellung das Dargestellte? Was ist die hinter den Berichten und Bildern stehende Theorie, und – noch schlimmer – was ist die zu den Berichten und Bildern hinführende Theorie, die Theorie der Berichtenden, der Bildproduzenten, die Theorie der Be- richteleser und Bildbetrachter, die Theorie der Analysten und der Berichte- und Analysever- arbeiter, aber auch die Theorie der Informationslieferanten für die Berichte, der Beobachteten, die wissen, dass sie beobachtet werden, ohne dass der Beobachter dies erkennen kann? Kurz, die Gesamtheit aller Einflussgrößen, die auf komplexeste Art und Weise die Berichte und Bil- der des Berichtswesens „bestimmen“, sind gefragt und nicht umfassend erkennbar. Welche 254 Ekkehard Kappler Muster sind wessen Muster? Warum? (Zum Umgang mit Abbildungen in einem betriebswirt- schaftlichen Lehrbuch vgl. Lugger 2009) Wer schneller überzeugende Muster „erkennen“ kann, verdient beispielsweise als Cutter oder Cutterin im Fernsehen mehr als langsamere Kollegen und Kolleginnen. Wer schneller sehen und erfassen kann wie ein Fußballspiel läuft, wird besser bezahlt und ist gefragter freischaffen- der Cutter, denn er ist in der Lage, blitzschnell aus dem schnell vorgespielten Aufnahmemate- rial für die wenige Minuten nach Spielende beginnende Sportschau die treffendsten Bilder auszuschneiden. Er erzählt aber letztlich nicht das Spiel FC Bayern München – Schalke 04, sondern „sein“ Spiel. Das ist übrigens bei der Live-Übertragung nicht anders, mit dem Unter- schied, dass Kameramann, Bildregisseur und Reporter „ihr“ Spiel übertragen – und Zuschauer „ihr“ Spiel sehen: „Das war niemals Abseits!“ – „Doch.“ – „Der Linienrichter ist doch blind!“ Immer geht es um Mustererkennung, die freilich in ihrer Selektivität zugleich Musterproduk- tion ist. „Der Ball war drin!“ bedeutet nicht mehr und nicht weniger als „Die Bilanz weist Verluste (oder Gewinne) aus.“ Gewünscht werden Muster, die die Überschaubarkeit des komplexen Informationszusammen- hangs und der Sachverhalte erleichtern sollen. Das gilt für die Praxis und ist eines der Haupt- motive für Wissenschaft. Man beachte, dass es wirklich Wissenschaf(f)t heißt und nicht Wis- senssuche. Also schauen wir uns einige noch ziemlich einfache Muster an. (Wenn ich mich recht erinnere, verdanke ich die Anregungen zu diesem kleinen Beispiel einem Vortrag von Hans A. Wüthrich. Vgl. auch Wüthrich, Osmetz & Kaduk 2009) Bitte finden Sie die jeweils systematische Fortsetzung der folgenden beiden Zahlenreihen und benennen Sie das Muster, die Theorie, das Gefühl, nach dem Sie fortgesetzt haben: (A) 1 4 9 16 25 ? ..... (B) 1 2 3 5 7 11 13 ? .... Diese Muster sind leicht zu erkennen. Im Fall A besteht die Reihe aus Quadratzahlen, begin- nend mit 1. Die nächste Zahl ist also 36. Im Fall B sind es Primzahlen, so dass die nächste Zahl 17 lautet. Schwieriger wäre das Muster schon bei der Reihe C zu erkennen: (C) 1423 1427 1429 1433 1439 1447 ?..... Auch das sind Primzahlen. Das Muster ist nicht sofort klar. Erst wenn man den Verdacht auf Primzahlen hat, kann man in einer entsprechenden Tabelle nachschauen oder rechnen. Die nächst Zahl wäre: 1451. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass Großrechner lange rechnen müssen, um beispielsweise die erste Primzahl mit 10300 Ziffern zu finden. (D) 1 4 7 11 14 17 ? ... Die nächste Zahl ist bei D nicht 21. Aber warum nicht? Oder unter welchen Bedingungen doch? Was ist das Bildungsmuster der Reihe? Vielleicht helfen Ihnen die Reihen E und F weiter bei der Suche nach dem Muster von D, E, F: Visuelle Kompetenz für Unternehmen 255 (E) 0 3 6 8 9 30 ? .... (F) 2 5 22 25 ? .... Was ist das Problem bei der Suche nach dem Muster? Schauen Sie genau hin! Wieso sage ich „schauen“? Haben Sie sich durch A, B und C in die Falle locken lassen? Haben Sie gerechnet oder zu rechnen versucht? (Vgl. Boyle 2001) A, B, C sind nach einem mathematischen Muster gebildet. Was aber ist mit D, E, F? Die Musterbildung erfolgte nicht nach einer mathemati- schen Regel, sondern optisch-ästhetisch. Die jeweils nächsten Ziffern sind: D 41, E 33, F 52. Warum? Was heißt optisch-ästhetisch? Das optisch-ästhetische Bildungsmuster heißt hier: (D): Bilde eine fortlaufende Zahlenreihe, die nur Ziffern enthält, die ausschließlich aus geraden Linien zusammengesetzt sind. (E) Bilde eine fortlaufende Zahlenreihe, die nur Ziffern enthält, die ausschließlich aus geboge- nen Linien zusammengesetzt sind. (F): Bilde eine fortlaufende Zahlenreihe, die nur Ziffern enthält, die ausschließlich aus geraden und gebogenen Linien zusammengesetzt sind. Die Schwierigkeit besteht unter anderem darin, dass man den rechnerisch-mathematischen Gedanken verlassen und den optisch-ästhetischen Zugang finden muss. So würde es uns auch schwer fallen, wenn die Ostereier, die im Zoo versteckt sind, wie Pflastersteine aussähen. Die Zahlenreihen erzählen unterschiedliche Geschichten, und wenn sie nicht so simpel gebildet werden wie im obigen Beispiel, mag es passieren, dass die Geschichten so vielfältig sind wie die Geschichten der Kinder, die dann doch die Ostereier erkannt haben, ja sogar so vielfältig, dass manche glauben, sie könnten gar nicht erzählt werden – was letztendlich auch immer stimmt. Vielleicht haben Sie ganz andere Muster gefunden als die hier genannten. Sie werden bei genauem Überlegen unter Umständen auf die genannten Zahlen passen, in der Regel aber spätestens nach einigen weiteren Zahlen zu einer anderen Fortsetzung führen als die genannten Muster. Falsch sind sie dennoch nicht. Eine Neoninstallation von Mauricio Nannucci aus dem Jahre 1991 sagt das so: it is possible to imagine that all impossible images exist in the field of all possibilities Bilder, die Geschichten erzählen In den Kurzmitteilungen der Harvard Business School heißt es in einem Executive Summary: „Integrated reporting in One Report means to describe, simply and clearly, management’s view of the relationships between financial and nonfinancial metrics.” (Hbs 2010). Entscheidend an dieser Mitteilung ist der Hinweis auf “management’s view”. Er besagt, dass die Geschichte, 256 Ekkehard Kappler der Report aus der Sicht des Managements erzählt wird. Dieser Hinweis wäre nicht notwendig, wenn die Geschichte nicht auch aus anderer Sicht erzählt oder aus anderer Perspektive inter- pretiert werden könnte. Reports, Bilanzen, Kennzahlen und andere Informationssysteme sind keine anderen Objekte als die obigen Zahlenreihen. Sie sind „Ergebnis“ und Vorlage von und für Geschichten, die wir häufig zu verstehen glauben, weil wir in der Schule und der Ausbildung, im Studium und in der Berufspraxis, bei der Einarbeitung auf einer neuen Stelle und der Abstimmung mit einem Vorgesetzten über die von ihm benötigten Informationen die Konventionen gelernt haben, die das Verfassen und das Auslegen solcher Geschichten einschränken (sollen). Wenn sich alle daran halten, entsteht Verlässlichkeit. Aber niemand kann diese Verlässlichkeit garantieren. Insofern lässt sich nicht sagen: „Eine Rose ist eine Rose, ist eine Rose, ist eine Rose ...“ (Ger- trude Stein). Sie ist immer die Rose des Betrachters oder der Betrachterin und der Bewertungen im Rahmen der gelernten Bewertungs- und Verhaltensmuster, der (vorprogrammierten) Stim- mungen, einer für Betrachterin oder Betrachter scheinbar eindeutigen Situation. Aber ist das auch die Rose des Verkäufers, der Schenkenden usw. Aktienkursanalysen sprechen gern von oberen oder unteren Widerstandgrenzen in ihren Charts, von Dreieckskonstellationen, und ähnlichem. „Der DAX hat die lange umkämpfte Wider- standslinie von 6000 Punkten durchbrochen.“ Das ist nicht mehr als eine (mehr oder weniger suggestive) Metapher, ebenso wie die Dreieckskonstellation oder der Trend, der Entwick- lungskorridor usw. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass einige Wissenschaftler uns weiß machen wollen, dass diese Linien tatsächlich existieren. Sie existieren nur in den Köpfen der Spekulanten, die daran glauben! Mit unserer visuellen (In-)Kompetenz wird hier ebenso gespielt wie beim Entscheiden über die Koordinatenmaßstäbe, mit denen optisch starke Stei- gungen oder Gefälle erzielt werden können. Auch zeigt das Balkendiagramm, auf dem eine Steigerung der Nächtigungen in einer Tourismusregion um 17% ausgewiesen wird, wenig Konkretes, wenn nicht dargestellt wird, was die Basis ist. Und wie genau ist die Basis? Manche Tourismusverbände setzen Prämien für genaue Meldungen, viele rechnen einfach einen Dun- kelzifferaufschlag für ihre Statistik. „Was ist das für ein alter Mann, der da auf der anderen Seite in die Straßenbahn steigt?“ fragte nach einer Anekdote Ernst Mach beim Besteigen eben dieser Straßenbahn. „Erstaunlich, der andere Mann machte identisch die gleichen Bewegungen wie ich.“ Mach erkannte den Zu- sammenhang nicht sofort: Er sah erst nach einiger Zeit, dass er keinen anderen Mann sah, son- dern sein Spiegelbild in der Scheibe der gegenüber liegenden Tür. Auch im Krimi schießt mit- unter der gejagte Verbrecher auf den gegenüber, der ihn gerade mit der Pistole bedroht. Der Crash splitternden Glases verrät seinen Standort mehr als der Schuss: In der Hast der Flucht hatte er übersehen, dass er in einen Spiegel schaute, als er erschrocken schoss. Die Produktion der Realität beginnt mit den Begriffen. „Begriffe greifen“ (Bert Brecht), weil sie schon vorentschieden sind. Sie greifen umso mehr, je weniger klar ist, dass es sich bei den vorfindbaren Begriffen und Verhaltensnormen um Konventionen handelt, die verborgene und manchmal kaum noch benennbare Urteile enthalten, deren konkrete Bestimmung nicht mehr Visuelle Kompetenz für Unternehmen 257 bekannt ist oder nicht mehr benannt wird. Ähnliches lässt sich von Bildern sagen. Visuelle Kompetenz stellt daher Fragen. Nicht nur Mannequins werden herausgeputzt für den Auftritt und die Pickel für das Coverfoto retuschiert, um der gewünschten Wahrnehmung zu entsprechen. Auch bei Kosten, Leistung, Wirtschaftlichkeit, Effizienz, Noten, Normalfall, Abweichung, Störfall, Verschmutzung, Sau- berkeit, humanen Mindeststandards, Kosten der Lebenshaltung, Pfändbarkeit, Bilanzwahrheit, Bilanzklarheit, Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung, Code of Ethics, Ehrenkodex der Wirtschaftsprüfer, Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, „man isst Fisch nicht mit dem Messer“, „der Mann trägt Hut“, „Joggen ist gesund“ und der Werbung werden ge- lernte, aktuell gängige, modische oder anders auffällige oder unauffällig auffällige Muster intellektuell, gefühlsmäßig, konventionell und visuell unbeabsichtigt oder gezielt angespro- chen. Nach Möglichkeit wird der optische Sinn dabei benutzt, der schon im antiken Griechen- land als der privilegierte galt, was auch bei den für den EU-Beitritt vorgelegten Bilanzen, ihren erläuternden Statistiken, Berichten und Charts im zeitgenössischen Griechenland nicht verges- sen worden war. Heute zeigt sich: Sie waren keineswegs selbstverständlich oder selbsterklä- rend. Im Hegelschen Sinne sind es ohnehin meist nicht entfaltete Begriffe, sondern mehr oder weniger gelungene Definitionen, die unter bestimmten Bedingungen formuliert werden, z.B. um geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erkennen oder jemanden als „einen Men- schen mit guten Manieren“ zu beschreiben. Gelegentlich sind es auch kurzlebige Moden, die aber ebenfalls nur in konkreten Situationen ihren angebbaren Sinn haben. Im Laufe der Ent- wicklung werden viele Begriffe und Bilder so zu verinnerlichten Routinen, dass ihre Herkunft, ihr Zweck und ihre Unschärfe gar nicht mehr gesehen werden (können). Die Betrachtungs- weise wird uns zur zweiten Natur. Informationen des Berichtswesens und des Monitoring sind nicht in einem Container enthalten, der Bericht oder Bild heißt, und unbefleckt zu senden, zu empfangen bzw. zu öffnen ist. Infor- mationen eines Senders oder einer Senderin erreichen den Empfänger oder die Empfängerin in der Art und Weise, wie letztere sie wahrnehmen und interpretieren, bedeuten (vgl. Jönsson 1996, S. 5f). Technisch und durch Ausbildung, durch Schulung und Einschulung werden Vor- kehrungen getroffen, die sicherstellen sollen, dass die Empfänger keinen unerwünschten Inter- pretations- und Bewertungsspielraum haben. Aber weder diese technischen Vorrichtungen noch adäquate Ausbildungen und Schulungen bieten letzte Sicherheit. Es bleibt ein Geheimnis. Enigma. „Meaning is constituted in use“, schreibt Pontus Hedlin (Hedlin 1996, S. 193) in sei- ner Arbeit „Accounting Investigations“, und er zitiert veranschaulichend die berühmte Witt- gensteinsche Hasenente (vgl. Wittgenstein 1971, S. 309). Dabei hätten wir statt der Mehrdeutigkeiten so gern schwarz oder weiß, richtig oder falsch, gut oder böse, links oder rechts, Hase oder Ente, rinks odel lechts: 258 Ekkehard Kappler Abbildung 2: Ist das Wittgenstein? Lichtung Es gibt immel wiedel Menschen, die können rinks und lechts nicht velwechsern. Werch ein Illtum (Ernst Jandl – oder Elnst Jandr) „Schwarz-weiße Sachverhalte kann es in der Welt nicht geben, weil Schwarz und Weiß Grenz- fälle, >Idealfälle< sind ... Schwarz und Weiß sind Begriffe, zum Beispiel theoretische Begriffe der Optik. Da schwarz-weiße Sachverhalte theoretisch sind, kann es sie in der Welt tatsächlich nicht geben. Aber schwarz-weiße Fotos, die gibt es tatsächlich. Denn sie sind Bilder von Be- griffen der Theorie der Optik, das heißt, sie sind aus dieser Theorie entstanden. Schwarz und Weiß gibt es nicht, aber es sollte sie geben, denn dann könnten wir die Welt in Schwarz-weiß sehen, wäre sie logisch analysierbar.“ (Flusser 1999, S. 38f.) Objektivität und Objektivierung Es geht um die Wirklichkeit des Bildes, wenn die Frage nach visueller Kompetenz gestellt wird. Selbst im Fall des noch zu starken Bleches muss nicht eindeutig klar sein, dass mehr Druck das Problem löst. Die Ursache ist nicht sichtbar. Vielleicht liegt es auch an dem zu wal- zenden Material, zu geringen Temperaturen, und zusätzlicher weiterer Druck würde verhin- dern, dass die gewünschte Elastizität erreicht wird. Der technische Zusammenhang erscheint dabei meist noch ziemlich beherrschbar. Problematischer wird es, wenn Wertungen hinzukommen, etwa ob die vor Jahren bezahlten Anschaffungspreise oder die in Zukunft zu zahlenden, aber noch nicht bekannten Wiederbe- schaffungspreise für die Abschreibungen der Maschinen angesetzt werden sollen. Auch kann die Frage sein, welche Kosten in einer Kalkulation auf den Kunden abgewälzt werden können. Ähnliches gilt für die Bilanz. Erst entsteht eine Bleistift-Bilanz. In ihr lässt sich noch ganz legal radieren. Dann werden bilanzpolitische Maßnahmen erwogen, sog. Bilanzierungswahl- Visuelle Kompetenz für Unternehmen 259 rechte, die das Gesetz zulässt. Sie werden so eingesetzt, dass beispielsweise aufgrund der Steu- erbilanz möglichst geringe Steuern zu zahlen sind. Es wird radiert und umgeschrieben, abge- wogen, bis schließlich die gedruckte Bilanz erstellt werden kann. Erst recht unübersichtlich wird die Lage, wenn beispielsweise geklärt werden soll, ob angefal- lene Reisekosten wirklich notwendig waren, ja, ob sie überhaupt angefallen sind. Wie viel Zeit darf ein Vertreter bei den Kunden brauchen? Wie viel Zeit ist beim Arzt oder Zahnarzt oder beim Frisör angemessen? Ist die Reise noch eine Dienstreise, wenn die Ehefrau auf eigene Kosten mitreist und Urlaubsfotos geknipst wurden? Lassen die Dienstreisen ein gegenüber dem bisherigen Reisemuster abweichendes Muster erkennen? Bruchstellen sind Fundstellen, also auch abrupte Veränderungen in statistischen Zeitreihen und entsprechenden Diagrammen. Manche Geschichten sind nur für die Buchhaltung, die Innenrevision oder für das Finanzamt interessant. Die Einführung der International Financial Reporting Standards führte beispiels- weise zu einer völligen Veränderung des Bilanzierungsverhaltens und der Wertigkeit der Bi- lanzinformationen. War es aufgrund der Erfahrungen der 20-er Jahre des letzten Jahrhunderts nicht erlaubt, nicht realisierte Gewinne in der Bilanz auszuweisen, so wurde dies nun geändert. Die Hoffnung auf Gewinne wurde das Ausweiskriterium: Shareholder Value. Das Management musste nur die Aktienkurse treiben, um dicke Boni zu kassieren. Materiell stand manchmal nichts dahinter. Der Crash war die Folge. Abbildung 3: Sehen so Frust und Motivation aus? Ist das eine Mohrrübe oder ein Heubüschel? Ist das die Mohrrübe oder das Heubüschel, die der Reiter mit einer Angel dem Esel, auf dem er sitzt und der sich bewegen soll, anreizend aber unerreichbar vor das Maul hält? Man muss bei solchen Fragen nicht gleich verschwörungstheoretisch denken und Irreführung, Betrug, Un- treue oder Schlimmeres vermuten. Es genügt, den gebotenen Anreizen nachzugehen, um zu 260 Ekkehard Kappler finden, wie Bilder und Konventionen genutzt und unterlaufen werden, wie die ihnen vermeint- lich oder auch tatsächlich entsprechenden Muster und Bilder präsentiert werden. Die Muster, die Bilder und Zahlen, Darstellungen und Berichte zeigen, sind immer selektiv, manchmal anreizgetrieben, aber häufig genug in der unvermeidbaren Selektivität nicht einmal absichtlich produziert, weil da, wo gar nichts zu durchschauen ist, auch nichts beabsichtigt werden kann. Dennoch wird immer wieder versucht, die Reduzierung der Bilder, Zahlen, Be- richte etc. auch als Objektivität zu „verkaufen“, denn wenn andere daran glauben, werden sie für die Produzenten solcher „Weltbilder“ beherrschbar. Dabei sind es doch bestenfalls Objekti- vierungen, Konventionen, Metaphern der Repräsentation an der Grenze der Repräsentierbar- keit, die vorgelegt werden. Die Oberfläche des Bildes zeigt nichts als seine Oberflächlichkeit und verbirgt diese Ober- flächlichkeit auf diese Weise häufig genug nicht ungeschickt (vgl. ausführlicher: Kappler 2004; der Gedanke stammt von Burgin 2003). Das gilt mitunter auch für schön herausgeputzte Jahresberichte, unter Umständen aber auch für die beliebte Führungstechnik Management by Objectives. Das Vereinbaren von Zielen und Budgets/Mitteln ermöglicht „Leistungsmessungen“, aber ... Abbildung 4: Zielvereinbarungen – manchmal danach Die Zielvorgaben oder sogar Zielvereinbarungen geben eine gewisse Freiheit bei der Durch- führung. Sie bergen aber auch die Gefahr vorschneller und einseitiger Schuldzuweisung und Verurteilung, wenn sie nicht erreicht werden. Es ist fast als würde ein Knopfdruck genügen. Zugleich wird die immanent gepredigte Moral sehr suggestiv, wenn mit dem Bild der Abbil- dung 4 diese Aussage unterstützt wird. Oberflächlich: Die Vereinbarung von Zielen und Bud- gets ermöglicht Leistungsmessungen. Entscheidend freilich: Wer hat bei solchen Vereinba- rungen bzw. den späteren Messungen die Macht. Um welche und wessen Ziele geht es? Das Verbergen der Oberflächlichkeit der Oberfläche reicht bis in die Wissenschaften, was sich an der „Moralisierung der Objektivität“ (Daston & Galison 2002, S. 30) zeigen lässt. So ließ die Erfindung der Fotografie Alexander von Humboldt jubeln: „Besser als das menschliche Auge.“ Objektiv und wertfrei, meinen noch heute viele. Das ist falsch. Man könnte es statt- Visuelle Kompetenz für Unternehmen 261 dessen vermutlich besser mit „objektiviert“, „verdinglicht“, „entfremdet“ versuchen. Auf jeden Fall erzählt jedes Bild seine Geschichte immer kontextabhängig. „Die Geschichte der verschiedenen Formen der Objektivität kann erzählt werden als die Frage danach, wie, von wem und wann begonnen wurde, die verschiedenen Formen von Subjektivität als gefährlich subjektiv anzusehen.“ (Daston & Galison 2002, S. 31). Das Relikt der eindeuti- gen, mechanischen oder zumindest intersubjektiven Objektivität besteht auch heute noch wei- ter, nicht zuletzt unterstützt durch die fortschreitende Visualisierung, Verbildlichung (Ver- bildung!) und Powerpointisierung der Welt. Längst ist ganz klar, dass es all diese „Objektivität“ nicht gibt für Menschen, die so „rational“ sind wie sie es eben sind, die ihre Werte und ihr Sozialisationsgepäck nicht abschnallen können wie einen Rucksack, und die immer schon Begriffe gebrauchen, die einerseits nicht eindeutig sind, andererseits – bei geschickter Benutzung – teuflisch treffsicher zuzugreifen und zu fes- seln vermögen. So ist eben auch intersubjektive Objektivität nichts anderes als die Absprache von Subjekten, es so und nicht anders, wenigstens für einige Zeit, miteinander halten zu wol- len. Wenn sich das in Verfahren und Regeln niederschlägt, entsteht daraus nicht selten das Missverständnis unumstößlicher Objektivität. Wer sich auf ein Verfahren berufen kann, scheint Recht zu haben. Die Regel ist auch bei der Musterinterpretation nur vermeintliche Autorität (vgl. Ortmann 2003), auf die man sich als Begründungsabbruch berufen kann, wenn es nie- mand mehr merkt. Das aber ist meist bereits Ausdruck von Gewohnheit, Macht (auch der Macht der Konventionen und Traditionen) und Einschüchterung, denn die Regel ist entwickelt, gelernt, kontextabhängig und nie ohne Ausnahme durchhaltbar. Auch wenn die Einhaltung der Regel als Drohung vorgebracht werden kann, zeigt das die Brüchigkeit der Regel. Ebenso soll das Bild als Zeuge herhalten und den wenig aussagekräftigen Jahresabschlussbericht anspre- chend unterstützen. Dabei beruhen die Macht der Regel und des Bildes auf der Macht, jenseits des konkreten Konsenses der bei ihrer Formulierung beteiligten Menschen, auf dem „Trick“ des Verfahrens, das infolge der Regelhaftigkeit bei Bericht, Bilanz wie Bild den Entstehungs- zusammenhang vergessen macht. Verschärft wird die Situation mit der Ausbreitung virtueller Welten, die kaum zu überblicken sind, in denen beispielsweise virtuelle Bilanzsummen von Banken oder Ländern Schulden suggerieren, die vom Steuerzahler auszugleichen sind, „weil sonst die Wirtschaft zusammen- bricht“. „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut“, heißt etwas stark vereinfachend die entsprechende, unter bestimmten Umständen nicht ganz falsche und dennoch auch verschlei- ernde Bauernregel. Die Buchhaltung, die Steuergesetze, die Reports, die Monitorbilder und die Pläne, werden, sind sie verwegen genug, neuerdings bereits in Lehrbüchern Visionen genannt, werden ungesehene Flammenschriften in den Köpfen der Teilnehmer von Strategiesitzungen. Ihre formierenden Visualisierungen entstammen einer Maschine, einer Software, einem Fotoapparat, wie Vilèm Flusser ihn sieht. (vgl. Flusser 1999) Das sind keine Werkzeuge, sondern Spielzeuge, und sie kennzeichnen Manager als Spieler. Sie „kriechen in den Apparat hinein, um die darin verbor- genen Schliche ans Licht zu bringen“ (Flusser 1999, S. 25) bzw. nach Möglichkeit für sich und für ihre Zwecke und Absichten zu nutzen. Allerdings sind die Apparate oder Informations- 262 Ekkehard Kappler systeme und ihre Beziehung im Gesamtzusammenhang zu komplex, um als Manager wirklich kompetent in diesem Spiel auftreten zu können. Flankierende Schutzmaßnahmen und Ab- schottungen sind notwendig. So ist es nicht verwunderlich, dass in einer Zeit, in der unüber- sehbar wird, dass beispielsweise Banken unabweisbar Spielbanken sind, eine Wertedebatte an- gezettelt wird, die moralisierend dieses Spiel sichern soll. Lange im Vorfeld, besonders im operativen Vorfeld, leistet Visualisierung einen Teil der Vorarbeit. Die Welt als Bildchen. Die materielle und die virtuelle Bankarchitektur als Turm und Trutzburg, in der Geld sicher ver- wahrt zu sein scheint, weil man ihr die virtuelle Architektur nicht ansieht. Visualisieren wird zu einem Kompetenzsymbol, das zum einen die Unmöglichkeit „ganzheitli- cher“ visueller Kompetenz verschleiert und zum anderen die Möglichkeit visueller Kompetenz in einem komplexen Zusammenhang auf bestimmte Weise behauptet bzw. zu behaupten ver- sucht. Abbildung 5: Fakten sind wie Kühe – wenn man ihnen lange genug ins Gesicht schaut, drehen sie sich um und laufen davon (Dorothy L. Sayers) (Foto E.K.) Die Robotisierung der Abbildung durch die oben genannten Spielzeuge und die in ihren Pro- grammen ausgedrückten Symbole lassen das dargestellte Ergebnis von Managementtätigkeiten als Ausdruck eines unabwendbaren Ablaufs obwohl es sich um Resultate eines Spiels handelt, das erst durch den Apparat zu automatischen Bilder gerinnt. Dabei kann dennoch Überra- Visuelle Kompetenz für Unternehmen 263 schendes passieren. Eben weil der Zusammenhang komplex und nicht immer voll durchschau- bar ist. Der Satz, der Abbildung 5 benennt, ist zu schön, um nicht wiederholt zu werden: „Fakten sind wie Kühe – wenn man ihnen lange genug ins Gesicht schaut, drehen sie sich um und laufen davon“. Ein weiteres Beispiel zeigen die Betonungs-/Auslegungsmöglichkeiten des folgenden Satzes, der hier in keinen weiteren Kontext gestellt, allein durch unterschiedliche Betonung mehrere Deutungen einschließt: „Die Ausgangssituation jedes Organisationsentwicklungs- problems erscheint einfach.“ Da so von außen gesehen, die zu leistende Managementarbeit in der Konzentration auf das Drücken des Spielzeugs zum Drucken des gewünschten Bildes besteht, wird die Werkzeugseite des Apparates automatisch. Die Spielzeugseite des Managements wird damit frei zum Spiel vor dem Drucken und zum Spiel danach, z.B. dem Spiel der Interpretationen, der Improvisationen und der echten Entscheidung voller Risiko, der Rechtfertigung beim Darstellen von Entschei- dungen und Fehlentscheidungen, beim Erspielen der Anreize oder beim Verhindern negativer Sanktionen. „Es gibt somit zwei ineinander verschlungene Programme im Fotoapparat (wie bei der Bild- produktion des Monitoring und der Reportproduktion: E.K.): Das eine bewegt den Apparat zum automatischen Bildermachen, das andere erlaubt es dem Fotografen, zu spielen. Dahinter sehen noch weitere Programme – das der Fotoindustrie (das der Managementlehre an den Uni- versitäten, der Softwareindustrie, der Verbände und anderer Bildungseinrichtungen usw.; E.K.), das den Fotoapparat (die Managementtools und -techniken; E.K.) programmiert hat; das des sozio-ökonomischen Apparates, das den Industriepark programmiert hat; und so fort. Frei- lich, ein >letztes< Programm eines >letzten< Apparates kann es nicht geben, da jedes Pro- gramm ein Metaprogramm erfordert, von dem aus es programmiert wird. Die Programmhierar- chie ist nach oben offen.“ (Flusser 1999, S. 28) Und wenige Seiten weiter: „Die Kategorien des Apparates setzen sich auf die Kulturbedingungen auf und filtrieren sie. ... und die Freiheit des Fotografen bleibt eine programmierte Freiheit.“ (Flusser 1999, S. 33) „Filetieren sie“, wäre auch gut getroffen. Immerhin, aber auch: „Nicht wer den harten Gegenstand besitzt, verfügt über einen Wert, sondern wer sein weiches Programm kontrolliert. Das weiche Symbol, nicht der harte Gegenstand, ist wertvoll: Umwertung aller Werte.“ (Flusser 1999, S. 29). Dafür gibt es leider auch ein aktuelles Beispiel, die sog. Finanzkrise des Jahres 2009, wenn nicht 2009ff. Diese Krise, die aus dem Grundbestand kapitalistischen Spekulierens und Aus- beutens erwächst, wird einfach klein- und weggeredet als Krise des Bankensystems und der unermesslichen Gier nach Profit, die seine Vertreter auszeichnet. Gier mag es auch geben in diesen Kreisen (wie anderswo). Das aber ist nicht das Problem. Nachdem der Staat die Schul- den übernommen hat, machen die Banken und andere Kapitalsammelstellen weiter wie bisher. Dass Gier nicht wirklich zum Dauererfolg führt, wäre individuell lernbar und einsehbar. Aber was sollen Banken anders tun in diesem System. Unreguliert müssen sie den gierigen Gesetzen des Kapitals folgen; da spielt die persönliche Gier des entsprechend angereizten Managements keine systematische oder systemische Rolle mehr. Sie blitzt nur unter der Charaktermaske der 264 Ekkehard Kappler vom System vorgesehenen Profitmaximierung um jeden Preis hervor; mitunter entsteht der Eindruck, dass sie sogar fotografierbar ist. Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität Wer riskante Entscheidungen treffen muss, damit es weitergeht, obwohl niemand weiß, was genau zu tun ist, hätte gern Verfahren, einen Navigator, auf die man die „Schuld“ schieben kann, wenn man sich verfahren hat. So gilt es die Kontingenz zu ordnen (vgl. Esposito 2007). In der Statistik ist das der Versuch, die gegenwärtige Vergangenheit zu verdoppeln oder mit dem paradoxen „Instrument“ der Prognose oder Simulationsmodellen und ihren Bildern die zu- künftige Gegenwart einzufangen (vgl. Gigerenzer 2005; Kappler, Scheytt & Huber 2010). Bei Bildern wurde die Möglichkeit der Realitätsverdoppelung lange nicht bezweifelt, wenigstens die der Verdoppelung der Gegenwart. Wie wir aber wissen (können), gelingt diese Verdoppe- lung nicht. „Das sogenannte natürliche Bild ist ein höchst künstliches“, sagte mir einst ein Fotograf, der ein Bild von mir machen sollte und mich auf einem Drehhocker so verschraubte, dass ich nur noch einen Gedanken hatte: „Nur nicht herunter fallen.“ Das Bild sah später sehr natürlich aus. Ich schließe mich Owens (vgl. Owens 2003) an, der in diesem Zusammenhang Derrida zitiert: „Wenn die Andersheit des Anderen gesetzt (posée) ist, ja ausschließlich gesetzt ist, kommt sie dann nicht auf das Selbst zurück, zum Beispiel in Form des >konstituierenden Objekts< oder des >informierten Produkts<, das mit einem Sinn versehen ist? Von diesem Gesichtspunkt aus würde ich sogar sagen, dass die Andersheit des Anderen in das Verhältnis das einschreibt, was in keinem Fall >gesetzt< werden kann.“ (Derrida 1986, S. 182f.) Die gegenwärtigen Vergan- genheiten, die zukünftigen Vergangenheiten, die gegenwärtigen Zukünfte und die zukünftigen Gegenwarten lassen sich nicht setzen, durch keine Statistik, kein Bild, keine Wahrscheinlich- keitsrechnung. „Es kommt vor … dass jede Möglichkeit a priori ausgesprochen unwahrschein- lich ist“, formulierte etwas vorsichtig Keynes. Gerade heraus schreibt präziser Elena Esposito: „Die Realität ist unwahrscheinlich, und das ist das Problem.“ (Esposito 2007, S. 50) Die Wahr- scheinlichkeitsrechnung hatte von Anfang an „... auch eine normative Funktion, und in diesem Sinne hatte sie hier eine Lösung vorgegaukelt: Obwohl man die Zukunft nicht kennen kann, verspricht die Berechnung ihre Planbarkeit. Dies sollte ... garantieren, dass man in der Zukunft nichts würde bereuen müssen, und in der Gegenwart den Konsens mit anderen Akteuren er- möglichen.“ (Esposito 2007, S. 54). Bilder können solchen Konsens unterstützen, ihn aber auch bloßstellen (vgl. Hobbs 1999 2). 2 Es kommt hier, wo die Bilder von Mark Lombardi beispielhaft gezeigt werden, nicht auf ihren Inhalt bzw. ihre prä- zise Reproduktion an, sondern auf den Hinweis zu der mit ihnen vorgeschlagene Methode narrativer Strukturierung. Visuelle Kompetenz für Unternehmen 265 Abbildung 6: Mark Lombardi: George W. Bush, Harken Energy, and Jackson Stephens, ca. 1979–90 (5th version), (Hobbs 1999, Foto des Cover von E.K.) Organigramme können bestechend sein. Mark Lombardi (1951–2000) „... invented a new me- thod for creating a visual narrative, and his work can help us understand the clandestine world of corporate and business connections behind the scandals now eroding public confidence in financial and governmental institutions, and offers clues for untangling the complex economic underpinnings of current political developments.“ (Richards 2004, S. 7) Die politisch-gesell- schaftlich-ökonomischen Verflechtungen, die Mark Lombardi in künstlerisch und ästhetisch verführerische Organigramme verwandelte, blieben nicht ohne Folgen und waren beispiels- weise auch Gegenstand von F.B.I-Analysen der dargestellten Netzwerke und Narrative Struc- tures (vgl. Hobbs 2004, S. 11ff). Bilder können solchen Konsens unterstützen, ihn aber auch bloßstellen. Sind das dann viel- leicht doch nichts anderes als gezielte Retuschen? Nein. Eine Retusche würde „das Original“ voraussetzen. Das aber ist nicht vorhanden. Jedenfalls nicht eins zu eins. Bereits mit der Abbil- dung tritt ein neues Moment hinzu, das von der Abbildung nicht überholt werden kann, nicht- einmal eingeholt. Das gilt für Mark Lombardis Oeuvre, und das gilt auch für alle Wahrschein- lichkeitsrechnungen, Simulationen und andere Prognosespekulationen. Die Wahrscheinlich- keitsrechnung kennt nur eine geschaffene (posée) Grundgesamtheit, die Prognose nur die Para- doxie und keine empirische Überprüfungsmöglichkeit. 266 Ekkehard Kappler Abbildung: 7: Mark Lombardi: Meyer Lansky’s Financial Network, ca. 1960-78 (4th version) (Hobbs 1996) (Foto E.K.) Die Bilder und die Fotografie enthalten die Vielfalt des Posierens, Fotografierens und Betrach- tens als seine ebenfalls uneinholbare Historie, der visuelle Kompetenz mit ihren Möglichkeiten und Grenzen sich aussetzt und ausgesetzt ist. Ihr kann allenfalls annähernd im perspektiven- und konzeptreichen kritischen Diskurs begegnet werden. Die Praxis betriebswirtschaftlicher Steuerung und ihrer Folgen hängt in diesem Sinne von dem (un)aufgeklärten Umgang mit Be- richtswesen und Monitoring ab. „Die Praxis betriebswirtschaftlicher Steuerung und ihrer Fol- gen sowie die rein funktionalistische Behandlung dieses Problems in der Betriebswirtschafts- lehre (und weitgehend auch in den Wirtschaftswissenschaften insgesamt) lassen es geraten er- scheinen diese Konstrukte unserer ‚Wirklichkeit’ und unseren Umgang mit ihnen genauer zu thematisieren.“ (Kappler 2009) Da es diese Konstrukte gibt, wäre es müßig, ihre Abschaffung zu fordern. Die Intensivierung der narrativen Auseinandersetzung mit ihnen wäre schon ein Erfolg, der den affirmativen Gehalt der Mainstreamrezepte herrschender Wissenschaft und herrschender Bilanzkonstruktionen wie -konventionen zu beleuchten erlaubte. Visuelle Kompetenz heißt so gesehen zu erkennen, dass Reporting und Monitoring – und auch Organigramme – nicht objektiv abbilden. Reporting und Monitoring repräsentieren nicht. Re- porting und Monitoring signifizieren und wirken „zurück“. Auch die Arbeiten von Lombardi machen deutlich, was Georges Didi-Huberman uns bereits im Titel eines faszinierenden „bild- theoretischen“ Buches sagt: „Was wir sehen, blickt uns an“ (Didi-Huberman 1999; vgl. ferner: Boehm 2007; Mitchell 2008a; ders 2008b) – und blinzelt uns nicht selten zu. Visuelle Kompetenz für Unternehmen 267 Wäre es denkbar, dass die wenigen „Ausreißer“, die bei einer Marktforschungserhebung bei mehreren Tausend Konsumenten außerhalb des sechs-Sigma-Niveaus des Konfidenzintervalles liegen, den eigentlichen Informationsgehalt dieser Erhebung darstellen? (vgl. Pirker 2008). Wäre es denkbar, dass die beiden Patienten, die bei einer statistischen Überprüfung der Wirk- samkeit eines Medikaments aus der Berechnung genommen werden, weil sie völlig aus der Rolle fallen und, da sie „untypisch“ sind, schöne Korrelationen verhindern, die „Sachwalter“ ihrer Patientenkollegen sind, die ebenfalls ganz unwahrscheinlich und untypisch erkrankt sind und keinen Profit abwerfen? Stellen wir uns vor, es gäbe keine „Bilder, die lügen“ (vgl. Stif- tung Haus der Geschichte der Bundesrepublik 2003), keine Muster, die die Notwendigkeit von Designerprodukten und Fake-Waren suggerieren, keine Staubwolken und keine Camouflage – können wir dann für uns noch visuelle Kompetenz beanspruchen? Literatur Bockemühl, Michael (1985): Die Wirklichkeit des Bildes. Bildrezeption als Bildproduktion. Rothko, Newman, Rembrandt, Raphael. Stuttgart: Urachhaus. Bockemühl, Michael (1980): Rembrandt. Mittenwald: Mäander. Bockemühl, Michael (1991): Rembrandt – 1606–1669 – Das Rätsel der Erscheinung. 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Führung neu leben. 3. Aufl., Wiesbaden: Gabler. Vom Blick zum Klang – Was wissen die Noten über mein Klavierspiel? Michael Funk Zusammenfassung Zur „visuellen Kompetenz“ vertrete ich folgende These: Kompetenz ist Wissen und wird als sol- ches auch seit der griechischen Antike eigens thematisiert. Visuelle Kompetenz des Klavierspie- lers ist die Fähigkeit, Noten zu lesen und durch körperliche Bewegungen in Klänge zu verwan- deln. Wer das kann, der weiß etwas. Der Beitrag spannt so einen Bogen von Aristoteles über Ludwig Wittgenstein und Michael Polanyi zu Bernhard Irrgang, wobei drei philosophische Wis- sensbegriffe zur Erklärung visueller Kompetenz in der Musik erörtert und angewendet werden: Umgangswissen, perzeptives Wissen und propositionales Wissen. Visuelle Kompetenz lässt sich als eine Ausdrucksweise individueller Wahrnehmungs-Gewissheit (perzeptives Wissen) beschrei- ben, die sinnlich-körperliche Orientierung ermöglicht. Über Kunst und Wissen: ein Ausflug in die Antike Wie hängen visuelle und akustische Kompetenzen zusammen? Wie kann ein Notenbild in Klänge übersetzt werden? Wie viel Musik geben die Noten visuell vor? Was weiß der Klavier- spieler über das Klavier, seinen Körper und den Notentext? Weiß er mehr, als er auf den Noten sehen kann? Wie hängen Wahrnehmung und Wissen, Kunst und Können zusammen? Welche Rolle spielt visuelle Kompetenz in der Musik? Und was sagen die Philosophen dazu? Einen ersten Hinweis liefert uns Aristoteles (384–322 v. u. Z.). Denn bei ihm steht die Aus- einandersetzung mit sinnlicher Wahrnehmung, Wissen und Kunst an zentraler Stelle. Besonde- re Beachtung erfährt bei Aristoteles die Untersuchung visueller Wahrnehmung. So leitet er das erste Buch seiner bedeutenden, posthum unter dem Titel „Metaphysik“ erschienenen Schriften- sammlung mit folgenden Worten ein: „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen.“ (Aristoteles 1989, S. 3) Für Aristoteles steht die Liebe zur sinnlichen Wahrnehmung nicht nur in einer reinen Nutzen- relation. Vielmehr stellt die innige Verbundenheit zu den Sinnen ganz allgemein einen Selbst- zweck im menschlichen Leben dar. Hierbei handelt es sich aber nicht um eine naive Anwen- dung natürlich gegebener, körperlicher Ausstattungsmerkmale. Hinter der Liebe zur sinnlichen Wahrnehmung steht das natürliche und jeden Menschen einnehmende Streben nach Wissen. Eine herausragende Rolle spielt hierbei die visuelle Wahrnehmung: Vom Blick zum Klang – Was wissen die Noten über mein Klavierspiel? 271 „Nicht nämlich nur zum Zweck des Handelns, sondern auch, wenn wir nicht zu handeln beab- sichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allen anderen vor.“ (Ebd.) Warum? „Ursache davon ist, dass dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt.“ (Ebd.) Durch die Fähigkeit zur Differenzierung und der damit einhergehenden Erkenntnisfähigkeit zeichnet sich die visuelle Wahrnehmung nach Aristoteles besonders aus. Doch es ist nicht nur die Wahrnehmung der Augen, die er gegenüber den übrigen Sinnen hervorhebt. Ebenso scheint ihm die Bedeutung des Gehörs als herausragend: „Verständig ohne zu lernen sind alle diejenigen, welche keine Geräusche hören können; z.B. die Biene, und was etwa sonst für Lebewesen der Art sind; dagegen lernen aber all diejenigen, welche außer der Erinnerung auch diesen Sinn besit- zen.“ (Ebd., S. 3, 5) Das Hören ist Voraussetzung des Lernens, auch unabhängig von der Fähigkeit eines Lebewe- sens, sich erinnern zu können. Für den Menschen hingegen ist hierbei das Ineinander von Erin- nerung und Erfahrung typisch, das allererst die Grundlage für Kunst und Wissenschaft legt: „[...] das Geschlecht der Menschen dagegen lebt auch mit Kunst und Überlegun- gen. Aus der Erinnerung entsteht nämlich für die Menschen Erfahrung; […] und es scheint die Erfahrung der Wissenschaft und Kunst fast ähnlich zu sein. Wis- senschaft aber und Kunst gehen für die Menschen aus der Erfahrung hervor; denn 'Erfahrung brachte Kunst hervor', sagt Polos mit Recht, 'Unerfahrenheit aber Zufall'.“ (Ebd., S. 5) Aristoteles betont sowohl die visuelle, als auch die akustische Wahrnehmung. Beide Sinne er- scheinen ihm bei der Darlegung von Kunst und Wissenschaft als herausragend und besonders wichtig. Aber wie können wir dieses Ineinander von Kunst und Wissenschaft auf der Grund- lage von Erfahrung begreifen? Ist der Pianist als sehender und hörender Mensch in besonderem Maße Künstler und Wissenschaftler zugleich? Ist Kunst das, was uns als Kunstwerk sinnlich begegnet? Vielleicht würden wir dann auf der Suche nach Kunst in ein Museum gehen. Was sehen wir, wenn wir zum Beispiel in den „Alten Meistern“ in Dresden Rafaels „Sixtinische Madonna“ betrachten? Oder anders gefragt: Was sagt uns der Anblick eines konkreten Kunstwerkes über das Wesen der Kunst? Können wir erfahren, was Kunst ist, wenn wir statt der „Sixtinischen Madonna“ die Notenblätter zu Beet- hovens Mondscheinsonate anschauen würden? Oder müssten wir das Klavierwerk hören, um es allererst als Kunstwerk erfahren zu können? In jedem Fall wären dann Sehen und Hören zwei Weisen, Kunstwerke zu erfahren. Wie können uns aber visuelle und akustische Wahr- nehmung vermitteln, was Kunst ist? Meint das Wort „Kunst“ nicht mehr, als ein Kunstwerk selber ausdrücken kann? 272 Michael Funk Untersuchen wir das Wort „Kunst“ sprachgeschichtlich. Auf der Sprachstufe des Mittelhoch- deutschen (um ca. 1200 n. u. Z.) bedeutet „kunst“ so viel wie „das wissen, die kenntnis, weis- heit; kunstfertigkeit, geschicklichkeit“ (Lexer 1992, S. 118). Kunst wird hier in einer ursprüng- licheren Bedeutung nicht als Werk oder Gegenstand verstanden, sondern zuerst als eine Kom- petenz. Insofern kommt Kunst also tatsächlich, wie im Sprichwort, von Können. Aber nicht nur. Ohne die mittelhochdeutsche Bedeutung des Wortes an den altgriechischen Text von Aris- toteles herantragen zu wollen, lohnt sich nun aber eine weitere Untersuchung der Assoziati- onen zwischen Kunst, Wissen und vor allem Kunstfertigkeit, also Können bzw. Kompetenz. Denn im Altgriechischen findet sich der Begriff „techné“ assoziiert mit Kunstfertigkeit (Horn & Rapp 2002, S. 423). Und tatsächlich ist im Originalwortlaut der Metaphysik an der zitierten Stelle das Wort „techné“ (neuhochdeutsch: Kunst) überliefert (Aristoteles 1989, S. 4). Kommt somit die Frage nach dem Wesen der Kunst einer Frage nach dem Wesen von Technik gleich? So wenig, wie wir unter Kunst im ursprünglichen Sinn ein konkretes Kunstwerk verstehen können, so wenig können wir unter Technik ursprünglich einen konkreten technischen Gegen- stand (zum Beispiel Auto, Computer, Hammer oder Klavier) verstehen. Durch ein konkretes Kunstwerk können wir jedoch genauso gut begreifen was Kunst ist, wie wir durch einen tech- nischen Gegenstand begreifen können, was Technik ist. Ist also das Klavier als technischer Gegenstand nicht Technik, so bleibt zu fragen, was das Klavier dann mit Kunst zu tun hat? Wie kann Technik mehr sein, als der technische Gegenstand? Verstehen wir sowohl Kunst als auch Technik als Formen von Könnerschaft, so müssen wir die Frage nach den Künstlern bzw. Technikern stellen. Ist der Klavierspieler ein Techniker? Ja, denn die ursprüngliche Bedeutung von „techné“ bzw. Technik verweist auf Kompetenzen. Und zweifellos ist ein Klavierspieler sehr kompetent, denn er kann etwas, das viele nicht können. Wir sprechen dann im Alltag eben auch von der Technik des Klavierspielers und wir meinen damit nicht das Klavier, sondern die Fähigkeit des Künstlers, seine Finger filigran über das Instrument zu bewegen. So bezeichnet das Wort „techné“ in seinen antiken Ursprüngen auch eher ein „anwendungsbezogenes Expertenwissen oder eine praktische Fachkompetenz, wes- wegen der Ausdruck generell für künstlerische, handwerkliche, praktische, wissenschaftliche oder philosophische Disziplinen verwendet werden kann“ (Horn & Rapp 2002, S. 423). Die Worte „Kunst“ und „Technik“ treffen sich also in ihrer ursprünglichen Bedeutung zuerst im Wort „Kompetenz“ bzw. „Können“. So sind Techniker und Künstler fachkundige Experten und besitzen spezielle Fertigkeiten. Technische Gegenstände und Kunstwerke sind dann viel- mehr Mittel oder Resultat technischen oder künstlerischen Könnens. So können wir das Kla- vier als Mittel (Instrument) einer technisch-künstlerischen Handlung begreifen und die Beet- hovensonate als Resultat eines Könnens bzw. als Kunstwerk. Gleichzeitig könnten wir aber auch den Stift als Mittel sehen und das beschriebene Notenblatt als Kunstwerk. In jedem Fall erscheinen Pianist und Komponist dann als Techniker. Der Pianist beherrscht eine Technik im Umgang mit dem Klavier, ist fingerfertig und verfügt über einen individuellen Stil. Der Kom- ponist hingegen beherrscht zumindest eine Technik im Umgang mit Stift und Papier (wenn er wie Beethoven nicht auch Klavier spielt). Auf den zweiten Blick lässt sich hier der Begriff Technik aber noch weiter fassen. Denn das, was Klavierspielen oder Komponieren zur eigent- Vom Blick zum Klang – Was wissen die Noten über mein Klavierspiel? 273 lichen Kunst bzw. Expertenkompetenz macht, ist ja nicht das rein mechanische Drücken der Klaviertasten oder das Führen eines Stiftes. Es gibt etwa Interpretationstechniken für be- stimmte Stücke aus bestimmten Epochen, deren Perfektionierung zu hoch individuellen Stilen im Umgang mit dem Klavier führen kann. Ähnlich gibt es auch verschiedene Weisen, also Techniken des Komponierens. Zur Perfektion gebracht machen diese den Komponisten zum technischen Experten eines individuellen Stils, in dem Harmonien, Stimmführungen oder Rhythmen nach bestimmten Regeln entworfen werden. Was wissen solche Experten mehr, als Anfänger oder Laien? Was weiß ein Pianist mehr über Beethovensonaten, als er auf den Noten sehen kann? Diese Fragen scheinen entscheidend, zumindest wenn man verstehen will, wie es Menschen schaffen, nicht nur überhaupt von Noten auf Klänge schließen zu können, sondern weiterhin aus vorgegebenen Notentexten eigenständige Interpretationen auf dem Instrument zu entwickeln. Sowohl im Mittelhochdeutschen, als auch im Altgriechischen wird mit Kunst und Technik auch Wissen identifiziert. Kunst verweist auf Wissen, Kenntnis und Weisheit (Lexer 1992, S. 118), während techné ein anwendungsbezogenes Expertenwissen (Horn & Rapp 2002, S. 423) beschreibt. Können wir so begreifen, was Aristoteles mit dem Ineinander aus Kunst und Wissenschaft meint? Wenn wir an Wissenschaft denken, kommen uns vielleicht zuerst Naturgesetze oder Experimente in den Sinn. Aber wir könnten damit dem selben Vorurteil zum Opfer fallen, das uns verleitet, unter Kunst nur ein Kunstwerk im Museum zu begreifen. Denn im altgriechischen Originaltext findet sich der Begriff „epistémé“ (Aristoteles 1989, S. 4), der nicht Wissenschaft im Sinne von Experimentalmethode meint (wie sie ab der frühen Neuzeit im Abendland entwickelt wurde), sondern allgemeiner „Kenntnis, Wissen, Wissen- schaft […]; zu dem Verb epistasthai können, kennen, verstehen, wissen“ (Horn & Rapp 2002, S. 146). In diesem ursprünglichen Sinn ist dann ein Wissenschaftler jemand, der sich in etwas auskennt, etwas kann und versteht. Wird diese Verbindung zwischen Können und Wissen auf die heute so stark getrennten Bereiche der (bildenden) Künste und (Natur-)Wissenschaften angewendet, dann offenbaren sich elementare Gemeinsamkeiten. Visuelle Kompetenz scheint dann sowohl für bildende Künstler, wie auch für Naturwissenschaftler ein wesentlicher Aspekt ihres Expertenwissens zu sein. Denn beide erschaffen visuelle Welten. Beim bildenden Künst- ler liegt das auf der Hand. Aber auch der Astrophysiker erschafft Bildwelten. Etwa indem er mit dem Hubbleteleskop Himmelsphänomene sichtbar macht. Sinnlich nicht wahrnehmbare Weltraumstrahlung wird in sichtbare Computerbilder übersetzt. Aber was sagen uns diese künstlichen Bildwelten über die reale Welt um uns herum? Und wer legt fest, was ein buntes Computerbild über den schwarzen Himmel erzählt? Visuelle Kompetenz ist hier die Fertigkeit, diese Bilder angemessen zu interpretieren. So wie sich also ein Maler oder Kunsthistoriker auf das Interpretieren von Farbspielen, Metaphern und Allegorien vor dem Hintergrund bestimmter Epochen oder Malstile versteht, ist der Astrophysiker ein Meister der Auswertung und Inter- pretation von Hubblebildern vor dem Hintergrund einer bestimmten naturwissenschaftlichen Theorie (vgl. zur Hermeneutik in den Naturwissenschaften Ihde 1998). Das trifft nun auch auf den Pianisten zu. Denn er versteht sich auf die zeitgenössisch angemes- sene, fehlerfreie und mitreißende Interpretation von Klavierwerken. So wie ein bildender 274 Michael Funk Künstler, Kunsthistoriker oder Astrophysiker ist auch der Klavierspieler hierbei ein Meister im Auslegen von (Noten)Bildern vor dem Hintergrund einer bestimmten harmonischen oder stil- prägenden Theorie. Visuelle Kompetenz ist also ein Aspekt des Expertenwissens eines Pianis- ten. In diesem Sinne sind sowohl „Kunst“ als auch „Wissenschaft“ gleichermaßen ähnliche Weisen des interpretierenden Umgangs mit visuellen Welten. „Kunst“, „Technik“ und „Wis- senschaft“ treffen sich im Anwenden-Können und Verstehen-von, sind also zuerst Formen von Kompetenz bzw. praktischem Expertenwissen. Ein Zusammenhang, den Ludwig Wittgenstein im 20. Jahrhundert so dargestellt hat: „Die Grammatik des Wortes >wissen< ist offenbar eng verwandt der Grammatik der Worte >können<, >imstande sein<. Aber auch eng verwandt der des Wortes >verstehen<. (Eine Technik >beherrschen<.)“ (Wittgenstein 2006, S. 315) Doch wie können wir nun visuelle Kompetenzen in der Musik hinsichtlich der Formen von zu- grunde liegendem Wissen klassifizieren? Was weiß der Klavierspieler mehr, als ihm der No- tentext zeigt? Von der visuellen Kompetenz zum leiblichen Klang: Hermeneutik in der Musik Für Aristoteles ist die Frage nach der visuellen Wahrnehmung eng mit der Frage nach akusti- scher Wahrnehmung, sowie den Fragen nach Kunst (techné) und Wissen (epistémé) verbun- den. Betrachten wir nun genauer, wie visuelle Kompetenzen und akustische Kompetenzen zu- sammenhängen. Hierzu möchte ich das Klavierspielen nach Noten näher beleuchten und so den Zusammenhang zwischen Kunst, Technik und Wissen am praktischen Beispiel erörtern. Untersuchen wir den Begriff „Wissen“. Wir haben bereits festgestellt, dass Kunst bzw. techné ein „anwendungsbezogenes Expertenwissen oder eine praktische Fachkompetenz“ (Horn & Rapp 2002, S. 423) bezeichnet. Nehmen wir an, ein Pianist ist fachlich kompetent. Wir würden dann von ihm erwarten, dass er sich an das Instrument setzt und fehlerfrei mitreißende Musik vorträgt. Insofern ist seine Fachkompetenz dann auch eine praktische, denn der Pianist tut ja etwas mit dem Instrument. Ein wesentliches Merkmal dieser Fachkompetenz besteht nun in der Fähigkeit, visuelle Codes (Noten) in Bewegungen der Hände zu übersetzen. Visuelle Daten werden in körperliche Bewegungen transformiert, wobei diese Bewegungen immer in Rück- koppelung mit dem Musikinstrument stattfinden. So ist dann auch die Bewegung der Finger nicht willkürlich, sondern abhängig von der materiellen Oberflächenstruktur der Klaviatur. Wird unter „Leib“ technikphilosophisch der menschliche Körper und dessen Erweiterung und Transformation durch technische Gegenstände und Praxen begriffen, so können wir Klavier- spielen als das Erzeugen von „leiblichen Klängen“ verstehen. Hierbei werden die Noten und das Instrument gleicher Maßen im wahrsten Sinne des Wortes vom Pianisten sinnlich einver- leibt. Die Wahrnehmung der Augen verschmilzt mit den visuellen Schemen und Codes des Notentextes, das Gehör erfährt den Klang, Hände und Finger ertasten, begreifen und interagie- Vom Blick zum Klang – Was wissen die Noten über mein Klavierspiel? 275 ren mit der Klaviatur, die Füße verschmelzen mit den Pedalen und die ganze Körpersprache, Mimik und Gestik verbinden sich mit den Noten und dem Klavier zu einer leiblichen Gesamt- heit. Geht der Klang nun allererst aus dieser Gesamtheit aus Körper, Noten und Klavier hervor, und verstehen wir unter Klavier einen technischen Gegenstand, dann können wir von einem „leiblichen Klang“ sprechen. Denn weder Noten, noch Klavier, noch Körper alleine vermögen auch nur einen einzigen Ton zu erzeugen. Betrachten wir die leibliche Interaktion zwischen Mensch und Instrument als Ausdruck einer Fachkompetenz bzw. Könnerschaft, so scheint der Pianist über ein komplexes Körperwissen zu verfügen. Wer Klavier spielt, ist Experte im Umgang mit seinem Körper. Aber nicht nur. Denn das Körperwissen, das wir für das Spielen eines Klaviers benötigen, ist nicht nur ein Wissen über die Bewegungen des Körpers im leeren Raum, sondern vielmehr noch ein Wissen über den körperlichen Umgang mit einem Klavier. Verstehen wir also unter Leib die Einheit aus Körper und Instrument, so ist das Körperwissen des Pianisten immer ein leibliches Wissen. In zweierlei Hinsicht erweist sich dieses leibliche Wissen nun als technisches Expertenwissen. Zum einen weiß der Pianist, wie er seine Hände über die Klaviatur zu bewegen hat, etwa um bestimmte Rhythmen und Tonfolgen zu realisieren. Im Beherrschen dieser Techniken des Klavierspiels zeigt sich ein Wissen des Pianisten über seinen Körper. Zum anderen weiß der Pianist etwas über den technischen Gegenstand, also das Klavier. Er weiß praktisch-sinnlich, wie schwer oder leicht sich die Tasten bewegen lassen, welche Anschlagsweise welchen Klang erzeugt oder welche Fingertechnik in welcher Situation der geometrischen Ordnung der Klavi- atur am besten gerecht wird. Hierin zeigt sich ein Wissen des Pianisten über die Struktur des Klaviers. Diese Einheit aus Körperwissen und Wissen über die Struktur und Rückkopplungs- weisen des technischen Gegenstandes (Klavier) kennzeichnet leibliches Wissen. Ohne dieses Wissen wäre ein Pianist (so wie jeder andere Instrumentalist auch) nicht in der Lage leibliche Klänge zu erzeugen. Aber was wissen die Noten über das Klavierspiel? Begreifen wir Klaviernoten als eine kultu- rell geprägte Zeichenfolge, so wie wir etwa auch einen Auszug aus dem Alten Testament als eine kulturell geprägte Zeichenfolge begreifen können, so offenbart sich das Lesen von Noten als hermeneutischer Vorgang. Hermeneutik meint hierbei zunächst die Kunst des Interpretie- rens und Verstehens von Texten, sowie Reflexionen der damit zusammenhängenden Metho- den. Betrachten wir einen Auszug aus dem Alten Testament. In der Lutherbibel steht im ersten Buch Mose Folgendes: „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“ (Die Bibel, S. 3) Will man also diesen Text vortragen, so muss man in der Lage sein, visuell die Zeichenfolgen zu erkennen und dann körperlich in die entsprechenden Laute umzuwandeln. Insofern ist lautes Lesen ein Vorgang, bei dem visuelle Codes in körperliche Klänge umgewandelt werden. Ein Redner würde nun erkennen, dass hinter dem ersten „Licht“ ein „!“ steht und so die Wendung „Es werde Licht!“ stärker betonen. Hierbei finden Interpretationsleistungen beim Übergang 276 Michael Funk vom Blick zum körperlichen Klang statt. Alles, was der Redner dafür braucht, ist die Wahr- nehmung der Augen und die Feinmotorik des Lautapparates, also kein Instrument. Ganz ähn- lich funktioniert nun auch die Übersetzung eines Notentextes in Klaviertöne. Der Pianist schaut kurz auf die Noten und übersetzt die Linien und Punkte auf dem Papier zielsicher in körperli- che Bewegungen auf der Klaviatur. Nur eben mit dem Unterschied, dass der Pianist hierfür Körper und Instrument einsetzt (also einen leiblichen Klang erzeugt), wohingegen der Redner zuerst nur seinen Körper gebraucht (also einen körperlichen Klang produziert). Ähnlich wie ein Redner das „Es werde Licht!“ wegen dem „!“ stärker betonen würde, so folgt der Klavierspieler im Notentext Angaben zur Dynamik und Artikulation, wobei die jeweiligen Ausführungen auf dem Klavier im Detail nie ganz identisch und „perfekt“ sein können. So wie es keine perfekte Weise gibt, das erste Buch Mose vorzulesen, so gibt es auch keine hundert- prozentig richtige oder perfekte Weise, eine Beethovensonate klanglich zu interpretieren. Ab- hängig von Tagesform, Publikum oder Experimentierfreude können einzelne Interpretationen desselben Bibel- oder Beethoventextes stark voneinander variieren, auch wenn der gleiche Mensch vorträgt. Mal wird das „!“ stärker beachtet, mal wird leiser gesprochen oder die Beethovensonate schneller oder pathetischer vorgetragen. Beim Klavierspielen nach Noten werden visuelle Codes in akustische Signale umgewandelt. Dabei interpretiert jeder Pianist bestimmte Angaben zur Dynamik oder Artikulation anders oder entwirft gleich eine eigene ästhetische Ausdrucksform eines Stückes. So wie bei einem vorgelesenen Text die Semantik der Worte auch bei unterschiedlichen Betonungen im Vortrag gleich bleibt, bleiben bei eigen- ständigen Interpretationen von Klavierwerken die Tonhöhen und Taktaufteilungen im Noten- text natürlich dieselben. Nur das klangliche Resultat variiert. Nennen wir dies die praktisch- sinnliche Interpretation (Hermeneutik) der Darstellung. Es handelt sich hierbei um die Kom- petenz etwas körperlich zu entschlüsseln. Nun könnte eingewendet werden, dass Hermeneutik im ursprünglichen Sinne ja gar nicht die Kunst der körperlichen bzw. leiblichen Interpretation (praktisch-sinnliche Hermeneutik) von visuellen Zeichenfolgen ist, sondern die angemessene inhaltliche Auslegung bzw. die Freile- gung der korrekten Bedeutung eines Textes. Für die zitierte Bibelstelle müsste demnach etwa das Wort „Licht“ auf seinen Sinn hin befragt werden. Handelt es sich hierbei um eine Alle- gorie? Warum ist das Licht gut? Steht es im Gegensatz zur Finsternis, die das Böse verkörpert? Unterscheidet sich hierin eine klassische Texthermeneutik nicht von der Interpretation eines Klavierstückes? Sind Klavierwerke in Allegorien oder Metaphern notiert? Anders gefragt: ist die Semantik von Klaviernoten eindeutiger als die Semantik eines normalen Buchtextes? Vergleichen wir hierzu den Notenurtext des ersten Satzes von Beethovens Mondscheinsonate mit dem zitierten Auszug aus der Bibel. Das Wort „Licht“ kann etwa „gut“ bedeuten, aber auch „Tag“ oder „Erwachen“. Das sagt uns aber nicht das Wort „Licht“ allein. Um die genaue Be- deutung zu begreifen, müssen wir auf Vorwissen und Kontexte zurückgreifen, die sich jenseits der Zeichenfolge „L“ „i“ „c“ „h“ „t“ bewegen, also etwa auf die Erklärung eines studierten Theologen oder den weiteren Wortlaut im Text. Was bedeuten nun vergleichsweise die vier Kreuze am Anfang jeder Zeile der Beethovensonate? Gemäß dem Quintenzirkel würde man beim ersten Hinschauen vermuten, dass das Klavierwerk in E-Dur notiert ist. Beim Anspielen Vom Blick zum Klang – Was wissen die Noten über mein Klavierspiel? 277 fällt jedoch auf, dass schon im ersten Takt die linke Hand eine tiefe Oktave aus zwei cis greift und klingen lässt. Die rechte Hand legt eine Sequenz aus vier mal drei Tönen (gis – cis – e) darüber (Beethoven 1975/76, S. 249). Alle genannten Töne kommen ganz normal in der Ton- leiter von E-Dur vor. Jedoch verweisen sie in ihrer Anordnung auf einen Cis-Moll-Dreiklang. Nach einem weiteren Blick in den Quintenzirkel fällt dann auch auf, dass Cis-Moll die paral- lele Molltonart zu E-Dur ist. Obwohl sich also vier Kreuze am Anfang jeder Notenzeile be- finden, steht der erste Satz der Mondscheinsonate in Cis-Moll und nicht in E-Dur. Das sagen uns aber nicht die vier Kreuze, also die Semantik bzw. der „Wortlaut“ des Notentextes, son- dern der Kontext, in dem die vier Kreuze stehen. Ähnlich wie uns in der Bibel auch das Wort „Licht“ alleine noch nicht eindeutig sagt, wie es inhaltlich zu verstehen ist. Ein weiteres Beispiel aus der Musik ist die aufführungspraktische Umsetzung eines Domi- nantsept-Akkordes in einem 2-5-1 Turnaround im modernen Jazz. Durch das Leadsheet (No- tentext) ist der harmonische Rahmen semantisch klar vorgegeben. Jedoch verraten die einzel- nen Akkordsymbole in einer modernen Jazznotation meistens nicht, mit welchen Optionstönen der jeweilige Akkord dann praktisch zu spielen ist. So steht als fünfte Stufe einer 2-5-1 Ver- bindung in C-Dur ein G7, wodurch die Töne g, h und f (Grundton, Terz, Septime) vorgegeben sind (die reine Quinte sei hier einmal vernachlässigt). Die normalen Optionstöne wären a (Sekunde) und e (Sechste). Praktisch wird der Akkord dann auf Grund seines harmonischen Kontextes, also der Mittelstellung zwischen D-Moll und C-Dur, oft mit den Tönen as (kleine Sekunde), b (als große Sekunde umgedeutete Mollterz), des (kleine Quinte) und es (als große Quinte umgedeutete Sechste) erweitert. Dass ich als Klavierspieler diese Töne an der Stelle durchaus spielen darf oder sogar sollte, sagt mir nicht die Semantik „G7“, sondern erstens der harmonische Kontext und zweitens mein Vorwissen über die Möglichkeit, einen Dominant- septakkord in einer 2-5-1 Verbindung mit dem siebenten Modus aus der harmonischen Moll- tonleiter alterieren zu können (Levine 1996, S. 65–67). Genauso könnte mir mein Vorwissen über den Gebrauch von Lichtmetaphern oder Allegorien erklären, was das Wort „Licht“ in der Bibel inhaltlich aussagt. Hier befinden wir uns dann auf der Ebene theoretisch-semantischer Hermeneutik. Es geht also im Gegensatz zur körperlichen um die Kompetenz der intelligiblen bzw. mit dem Verstand durchgeführten Entschlüsselung. Beobachten wir nun noch einmal mit Hilfe eines letzten Beispiels das Ineinander aus theore- tisch-semantischer und praktisch-sinnlicher Hermeneutik beim Klavierspiel. Hierzu dient uns „Reverie“, ein Klavierwerk von Claude Debussy. Im 51. Takt finden sich hier nämlich drei formal nicht eindeutige und widersprechende Anweisungen zur Artikulation (Debussy 2003, S. 50). Zuerst fallen unter den vier Viertelnotenlängen (Angabe Eins) Staccato-Punkte (Angabe Zwei) auf. Diese verweisen auf eine bestimmte Anschlagsart der Tasten, deren tonale Artiku- lation kürzer ist als der eigentliche Notenwert. Hierdurch wird aber nicht klar bestimmt, um wie viel die Artikulation zu verkürzen ist, was dann allein dem Zeitgefühl des Pianisten über- lassen wird. Das alleine ist noch nichts Besonderes, sondern kommt in musikalischen Visuali- sierungen öfters vor. Es zeigt aber, dass Zeichen bestimmte Artikulationen andeuten, diese aber nicht eindeutig festlegen können. An der genannten Stelle in Debussys Werk findet sich jedoch noch eine dritte Anweisung. Über den Staccato-Akkorden ist ein Bindebogen (Angabe Drei) gezogen, der auf eine Legato-Artikulation verweist. Demnach müssten die Akkorde eigentlich 278 Michael Funk nahtlos ineinander über klingen, was dem Ton einer Staccato-Artikulation elementar wider- spricht. Ein Pianist wird im 51. Takt von Debussys „Reverie“ also mit drei, sich formal wider- sprechenden Angaben zur Artikulation konfrontiert. Zuerst stehen die Akkorde jeweils als Viertelnote, was eindeutig und semantisch korrekt in den Viervierteltakt passt. Nun zeigen aber die Staccatopunkte an, dass die Viertel abgehackt verkürzt werden sollen, also nicht ineinander über klingen. Drittens signalisiert der Bindebogen darüber, dass die Akkorde eigentlich doch nahtlos miteinander zu verknüpfen sind. Wie ist das zu verstehen? Welchen Klang hat der Komponist dadurch visuell codiert? Vielleicht ist es Debussys Absicht, die Akkorde klar von- einander zu trennen, jedoch ohne den Klangteppich abreißen zu lassen. Eine leibliche Überset- zung könnte nun so aussehen, dass der Pianist mit den Händen Staccato artikuliert und dabei aber mit dem Fuß das Legatopedal durchgedrückt hält. So würde der Klangteppich nicht ein- brechen, die einzelnen Akkorde jedoch als Akzente klarer voneinander geschieden hörbar bleiben. Dies wäre dann eine mögliche leibliche Übersetzung dieses in sich formal wider- sprüchlichen visuellen Codes. Das entscheidende Resultat, der Klang, ist nicht von der Art und Weise zu trennen, wie der Klavierspieler mit den Noten leiblich umgeht. Hierbei ist nicht nur die visuelle Wahrnehmung der Noten und deren Auslegung in Hinsicht auf Klang und Körperbewegungen (praktisch-sinn- liche Hermeneutik) von entscheidender Bedeutung, sondern auch die Fähigkeit zur angemesse- nen formalen Interpretation (theoretisch-semantische Hermeneutik). Jeder dieser beiden Ebenen der Interpretation von notierter Klaviermusik kann nun eine Form von Wissen zugeordnet werden. Wir haben bereits festgestellt, dass ein Pianist über leibliches Wissen verfügt. Wer etwas über seinen Körper, sowie die Struktur und Rückkopplungsweisen eines technischen Gegenstandes weiß, ist im Stande, praktisch-sinnlich zu interpretieren. Prak- tisch-sinnliche Hermeneutik und leibliches Wissen gehen also beim Klavierspielen Hand in Hand. Je mehr ich über meinen Körper und den Umgang mit dem Klavier weiß, desto besser kann ich auch schwere Klavierwerke interpretieren. Welche Wissensform ist nun aber theore- tisch-semantischer Hermeneutik zuzuordnen? Betrachten wir hierzu noch einmal die altgriechische Bedeutung von Wissen bzw. epistémé. Denn der „Begriff e. kann ganz unterschiedliche Arten von Wissen oder Kompetenz ausdrü- cken [...]. Somit kann e. sowohl ein ‚Bekanntsein mit... ’, ein nicht thematisierbares Ge- brauchs- und Handlungswissen (Wissen wie...), als auch eine Kenntnis von Sachverhalten (Wissen dass...) meinen“ (Horn & Rapp 2002, S. 147). Leibliches Wissen und praktisch-sinn- liche Hermeneutik sind Weisen eines nicht thematisierbaren Gebrauchs- und Handlungswis- sens. In diesem Sinne ist hiermit eine Facette von epistémé (Wissen wie...) umschrieben. Wer praktisch-sinnlich weiß, wie mit Körper und Klavier umzugehen ist, der weiß, wie ein bestimmter leiblicher Klang erzeugt wird. Theoretisch-semantischer Hermeneutik kann hingegen die zweite Facette von epistémé (Wissen dass...) zugeordnet werden. Wer die vier Kreuze im ersten Satz von Beethovens Mondscheinsonate sieht und diese richtig deutet, der weiß, dass Beethoven das Werk in Cis-Moll komponiert hat, und nicht in E-Dur. In philosophischen Fachtermini könnte dieser Sachverhalt so formuliert werden: Subjekt S weiß, Vom Blick zum Klang – Was wissen die Noten über mein Klavierspiel? 279 dass p (das epistemische Subjekt weiß einen propositionalen Gehalt). Insofern bietet sich hier die Form des propositionalen Wissens an. Ist das leibliche Wissen über den Körper sowie die Struktur und die Rückkopplungsweisen des Klaviers untrennbar mit dem Pianisten verbunden, so ist das propositionale Wissen der Seman- tik eines Klavierwerkes untrennbar mit dem Notentext verbunden. Wenn also ein herausragen- der Pianist, der einen eigenständigen Stil entwickelt hat, stirbt, dann verschwindet auch sein leibliches Wissen, das ihm allererst seine herausragenden Interpretationen von Klaviernoten ermöglicht hat. Das, was sein Körper weiß, weiß ein Klavierspieler immer mehr über sich, das Instrument und ein Klavierwerk, als ihm die Noten visuell vorgeben können. Dieses Wissen ist dann auch nur sehr schwer zu vervielfältigen. Ohne einen Notentext mit einem epistemischen Subjekt (also einem wissenden Menschen) gleichsetzen zu wollen, so ist doch ein Wissen über die semantischen Zeichenfolgen eines Klavierwerkes nicht ohne die propositionalen Gehalte möglich, die als visuelle Codes durch Notentexte überliefert werden. Etwas einfach gesprochen: das wissen die Noten über das Kla- vierwerk. Körperwissen herausragender Pianisten verschwindet mit dem Tod und kann nur durch Schüler im Sinne einer handwerklichen Kultur tradiert werden. Die propositionalen Gehalte der Notentexte hingegen tradieren visuell zugängliche Klänge durch semantische Codes, die sich beliebig oft vervielfältigen lassen. Diese Codes dann wieder körperlich-sinnlich zu entschlüsseln, ist visuelle Kompetenz. Zuletzt sei nun auf diesen Überlegungen aufbauend eine zusammenfassende Klassifikation von philosophischen Wissensformen und -begriffen versucht, die sich auf die leibliche Praxis des Klavierspielens nach Noten anwenden lassen. Wissensformen in der Musik Spricht also Aristoteles von einem Ineinander aus Kunst und WISSENschaft (techné und epistémé), so können wir für die Kunst des Klavierspielens zuerst folgende Formen von Exper- tenwissen unterscheiden und je einer Interpretationsweise zuordnen: leibliches Wissen propositionales Wissen epistémé im Sinne von Wissen wie Wissen dass tradiert durch Handwerkskultur (Schüler erlernen kulturell tradierte Zeichen- Körperwissen des Meisters) folgen (Notentexte) Interpretationsweise praktisch-sinnlich theoretisch-semantisch (Hermeneutik) 280 Michael Funk Mit Blick auf die moderne Wissenschaftstheorie bietet sich nun weiterhin eine Unterscheidung in implizites und explizites Wissen an. Der Unterschied zwischen implizitem und explizitem Wissen wird durch die Formalisierbarkeit und Sagbarkeit des jeweiligen Wissens bestimmt. Explizites Wissen kann klar formalisiert und ausgesprochen werden. Ich kann also sagen: „Ich weiß, dass der erste Satz von Beethovens Mondscheinsonate in Cis-Moll komponiert und auf diesen Noten hier durch die vier Kreuze visuell codiert ist.“ Implizites Wissen kann hingegen nicht ausgesprochen werden: Ich weiß also, wie ich den ersten Satz von Beethovens Mond- scheinsonate vorzutragen habe, wenn ich mich an das Klavier setze und einfach los spiele. Wenn ich das kann, dann weiß ich mehr, als ich auf den Noten sehen kann. Ich erkenne im Klavier und meinem Körper mehr, als mir die Noten zeigen, oder wie Michael Polanyi es aus- gedrückt hat: „Ich werde das menschliche Erkennen ausgehend von der Tatsache betrachten, daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen.“ (Polanyi 1985, S. 14) Leibliches Wissen ist demnach implizit, propositionales Wissen hingegen explizit. Ich bin der Meinung, dass auch Ludwig Wittgenstein implizites Wissen thematisiert hat (Funk 2010, S. 75, 79). Denn auch Wittgenstein vertritt die Auffassung, dass man etwas wissen kann, ohne es sa- gen zu können: „Vergleiche: wissen und sagen: [1] wie viele m hoch der Mont-Blanc ist – [2] wie das Wort >Spiel< gebraucht wird – [3] wie eine Klarinette klingt. Wer sich wundert, dass man etwas wissen könne, und nicht sagen, denkt viel- leicht an einen Fall wie den ersten. Gewiß nicht an einen wie den dritten.“ (Wittgenstein 2006, S. 284; Die Nummern in eckigen Klammern stammen von mir, M. Funk.) In Anlehnung an diese Stelle habe ich eine Klassifikation entwickelt, die nun als Grundlage für die weiteren Überlegungen dienen soll (Funk 2010, S. 80): Formulierung Welche Wissens- Handelt es sich hier- Lässt sich dieses Wissen sa- Wittgensteins form bezeichnet bei um explizites gen? in PU 78.: das jeweilige oder implizites Wis- Beispiel? sen? 1 „wieviele m propositionales explizit (Zahl kann Ja, semantisch eindeutig. hoch der Mont- Wissen angegeben werden) Blanc ist“ Vom Blick zum Klang – Was wissen die Noten über mein Klavierspiel? 281 2 „wie das Wort Umgangswissen implizit (im Sinne Nein, es offenbart sich durch >Spiel< ge- des Beherrschens gelingenden Gebrauch. braucht wird“ einer Könnerschaft bzw. Kompetenz) 3 „wie eine Kla- perzeptives Wis- implizit (im Sinne Nein, es setzt konkrete sinn- rinette klingt“ sen von Gewissheit über lich-körperliche Erfahrung sinnliche Wahrneh- voraus und bleibt immer an mung) diese gebunden. In Form [1] finden wir das bereits dargelegte propositionale Wissen, so wie es durch Noten- texte visuell codiert wird. Von besonderer Bedeutung sind die Formen [2] und [3], denn sie er- möglichen uns eine weitere Gliederung des leiblichen Wissens. Hierzu ist die Form 2 zuerst zu modifizieren. Denn die Bestimmung des Gebrauchs eines Wortes skizziert ein nicht-instrumen- telles Umgangswissen. Dies ließe sich anwenden auf den Redner, der mit lauter Stimme aus der Bibel zitiert. Wie bereits erörtert, ist das leibliche Wissen eines Klavierspielers jedoch nicht ohne das Instrument, also das Klavier, zu bestimmen. In diesem Sinne kann nun der Definition von instrumentellem Umgangswissen bei Bernhard Irrgang gefolgt werden: „Das Konzept eines impliziten Umgangswissens aufgrund eines Verstehenspro- zesses der Verwendungsmöglichkeiten natürlicher Prozesse oder von Werkzeu- gen wird Ausgangspunkt für ein Philosophieren über Technik […]. Dieses impli- zite Umgangswissen sollte dabei im Sinne eines ineinander verwobenen Wissens und Könnens rekonstruiert werden, bestimmt von der Sachstruktur, mit der um- gegangen wird, und der Habitualität des Umgehenden.“ (Irrgang 2009, S. 64) Mit der Sachstruktur bei Irrgang können wir die im vorherigen Kapitel erörterte Struktur und Rückkopplungsweisen des technischen Gegenstandes (Klavier) identifizieren. Der Habitualität des Umgehenden entspricht der Körper des Klavierspielers als „Träger“ des impliziten Wis- sens. Insofern finden wir hier beide Aspekte leiblichen Wissens in der Musik wieder. „In Beispiel [3] unterscheidet Wittgenstein hiervon weiterhin eine Art Wahr- nehmungswissen. Wir können dies ‚perzeptives Wissen‘ nennen. Hiermit wird die Gewissheit bezeichnet, aus der heraus wir zielsicher einen sinnlichen Reiz durch Erfahrungen einer konkreten Quelle, also in Wittgensteins Beispiel der Klarinette, zuordnen können.“ (Funk 2010, S. 79) Die für die Darlegung des unsagbaren Wissens zentrale Form [3] stellt nun neben dem Um- gangswissen eine zweite Facette leiblichen Wissens dar. Diese habe ich als eine Gewissheit identifiziert, die die Zuordnung von sinnlichen Reizen zu konkreten Quellen ermöglicht. An dieser Stelle möchte ich die Bestimmung von perzeptivem Wissen als eine Facette von impli- zitem leiblichen Wissen noch etwas weiter erörtern und als Grundlage für die Erklärung von visueller Kompetenz nutzen. Für Wittgenstein geht es nämlich um den Klang eines Instrumen- 282 Michael Funk tes. Diese erste Form sinnlicher Gewissheit finden wir auch beim Klavierspielen in vielfältigen Weisen. Ich kann also nicht sprachlich bestimmen, was ein Klavierton ist. Als unhintergehbare Voraussetzung muss ich immer auf die Erfahrung des Anderen zugreifen. Hat also mein Ge- genüber ein Klavier schon mal gehört und weiß also, worüber ich spreche, wenn ich den Klang eines hochwertigen Flügels lobe, dann hat er die persönliche Gewissheit, nicht nur einen Kla- vierton dem entsprechenden Instrument zuordnen zu können, sondern kann im Extremfall auch konkrete Klaviermodelle und Spielstile von Pianisten alleine durch das Gehör bestimmen. Ein Mensch, der das kann, ist akustisch kompetent. Insofern ist diese Form des Wissens nicht propositional und kann auch nicht losgelöst vom menschlichen Körper bestimmt werden. Perzeptives Wissen bzw. sinnliche Gewissheit ist immer subjektiver als propositionales Wis- sen. Komme ich nun aber über die grandiosen Chopin-Interpretationen von Arthur Rubinstein ins Schwärmen und mein Gegenüber weiß vielleicht wie ein Klavier klingt, hat jedoch Rubinsteins Chopin-Interpretationen noch nie selber gehört, so wird er auch nicht wissen, wie unverwech- selbar herrlich eine Chopin-Etude, vorgetragen von eben diesem einen Pianisten, klingt. Die Gewissheit meiner körperlich-sinnlichen Erfahrung ermöglicht zwar das lobende Urteil über Rubinstein, kann selber aber nicht durch dieses Urteil expliziert werden. Wer die Chopin-In- terpretationen von Rubinstein nicht gehört hat, wird über deren Klang in Ungewissheit bleiben. Diese Ungewissheit kann nur durch den erfahrenen Ton in perzeptives Wissen umgewandelt werden, jedoch nicht durch noch so ausgefeilte Worte. Sinnliche Gewissheit ist ein hoch indi- viduelles Wissen, das gleich einer Wahrnehmungskompetenz sinnliche Orientierung ermög- licht. Das gilt für akustische Kompetenz wie auch für visuelle Kompetenz. So hören wir auch im Straßenverkehr eine Hupe und ordnen diese ohne darüber nachzudenken einem Auto zu, das hinter uns fährt. Wir hören unseren Namen und drehen uns aus der Gewiss- heit, dass es die Stimme eines Freundes ist, instinktiv um. Perzeptives Wissen bzw. sinnliche Gewissheit betrifft aber nicht nur den Klang. Mindestens ähnlich intuitiv sind uns haptische und visuelle Gewissheiten. Ich kann nicht sinnvoll aussprechen, wie sich ein anderer Mensch oder eine Klaviatur anfühlen, wenn ich beides noch nicht ertastet habe. Die visuellen Struktu- ren auf dem einen Blatt Papier identifiziere ich nach einem kurzen Blick als musikalische No- ten, die anderen weise ich als einen wissenschaftlichen Aufsatz oder einen Roman aus. Beim Klavierspielen geht es im Kern um das Einüben und Erfahren vielfältiger perzeptiver Wissens- und Gewissheitsstrukturen. Am besten spiele ich vom Blatt, wenn ich die visuellen Codes, die Klänge, die Klaviatur und meinen Körper eigens nicht mehr thematisieren muss. Hierfür benötige ich antrainierte, vorsprachliche Kompetenzen. Diese ermöglichen es mir al- lererst den Anblick der Noten mit einem bestimmten haptischen Reiz auf der Klaviatur und einem konkreten Klang zu identifizieren. Habe ich diese Gewissheit, dann brauche ich nicht mehr zu thematisieren, ob ich die Note richtig spiele, oder in welcher Kadenz ich mich harmo- nisch bewege. Ich orientiere mich zuerst sinnlich in leiblichen Räumen. Die harmonisch-theo- retische Orientierung kommt erst an zweiter Stelle. Jedoch kann diese dann auch klarer forma- lisiert werden. Neben Umgangswissen stellt perzeptives Wissen die wesentlichste Kompetenz beim eigenständigen Interpretieren von Klavierwerken dar. Denn allererst die Gewissheit, mich Vom Blick zum Klang – Was wissen die Noten über mein Klavierspiel? 283 im richtigen sinnlichen Raum leiblich zu bewegen, gibt mir ein Fundament, aus dem heraus ich in der Lage bin, die Noten nicht nur mechanisch abzuspulen, sondern auch musikalisch mitrei- ßend vorzutragen. Insofern ist perzeptives Wissen die sinnliche Kompetenz zur Orientierung in Wahrnehmungsräumen. Hierbei ist beim Klavierspielen die visuelle Kompetenz des Notenle- sens nicht von akustischen und haptischen Kompetenzen zu trennen. Propositionales Wissen, Umgangswissen und perzeptives Wissen greifen ineinander und können nur mit theoretischer Distanz eigenständig thematisiert werden. Auf diese Weise ist es dann jedoch möglich, genau- ere Bestimmungen über Wissen und Interpretieren (Hermeneutik) in der Musik vorzunehmen. Die philosophische Frage zielt dabei auf das Verhältnis zwischen verschiedenen Wissensfor- men und Interpretationsweisen. An dem Punkt treffen sich dann auch die philosophischen Fächer Epistemologie und Hermeneutik. So findet sich implizites Wissen verknüpft mit prak- tisch-sinnlicher Hermeneutik und explizites Wissen verknüpft mit theoretisch-semantischer Hermeneutik. Eine dritte Wissensform stellt perzeptives Wissen dar. Hierbei handelt es sich um eine individuelle Gewissheit, die als Wahrnehmungskompetenz sinnliche Orientierung ermöglicht. Ausgangspunkt für eine Bestimmung von visueller Kompetenz ist dieses perzep- tive Wissen. Und zwar nicht nur in der Musik, sondern auch im alltäglichen technischen Um- gang. Visuelle Kompetenz als perzeptives Wissen des Pianisten. Was können wir festhalten? Aus technikphilosophischer Perspektive lässt sich Klavierspielen als körperlich-technischer Vorgang im Hinblick auf Verstehen (Hermeneutik) und Wissen (Epistemologie) analysieren. Visuelle Kompetenz ist hierbei ein Aspekt mehrerer leiblicher Einzelkompetenzen, die Grund- lage der technischen Praxis des Klavierspielens sind. Wird von einer rein expliziten Bestim- mung des Wissensbegriffes (Wissen dass) abgesehen und Wissen auch als Könnerschaft bzw. Kompetenz (Wissen wie) betrachtet, dann ist visuelle Kompetenz: • grob beschrieben: epistémé im Sinne von Wissens wie, • genauer beschrieben: nicht sagbares, implizites, leibliches Wissen, so wie es von den Auto- ren Ludwig Wittgenstein, Michael Polanyi und Bernhard Irrgang thematisiert wird, • noch genauer beschrieben: perzeptives Wissen, das als Kompetenz zur sinnlichen Orientie- rung Ausdruck individueller Wahrnehmungsgewissheit ist, • im Bezug auf das Klavierspielen betrachtet: eine Beschreibungsform neben „akustischer-“ und „haptischer Kompetenz“, die praktisch-sinnliche Hermeneutik in musikalisch-techni- scher Praxis kennzeichnet, • in Bezug auf philosophische Wissensbegriffe betrachtet: eine Wissensform mit einem systematisch eigenständigen Status gegenüber propositionalem Wissen und Umgangswis- sen, 284 Michael Funk • in Bezug auf ihre Möglichkeiten in philosophischen Theorien betrachtet: ein Konzept für Analysen technisch veränderter oder erzeugter Wahrnehmungen in den bildenden Künsten (Ästhetik), Naturwissenschaften (Wissenschaftsphilosophie) und im technischen Alltag (Technikphilosophie). Literatur Aristoteles (1989): Metaphysik. Bücher I(A) – VI(E). Griechisch-Deutsch. Hamburg: Meiner. Beethoven, Ludwig van (1975/76): Klaviersonaten Band 1. Herausgegeben von B.A. Wallner. München: G. Henle. Debussy, Claude (2003): The essential Collection. Debussy. London: Chester Music. Die Bibel (1999): Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. Funk, Michael (2010): Verstehen und Wissen. Ludwig Wittgensteins Philosophie der Technik. In: Leidl, Lars & Pinzer, David (Hrsg): Technikhermeneutik. Zwischen Verstehen und Ge- stalten. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2010 (Dresdner Studien zur Philosophie der Technik Bd. 3), S. 75–88. Horn, Christoph & Rapp, Christof (Hrsg.) (2002): Wörterbuch der antiken Philosophie. Mün- chen: Beck. Ihde, Don (1998): Expanding Hermeneutics. Visualism in Science. Evanston: Northwestern University Press. Irrgang, Bernhard (2009): Grundriss der Technikphilosophie. Hermeneutisch-phänomenologi- sche Perspektiven. Würzburg: Könighausen & Neumann. Levine, Mark (1996): Das Jazz Theorie Buch. Advance Music. Lexer, Matthias (1992): Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. 38. Auflage. Stuttgart: Hir- zel. Polanyi, Michael (1985): Implizites Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig (2006): Philosophische Untersuchungen. In: Ders. Werkausgabe Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 224–578. Bilder aus der Perspektive der natürlichen Theologie Kristóf Nyíri Zusammenfassung Das menschliche Denken hat sowohl eine verbale als auch eine perzeptuelle Dimension, wobei die perzeptuelle, in erster Linie die visuelle Dimension die ursprüngliche und grundlegende ist. Visuelle Kompetenz ist keineswegs immer auf sprachliche Kompetenz angewiesen. Die Philoso- phie des zwanzigsten Jahrhunderts machte allerdings kurzen Prozess mit Bildern, ob mentale oder physische. Und das Nachsinnen über die unentbehrliche Rolle der Bilder im menschlichen Erken- nen war niemals eine charakteristische Beschäftigung von Religionsphilosophien in der jüdisch- christlichen Tradition. Judaismus und Christentum sind Buchreligionen. Die religiösen Gefühle und Erfahrungen von Gläubigen, die in einer Welt von heiligen Texten erzogen wurden, sind durch verbale Bilder gefärbt. Demgegenüber dürften primordiale religiöse Erfahrungen grund- sätzlich mit inneren mentalen Bildern zu tun haben, aber auch mit spezifischen Bildern der uns umgebenden Welt, bzw. mit Bildern und Statuen als Artefakte. Es sind die Natur und die Vielfalt von solchen Bildern, und ihre Rolle auf der Ebene der nicht-geoffenbarten Religion, denen mein Vortrag nachgehen soll. Einleitung Im Hintergrund meines gegenwärtigen Vortrages steht die Schlüsselvoraussetzung, dass das menschliche Denken sowohl eine verbale als auch eine perzeptuelle Dimension hat, wobei die perzeptuelle, in erster Linie die visuelle Dimension die ursprüngliche und grundlegende ist. Ich werde für diese Voraussetzung hier nicht argumentieren, habe ich das doch in zahlreichen früheren Aufsätzen getan. Von diesen erlaube ich mir zwei anzuführen: Erstens den im Jahre 2000 gehaltenen Vortrag „The Picture Theory of Reason“ (vgl. Nyíri 2001), wo ich einerseits die Ergebnisse der zeitgenössischen Kognitionspsychologie, insbesondere den so genannten Dualkodierungsansatz von Allan Paivio verwertete, andererseits aber jene Argumente, die H. H. Price ausgearbeitet hatte in seinem „Thinking and Experience“, ein selten erwähntes Buch dieses ansonsten wohlbekannten Oxforder Philosophen. Zweitens meinen Aufsatz „Wittgen- steins Philosophie der Bilder“ (vgl. Nyíri 2004a), in welchem ich gegen die Hauptströmungs- ansicht Stellung nahm, laut der Bilder in des späteren Wittgensteins Sicht nur kraft verbaler Interpretation eine Bedeutung gewinnen. Wittgenstein, versuchte ich zu zeigen, war der Auf- fassung, dass mentale Tätigkeit sowohl mit Wörtern als auch mit visuellen inneren Bildern zu tun hat, dass verbale und visuelle Vorstellungen miteinander verflochten funktionieren, und dass es durchaus Fälle gibt, wo das Verstehen eines Bildes vom Sprachgebrauch völlig unab- hängig ist – in denen also visuelle Kompetenz in keinem Sinne auf sprachliche Kompetenz angewiesen sei. 286 Kristóf Nyíri Die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts machte kurzen Prozess mit Bildern, ob mentale oder physische. Und das Nachsinnen über die unentbehrliche Rolle der Bilder im menschlichen Erkennen war freilich niemals eine charakteristische Beschäftigung von Religionsphilosophien in der jüdisch-christlichen Tradition. Allerdings gab es und gibt es bemerkenswerte Ausnah- men. Thomas von Aquin übernahm und entwickelte die Aristotelische These, laut der „die Seele niemals ohne Vorstellungsbilder [φαντάσµατα] denkt“ (Aristoteles 1986, S. 61 [De anima, 431a]), und ich gehe davon aus, dass eine enge Verwandtschaft besteht zwischen dem Phantasma-Begriff des Thomas und unserem Begriff von mentalen Bildern. Näher unserem eigenen Zeitalter deutet Kardinal Newman, in seinem zuerst 1870 erschienenen „Grammar of Assent“, Erinnerungsbilder als „reflections of things in a mental mirror“, als „facsimiles of facts“ (Newman 1881, S. 23f.), und weist darauf hin, dass mentale Bilder eine psychologische Macht besitzen, die bloße Begriffe nicht haben. Der anglikanische Theologe und Philosoph Austin Farrer, in seinem 1943 veröffentlichten Buch „Finite and Infinite“ den Begriff der Phantasmen aufgreifend, interpretierte das „konkrete Phantasma“ als „ein konkretes Bild, wenn auch skizzenhaft“, unterstrich jedoch, dass es „Fälle gibt, wo das Bild so explizit ist wie nur irgend möglich“ (Farrer 1943, S. 125). Romano Guardini, einer der einflussreichsten katholi- schen Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts, betont in seinem 1950 erschienenen Essay „Die Sinne und die religiöse Erkenntnis“ die Rolle, welche Bilder „in der Tiefe des Unbe- wussten“ spielen, in einer Weise der „Bereitschaft“: „eine kurze Berührung mit der äußeren Wirklichkeit genügt, um sie sich bilden zu lassen“. Der Mensch, schreibt Guardini, „ist ent- scheidend auf Bilder angewiesen, sein inneres Wesen kann im Letzten (…) nur aus Bildern leben“ (Guardini 1950, S. 65). Ein anderer führender katholischer Denker, Karl Rahner, hielt 1983 einen Vortrag über die Theologie der Bilder, in welchem er auf die Formel conversio ad phantasma des Thomas zurückweisend hervorhob, dass „die traditionelle christliche Anthro- pologie immer und immer deutlicher daran festgehalten [hat], dass Sinnlichkeit und geistige Erkenntnis im Menschen eine Einheit bilden, dass auch alle geistige Erkenntnis, so sublim sie sein mag, immer nur ursprünglich in Gang gesetzt, mit Inhaltlichkeit erfüllt wird von der sinn- lichen Erfahrung her“ (Rahner 1983, S. 2). Der russisch-orthodoxe Theologe Paul Evdokimov unterstrich in seinem 1972 veröffentlichten Buch „L’Art de l’Icône“, „dass das Visuelle und das Intelligible eine innige Einheit miteinander bilden; dass das Wort und das Bild aufs Engste verbunden sind“ (Evdokimov 1990, S. 32). Von lutheranischer Seite erinnerte Rainer Volp in seinem Eintrag „Das Bild als Grundkategorie der Theologie“ in der Theologischen Realenzyk- lopädie, 1980, an Schleiermachers Ansicht, laut der „in jedem wirklichen Denken Bilder mit- gesetzt sind“ (Volp 1980, S. 558). Eine jüngere Arbeit mit lutheranischem Hintergrund ist Sigurd Bergmanns Buch „In the Beginning Is the Icon“. „Die Theologie“, schreibt hier Berg- mann, „muß es lernen, die Einzigartigkeit und Autonomie des visuellen Mediums zu verstehen. Das Bild besitzt eine einzigartige Kraft/Macht, die darin besteht, daß es mit äußeren Mitteln innere Bilder schaffen kann und so unsere Fähigkeiten zur Einbildung/Imagination und zum Handeln im Spannungsfeld zwischen inneren Landschaften und äußeren Umgebungen beein- flussen kann.“ (Bergmann 2009, S. 99) Und in einem vor wenigen Monaten erschienenen Band, David Gelernters „Judaism: A Way of Being“, trifft man auf folgende Formulierung: „Images are the stuff of thought. (…) we spend much of our mental lives (…) wrapped up in imagery, beyond the reach of language.“ (Gelernter 2009, S. 3 und 20) Bilder aus der Perspektive der natürlichen Theologie 287 Nun sind Judaismus und Christentum freilich Buchreligionen. Man hat Grund zur Annahme, dass die religiösen Gefühle und Erfahrungen von Gläubigen, die in einer Welt von heiligen Texten erzogen wurden, durch verbale Bilder gefärbt, ja gestaltet sind; hier werden visuelle Perzeption und innere Bilder notwendigerweise von früheren textuellen Erlebnissen beein- flusst, filtriert und modifiziert. Demgegenüber sollte jene primordiale religiöse Erfahrung, auf die sich besonders William James konzentrierte (vgl. James 1902), ja auch Calvins sensus di- vinitatis, „jenes einfache und ursprüngliche Wissen, zu dem der bloße Gang der Natur uns hätte leiten können, falls Adam standhält“ (Calvin 1559, Buch I, Kap. 2), grundsätzlich mit inneren mentalen Bildern zu tun haben, aber auch mit spezifischen Bildern der uns umgeben- den Welt, bzw. mit Bildern und Statuen als Artefakte. Es sind die Natur und die Vielfalt von solchen Bildern, und ihre Rolle auf der Ebene der nicht-geoffenbarten Religion, denen mein Vortrag nachgehen soll. Zunächst erlaube ich mir aber noch im Bereich der geoffenbarten Religionen zu verweilen. Bilder in geoffenbarten Religionen Die Rolle von Bildern in den Buchreligionen ist ein wohlrecherchiertes Thema im Fall des Judaismus, und noch deutlicher im Fall des Christentums, wo die beiden Hauptfragen wie fol- gend lauten: Wie kann das Unsichtbare durch das Sichtbare vertreten werden – die grundle- gende Antwort hier ist, dass Gott in Christus Fleisch wurde –, und können Bilder als eine bib- lia pauperum dienen, d.h. den des Lesens Unkundigen die Narrative der Schrift vermitteln? David Freedberg bietet einen ausgezeichneten Überblick des Themas. Ich zitiere hier seine Wiedergabe der Auffassung von Thomas, in den Kommentaren des letzteren zu dem dritten Buch der Sentenzen des Petrus Lombardus dargelegt. In der Sicht von Thomas, schreibt Freed- berg, „there was a threefold reason for the institution of images in the Church: first, for the instruction of the unlettered, who might learn from them as if from books; second, so that the mystery of the Incarnation and the examples of the saints might remain more firmly in our memory by being daily represented to our eyes; and third, to excite the emotions which are more effectively aroused by things seen than by things heard' “ (Freedberg 1989, S. 162ff.). In einem meiner früheren Aufsätze hatte ich Gelegenheit, auf Freedbergs hier anschließende An- führung von ähnlichen Formulierungen Bonaventuras hinzuweisen: „Der heilige Bonaventura fasste ein Jahrhunderte altes Argument über die Institution von Bildern in der Kirche zusam- men, als er sagte, dass erstens die des Lesens Unkundigen anhand von Statuen und Bildern wie aus Büchern lernen können, und dass zweitens diejenigen, die nicht zur Andacht bewegt sind, wenn sie von Christus’ Taten hören, wenigstens dadurch erfasst werden könnten, dass sie die- selben in Gestalten und Bildern sehen“ (Nyíri 2004b, S. 155). Die Literatur ist gewaltig (vgl. dazu: Hoeps 2007), und ich kann hier selbstverständlich nicht ins Detail gehen. Um aber für mein Hauptargument gleichsam die Bühne einzurichten, möchte ich auf einige spezifische Aspekte des Problems hinweisen. Erstens die vielleicht minder be- deutende Beobachtung, dass sogar in den Buchreligionen, und sogar im Fall von Schreibern 288 Kristóf Nyíri und Gelehrten, die mit der Abschrift und Neugestaltung von heiligen Texten zu tun hatten, die Empfänglichkeit für Bilder, der Impuls zum Bilderschaffen, überwältigend werden konnten. Wie Freedberg bemerkt, Beispiele von arabischer Kalligraphie und diverser jüdischer Manu- skripte abdruckend: Abbildung 1: Basmala in der Form eines Papageis (Iran, 1250/1834–35). Quelle: Freedberg „Even in (…) Islam and Judaism (…) with (…) an apparent emphasizing of word over image, of the written over the figured, the will to image figuratively – even anthropomorphically – cannot be suppressed.“ (Freedberg 1989, S. 55) Bilder aus der Perspektive der natürlichen Theologie 289 Abbildung 2: Impressum des Zeichners, Kennicott Bible, La Coruña (1476).Quelle: Freedberg Zweitens, dass – wie sich Victoria Harrison unlängst ausdrückte – allgemein gesagt die religi- öse Sprache „gesättigt von Bildern und Metaphern ist“ (Harrison 2007, S. 153). Des Näheren sind sowohl im Alten als auch im Neuen Testament Bilder in Hülle und Fülle vorhanden, nicht bloß in dem Sinne, dass sie eine Sprache reich an Metaphern verwenden – Metaphern funktio- nieren letzten Endes freilich durch ihre Verbindung mit mentalen Bildern –, sondern auch in jenem Sinne, dass sie, ganz unmittelbar, lebendige visuelle Bilder heraufbeschwören. Wie es Evdokimov formuliert: „In the Bible, the word and the image are in dialogue, they call to one another and express complementary elements of one and the same Revelation“ (Evdokimov 1990, S. 32f.). „Judaism“, schreibt aus einer anderen Perspektive Gelernter, „is in fact passion- ately attached to images; they are its favorite means of expression. – Even a quick glance at the Bible makes it plain that Jewish thought luxuriates in vivid imagery (...) Much of medieval art is a celebration of biblical imagery (…) The medieval Christian artist translates biblical images directly from words into paint, sculpture, tapestry, glass (...)“ (Gelernter 2009, S. 17) Was Gelernter hier sagt, ist natürlich nichts Neues; dasselbe wurde ausführlich demonstriert durch den lutheranischen Philosophen und Theologen Johann Gottfried Herder gegen Ende des acht- zehnten Jahrhunderts, und durch Austin Farrer in den 1940er Jahren. Herder erblickt in der Bibel einen Text – ich stütze mich hier auf von Balthasars „Herrlichkeit: Eine theologische Ästhetik“ –, der in „naturhafter Bildersprache“ geschrieben ist (vgl. Baltha- 290 Kristóf Nyíri sar 1988, S. 82), einen Text also, der „nur als Bilderwelt nachvollziehbar“ (Balthasar 1988, S. 79) sei. Der Engel der Apokalypse, so Herder, „spricht nicht, verbirgt nicht, sondern deutet in Bildern an (…) Die Bilder müssen also bedeutend, durch sich selbst verständlich gewesen sein.“ (Vgl. Balthasar 1988, S. 80) Farrer, in seinem 1948 veröffentlichten Buch „The Glass of Vision“ – der Titel ist eine Anspielung auf den ersten Brief an die Korinther (13,12) – spricht von den „tremendous images“ – eine Anspielung auf Hume (vgl. Hume 2007, S. 100) –, von den gewaltigen Bildern im Neuen Testament, ohne derer, wie er schreibt, „the teaching would not be supernatural revelation, but instruction in piety and morals. It is because the spiritual instruction is related to the great images, that it becomes revealed truth.“ (Farrer 1948, S. 42) Eine erschütternde Enthüllung, das überzeugende Aufzeigen von etwas bisher Verborgenem – so verstehe ich Farrer – braucht mehr als bloße Wörter, ist auf Bilder angewiesen. Wenn Farrer von Bildern spricht, meint er in erster Linie die figürliche Sprache; allerdings gehören Meta- phern und visuelle Bilder, wie ich das vor kurzem hervorhob, zu einem einzigen Kontinuum, und man findet zahlreiche Stellen, an denen Farrer in der Tat auf visuelle geistige Bilder an- spielt, z.B. wo er auf eine Vision des Johannes hinweist: der Sohn Gottes erscheint als „ein Lamm; er sah aus wie geschlachtet und hatte sieben Hörner und sieben Augen“ (Farrer 1948, S. 48). Und eine vielsagende Passage aus Farrers 1949 veröffentlichtem Buch A Rebirth of Images: „An image thrown in isolation on the screen means nothing, because it may mean anything… In a long concatenation of images, each fixes the sense of the others, and is itself determined by them. … we feel the new image emerging out of the hidden mind under the evo- cation of the images already in place, as St John saw the figure of the Beast come out of the deep when the Dragon's feet touched the sand of the sea.“ (Farrer 2006, S. 18) In den beiden Kapiteln allerdings, die er einige Jahre später in dem Band Faith and Logic: Oxford Essays in Philosophical Theology (Mitchell 1957) veröffentlichte, vermied Farrer in auffälliger Weise das Wort „Bild“ zu verwenden, wobei er eine zentrale Rolle dem Begriff der Parabel zuweist. In demselben Band gebraucht auch I.M. Crombie, in seinem Kapitel „The Possibility of The- ological Statements“, den Ausdruck „Bild“ eindeutig im Sinne von Parabel, wenn er sagt: „we know what the words in the predicates of theological statements mean, and this we know be- cause we take these statements as human images of divine truths“. So kann er z.B. schreiben: „The sense the words bear within the image or parable is drawn from thoughtful experience of human life“ (Mitchell 1956, S. 72). Sowohl Edmond Cherbonnier, 1953, als auch Ian Barbour, 1976, meinten Farrers Auffassung in dem Sinne verstehen zu müssen, dass dieselbe sich eindeutig auf visuelle geistige Bilder bezieht. „Perhaps both philosophers and theologians“, schreibt doch Barbour, „in concentrating on verbally-stated propositions, have tended to neglect the role of images in human thought.“ (Barbour 1976, Kap. 2) Barbour hebt Farrer als einen von den seltenen löblichen Ausnahmen hervor – verweisend, im selben Zusammenhang, auch auf H.H. Price. Auf der anderen Seite steht Cherbonnier Farrer kritisch gegenüber. Er zergliedert „Austin Farrer's (…) attempt to replace a 'theology of the word' with visual images as the primary medium of Christian truth“, und kommt zur folgenden Schlussfolgerung: „the biblical revelation could be apprehended through images only on one condition – that God had embodied his revelation, not in words, but in a book of pictures. Is the fact that he has not done so only accidental or, on the contrary, Bilder aus der Perspektive der natürlichen Theologie 291 is it of the highest significance for the understanding of both man and God that he has in fact revealed himself by his Word?“ (Cherbonnier 1953, S. 22) Ich komme zurück auf Cherbon- niers Argument im nächsten Abschnitt meines Vortrages. Gegenwärtigen Abschnitt schließe ich mit einem Hinweis auf Newman. In seinem Buch „A Grammar of Assent“ stellt Newman der Religion von zutiefst frommen katholischen Bevölkerungen, für die „das Höchste Wesen, unser Herr, die heilige Jungfrau, Engel und Heilige, Himmel und Hölle, dermaßen gegenwärtig sind als ob sie Gegenstände des Sehens wären“ (Newman 1881, S. 55), die von ihm so bezeichnete englische „Bibelreligion“ gegenüber, welche „nicht in Riten und Glaubensbekenntnissen“ besteht, sondern „hauptsäch- lich im Bibellesen in der Kirche, im Familienkreis, und allein“ (Newman 1881, S. 56). Wie Newman schreibt: „[r]eading, as we do, the Gospels from our youth up, we are in danger of becoming so familiar with them as to be dead to their force, and to view them as a mere his- tory“. Und eben an dieser Stelle kommt ins Spiel „die Praxis der Meditation über die Heilige Schrift (…) welche in so hohem Ansehen bei den Katholiken steht“ (Newman 1881, S. 79). Meditation ist im Wesentlichen ein Prozess, durch den die Gläubigen mentale Bilder aufbauen, um mit ihnen die verbale Repräsentation der heiligen Geschehnisse zu begleiten und lebendi- ger zu gestalten. In seinem bereits angeführten Buch liefert David Freedberg eine wunderbare Zusammenfassung davon, wie die christliche Meditation, vom Mittelalter bis zum siebzehnten Jahrhundert, auf dem Zusammenwirken von geschriebenem oder rezitiertem Text und geisti- gem und physischem Bild – Holzschnitte, Radierungen, Drucke – beruhte (Freedberg 1989, Kap. 8). Für Newman war die Präsenz spontan entstehender oder sich durch Meditation entwickelnder mentaler Bilder geradezu eine Vorbedingung des echten Glaubens – des „echten Bejahens“, real assent, wie er es nannte. 292 Kristóf Nyíri Abbildung 3: Passionis Jesu Christi via contemplationis et meditationis quadruplex (Holzschnitt, Ein- blattdruck, ca. 1477). Quelle: Freedberg Bilder in der natürlichen Religion Bilder erfüllen also eine wesentliche Rolle in den geoffenbarten Religionen. Es ist indessen klar, dass Bilder an sich die Botschaft der Offenbarung nicht vermitteln können. Für jene, die die Narrative des Neuen Testaments nicht kennen oder nicht für glaubwürdig halten, ist Chris- tus am Kreuz die Abbildung eines leidenden menschlichen Wesens. Wie dies Hans Belting prägnant in seinem Buch „Bild und Kult“ formuliert: „Das Bild ist (…) nur verständlich, wenn man es von der Schrift her wiedererkennt. Es erinnert daran, was die Schrift erzählt“ (Belting 1990, S. 20). Oder wie es Rahner erklärte: „[D]as Bild [bedarf] einer verbalen Auslegung (…), Bilder aus der Perspektive der natürlichen Theologie 293 um als ausdrücklich christlich vom Beschauenden erkannt zu werden (...) Es gibt ja selbstver- ständlich keine anschauliche Wirklichkeit, an der als solcher allein ihre christliche Bedeutung abgelesen werden könnte.“ (Rahner 1983, S. 7) In seinem 1802 veröffentlichten klassischen Werk über natürliche Theologie bietet Paley ein etwas verwandtes, allerdings verdrehtes Ar- gument. Gegen Ende des Buches kommt er zur Ansicht, dass da die Kontemplation der göttli- chen Natur „unsere Fähigkeiten überschreitet“, wir „vor der schmerzhaften Abstraktion (…) in sinnliche Bilder flüchten“, und dadurch der Götzenverehrung anheimfallen können, eine Ge- fahr, die zu vermeiden uns die Offenbarung hilft: bleibt die Autorität der Schrift unbezweifelt, dürfen wir uns „ein Herablassen zur Beschaffenheit unserer Fähigkeiten“ leisten (Paley 1809, S. 442). Indem er Bildern und visuellen Vorstellungen eine bloß zusätzliche Funktion zu- schreibt, ist Paley einer falschen Philosophie des Geistes verhaftet. Es ist indessen wichtig zu betonen, dass nur in dem Bereich der natürlichen Religion Bilder eine mehr oder minder auto- nome Rolle spielen können. Und dies ist genau der Punkt, den Cherbonnier, Farrer kritisierend, hervorhob. Letzterer, schrieb Cherbonnier, räumte freilich ein, dass „the object of faith is (…) not the images themselves but rather the reality beyond them, to which they point“. Dann kann aber die Frage gestellt werden: „Is it possible to say anything about this reality, or must we remain content to apprehend it simply by gazing at the images? (…) if the answer is that the reality behind the images can be expressed in words, then ipso facto the spoken word has been reinstated as the basis of revelation, thereby rendering the images unnecessary.“ (Cherbonnier 1953, S. 21) Aus dieser Sackgasse versuchte Farrer, schreibt Cherbonnier, mit einem Verweis auf die natürliche Theologie zu entkommen. Cherbonnier nennt das eine verzweifelte Ent- scheidung (Cherbonnier 1953, S. 22). Aus der Sicht meines Aufsatzes aber machte Farrer gerade den geeigneten Schritt. Ich konzentriere mich hier auf die entscheidende Stelle seiner Argumentation. Bilder, behauptet Farrer, haben eine wesentliche Funktion in Hinsicht auf die „natürliche Er- kenntnis Gottes“. Es soll mir erlaubt sein, hier aus seinem Buch „The Glass of Vision“ zu zitieren: neither in revelation nor in rational theology can we point away from the image to that which the image signifies: in both we must be content to refer to the real- ity by understanding what the image tells us. Nevertheless, rational analogies and revealed images concerning God do not function in the same way: … the rational analogies are natural images: the revealed figures are not … natural. – The ra- tional analogies are natural … in the sense that they may be, and originally are, spontaneous: unless finite things put themselves upon us as symbols of deity we can have no natural knowledge of God. … The stars may seem to speak of a maker, the moral sense of a law-giver: but there is no pattern of being we simply meet, which speaks of Trinity in the Godhead… Rational analogies are natural in a second sense: the analogy which the natural symbol appears to bear to God is founded on a real relation in which it stands towards God. … Whereas revealed images are commonly just parables. (Farrer 1948, S. 93–95) 294 Kristóf Nyíri Wir treffen auf Bilder, sagt also Farrer, auf Bilder in der Natur und auf Bilder der Natur, die an sich fähig sind, in uns einen Eindruck höherer Wirklichkeit zu erwecken; visuelle Bilder sind des Weiteren natürliche Bedeutungsträger, da sie durch Ähnlichkeit bedeuten, während die Bedeutung von Redefiguren auf Konvention beruht. „Are those Christian minds really so rare“, fragt Farrer, „whose nearest gate into the invisible world is a simple awe at natural fact?“ (Far- rer 1948, S. 96) Der Text, mit dem er das erste Kapitel von „The Glass of Vision“ beginnt, ist ein Zitat aus dem Brief an die Römer: „Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn Gottes unsichtbares Wesen (…) wird seit der Schöpfung der Welt ersehen aus seinen Werken, wenn man sie wahrnimmt (…)“ (1,19–20). Diese Bibelpassage ist für Farrer eine Richtschnur auf dem Gebiet nicht der geoffenbarten, sondern der natürlichen Theologie. „For the moment“, sagt er an der Stelle, die uns hier be- schäftigt, „we are discounting supernatural revelation, and considering natural religion: by which we are, therefore, bound to understand our own apprehensions of God through nature (…) (…) Natural theology (…) provides a canon of interpretation which stands outside the particular matter of revealed truth.“ (Farrer 1948, S. 98 und 111) Was ich im gegenwärtigen Vortrag zu tun versuche, nämlich eine skizzenhafte Übersicht der Funktionsweisen von Bildern in der natürlichen Religion zu geben, ist gewissermaßen ein Nachtrag zur Farrers Philosophie der heiligen Bilder. Auch ist es eine Art Protest gegen die Hauptströmung der zeitgenössischen natürlichen Theologie, die bekanntlich weder für Bilder, noch für visuelle Vorstellungen eine Verwendung hat. Die Theorie der Phantasmen des Thomas wird gänzlich zurückgewiesen von Swinburne (vgl. Swinburne 1992); der Schritt von den Phantasmen zu mentalen Bildern wird nur halbherzig unternommen von Kretzmann (vgl. Kretzmann 1999); und die Rolle von visuellen Vorstellungen in der religiösen Erfahrung wird als unwesentlich beurteilt von Alston (vgl. Alston 1991). In einem unmittelbareren Sinn ist mein Vortrag eine Reaktion auf George Pattisons 1991 erschienenes Buch „Art, Modernity and Faith: Restoring the Image“. Während ich Pattisons allgemeine Behandlung von visueller The- ologie lehrreich und anregend finde, halte ich seine summarische Ablehnung der natürlichen Theologie für übertrieben. Ich glaube, es ist ungerecht zu behaupten, wie Pattison dies tut, dass die natürliche Theologie des Neo-Thomismus vollkommen unfähig war zur Ausarbeitung eines theologischen Vokabulars und theoretischen Rahmens zur Untersuchung des Problems von Glaube und Visualität (vgl. Pattison 1998). Zudem finde ich es schwer, ihm zu folgen, wenn er etwa Ruskin zunächst mit Empathie analysiert und dann gänzlich ablehnt. „The overall struc- ture of Ruskin's argument“, schreibt Pattison, „resembles the familiar pattern of natural theol- ogy, for its prevailing assumption is that the works of God in creation provide a timeless and universally accessible testimony to their divine origin. The artist is gifted with the ability to see and to represent in his work a truthful image of that testimony and so to be able to direct the less perceptive to see it for themselves.“ (Pattison 1998, S. 54) Ich bin der Ansicht, dass man der Idee eines „universal zugänglichen Beweises“ gegenüber skeptisch sein kann, und dennoch den Aufbau einer Phänomenologie von solchen spontanen religiösen Gefühlen versuchen darf, welche als Antwort auf spezifische visuelle Erfahrungen entstehen. Es sind die Umrisse eben einer solchen Phänomenologie, die zu skizzieren ich im Folgenden unternehme. Bilder aus der Perspektive der natürlichen Theologie 295 Verbildlichung des Unsichtbaren Thomas' Ansichten in Bezug auf die Frage erörternd, ob man sich Bilder von unkörperlichen Dingen bilden könne, bemerkt Kenny, dass auf jeden Fall „das Bild eines nicht-körperlichen Dinges nicht dadurch ein Bild sei, dass es seinem Gegenstand ähnelt“, dem noch hinzufügend: „Allerdings haben wir guten Grund zur Annahme, dass das, was ein Bild von X zum Bild von X macht, niemals dessen Ähnlichkeit mit X ist, auch dann nicht, wenn X körperlich ist.“ (Kenny 1993, S. 98) Letztere Anmerkung ist offensichtlich ein Echo von Wittgensteins Be- merkung „Alles kann ein Bild von allem sein: wenn wir den Begriff des Bildes entsprechend ausdehnen“, abgedruckt im Nachlassband „Philosophische Grammatik“ (Wittgenstein 1969, S. 163). Diesen Band hat Kenny ins Englische übersetzt. Nun wird diese Bemerkung Wittgen- steins entsprechenden Ansichten in der „Philosophischen Grammatik“ gewiss nicht gerecht, und noch weniger jenen Ansichten, die einem der „Nachlass“ im Ganzen nahe legt (vgl. Nyíri 2004a). Es ist eben nicht Nelson Goodman, für den Wittgenstein den Weg ebnete. Ernst Gombrich, mit seiner Betonung der Rolle von Ähnlichkeit in bildlicher Repräsentation (vgl. Nyíri 2009b), oder Richard Wollheim, mit seinen Begriffen „sehen-als“ und „sehen-in“ (Woll- heim 1980) als Erklärungen für unser Erlebnis von Bildbedeutung, können mit mehr Recht als Erben Wittgensteins bezeichnet werden. Eine Variante des Begriffes von „sehen-in“ erscheint bereits beim frühen Husserl, er verwendet den Ausdruck „Hineinschauen“ (vgl. Husserl 1980, S. 53; vgl. Sonesson 1989, S. 270–276). Das, was wir in das Bild „hineinschauen“, wird von Husserl das „Bildobjekt“ genannt. Husserl macht die wichtige Bemerkung, dass es einen wesentlichen „Widerstreit“ gibt zwischen dem „Bildding“ (etwa das Bild, wie es an der Wand hängt) und dem „Bildobjekt“ (Husserl 1980, S. 489 und 493): Das letztere weist, charakteristi- scherweise, von sich weg (Husserl 1980, S. 34 und 37) auf das „Bildsujet“, wie dies das Bildding nicht tut, – weist darauf, was das Bild abbildet, repräsentiert. Das von sich wegweisende Bild kann auch unter einem anderen Aspekt gesehen werden. In seinem Buch „Painting and Reality“ macht Etienne Gilson eine Unterscheidung zwischen Bil- der („pictures“ bzw. „images“) einerseits und Gemälde („paintings“) andererseits. Es gibt, schreibt er, eine “radical difference between a painting, whose meaning is in itself, and a pic- ture, whose function is to point out something else“ (Gilson 1957, S. 267). Das Wesentliche am „picturing“, wie er sich ausdrückt, „is to represent, or imitate“. Gilson räumt ein, ja betont, dass „[i]mages are among the oldest products of the fabricative activity of man“, dass sie „insepa- rable from domestic life“ sind, und dass „[c]hildren delight in looking at picture books“ (Gil- son 1957, S. 260–262), aber macht klar, dass seiner Ansicht nach Bilder, und zwar auch religi- öse Bilder, gleichsam nichts Erhabenes repräsentieren können. Demgegenüber ist das „End- ziel“ von Gemälden „to achieve a fitting object of contemplation“; „creative painters (…) feel that there is still another reality hidden behind the appearances of nature“, und so ist “[a]ll truly creative art (…) religious in its own right“ (Gilson 1957, S. 266, 296 und 294). Einen ähnlichen Ansatz formuliert Hans-Georg Gadamer in seiner „Wahrheit und Methode“. Er stellt dem Bild das Abbild gegenüber. Wie er schreibt: „Im Wesen des Abbildes liegt es, dass es keine andere Aufgabe hat, als dem Urbild zu gleichen (…) indem es aufgrund seiner Ähnlich- keit auf das Abgebildete verweist“ (Gadamers Lieblingsbeispiele hier sind das „Passfoto“ oder 296 Kristóf Nyíri die „Abbildung in einem Verkaufskatalog“). Andererseits, im Falle des Bildes, ist es „selber das Gemeinte (…) [M]an [wird] nicht einfach von ihm fortverwiesen (…) auf das Dargestellte. Die Darstellung bleibt vielmehr mit dem Dargestellten wesenhaft verbunden, ja, gehört zu ihm hinzu.“ Wie es Gadamer betont, bleibt die „Identität und Nichtunterscheidung von Bild und Abgebildetem (…) ein Wesenszug aller Bilderfahrung“; und er kommt zur Schlussfolgerung, dass genau „das religiöse Bild die eigentliche Seinsmacht des Bildes erst voll hervortreten [lässt]“ (Gadamer 1986, S. 143f. und 147). Die Idee des von sich wegweisenden Bildes wurde mit äußerster Bedeutsamkeit formuliert von Rahner. Eine Zwischenbemerkung: „Bild“ bedeutete für Rahner, genau wie dies bei seinem Lehrer Martin Heidegger der Fall war, sowohl das Bild als Artefakt als auch das Bild, das sich für uns auftut, wenn wir in unsere Umgebung schauen. „Der Ausdruck ‚Bild‘ “, schrieb doch Heidegger in seinem Kant und das Problem der Metaphysik, „ist hier in dem ursprünglichsten Sinne zu nehmen, gemäß dem wir sagen, die Landschaft bietet ein schönes ‚Bild‘ (Anblick)“; aber derselbe Ausdruck sei auch im Sinne von Ähnlichkeit gebräuchlich, z.B. wenn wir von einer Photographie sprechen (vgl. Heidegger 1998, S. 90f. und 93). Aber zurück zu Rahner. „Zunächst (…) könnte es scheinen“, schrieb er, „dass die Schau steckenbleibt bei dem unmit- telbar geschauten und begrenzten Gegenstand“. Indessen „[kann] man (…) die Grenze und Eigenart des direkt Geschauten überhaupt nur erfahren, indem der Blick immer auch über diese Grenze in die Weite des ungeschauten Schaubaren hinauszielt. Es gibt also auch bei der Schau (…) eine Art sinnlicher Transzendenzerfahrung“. Und so kann „auch ein Bild, das nicht un- mittelbar ein religiöses Thema hat, grundsätzlich ein religiöses Bild sein (…), wenn es in sei- ner Anschauung durch eine (…) sinnliche Transzendenzerfahrung jene eigentliche religiöse Transzendenzerfahrung anregt und mitkonstituiert“ (Rahner 1983, S. 7). Jene Bilder, die ich hier im Folgenden zu beschreiben und zu präsentieren versuche, könnte man als transzendierende Bilder bezeichnen. Ich nehme von diesen Bildern an, dass sie fähig sind, neben ihren schlichten Bedeutungen, und über ihre schlichten Bedeutungen hinaus, auf erweiterte Bedeutungen hinzuweisen, auf Bedeutungen, die sie andeuten, aber nicht zeigen. Der gewöhnliche und freilich selbstverständliche Bereich, in dem man nach solchen Bildern Ausschau hält, ist die uns umgebende Welt der Natur. „Alle erschaffenen Dinge der sinnlichen Welt“, schrieb Bonaventura, „führen den kontemplierenden Geist und den weisen Menschen zum ewigen Gott. (…) diese sind die göttlich gegebenen Zeichen (…), vor unsere (…) sinnlich orientierten Geister gesetzt, so dass durch die sinnlichen Dinge, die sie sehen, sie zu den intel- ligiblen kommen, die sie nicht sehen können“ (zit. nach Freedberg 1989, S. 165). Oder denken wir an Thomas, der in seiner natürlichen Theologie die These hochhielt, dass „alle erschaffe- nen Dinge irgendwie Bilder von (…) Gott sind“ (Summa Contra Gentiles, III. 19) und in Summa Theologica (I. 84) die entscheidende Aussage machte: „Unkörperliche Dinge, von de- nen es keine Phantasmen gibt, sind uns durch Vergleich mit sinnlichen Körpern bekannt, von denen es Phantasmen gibt.“ Alister McGrath baut auf eine ehrwürdige Tradition, wenn er in seinem unlängst erschienenen Buch „A New Vision for Natural Theology“ von „nature as a legitimate, authorized, and limited pointer to the divine“ spricht (McGrath 2008, S. 5). Bilder aus der Perspektive der natürlichen Theologie 297 Das auffallendste natürliche Bild des Göttlichen ist das Licht. In der Serie der von William James untersuchten elementaren religiösen Konversionen sind das Sehen von „a stream of light“ oder „a bright blaze of light“, das Erleben von „the fullness of the light“ oder „rays of light and glory“, und so weiter und so fort, entscheidende Vorkommnisse. (James 1902, S. 215, 22, 245) Das Erschaffen des Lichtes findet sich am Anfang von verschiedenen alten Kosmogo- nien, das Alte Testament selbstverständlich miteingeschlossen. Auch in Herders Deutung des letzteren steht das Bild des Lichtes im Mittelpunkt. „Die urälteste, herrlichste Offenbarung Gottes“, schrieb er, „erscheint dir jeden Morgen als Tatsache, großes Werk Gottes in der Na- tur! (…) Licht ist das erste: seine Offenbarung, in der alles gesehen und verstanden werden kann(…) Das Licht! Licht, das Vorbild der allenthüllendsten Demonstration Gottes (...)“ (Zit. nach Balthasar 1988, S. 81) Abbildung 4: John Martin, „The Celestial City and River of Bliss“ (1841) Als John Martins Gemälde „The Celestial City and River of Bliss“ zum ersten Mal an der Royal Academy 1841 gezeigt wurde, wurde es zusammen mit den Zeilen aus Milton’s „Para- dise Lost“ (Buch 3, Zeile 374), „Thee, Author of all being, / Fountain of Light, thy self invisi- ble“ ausgestellt. Pattison bietet in seinem Kapitel „Icons of Glory“ eine ausgezeichnete Diskus- sion von der „Theologie des Lichtes“, betonend, dass von der östlich-orthodoxen Perspektive das Licht „not merely a symbol or image of divinity“ ist; „it is divinity“ (Pattison 1998, S. 126). Uns an Gadamers Terminologie erinnernd: das, was hier das Bild des Lichtes als seine erweiterte Bedeutung andeutet, ist vom Bild nicht-unterschieden. Quelle des Lichtes in unserer physischen Welt ist die Sonne. Hume, in seiner „Natural History of Religion“, Abschnitt 7, weist auf den Gott der alten Perser hin, der „die Sonne als sein Bild in das sichtbare Universum setzte“. Und es gab in der Geschichte der Religionen freilich un- 298 Kristóf Nyíri zählige Versionen von Sonnenkulten, wie sie ja auch in heutigen menschlichen Kulturen auf- findbar sind. Ich wähle hier eine Religion aus, die Sigurd Bergmann in seinem bereits erwähn- ten Buch „In the Beginning Is the Icon“ berührt. Dies ist die synkretistische peruanische Reli- gion, in welcher, wie Bergmann schreibt, „Christian-Catholic ideas are integrated into the worldviews of the native peoples, and the native religious belief systems have in turn brought about a new understanding of Christian ideas“ (Bergmann 2009, S. 123). Bergmann erzählt von einer katholischen Kongregation in einer Kleinstadt in den Anden, wo zwei Missions- schwestern die Mitglieder dazu anregten, „ihren Glauben visuell auszudrücken“ (Bergmann 2009, S. 124), d.h. zu zeichnen und zu malen. Bergmann druckt einige der resultierenden Bil- der. Zwei von diesen verbindet er ausdrücklich mit „Mutter Erde“, die „zentrale Gottheit in der Andenreligion“ (Bergmann 2009, S. 124). Was mir aber besonders auffällt: in beiden spielt auch die Sonne eine unverkennbare Rolle. Berge, wie das in dieser Region nicht überraschen kann, sind ebenfalls gegenwärtig. Wobei ich bemerken möchte, dass das Bild des Berges eine überragende religiöse Signifikanz hat; ich komme zu derselben gleich zurück. Abbildung 5: Von in den Anden lebenden katholischen Gläubigen angefertigte Zeichnung. Quelle: Sigurd Bergmann Bilder aus der Perspektive der natürlichen Theologie 299 Abbildung 6: Von in den Anden lebenden katholischen Gläubigen angefertigtes Bild. Quelle: Sigurd Bergmann Das Licht kann verschleiert werden. Das Bild des Schleiers hat tiefe religiöse Konnotationen; man denke nur an Pauls Worte: „Sobald sich aber einer dem Herrn zuwendet, wird die Hülle entfernt.“ (2 Kor 3,18) Ich habe hier keinen Raum, auf eine Analyse dieses Bildes einzugehen, statt dessen muss ich mich darauf beschränken, zwei physische Phänomene zu erwähnen, die unseren Blick verschleiern bzw. das Licht vor uns verschleiern können: erstens Mist und Nebel, und zweitens Wolken. Ein berühmtes Gemälde, das ersteres zum Thema hat, ist Caspar David Friedrichs „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ (1817–18). Das Gemälde zeigt eine einsame Gestalt, die dem Anblick der Natur mit anscheinend tiefer Ehrfurcht gegenübersteht. Wir soll- ten aber merken, dass dieser Anblick noch etwas beinhaltet, nicht nur der Nebel unten, sondern auch die hohen Berge in der Distanz. Die Webseite, die die St Andrews Gifford Lectures für 2010 ankündigt, unter dem Titel „The Face of God“, gehalten von Roger Scruton, ist von Friedrichs Gemälde geschmückt. Ich glaube, die Organisatoren haben das richtige Bild ge- wählt. Ein anderes Gemälde von Friedrich, „Sonnenaufgang bei Neubrandenburg“ (1835), ver- mittelt ein Gefühl von den die Quelle des Lichtes verschleiernden Wolken in einer Weise, die andeutet, dass sich da etwas Höheres, aber Unsichtbares, hinter dem Sichtbaren verbirgt – eine Andeutung, für welche der Mensch wohl seit Beginn der Zeit empfänglich war und welche von Künstlern in zahllosen Bildern vermittelt wurde. Während Wolken dadurch Transzendenz andeuten können, dass sie unsere Sicht verschleiern, tun Berge dasselbe dadurch, dass sie unseren Blick in unergründbare Höhen heben. McGrath weist auf „the biblical emphasis upon the importance of mountains in relation to divine revela- tion“ und erinnert an „the metaphysical poet Henry Vaughan's frequent use of mountain im- agery to denote the human longing for 'the world beyond'“ (McGrath 2008, S. 61f.). Pattison 300 Kristóf Nyíri zitiert John Baggleys Erörterung (in dessen Buch Doors on Perception, 1987) zu Rubljevs „Dreifaltigkeit“, laut welcher der Berg „a symbol of an event of profound significance“ sei (Pattison 1998, S. 129). Berge fehlen gewiss nicht in James' Sammlung von tiefen religiösen Erfahrungen; ein charakteristischer Bericht: I have on a number of occasions felt that I had enjoyed a period of intimate com- munion with the divine. These meetings came unasked and unexpected… Once it was when from the summit of a high mountain I looked over a … landscape extending to a long convex of ocean that ascended to the horizon, and again from the same point when I could see nothing beneath me but a boundless expanse of white cloud… What I felt on these occasions was a temporary loss of my own identity, accompanied by an illumination which revealed to me a deeper signifi- cance than I had been wont to attach to life. (James 1902, S. 69) In seinem Band von Essays „The Unknown God“ zollt Kenny Anerkennung dem „greatest of the Victorian mountain writers, John Ruskin“. Wie Kenny schreibt, „Ruskin's love of moun- tains knew no bounds: for him, all natural beauty, all moral goodness, was to be judged by its proximity to or distance from the ideal serenity of the high peaks. For him the mountains were the great cathedrals of the earth.“ (Kenny 2004, S. 156) Kenny bemerkt, dass „there were links between the Victorian passion for mountains and the Victorian ambivalence about religion. (…) Those who gave up belief in the eternal God of Abraham, Isaac and Jacob were glad to retain a sublime object of awe in the everlasting snows of Mont Blanc, Monte Rosa and the Matterhorn. John Tyndall, the agnostic President of the Royal Society“, fährt Kenny fort, „thus describes the view from the summit of the Weisshorn: 'An influence seemed to proceed from it direct to the soul; the delight and exultation experienced were not those of Reason or Knowledge, but of BEING: I was part of it and it of me, and in the transcendent glory of Na- ture I entirely forgot myself as man.'“ (Kenny 2004, S. 160) Ein Gemälde von Albert Bierstadt, „Sunrise on the Matterhorn“, bringt mehrere unserer The- men zusammen: Licht, Mist und Berge. Den Vordergrund des Bildes nimmt eine Gruppe von Bäumen ein. Wenn auch nicht ein derart grandioses Symbol wie das des Berges, das Bild des Baumes hat ebenfalls transzendierende Aspekte. Für Baggley ist der Baum ein Symbol für „life and spiritual growth“ (zit. nach Pattison 1998, S. 129). Gewiss kann Caspar David Friedrichs „Eiche im Schnee“ (1820er Jahre) uns als ein solches Symbol berühren. Auf eine bescheide- nere Ebene ist das Bild jeder Pflanze ein Symbol des Wachstums, aber auch des Überganges, Verfalls und der Wiedergeburt. Heinrich Rombach erblickt „in der Grunderfahrung Pflanze die fundamentale Möglichkeit der Religion“ (Rombach 1977, S. 77). Die beiden peruanischen Bil- der, die wir vor kurzem diskutierten, die Bilder, welche Bergmann mit „Mutter Erde“ verbin- det, deuten gewiss auf eine solche Verbindung. Aus dem Reichtum von Rombachs Beobachtungen seien hier zwei weitere hervorgehoben werden: Die erste bezieht sich auf das Zeitalter der Höhlenmalerei und weist auf die transzen- dierende Qualität des Höhlenerlebnisses selbst hin. „Die Höhle“, schreibt Rombach, „muß für den frühen Menschen eine tiefe Bedeutung gehabt haben, ja überhaupt die Bedeutung der Tiefe … diesen Menschen [kam es] auf den Übergang an …, auf den Wechsel … aus dem Offenen Bilder aus der Perspektive der natürlichen Theologie 301 ins Verborgene, aus dem Gängigen ins Besondere. Der Übergang war Verwandlung. Es ist unmöglich, im Labyrinth einer Höhle nicht angerührt und verwandelt zu werden.“ (Rombach 1977, S. 58 f.) Die zweite bezieht sich auf die Menhire, mit der Andeutung, daß zwischen den gewichtig-enormen Steinen und den gewichtig-enormen Gefühlen eine mögliche Parallele be- stehen könnte (Rombach 1977, S. 99 f.). Freedberg liefert eine nützliche geschichtliche Einfüh- rung in den archaischen Problemkreis der durch ungeformte oder fast ungeformte Gegenstände aus Stein oder Holz erweckten Ehrfurcht (siehe z. B. Freedberg 1989, S. 36, in Bezug auf „the felt relationship between simple and rudimentary form on the one hand and divine inherence on the other“). Die unvollständige Form weist sozusagen über sich hinaus; das Erfahren des Mangels kann gewissermaßen an sich zu einem transzendierenden Erlebnis werden. Wenn Pflanzen an Verfall und Wiedergeburt erinnern, können Blumen, ob naturalistisch oder stilisiert dargestellt, ein Gefühl der friedlichen Schönheit der erschaffenen Welt erwecken. Pat- tison weist hin auf „Monet's many series of paintings of his garden at Giverny. (…) With each treatment of the subject“, schreibt Pattison, „Monet seems to be moving further and further away from conventional concepts of imitation into the pure play of coloural presences. (…) These paintings assure us, in an irreducibly pictorial way, that the world is a good place to be, that it is holy ground, that we may trust ourselves to the particularity of our carnal situated- ness“ (Pattison 1998, S. 149). Wir sind wiederangelangt bei der Idee, dass jede echte Kunst religiös sei. An einer früheren Stelle in seinem Buch zitierte Pattison Tillich: „Expressionism (…) has a mystical, religious character, quite apart from its choice of subjects. It is not an exaggeration to ascribe more of the quality of sacredness to a still-life by Cézanne or a tree by Van Gogh than to a picture of Jesus by Uhde“ (zit. nach Pattison 1998, S. 149). Ein Baum von Van Gogh – oder gar ein Schuh von ihm. Es gibt bekanntlich eine Reihe von Bildern, die Van Gogh von Bauernschuh- paaren gemalt hat. Heidegger diskutiert sie; Freedberg druckt eines von ihnen. Abbildung 7: Vincent van Gogh, „Schuhe“ (1887). Quelle: Freedberg 302 Kristóf Nyíri Indem ich mich diesem Thema zuwende, verlasse ich das Gebiet der Naturschönheit und nä- here mich dem Abschluss meines Vortrags. Das Bild eines leeren, ungebrauchten Schuhpaares, schreibt Heidegger, würde uns wenig sagen. Van Goghs Bauernschuhe teilen indessen eine bedeutsame Botschaft mit. „Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. (…) Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. (…) In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns“, aber unumgänglich ist auch, fügt dem Heidegger hinzu, eine Andeutung des „Zittern in der Umdrohung des Todes“ dabei (Heidegger 1980, S. 18). Was Heidegger hier sagt, heißt für mich: die leeren Schuhe deuten dadurch den Tod an, dass sie etwas nicht zeigen – nämlich die Person, die sie zu tragen pflegt, oder vielleicht zu tragen pflegte. Sie weisen, um eine Wendung von Rombach zu gebrauchen, „ein Bild der Leere“ auf (Rombach 1977, S. 73). Natürlich gehört zu jedem Bild, wie dies bereits gesagt wurde, die we- sentliche Spannung zwischen dem Abwesenden und dem Gegenwärtigen. Und vielleicht ist diese Spannung nirgends extremer als im Fall von einem der fundamentalsten Bilder, oder gar des uranfänglichen transzendierenden Bildes: die Totenmaske, aus Stein oder Ton, dem verwe- senden Gesicht des Toten aufgesetzt (vgl. Belting 2001, S. 17 und 37 und das Kapitel „Bild und Tod“), von ihrem unveränderlichen Ausdruck wegweisend zu der geliebten Person, die es in dieser Welt nicht mehr gibt. Abbildung 8: Totenmasken. Quelle: Belting Bilder aus der Perspektive der natürlichen Theologie 303 Ausblick Die Voraussetzung, die ich zu Beginn meines Aufsatzes formuliert habe, war streng genom- men eine vereinfachende. Man kann durchaus behaupten, dass in der menschlichen kognitiven Entwicklung und Tätigkeit das Visuelle grundlegender als das Verbale sei. Beiden geht aller- dings die motorische Dimension vor – Muskelspannungen, kinästhetische Erfahrungen, Kör- perbewegungen (vgl. Bruner 1966). In meinem Aufsatz „Film, Metaphor, and the Reality of Time“ (vgl. Nyíri 2009a, S. 109–118) hatte ich Gelegenheit hinzuweisen auf Rudolf Arnheims 1954 erschienenes Buch Art and Visual Perception und auf seine meisterhafte Zusammen- fassung einer früheren substantiellen Forschungstradition, welche bewies, dass unseren Mus- kelempfindungen schematische innere Bilder entsprechen, Bilder der Stellung des körperlichen Selbst im Verhältnis zu dessen Umgebung (vgl. Arnheim 1954). Zu den Vorläufern seiner Auf- fassung zählt Arnheim hier auch William James, hinweisend auf dessen The Principles of Psy- chology (1890), Kapitel VI. Er hätte auch auf Kapitel XV desselben Buches hinweisen können, auf das Kapitel „The Perception of Time“, wo James zu der Behauptung kommt, dass wir Zeit- längen durch Gefühle in den Augen-, Ohren-, aber auch in den Kopf- und Nackenmuskeln usw. schätzen. Wie er sich ausdrückt: „muscular feelings can give us the object 'time' as well as its measure“. Ich finde es faszinierend, diese Behauptungen von James mit einer Passage zu vergleichen, die er in seinem The Varieties of Religious Experience formuliert: „There is a state of mind, known to religious men, but to no others“, schreibt er dort, „in which the will to assert ourselves and hold our own“ abgelöst wird von einem vollständigen Sichergeben an Gott und Vertrauen auf Gott. „In this state of mind, what we most dreaded has become the habitation of our safety… The time for tension in our soul is over, and that of happy relaxation, of calm deep breathing, of an eternal present, with no discordant future to be anxious about, has arrived.“ (James 1902, S. 47) Seit den 1980er Jahren liefert die konzeptuelle Metapherntheorie (vgl. Lakoff & Johnson 1980) immer detailliertere Beschreibungen davon, wie kinästhetische Wahrnehmungen zu sog. Bild- schemen führen. Jene Bilder in unserem Unbewussten, über welche Guardini sprach, werden anscheinend durch unbewusste motorische Erlebnisse erzeugt. Nun kommt unter den unbe- wussten motorischen Erlebnissen Augenbewegungen eine besonders wichtige Rolle zu. Meinen Aufsatz beendend, möchte ich die Aufmerksamkeit auf eine 1980 erschienene, sehr einflussrei- che Studie von Wallace Chafe lenken (vgl. Chafe 1980), in der der Verfasser eine Parallele aufbaut zwischen einerseits verbalen Prozessen und andererseits dem Sehen im Allgemeinen und Augenbewegungen im Besonderen. Wie Jana Holšánová, in die Fußstapfen von Chafe tre- tend, in einer Serie von Studien unlängst demonstrierte, bilden Augenbewegungsmuster und Denkmuster einander ab (vgl. Holšánová 2008). Was Bonaventura über unsere „sinnlich orien- tierten Geister“ sagte, dass nämlich diese „durch die sinnlichen Dinge, die sie sehen, zu den intelligiblen kommen, die sie nicht sehen können“, scheint durch die heutige führende Kogniti- onsforschung bestätigt zu werden. 304 Kristóf Nyíri Literatur Alston, William P. (1991): Perceiving God: The Epistemology of Religious Experience. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press. Aristoteles (1986): Über die Seele, übersetzt von Willy Theiler. Berlin: Akademie. Arnheim, Rudolf (1954): Art and Visual Perception. A Psychology of the Creative Eye. Berke- ley: University of California Press. Balthasar, Hans Urs von (1988): Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Bd. I: Schau der Gestalt. 3. Aufl., Einsiedeln: Johannes (1. Aufl. 1961). Barbour, Ian G. (1976): Myths, Models and Paradigms. San Francisco: HarperCollins. Belting, Hans (1990): Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: C.H. Beck. 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Instead of con- sciousness, as its original inventors may have hoped, it creates a new unconscious. It is moderni- zation’s little helper. Anyone can do it – a skyscraper based on the Chinese pagoda and/or a Tus- can hill town.” Koolhaas continues: “All resistance to postmodernism is anti-democratic. It cre- ates a ‘stealth’ wrapping around architecture that makes it irresistible, like a Christmas present from a charity.”(Koolhaas 1995). In other words: Postmodernism has become the global vernac- ular in architecture an urbanism, our new folklore. How did this happen and how should we deal with it? Acceptance of the situation is only the first step in any therapy. Fig. 1: WAM Architects, Intell Hotel, Zaandam, 2010 310 Bart Lootsma 1. Whahappened & Whodunit Thus indeed, postmodernism, as a an architectural style consisting of collages and assemblages of building elements belonging to different historical styles, and including its derivative branch deconstructivism, has become the dominating style in the world in a similar move that made capitalism the dominant political and economical operating system. Wherever one goes, be it to the remoteness of the Inle Lake in Myanmar, a country that tries to resist globalization with almost all means, or anywhere else: one is certain to find postmodern buildings. The current state of architecture seems to be torn apart between rarely brilliant and exceptional designs that stand out in their context and this context, whereby it is completely unclear, to speak with Georges Ganguilhem, what is “The Normal and the Pathological” (Canguilhem 1991). Do these aberrations teach us anything about what is normal, does the normal actually define these aberrations or should we understand them as a drug, cure or therapy (a kind of acupuncture or homeopathy then)? It has become impossible to say. The work of the artist Dionisio Gonzalez, images and videos consisting of crude Photoshop montages of postmodern structures amidst shantytowns or vernacular architecture in remote parts of the world, is therefore hardly a cari- cature or a vision: it just brings the global status quo in architecture to a point as quasi an illus- tration to The Generic City. In a world in which more than 50% of the people live in shanty- towns – a percentage that is still increasing – it is clear that individual architectural interven- tions based on appearance – in whatever style – cannot really change anything to this situation and are doomed to appear desperately lost. Remarkable is the virtual non-appearance of the recent digital architecture inspired by Greg Lynn, Asymptote, KolMac and their more manner- ist followers in this context. But when it appears, it appears in a similar manner as described above, as the Culture Village in Dubai proves. The real success of the digital age in terms of appearance until now is not to be found in the possibilities of generating new and unknown shapes, but in the worldwide presence and availability of images in the media, from printed media, film and television to Google Image Search, Flickr, Youtube and so on. New developments in the media accompanied and supported postmodernism from the very beginning. First, at the end of the nineteen seventies, its success was boosted by the sudden drop in costs of colour printing. Overnight, architectural magazines changed their dull and grey appearance as full colour portfolios replaced grainy black and white illustrations of brutalist buildings and scenes of urban decay. In the midst of a severe economical crisis, architects pre- viously unknown and with almost no built work at all were enabled to publish their painfully detailed and carefully coloured pencil drawings and paintings. With the new presence of ar- chitecture in the media something changed in its nature. Architectures traditional association with building became less obvious. “Architects don’t build, they design”, different architects and theoreticians like Robin Evans and Bernard Tschumi stated. However correct of course as an analysis of the division of labour, all of this had much further reaching consequences. Ar- chitecture became a communication medium itself in the first place. The question remaining only exactly what architecture communicates. The Style of Choice 311 “For all their differences, the architects mentioned here, Moore, Venturi, Rossi, and Ungers, share a common goal. Not only do they want to present symbolic and typological forms in the foreground purely as a way of communicating content, they also want to use them as the mate- rial of fiction, allowing a building to become a work of art once again, a ‘fair illusion’.” Hein- rich Klotz writes in an article that appeared in connection with “Die Revision der Moderne”, in 1984 the opening exhibition of the Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt and meaning- fully the largest retrospective of postmodern architecture at the time and maybe even to date. “They play an essential part in bringing about a structure not of function but of fiction. (…..) The motto of postmodernism, directed against the ‘builders functionalism’ (…) can be summa- rized thus: Not just function, but fiction.” (Klotz 1988) How detailed the drawings of many early postmodern architects were, in many cases it hardly seemed to matter whether the projects were actually built or not. In this sense, the movement was in many ways an immediate continuation of the speculative drawings of the radical archi- tecture of the nineteen fifties and sixties. Indeed, this early multimedia variant of the architect, as someone who draws, lectures, publishes, exhibits, makes films and lives from teaching has become the standard idea of contemporary practice, to such a degree even that Mark Wigley can call one of the forerunners of radical architecture, Constant Nieuwenhuys, an artist who was indeed one of the first to build up an architectural oeuvre solely consisting of drawings, paintings, models, multimedia installations, texts and lectures, a “hyper-architect”, as “Indeed, he took on and exaggerated so many traits of the architect’s typical behavior that he became more architect than any architect.” (Wigley 1998) But then, suddenly, at first almost unnoticed, the clones of the radical and postmodern archi- tects, having seen the work of the earliest generation, started to build. Today, after the building boom of the last decades, they have sprawled all over the world. The results look as if they took the lessons from Las Vegas almost too seriously. Already at the end of the nineteen eighties, Dietmar Steiner could write in Baudrillardesque manner about the city on the occa- sion of the “Heavy Dress” project of Matteo Thun, an architect and designer, member of the Italian postmodern collective “Memphis” from the first hour, who in 1987 came out with a fashion collection for buildings and skyscrapers. “Real houses are no longer under discussion.” says Steiner. “All that we see are vague silhouettes. The over-fatigued eye has been condi- tioned by the vibrating quadrature of the screen, slow and meaningless images are eliminated without reflex. Only now and then does the eye stand still, interrupting its automatized speed, begins to see and stops for the beautiful dress. This is the situation when a skeleton risks its concealed skin. This is the Heavy Dress. That is our position today. This transformation, this suicide of houses has taken place with imperceptible speed. This is happening in a unique conjuncture or architecture which was previously not possible. Architecture is in! The best architects are like opera stars, juggling with engagements and the planning of their agendas. The cities are yearning for the great magicians of their image who can be used in the advertis- ing strategies of the ‘intercommunal competition’. Everything everywhere must be more beau- tiful because nothing can be improved anymore.” Steiner continues. “Matteo Thun’s Heavy Dress Collection is the first realistic answer to the present day and future role of representa- tions in the city. It argues strongly for fashion. Fashion, the manifestation of the surface, liber- 312 Bart Lootsma ates the representations of the buildings from their one-sided application and significance.” (Steiner 1988) Today, with ever cheaper and energy efficient solutions to turn complete buildings into video screens, the facades fashion may enter a next phase. The consequences of these developments can be seen in many of the works in ‘Insiders’. Even in the buildings of Gramazio & Kohler and Hildundk, almost the most tectonic contributions to the show, we can see an emphasis on decoration and a certain pixilation in the facades – the pixels being replaced by bricks. But there is also a tendency in which buildings become more ephemeral containers for ideas. Anna Galtarossa & Daniel Gonzalez’ “Chili Moon Town Tour”, for example, is a floating installation in the form of a city block formed by skyscrapers. “Chili Moon Town is a utopian floating city of dreams that knows no boundaries.” Galtarossa & Gonzalez write. “It was born as a free city without frontiers. Its citizens do not migrate; the city itself migrates, carrying the dreams of its people.” Speaking about the ephemeral, here is a surprising return of inflatables, the icons of the nineteen seventies, in MMW’s “Kiss The Frog Gallery” and Raumlabor’s Küchenmonument. There are also teams like Interbreeding Field, who with projects like “Jello Maze” again realize psychedelic multimedia environments to train us in dealing with the bombardments coming in through our “extended faculties”, as Mar- shall McLuhan would say, in the tradition of Haus Rucker Co and Coop Himmelb(l)au (McLuhan 1964). Most certainly a next phase in architecture becoming a “fair illusion” are the parallel worlds in Second Life and the like. Stephan Doesinger’s “Bastard Space” and Speed- ism’s “Whitehouseparadise” are examples of projects that take these developments, including their superficiality and speed, as a starting point for further explorations. From the nineteen nineties on, the increasing influence of new electronic media and the Inter- net, coinciding with the explosive growth of the world’s population and the concentration of it in cities produces endless seas of built stuff, in which difference and differentiation are only perceptible on the spot but on a larger scale disappear in an endless sea of houses and build- ings. In an installation representing the 800.000 individual houses the Dutch government was foreseeing to build until the year 2005, Adriaan Geuze demonstrated already in 1995, that with such quantities any attempt at individualization would completely dissolve. We can see similar things happening in the photographs Kai Vöckler took in Prishtina and the documentations of the rooftop buildings and river boats in Belgrade by Dubravka Sekulić & Ivan Kucina. Orien- tation in the new cites and megalopolises that emerge today is only possible with the help of Google Earth and Google Maps or Tomtom. Very different from the nineteen sixties and sev- enties, when the architects’ man enemy laid in boredom and monotony created by the industrial housing production, today a similar boredom is produced on an even bigger scale by the des- perate attempts of people – not necessarily architects any longer – to produce individual ob- jects different from anything else. In his video “Thinking Hanoi” from 2009 Dionisio Gonzalez suggests the similarity between the sea with its waves and the city as a rolling back and forth in a constant movement. “The Generic City is what is left after large sections of urban life crossed over to cyberspace.” to quote Koolhaas again. “It is a place of weak and distended sensations, few and far between emotions, discreet and mysterious like a large space lit by a bed lamp. Compared to the classi- The Style of Choice 313 cal city, the Generic City is sedated, usually perceived from a sedentary position. Instead of concentration – simultaneous presence – in the Generic City individual “moments” are spaced far apart to create a trance of almost unnoticeable aesthetic experiences: the color variations in the fluorescent lighting of an office building just before sunset, the subtleties of the slightly different whites of an illuminated sign at night. Like Japanese food, the sensations can be reconstituted and intensified in the mind, or not – they may be simply ignored. (There’s a choice.) This pervasive lack of urgency and insistence acts like a potent drug; it induces a hallucination of the normal.” (Koolhaas 1995) 2. Therapies & Strategies The consequence of postmodernism being the worldwide default style is that it will never again be possible that any avant-garde will be able to reset the values in architecture and urbanism as a whole on a global scale in the way Modernism, and particularly modern architecture and ur- banism, did. One may of course argue that even Modernism never managed to do so because, how successful it may have been, there were always and immediate counter reformations that favoured local and national interests, traditions and, not in the least, straightforward monumen- tality – modern architectures biggest enemy. Avant-gardes were replaced by stardom, merely in the service of the protagonists themselves. Today however, after a period in which architecture had more resemblance with the culture industry than anything else and ‘starchitects’ could come to unprecedented fame, stars fade quicker and quicker. Students in architectural schools have forgotten the names of Pritzker Prize laureates from just a few years ago already. Probably the most fascinating contemporary publication on architecture at the moment, the BLDG BLOG, hardly deals with this kind of architecture and if it does, there is no difference in the way it is treated in comparison to other articles on the built environment. Basically, BLDG BLOG shows that the built environment is just as fascinating and spectacular without starchitects or an ‘architecture d’auteur’ (BLDG BLOG 2010). Roland Barthes’ demand for the “death of the author”, a position defended by the sword by many architects and theoreticians (who at the same time present themselves proudly on paparazzi-like snapshots casually folded into the highbrow ‘Log’ magazine), is happening just by itself in the sense that signature architecture is drowning in the sea of images that surrounds it (Barthes 1977). This architecture, the architecture that makes out Generic City, is therefore in many ways our new vernacular, our contemporary “Architecture without Architects”. Thirty years after Laurids Ortner’s essay we seem to need again something like a new “Am- nesty for constructed reality”. In 1978, after more than ten years of wild and fantastic experi- mentation with the Austrian collective Haus Rucker Co, of which he was a founding member, Ortner wrote: “The discussion about our constructed environment has become primarily a problem of aesthetic judgement. It is the visually perceptible criteria, far more than the factors of physical threat, which give us difficulty: what we can generally observe as our environment is characterized by adjectives which, according to their level of sophistication, vary from emo- tionally loaded words such as ‘ugly’, ‘dreary’ and chaotic to so-called objective terms as ‘inac- 314 Bart Lootsma cessible’ and ‘monotonous’.” Basically, nothing has changed since then: architecture is still mainly judged on its visible appearance. The only thing is that the postmodern regime seeded some more colour. Ortner’s manifesto-like conclusion that “it will be necessary to accept the totality of this unpleasant reality and to deal with further development with an unprejudiced state of mind” and that “the trivial potential present here is the raw material from which the culture of the new epoch will be made”, still stands (Ortner 1986). Koolhaas’ “The Generic City” is a text written fifteen years ago as a detournement of Guy Debord’s “The Society of the Spectacle” – including a treatment for a film at the end (Debord 1994). Instead of Debords complaints and critique, communicated in a depressive voice-over in his film, Koolhaas suggests, to “switch off the sound (…) and reverse the film”. People now stumble backward, leaving the chaotic market scene that they had originally built up, “probably complaining, but fortunately we don’t hear them”. “Silence is now reinforced by emptiness: the image shows empty stalls, some debris that was trampled underfoot.” Koolhaas style of cri- tique is known as hyperconfirmation, a “Fatal Strategy” in the words of Jean Baudrillard (Bau- drillard 1983). Still it is clear that for now Koolhaas wants us to forget about the market, capitalism and all artificial excitement that belongs to it and focus on essences that lay behind it and that may appear as a kind of temporary Pompeii – one of his all-time favourite referen- ces. The architects exhibited in ‘Insiders’ accept the new conditions in which architects have to work and their much more humble role in it to a large degree. They work with the raw material of the city and its debris in many different ways. Their style of choice is a choice of style as in choosing from a catalogue, choosing in a shop or selecting a television channel or website. Alexander Brodsky builds his “Vodka Pavillion” completely out of used windows, for exam- ple, and Richard Greaves manic production of totems and houses – that appear as a mix be- tween Buster Keaton’s house in “One Week”, Kurt Schwitters’ “Kathedrale des erotischen Elends” and the architecture in the “Kabinett des Dr.Caligari – seems to be completely built from waste and garbage. “Harbour me, Celia!”, the conversion of a Bavarian farm house by Peter Haimerl, takes up the Smithson’s “As Found” principle by building the new house in the existing ruin. The view the participants in ‘Insiders’ have on the city is largely defined by perception through the media. Even the authenticity of the old farmhouse “Harbour me, Celia!” is presented in ironical photographs remembering of lifestyle magazines, with a woman reading a book in an uncomfortable pose as if she is praying and walking through the door as if she is drunk with a vase on her head. Fujimori Terunobu’s “Tagasugi-an” or “Too-High Tea house” reminds, how poetic and fairy-tale-like it may appear between the cherry blossoms, of the Efteling, the fairy tale park in a forest in the Netherlands designed by Anton Pieck in the early nineteen fifties, that was apparently the inspirational source for Disney to build Disneyland. Thereby, the position of the ‘Insiders’ is further and further removed from both the utopianism and the bitter criticality of the generations before them. Instead they display attitudes that range from euphoria and irony over therapeutic to a sheer acceptance or ‘Gelassenheit’. Their work shows indeed in many ways a kind of amnesty for both constructed and virtual reality. The Style of Choice 315 Understanding and accepting a situation is the best starting point to begin working and im- proving it. Still, beyond the reuse and transformation of the everyday and beyond a general amnesty there are other layers that could and should be addressed. There are other fields that define architecture in which changes and improvements are very well possible, desirable and necessary: politics, financing, distribution, organization, in short: everything that runs mega- lopolis behind the scenography the postmodernist city presents us with. Architecture and urbanism are not just about aesthetics and experiences but, in the first place, organize stuff, people and material in hopefully intelligent ways. There are however few of- fices in this exhibition that show an active and further reaching ambition in this field. Grama- zio Köhler organize building process using robots. Crimson seems the only practice with an interest in organizing the city on a larger scale and on a deeper level that involves urban plan- ning, governance and everyday municipal politics. But Gramazio & Kohler use robots too much as a tool in the service of ideas or ideals of other architects – and often rather conserva- tive ones – instead of really going to the bottom of what the computerization of the building process could mean in our society. Crimson’s attitude remains too ad hoc and curatorial, choosing different architects (NL, FAT) and urban planners (MaxWan) to achieve their rather eclectic goals. They present their WIMBY! IBA project in Hoogvliet in a panorama that shows striking similarities with Dionisio Gonzalez’ photomontages. Many of the offices in ‘Insiders’ look at exemplary practices from the second half of the twen- tieth century, particularly the history of radical architecture from the nineteen sixties and sev- enties like Archigram, Archizoom, Ant Farm, Haus Rucker Co, early Coop Himmelb(l)au, the Whole Earth Catalogue, Global Tools, Memphis and Alchymia. In all their playfulness, it is not probable however that they have the same investigative goals as their predecessors. There is a ‘retro’ aspect in the countless quotes of radical architecture. They are drenched in irony and melancholy, the architects obviously realizing that radical architecture – whether it was carelessly positive or critically dark – appeared against the background of a period of naive optimism based on an unprecedented economical and technological growth that is forever gone. The first report of the Club of Rome from 1972 followed – and thus underlined – by the first oil crisis of 1973 put an end to it, thereby also largely ending the era of radical architec- ture. Today, we are even more aware of the environmental threats that were announced in that period. But with these quotes or radical architecture we can at least temporarily revive some of the hope of the period and withdraw in its comfort – or see if there are still hidden opportuni- ties in it. 3. Conclusion Das There are also new tasks and challenges for architecture and urbanism. The need for more sustainable lifestyles presents some of those. The others arise as consequences of the postcolo- nial era. Globalization does not just consist of increasing flows of people, data, money and goods all over the world. It also means that we cannot blend out the increasing percentage of settlements in the world that consist of shantytowns any longer. They are part – and with over 50% of the world population living in them a large an ever increasing part it most certainly is – 316 Bart Lootsma of the context of architecture. Therefore it is unavoidable that architecture and urbanism will have to rethink their roles in the world, putting themselves in the service of the people who live there. Large-scale modernist housing programs, like they were still successful in Hong Kong and Singapore in the nineteen fifties and sixties, are not possible any more today because the immense investments needed. Looking at the increasing amount of quasi temporary camps in our cities – the refugee centres, the homeless sleeping in tents in Paris and in the United States, the Roma in Italian cities, the victims of earthquakes in Italy and Turkey, the victims of Katrina in New Orleans; or looking at the explosive increase of informal settlements in Turkey and in the former Yugoslavian countries, etc., etc. – this context inevitably comes closer and closer. Retroactive legalisation of illegal and informal extensions of cities, as largely financed by institutions like the World Bank and the European Union, is an unavoidable task. It is how- ever only the first step in the direction of another form of mental amnesty that will allow us to start working on them in proactive ways. More than any other historical example, today Otto Neurath and the Viennese Settlement Movement from the period immediately after the First World War might help us to find new perspectives for dealing with this situation. In 1919, Vienna was in a desperate state and hun- dreds of thousands of families, both from outside the city and from the city itself, sought refuge around allotment gardens and in the periphery to avoid starvation by growing their own food. “For many observers of the city, these Zigeunersiedler or ‘gypsy settlers’ were the ideal citi- zen-planners in that they relied on know-how and instinct, utilizing everything around them, from urban refuse to trees and captured prey, in order to assure their survival. They illustrated the power of community as an agent of urban reform, and as a force that had the potential for improving life in the metropolis more broadly.”(Vossoughian & Neurath 2008). The governing Social Democratic Party accepted and supported this movement from the beginning, as it knew it could never afford any collective infrastructure. As a key player in the Austrian Settlement and Allotment Garden Association, the Public Utility Settlement and Building Material Corpo- ration (GESIBA), the Settlement, Housing and Construction Guild of Austria and later on the Research Institute for Gemeinwirtschaft, Neurath looked for a “Converse Taylor System”, in which he tried to combine ‘bottom up’ and ‘top down’ strategies borrowed from industry (Vossoughian & Neurath 2008). As long as Neurath could, he maintained an economy in kind, in which people paid for their houses by performing collective duties, for example building roads. Architects like Adolf Loos, Margarethe Schütte-Lihotzky and many others were also involved in this ambitious and successful undertaking, which unfortunately disappeared into oblivion after the nineteen thirties, when Neurath and his friends were obliged to seek refuge outside of Austria. Information and communication, in the form of newspapers and exhibitions were a crucial aspect of Neurath’s approach. Together with the artist and graphic designer Gerd Arntz he developed Isotype, a sign language that allowed communicating statistical data about the city – and later on about the world- in a simple and striking way, in order to make the citizens under- stand the complex organization of their city. The Style of Choice 317 In this exhibition, EqA’s study of the PREVI Experimental Housing Project in Lima, Peru, one of the most ambitious housing projects ever realized, with the participation of famous archi- tects like Aldo van Eyck, Charles Correa, James Stirling, Christopher Alexander, and Atelier 5, Candilis, Josic and Woods, among others, is the only project that consciously deals with such themes. EqA show how, similar to the projects by Candilis, Woods and others in Casablanca in Morocco, the inhabitants continue building and expanding their property in the course of time once they have been provided with the basic house as a starting capital. Communication may also be a key issue today. Whoever has visited shantytowns, has been struck by the immense amount of satellite dishes. Mobile telephones and mobile computing are, even if often still unaffordable for many, opportunities for the inhabitants these cities, as they demand far less investments in infrastructure than traditional communication systems. In these almost inevitably chaotic cities, GPS offers the next potential for orientation. Innovations in production are still possible and necessary, if not necessarily only in the form of CAD CAM processes which, replacing mass production by mass customization, has retained too many of the values and goals of the industrial society. The improvised structures of textile industry in Turkey, with their just-in-time organization, seem to offer serious alternative for mass production in Asia. All of his has not immediately to do with either the appearance of buildings and city quarters or with building styles. “There is a choice,” Koolhaas remarks almost between the lines of “Ge- neric City” (Koolhaas 1995). Our style of choice should be a different lifestyle. It will hardly be a choice, by the way. References Koolhaas, Rem (1995): The Generic City. In: O.M.A.; Koolhaas, Rem & Mau, Bruce: S,M,L,XL. ed. by Jennifer Sigler. Rotterdam: 010 Publishers. Canguilhem, George (1991): The Normal and the Pathological. New York: Zone Books. Klotz, Heinrich (1988): The Revision of the Modern. In: Kossmann, Herman; van der Lugt, Reyn & Bos, Nina (eds): De Collectie: Architectuur 1960-1988. Rotterdam: Veen Reflex. Wigley, Mark (1998): Constant’s New Babylon: The Hyper-Architecture of Desire. Rotterdam: 010 Uitgeverij. Steiner, Dietmar (1988): The Heavy Dress. Forum 32-01, 1988. McLuhan, Marshall (1964): Understanding Media: The Extensions of Man. New York. BLDG BLOG (2010): URL: [Accessed 14 September 2010]. Barthes, Roland (1977): The Death of the Author. In: Barthes, Roland: Image-Music-Text. 318 Bart Lootsma Ortner, Laurids (1986): An amnesty for built reality. Forum 31-1, 1986. Debord, Guy (1994): The Society of the Spectacle. New York. Baudrillard, Jean (1983): Les Strategies Fatales. Paris: Grasset & Fasquelle. Vossoughian, Nader & Neurath, Otto (2008): The language of the Global Polis. Rotterdam: NAi Publishers. h-aussprache – gebaute konstruktionen und wie sie kommunizieren Monika Abendstein, aut.architektur und tirol Zusammenfassung Der Beitrag fasst einige Überlegungen zum Thema „Visuelle und soziale Kompetenz in der Architektur“ zusammen, wie sie beim Medientag 2009 im Rahmen eines Workshops präsentiert worden sind. Er zeigt einen alternativen Weg der Architekturvermittlung auf, bei dem nicht der Betrachter oder der Verfasser von Architektur beschreibt und erklärt, sondern das Gebäude selbst zum Protagonisten wird. So können mittels spielerisch fantasievoller Zugänge Einblicke in die Gestaltungswelt der Architektur verschafft werden. Architektur ist nur dann für uns interessant, wenn diese etwas Essenzielles an sich hat. Das Be- sondere zu erkennen, herauszufiltern und benennen zu können – d.h. Verständnis für die archi- tektonischen Zusammenhänge in unserer gebauten Umwelt und deren Gestaltbarkeit zu be- wirken, darin liegt die Aufgabe der Architekturvermittlung. Neben den theoretischen, abstrakten Aspekten in der Architektur ist vor allem auch der indivi- duelle, emotionale Zugang entscheidend. Das eine wird durch die Schulung von wissensba- sierenden Inhalten erreicht, das andere durch eine konkrete Schulung unserer Wahrnehmungs- möglichkeiten. Im Workshop „h_ aussprache – gebaute Konstruktionen und wie sie kommunizieren“ liegt der Schwerpunkt im Verbinden von visuellen und sozialen Kompetenzen im Bereich der Archi- tektur. Die angewandte Methode dazu besteht im Entwickeln einer speziellen Geschichte, in der die Häuser als Protagonisten eine Rolle spielten. Dadurch wird die Architektur personifi- ziert, die gebauten Räume bekommen eine Stimme, mit der sie über ihre Befindlichkeiten Aus- kunft geben können. Indem Bauwerke wie Personen agieren, argumentieren und wahrgenommen werden, verstehen wir ihren Charakter besser und erkennen wie selbstverständlich ihre Rolle im kollektiven Umfeld. Inhalte über historische, stilistische, konstruktive bis hin zu sozialen Aspekten lassen sich so in verständlicher Sprache vermitteln, mehr noch – dem Betrachter wird ein komplexes Verständnis von architektonischen Zusammenhängen ermöglicht. workshopinhalt: h-aussprache „zwischen den Zeilen lesen können“ – in der Vermittlung von Architektur heißt es vielmehr „zwischen den Bildpunkten sehen können“ um die Komplexität des Gebauten zu verstehen. 320 Monika Abendstein Man kann Architektur beschreiben, skizzieren oder plangrafisch darstellen, modellhaft, fil- misch, render- oder fototechnisch erklären, man kann sie sogar durchwandern und ertasten und sie so auf ganz einfache Art als Nutzer oder nur Betrachter verstehen. Will man sie aber tiefer begreifen, bedarf es einer vielschichtigeren Wahrnehmung als der rein visuellen. Dieser Workshop befasst sich mit einem gänzlich anderen Weg in der Architekturvermittlung. Nicht der Betrachter oder der Verfasser von Architektur beschreibt und erklärt, sondern das Gebäude selbst wird zum Protagonisten, um seine Befindlichkeiten und sein Selbstverständnis innerhalb seiner Umwelt darzulegen. Ein spielerisch fantasievoller Zugang verschafft uns Ein- blick in die Gestaltungswelt der Architektur mit historisch, stilistisch, sozialen, technisch, for- mal, funktional und politisch relevanten Bezugspunkten. Im Workshop wurde ein Storybook mit Fotogeschichten zu, von und mit Häusern entwickelt. Abbildung 1: im Diskurs mit dem Umfeld Abbildung 2: Rivalitäten untereinander Abbildung 3: zwei Türme im Dialog Abbildung 4: Form und Wirkung h-aussprache – gebaute konstruktionen und wie sie kommunizieren 321 Abbildung 5: Studenten im Workshop Literatur Hochhäusl, Sophie; Mayer, Alex & Skone, James K. (2006) Pinsel, Paula und die plaudernden Häuser. Wiener Architektur für kleine & größere Menschen. ÖBV & HPT: Wien. Entschleunigung des Sehens Georg Vith Zusammenfassung Die Camera obscura besteht aus einem vollständig verdunkelten Raum. Durch eine kleine Öff- nung dringt Licht von außen ins Innere des Raumes und projiziert eine Kopf stehende Abbildung des Außenraumes an die gegenüber liegende Wand. Erst nach Gewöhnung an die Dunkelheit kann der Besucher diese Abbildung allmählich erkennen. Das „Warten auf ein Bild“ führt zu einem intensiven Wahrnehmungserlebnis. Das Bild in dieser Camera obscura wandelt sich ständig. Es ist abhängig von der Situation des Innenraumes und den Lichtverhältnissen außen – das Wetter ändert sich, der Wind bewegt die Bäume, Passanten gehen vorüber. Aber auch die Personen selbst, die sich im Inneren des Raumes befinden, können interagieren und mit „Bilderfängern“ (z.B. weißen Leinwänden) bestimmte Bildausschnitte einfangen und hervorheben. Die Camera obscura ermöglicht ein Sehen in Zeitlupe, sie schafft eine gewisse Distanz zum Wahrgenommenen, wirkt der visuellen Reizüberflutung entgegen und führt zu einer „Entschleu- nigung der Wahrnehmung“. Camera obscura Die Funktionsweise der Camera obscura wurde schon im 10. Jahrhundert durch den arabischen Physiker Ibn al Haitham dokumentiert. Im 13. Jahrhundert benutzten Roger Bacon, John Peck- ham und Guillaume de Saint-Cloud die Guckloch-Camera obscura zur Beobachtung von Son- nenfinsternissen. Das Prinzip ist einfach: wenn durch ein kleines Loch Licht in einen völlig abgedunkelten Raum fällt, werden die Konturen der Außenwelt auf der gegenüberliegenden Wand auf den Kopf gestellt und spiegelbildlich verkehrt abgebildet (Hörisch 2001, S. 235). Giovanni Battista della Porta beschrieb die Camera obscura 1558 ausführlich in seinem Buch „Magia naturalis“. Von ihm stammt die Idee, in die Öffnung eine Sammellinse zu setzen, um die Bildqualität zu steigern. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts leistete die Chemie ihren Beitrag zum Fixieren von „Lichtbildern“. Chemikern und der Entdeckung der Lichtempfindlichkeit von Silbersalzen ist es zuzuschreiben, dass von Objekten reflektierte Lichtstrahlen eingefangen und festgehalten werden können (Barthes 1989, S. 90). Dies war der Startschuss für einen bis heute ungebrochenen Boom zur Ablichtung unserer sichtbaren Welt. Digitalisierte Bilderwelt Die Welt der Fotografie bewegt sich längst nicht mehr zwischen jenen beiden Polen der Ver- schönerung und der wertfreien Wahrhaftigkeit, wie sie Susan Sontag beschrieben hat. (Sontag 1989, S. 85). Durch die Möglichkeit der digitalen Verarbeitung und Verbreitung im Internet sind Fotografien zur täglichen Begleiterscheinung geworden, sie beeinflussen unseren Alltag Entschleunigung des Sehens 323 massiv. Was uns nicht mehr freisteht, ist, die Dominanz der technischen Bilder über die künf- tige Gesellschaft in Frage zu stellen (Flusser 2007, S. 136). Bilder haben u. a. ihren dokumen- tarischen Charakter und ihre Glaubwürdigkeit verloren. Aus diesem Grund ist es wichtig, jede Möglichkeit zu nutzen, neue Zugänge zu Bildern zu finden, um diese letztendlich zu hinterfra- gen und neu lesen zu lernen. Bildlesekompetenz ist mehr denn je gefragt (Gschwendtner- Wölfle 2007, S. 8). Die Camera obscura bietet den BesucherInnen den Vorteil, die fotografi- sche Abbildung in ihrer Entstehung beobachten zu können, sie transportiert das System der Fotografie auf eine begreifbare und verständliche Ebene. War die Camera obscura seit dem 15. Jahrhundert mit ein Auslöser für die zunehmende techni- sche Beeinflussung unseres Sehverhaltens, so kann heute mit demselben Prinzip diesem verän- derten Sehverhalten entgegengesteuert werden. Der Besucher einer Camera obscura lernt, auf seine eigenen Eindrücke zu hören, darauf zu vertrauen und Fragen zu stellen. Durch das Prin- zip des Wartens und der damit verbundenen Langsamkeit bietet die Camera obscura einen praktikablen Ansatz, Bilder lesen und damit auch sehen zu lernen. Kann die Camera obscura als Auslöser für die aktuelle Bildüberflutung gesehen werden, so bietet sie ebenso die Mög- lichkeit, der globalen Bilderflut durch die Verlangsamung des Sehprozesses entgegenzuwirken. Der erste Schritt in das Innere der Kamera ist durchaus vergleichbar mit einem vorläufigen Rückzug aus unserer überfüllten Bilderwelt. Die Camera obscura durchbricht die Sehgewohn- heit und verhilft, die visuelle Wahrnehmung an ihrem Ursprung – dem reinen Reiz – zu erfah- ren (Ullrich 2003, S. 63). Konstruktion des Raumes Zur Installation einer Camera obscura als begehbare Kamera benötigt man einen Raum mit Fenster. Die Situation eines jeden Raumes ist durch seine Größe, Lage, Inneneinrichtung, Verwendung, Ausrichtung und durch seine äußere Umgebung eine jeweils besondere. Für den Workshop zur Visuellen Kompetenz beim Medientag der Universität Innsbruck diente ein Baucontainer als Kamera (Abb. 1 und 2). Abbildung 1 und 2: Baucontainer als begehbare Kamera, Karl Rahner Platz, Innsbruck, 2009. 324 Georg Vith Die Vorbereitungen sind einfach zu bewerkstelligen. Mit Karton, Folien oder einem anderen lichtundurchlässigen Material werden sämtliche lichtdurchlässigen Öffnungen vollkommen abgedunkelt. An einer passenden Stelle wird ein Loch in der Größe von 8-10 mm eingeschnit- ten. Durch dieses Loch gelangt gezielt Licht in das Innere des Raumes. Nach einer gewissen Zeit des Wartens (10-25 Minuten) beginnt sich an der dem Loch gegenüberliegenden Wand allmählich ein Bild abzuzeichnen (Abb. 3 und 4). Was Susan Sontag als Fußabdruck oder Aufzeichnung einer Emanation bezeichnet (Sontag 1989, S. 147), wird hier zu einem visuellen Spaziergang. Abbildung 3 und 4: Ein Blick in das Innere des Containers ohne und mit Projektion, Karl Rahner Platz, Innsbruck, 2009. Ausnahmezustand Die BesucherInnen des Containers sehen zunächst nichts, zudem sind die Geräusche aus der Umgebung nur gedämpft oder schwach vernehmbar. Die absolute Finsternis bringt sie rasch in das Hier und Jetzt der Camera obscura und schneidet sie abrupt aus dem Alltag. Über die Brü- cke der Dunkelheit entsteht in den Gästen der obskuren Kammer Verunsicherung und in der Folge der Wunsch nach Orientierung. Die Ausnahmesituation schärft die Augen, die Zone der Nacht schützt diese, bis nach längerem Warten ein Bild an den Wänden des Raumes auftaucht. Die Augen benötigen Zeit, um sich an die ungewohnte dunkle Umgebung anzupassen, bis zu dreißig Minuten kann dieser Adaptationsprozess anhalten (Silbernagl 1991, S. 306). Das Auge wird gleichsam zum Vermittlungsorgan inszenierter affektiver Erregungen (Busch 1989, S. 38). Busch vergleicht die Camera obscura mit einem Höhlenraum, der ein merkwürdiges und phantastisches Nachbild der Welt liefert. Nach ihm ist dieser Raum vom Diktat eines Pro- jektionsmechanismus organisiert, einer beinahe kinematografischen Vorstellung, die dem ge- bannten Zuschauer nur eine Blickrichtung zuerkennt: die Aussicht auf die Schattenbilder eines Entschleunigung des Sehens 325 Abbildung 5: Aufnahme aus dem Inneren des Containers 180 Grad gedreht, Projektion der Außenwelt an den Wänden, die Bodenfläche des Containers ist oben zu sehen. Wirklichkeit 2. Karl Rahner Platz, Innsbruck, 2009. hinterrücks sich vollziehenden Geschehens (Busch 1989, S. 15). In Zeitlupe legt sich die Projektion der Außenwelt wie eine Bild-Haut auf das Innere des Raumes, Innen und Außen treten in einen Dialog. Zwei Bildwirklichkeiten überlagern sich: die BetrachterInnen, die sich im Container befinden, sehen eine Verschmelzung von Innenraum und Außenraum. Diese 326 Georg Vith Situation bezeichnet Christian Doelker als Wirklichkeit 1. Das bildliche Festhalten des Raumes mit Projektion durch einen Fotoapparat wird zur Wirklichkeit 2. Sie zeigt ein Abbild der real empfundenen Situation. Es ergibt sich eine neue Bildwirklichkeit (Vith 2003, S. 176). In der Durchbrechung der gewohnten Wahrnehmung beginnen die BesucherInnen die Situation im Raum mit seiner Bildprojektion neu zu buchstabieren, sie werden zu Detektiven. Sehen in Zeitlupe In der Zwischenzeit reagiert der Organismus auf geringste Lichtschwankungen oder Bewegun- gen. Die langsame Bildentwicklung setzt einen Prozess des Beobachtens in Gang. Beim War- ten auf Bilder entstehen diverse Fragen (Vith 2003, S. 177): • Weshalb sehen wir ein Bild an der Wand? • Warum steht es auf dem Kopf? • Was ist zu sehen? • Muss ich beim Schauen unbeweglich bleiben? • Weshalb sieht man das Bild nicht unmittelbar? • Warum muss man warten? • Funktioniert das Bilder-Sehen überall? • Was ist für die Installation notwendig? • Auf welche Details muss man achten? • Wann haben Sie zum letzten Mal ein Bild 20 Minuten betrachtet? • Weshalb sieht man Bewegungen? • Kann man die Projektion aufhellen? • Welche Rolle spielt die Größe des Loches? • Funktioniert dieses Prinzip in jedem Raum? • Wie verändert sich das Bild bei einem größeren bzw. kleineren Loch? In der absoluten Dunkelheit des Raumes werden triviale Bilder so zu einem spannenden Erleb- nis und eröffnen Diskussionen. Sie verlangen nach Entzifferung und werden in ihrem langsa- men Erscheinen geradezu buchstabiert. Dieses Lob an die Langsamkeit funktioniert einfach und ist je nach Situation unterschiedlich: die Lage des Raumes, dessen Dimension und Innen- einrichtung, Tages- und Jahreszeiten, Lichteinfall, Wetter und die Distanz von Objekten erzeu- gen sehr unterschiedliche Bildeindrücke. Keine Situation ist mit anderen vergleichbar. Die Position des Loches und dessen Durchmesser sind die bestimmenden Parameter für das Bild im Innenraum. Die Begegnung mit diesem Projektionsprinzip entführt die BesucherInnen über Fragen hinaus zum Experimentieren. So bieten sich z.B. durch die Bewegung im Raum unterschiedliche Wahrnehmungsstandpunkte und damit eine differenzierte Wahrnehmung des Raumes mit sei- ner Projektion. Durch das Aufstellen von Staffeleien können Bildteile herausgefiltert und gleichsam in einen Kunst-Kontext überführt werden (Abb. 6). Entschleunigung des Sehens 327 Abbildung 6: Experimente mit Bildausschnitten, Camera obscura, University of Lapland, Rovaniemi, Finnland, 2001. Mit Papieren, Leintüchern oder anderen Materialien können individuelle Ausschnitte aus der Projektion herauskristallisiert und auf ihre Besonderheiten hin untersucht werden. Ein beweg- barer Bild-Fänger erlaubt auch, den Abstand des Bildes zum Loch zu verändern und auftau- chende Unterschiede wie Helligkeit, Schärfe, Unschärfe und Bilddetails zu beobachten. Durch Veränderung der Lochgröße und dessen Position können unterschiedliche Bildprojektionen erzeugt werden. Diese Entdeckungen bringen die BetrachterInnen zurück zum Ursprung und den bestimmenden Elementen der Fotografie. Innere Bilder Das Warten auf Bilder braucht Zeit. In dieser Zeit ist man zunächst abgeschnitten vom Außen- raum, isoliert von der Umgebung. Das Warten erzeugt gleichsam eine Erwartungshaltung. Man staunt über das langsam aus der Dunkelheit auftauchende Bild. In der Zwischenzeit enthüllt sich nicht nur der bildhafte Schleier an den Oberflächen des Innenraumes, sondern auch im Inneren der BetrachterInnen entstehen Bilder. Innere Befindlichkeiten geben ihnen Raum zum Nachdenken über das Hier und Jetzt und über die Situation im Raum: man ist selber zum Teil 328 Georg Vith des Bildes geworden, Projektion und Gedanken werden zum Spielball, man findet sich im Zwischenraum wieder, der durch die Klammern aus Innenraum und Projektion bestimmt wird. Man erlebt Innenraum und Außenraum und sich selber dazwischen (Abb. 7). Der vollständig abgedunkelte Raum, der nur punktuell Licht ins Innere einlässt, kombiniert nach längerem Warten verschiedene Ebenen der Sichtbarkeit, macht aus zunächst fast unsichtbaren Positionen ein Netzwerk an sichtbaren Bruchstücken. Innen- und Außenwelt treten in Verbindung, werfen Fragen auf und schaffen dadurch eine Ebene des Seins. Der Raum bietet einen breiten Spiel- raum des Entdeckens und er erzählt Geschichten in unendlicher Form, determiniert durch Zeit, Ort und Situation. Der Betrachter entwickelt sich zum Entdecker der eigenen Wahrnehmung. Durch eine ständige Veränderung der Außenwelt ist die stete Unfertigkeit eine bildimmanente Gegebenheit. Lob der Unschärfe So wie Wolfgang Kemp die Aufgabe von Leerstellen in der Kunst des 19. Jahrhunderts als „gedachte Scharniere des Schauens“ beschreibt (Kemp 1992, S. 315), übernimmt die Un- schärfe die Funktion der Lenkung. Abbildung 7: BetrachterInnen im Raum werden Teil des Bildes und können interagieren, Camera obscura, Silvrettahaus, Bielerhöhe, 2002. Entschleunigung des Sehens 329 Geben Amateurfotografen unscharfe Bilder als Ausschuss zurück, ist hier die Unschärfe als fixer Bestandteil zu sehen und trägt ihren Teil zur Indiziensuche im entstandenen Bildraum bei. Dabei kommt der Unschärfe insofern eine Schlüsselrolle zu, als sich von ihr aus sowohl die Tradition des Illusionismus als auch die moderne Verweigerung von Abbildlichkeit reflek- tieren lässt: in der Unschärfe changieren nicht nur die Bildsujets, sondern die Erwartungen an das Bild selbst (Ullrich 2003, S. 102). Heinrich Kühn beschreibt diesen Effekt in seinem Buch „Die Technik der Lichtbildnerei“. Unscharfe Linsen löschen Details und erzeugen ein Streben nach Einheit, unkorrigierte Linsen sieht er als Ideal und geeignetes Instrument, das Aussehen innerer Bilder zu simulieren. „Die Unschärfe wird dieser Synästhesie insofern gerecht, als sie gerade kein Maximum an optischen Informationen bietet und die Sujets ihrer Individualität beraubt“ (Ullrich 2003, S. 75). Die Unschärfe verlangsamt den Blick, da Objekte nicht sofort und offensichtlich erkennbar sind. Unschärfe fokussiert gleichzeitig den Blick und verleitet die BetrachterInnen zum Wandern über das Bild. BesucherInnen der Camera werden in einen ununterbrochenen Moment der Betrachtung geführt (Ullrich 2003, S. 59). Die dunkle Kammer wird so zur Kammer der Erleuchtung, zur Kammer der Einsicht. Die gezielte Manipulation durch das Loch eröffnet neue Felder des Sehens, die „Reduktion“ führt gleichzeitig zur Er- weiterung des „Sehfeldes“. In dieser Funktion wird sie zum Instrument und Moderator für Dialoge über die Bildwelt. Im Erkennen der Entstehungszusammenhänge verschafft man sich Klarheit über Bildentstehung und Bildmanipulation. Bilder entdecken ist ein Prozess, Bilder lesen ist ein Prozess. Hier in diesem Raum wird dem Bilder-Lesen eine besondere Aufmerk- samkeit geschenkt. Der Raum wird zum Bilderraum während der Zeit, in der man sich in ihm aufhält (Vith 2003, S. 179). Die Camera obscura als Zeichenkamera Eine andere Form der Camera obscura ist die so genannte Zeichenkamera. Im späten 17. Jahr- Abbildung 8 und 9: Zeichenkamera. Linse und Umkehrspiegel erzeugen auf einer Mattscheibe ein aufrechtes und seitenverkehrtes Bild. Auf der Mattscheibe liegt ein Transparentpapier, auf diesem wird gezeichnet. Museo Nationale Fratelli Alinari, Florenz, 2008. 330 Georg Vith hundert konstruierten F. Risner und A. Kirchner eine tragbare Kamera, die sie Künstlern als Mal- und Zeichenhilfe empfohlen. Dabei handelte es sich um eine Box, die mit Linse, Um- kehrspiegel und Mattscheibe ausgestattet war. Lichtstrahlen dringen durch die Linse ins Innere der Box und werden über den Spiegel nach oben umgelenkt. Auf der Mattscheibe entsteht dadurch ein aufrechtes und seitenverkehrtes Bild. Die handliche Zeichenkamera, auf deren Mattscheibe transparente Papiere aufgelegt und Konturen durchgepaust werden konnten, fand im 18. Jahrhundert weite Verbreitung. Mit ihrer Hilfe fertigte man Silhouettenportraits und perspektivische Veduten. Canaletto und F. Guardi bedienten sich derartiger Zeichenkameras zur Konzeption ihrer Städtebilder. Der Einfluss der Zeichenkamera auf Künstler in dieser Zeit ist unübersehbar, durch die Erfindung der Fotografie verlor sie jedoch als Instrument des Ab- bildens ihre Bedeutung (Vith 2009, S. 97). Verlangsamung des Sehprozesses Die Zeichenkamera erfährt in der derzeitigen Situation eine neue Bedeutung. Da sie ja nicht mehr unbedingt zum Zweck der Wirklichkeitsabbildung herhalten muss – das hat die Fotogra- fie übernommen – öffnen sich für ihren Einsatz neue Räume. Sie bietet eine selbständige An- eignung von visuellen Eindrücken, sie bietet eine Verbindung von Sehen und Zeichnen, sie ist ein praktisches Hilfsmittel zum Skizzieren. Ihre Stärken liegen in ihrer Handlichkeit. Sie er- möglicht, ohne Gesichtsverlust zu zeichnen, man kann nicht scheitern, man muss nicht begabt sein. Wer sehen und schreiben kann, kann auch zeichnen (Vith 2007, S. 45). Die Zeichenkamera kann ebenso zur Suche nach bestimmten Bildausschnitten verwendet wer- den. Mit ihr kann durch Wahl ganz bestimmter optischer Reize die Beobachtung geschult wer- den, indem man Teilaspekte der Bilderwelt bewusst auswählt: Glanzlichter, dunkle Stellen, bestimmte Farben, Formen oder Strukturen. Auf diese Art und Weise bietet sie die Möglich- keit, optische Eindrücke schrittweise zu erarbeiten, sie funktioniert als intensive Schule des Sehens und Entdeckens. Mit ihrer Hilfe entstandene Skizzen zeigen unterschiedliche Abbil- dungen eines projizierten Umraumes auf einer zweidimensionalen Zeichenebene. Das auf- rechte, aber seitenverkehrte Bild lenkt den Blick in eine andere Dimension, Schärfe und Un- schärfe setzen einen Filter zwischen Beobachter und Objekt. Die Zeichenkamera funktioniert gleichsam wie ein Übersetzer eines Wahrnehmungserlebnisses und führt den Betrachter in eine tiefere Wahrnehmungsebene. Ganz anders als Susan Sontag das Fotografieren als seine „Form der Verweigerung von Erfahrung“ beschreibt – „indem diese auf die Suche nach fotogenen Gegenständen beschränkt wird und Erfahrung in ein Abbild, ein Souvenir verwandelt“ (Sontag 1989, S. 15), durchbricht die Zeichenkamera durch die Verlangsamung des Abbildungsvor- ganges die Souvenirjagd. (Abb. 8–12). Sie verhilft zum Sehen in Zeitlupe. Das langsame Suchen und Nachzeichnen von ausgewählten Bildteilen macht den Sehvorgang rückholbar, kommunizierbar, variierbar und vergleichbar. Sie funktioniert wie eine Taucherglocke, die das Auge aus dem Alltag entführt und eine Interaktion zwischen Betrachter und Objekt auslöst. Sie setzt die Wirklichkeit in einen Rahmen und fokus- siert den Blick. Das Licht, das durch das Objektiv der Zeichenkamera auf einen Spiegel trifft und schließlich auf der Mattscheibe ein seitenverkehrtes Bild erzeugt, fordert auf zu einem Entschleunigung des Sehens 331 Dialog mit dem sichtbaren Ausschnitt der Wirklichkeit. Die Zeichenkamera führt so zu einem intensiven und bewussten Sehen (Vith 2003, S. 180). Erweiterte Erfahrung Die Camera obscura als begehbare Kamera und als Zeichenkamera verweist einerseits auf den Begriff des Fotos als einen „schmalen Ausschnitt von Raum ebenso wie von Zeit“ (Sontag 1989, S. 28) und führt gleichzeitig darüber hinaus. Denn sie unterbricht unsere „Macht der Gewohnheit“. Sie destabilisiert unseren Widerstand gegen Wechsel und unser Suchen nach Kontinuität (Gombrich 2003, S. 223). Die Camera obscura verhilft uns in dieser Hinsicht zu einer erweiterten Erfahrung, schafft Raum für Neues, ganz im Sinne Gerald Hüthers: „Nichts im Hirn kann sich weiterentwickeln und zunehmend komplexer werden, wenn es keine neuen Abbildung 10, 11, 12: Die Zeichenkamera verschafft dem Betrachter einen besonderen Blickwinkel. Die ungewohnte Perspektive und die seitenverkehrte Abbildung tragen dazu bei, den Blick zu verlangsamen und beobachtete Objekte neu zu sehen. Museo Nationale Fratelli Alinari, Florenz, 2008. 332 Georg Vith Aufgaben zu lösen, keine neuen Anforderungen zu bewältigen gibt“ (Hüther 2006, S. 25). „Indem man sich lediglich dazu entschließt, hin und wieder etwas zu tun, was man normaler- weise nicht tut, ändert sich noch keine Verschaltung im Hirn. Vielmehr müssten Bedingungen geschaffen werden, die es nicht nur möglich, sondern zwingend erforderlich machen, künftig generell mehr von dem wahrzunehmen, was um uns herum geschieht, diese Wahrnehmungen tiefer und intensiver zu empfinden, …“ (Hüther 2006, S. 120). Die Camera obscura kann dazu sicher ihren Beitrag leisten. Literatur Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer. Bemerkung zur Photografie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Busch, Bernd (1989): Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie. Carl Hanser Verlag. Flusser, Vilém (2007): Das Bild als Leitbild. Gedanken zur Überwindung des Anikonismus. Zit. nach Bredekamp, Horst Bilder bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel. Berlin: Wagenbach. Gombrich, Ernst (2003): Die Macht der Gewohnheit. Ornament und Kunst. In: Das Gombrich Lesebuch. Berlin: Phaidon Verlag. Gschwendtner-Wölfle, Ruth (2007): Visuelle Alphabetisierung betrifft uns alle. Sehen heißt glauben. In: Gschwendtner-Wölfle, Ruth & Maier, Edith (Hrsg.) Sehen ist lernbar - Hand- buch. Hohenems: Bucher Verlag. Hörisch, Jochen (2001): Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien. Frankfurt: Eich- born Verlag. Hüther, Gerald (2006): Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen: Vanden- hoeck & Ruprecht. Kemp, Wolfgang (1992): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptions- ästhetik. Berlin: Dietrich Reimer Verlag. Silbernagl, Stefan & Despopoulos Agamemnon (1991): Taschenatlas der Physiologie, 4. über- arbeitete Auflage. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, S. 302–309. Sontag, Susan (1989): Über Fotografie. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag. Ullrich, Wolfgang (2003): Die Geschichte der Unschärfe. Berlin: Wagenbach. Vith, Georg (2003): View boxes. Der Raum im Raum – Warten auf Bilder. In: Doelker Christian; Gschwendtner-Wölfle, Ruth & Lürzer, Klaus (Hrsg.) Sehen ist lernbar. Beiträge Entschleunigung des Sehens 333 zur visuellen Alphabetisierung. Kunstschule Liechtenstein. Oberentfelden, Schweiz: Sauer- länder Verlage AG, S. 173–181. Vith, Georg (2007): Entschleunigung des Sehens. Möglichkeiten zur Verlangsamung und Intensivierung des Sehprozesses mit Camera obscura und Camera lucida. In: Gschwendt- ner-Wölfle, Ruth & Maier, Edith (Hrsg.) Sehen ist lernbar - Handbuch. Hohenems: Bucher Verlag. Vith, Georg (2009): L´altro sguardo. The other view. La camera obscura come camera da disegno. The Camera Obscura as a Drawing Camera. In: Sakomura, Hiroko (Executive Producer), Naldi, Giovanna (Editorial Manager): The Vision and Art of Shinjo Ito in Italy: Basking in the Light. Alinari 24 ORE, Florenz, Italien, 2009, S. 96–97, S. 104–111. Abbildungen: Georg Vith blicksicher. kein boden unter den füßen eine interaktive Kunstintervention von Barbara Huber und Christian Streng „Was nicht festgehalten wird, ist nicht, was festge- halten wird, ist tot.“ (Paul Valery) In diesem Spannungsfeld bewegt sich nicht zuletzt das Verhältnis zu unserem eigenen Abbild. Identi- tätssichernd suchen wir nach diesem als Gegenüber. Bilder zeigen nicht nur, sie zeugen und erzeugen. In ihrer Indexikalität scheinen sie zu beweisen, was existiert (hat) und in dieser Augenblicklichkeit nie mehr existieren wird. Gleichzeitig bedeutet jedes Abbild auch optische Vereinnahmung, Bemächti- gung. Indem ein einziger Augen-Blick, den ich sel- ber nie sehen oder erfahren kann, festgehalten und damit entzeitlicht wird, erzeugt das Bild eine Mani- festation magischer Präsenz, es macht sichtbar und verweist gleichzeitig auf Verborgenes, Verdecktes. Es ist Spur und Abdruck realer Existenz und gleich- zeitig unzugänglicher, magisch versiegelter Raum. Abgebildet zu werden gehört zu unseren alltäg- lichen Erfahrungen. Unter dem Deckmantel der Sicherheit haben wir das Recht auf unser Ab- bild längst preisgegeben, was mit den Bildern passiert, entzieht sich unserem Wissen / Zugriff. Am Medientag wurden alle TeilnehmerInnen gebe- ten, vor Beginn der Tagung ihr Abbild „abzugeben“: Barbara Huber und Christian Streng ersuchten die BesucherInnen, sich mit geschlossenen Augen mittels Polaroidfotografie portraitieren zu lassen. Auf diesem analogen Medium festgehalten, hat das Abbild jedes/r Teilnehmers/in eine direkte Beziehung zu dem Menschen, den es bezeichnet. Im Rahmen der Aktion „blicksicher. kein boden unter den füßen“ wurde jedes dieser Portraits zum Ausgangspunkt eines neuen Bildwerdungsprozesses, der die visuelle Kompetenz aller Teilneh- merInnen herausforderte, auf den der/die jeweils Abgebildete selbst jedoch keinen Einfluss hatte. Die Abbilder der TeilnehmerInnen wurden von den Künstlern signiert, verpackt und mit der Aufforderung zur Partizipation an eine/n andere/n TeilnehmerIn weitergegeben. Alle Beteiligten erhielten somit das Abbild eines anderen und durften über dieses verfügen. Sie wurden gebeten, das jeweilige Portrait erst nach Abschluss der Tagung auszupacken und den Ver- bleib des Bildes – ob in einen Rahmen gesteckt, weggeworfen, zerstört oder überarbeitet, zum An- dachtsbild verklärt oder als Zielscheibe verwendet – mittels Digitalfotografie zu dokumentieren. Viele Beteiligte wurden so zu MitautorInnen und die entstandenen neuen Bildproduktionen zum eigentlichen Produkt dieses Partizipationsprojektes. Fast ein Drittel der auf die Reise geschickten und jetzt neu ins Bild gesetzten Bilder wurden an die Künstler zurückgeschickt. Sie erzählen von differenzierten Auseinandersetzungen und vielschich- tigsten Umformungen. DAS EIGENE ABBILD ABGEBEN WIE DEN SCHÜTZENDEN MANTEL OHNE KONTROLLE EINEN TEIL VON SICH MIT GESCHLOSSENEN AUGEN DEN BLICKEN AUSGESETZT OBJEKT OHNE POSE UNGESCHÜTZT UND UNNAHBAR IN SICH ZURÜCK VERWEIGERTES GEGENÜBER DEM ZUGRIFF ENTZOGEN DIE UNERREICHBAREN, SIE SEHEN DIE ANDEREN NICHT DER MACHT KEIN GEGENÜBER DER GEFAHR NICHT INS AUGE DER FEHLENDE BLICK AUS DEM BILD VERLORENE BRÜCKE VERUNMÖGLICHTE BEGEGNUNG VERUNMÖGLICHTE TRENNUNG VERANTWORTUNG UND BEMÄCHTIGUNGSANGEBOT IMMER ABER EINE VERLORENE OBERFLÄCHE blicksicher. kein boden unter den füßen barbara huber & christian streng blicksicher. kein boden unter den füßen barbara huber & christian streng blicksicher. kein boden unter den füßen barbara huber & christian streng blicksicher. kein boden unter den füßen barbara huber & christian streng blue crocodile (Videostills 2009) blicksicher. kein boden unter den füßen barbara huber & christian streng Im Kontext, kultürlich: Frau natürlich - Ikone, Pin-up, Püppchen, Projektionsfläche und Konstrukt patriarchaler VerfügungsPhan- tasie. Ehrlich: Ich wollte keine Frau ziehen. Mit einem MannsBild wäre es einfach gewesen und schundiger geworden. Kein Spaß, sondern brachialer Aktionismus - sich selbst in die Eier treten oder so. Sie, die ich verschlossene Regentin nennen möchte, sieht stille in sich. Frauen können das - ihr Wesen annehmen, ohne dem Selbst wesentlich anzunähern. Quasi: vor sich auf der Lauer. Was weiß ich: weiß, männlich, europäisch und das gerne - warum denn auch nicht? Vor Männern habe ich manchmal Respekt, vor Frauen fast immer Achtung - nicht weil ich ein Genderschleimer bin, sondern weil ich in einer Frau geworden bin. Es war nicht die schlechteste Zeit. Ich habe mir, Regentin, Dein Gesicht geliehen. Du bist kein Objekt, sondern Akteurin. Denn die Zukunft ist weiblich. Andreas Wiesinger (Mail 20/11/09) blicksicher. kein boden unter den füßen barbara huber & christian streng Nora Schöpfer (Mail 14/12/09) Miriam Tiefenbrunner anonymer Beitrag blicksicher. kein boden unter den füßen Einfrieren Ich ertrage diesen ihren Anblick nicht. Ich kenne diese Person nicht und doch gehört das Bild mir. Ihr Vertrauen, die geschlosse- nen Augen, die sie mir schenkt, zwingen mir Verantwortung auf. Ich konnte es nicht wegwerfen. Denn ich hätte das Vertrauen, welches sie mir schenkte, zerstört. Um die Unerträglichkeit ihres fremden Anblickes zu ertragen, entschied ich mich dazu, einen persönlichen Bezug zu ihr aufzubauen. Um dies zu erreichen, wollte ich ihr meinen Geburtsort zeigen, das Haus, in dem ich als Kind lebte und aufgewachsen bin. Dort angelangt, musste ich feststellen, dass ich sie vergessen hatte. Ich hatte sie einfach liegen lassen. Wieder zurück in meiner eige- nen Wohnung lag sie auf dem Schreibtisch und schaute mich durch ihre geschlossenen Augen vorwurfsvoll an. Ich ertrug es nicht und legte sie beiseite. Doch jedes Mal wenn ich sie wieder sah, bekam ich ein Schuldgefühl, das ich kaum ertragen konnte. Ich dachte daran, ein Loch in die Erde zu schaufeln und sie darin zu begraben oder sie mit einem Schweizer Kracher ins Jenseits zu befördern. Doch diese Vorstellungen ertrug mein Gewissen einfach nicht. Ich kam mit meinen Emotionen dieser mir fremden Person gegenüber nicht mehr klar. Es musste etwas geschehen. Ich nahm sie mit auf eine Wanderung. Ich wusste genau, was zu tun war. Ich nahm Stecknadeln mit. Es war eiskalt. Es hatte geschneit. In der Sillschlucht gibt es diesen Eisfall. Eigentlich ein tropfender Felsen. Doch wenn es kalt wird, gefriert das Wasser zu einer imponie- renden Wand aus Eis. Und dort wollte ich sie einfrieren. Eigentlich meine Gefühle ihr gegenüber zum Stillstand bringen. Und das tat ich dann auch. Doch ich konnte sie den anderen Spaziergängern auch nicht einfach ausliefern, darum steckte ich sie zurück in die Hülle und ließ das Transparentpapier darüber, um ihr wenigstens ein bisschen Privatsphäre zuzugestehen. Noch am selben Tag kehrte ich zurück, um mich vom Gelingen meines Vorhabens zu überzeugen. Ich konnte es kaum glauben. Jemand hatte sie vom Eis heruntergenommen und unter einen trockenen, schützenden Felsvorsprung gelegt. Erst fand ich es nett. Doch dann ärgerte es mich! Das war nicht das, was ich wollte. Also band ich sie mit einem Spagat am Eiszapfen fest. Am nächsten Tag hing sie nicht mehr an derselben Stelle wie am Tag zuvor. Jemand musste das Bild heruntergenommen und an anderer Stelle wieder aufgehängt haben. Zumindest war ein Eiszapfen entlang des rechten Bildrandes entstanden! Am übernächsten Tag war sie bereits gänzlich von Eis umschlossen. Ein Gefühl der Zufriedenheit durchflutete mich. Doch es geschah noch etwas Unerwartetes. Es entstand das Gefühl, sie nun jeden Tag besuchen zu müssen, um mich davon zu überzeugen, dass ihr auch nichts Schlimmes zustößt. Somit hatte sich der Wunsch, die negativen Emotionen ihr gegenüber einzufrieren, ins Gegenteil verkehrt. In ein Verantwortungsgefühl! Reischmann Philipp (Mail 12/01/10) blicksicher. kein boden unter den füßen Hallo, anbei die Bild-Transformationen bzw. in meinem Fall Assoziationen. Ich möchte mich auch für die Erfahrung bedanken, die mir Euer Projekt gegeben hat. Bevor ich nämlich die Folie geöffnet hatte, also nur mit einer Vorstellung von einem Bild herumlief, hatte ich so ziemlich „gewalttätige“ Vorhaben mit dem Bild. Die Macht der Möglichkeiten hatte mich infiziert... aber dann war da plötzlich ein Gesicht, eines das zweifelsfrei zu einem echten Menschen gehören muss. Und die Beliebigkeit war weggewischt. Die geschlossenen Augen verstärkten da auch noch das Ausgeliefertsein mir gegenüber und das Gleichgewicht war vollends gekippt. Der Mensch konnte ja nicht einmal im Bild zurückschauen und sich wehren! Das Resultat, das ich jetzt schicke, beschreibt diesen ers- ten Vorgang in mir, ist Ausdruck für meine Scham, die die Nacktheit eines Gesichtes bewirkte. Als Verantwortung. Der Reflex: Ich schiebe den Menschen weg, schön ver- packt, damit ich das Unangenehme dieser Konfrontation mit dem abstrakt Fremden auch schön von mir fernhalten kann. Danke nochmals Thomas Reichsoellner (Mail 12/11/09) blicksicher. kein boden unter den füßen barbara huber & christian streng blicksicher. kein boden unter den füßen barbara huber & christian streng anonymer Beitrag Autorinnen und Autoren Monika Abendstein, Mag. arch., Architektin und Architekturvermittlerin, lebt und arbeitet in Tirol Studium: Architektur an der Akademie der Bildenden Künste Wien, seit 2005 Architek- turvermittlerin im aut. architektur und tirol in Innsbruck. Kontakt: aut. architektur und tirol: monika.abendstein@aut.cc. Christina Antenhofer, MMag. phil Dr. phil., derzeit Universitätsassistentin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. Studium der Geschichte, der Germanistik und Romanistik (Französisch) an der Universität Innsbruck, der Sorbonne (Paris IV) und am Collège International de Philosophie. MMag. phil 1999. Dr. phil 2004. 1998-2003 Projekt „Flurnamenerhebung in Südtirol“ am Institut für deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik der Universität Innsbruck. Seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeite- rin am Institut für Geschichte und Ethnologie (Mittelalter/frühe Neuzeit). Seit 2004 Assoziierte des Internationalen Graduiertenkollegs „Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert“. Mitarbeiterin der Plattform „politik religion kunst. plattform für konflikt- und kommunikationsforschung“ sowie der Plattform „Geschlechterforschung – Identitäten – Dis- kurse – Transformationen” an der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Renaissance und spätes Mittelalter, Kommunikationsgeschichte, Familiensysteme, Geschlechtergeschichte, Neue Politikgeschichte, Fetischismustheorien, Na- menkunde, Wissenschaftstheorie. Christian Doelker, 1934, Univ.-Prof. Dr. phil. habil., Professor für Medienpädagogik an der Universität Zürich (Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung und Pädagogi- sches Institut) und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (bis 2002), Gastpro- fessor an der Universität Fribourg (2002/03), Lehrstuhlvertretung für Prof. Dr. Hertha Sturm (Institut für Medienpsychologie und Medienpädagogik der Universität Koblenz-Landau (1990- 92)), Mitglied des Arbeitskreises „Medienerziehung in Wissenschaft und Bildungspraxis“ des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst, Mitglied der Zentralen Arbeitsgruppe „Medienerziehung“ des Südwestfunks (1982-99), Mitglied des Projektbeirats des BLK-Modellversuchs „Differenzierte Medienerziehung als Element allge- meiner Bildung“ Nordrhein-Westfalen / Sachsen (1995-98) und des Lenkungsausschusses des Projekts „Comenius“ Berlin (1996-98). Autor zahlreicher Publikationen (einzelne Buchpublikationen sind auch in französischer, spa- nischer, englischer und koreanischer Sprache erschienen), Hörfunk- und Fernsehsendungen zu medienkundlichen und medienpädagogischen Themen. Forschungsschwerpunkte: Bildtheorie/Bildpädagogik, Theorie des Fernsehens, Kulturtechni- ken, Medienwirklichkeit, Informationsphilosophie, Medienkritik. Weitere Infos: www.medienpaedagogik.ch Autorinnen und Autoren 349 Katrin Döveling, Dr. M.A., seit Oktober 2009: Professur III am Institut für Kommunikations- wissenschaft an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Emotionsforschung in der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Unterhaltungsforschung, Rezeptionsforschung, Medien- nutzung und Medienwirkung, Online-Kommunikation, Soziologie und Psychologie der Emoti- onen, Sozialisation/Identität, Medientheorie, Mediensoziologie, Medienpsychologie, Visuelle Kommunikation, Interpersonale Kommunikation, Interkulturelle Kommunikation, Politain- ment. Aktuelle Publikation: Döveling, Katrin; v. Scheve, Christian & Konijn, Elly A. (eds.) Handbook of Emotions and Mass Media: Routledge /Taylor & Francis, erscheint 2010. Norm Friesen is Canada Research Chair in E-Learning Practices at Thompson Rivers Univer- sity in Kamloops, British Columbia, Canada. Dr. Friesen has been developing and studying Web technologies in educational contexts since 1995, and is the author of several editions of books on the effective use of instructional software and on the implementation of technical standards for educational resources. He is author of Re-Thinking E-Learning Research: Foun- dations, Methods and Practices (Peter Lang, 2009), and also of the forthcoming mono- graph, The Place of the Classroom and the Space of the Screen: Relational Pedagogy and Internet Technology (Peter Lang, 2010). Dr. Friesen is co-editor of Phenomenology & Prac- tice (www.phandpr.org), an open, online peer-reviewed journal focusing on the application of hermeneutic phenomenology to the research of professional practice. Supported by Social Science and Humanities Research Council (SSHRC) scholarships and grants since 2003, Dr. Friesen is presently undertaking funded research in media theory and in discursive psychology. Dr. Friesen is also a member of the Canadian delegation to the International Standards Organi- zation subcommittee for Learning, Education and Training. He has previously worked as a Postdoctoral Fellow at the School of Communication at Simon Fraser University, and as an adjunct or visiting faculty at Athabasca University, at the University of Toronto, and the Uni- versity of Innsbruck. His academic credentials include Master's degrees from the University of Alberta and the Johns Hopkins University, and a PhD in Education from the University of Alberta. Michael Funk, Studium der Philosophie und Germanistik. Derzeit Mitarbeiter an der Professur für Technikphilosophie, TU Dresden, Deutschland. Lehr- und Forschungsbereiche: Technik- und Wissenschaftsphilosophie, Philosophie der Musik und angewandte Ethik, sowie zu Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger. Marco Furtner, Univ.-Ass., Mag. Dr. rer. nat., seit 2007 Universitätsassistent und Projektlei- ter am Institut für Psychologie (Fachbereich Allgemeine Psychologie) der Universität Inns- bruck. 2001–2006 Studium der Psychologie an den Universitäten Wien und Innsbruck mit anschließender Promotion im Bereich der experimentalpsychologischen Wahrnehmungsfor- schung. Lehrbeauftragter am Institut für Entrepreneurship der University of Liechtenstein. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Kognitionspsychologie (Schwerpunkte: Wahrnehmungs-, Sprach- und Lernpsychologie); Motivations- und Emotionspsychologie. Assoziiertes Mitglied der internationalen Forschungsgemeinschaft PERSOC; Gutachtertätigkeit für das Amt für Innovation, Forschung und Entwicklung der Autonomen Provinz Bozen und für das Journal „Social Behavior and Personality“. Kontakt: Marco.Furtner@uibk.ac.at 350 Autorinnen und Autoren Ruth Gschwendtner-Wölfle, Mag., geboren in Augsburg, lebt in Vorarlberg, Kunstvermittle- rin und Künstlerin; seit 1999 am Liechtensteinischen Gymnasium, Vaduz; Blockseminare an der PH Weingarten, PH Feldkirch; Koordination und Leitung von EU- Kooperationsprojekten zum Thema visuelle Alphabetisierung (www.sehen-ist-lernbar.eu), Museumsgestaltung und Rauminstallationen zum Thema „Frieden ist lernbar“ (www.friedens-raeume.de), praktische wahrnehmungsbezogene Arbeiten (www.kunstsalon.eu); Publikationen: sehen ist lernbar – beiträge zur visuellen alphabetisierung, Christian Doelker, Ruth Gschwendtner-Wölfle, Klaus Lürzer (Hrsg.); sehen ist lernbar – handbuch, Ruth Gschwendtner-Wölfle, Edith Maier (Hrsg.); ...von wegen – caminhos, Ruth Gschwendtner-Wölfle; was liegen blieb, Franz Hohler und Ruth Gschwendtner-Wölfle. Arbeitsschwerpunkt: benutzbare Raum-und Garteninstallationen, großflächige Fotoarbeiten als C-Prints: Leinwand auf Keilrahmen als Malgrund für Ölmalerei, Arbeiten zu „Wirklichkeit und Erfindung“, „Nähe und Distanz“, sowie zur Wahrnehmungs-Sensibilisierung bezüglich „Bild, Beobachter und Milieu“ bzw. Kontext (vgl. Hans Dieter Huber in wege zur bildwissen- schaft, s.o.) Peter M. Hejl, apl. Prof. Dr. rer. soc., Dipl. Pol.; Institut für Medienforschung der Universität Siegen, lehrte bis 2008 Soziologie mit Schwerpunkt Kommunikation und Medien an der Uni- versität Siegen. Theoretische und empirische Forschungsschwerpunkte: systematische und an- thropologische Grundlagen soziologischer Theoriebildung, insbesondere Wahrnehmungs- und Kommunikationstheorie aus konstruktivistischer Perspektive und ihre Zusammenführung zu einer Theorie sozialer Systeme, mediensoziologische und -anthropologische Analysen von Medieninhalten. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kommunikations- und Medientheorie, zur soziologischen Systemtheorie, zur Geschichte der Soziologie und zur Beziehung Biologie/ Soziologie. Barbara Huber, Mag. phil., Bildende Künstlerin (Video / Installationen / Objekte / Interven- tionen im öffentlichen Raum /…), seit 2002 Lehrbeauftragte an der Leopold-Franzens-Univer- sität Innsbruck, Schwerpunkte: Visuelle Kompetenz, Video – Wissenschaft – Kunst, Video als performative Praxis, Kunst und politische Handlungsfähigkeit, 2006 – 2007 Lehrbeauftragte an der Hochschule MCI – Management Center Innsbruck (Arts & Media) Kunstprojekte / Ausstellungen (Auswahl): 2009 / 10 blicksicher. kein boden unter den füßen, ein interaktives Kunstprojekt zum Thema Visuelle Kompetenz mit C. Streng (Katalog / DVD), 2007 tiroler ansichten, Sammlung Kunstgeschichte Innsbruck, Rohnerhaus Lauterach, 2006 Aktion roter teppich/ ästhetische Widerstandsstrategie gegen den Bildungsabbau vor der Uni- versität Innsbruck, mit C. Streng und Studierenden, 2005 falda per falda / schicht für schicht, Installation, Gavorrano / Italien (K), werkstatt, Videoinstallation, Ausstellungsraum Institut f. Kunstgeschichte, Universität Innsbruck (K), 2004 tirol.2004, Ankäufe der Kunstsektion des Bundes in Tirol, rosa marina, Installation, Diamante / Kalabrien / Italien (K), Ausstellung Kunstpreis, rlb kunstbrücke / Innsbruck (K), 2003 kraftwerk peripher, Videoinstallation / Imst (K), 6 positionen, rlb kunstbrücke / Innsbruck (K), abjekte reflexe, Klangarbeit im Rahmen des Projektes stadtflucht.10m/sec – ein ruheraum im gebirge, Innsbruck, 2000 art.migration, Kunstprojekt im öffentlichen Raum / Innsbruck-Wien-Graz-Linz / Gemeinschaftsprojekt mit C. Streng, art.migration, not/tour/no im steirisc[:her:]bst, Graz, 1999 freizeit und überleben, Autorinnen und Autoren 351 Video, Eröffnungsausstellung der Galerie im Taxispalais Innsbruck, 1998 collezione tirolo, Gemeinschaftsprojekt mit C. Streng, complesso monumentale del San Michele, Rom (Kata- log), 1997 slot.10 positions, Gemeinschaftsprojekt mit C. Streng, Galerie im Taxispalais, Inns- bruck. Theo Hug, Professor am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck und Sprecher des interfakultären Forums Innsbruck Media Studies an der Universität Innsbruck. Arbeitsgebiete: Medienpädagogik und Kommunikationskultur, e-Education und Microlearning, Allgemeine Erziehungswissenschaft, Wissenstheorie und Methodologie. Zahlreiche Publikati- onen, darunter Media Communities (gemeinsam mit Brigitte Hipfl, Münster 2006), Didactics of Microlearning (Münster, 2007), Medien – Wissen – Bildung (Innsbruck, 2008/2010), Medi- atic turn – Claims, Concepts and Cases / Mediale Wende – Ansprüche, Konzepte und Beispiele (Frankfurt a. M. u. a., 2009). Website: http://www.hug-web.at Ekkehard Kappler, (* 1940) em. o. Univ.-Prof. Dipl.-Kfm. Dr. rer. soc. oec. Dr. rer. pol. h.c.; Institut für Organisation und Lernen, Universität Innsbruck; bis zur Emeritierung Leiter des Bereichs Controlling und Organisationskultur. Mehrjährige Universitätserfahrung im In- und Ausland (Deutschland, Portugal, Japan, USA, Thailand). Gründer und langjähriger Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der privaten Universität Witten/Herdecke. Hauptar- beits- und Beratungsgebiete: Unternehmenssteuerung, Organisationsentwicklung, Organisati- onskultur, Strategisches Management; (Change) Management von non-Profit-Organisationen (Krankenhäuser, Heime, Vereine, Bildungseinrichtungen); Universitätsentwicklung; Metho- dologie. Andreas Kriwak, MMMag. phil Dr. phil., derzeit Lehrbeauftragter am Institut für Erziehungs- wissenschaften der Universität Innsbruck. Studium der Politikwissenschaften und Geschichte, Philosophie und Fächerbündel und Erziehungswissenschaften in Innsbruck; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck (2002-2006). Forschungs- schwerpunkte: Freud’sche und Lacansche Psychoanalyse, Erkenntnis- und Wissenschafts- theorie; Medienpädagogik und Medientheorie. Bart Lootsma, Univ.-Prof. Ir. (Amsterdam, 1957) is a historian, critic and curator in the fields of architecture, design and the visual arts. He is a Professor for Architectural Theory at the Leopold-Franzens University in Innsbruck and Guest Professor for Architecture, European Urbanity and Globalization at the University of Luxemburg. Before, he was Head of Scientific Research at the ETH Zürich, Studio Basel, and he was a Visiting Professor at the Academy of Visual Arts in Vienna; at the Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg; at the University of Applied Arts in Vienna and at the Berlage Institute in Rotterdam. He held numerous seminars and lectured at different academies for architecture and art in the Netherlands. Bart Lootsma was guest curator of ArchiLab 2004 in Orléans and he was an editor of ao. Fo- rum, de Architect, ARCHIS and GAM. Bart Lootsma published numerous articles in maga- zines and books. Together with Dick Rijken he published the book ‚Media and Architecture’ (VPRO/Berlage Institute, 1998). His book ‘SuperDutch’, on contemprary architecture in the Netherlands, was published by Thames & Hudson, Princeton Architectural Press, DVA and SUN in the year 2000; ‘ArchiLab 2004 The Naked City’ by HYX in Orléans in 2004. 352 Autorinnen und Autoren Bart Lootsma is Board Member of architektur und tirol in Innsbruck and reserve-member of the Council for Architectural Culture at the Cabinet of the Austrian Prime Minister in Vienna. was a member of several governmental, semi-governmental and municipal committees in dif- ferent countries, such as the Amenities Committee in Arnheim, the Rotterdam Arts Council, the Dutch Fund for Arts, Design and Architecture, Crown Member of the Dutch Culture Coun- cil, Member of the Expert Committee 11. International Architecture Biennale, Venice 2008, at the German Ministry for Building and Planning as well as curator of the Schneider Forberg Foundation in Munich. Karl H. Müller ist seit 2003 Leiter von WISDOM, Österreichs Infrastruktur-Zentrum für Da- ten, Forschungsdokumentationen, Methoden und Designentwicklung innerhalb der Sozialwis- senschaften und Präsident der Heinz von Foerster-Gesellschaft. In den Jahren zuvor führte er die Abteilungen für Politikwissenschaft und Soziologie am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien. Darüber hinaus leitete Karl H. Müller zwischen 2007 und 2009 das RISC-Forschungs- programm an der Universität Ljubljana. Das Themenfeld seiner Arbeiten erstreckt sich von Fragen komplexer Modellbildung in den Sozialwissenschaften und von transdisziplinären Analysen von Innovationsprozessen im Be- reich von Ökonomie, Wissenschaft und Gesellschaft, von den Potentialen inter- und transdiszi- plinärer Forschung oder der Entwicklung visueller Methoden bis hin zur Aktualisierung einer Kybernetik zweiter Ordnung beziehungsweise zu radikalen Erweiterungen des Radikalen Kon- struktivismus sowie zu neuen Formen der Erfassung und Konzeptualisierung von sozio-öko- nomischen Risikolagen gegenwärtiger Gesellschaften. An neueren Veröffentlichungen sind mehrere Bücher zu nennen, darunter Sozio-ökonomische Modelle und gesellschaftliche Komplexität. Vermittlung & Designs. Marburg:Metropolis-Ver- lag, 1998, Marktentfaltung und Wissensintegration. Doppelbewegungen in der Moderne. Frankfurt:Campus-Verlag, 1999, weiters – zusammen mit J. Rogers Hollingsworth und Ellen Jane Hollingsworth (Hrsg.) – Advancing Socio-Economics. An Institutionalist Perspective. Lanham:Rowman & Littlefield Publishers, Inc., 2002 (Paperback 2004), dann – zusammen mit Niko Toš (Hrsg.) – Political Faces of Slovenia (Wien:edition echoraum, 2005, weiters – zu- sammen mit Albert Müller (Hrsg.) – An Unfinished Revolution? Heinz von Foerster and the Biological Computer Laboratory 1958 – 1976 Wien:edition echoraum, 2007, The New Science of Cybernetics. Towards the Evolution of Living Research Designs, vol. 1: Methodology. Wien:edition echoraum, 2008, The New Science of Cybernetics. Towards the Evolution of Living Research Designs, vol. 2: Theory. Wien:edition echoraum, 2010 (im Erscheinen) sowie zusammen mit Lučka Kajfež-Bogataj, Ivan Svetlik und Niko Toš (Hrsg.), Modern RISC-Soci- eties. Towards a New Paradigm for Societal Evolution. Wien:edition echoraum, 2010. Kristóf Nyíri, geb. 1944, ist Professor für Philosophie am Institut für Angewandte Pädagogik und Psychologie der Technischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Universität Budapest, o. Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, und Mitglied der Weltakademie für Philosophie. Gastprofessuren in Österreich, Finnland und den USA. War Leibniz-Professor der Universität Leipzig im WS 2006/07. Forschungsschwerpunkte: Wittgenstein, Philosophie der Kommunikation, Philosophie des Bildes, Philosophie der Zeit. Leitete von 2001 bis 2010 das gemeinsame interdisziplinäre gesellschaftswissenschaftliche Forschungsprojekt KOMMU- Autorinnen und Autoren 353 NIKATION IM 21. JAHRHUNDERT von T-Mobile Hungary und der Ung. Akad. d. Wissenschaften (http://www.socialscience.t-mobile.hu). Einige wichtigere Veröffentlichungen: Tradition and Individuality: Essays, Dordrecht: Kluwer, 1992; Vernetztes Wissen: Philosophie im Zeitalter des Internets, Wien: Passagen Verlag, 2004; „Verbildlichung und die Grenzen des wissen- schaftlichen Realismus“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2008/5; „Film, Metaphor, and the Reality of Time“, New Review of Film and Television Studies, Juni 2009. Weitere Informa- tionen: www.hunfi.hu/nyiri. E-Mail: knyiri@t-email.hu. Heike Ortner, Mag. phil., ist seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin (seit 2009 Universitäts- assistentin) im Bereich „Linguistische Medien- und Kommunikationswissenschaft“ am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck. Sie studierte Deutsche Philologie und Angewandte Sprachwissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz. Im Anschluss an das Studium ar- beitete sie als freie Lektorin für verschiedene Verlage. Ihre primären Forschungsinteressen sind Text- und Medienlinguistik. Arbeitstitel ihrer Dissertation: „Text und Emotion. Theorie, Me- thode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse“. Publikationen und Vor- träge in den Gebieten Emotionslinguistik, Hypertextforschung und Websprache. Armin Reautschnig absolvierte ein Studium für Informationsdesign an der Fachhochschule Joanneum und arbeitet derzeit an einer Dissertation zum Thema „Visuelle Soziologie“ an der Universität Wien. Armin Reautschnig ist Mitarbeiter von WISDOM und entwickelte das On- line Programm WISDOMIZE, das derzeit in der Version 2.0 zur allgemeinen Nutzung verfüg- bar ist. Darüber hinaus ist Armin Reautschnig in einer Reihe von Visualisierungsprojekten mit in- und ausländischen Forschungseinrichtungen involviert. Pierre Sachse, Univ.-Prof. Dr. rer. nat. habil., Studium der Psychologie (Diplom 1991), Pro- motion 1994, Forschungspreis der TU Dresden 1995 (Georg-Helm-Preis), Habilitationsstipen- diat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Forschungsaufenthalte an der ETH Zürich (CH) und der University of Cambridge (UK), Dozent an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, seit 2004 Universitätsprofessor für Allgemeine Psychologie an der Universität Innsbruck, 2007 Gründung und Herausgabe des zweisprachigen Journals „Psychologie des Alltagshandelns / Psychology of Everyday Activity“, seit 2010 Mitherausgeber der Schriften- reihe „Beiträge zur Arbeitspsychologie“; internationale Gutachtertätigkeit. Kontakt: Pierre.Sachse@uibk.ac.at Peter Stöger, A.o. Univ.-Prof. Dr. phil. Dr. h.c., Dozent am Institut für Erziehungswissen- schaften der Universität Innsbruck, Lehr- und Forschungsbereiche: Ikonologische Pädagogik, Interkulturelle Pädagogik, M. Buber, Gastvorlesungen in Osnabrück, Puebla, Drohobytesch, Budapest, Szombathely, Klagenfurt, Bangor, Porto, Faro, Bozen, Rethymnon, Bahir Dar, Smoljan, Lemberg; Habilitation an der Universität Innsbruck 1985; seit 1988: Ehrenmitglied des Arbeitskreises für Psychoanalyse von Buenos Aires. 2007: Verleihung des Ehrendoktorates durch die Universität Drohobytch; Verleihung des Österr. Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst durch den Österr. Bundespräsidenten. Christian Streng, Dr. phil., Bildender Künstler (Video / Installationen / Objekte / Interventio- nen im öffentlichen Raum /…), seit 2000 Lehrbeauftragter an der Leopold-Franzens-Universi- 354 Autorinnen und Autoren tät Innsbruck (Videostudio, Institut für Kunstgeschichte), Schwerpunkte: Filmgeschichte, Vi- suelle Kompetenz, Video – Wissenschaft – Kunst, Video als performative Praxis, Kunst und politische Handlungsfähigkeit. Kunstprojekte / Ausstellungen (Auswahl): 2010 EDEN – Installation im öffentlichen Raum in Davos, 2010 Realisierung des Projekts climate-change-adaption-strategy, Montafon, 2009 blicksicher.kein boden unter den füßen – eine Intervention am Medientag zum Thema Visuelle Kompetenz 2009 an der Uni Innsbruck, 2009 Katalog mediale präsenz als spur und verfehlung, 2008 Wettbewerbsausstellung Kunstforum Montafon (Katalog), 2008 Hauptpreis für Skulptur beim Wettbewerb des Kunstforum Montafon, 2008 Videoaktion weißwaschen, San Vincenzo, Italien; 2008 auto-portraits, Einzelausstellung, Fotoforum West, Innsbruck; 2007 Ausstel- lungsbeteiligung Tiroler Ansichten, Kunst im Rohnerhaus, Bregenz; 2006 Aktion roter teppich, ästhetische Widerstandsstrategie gegen Bildungsabbau, gemeinsam mit B. Huber und Studie- renden, Innsbruck; 2006 Mückenstich, Film der Deutschen Wehrmacht 1943 – weiß gewaschen 2006; 2005 falda per falda, Gavorrano, Italien (K); 2004 manifestierte levitation, Kraftwerk peripher, Wasserkraftwerk Imst (K); 2004 onscreen:offscreen, Performance im Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck; 2003 pop, Videoaktion im Kunstraum in Innsbruck; 2003 RLB Kunstbrücke Innsbruck (K); 2001 Preisträger 2nd Polaroid International Photography Award; 2000 art.migration, Gemeinschaftsprojekt mit Barbara Huber; art.migration, not/tour/no im steirisc(:her:)bst, Graz; 1999 European Media Art Festival, Osnabrück; 1998 collezione tirolo, Complesso monumentale del San Michele, Rom (K). Wolfgang Sützl, Mag. Dr. M.A. Philosoph, Medientheoretiker, Übersetzer. Studium der Philo- sophie, Übersetzungswissenschaften und Peace Studies in Spanien, Österreich und Großbritan- nien. Chief Researcher von World-Information.Org 1999-2006 (EU Culture 2000), Wissen- schaftlicher Mitarbeiter am FWF-Projekt „Medienaktivismus“ am Instiut für Erziehungswis- senschaften, Universität Innsbruck. Faculty-Mitglied des Transart-Institute, New York/Berlin, sowie des MA-Lehrgangs Peace Studies, Innsbruck. Arbeitsschwerpunkte: Medienaktivismus, politische Medientheorien, Medienphilosophie. Veröffentlichungen: Creating Insecurity (Hrsg. mit Geoff Cox, 2009); Gewalt und Präzision. Krieg und Sicherheit in Zeiten des War on Terror (Hrsg. mit Doris Wallnöfer, 2008). Verena Teissl, Mag. Dr. phil., promovierte Literaturwissenschaftlerin, freie Filmjournalistin (u.a. Autorin für ray Filmmagazin, Mitherausgabe von „Poeten, Chronisten, Rebellen. Interna- tionale DokumentarfilmemacherInnen im Porträt“ (2006 Schüren Verlag), Mitaufbau des In- ternationalen Film Festival Innsbruck (IFFI) 1992–2002, Mitarbeiterin der Viennale 2002– 2010, seit 2010 Hochschullehrerin für Kultur- und Kommunikationswissenschaften an der Fachhochschule Kufstein und Lehrbeauftragte an der Uni Innsbruck. Georg Vith, Prof. Mag. art., akad. Grafiker, seit 1991 Professor für Kunsterziehung und Wer- kerziehung an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, Künstler. Lehraufträge an der Art University of Lapland, Faculty of Art and Design, Rovaniemi, Finnland und Universidade de Minho, Braga, Portugal. 2001 und 2005 Stipendien des Landes Vorarlberg in Chios, Grie- chenland und Paliano bei Rom. 2003 bis 2007 Mitarbeit beim europäischen Grundtvig Projekt „Sehen ist lernbar, Beiträge zur visuellen Alphabetisierung“. 2008 Zusammenarbeit mit dem Autorinnen und Autoren 355 Museo Nationale Alinari Fratelli, Florenz. Entwicklung von Zeichenkameras für die museums- didaktische Arbeit. Seit 1989 Experimente und Entwicklung von Zeichenkameras, zahlreiche Ausstellungen und Projektierungen in ganz Europa. Seit 1998 Arbeiten mit der Camera obs- cura als Begehbare Kamera, Installationen u. a. in: Nationalmuseum Stockholm, Schweden; Chios, Griechenland; Albert Borschette Centre, Brüssel, Belgien; Turun Kristillinen Opisto, Turku, Finnland; Burren college of art, Ballyvaughan, Irland; Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, Liechtenstein; Museum der Wahrnehmung, Graz. www.kunstvorarlberg.at