Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140215. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. — PLATTENKRITIK UND TYPENSCHAU Kleinteiliges und Naheliegendes zum (Gesellschafts-)Umbau von CHRISTOPH EGGERSGLÜSS Tomasz Lewandowski, Kunsthaus Raskolnikow e. V. versehen, darunter «Zepe», «Wenzel», «Seidel», «Rode- (Hg.): WBS 70 fünfzig Jahre danach, Leipzig (Sphere wald» und wahrscheinlich «Rösler» (recht unleserlich). Publishers) 2020 Darüber hängt eine Gardinenleiste, die in die vorhan- denen Bohrlöcher passt: alles ausgemessen, standardi- Arnold Bartetzky, Nicolas Karpf, Greta Paulsen (Hg.): siert. Sie stammt von einer Hausauflösung im wenige Ki- Architektur und Städtebau in der DDR – Stimmen und Erinne- lometer entfernten Leipzig-Grünau. Dahin verschlägt es rungen aus vier Jahrzehnten, Berlin (DOM Publishers) 2022 Innenstädter_innen auf dem Weg an den Kulkwitzer See Matthias Brunner, Maren Harnack, Natalie Heger, oder zum Impfen in den Freizeittreff Völkerverständigung.1 Hans Jürgen Schmitz (Hg.): Transformative Partizipation. Ähnliche Grundrisse wie die der Küche gibt es sicherlich Strategien für den Siedlungsbau der Nachkriegsmoderne, auch in den Großtafelbauten Grünaus. 2016 waren diese Berlin (Jovis) 2021 Gegenstand wie Ort von Ausstellungen und Symposien.2 Seitdem sind einige Bücher dazugekommen, die Jens Casper, Luise Rellensmann (Hg.): Das Garagen- sich dem Leben mit und zwischen den Platten im Sinne manifest, Zürich (Park Books) 2021 kulturwissenschaftlicher Architekturforschung widmen: Platte hat Konjunktur, zumindest auf dem Büchertisch. — Sie nehmen mal soziologische, mal mehr kunsthistori- In einem Wohnriegel am Rand des Leipziger Kolonna- sche und architekturwissenschaftliche Perspektiven auf denviertels findet sich in einer Küchenecke auf der von gebaute Umwelt ein. Vor dem konstruktionsgeschichtli- Tapete befreiten Platte der Nachweis ihrer Herkunft: chen Hintergrund verschränken sie Bauen als soziotech- ein «Qualitätspaß», der sie als «PWL Außenwand» aus- nisches Programm und Baukultur als ‹Politik der Plat- zeichnet, hergestellt vom Plattenwerk Leipzig. Dar- te› – nicht nur mit Blick auf Rahmenbedingungen und auf sind nicht nur die Nummer des Elements notiert Logistik, Staatsapparat und Denkmalpflege, Kosten- («45531B / KC»), sondern auch Produktionseigenschaf- kalkül und Abriss, sondern auch auf Alltagsgeschichte: ten und Fertigungsschritte: von «Betonmasse», «Her- Die Fallstudien (WBS 70 und Transformative Partizipation), stellungsdatum 26.5.86», «Einbringung Kernbeton», Interviews (Architektur und Städtebau in der DDR) und Orts- «Dämmschicht», «Sichtfläche» bis hin zum «Fenster- begehungen (Garagenmanifest) handeln von Infrastruk- einbau». All diese Zeilen sind neben Mengen und Da- turen sowohl des Bauens als auch des Wohnens, spüren ten mit den Namen der beteiligten Facharbeiter_innen ihrem ‹Eigen-Sinn› (Alf Lüdtke) nach. 168 ZfM 27, 2/2022 Das eingangs beschriebene Betonelement stammt in Dresden-Gruna» auftauchen (S. 20), den jeweiligen aus der Spätphase der WBS 70 (Wohnungsbauserie Außenansichten und Versorgungseinrichtungen ge- 70).3 Kurz hieß sie noch ‹System›, bis dieser Begriff in genüber. Eindrücklich sind die Familienporträts derer, Zeiten H oneckers missfiel. Dies erläutert WBS 70 fünf- die einmal das Glück oder die «sozialen Voraussetzun- zig Jahre danach, eine Begleitpublikation zur Ausstellung gen» hatten (S. 43), eine dieser Vorzugswohnungen mit «Kunst.off Plattenbau» des Dresdner Kunsthauses Fernwärme zugeteilt zu bekommen.6 Während Nickol Raskolnikow (2020 / 21). Sie vergleicht Entwicklungen seinen Beitrag zum Potenzial der Platte mit der Losung in der DDR und in Polen, z. B. Dresden und Gorbitz «auf ewig in die Zukunft verschoben» schließt (S. 21), (Tanja Scheffler und Antje Kirsch) und Warszawa und was dem heutigen Arbeitsauftrag der Denkmalpflege Ursynów (Stefan Paruch), auch anhand der Bauserien entsprechen mag, gelingt es Niels-Christian Fritsche, («WBS70= / W70») selbst (Magdalena Kamiń s k a ). Es wird wenngleich in einem etwas hektischen Rundumschlag, deutlich, dass nicht allein Normunterschiede eine Ver- ein paar Fäden zusammenzuführen. Man hätte sich einigung der S ysteme verhinderten.4 Erfolgreich war die längere Ausführungen und mehr Archivmaterial ge- WBS 70 durch Baueinheiten, die weniger in Segmenten wünscht; diese Schlaglichter auf Vergangenheit und als vielmehr in Modulen konzipiert waren: «Um einen (gescheiterte) Zukunft – wie Tomasz Lewandowskis Erschließungsbaustein herum sollten Wohneinheiten Überblick zum kommunistischen Stigma der Platte im beliebig angeordnet werden können. Daraus ergeben heutigen Polen – wirken gerafft. Gleichwohl eignet sich sich verschiedene Grundrisskonfigurationen, Gebäu- der Band, um die einmal verschrienen ‹Wohnregale› deformen und städtebauliche Anwendungsmöglichkei- als Lebensumstände, als gesellschaftliche Katalysato- ten», so Ch ristopher Nickol (S. 12). Zudem sollten lokal- ren einer «Sozialökologie des Wohnens»7 zu begreifen. spezifische Typen der Baukombinate (Dessau, Dresden, Heute dienen sie gar als Lupe der «Transformations- C ottbus, Leipzig…) gerade bei Details (‹Erfurter Dach›, gesellschaft», wie Steffen Mau andernorts über Lütten Balkonabschlüsse u. ä.) zu einer gewissen Formenvielfalt Klein (einen Ortsteil von Rostock) zusammenfasst: führen.5 Unterbrochen werden die Aufsätze von Christine Die ‹Platte› versammelte alle Schichten, alle Be- Starkes Bilderfolge des Dresdener Stadtteils Gorbitz von rufsgruppen und stellte durch die standardisier- 1988 / 89. Sie stellt Innenansichten, wie sie u. a. in der ten Lebenslagen und die geringe Varianz der Le- «Mustereinrichtung für eine WBS 70-Vierraumwohnung bensformen Kohäsion zwischen unterschiedlichen BESPRECHUNGEN 169 CHRISTOPH EGGERSGLÜSS sozialen Fraktionen her. Sie beseitigte Trennungs- Der Verfall war überall. Nicht nur in den Vorstädten linien z wischen akademisch Qualifizierten, Fach- mit ihren einfacheren Bebauungen, sondern auch in arbeitern, Angestellten sowie Un- und Angelernten den gutbürgerlichen Wohngebieten wie dem Wald- und schuf ein schichtenübergreifendes ‹respekta- straßengebiet. Viele Menschen brauchten einfach bles Sozialmilieu›.8 ein Dach über dem Kopf, ein Dach, das funktioniert und trocken ist. Erst dann kann ich mit ihnen darüber Der Interview-Band Architektur und Städtebau in der reden, wie es rundherum aussieht. (S. 75) DDR – Stimmen und Erinnerungen aus vier Jahrzehnten wie- derum beleuchtet die Hinterbühne des Baugesche- Das klar strukturierte Buch wird in derartigen Erklärun- hens in der DDR. Er bietet moderierte Gespräche, die gen nicht geschwätzig oder rührselig, sondern arbeitet Studierende am Institut für Kunstgeschichte der Uni- Differenzen und Kontroversen unter den Befragten he- versität Leipzig führten. Mit Fokus auf die «mündliche raus. Man lernt, dass nicht allein Komplettabriss und Überlieferung» möchte diese Sammlung eine Lücke Neubau verhandelt wurden und dass überhaupt sehr schließen, um dem «weitgehend informellen Charakter kritisch und früh, d. h. lange vor der ‹Wende›, über das der Entscheidungsprozesse» (S. 7) in dem sonst durch- eigene Erbe diskutiert wurde. Die Gründerzeitbauten strukturierten System gerecht zu werden und dabei auch galt es nebst Lückenbebauungen mit den vorhandenen Akteur_innen abseits der erhaltenen Schriften zu identi- Mitteln zu retten, obgleich es mitunter an ausgebildeten fizieren – auch wenn hier v. a. jene zur Sprache kommen, Handwerker_innen fehlte: die bauen durften. Die Interviews zeichnen sich zum Teil durch intime Gesprächssituationen aus – manchmal Das nannten wir Reproduktionsrechnung. […] Es kamen die Studierenden zu den Interviewten nach Hau- ging um den Erhalt der Stadt. Fest stand, dass der se und erhielten «unterstützt durch Kaffee und Kekse» Plattenbau schon nützlich sein kann, wenn er innen (S. 11) eine persönliche Sicht auf die Dinge: Anekdoten eingesetzt wird. Am besten wäre es gewesen, die wie Autobiografisches, unterfüttert von städtebaulichen Menschen umzuschulen und die alten Häuser instand Details, Fotos und Papier architekturen. Am Beispiel des zu setzen. Aber derjenige, der die Platte montierte, D orotheenplatzes, einer zerbombten Barockanlage der konnte das eben nicht. (S. 76) Leipziger Westvorstadt, erschließen sich damit nicht nur die Abwandlungen der hochskalierten Planungs- Entschiedene Gegenstimmen zu denen der Chefplaner_ vorgaben und Losgrößen der Plattenwerke, sondern inn en und Baukombinate, wie die von Angela Wandelt auch Kontinuitäten und Brüche in den Sichtweisen der von der Initiative Leipziger Architekten, kommen am Planenden. Mitte der 1980er Jahre kam es zum vermehr- Ende zu Wort. Unter dem Einfluss international aufge- ten Ausbau der Innenstadt, so der interviewte Dietmar stellter Bibliotheken wie jener der Weimarer Hochschule Fischer, einer der ehemaligen «Chefarchitekten» (S. 77), für Architektur und Bauwesen9 habe man sich manch der selbst wegen der Zuteilung eines Neubaus mit der andere Perspektive vorstellen können: «Natürlich wur- Familie einst nach Leipzig kam (S. 67): den dort [innenstädtisch] viele Lücken geschlossen, 170 ZfM 27, 2/2022 PLATTENKRITIK UND TYPENSCHAU aber erst musste man größere schaffen, damit Für die Bewohner*innen war das Enga- die Plattenbauten dort Platz fanden. […] Die gement in der Stadtteilarbeit eine Grat- Alternative wäre gewesen, sich von dem star- wanderung zwischen dem marxistischen ren Baukastensystem zu lösen.» (S. 222) Sol- Jargon und dem teils überbordenden Ego che Verhandlungen bieten sich an, um – nicht der [aktionistischen] Studierenden, dem zuletzt anhand von grauen Literaturen, wie Streben nach der Verbesserung der eige- etwa Leitfäden und Katalogen des Instituts für nen Lebensverhältnisse und der Selbst- Wohnungs- und Gesellschaftsbau der Bau- ermächtigung. Zudem erforderte es eine akademie –, Techniken wie Technologien zu große Beharrlichkeit nahe der Selbstaus- reflektieren, mit denen die Wohnriegel ge- beutung. (S. 16) baut, genutzt und gewartet wurden.10 Ost, Mitte und West sind sich, verengt man An verschiedenen Orten der Nachkriegszeit den Blick auf Massenwohnungsbau der 1950er werden die Grenzen der Partizipation aufge- oder Großsiedlungen der 1970er Jahre, näher zeigt, nicht zuletzt schon durch die Grundrisse, als gedacht. Nur gilt ebenfalls, dass in der DDR wie u. a. Andrea Jany am Beispiel Graz betont. flächenmäßig auf die Plattenbauweise gesetzt Hervor sticht zudem die von Sigrun K abisch und dadurch ein viel höherer Bevölkerungsan- nachgezeichnete soziologische Intervall-Lang- teil in den entsprechenden Siedlungen soziali- zeitstudie Leipzig-Grünau, die seit 1979 Ein- siert wurde als in der BRD.11 Wie und warum sie flussmöglichkeiten und «Wohnzufriedenheit» in Zeiten von starker Abwanderung, Teilabris- abfragte (S. 78). Den Beiträgen gelingt es, nicht sen, aber auch Nachverdichtungen bestehen nur Interventionspotenziale aufzuzeigen, son- konnten, zeigt der Sammelband Transformative dern Entwurf und Wirklichkeit nebeneinander- Partizipation. Strategien für den Siedlungsbau der zuhalten. Sie eröffnen damit einen Bereich, der Nachkriegsmoderne. Die retrospektive Sicht der nicht selten von Improvisation und Reparatur Planenden wird mit jener von Historiker_in- zusammengehalten wird. nen, Künstler_innen und Bewohner_innen Diesen Übergangsräumen widmet sich das kontrastiert. Liest man die beiden letztge- Garagenmanifest, dessen Titel zuerst verwun- nannten Bücher parallel, ergibt sich ein brei- dert. Eindrucksvoller ist die fußläufige Annä- tes Spektrum an Zugriffen und Schreibweisen: herung an diese Medienökologien der Nach- Betroffenheit und Ermächtigung, Hoffnung barschaft. Mit dem kleinformatigen Band geht und enttäuschte Erwartung. Was tun mit den es buchstäblich vor die Tür und zwischen die vorgefertigten Rastern und Ideen, wenn die Ta- Häuser. Hervorgegangen aus einem Seminar bula rasa einmal bebaut ist? Der Band Transfor- an der Brandenburgischen Technischen Uni- mative Partizipation behandelt unterschiedliche versität Cottbus-Senftenberg nimmt die Pub- Siedlungen, ihre gesetzten wie gewachsenen likation den randständigen Topos der Garage Strukturen. Mit Reiterin auf Pferd vor Platten- auf. Dabei wurden die Orte nicht nur besich- kulisse auf dem Cover sammelt er gut recher- tigt, es wurde intensiv in A rchiven geforscht chierte historische Fallstudien (u. a. Berlin, und Anwohner_innen wurden befragt, um so Darmstadt, Leipzig, München, Graz) und die «soziokulturelle Bedeutung» der Gara- künstlerische Interventionsberichte. Einen gen zu erschließen, was die Verfasser_in- abwägenden Einstieg liefert Nina Gribat nen mit einer Kritik an den statischen mit ihrer Analyse recht früher Reforma- «Grenzen einer autoritären Denkmal- tionsprozesse des Märkischen Viertels, pflegepraxis» verbinden (S. 9). Be- in dem sie die enttäuschten und über- gleitet von einigen Gemeinplätzen, zogenen, zum Teil chauvinistischen und so etwa über die «männerdominierte einseitigen «Beteiligungserwartungen» Autokultur» (S. 25), liegt der Fokus auf (S. 17) verschiedener Gruppen unterstreicht: den Garagenkomplexen als Inbegriff von BESPRECHUNGEN 171 CHRISTOPH EGGERSGLÜSS «Selbsthilfe und Eigenbaupraxis» in der DDR (S. 21).12 Auch in diesem Buch ist Bewahren Programm. Waren es dort die alternden Zeitzeug_innen, sind es hier die letz- ten Zeugnisse informeller Baukultur, die es angesichts des Endes des Schuldrechtsanpassungsgesetzes über die Nutzungs- und Besitzverhältnisse zu bewahren gilt. Der Band überzeugt, wo er Material- und Archivfunde präsentiert und (vermeintlich) anonymen Architektu- ren hinterherspürt. Ein wenig schief liegt das Kapitel «Making Heritage», in dem man das eigentliche Ma- nifest erkennen mag. Fraglich bleibt, ob es diesen Zu- satz wirklich braucht. Sind die angeführte Reihe großer Namen (Alberti, Riegl, Koolhaas …) und der weit auf- gespannte Kontext von CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) nötig, um das Besondere der DDR-Garagenkultur zu markieren? Eine Einordnung in die für sich schon schwierige Ostmoderne-Forschung wäre hilfreicher gewesen, wie sie in den letzten Sätzen aufscheint und doch wieder auf die internationale Büh- ne flieht.13 Eine Begründung aus dem Material heraus wäre nachvollziehbarer gewesen: Garagenanlagen als kollektive Produkte, für die Vereine und Bewohner_in- nen verantwortlich zeichnen, geduldete Schwarzbauten und variantenreiche Typenbauten (Dresden, Knap- penrode u. a.). Garage bedeutet, das unterstreichen die Beiträge, nicht nur geschützter Parkplatz, sondern Anlegen von Materialvorräten. Sie ist Ort des Versam- melns sowie Zurückziehens von Familie und / oder Staat: «Rund um die Garagen herrscht eine rege Reparatur- kultur, die ihren Erhalt sichert.» (S. 16) Die Stärke des Buches liegt nach dem einleitenden historischen Auf- zug in den verdichteten Miniaturen. Dabei hätte man sich gelegentlich den ausführlichen Abdruck der zitier- ten Archivfunde (wie etwa S. 13, 27) gewünscht, gerade wenn von nicht realisierten Planungen (S. 143), Bauan- trägen (S. 107) oder gar besonderen Typenentwürfen die Rede ist (S. 83). Mit dem mutmaßlichen Manifest hingegen werden Teile der eigentlichen Historiografie überschrieben, das Erbe, um das es geht, überformt. Diesen Punkt macht die Publikation selbst. Die Au- tor_innen kritisieren die «kunsthistorisch-wissen- schaftliche Interpretationsmacht» (S. 159), eine starre Konservierungslogik, plädieren mit Dolores Hayden für das Kleine, Namenlose und Alltägliche (S. 165) und stellen zugleich fest, Denkmalpflege beginne mit dem Auswählen und Aufzeichnen, werde also von kuratori- schen Aspekten begleitet.14 Forschungsdesiderat bleibt 172 ZfM 27, 2/2022 PLATTENKRITIK UND TYPENSCHAU indessen eine architekturhistorische Aufarbeitung der 1 Im Mai und Juni 2022 fand Christine Hannemann: Die Platte. mehr oder minder anonymen Geschichte der Typen- hier treffenderweise die Foto- Industrialisierter Wohnungsbau in ausstellung WBS 70 von Fabian der DDR, Wiesbaden 1996. bauten. Dabei lohnt die Lektüre des Bands allemal, Heublein statt, die das Leben vor 6 Zum Fotostudium an der denn er erreicht, was er verspricht: die Würdigung der den Bauten beleuchtete. HGB Leipzig vgl. Agneta Jileks Garage als «eigenständige architektonische Typologie» 2 Vgl. hierzu das großformatige Dissertation Arbeit im Bild. Die Buch zum gleichnamigen Festival, Repräsentation von Arbeit in der (S. 28). Nicht zuletzt können die Lektürehinweise dazu u. a. mit Bildern von Harald staatlich geförderten Autorenfoto- dienen, das Feld weiter zu erschließen und gleicherma- Kirschner, von Juliane Richter, grafie der 1980er Jahre in der DDR, ßen gelungene Seminare zu gestalten. Tanja Scheffler, Hannah Sieben Berlin 2020. Siehe hierzu auch (Hg.): RASTER BETON – Vom Leben den Film Platte mit Aussicht: Über — in Großwohnsiedlungen zwischen das Neubaugebiet Dresden-Gorbitz, Kunst und Platte – Leipzig-Grünau im Regie: Uta Hergert und Marcel i nternationalen Vergleich, Weimar Raabe, Deutschland 2005/06, 2017. 80 min. 3 Die WBS 70 wurde 1969 von 7 Steffen Mau: Lütten Klein. der Bauakademie der DDR sowie Leben in der ostdeutschen Transfor- der TU Dresden entwickelt und mationsgesellschaft, Frankfurt / M. ging nach einem Versuchsbau 2020, 40, im Orig. kursiv. des Wohnungsbaukombinats 8 Ebd., 37. Neubrandenburg ab 1972 / 73 in 9 Vgl. Frederike Lausch: Serie. Es wurden etwa 42 Prozent Architektenausbildung in Weimar: von 1,52 Millionen W ohnungen 29 Lebensläufe zwischen DDR und in dieser Plattenbauweise BRD (Forschungen zum bau- errichtet, vgl. Bundesministerium kulturellen Erbe der DDR No. 4), für Raum ordnung, Bauwesen Weimar 2015. und Städtebau: Leitfaden für die 10 Vgl. hierzu das ZfM-Schwer- Instandsetzung und Modernisie- punktheft Medien / Architekturen rung von Wohngebäuden in der (1 / 2015), dx.doi.org/10.25969/ Plattenbauw eise (Wohnungsbauserie mediarep/1362. 70 – WBS70 6,3 t), Berlin 1997, 3. 11 Wovon u. a. auch Steffen 4 Polen orientierte sich nicht Maus autobiografisch unter- nur am Massenwohnungsbau malte Studie Lütten Klein erzählt: Frankreichs, sondern auch an der «Niemand hatte der DDR eine (westlichen) ISO (Internationale Ewigkeitsgarantie gegeben, aber Organisation für Normung), alle hatten sich über vierzig Jahre während die DDR den eigenen an ihre Existenz gewöhnt.» TGL (Technische Normen, Güte- Mau: Lütten Klein, 113. vorschriften und Lieferbedingun- 12 Stellvertretend für die gen) folgte, zudem waren die zahlreichen Arbeiten über die ‹Grundraster› (30 × 30 cm bei der Kulturtechniken des Reparierens polnischen W 70, 1,20 × 1,20 m bei kann hier hingewiesen werden der WBS 70 in der DDR) verschie- auf das Heft ilinx. Berliner Beiträge den (vgl. WBS 70, 38). zur Kulturwissenschaft, Nr. 4: Work- 5 Mehr zur Baukonstrukti- arounds. Praktiken des Umwegs. onsgeschichte der einzelnen 13 Vgl. hierzu Mark Escherich, Typenreihen und Experimental- Hans-Rudolf Meier: Denkmale in bauten sowie Beteiligung der der DDR – Denkmale der DDR, Denkmalpflege in dem minutiös in: Roman Hillmann (Hg.): Moder- recherchierten Band Moderne ne Architektur der DDR. Gestaltung, Architektur der DDR. Gestaltung, Konstruktion, Denkmalpflege, Leipzig Konstruktion, Denkmalpflege, hg. v. 2020, 142 – 154. Roman Hillmann, Leipzig 2020. 14 Casper und Rellensmann Ebenso hilfreich ist das aktuelle schreiben: «Der Auswahlpro- zweibändige Nachschlagewerk zess von Denkmälern wird Vom Seriellen Plattenbau zur komple- bei aller Wissenschaftlichkeit xen Großsiedlung. Industrieller Woh- immer auch von der persönlichen nungsbau in der DDR, 1953 – 1990, Zuschreibung bestimmter Werte hg. v. Philipp Meuser, Berlin 2022, getrieben – individuell, subjektiv, insbesondere die abgedruckten letztendlich abhängig von Produktions- und Baustellen- verschiedenen kulturellen und fotos zur Wohnungsbauserie gesellschaftlichen Prägungen.» 70, S. 249 ff. Grundlegend vgl. (Garagenmanifest, 167 f.) BESPRECHUNGEN 173