Geschrumpfte Frauen, akrobatische Dienstmädchen und zerlegbare Hausangestellte Komikerinnen des frühen Trickfilms* Maggie Hennefeld Viele Filmkomödien des frühen Kinos scheinen geradezu besessen von Frauenfiguren, die ihre Form oder Gestalt verändern: Hausmäd- chen, die sich selbst Arme und Beine amputieren oder über mensch- liche Proportionen hinaus dehnen, wundersame Feen, die zu Mini- aturen zusammenschrumpfen und Hausfrauen, die sich in Reptilien oder Himmelskörper verwandeln. Filmemacher setzten die Körper komödiantischer Frauenfiguren gewissermaßen als ‹Versuchskanin- chen› ein; sie erlaubten ihnen, mit den Möglichkeiten und Techniken des filmischen Erzählens zu experimentieren. Abgetrennte Gliedmaße ermöglichen es in Filmen wie The Dancing Legs (USA 1908), The Kitchen Maid’s Dream (USA 1907) oder An Odd Pair of Limbs (USA 1908) narrative Kontinuität über entfernte Räume und Orte herzustellen. In Dutzenden Filmen, wie etwa in Princess Nicotine (J. Stuart Blackton, USA 1909), Les Glaces merveilleuses (Segundo de Chomón, F 1907) und Le Spectre rouge (Segundo de Chomón, F 1907), schrumpfen Frauen unwillkürlich zusammen, um sich gleich darauf in einem Glasgefäß (Abb. 1), auf der anderen Seite eines Zau- berspiegels oder im Inneren einer Zigarrenschachtel wiederzufinden. Bilder sich wandelnder Frauenkörper, so möchte ich zeigen, boten Filmemachern einerseits Gelegenheit, die sinnlichen Reize der Film- tricks auszustellen und sich zugleich den formalen Herausforderun- gen zu stellen, diese auffälligen Effekte in ihre Erzählung einzubinden. Im Folgenden untersuche ich Verwandlungen des weiblichen Kör- pers im sogenannten «transitional silent cinema» und zeichne nach, * Anm. d. Red.: Eine längere Version dieses Aufsatzes erschien 2015 erstmals in der Zeitschrift Early Popular Visual Culture (Jg. 13, Nr. 2) als Beitrag zum Themen- schwerpunkt «Tricks and Effects». Längere Auslassungen in der Übersetzung sind gekennzeichnet. Wir danken der Redaktion sowie der Autorin für die freundliche Übersetzungsgenehmigung. 148 montage AV 26 / 2 / 2017 wie der komische Frauenkörper dabei selbst zur Tricktechnik wird.** Mit dem «transitional cinema» ist eine Phase der Filmgeschichte in den Blick genommen, in der sich die visuellen Codes und kulturel- len Werte der Institution Kino rasch veränderten; Bilder weiblicher «Formwandler»*** boten sich in dieser Übergangsphase in besonderem Maße an, das hybride Durcheinander und die formalen Unstimmig- keiten des neuen Mediums zu überspielen. So wurde der weibliche Körper zu einem prominenten Aushandlungsort, über den sich das Verhältnis von Attraktionen und narrativer Integration, aber auch die umfassendere Debatte vom Kino als Massenmedium und gesellschaft- lich-künstlerischer Institution artikulierte. In diesem Aufsatz gehe ich davon aus, dass es eine Verbindung gibt zwischen der Ästhetik der weiblichen Metamorphose und dem Aufkommen der Codes eines Erzählkinos. Mit Fokus auf Darstellungen von Slapstick-Gewalt und Trick-Metamorphosen in Komikerinnen-Filmen der Zeit zwischen 1907 und 1915 sollen dabei vor allem die verschiedenen Möglichkei- ten untersucht werden, wie die damals neu aufkommenden Systeme der filmischen Erzählung geschlechtsspezifische Gewalt und Trick- Metamorphosen integrierten – und zugleich durch sie herausgefor- dert wurden. Das Lachen von Frauen in der Öffentlichkeit bildete im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht nur den Gegenstand öffentlicher Debat- ten, sondern auch gesellschaftlicher Regulierung. So wurden Frauen angehalten, ihre Zähne beim Lachen nicht zu entblößen und – abge- sehen von einem leisen und gedämpften Summen – kein Geräusch zu machen. Der Ton, so beschrieb es ein Kommentator, «sollte wie eine wohlklingende Melodie über die Lippen des Mädchens kräuseln, ** Anm. d. Ü.: Mit dem Begriff des «transitional cinema» beschreibt die angelsächsische Filmgeschichtsschreibung die Zeit zwischen 1908 und 1917 für das US-amerikani- sche Kino als Phase eines umfassenden Wandels, die sowohl die Produktions- und Vertriebsstrukturen, aber auch Ästhetik, Erzähltechniken und Aufführungsformen betrifft. Gemeint ist insbesondere der Übergang vom so genannten «Kino der Attraktionen» zum Hollywood-Erzählkino (vgl. dazu American Cinema’s Transitional Era: Audiences, Institutions, Practices. Hg. v. Charlie Keil & Shelley Stamp. Berkeley: University of California Press, 2004). *** Anm. d. Ü.: Mit dem «Form- oder Gestaltwandler» (englisch: shapeshifter) stellt die Autorin das frühe Kino in die Tradition von Mythologie und Märchen. Figuren, die sich in ein Tier oder eine Pflanze oder von einer menschlichen Figur in eine andere verwandeln, dabei Alter, Ethnie oder Geschlecht wechseln, gehörten seit vielen Jahr- hunderten zum festen Repertoire von Volksmärchen und fantastischer Literatur; vgl. dazu den Eintrag «shapeshifter» im Lexikon der Filmbegriffe (online unter http:// filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=4953, zuletzt auf- gerufen am 20.12.2017). Hennefeld: Komikerinnen des frühen Trickfilms 149 1 In LE SPECTRE ROUGE (Segundo de Chomón, F 1907) zaubert ein Teufel Frauen aus kochendem Öl hervor. [… und nicht] wie eine verstimmte Dampforgel klingen».1 In ähn- lich ambivalenter Weise waren auch Slapstick-Filme mit Komikerin- nen darauf ausgerichtet, die Körperlichkeit von Frauen einerseits zu stimulieren und andererseits zu unterdrücken. Tatsächlich forderte der Topos der widerspenstigen Frau, der in vielen Slapstick-Filmen der Zeit wiederkehrte, das filmische Medium in besonderem Maße heraus – zumindest, wenn man es als Aufzeichnungsmedium ver- stand. Problematisch an den widerspenstigen Frauenfiguren war, dass sie mehrdeutig kodiert waren – und eher unscharfe Bewegungen als präzise Gesten darboten. Anders als die Literatur kämpften fotografi- sche Medien damit, ihre «Wirklichkeitseffekte» – die Tatsache, dass die Kamera jede noch so kleine Bewegung und jedes Detail, das vor dem Objektiv vorbeihuscht, aufzeichnet – unter Kontrolle zu bringen. So bedurfte die Etablierung des Erzählsystems vom klassischen Kino – und sein Angebot an den Zuschauer, gleichsam körperlos, psychologisch- imaginär in ein geschlossenes diegetisches Universum einzutauchen – umfangreicher Anstrengungen. Dabei galt es vor allem, das dem Film eingeschriebene «Übermaß an Mimesis über Bedeutung» (Gunning 1 «Loretta’s Looking Glass – She Holds It Up to the Girl Who Squeals», in: Beaumont Journal v. 24.06.1910, S. 3. 150 montage AV 26 / 2 / 2017 1991, 17) produktiv zu machen. Dieser Lernprozess des Mediums war eng verbunden mit Bemühungen, den Exzess der körperlichen Gesten komischer Frauenfiguren unter Kontrolle zu bringen. Die Körper der Komikerinnen wurden zugleich entfesselt und kontrolliert – aufgelöst und sodann in einer festen und dauerhaften Form wiederhergestellt. Diese Verwandlungen traten häufig in Verbindung mit stilistischen Experimenten der Filmemacher auf, die dadurch auch das Potenzial von unleserlich-irrationalen Bild- und Erzählformen erprobten. Die Art und Weise, wie die Ästhetik des sich wandelnden Frauen- körpers eingesetzt wurde, konnte je nach Komödien- und Filmtypus stark variieren. Wie sehr diese Unterschiede geopolitisch grundiert waren, wird deutlich, wenn man die genderspezifischen Ikonografien zweier Filmproduktionsfirmen – einer amerikanischen und einer fran- zösischen – miteinander vergleicht: die Vitagraph Company of America und Pathé Frères. Wie es zu zeigen gilt, nutzten beide seltsam defor- mierte Konfigurationen weiblicher Körperlichkeit, um in verschie- denen Genres und ästhetischen Praktiken mit Erzählformen zu expe- rimentieren. Spektakuläre Darstellungen weiblicher Verwandlungen sollten die visuellen und semiotischen Exzesse der noch etwas holpri- gen Filmsprache der Übergangsphase vergessen machen. Dabei verfolg- ten beide Unternehmen auch ähnliche Marketingstrategien – ging es ihnen doch darum, durch Qualitätsproduktionen einen künstlerischen Status zu behaupten, ohne dabei die lukrative Dimension des Kinos als Massenunterhaltung einzubüßen. Insofern Zauber- und Trickfilme eine Spezialität beider Unternehmen bildeten, waren ihre Erzähltechniken durch sämtliche Genres hinweg von Topoi des Magischen getragen. Dennoch setzten Vitagraph und Pathé in ihren Filmen durchaus gegen- sätzliche Strategien und formale Mittel ein, wenn es darum ging, den narrativen Anforderungen des Mediums gerecht zu werden. In keinem anderen Genre tritt diese Dynamik deutlicher hervor als im Trickfilm. Vitagraph und das Streben um gesellschaftlichen Aufstieg In den US-amerikanischen Debatten um 1910 war die künstlerische und gesellschaftliche Anerkennung der Filmkomödie eng an die Frage gekoppelt, ob diese es schaffte, den Zuschauer innerlich zum Lachen zu bringen – anstatt ihn in tobendes Gelächter ausbrechen zu lassen. Der Zuschauer sollte den Humor des Films durchaus genießen, aber nicht allzu ausgelassen und lautstark lachen. Die Vitagraph reagierte auf diese Anforderungen, indem sie zahlreiche Sittenkomödien mit frühen Hennefeld: Komikerinnen des frühen Trickfilms 151 Filmstars wie John Bunny, Florence Turner, Sidney Drew, Clara Kim- ball Young, Lucille McVey und anderen, durch Theater- und Vaudeville etablierten Komikern, produzierte. Filme wie Troublesome Secreta- ries (Ralph Ince 1911), A Mistake in Spelling (James Young 1912) und Goodness Gracious (James Young 1914) orientierten sich am Ideal eines solchen «nachdenklichen Lachens», wie es der englische Schriftsteller George Meredith im 19. Jahrhundert für die Literatur gefordert hatte. Im Einklang mit dem umfassenderen Interesse seiner Zeit für ein körperloses Lachen beschreibt Meredith (1956, 141) dieses Ideal wie folgt: Dieses schlanke, feierliche Lächeln, das der Form eines Bogens nachgebil- det ist, war einst ein großes rundes Satyrlachen, das die Augenbrauen hi- naufschleuderte wie eine Festung, die von Schießpulver erschüttert wird. Dieses Lachen wird wiederkommen, aber […] auf feine Art gemäßigt sein; es wird vom Sonnenlicht des Geistes zeugen und eher geistige Fülle als lär- mende Zumutung sein. Ein nachdenkliches Lachen sollte nicht nur weitere Denkarbeit sti- mulieren, sondern offenbarte sich eher in Form einer Idee denn als unwillkürliche Reaktion oder physischer Automatismus. Film- und Medienwissenschaftler wie William Uricchio und Roberta Pearson (1993), Robert Spadoni (1999) sowie Kristin Thomp- son (1997) haben die Vitagraph vor allem mit der Geschichte der Mit- telklasse und deren Aufstiegsbestrebungen in Verbindung gebracht – und dabei fast ausschließlich den an sich eher geringen Anteil an Qualitätsfilmen, den die Firma produzierte, in den Blick genommen: gekürzte Verfilmungen der großen Klassiker aus Theater und Litera- tur wie King Lear (Blackton 1909), A Midsummer Night’s Dream (Charles Kent 1909) und Oliver Twist (Blackton 1909). Angesichts dieser Herangehensweise mag man sich fragen: Warum wurde ein so produktives und vielseitiges Unternehmen wie die Vitagraph, die zwi- schen 1907 und 1915 weit über 2000 Filme produzierte, bislang nur über diesen begrenzten Teil seiner Gesamtproduktion erforscht? Oder, anders gefragt: Warum wurden in der Filmgeschichtsschreibung zur Vitagraph ausgerechnet die Slapstick-Filme der Komikerinnen überse- hen oder ausgelassen? Ich möchte argumentieren, dass diese Auslassung aus der Filmgeschichtsschreibung der Übergangsphase der 1910er-Jahre den Selbstdarstellungen der Filmindustrie geschuldet sind, die zumeist davon erzählt, wie das Kino zu einem gesellschaftlich anerkannten Medium wurde und zunehmend die bürgerliche Mittelklasse erreichte. 152 montage AV 26 / 2 / 2017 Ein ganz anderes Bild von Vitagraphs Filmproduktion ergibt sich indes, wenn man die häufig übersehenen Komikerinnen-Filme des Unternehmens in ihrer Ästhetik genauer betrachtet. Diese Filme ver- mittelten zwischen dem Massengeschmack einer breiten Öffentlich- keit und den künstlerischen Bestrebungen der Industrie; sie machen damit auch sichtbar, wie ungleichmäßig und bruchstückhaft sich die Filmästhetik, aber auch die Markt- und Publikumsstrategien der Bran- che entwickelten. Aus dieser Perspektive betrachtet, verweist die Rede von der «Übergangsphase» in der amerikanischen Filmgeschichte nicht allein darauf, wie die Filme dieser Zeit eine Brücke schlagen zwischen zwei entgegengesetzten Formen der Zuschauer-Adressie- rung, einer attraktionell-ausstellenden und einer klassisch-narrativen.2 Vielmehr manifestieren sich in den widerspenstigen Körpergesten der Komikerinnen zugleich auch die umfassenderen Wiedersprüche und Heterogenität der Filme dieser Zeit; sie stehen damit auch für die Möglichkeit, diese Phase als vielgestaltigen Moment eines Wandels zu beschreiben und lineare Vorstellungen von Geschichte als «Entwick- lung» oder «Übergang» in Frage zu stellen. In zahlreichen Filmen, die von Princess Nicotine, The Female Politician (1908), Snow Bound with a Woman Hater (1911) und Hypnotizing the Hypnotist (Laurence Trimble 1911) bis hin zu A Midsummer Night’s Dream, The Elf King (Blackton 1908) und A Florida Enchantment (Sidney Drew 1914) reichen, bemühte sich die Vitagraph darum, das Vermögen des Films, intertextuell zu erzäh- len, gleichsam kaleidoskopartig durch Körperkonfigurationen der weiblichen Verwandlung zu erweitern. Die Körpertricks der Frauen wurden zum Mittel, das Filmemachern nicht nur erlaubte, eine neue Filmsprache zu erproben, sondern zugleich auch, die Krisenanfällig- keit des Mediums – sowohl mit Hinblick auf den gesellschaftlichen Status des Kinos als auch seine Marktfähigkeit – zu bewältigen, ihr zu entgehen, oder beides auf einmal. Die filmische Grammatik der körperlichen Metamorphose hatte sich zwischen 1905 und 1908 bei der Vitagraph vor allem an einem Motiv ausformuliert – dem männlichen Sträfling auf der Flucht. Filme 2 Mit Blick auf die Mittel und Konventionen des frühen Kinos spricht André Gaud- reault (2009, 60) von monstration (für «Ausstellen» oder «Zeigen») als «eine Art, jenen Modus zu beschreiben und zu identifizieren, wie dieses Kino Geschichten vermit- telt»; dieser besteht für ihn darin, «Figuren zu zeigen (monstrance), die eher agie- ren als dass sie uns die Ereignisse, denen sie ausgesetzt sind, erzählen» (69). Beson- ders kommt es Gaudreault auf die Unterscheidung zwischen monstration als visuelle Demonstration und narration als filmgrammatische Anspielung an. Hennefeld: Komikerinnen des frühen Trickfilms 153 wie Juvenile Chicken Thieves (1906), The Jail-Bird and How He ‹Flew› (1906), The Acrobatic Burglars (1906), The Disintegrated Convict (1907) und The Thieving Hand (Blackton 1908) erzählen davon, wie flüchtige Sträflinge alle erdenklichen Mittel einsetzen, um nicht wieder im Gefängnis zu landen (Gartenberg 1984).3 Sie mal- ten Streifen auf die Kleidung von Landstreichern, verkleideten sich als Vogelscheuchen (eine häufig rassistisch grundierte Maskerade), zerleg- ten sich in einzelne Gliedmaßen oder drückten ihren gesamten Körper platt. So schlängelt sich in The Disintegrated Convict ein entflohener Verbrecher durch ein kleines Loch in einem Fass, lässt seinen Körper zweidimensional abflachen, sodass er durch einen Fensterspalt flattern kann und zerlegt sich in einen Haufen schwarz-weißer Steine. In diesen Filmen waren dem Körper des Sträflings nahezu keine Grenzen gesetzt, wenn es darum ging, der Polizei- und Staatsgewalt über unterschiedli- che filmische Zeit- und Raumkonfigurationen hinweg zu entkommen. Um 1907 begannen sich diese Bilder der körperlichen Verwand- lung zu verändern – dabei verschoben sich auch die thematisierten Figurentypen und Szenarien. Die phallischen Topoi dieser männlichen Trickfilme – wie die Zerlegung in einzelne Gliedmaßen, unheimlich- schlängelnde Körperverrenkungen sowie Minstrel-Gags – wurden von Komikerinnen übernommen und anverwandelt; mit dieser Über- nahme wappneten sie sich gegen Zensur und andere konkrete gesell- schaftliche Grenzziehungen, die die um sozialen Aufstieg bemühte Filmbranche eingeführt hatte. Die Komikerinnen führten aber auch eine Reihe anderer Verfahren und Themen ein, die zwar an die ernied- rigenden Tricks der männlichen Verfolgungsjagdfilme anknüpften, diese jedoch zugleich umarbeiteten und in ihren sozialen Bedeutungs- kontexten verschoben: Frauen wurden häufig miniaturisiert, komö- diantisch fetischisiert oder körperlich taylorisiert. In den Filmen der Komikerinnen, die Voraussetzungen für noch sehr viel surrealistischere Gewalt-Szenarien schafften, bildet die weibliche Metamorphose ein visuelles Mittel, an dem sich die rasch wandelnde Klassenpolitik der Filmbranche ablesen lässt – schon insofern, als dass die Katastrophe der weiblichen Verwandlungen eine ganz andere Gruppe gesellschaftlicher Akteure in den Vordergrund stellt als der relativ geschlossene Kreis der Gefängnisinsassen. 3 Jon Gartenbergs Aufsatz «Vitagraph Before Griffith: Forging Ahead in the Nickelo- deon Era» von 1984 gehört zu den wenigen filmhistorischen Arbeiten, die sich den frühen Vitagraph-Komödien widmen (vgl. auch Slide 1987, Musser 1983 und Kra- mer 1988). 154 montage AV 26 / 2 / 2017 In Kitchen Maid’s Dream, einer provokativen Kurzkomödie vom November 1907, träumt etwa ein überarbeitetes und übermüdetes Küchenmädchen, dass sie ihre eigenen Gliedmaßen abtrennen kann, um ihre Arbeitszeit zu verkürzen. So heißt es in einer Zusammen- fassung im New York Clipper: «Auf rätselhafte Weise lösen sich ihre Hände ab, entfernen den Teppich vom Boden und kehren den Raum aus. Das Geschirr wäscht sich selbst; Messer und Gabeln tun das Glei- che und ordnen sich wie von selbst in die Besteckschublade ein.»4 Während die meisten Trickkomödien zur weiblichen Körperzerle- gung wie The Dancing Legs oder An Odd Pair of Limbs den Unter- körper fokussieren, zielt Kitchen Maid’s Dream eindeutig auf die Hände. Das Küchenmädchen verkauft buchstäblich ihren eigenen Körper gegen Gerätschaften, die ihr dabei helfen sollen, die unverein- baren Widersprüche aufzulösen zwischen der Arbeit, die ihr abverlangt wird, und dem körperlich Möglichen. Dazwischen sind Bilder lebloser Objekte montiert, die zum Leben erwachen. Dieses Motiv übersetzt die Entfremdung zwischen Arbeit und Leben des Küchenmädchens fast schon wörtlich ins Bild – denn damit unbeseelte Objekte leben- dig werden können, muss das Leben zunächst aus dem entfernt wer- den, was wir bereits für lebendig halten. […] Beim Erwachen ist das Küchenmädchen untröstlich, denn sie muss erkennen, dass ihre hart- herzigen Arbeitgeber ihren Traum völlig ignorieren. Anstatt die eige- nen Gliedmaßen zerbricht sie nun sämtliche Teller und «nimmt eine befehlende Haltung ein, die auf weitere Entwicklungen wartet», wie es in der Filmbeschreibung heißt. Ironischerweise kann diese Frau erst dann zur Handelnden werden, wenn die Differenz zwischen ihrem Körper und den Gegenständen der Arbeit noch einmal bestätigt wird. […] Schlussendlich bricht das Geschirr dort, wo (und damit) es der Körper nicht tut. […] Wie der Körper des Küchenmädchens setzt sich auch der Film nicht so recht zur Summe seiner Teile zusammen. Die Zerstückelung des weiblichen Körpers leitet den Betrachter vielmehr darin an, Kör- per- und Erzählteile, die trotz ihrer radikalen Implikationen einfach zu sehen und zu verstehen sind, imaginär um die ganze Bandbreite der gewaltigen, vagen, widersprüchlichen und unzusammenhängen- den Bedeutungen und Fragen zu erweitern, die diese Filme aufwerfen. […] In Kitchen Maid werden nicht nur Körperzerlegung und filmi- sche Erzähltechniken parallelisiert, auch die Konventionen des damals 4 «Vitagraph Films: 12 Cents per Foot; A New Comic Novelty: The Kitchen Maid’s Dream». Anzeige in: New York Clipper v. 2.11. 1907, S. 1040. Hennefeld: Komikerinnen des frühen Trickfilms 155 2 Prinzessin Nicotine ist in einer Glasflasche gefangen. 3 Ein Mann lacht und bläst Rauch auf die miniaturisierte Nikotinfee. sehr beliebten Traumfilms treten hier deutlich hervor. Die Figuren in diesen Filmen träumen gewissermaßen in der Sprache des Kinos: Sie träumen von den Auswirkungen, die die Filmtechnik auf ihre eige- nen Körper haben könnte. Zugleich dienten diese Traummotive den 156 montage AV 26 / 2 / 2017 Filmemachern als Vorwand, um die unterhaltsamen und unerfüllten Möglichkeiten des bewegten Bildes auszuschöpfen.5 Um 1910 lässt die Popularität des Traums als titelgebendes Filmmotiv nach. Den- noch ist sein Verlauf von 1907 bis 1909 äußerst aufschlussreich, denn in dieser Zeit durchläuft die Darstellung des träumenden Subjekts eine Wandlung, die insbesondere seine Klassenzugehörigkeit betrifft. Diese Veränderung verläuft parallel zur Art und Weise, wie sich die Filmbranche den sozialen Status ihres idealtypischen Zuschauers vor- stellt, nämlich von der Arbeiter- zur Mittelklasse. Entsprechend stellte die Vitagraph ihren Anspruch auf bürgerliche Anerkennung dadurch zur Schau, dass sie den Wahnsinn der Traumsprache in ihren Filmen zunehmend auflöste. Traum-Szenarien in den Vitagraph-Filmen wur- den nun immer logischer und kulturell ehrgeiziger: weg von den widerspenstigen Küchenmädchen und Arbeitern zu Dramenstoffen und Shakespeare-Verfilmungen. So sind vor allem die früheren Beispiele – jene, die zu Beginn der dezidierten Bemühungen der Filmbranche um bürgerliche Anerken- nung entstehen – stilistisch von der Spannung zwischen visuellem Spiel und künstlerischem Anspruch geprägt. […] Kaum ein Film ver- deutlicht diese Spannungen besser als Princess Nicotine. Der Film wurde als Werbefilm für Herrenzigarren produziert und erzählt, wie ein Raucher davon träumt, dass ihm zwei schelmische, puppengroße Nikotinfeen einen Besuch abstatten (Abb. 2 und 3). In seinem Hand- buch Moving Pictures: How They are Made and Worked (1914) beschreibt Frederick Talbot Princess Nicotine als einzigartiges Novum […], anmutig in seiner Konzeption, faszinierend in seinen Themen und vollendet in seiner Gestaltung […]. Alle Tricks, die der kinematografischen Kunst zur Verfügung stehen, werden hier eingesetzt, um den Film von Anfang bis Ende zu einer vollkommen verblüffenden Angelegenheit zu machen. (Talbot 1914, 242) Filmemacher Blackton und sein Kameramann Tony Gaudio hatten diese Trickeffekte nicht in der Kamera durch Mehrfachbelichtungen hergestellt, sondern mithilfe von Requisiten und innovativen Tech- niken aus dem Theater umgesetzt: Die Körper der Darstellerinnen 5 Neben The Kitchen Maid’s Dream sind etwa auch The Soldier’s Dream, A Curious Dream, and The Piker’s Dream (alle USA 1907), A Policeman’s Dream, A Workingman’s Dream und A Dream of Wealth (alle USA 1908) sowie The Dramatist’s Dream, The Sculptor’s Dream und A Midsummer Night’s Dream (alle USA 1909) zu nennen. Hennefeld: Komikerinnen des frühen Trickfilms 157 wurden sorgfältig positioniert und dann durch versteckte Spiegel gefilmt. In den Einstellungen, in denen sie alleine zu sehen waren, posierten die Feen neben riesigen Bühnenrequisiten – darunter eine Zigarrenbox, die groß genug war, dass die Darstellerinnen darin auf- recht stehen konnten, eine Maiskolbenpfeife, deren Kopf die Größe einer Tonne hatte und überdimensionierte Streichhölzer, die fast einen Meter lang waren. Für die Einstellungen, in denen sowohl der rau- chende Mann in Lebensgröße als auch die zauberhaft verkleinerten Feen zu sehen sein sollten, platzierten die Filmemacher die Darstelle- rinnen auf einer Plattform vor der Kamera und filmten sie dann durch einen Spiegel, der weit hinter dem Raucher angebracht war. Gewiss: Der Film bietet eine Reihe perverser und fetischisierender Ikonogra- fien junger Frauen – etwa, wenn die Feen dem Raucher den Hintern zeigen oder wenn eine der jungen Frauen im ebenso bizarren wie heftigen Finale buchstäblich schmilzt, als sie mit Sodawasser besprüht wird, und durch die Einbindung zahlreicher Werbeaufnahmen für die Zigarrettenmarke «Sweet Caporal» ist auch die werbende Funktion des Films kaum zu übersehen. Zugleich scheint Princesse Nicotine jedoch darauf bedacht, sich als künstlerisch ambitionierter Film zu prä- sentieren – indem er fortlaufend ausstellt, dass die Filmtricks mit den Mitteln des Theaters hergestellt wurden. Die Miniaturisierung bildete einen besonders auffälligen geschlechtsspezifischen Trickeffekt, über den die Filme der Vitagraph das Thema des gesellschaftlichen Aufstiegs verhandelten. Entscheidend ist, dass der Zuschauer dabei stets als Individuum und nicht als Teil einer unkontrollierbaren Massenöffentlichkeit adressiert wird. Der Topos der Mikrografie zirkuliert auch durch zahlreiche der sogenann- ten Qualitätsfilme der Vitagraph (Stewart 1993). Es handelte sich dabei zumeist um Literatur- und Theaterverfilmungen, die unter so mondän klingenden Labels wie «films de luxe» beworben wurden. Häufig boten diese Filme eine Reihe Zaubertricks und Attraktionen, womit sie zugleich die in den stark verkürzten Erzählungen angelegten Wider- sprüche überspielen und einebnen konnten. So sind etwa die Leer- stellen und Auslassungen auf der Handlungsebene der Shakespeare- Verfilmung A Midsummer Night’s Dream schnell vergessen, wenn eine Darstellerin als miniaturisierter Puck auftritt. […] Über mehrere Einstellungen hinweg folgt der Film Puck auf eine verträumte Reise, die mit bewegter Kamera, Split Frames und Mehrfachbelichtungen einen fast schon ätherischen Raum eröffnet. Talbot sieht in diesem pseudo-narrativen Exzess von Trickeffekten ein Bestreben, das Lichtspiel «auf ein nicht weiter reduzierbares Minimum 158 montage AV 26 / 2 / 2017 [zu kondensieren], ohne dabei den Zusammenhang zu verlieren» (146). Indem A Midsummer Night’s Dream die Erzählung von Pucks Pos- sen durch den auffälligen Einsatz von Filmtechniken ästhetisiert, liefert der Film eine visuelle Entsprechung zu den langen Zwischentiteln, die diese Sequenz rahmen, ohne das dort Erzählte im Detail darstellen zu müssen. Anders gesagt: Die Handlung wird zwar vornehmlich durch die geschriebene Sprache erzählt, dann jedoch zerlegt und durch Trick- techniken zu einer visuell reizvollen Sequenz ausgearbeitet. So bewarb auch der Vitagraph Bulletin diesen Film mit den Worten: Die Kenner der Werke des großen Dramatikers werden die sorgfältige Bild- gestaltung vieler Szenen genießen, während das ganze Stück so klar darge- stellt ist, dass es auch denjenigen Zuschauer begeistern wird, der nicht mit den Werken Shakespeares vertraut ist.6 Mit ihren magisch zusammengeschrumpften Körpern setzen die Miniaturfrauen in den Filmen der Vitagraph das Bestreben nach einer narrativen Verdichtung geradezu sinnbildlich um; zugleich bedienen sie Fantasien vom Zuschauen als privater oder personalisierter Erfah- rung. Ob durch ein Vergrößerungsglas oder durch wortlastige Zwi- schentitel gerahmt: Die miniaturisierten Frauenfiguren bekräftigen mit ihren Körpern auf unübersehbar Weise Aufsteigerträume, die im Kino an die Individualisierung des Zuschauers gekoppelt waren. Die Metamorphosen von Pathé: Elastizität der Komikerin und Marktflexibilität Während die Filme der Vitagraph ihre sozialen Widersprüche durch ästhetische Mittel aufzulösen suchten – darunter auch der Einsatz weiblicher Metamorphosen, gingen die Filme von Pathé Frères das Thema vielseitiger an. Tatsächlich lässt sich in Pathé-Filmen ein grö- ßeres Spektrum an Körperverrenkungen und körperlicher Beweglich- keit der Frauen beobachten, das sich deutlich absetzt vom Topos der körperlichen Starrheit der Frauenfiguren, wie er die Vitagraph-Pro- duktionen prägt. Wo weibliche Gliedmaßen in den Vitagraph-Filmen auseinanderbrechen, verbiegen und dehnen sie sich in einem Pathé- Film über die menschlichen Proportionen hinaus. Diese Faszination für die Elastizität des weiblichen Körpers steht fast schon sinnbildlich für die Situation der Pathé, die zu dieser Zeit 6 The Vitagraph Bulletin, Dez. 1909, o. S. Hennefeld: Komikerinnen des frühen Trickfilms 159 um größere kulturelle, geographische und technologische Flexibilität kämpfte. Ausgerechnet der internationale Erfolg brachte die Firma in eine prekäre Situation, wie Richard Abel zusammenfasst: «Kurz gesagt, der enorme Erfolg machte die Pathé-Frères zu einer Bedrohung (noch dazu einer ausländischen) für andere Unternehmen auf dem US-ameri- kanischen Markt; und dieser Erfolg war abhängig von einer Infrastruk- tur, die alles andere als unverwundbar war» (1993, 370–71). Im Kontext dieser wirtschaftlichen und kulturellen Zwänge wurde die Verwand- lung der widerspenstigen Frau für Pathé zu einer besonders passenden Figur; über sie ließen sich – auch innerhalb der Filme selbst – die Unbeständigkeit des internationalen Filmmarktes sowie die sich rasch verändernden Codes und Standards des Erzählkinos verarbeiten. In den Pathé-Filmen lassen sich unterschiedliche ästhetische Strate- gien erkennen, mit der die Firma versuchte, der angespannten Lage des Unternehmens und seiner ungewissen Zukunft im weltweit entschei- denden US-amerikanischen Markt zu begegnen. Da waren zum einen Pathés Zauber- und Märchenfilme, die viel Lob für ihre faszinierende Kunstfertigkeit ernteten (Minguet Batllori 1999). […] So fanden hyp- notisierende Spektakel wie Transformations élastiques (Jean Durand 1909), Magie moderne (Chomón 1908) und Les Rosaces merveil- leuses (1909) Anerkennung für «ihre wundervollen Verwandlungen …, die die Zuschauer in ihren Bann ziehen werden».7 Diese Filme wand- ten einfache, aber beeindruckende Tricks auf den weiblichen Körper an. In Transformations élastiques verwandeln sich mehrere Wasser- gläser in Frauengesichter, aus denen die restlichen Figuren hervorsprie- ßen, womit der Film ein metonymisches Verhältnis zwischen dem flüs- sigen Element des Wassers und der Fluidität weiblicher Körperlichkeit suggeriert. Auf ähnliche Weise verwandelt Les Rosaces merveilleuses lebendige Frauenkörper in Blüten, die Pathécolor-Rosen. Die Zur- schaustellung der Frau bildete zugleich einen Vorwand, das von Pathé patentierte System der Schablonenkolorierung zu bewerben.8 Demgegenüber standen die Pathé-Komödien mit ihren stärker kontextabhängigen Beispielen weiblicher Verwandlungen wie La Bonne des acrobates (1908), Betty’s Fireworks (1910, frz. Verleihti- tel vermutlich Les Pétards de Léontine) und Chauffeur et cochère (1909); sie gerieten in den USA stärker in die Kritik und wurden als 7 «Elastic Transformation», in: Moving Picture World 5, 8. v. 21. August 1909, S. 265. 8 Für weitere Informationen zu Pathécolor, Schablonenkolorierung, Färbung und Virage vgl. die entsprechenden Einträge in Barbara Flückigers Timeline of Historical Film Colors [http://zauberklang.ch/filmcolors/(zuletzt besucht am 24.01.2018)]. 160 montage AV 26 / 2 / 2017 4 In LA BOÎTE À CIGARES (F 1907) lösen sich weibli- che Tänzerinnen in brennende Zigarren auf. ordinäre Possen, wenn nicht gar Inbegriff eines kulturellen Nieder- gangs wahrgenommen. So meinte etwa ein Filmkritiker, in Betty’s Fireworks einen Zusammenhang zwischen Bettys körperlich zerstö- rerischen Gags und dem potenziell schädlichen Einfluss des Films auf die Kultur ausmachen zu können. Ihr explosives Zündwerk bekommt geradezu metaphorisches Gewicht, wenn die Moving Picture World den Film als «an den Rändern ausgefranst» beschreibt.9 Noch expliziter äußert sich ein Rezensent über die Darstellung der Ehe im Pathé-Film La vengeance du coiffeur (1909), wenn er diese verurteilt als «frag- würdigen Flirt, der in Amerika nicht als lustig klassiert werden kann».10 Etwas schematisierend lässt sich festhalten: Während die künstle- rischen, nicht-narrativen Trickfilme der Pathé in den USA für ihre ästhetischen Schauwerte gelobt wurden, galten Filme, die komische Tricks mit Erzähltechniken zu verbinden suchten, häufig als unmora- lisch oder gar pervers. In den Pathé-Trickfilmen der Übergangszeit lassen sich also zwei übergeordnete Tendenzen in der Inszenierung weiblicher Verwand- lung ausmachen: 1. Die Feerien und Zauberfilme bleiben räumlich und kultu- rell unspezifisch. In Filmen wie Magie moderne und Le Bou- doir mystérieux (1907) verwandeln sich Hüte oder Regenschirme 9 «Betty’s Fireworks», in: Moving Picture World 7, 26 v. 24. Dezember 1910, S. 1488. 10 «The Barber’s Revenge», in: Moving Picture World 5, 6 v. 7. August 1909, S. 194. Hennefeld: Komikerinnen des frühen Trickfilms 161 in Frauenkörper; Frauenkörper schrumpfen vor Zauberspiegeln in sich zusammen (Les Glaces merveilleuses, 1907, und Satan s’amuse, 1907) oder verwandeln sich in Schmetterlinge oder andere fliegende Geschöpfe (La Peine du talion, 1906 und La Boîte à cigares, 1907) (Abb. 4). Welche Form sie auch immer annehmen – die Verwandlungen sind hier weder durch regionale Kontexte noch durch narrative Hinweise motiviert. Als handle es sich um Über- bleibsel des so genannten «Kinos der Attraktionen», unternehmen diese Filme wenige bis gar keine Versuche, ihre Zaubertricks in einer konkreten Zeit oder an einen bestimmten Ort zu verankern. 2. Anders als diese narrativ wenig motivierten Trickfilme, die gleich- sam überall spielen konnten, schienen die Komikerinnen-Filme, die eher komische als phantastische Formen körperlicher Verwandlung inszenierten, stärker kontextabhängig. Das zeigt sich an der offen feindseligen Haltung, mit der die US-amerikanische Fachpresse auf diese französischen Filme reagierte: Im Dezember 1908, als der New Yorker Bürgermeister McClellan die Schließung sämtlicher Nickelodeon-Theater der Stadt anordnete, schrieb die Moving Pic- ture World über La Bonne des acrobates: Dieser Film mag ins Pariser Moulin-Rouge passen, ist aber kein Film für ein amerikanisches Publikum. Zwar lachten einige unwissende Zuschauer über die Darbietungen der Frauen, die ihre Glieder bei ihren akrobatischen Stunts und Stürzen enthüllen; vielen anderen Personen, darunter Damen, war es jedoch kaum möglich, auf diese Szenen nicht mit Verachtung zu reagieren.11 Wiederholt wurden französische Komödien dafür kritisiert, dass sie mit ihren Geschichten auf Konventionen Bezug nahmen, die einem ame- rikanischen Publikum im besten Falle «unklar» waren, im schlimmsten Fall als «geschmacklose, unappetitliche und kulturell abstoßende The- men» gesehen wurden, die man zensieren müsse. In einer Reaktion auf den Film Un détective amateur (1909) lästert die Moving Picture World, man möge «dem amerikanischen Publikum verzeihen, wenn es ein Schaubild brauche, um die Komik dieses Films zu verstehen».12 Jane Is Unwilling to Work (1909, frz. Verleihtitel unbekannt) wurde für sein Übermaß an groben Prügelszenen verrissen, während Mariage à 11 «The Acrobatic Maid», in: Moving Picture World 3, 24 v. 12. Dezember 1908, S. 476. 12 «The Amateur Detective», in: Moving Picture World 5, 13, v. 25. September 1909, S. 415. 162 montage AV 26 / 2 / 2017 l’espagnole (1909) die Verbindung zwischen Komödie und regiona- len Bräuchen deutlicher herauszuarbeiten schien: Es handelt sich um einen dieser Filme, der eine Szene des Lebens im Aus- land zeigt, die Amerikanern und Amerikanern völlig fremd erscheint … Er vermittelt ein Gefühl dafür, wie leicht einige der ernsteren Seiten des Le- bens von diesen genussliebenden Menschen betrachtet werden.13 Mit dieser Kritik verband sich die Annahme, dass die körperlichen Verwandlungen der Pathé-Komikerinnen im US-amerikanischen Kontext für ein vermeintlich falsches Zuschauerlachen standen: für ein krampfhaftes Lachen des Körpers, das in den Debatten der Zeit dem «nachdenklichen Lachen» des Intellekts entgegengestellt wurde. In Kontext dieser Diskussion wurden die Komikerinnen zu rhetori- schen Figuren, über die gegensätzliche Konzepte des Lachens vonei- nander abgegrenzt wurden. Diese Spannungen zwischen Körper und Geist – zwischen dem vulgär lachenden Zuschauer und dem artig absorbierten Betrachter – zeigte sich wiederholt in der Art und Weise, wie die Filmbranche Geschmack als geschlechtsspezifische Kategorie verhandelte. Ob strategisch oder unbewusst, war damit eine einfluss- reiche Dichotomie etabliert: Dort, wo metamorphe Frauenkörper in erster Linie zum Zweck der ästhetischen Zurschaustellung auftraten, galten sie als Verkörperung der künstlerischen Reize des Mediums; dort, wo ihre komischen Verwandlungen in die Grammatik der Film- erzählung integriert wurden, galten sie als Sinnbild für die korrumpie- renden Einflüsse des Mediums und schienen die Legitimität des Films als kulturelle Institution grundlegend in Frage zu stellen. Indem die amerikanische Fachpresse die Figur der metamorphen Frau als gute Ikone, aber schlechten Charakter konstruierte, versuchte sie zugleich, die im Erzählkino angelegten Form- und Klassenwidersprüche aufzu- lösen. Immerhin sah sich die Branche um 1907/08 mit «einer Krise der Filmerzählung [konfrontiert …], als man versuchte, längere und komplexere Geschichten durch Erzähltechniken zu vermitteln, die sich dem Publikum oft nicht unmittelbar erschlossen» (Bowser 1990, 42). Die Kluft zwischen Zielen und Mitteln, zwischen den Ambitio- nen der Industrie und ihrer konkreten materiellen Situation schien jedoch schnell – im Tempo eines Jump Cuts – überwunden. Und wie- der waren es die elastischen Körper der Komikerinnen in Trickfilmen, 13 «Spanish Marriage», in: Moving Picture World 5, 24, v. 11. Dezember, 1909, S. 841. Hennefeld: Komikerinnen des frühen Trickfilms 163 die eine zumindest vorläufige Lösung für die sprunghafte historische Entwicklung der filmischen Erzähltechnik lieferten. Der Topos der weiblichen Verwandlung wurde – vor allem in euro- päischen Filmen – immer dann aufgewertet, wenn er unmotiviert daherkam. So hieß es zum Beispiel über den Film L’Éventail (Segundo de Chomón 1909), der «verschiedene Typen schöner Mädchen in klas- sischen Posen» arrangiert, es handle sich um «einen kunstvoll kolo- rierten Film […und ein] Meisterwerk der Trick-Fotografie».14 Andere Pathé-Feerien wie Les Papillons japonais (Segundo de Chomón 1908) verbanden die körperlichen Verwandlungen weißer Frauen mit Stereotypen von Orientalismus und Exotismus: Nach einer Serie von Verwandlungen, bei denen sich dem erstaunten Auge des Betrachters die herrlichsten Farben darbieten, bei denen sich die dun- kelsten mit den zartesten Farben mischen, verwandelt sich dieser wunder- bare Farbtraum über den Schmetterling noch einmal – und eine bezau- bernde, junge Frau lässt uns die Schönheiten des vorigen Wunders bald vergessen, indem sie diese mit einem anmutigen und faszinierenden Loïe- Fuller-Tanz in den Schatten stellt.15 Farbe ist in diesem Film nicht nur als Spezialeffekt eingesetzt, son- dern wird auch zur rassistisch grundierten Metapher – spätestens dann, wenn sich die schablonenkolorierten Schmetterlinge in eine französi- sche Serpentinentänzerin (à la Loïe Fuller) verwandeln. Auf den ersten Blick scheinen die Frauenkörper in Les Papillons japonais als ver- meintlich neutraler Hintergrund eingesetzt, der erlaubt, die Innova- tionen der Schablonenkolorierung vorzuführen, die sich Pathé hatte patentieren lassen.16 «Bei denen sich die dunkelsten mit den zartes- ten Farben mischen», in dieser Formulierung der Filmkritik zeigt sich 14 «A Fan», in: Moving Picture World 5, 1 v. 3. Juli 1909, S. 29. 15 «Japanese Butterflies», in: Moving Picture World 2, 20 v. 16. Mai 1908, S. 445–446, hier S. 445. 16 In einigen Fällen wurden weibliche Körper durch den Eingriff der Zensur oder eine plakativ aufgetragene Handkolorierung umso deutlicher hervorgehoben. Joshua Yumibe und Alicia Fletcher argumentieren, dass Farbe mitunter wie eine Form der Zensur fungieren konnte und insbesondere leicht bekleidete Frauen in französischen Trickfilmen verdecken sollten. Sie zitieren einen Zeitungsausschnitt aus der Davide Turconi Collection über Chomóns Les Tulipes (F 1907), in dem beschrieben ist, wie die Handkolorierung als moralisches Korrektiv gegenüber der maschinellen Schab- lonenkolorierung wirksam wird: «im Original schablonenkoloriert sind die nackten Beine und Arme der Frauen mit einem grob aufgetragenen, handkolorierten Rotton überdeckt, wahrscheinlich durch einen Zensor» (Yumibe & Fletcher 2013, 19). 164 montage AV 26 / 2 / 2017 jedoch, wie die Differenzen zwischen der Technik des Farbgebungs- verfahrens und den rassischen Konnotationen kultureller Farbcodes (der weißen Schminke japanischer Schmetterlingsfrauen) verwischen. Die offensichtliche Verwechslung zwischen Farbstoff und Hautton unterstreicht die enge Verbindung, die der Film zwischen weiblichem Körper und Filmtechnik herstellt. Selbst da, wo die Darstellungen französischer Schmetterlingsfrauen weniger stark in narrative Strukturen eingebunden sind, scheint die körperliche Gewalt gegenüber dem weiblichen Körper auf eigen- tümliche Weise abstrakt und entrückt. In La Peine du talion (Gaston Velle 1906) bekommt ein böser Wissenschaftler seine verdiente Strafe dafür, dass er Experimente an Schmetterlingsfrauen durchführt. In der freien Natur fängt er Frauen, die sich tänzelnd von menschlichen zu animierten Formen verwandeln, und unterwirft sie seinem skrupellos- sezierenden Blick. Immer dann, wenn die Schmetterlingsfrauen unter seiner Lupe zu sehen sind, werden sie als schablonenkolorierte Zeich- nungen dargestellt (Abb. 5 und 6). Wenn wenig später der Wissenschaft- ler gezeigt wird, der nun seinerseits vom Lepidoptera-Orden wie ein Schmetterling aufgespießt werden soll, sehen wir ihn aus einer komi- schen Vogelperspektive, doch noch immer in Form eines lebendigen Menschenkörpers. Auf diese Weise stellt La Peine du talion dem Slap- stick-Lachen (über den männlichen Wissenschaftler) das verzauberte Erstaunen (angesichts der bunten Zeichnungen) gegenüber. Die scha- blonenkolorierte Animation vermittelt zwischen der Prämisse einer wundersamen Mensch-Tier-Metamorphose und dem Schrecken dabei zusehen zu müssen, wie Frauenkörper seziert und erforscht werden, als seien sie tatsächlich Insekten. Ähnlich wie Les Papillons japonais wurde auch La Peine du talion von der US-amerikanischen Fach- presse für seine zauberhaften Effekte gelobt; diese Reaktionen übersa- hen allerdings, wie die körperliche Gewalt der männlichen Clownerie durch ein abstraktes Bild weiblicher Verklärung negiert wird. Im Gegensatz zu den zauberhaften Schmetterlingsfrauen in nicht-nar- rativen Trickfilmen wurden Frauen der Arbeiterklasse in französischen Trick-Komödien wie La Bonne des acrobates zum Sündenbock für alles erklärt, was den Film zu einem korrupten oder perversen Medium machte (Abel 1999). La Bonne des acrobates erzählt von der missli- chen Lage einer jungen Frau, die mit den besten Absichten die Arbeit als Dienstmädchen in einem Sportler- und Turner-Haushalt aufnimmt. Sie [die Turner, MH] zeigen ihr die Küche, wo sie mit den Pfannen und Kesseln durcheinandergerät und in ihren vergeblichen Versuchen, fleißig Hennefeld: Komikerinnen des frühen Trickfilms 165 zu sein, ein fürchterliches Chaos anrichtet. Als nächstes geht sie ins Esszim- 5 Der Wis- mer, wo sie alles, was sich in Sichtweite befindet, zertrümmert; schließlich senschaftler wird von den landet sie im Schlafzimmer, wo eine andere Dame ihr beibringt, wie man rachsüchtigen Handstand-Überschlag auf dem Bett macht. Dabei geht sie so eifrig ans Schmetterlingen Werk, dass der Raum, als sie ihn verlässt, aussieht, als sei ein Wirbelsturm seziert. durchgezogen.17 6 Unter der Lupe des Wis- senschaftlers Mit ihren Stürzen leitet das akrobatische Dienstmädchen die Mon- erscheinen die tage des Films an. Diese folgt der turnenden Hausangestellten vom Schmetterlings- Sportzimmer in die Küche, ins Esszimmer, ins Schlafzimmer und dann frauen stets als durch den Rest des Hauses. Nicht diese sequenzielle Montage an schablonenkolo- rierte Zeichnun- sich ist bemerkenswert (obwohl sich das aus heutiger Sicht nicht mit gen und nicht in Gewissheit sagen lässt, da keine Kopie des Films überlebt hat), sondern Realfilmaufnah- das Ausmaß, in dem Narration und Innenräume über die Körperbe- men der Körper. wegungen des Dienstmädchens strukturiert werden. […] Die unbeholfenen und angespannten Bewegungen des akro- batischen Dienstmädchens standen nicht zuletzt deshalb in der Kri- tik, weil sie auf die Spannungen verwiesen, die auch im lachenden Filmpublikum latent angelegt schienen. Während die nicht-narrativen Metamorphosen der Schmetterlingsfrauen innere Ehrfurcht und Stau- nen hervorrief und für fluide, mühelose und umkehrbare Mutationen standen, schien die holprige Körperlichkeit des akrobatischen Dienst- mädchens – zumindest in den Augen der amerikanischen Fachpresse – wiederum ein falsches Lachen auszulösen. […] 17 «The Acrobatic Maid», in: Views and Film Index, Dezember 1908, S. 11. 166 montage AV 26 / 2 / 2017 Lustige Frauen und geschlechtsspezifische Filmtricks Es ist unbestreitbar, dass die Frauenfiguren, die zu jener Zeit in Trickfil- men auf den Leinwänden zu sehen waren, oft sehr lustig waren. Zugleich ist auffällig, wie eng Bilder dieser als komisch kodierten Frauen an den Einsatz von Tricktechniken gekoppelt waren. Womöglich sollte dies dem Publikum erleichtern, über Darstellungen einer Slapstick-Gewalt zu lachen, die dem weiblichen Körper zugefügt wird. Zudem ging man davon aus, dass das Publikum einen solchen Vorwand benötigte, um Frauenfiguren als lustig zu erkennen. So beklagten etwa auch zahlrei- che Theaterkritiker der Zeit den Mangel an komischen Frauenfiguren auf der Theaterbühne.18 Tatsächlich jedoch war die Liste an Frauen, die als herausragende Solo-Komikerinnen der Theater- und Vaudeville- Bühnen galten, recht umfangreich: Marie Dressler, Trixie Friganza, Eva Tanguay, Kathryn Osterman, Kate Elinore, Fanny Rice, Louie Dacre, Cecelia Loftus, Ethel Green, Lillian Russell, Vesta Tilley, Kathleen Clif- ford, Kitty Gordon, Elsie Janus, und zu viele andere, als dass man sie hier alle aufzählen könnte. Im Bereich des Kinos vermischte sich die Komik weiblicher Darstellerinnen häufig mit den technologischen Möglichkeiten des Mediums Film – vor allem in der Zeit vor 1908, als die Nennung von Schauspielerinnen und Schauspielern noch nicht üblich war. Die Gestaltung komischer Figuren wurde häufig verwech- selt mit der reinen Ausstellung der Filmtechnik. Bezeichnenderweise geschah dies besonders häufig in Filmen mit Komikerinnen; diese wurden damit zu bloßen Platzhaltern degradiert, die es ermöglichten, die Tricktechnik mit ihren witzig-spontanen Effekten und trotz ihrer Ungereimtheiten wirkungsvoll in Szene zu setzen. Mithin dienten die Komikerinnen in Slapstick-Filmen dazu, das Verhältnis von Trickfilmästhetik und Filmerzählung auszuloten. Fil- memacher der Übergangsphase standen vor der Herausforderung, die auffälligen Trickeffekte in die Maschinerie des damals neu aufkom- menden Erzählkinos zu integrieren. In einem vielzitierten Motogra- phy-Artikel von 1911 beklagt Harrison Dent den Niedergang des Trickfilms: Tricks, die noch vor ein paar Jahren populär waren, werden zunehmend aufgegeben. Ein anspruchsvolles Publikum verlangt nun, dass die Ideen auf 18 So hieß es etwa über die Komikerin Kathryn Osterman: «Sie gehört zu den wenigen lustigen Frauen unter den derzeitigen Schauspielerinnen.» (in: Cleveland Plain Dealer v. 16.04. 1908, S. 7). Hennefeld: Komikerinnen des frühen Trickfilms 167 eine logische Art und Weise ausgearbeitet werden […]. Die Pathés galten lange Zeit als führendes Unternehmen in der Kunst der magischen Trick- bilder […], allerdings scheint ihnen [nun] der Anreiz zu fehlen.19 Matthew Solomon unterstreicht, dass dieser Übergang ein äußerst komplexer Prozess war, und er erinnert daran, in welchem Ausmaß Trickfilme schon immer Formen einer narrativen, auf Kontinuität ausgerichteten Montage vorweggenommen hatten. In seinem Buch Disappearing Tricks argumentiert Solomon (2010, 77): «Das Kino, ins- besondere der Trickfilm, bot eine unwiderstehliche Form moderner Zauberei, in der sich Trick und dramatische Handlung erfolgreich ver- binden ließen». Solomon interessiert dabei vor allem der Status ver- schwindender Objekte – etwa der Effekt einer filmisch potenzierten Fingerfertigkeit, mit der in Le Roi des Dollars (Segundo de Chomón 1905) eine Reihe von Goldmünzen wie von alleine verschwinden. Mit einer ganz anderen Herangehensweise deutet Karen Beckman das filmische Spiel mit der verschwindenden Frau als Teil eines tieferlie- genden Wunsches, Frauenkörper geradezu systematisch aus nationalen und kolonialen Bevölkerungen zu entfernen. Am Beispiel britischer Debatten aus dem 19. Jahrhundert über das «Problem überschüssiger Frauen» zeichnet Beckman absurde Pläne nach, die vorsahen, Tausende weißer Frauen in die britischen Kolonien im Südpazifik zu deportie- ren und damit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: einerseits überschüssige Frauen zum Verschwinden zu bringen und andererseits die Kolonien mit Weißen zu bevölkern (Beckman 2003, 27). In einer weiteren Wendung, die sowohl an Solomons als auch an Beckmans Überlegungen anknüpft, interessieren mich abschließend solche Bei- spiele aus dem Bereich des Trickfilms, in denen Körper der Komike- rinnen eben nicht aus dem Erzählkino verschwinden. Da ist zum Beispiel Eva Is Tired of Life (F 1911), der durch den Einsatz geschlechtsspezifischer Tricks davon erzählt, wie die Prot- agonistin Eva sich selbst zum Verschwinden bringen möchte. Doch es scheint ihr unmöglich, ihren Körper loszuwerden. Und genau das wird zum «running gag» des Films – dass Eva nicht in der Lage ist, sich umzubringen, trotz der brutalen Gewalt, die sie sich selbst zufügt. Auch in dieser Pathé-Komödie haben wir es mit einer überarbeiteten Angestellten zu tun, die erfolglos versucht, ihrer Misere ein Ende zu setzen: «Sie springt über eine Brücke, um wieder zurück zu springen; 19 Harrison Dent, «Tricks and Magic in Pictures», Motography 4, 1911, S. 32–36 (Zitat auf S. 35). 168 montage AV 26 / 2 / 2017 sie sitzt unverletzt unter dem Schacht eines Bauarbeiters; nach einer grandiosen Explosion wird sie unversehrt aus einer Feuerwerks-Fabrik gerettet.»20 Evas schier unzerstörbare Konstitution erlaubt dem Film, verschiedene geografische Orte miteinander zu verbinden: von einer Brücke oberhalb der Stadt über einen gefährlichen Gebäudeschacht bis hin zu einer Fabrik für Feuerwerkskörper. Während andere Ver- folgungskomödien – wie La Course à la perruque (Georges Hatot, F 1906), Le Matelas épileptique (Romeo Bosetti und Alice Guy- Blaché, F 1906) oder The Balloonatic (Edward F. Cline und Buster Keaton, USA 1923) – von einem dämonischen Objekt oder einer ver- rückten Maschine vorangetrieben werden, übernimmt Evas Körper die Rolle des außer Kontrolle geratenen Gegenstands. Nicht einer feh- lenden Perücke jagt sie hinterher (wie wenn die glatzköpfige «Dame» in La Course à la perruque durch ganz Paris sprintet), sondern ihrer eigenen Sterblichkeit. Die Energie ihres verbrauchten und zugleich schier unerschöpflichen Körpers steht dabei für das außer Kontrolle geratene Objekt, das einen festen Bestandteil komischer Verfolgungs- filme bildet (King 2009). Genderspezifische Trickfilme wie Eva Is Tired of Life bearbeiten das Spannungsfeld zwischen spektakulären Tricks und narrativen Effekten, zwischen Körper und Medium und verhandeln damit auf humorvolle Weise die Beziehung des lebendigen Subjekts zu einer Welt verblüffender Illusionen und verschwindender Dinge. Die Filme von Vitagraph und Pathé setzen komische Frauenkörper häufig auf ähnliche Weise ein: sie vermitteln zwischen der Lust an der reinen Zurschaustellung der filmischen Zeichen und ihrer narrativen Kohärenz. Gerade die Slapstick-Komikerinnen scheinen die Gewalt des Filmschnitts selbst bereits internalisiert zu haben, wenn sie sich körperlich verrenken, ihren Körper in einem geradezu wortwörtlichen Sinne auflösen, sich zwanghaft schütteln oder in einzelne Gliedmaßen zerlegen – und damit zugleich den diegetischen Raum strukturie- ren. Während das narrative Kino darum bemüht ist, den Überschuss unmotivierter visueller Zeichen durch seine Erzählökonomie kon- trollierbar zu machen, nehmen die Komikerinnen die Überbleibsel dieser Ökonomie in ihren körperlichen Slapstick-Darbietungen auf. Damit machen sie die grundlegende, im Slapstick angelegte Span- nung zwischen körperlicher Verletzung und materieller Unversehrt- heit sichtbar (– bewirkt Slapstick-Gewalt dauerhaften Schaden? –); sie werden zum Aushandlungsort widerstrebender Vorstellungen vom 20 New York Dramatic Mirror v. 11.09.1911, o. S. Hennefeld: Komikerinnen des frühen Trickfilms 169 Lachen – zwischen erzieherischem Spott und kollektivem Lachen, zwischen kühler Distanz und mitfühlender Identifikation. Gerade die erzieherische Funktion des Lachens wurde in Arbeiten zum frühen Kino häufig überbetont. Uncle Josh at the Moving Pic- ture Show (Edwin S. Porter, USA 1902) diente häufig als Beispiel, wenn es darum ging, die erzieherische Funktion der Slapstick-Gewalt zu verdeutlichen. In dieser selbstreflexiven Komödie versteht der leichtgläubige Bauerntölpel («rube») Onkel Josh den Unterschied zwi- schen echten menschlichen Körpern und der Illusion der Filmprojek- tion nicht; schlussendlich reißt er wütend die Leinwand herunter, um die weibliche Figur im Film vor einem An- und Übergriff zu bewah- ren. Wie Thomas Elsaesser (2006), Miriam Hansen (1991), Stephen Heath (1986) und andere argumentiert haben, instruieren Onkel Joshs Dummheiten die Zuschauer mittels komischer Negation, sich – anders als er – nicht von ihren Sitzplätzen zu rühren. Durch sein Gelächter markiert das Publikum, dass es sich anders als Josh verhalten möchte, dass es ihm im Kino um eine psychologische Distanzierung von den Figuren auf der Leinwand und nicht um Nähe zu ihnen geht. Dadurch, dass er sich mit Josh identifiziert, wird der Zuschauer zum sich selbst disziplinierenden Subjekt und das Kino zum ideologischen Apparat. In den Filmkomödien der Übergangszeit spiegeln sich also nicht nur die Geschlechter-Widersprüche der öffentlichen Institution Kino, die Fantasien männlicher Zuschauer bediente und sich zugleich an ein überwiegend weibliches Publikum richtete (Kibler 1999); vielmehr ermöglichte der Körper der Frau dem lachenden Zuschauer auch, sowohl mit als auch gegen die Gags der Filme zu lachen. […] Die Slap- stick-Komikerinnen der Vitagraph-Komödien lassen die doppelte Dif- ferenz zwischen dem wissenden und dem naiven Zuschauer, die Filme wie Uncle Josh at the Moving Picture Show mühsam etablierten, fortlaufend kollabieren. Prinzessin Nicotine, die Küchenmagd, die selbstmörderische, aber unsterbliche Eva, und andere Komikerinnen, die sich mit filmischen Mitteln verrenken, adressieren den Modus eines komischen Glaubens, der über eine einfache Verleugnung hinausgeht und das Bedürfnis der Zuschauer, sich mit den Opfern komödianti- scher Verstümmelung zu identifizieren, eher steigert als ironisch bricht. Gerade weil die metamorphen Körper der Komikerinnen häufig mit der Filmtechnik verschmolzen, übernahmen sie eine zentrale Rolle, wenn es darum ging, die gewaltigen Umwälzungen des Erzählfilms und der Haltung des Publikums im Kino der 1910er-Jahre zu orchestrieren. Aus dem Amerikanischen von Kristina Köhler 170 montage AV 26 / 2 / 2017 Literatur Abel, Richard (1993) In the Belly of the Beast. The Early Years of Pathé-Frères. In: Film History 5,4, S. 363–385. ––– (1999) The Red Rooster Scare: Making Cinema American, 1900–1910. Los Angeles: University of California Press. Beckman, Karen (2003) Vanishing Women. 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