Inhalt Editorial 3 Eggo Müller Globalisierung und Medien Bericht eines ortsgebundenen Lesers 9 John Tulloch Das implizite Fernsehpublikum in der Soap Opera-Produktion Alltägliche rhetorische Strategien unter Fernsehleuten 23 Gunther Kirsch Produktionsbedingungen von Daily Soaps Ein Werkstattbericht 45 Nathalie Iványi Alltagsmenschen als inszenatorische Ressource von Fernsehshows Eine Skizze produktionstheoretischer Erklärungsansätze 55 Udo Göttlich Fernsehproduktionen, factual entertainment, und Eventisierung Aspekte der Verschränkung von Fernsehproduktion und Alltagsdarstellung 71 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth Netzwerksteuerung durch Selektion Die Produktion von Fernsehserien in Projektnetzwerken 91 Miriam Meckel Die Produkton von Wirklichkeit Zur Virtualisierung von Fernsehnachrichten 125 Zu den Autoren 141 Call for papers 143 Editorial In der gegenwärtigen Diskussion um die Medienentwicklung nehmen die Stra- tegien von globalen Unternehmungen mit ihren Zusammenschlüssen sowie die Frage einer Zunahme von Medienkonzentration unter der Perspektive einer weiter fortschreitenden Ökonomisierung des Mediensystems breiten Raum ein. Die Kommunikationswissenschaft interessiert sich schwerpunktmäßig für die Auswirkungen dieser Ökonomisierung auf die Entwicklung der Programmviel- falt und die sich daraus ergebenden Folgen für die gesellschaftliche Rolle der Medien. Unter Bedingungen der globalen Konkurrenz werden dabei auch die theoretischen Modelle einer Überprüfung unterzogen, die auf den Zusammen- hang von Medienwirtschaft und Gesellschaft zielen. Im Vordergrund stehen Fragen der technischen, organisatorischen und vor allem der ökonomischen Veränderung der Fernsehproduktion, die davon ausgehenden Auswirkungen auf inhaltliche und produktionsästhetische Aspekte werden aber kaum bis zu den aktuell ablaufenden Veränderungen in der Fernsehproduktion verfolgt.1 In wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive sind es Fragen zur Entwicklung der Medienindustrie, die im Vordergrund stehen. Dabei geht es um Strategien und Prognosen für industrielle Entwicklungen. Die Entwicklungsperspektiven der Programmindustrie interessieren bezogen auf Standortpolitik und wirt- schaftliche Bedeutung sowie bezogen auf die Effizienz neuer Produktionstech- niken. Medienangebote interessieren unter dieser Perspektive allein als wirt- schaftliches Gut, wobei man sich über die kulturellen Beziehungen und Verän- derungen nur insoweit Klarheit verschafft, wie die besten Rahmenbedingungen für die Erzeugung von „Content“ sicherzustellen sind. Content ist das Schlag- wort einer wissenschaftlichen Perspektive, die kulturelle Produktion und die Reproduktion von Kultur und Gesellschaft ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten thematisiert, aber die von der Kommerzialisierung ebenfalls nicht zu trennenden inhaltlichen und formalen Veränderungen des Pro- 1 Vgl. zu den neueren Arbeiten auf diesem Gebiet u.a. Hermann-Dieter Schröder (Hrsg.) (1999): Entwicklung und Perspektiven der Programmindustrie, Baden-Baden/Hamburg: Nomos Verlagsgesellschaft. Desweiteren Gabriele Siegert (2001): Medien Marken Management. Relevanz, Spezifika und Implikationen einer medienökonomischen Profilierungsstrategie, München: Verlag Reinhard Fischer. Vgl. ferner das aktuelle Themenheft „Ökonomisierung der Medienindustrie“ der Zeitschrift Medien & Kommunikationswissenschaft, Heft 2/2001. 4 montage/av grammangebots aufgrund der Anlage der theoretischen Modelle kaum näher in den Blick nehmen kann. Die Beiträge dieses Bandes bewegen sich an dieser Scheidelinie und versuchen von den inhaltlichen und strukturellen Veränderungen der Fernsehproduktion ausgehend die Auswirkungen, die Bedeutung und die Folgen der veränderten Rahmenbedingungen für die Produktion von Fernsehprogrammen zu ermessen und zu thematisieren. Dabei zeigt sich, dass es auch unter theoretischen Gesichtspunkten gilt, diese Arbeit aufzunehmen, da es bislang kaum umfassend erprobte Konzepte und Zugänge einer Produktionsanalyse in kulturwissen- schaftlicher Hinsicht gibt, auf die zurückgegriffen werden kann. Unter der hier beschriebenen Perspektive war nicht nur zu klären, wie die fortschreitende Ökonomisierung (als Folge der Dualisierung bzw. Triadisie- rung des Rundfunks) bisherige Produktionsweisen des Fernsehens vor allem seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts verändert hat, welche Rolle den neuen Werbe- und Marketingstrategien in der Entwicklung, Verbreitung sowie Programmierung neuer Sendeformen zukommt oder wie die Zuschauer- konstruktionen auf der Anbieterseite die Produktion neuer Angebotsformen angeleitet haben. Es wird auch in den Blick genommen, welche Rolle die Verän- derungen bei den technischen aber auch bei den personellen Ressourcen für die Entstehung neuer Sendeformate und Produktionen bis hinein in die Verände- rungen auf organisatorischer Seite spielen. In seinem Literaturbericht zu „Globalisierung und Medien“ skizziert Eggo Müller einige Problemfelder dieses zentralen medienwissenschaftlichen For- schungsfeldes. Dabei wird deutlich, dass das Leitkonzept des Kulturimperialis- mus, das die politische Debatte um die Rolle der Medien als Motor der Globali- sierung prägte, mehr und mehr von Konzepten der „Hybridisierung“ abgelöst wird – und damit wiederum von einem Schlagwort, das mehr verklärt denn erklärt. Und trotz aller Tendenz zu Differenzierungen bleibt die Frage nach ver- änderten Produktionsstrategien für den globalen Markt ein zu wenig bearbeite- tes Thema wie auch Produktanalysen aus der Perspektive der Globalisierung kaum zu finden sind. Das Forschungsfeld selbst erweist sich zwischen politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Analysen von Makrostrukturen einerseits (transnationale Medienkonglomerate, Satellitendistribution und neue Medien- technologien, nationale Ordnungspolitik, etc.) und eher kultur- und sozialwis- senschaftlichen Analysen von lokalen Dynamiken andererseits als äußerst hyb- rid. In methodischer Hinsicht liegen Produktions- und Produktanalyse auf dem Grenzgebiet zwischen den beiden skizzierten Richtungen. Aber es sollen nicht nur Defizite oder Probleme der aktuellen Forschung auf- gezählt und benannt werden, sondern auch Wege aufgezeigt werden, welche 10/1/2001 Editorial 5 Einsichten mit Produktionsanalysen auf die Veränderungsdimensionen des Fernsehangebots und der Fernsehprogramme möglich sind. Die Beiträge von Tulloch, Kirsch, Iványi, Göttlich und Meckel thematisieren jeweils an verschie- denen Beispielen sowie unter verschiedenen Perspektiven die Veränderungsdi- mensionen sowie die Einflussfaktoren der aktuellen Fernsehproduktion. Im Beitrag von James Tulloch steht das implizite Fernsehpublikum, also das Bild, das die an der Produktion der australischen Soap Opera A COUNTRY PRACTICE beteiligten Redakteure und Drehbuchautoren bei der Konzeption von Erzählsträngen von ihrem Publikum haben im Mittelpunkt des Interesses. Tulloch geht dabei von einer ethnographischen Beobachtung am Set aus und schildert die im Zuge der Produktion eines Geschichtenverlaufs abgelaufenen Diskurse über das Thema, die Geschiche und die dabei deutlich werdenden Annahmen über das Publikum. Diese Analyse von Fernsehproduktion ordnet sich theoretisch der „dritten Generation der Rezeptionsforschung“ zu. Ihr Ziel ist eine umfassende Beschreibung der die Medien im Alltag – dazu gehört auch der Produktionsalltag – begleitenden unterschiedlichen Diskurse. Die von Tul- loch gewonnenen Einsichten und Ergebnisse geben nicht nur Aufschluss über ansonsten verborgene Entscheidungsprozesse, sondern zeigen gerade, wie die Redakteure die Geschichten und die Figuren an Publikumsvorstellungen orien- tieren. Die Daily Soap Produktion ist auch Gegenstand des Beitrages von Gunther Kirsch, der sich mit dem Zusammenspiel der unterschiedlichen an einer Daily Soap beteiligten Produktionsebenen befasst. Im Mittelpunkt steht dabei die deutsche Daily Soap GUTE ZEITEN, SCHLECHTE ZEITEN die auf ein australi- sches Vorbild zurückgeht, mit der sich aber auch die Einführung der soap-spe- zifischen Produktionsweise in Deutschland verbindet. Die deutlich werdende Form der Arbeits- und Produktionsorganisation erlaubt nicht nur einen Ein- blick in einen rationalisierten Produktionsablauf, sondern macht auch deutlich, welche Veränderungen die Fernsehproduktion mit der Einführung der Daily Soaps durch die Produktionsfirma Grundy/UFA in den neunziger Jahren durchlaufen hat. Unter einer anderen produktionstheoretischen Perspektive nimmt Nathalie Iványi die Beziehungsshows in den Blick. Ihr theoretischer Zugang ist eine wis- senssoziologische Deutungsmusteranalyse und die Fragestellung setzt daran an, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen und welche Herausforderungen sich für die Produktion stellen, wenn der Mann und die Frau von der Strasse als Produktionsressource auftreten. Die Produktion wird als eine Praxis betrachtet, in der sich Fragen der Themengestaltung, der Kandidatenprofil-Bestimmung, der Kandidatenrekrutierung und ggf. -schulung bis hin zur Titelgestaltung, 6 montage/av Moderationsausübung und Nachbereitung stellen, für die es Lösungen zu ent- wickeln gilt. Gefragt wird danach, wie die Mitarbeiter des Produktionsteams aber auch die Kandidaten zur Problembewältigung nicht nur alltagsweltlich, sondern auch institutionell generierte und überformte Deutungs- und Hand- lungsmuster mobilisieren und die Handlungsprobleme diskursiv definieren, die in der Produktion des Genre eingang finden. Der Beitrag von Göttlich erweitert diese Perspektive auf den Zusammenhang der Frage, wie die Bereiche der Fernsehproduktion und des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels im Falle der neuen Fernsehformate wie zum Beispiel BIG BROTHER und des mit ihnen unterstellten „Einbruchs der Realität“ miteinander vermittelt sind. Das Hauptgewicht der Betrachtung liegt dazu auf dem Zusam- menhang von Produktion, Programmierung und Programmmarketing und damit auf den auffälligsten Veränderungen der Fernsehproduktion in den letzten Jahren. Theoretisch schließt er an das von Stuart Hall, Paul du Gay und Richard Johnson formulierte Modell zur Analyse des Kreislaufs der Kultur an. Themati- siert wird die Vermittlung von kultureller Produktion und Produktion der Kultur. Kennzeichnend für die in den vorangegangen Fallanalysen behandelten typi- schen Produktionsbedingungen ist die Netzwerkorganisation, die sich in der Fernsehproduktion vor allem seit den neunziger Jahren immer weiter durchge- setzt hat. Der Beitrag von Windeler, Lutz und Wirth behandelt dazu den Zusammenhang der einzelnen Ebenen innerhalb von Produktionsnetzwerken. Dabei werden die Selektionskriterien der Sender den Selektionskriterien der Produzenten gegenübersgestellt und diskutiert, über welche Aushandlungspro- zesse sich die Produktion vor allem von Fernsehserien in Projektnetzwerken ergibt. Der Aufsatz aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive erlaubt es die Dimensionen zu bestimmen, denen in einer produktionsorientierten, an den Inhalten interessierten Forschung nachzugehen ist, um das Modell mit aktuellen Beispielen zu überprüfen und Wandlungen auszumachen. In dem Beitrag von Meckel wird am Beispiel der Nachrichtenproduktion den möglichen Auswirkungen technologischer Veränderungen nachgegangen. Un- ter der Fragestellung einer Virtualisierung der Fernsehnachrichtenproduktion durch Computertechnologien werden dabei auch Überlegungen zur veränder- ten Wahrnehmung thematisiert, die als Folge veränderter technischer Produk- tionsbedingungen gewertet werden können. Deutlich wird, wie diese technolo- gischen Veränderungen gerade auch durch wirtschaftliche Fragen des Pro- grammbetriebs entstehen. Meckel hebt dazu heraus, dass die zunehmende Kon- kurrenz um Zuschauerakzeptanz und Marktanteile auch für Fernsehnachrich- tenanbieter die Notwendigkeit hervorbringt, Programme und Formate auf dem neuesten Stand und damit attraktiv zu halten. 10/1/2001 Editorial 7 Mit diesem Themenheft sind einige der aktuellen Veränderungen der Fernseh- produktion in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts bestimmt, denen es gilt, mit der Ausarbeitung inhaltlich umfassenderer Studien und theoretischer Perspektiven vertiefend nachzugehen und diese zu einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Medien- und Kommunikationsforschung fortzuentwickeln. Udo Göttlich Eggo Müller Globalisierung und Medien Bericht eines ortsgebundenen Lesers1 „Let’s make things better.“ (Philips, Global Player) Seit den sechziger Jahren ein Thema auf der wissenschaftlichen Agenda, ist das „global village“ nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem globalen Siegeszug des Kapitalismus nicht nur zu einem populären Mythos geworden (vgl. Ferguson 1992), sondern auch zu einem der zentralen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschungsfelder (vgl. Kellner 1998). Unter dem Stichwort der „Globalisierung“ werden bekanntlich einschneidende ökonomi- sche, politische, soziale, kulturelle und (medien-)technologische Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte zusammengefasst und debattiert. Dabei wird den Medien eine entscheidende Rolle im Prozess der „Globalisierung“ zugeschrie- ben: als Objekt wie als Moment eines Modernisierungsprozesses, in dem die Grenzen von Zeit, Raum und „Nation“ für die Ströme von Kapital, Konsumgü- tern und Kultur mehr und mehr an Bedeutung verlieren. Im Vergleich zur inter- nationalen Ausbreitung von Handel, Verkehr und Kommunikation seit dem späten Mittelalter ist für Globalisierungsprozesse im eigentlichen Sinne kenn- zeichnend, dass sie in globalem Maßstab zu Beziehungen wechselseitiger inter- nationaler Abhängigkeit führen (vgl. Giddens 1990, 64; Thompson 1995, 149f). Kaum mehr zu überschauen sind die mittlerweile zahllosen Veröffentlichun- gen in wirtschafts- und politikwissenschaftlichen, in soziologischen, medien-, kultur- und kommunikationswissenschaftlichen Fachzeitschriften zur Rolle der Medien in diesem weltumspannenden Prozess. Einen Einblick in Positionen und Debatten geben Sammelbände (u.a. Mohammadi 1997; Thussu 1998), für den Unterricht zusammengestellte Textsammlungen (Sreberny-Mohammadi et. al 1997) und monographische Einführungen (Barker 1997; Held 2000; Thussu 2000). Auch verzichtet keine der neueren Einführungen in die Soziologie oder Kultur von Medien und Kommunikation auf ein Überblickskapitel zu „Globa- lisierung und Medien“ (siehe u.a. Thompson 1995, 143–178; Croteau/Hoynes 1 Der Überblick beschränkt sich auf englisch-sprachige Literatur. 10/1/2001 Globalisierung und Medien 10 1999, 329–363; Lull 2000, 224–262; McQuail 2000, 215–240). Das Thema „Glo- balisierung und Medien“ scheint aufgrund seiner „glücklichen Mischung“ der Topoi Technologie, internationale Informationsströme und Rezeption resp. Verarbeitung der Informationen hervorragend für das Studium der Medienwis- senschaft geeignet (vgl. Gurevitch 1996, 205). Da „Globalisierung“ durch Inter- net, mobile Telefonie, internationale Programminhalte des Fernsehens und nicht zuletzt durch erfolgreiche Werbeslogans weltumspannender Medienkon- zerte selbst – „Think Globally, Act Locally“ (Sony), „The World is Our Audience“ (Time Warner) oder „We Live in One World“ (MTV) sind Beispiele dieser mehr oder minder recycelten Mottos (vgl. Sreberny-Mohammadi 1996, 184) – zum lebensweltlichen Erfahrungsschatz gehört, stößt das Thema bei der derzeitigen Studentengeneration in der Tat auf großen Widerhall. Howard Rheingolds (1993) Visionen einer demokratischen Weltkultur auf der Basis des Internet tragen zu dieser Faszination am „global village“ bei. Doch scheint diese derzeit wohl meistgebrauchte Metapher der Globalisie- rungs-Enthusiasten ebensowenig geeignet, die Komplexität und Widersprüch- lichkeit der Globalisierungsprozesse insgesamt anzudeuten, wie das alte Schlag- wort des „westlichen Kulturimperialismus“, das die Kritiker der Globalisierung ins Feld führen (Schiller 1969 u.ö.; Boyd-Barrett 1998). So zumindest lässt sich die Tendenz der Debatte kennzeichnen, wie sie sich in den vergangenen 15 Jah- ren entwickelt hat. Mehr und mehr hat sich dabei der Begriff der „Hybridisie- rung“ – auch „glocalisation“ genannt (Robertson 1994) – als Leitkonzept durch- gesetzt, um Prozesse und Effekte der neuen Beziehungen von Globalem und Lokalem zu beschreiben. Hier setzt auch der folgende, recht ausschnitthafte Bericht an, der eher versucht, einige Problemfelder der Debatte um „Globalisie- rung und Medien“ zu umreißen denn einen vollständigen Überblick zu geben. Stichwort „Politökonomie der globalen Medien“ Ausgangspunkt zahlreicher Darstellungen zur Globalisierung und der Rolle der Medien in diesem Prozess sind die medientechnologischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, vor allem die Kabel- und Satellitendistribution sowie die Etablierung des Internet. Gerne wird angesichts der weltumspannenden Kommunikations- und Distributionsnetze auf McLuhans Vision des „global village“ (1964, 11f) verwiesen, die nun Wirklichkeit geworden sei. Doch auch der ‚geschrumpfte‘ Globus bleibt – wie jedes Dorf – ein durch Ungleichheit gekennzeichneter gesellschaftlicher Raum: Zum ersten ist schon der Zugang zu den Medien auf der Welt äußerst ungleich verteilt, und insbesondere vom Inter- 10/1/2001 Globalisierung und Medien 11 Die Welt, gespalten durch die TELETUBBIES, die allein in Fernsehprogrammen der dunkel hervorgehobenen Staaten zu empfangen sind. net sind manche Entwicklungsländer noch immer gleichsam abgeschnitten (vgl. Thussu 2000, 247ff). Zum Zweiten bietet das globale Dorf vor allem dem Kapital der Global Player neue, weltweit relativ ungehemmte Möglichkeiten zur Akkumulation. Die Herausbildung der transnationalen Medienkonglomerate, allesamt mit Sitz in Nordamerika, Westeuropa, Japan oder Australien ist dabei keine zufällige Folge der technologischen Möglichkeiten, sondern basiert, aller Abneigung gegen ,veraltete‘ Agenten- oder Verschwörungstheorien der siebziger Jahre zum Trotz, auf politischen Weichenstellungen. Polit-ökonomisch fundierte Studien der Etablierung der neuen Kommunikations- und Distributionstechnologien verweisen auf die stimulierende und regulierende Rolle neoliberalistischer Wirt- schaftspolitik in der Reagan-Thatcher-Ära, die nationale Märkte international zugänglich machen sollte. Der Ideologie des freien Spiels der Kräfte folgend, war es Teil ihrer Strukturpolitik, Vorhaben der UNESCO zur Stärkung der Medieninfrastruktur in der ‚Dritten Welt‘ zu schwächen und gleichzeitig den Einfluss von Weltbank und Internationalem Währungsfonds zu stärken (vgl. Herman/McChesney 1997, 24ff u. 28ff; George/Sabelli 1994, 3). Erst vor diesem Hintergrund konnten sich die großen Medienkonzerne schnell zu den heute dominierenden transnationalen Konglomeraten entwickeln, die die neuen Kommunikations- und Distributionstechnologien global ausbeuten und damit insgesamt einen unabdingbaren Teil der globalen Infrastruktur ausmachen. His- 10/1/2001 Globalisierung und Medien 12 torische Studien zur Entwicklung der internationalen Nachrichtenagenturen (Rantanen 1997) oder zur Geschichte des Telegrafen als das „Viktorianische In- ternet“ (Standage 1998) machen dabei deutlich, dass schon damit Strukturen entstanden waren, die Voraussetzungen für die Vormachtstellung der westli- chen Industrienationen im derzeitigen Prozess der Globalisierung von Medien und Kommunikation geschaffen haben. Und Studien zur Ökonomie des inter- nationalen Programmhandels zeigen, dass Staaten mit gewachsenen nationalen Produktionsstrukturen und einem großen heimischen Absatzmarkt wie die USA einen großen Wettbewerbsvorteil im internationalen Handel besitzen (Gershon 1997; Hoskins/McFadyn/Finn 1997). Stichwort „Kulturimperialismus“ Dass trotz dieser ökonomischen und damit strukturellen Dominanz der großen Industrienationen im Prozess der Globalisierung die mehrfach an die jüngeren Entwicklungen angepasste These des westlichen Kulturimperialismus (Schiller 1991; Boyd-Barret 1998) vor allem als Ausgangspunkt dient, mit dem man sich kritisch auseinandersetzt, hat neben politisch-ideologischen Auseinanderset- zungen (vgl. dazu Kellner 1998) auch disziplinäre Gründe und hängt eng mit methodischen Prämissen zusammen. So werden in der polit-ökonomischen Kri- tik der Globalisierung, die insbesondere in politik- und kommunikationswis- senschaftlichen Analysen zu finden ist, vor allem der Wandel von ökonomi- schen und technologischen Strukuren untersucht. Ihre ‚verwestlichende‘ Wir- kung wird schlichtweg unterstellt, d.h. aus der Tatsache, dass amerikanische resp. westliche Produktionen ein deutliches Übergewicht in den internationalen Programmströmen aufweisen (vgl. Varis 1984), wird schlechthin auch die Ver- breitung westlicher Werte des Individualismus und des Konsumismus abgeleitet (vgl. Schiller 1969; 1991; u.ö). Die methodischen Einwände gegen diesen Kurz- schluss zwischen Produktion (resp. Produkt) und Rezeption liegen auf der Hand. Der dagegen am häufigsten angeführte empirische Beleg, die Studie „The Export of Meaning“ von Katz und Liebes (1990) zur Rezeption von DALLAS in verschiedenen nationalen resp. ethnischen Gruppen, ist bisher aber unüberprüft geblieben, zu gut passt er in die Argumentation gegen die kulturelle Dertermi- nationskraft ökonomischer Strukturen. Katz und Liebes konnten bekanntlich zeigen, dass Episoden der US-amerika- nischen Prime-Time-Soap DALLAS von verschiedenen ethnischen Gruppen in Israel, von Amerikanern und von Japanern äußerst unterschiedlich rezipiert worden sind. Was Katz und Liebes als Beweis für die Kraft differenter nationa- 10/1/2001 Globalisierung und Medien 13 ler resp. ethnischer Rezeptionshintergründe nehmen, lässt sich aber auch auf ganz andere Weise interpretieren. Überprüft man die spezifischen sozialen Hin- tergründe der befragten Gruppen, so fällt auf, dass zwischen den nationalen resp. ethnischen Gruppen signifikante Unterschiede im Bildungsgrad vorliegen, während die einzelnen Gruppen über einen vergleichsweise homogenen Bil- dungshintergrund verfügen – mithin eine soziale Variable, die mit großer Wahr- scheinlichkeit das Ergebnis der durchgeführten Gruppendiskussionen prägt. Unschwer lassen sich die von Katz und Liebes nachgewiesenen Unterschiede der Lesarten als Effekte der Schichtenzugehörigkeit der Probanden interpretie- ren: So entwickelten die russischen Immigranten in Israel, die vorwiegend über ein Universitätsdiplom verfügen, eine ideologiekritische Interpretation von DALLAS, während die Araber und marrokanischen Juden, die beiden Gruppen mit der geringsten formalen Bildung unter den Probanden, vor allem auf die Handlung, deren Zielgerichtetheit und auf die traditionelle Familienstruktur orientiert waren. Solche Unterschiede in den Leseweisen dürfte man wohl auch innerhalb einzelner Nationen resp. ethnischer Gruppen vorfinden. Deshalb scheint wahrscheinlich, dass die Studie von Katz und Liebes eher schichtenspe- zifische Unterschiede als national-kulturelle resp. ethnische Unterschiede ver- deutlicht. Vergleichsanalysen dieser empirisch recht vagen Studie stehen aus. Jenseits dieser methodischen Einwände gegen diese spezifische Studie wendet beispielsweise Schiller (1991) ganz grundsätzlich gegen die Aussagekraft der- gleicher Fallstudien ein, dass solche Untersuchungen angesichts der deutlichen statistischen Übermacht westlicher Produktionen nicht geeignet sind, allge- meine Aussagen über die begrenzten kulturellen Effekte der Unmengen global verbreiteter Medienprodukte insgesamt machen zu können: Was für DALLAS gilt, muss für DYNASTY noch lange nicht zutreffen. Doch verweisen die Kritiker der Kulturimperialismus-These ihrerseits mit Recht auf einen Strukturwandel der internationalen Programmproduktion und des Programmhandels hin. Glo- balisierungsprozesse haben nicht allein die transnationalen Medienkonglome- rate entstehen lassen, sondern auch zur Entwicklung und Stärkung regionaler Produktionsstrukturen beigetragen, die – wie z.B. Brasilien den südamerikani- schen Raum – ganze Regionen mit ihren TV-Produktionen versorgen (Sreber- ny-Mohammadi 1996; insgesamt auch Sinclair/Jacka/Cunningham 1996). Regi- onalisierung als kultureller Effekt dieses Strukturwandels wird aber – entgegen den eigenen methodischen Prämissen – stillschweigend unterstellt, ohne dass Spezifisches über Inhalt und Form dieser Produktionen und vor allem über ihre Rezeption ausgesagt werden könnte. Die Anhänger der Kulturimperialismus- These beharren demgegenüber darauf, dass derartige Produktionen für regio- nale Märkte im Prinzip nichts weiter als Kopien westlicher Vorbilder darstell- 10/1/2001 Globalisierung und Medien 14 ten. So spricht Schiller (1991) mit Blick auf die brasilianischen Telenovelas schlicht von einer „Kreolisierung“ der amerikanischen Vorbilder. Stichwort „nationale Identitäten“ Damit ist auf einen weiteren Problemkreis der Debatte um die Globalisierung verwiesen. Unbestritten ist der Verlust an medienpolitischer Kontrollmacht der Nationalstaaten aufgrund der neuen Distributionstechnologien wie aufgrund der transnationalen Medienkonglomerate. Doch die Bewertung dieses Faktums fällt wiederum unterschiedlich aus, abhängig von unterschiedlichen pragmati- schen Zielstellungen. So fragt Schiller (1991) nach den Bedingungen der Mög- lichkeit staatlicher Ordnungspolitik in Entwicklungsländern, wo die globalen Medienproduktionen oft einen westlichen, konsumorientierten Lebensstil pro- pagieren, während vor Ort ganz grundsätzliche Fragen der ausreichenden Ver- sorgung mit Nahrungsmitteln, der medizinischen Grundversorgung und der Bildung gelöst werden müssen. Aus diesem Grund geht es Schiller um den Fort- bestand medienpolitischer Selbstbestimmung von Entwicklungsländern, ein Standpunkt, der mit Blick auf Industrienationen westlicher Prägung als paterna- listisch erscheint, mit Blick auf diktatorische Staaten oder auf Staaten, die von einer Elite quasi-diktatorisch kontrolliert werden, als legitimatorisch. Demge- genüber werden im Verlust der nationalen Kontrolle und in der Entwicklung transnationaler Mediensysteme auch Chancen für die Öffnung nationaler Mediensysteme für ein plurales Programmangebot gesehen: Beispielsweise kann dies die Sicht auf andere Lebensstile öffnen, wie es von Lull (1991) für China beschrieben worden ist; oder es kann sich dadurch für breite Publikumsschich- ten eine Alternative zu nationalem öffentlich-rechtlichen Fernsehen entwickeln, wie es Morley (1992a) anhand der Rezeption kommerzieller amerikanischer Programme in England beschrieben hat; oder es kann Migranten einen eigenen kulturellen Raum resp. den Kontakt mit der heimischen Kultur ermöglichen (vgl. Tracy 1985). Doch während die ersten beiden Beispiele als Argumente für die These der Verwestlichung zu deuten sind, verweist das letzte auf eine Tendenz, die ver- mehrt in der publizistikwissenschaftlichen Nachrichtenforschung diskutiert wird: Entgegen der – je nach Standpunkt – Sorge oder Hoffnung, dass angesichts der Globalisierung der Medien die Identität von Nationen mehr und mehr ver- wischt werden würde, zeigt sich in zahlreichen Inhaltsanalysen von Nachrich- tensendungen, dass hier alles andere als die Tendenz zur Globalisierung festzu- stellen ist. Hafez führt dazu aus: 10/1/2001 Globalisierung und Medien 15 The content level of the media globalizes much slower than technical and economic aspects of media development make us think. The system of foreign reporting is not an integrated part of the international system of political and societal relations but is still closely connected to the nation- state. Further international and intercultural conflicts and crises might be reinforced by a growing gap between globalization and particularization of international mass communication. (Hafez 1999, 1) Hafez verweist mit Sorge darauf, dass Nachrichtenprogramme, ob für den nationalen oder den internationalen Markt produziert, eher als Hemnis denn als Motor fortschreitender Globalisierung und internationaler Demokratisierung angesehen werden müssen. Dafür stellt gerade CNN international ein entspre- chendes Beispiel dar. Auch andere Aspekte verweisen deutlich auf den Fortbe- stand nationaler Orientierungen in der globalen Medienkommunikation: Statis- tisches Faktum ist, dass Fernsehprogramme der nationalen Produktion deutlich vergleichbaren internationalen Programmen vorgezogen werden, wenn die Zu- schauer die Wahlmöglichkeit haben. Der Siegeszug Zee-TVs in Indien mit der Etab- lierung von Hindi neben Englisch als führender Sprache ist dafür nur eines der berühmtesten Beispiele (vgl. Tussu 2000, 197ff). Bekanntlich produzieren inter- nationale Werbeagenturen deshalb auch unterschiedliche Werbespots und –strategien für verschiedene Länder (vgl. Fernandes 2000). Und schließlich ist ein beredtes Beispiel McDonalds zumindest saisonale Stragegie, auf den Speise- karten der nationalen Dependencen Gerichte erscheinen zu lassen, die wie der McSausage in Deutschland, der McKroket in den Niederlanden oder der McSpag- hetti auf den Philippinen an ein Nationalgericht erinnern (vgl. Lull 2000, 249ff). Aber was bedeuten diese Beispiele eigentlich, zieht man in Betracht, dass die „nationalen Produktionen“ doch auf ausländischen Formaten beruhen oder dass die nationalen Sender – mit der Ausnahme der USA – doch zu einem erheb- lichen Teil Produktionen aus anderen Produktionsländern ausstrahlen? Oder dass die ‚national‘ ausgerichteten Werbestrategien doch kenntlich für ausländi- sche Produkte werben? Welcher ‚nationalen Identität‘ verleiht ein Fernsehfor- mat Ausdruck resp. welche Identitätsstrategien unterstützt es, wenn es, basie- rend auf einem einst US-amerikanischen Genre, von Grundy Productions erst- mals fürs australische Fernsehen produziert wurde und dann in Deutschland von einem internationalen Joint-Venture in deutscher Sprache produziert und sowohl bei einem öffentlich-rechtlichen und einem kommerziellen Sender aus- gestrahlt wird. Und was ist eine „deutsche“ oder eine „australische“ Produk- tion, wenn nicht einmal mehr das Geld der transnationalen Produktionsfirma eine deutliche Sprache spricht? 16 Eggo Müller montage/av Es kann also gar nicht anders sein, als dass sich um das Konzept der ‚nationa- len Identität‘ – selbst bekanntlich ein historisch-dynamisches Konstrukt (vgl. Anderson 1983) – eine Menge widersprüchlichster Argumentationen rankt. Um nur ein zentrales Beispiel herauszugreifen: Die Kritiker der Kulturimperialis- mus-These verweisen darauf, dass der Vorwurf des Kulturimperialismus eine romantisierende Sicht der Entwicklungsländer unterstelle: Selbst schon von einer langen kolonialen Geschichte geprägt, stellen sie alles andere als unbe- rührte, ursprüngliche Kulturen dar, die erst durch den westlichen Kulturimport der globalen Medien kolonisiert und zerstört würden. Gleichzeitig aber führen die Kritiker der Kulturimperialismus-These – selbst nicht ganz frei von roman- tisierenden Tendenzen – die Besonderheiten nationaler oder ethnischer Identi- täten ins Feld, wenn es darum geht, die begrenzte strukturelle Macht globaler Medien gegenüber spezifischen lokalen Kontexten der Rezeption zu beweisen. David Morley (1992b, 282) hat deshalb in seinen grundlegenden Aufsatz „Where the Global Meets the Local“ das Lokale selbst schon als einen Prozess definiert, um vorschnelle Identifizierungen von Identitäten mit (nationalen) Orten und (nationalen) kulturellen Räumen zu vermeiden. Der analytische Blick wird so für die komplexen Beziehungen zwischen Globalem und Lokalem über die Feststellung einer Deterritorialisierung von sozialer Erfahrung hinaus geöffntet. Stichwort „Hybridisierung“ Unter den Positionen, die die Heterogenität von Kultur jenseits von nationaler Identität wie von westlicher Dominanz begründen, gehört Appadurais (1990) Modell der verschiedenen Dimensionen der Globalisierungsprozesse zu den provokantesten: „Ethnoscapes“, „Finanscapes“, „Technoscapes“, „Mediascapes“ und „Ideoscapes“ folgen Appadurai zufolge jeweils eigenen Dynamiken, so dass die kulturellen Effekte von globaler Migration, von Finanz- und Technologie- transfer sowie von internationaler Medien- und Ideologieverbreitung prinzi- piell heterogen bleiben und eher zu kultureller Diversifizierung denn zu Homo- geneisierung führen. Entsprechend heißt es in Barkers Einführung ins „Global Television“ in Bezug auf „Globalisierung“: What we are seeing is a set of economic and cultural processes dating from different historical periods and with different development rhythms being overlaid upon each other, creating global disjunctures as well as new glo- bal connections and similarities. For example, the expansion of capitalism, 10/1/2001 Globalisierung und Medien 17 the globalization of financial flows, the movement of ethnic peoples, the development of technology, the spread of the media and the diffusion of ideologies are not set in any inevitable or fixed relationship to one another: rather the need is to try and understand just exactly how they are related (1997, 20). Dieser Differenzierung zwischen verschiedenen ‚Landschaften‘ der Globalisie- rung vergleichbar haben Kriener und Meckel (1996, 15f) für den Mediensektor darauf hingewiesen, dass die Globalisierung der Massenkommunikation ein komplexer Prozess ist, der sich mit unterschiedlichem Tempo auf unterschiedli- chen Ebenen der Entwicklung vollzieht. Während die Globalisierung von Technologie und Infrastruktur rapide voranschreitet, verläuft die Globalisie- rung von Institutionen, Produktion und ,Medieninhalten‘ – in eben dieser Rei- henfolge – mit stets abnehmender Internationalisierung. Solche Sichtweisen tragen allesamt zur Differenzierung der Sicht auf Globali- sierungsprozesse bei, die den Determinismus vieler politökonomischer Analy- sen vermeiden. In diesem Zusammenhang ist das Stichwort der „Hybridisie- rung“ (vgl. Bhaba 1994) gleichsam zum Joker in der Debatte geworden, der scheinbar alle Widersprüchlichkeiten der Globalisierung auf den Begriff brin- gen kann. Exemplarisch für die „Media Studies“ läßt sich hier Lulls Definition des Begriffs „Hybridisierung“ nehmen: „the fusion of cultural forms often faci- litated by mass-mediated imagery“ (2000, 286). Seine strategische Verwendung unter dem Stichwort der ‚kulturellen Verschmelzung und Mediatisierung‘ (vgl. ebd., 241ff) macht deutlich, dass es vor allem um die Konstatierung von Hybri- disierung geht. Doch was heißt es für kulturelle Produkte, für Medien und Kommunikation, für Identitäten, wenn sie ‚hybrid‘ werden? Wie verhalten sich im Reich hybrider Kultur(en) Prozesse der Assimilation und der Akkomoda- tion in Produktion wie Rezeption zueinander? Und was bedeutet „Hybridisie- rung“ im ‚nationalen‘ Vergleich? Kann man beispielsweise die Konsummöglich- keit verschiedenster Stilrichtungen und Stilmischungen im pluralen Musikange- bot westlicher Industrienationen sinnvollerweise mit dem gleichen Begriff bele- gen wie das ‚Eindringen‘ westlicher Popmusik in Regionen, wo ihr Gebrauch beispielsweise staatlich nicht erwünscht ist und also eine politische Haltung aus- drückt (vgl. z.B. Mohammadi 1998)? Freilich konstruieren dergleiche Fragen wiederum ‚Identitäten‘ auf Niveaus, deren Existenz infrage steht (und deshalb floriert dann auch der Gebrauch von Anführungszeichen). Doch eben das macht der Begriff der Hybridisierung ebenfalls, allein kaschiert: Wo von “„Hybridi- tät“ die Rede ist, sind die Identitäten des ‚Verschmolzenen‘ nicht allein die logi- sche Voraussetzung, sondern sie müssen auch im Ergebnis weiterhin erkennbar 18 Eggo Müller montage/av sein. Aber über solche Konstellationen und ihre Bedeutung legt der Begriff der Hybridisierung in der Regel freundlich den Mantel des Schweigens. Stichwort „Methoden“ Vor diesem Hintergrund ist deutlich, dass die Rede von der Globalisierung der Medien nicht allein ein Phänomen und damit ein Objekt der Analyse identifi- ziert, sondern – zugespitzt formuliert – zugleich eine methodische Vorentschei- dung formuliert: Von „Globalisierung“ und „Hybridisierung“ zu sprechen statt von „Amerikanisierung“ und „westlichem Kulturimperialismus“ führt zu be- stimmten methodischen Postulaten, die immer noch von der Abwehr der Polit- ökonomie und der Kulturimperialismus-These herzurühren scheinen (vgl. dif- ferenziert dazu Tomlinson 1991, 173ff). Das Feld scheint, mit der für dergleichen Feststellungen nötigen Distanz betrachtet, in zwei unterschiedliche Forschungsrichtungen mit unterschiedlichen methodischen Orientierungen auseinanderzufallen: (1) in mehr oder weniger polit-ökonomisch orienterte Un- tersuchungen von makro-strukturellen Prozessen mit dem Hauptaugenmerk auf Ökonomie, Technologie und Ordnungspolitik; (2) in rezeptionsorientierte Studien lokaler resp. regionaler Prozesse mit dem Hauptaugenmerk auf Aneig- nung und kulturelle Identität. Ein Desideratum der Forschung nicht nur zur Rolle der Medien in Globalisie- rungsprozessen, sondern auch zur Bedeutung von Globalisierungsprozessen für die Medien, bleiben differenzierte Analysen von Produktion und Medienpro- dukten aus der Perspektive der Globalisierung. Inwiefern der globale Markt Produktionsentscheidungen beeinflusst und Produkte prägt, dass ist jenseits all- gemeiner Feststellungen zum Qualitätsverlust globaler Medienprodukte (vgl. Kroning 2000) ein wenig bearbeitetes Feld (vgl. jedoch z. B. Fernandes 2000). In methodischer Hinsicht liegen Produktions- und Produktanalyse im Grenzge- biet zwischen den beiden skizzierten Richtungen. Eben darum erscheint eine methodische „Hybridisierung“ der Forschung zu Globalisierung und Medien für die Zukunft wünschenswert, um das Verhältnis von Strukturen und Hand- lungsmöglichkeiten nicht methodisch prinzipiell, sondern fallorientiert dyna- misch handhaben zu können. Bei der Liebe dieses Forschungsfeldes für Neolo- gismen böte sich dann eine neue Leitmetapher an, die der „Glorikanisierung“. 10/1/2001 Globalisierung und Medien 19 Literatur Anderson, Benedict (1983) Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso. Appadurai, Arjun (1990) Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy. In: Public Culture 2,2, S. 1–24. Bhaba, Homi K. (1994) The Location of Culture. London/New York: Rout- ledge. 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John Tulloch Das implizite Fernsehpublikum in der Soap-Opera-Produktion: Alltägliche rhetorische Strategien unter Fernsehleuten1 [...] In den späten achtziger Jahren führte ich eine ethnographische Studie zur Serie A COUNTRY PRACTICE (ACP) durch, der damaligen Nummer eins unter den Soap Operas im Abendprogramm des australischen Fensehens (Tulloch/Moran 1986). „Ethnographisch“ war meine Untersuchung insofern, als es mir um ein ganzheitliches Verständnis der soziokulturellen Prozesse, Muster und Prakti- ken von Gruppen von Menschen im Kontext ihrer normalen und alltäglichen, gewissermaßen „natürlichen“ Umgebung ging. Die Verwendung des Begriffes „Verständnis“ beinhaltet dabei auch eine Akzentuierung von subjektiver Refle- xivität; und „Prozess“ impliziert eine Schwerpunktsetzung auf den miteinander konkurrierenden Sprechweisen und Intertexten, die soziale Situationen bestim- men. „Ganzheitlich“ betont schließlich das Verstehen alltäglicher Interaktionen im breiteren soziokulturellen Rahmen von Diskursen, vermittels derer Medien diskutiert werden. Im Falle meiner damaligen ethnographischen Studie handelte es sich um eine mehrmonatige Beobachtung der professionellen Fernsehpro- duktionspraxis bei einer speziellen Produktionsgesellschaft (JNP Films) und in einem Fernsehstudio (Channel 7 in Sydney). Ethnographie zielt auf eine dynamische Darstellung des Alltagslebens einer kulturellen Gruppe. Sie beschreibt nicht nur, was getan wird, sondern auch die Redeweisen, Schemata und Mythologien, mit deren Hilfe wir unser Handeln mit Bedeutung versehen. In den Zuschauerstudien, die man der „zweiten Gene- ration“ zuordnen könnte, nutzte man die ethnographische Methode dazu, die Funktion der Medien im Alltagsleben des Publikums zu untersuchen. Die „dritte Generation“ der Zuschauerstudien, auf deren Etablierung meine jetzigen Bemühungen abzielen, erfordert eine ethnographische Untersuchung der Pro- duktion, da genau dort die implizite Zuschauerschaft in den Alltagsroutinen von 1 Dieser Text erschien zuerst auf Englisch als „The Implied Audience in Soap Opera Production. Everyday Rhethorical Strategies Among Television Professionals in Pertti Alasuutari (1999), Rethinking the Media Audience, S. 151–178, und wurde für die Übersetzung gekürzt. 24 John Tulloch montage/av Fernsehleuten in Form eines subjektiv reflexiven Handelns sowie als miteinan- der konkurrierende Sprechweisen und Intertexte praktiziert wird.2 Wie die ethnographischen Zuschauerstudien der zweiten Generation muss eine Ethnographie der Produktion auf menschliches Verhalten gerichtet sein, das im breiteren sozio-kulturellen Kontext von Zeit/Raum Koordinaten von- statten geht. In Bezug auf den räumlichen Kontext impliziert beispielsweise eine Fernsehproduktionsgesellschaft wie JNP, die eine Ärzte- oder Krankenhaus- Soap-Opera herstellt, ihr Publikum niemals isoliert von einem größeren sozia- len Kontext, der die kommerziellen Fernsehkanäle ebenso einschließt wie tat- sächliche Fernsehpublika oder auch berufsständische Organisationen wie die Medizinische Vereinigung von Australien (Australian Medical Association). Bezüglich der zeitlichen Koordinate geschieht die Konstruktion impliziter Zuschauerschaften der Reihe nach im Rahmen der rhetorischen Strategien und Intertexte der übergreifenden Metapläne, von Planungssitzungen, den Zeiten der Quotenmessungen, der Verfügbarkeit von Schauspielern, von Erfordernis- sen der Fernsehanstalten und –programme, der zeitlichen Setzung von Werbe- unterbrechungen usw. Wenn also in dieser speziellen sozialen Gruppe ein Text zu AIDS entsteht, hängt die prozesshafte Erstellung seiner Botschaften und Implizierung seiner Publika maßgeblich von den rhetorischen Strategien der weiteren zeit- lich-räumlichen Zusammenhänge ab. Wie Elam (1989, 1–26) anmerkt, sind es diese rhetorischen Strategien, die textuelle Bedeutung, wie sie seitens der Pro- duktionskultur verstanden wird, in Szene setzen (mise en scène). Der ethnogra- phische Akzent auf Prozess und auf dem Alltäglichen lässt sich in den Begriffen jener gegeneinander konkurrierenden Redeweisen und Intertexte verstehen, die 2 Anm. des Hrsg.: Der Begriff der dritten Generation von Rezeptionsforschung („third generation reception studies“) wurde von Alasuutari (ebd.) in die Diskussion einer Weiterentwicklung der ethnographischen Zuschauerforschung der Cultural Studies eingebracht. Dabei unterscheidet er zwischen drei Generationen der Rezeptionsforschung, auf die sich Tulloch in seinem Beitrag ebenfalls bezieht. Der ersten Generation der Rezeptionsforschung werden die Arbeiten zu- geordnet, die sich an Stuart Halls encoding/decoding-Modell orientiert und angelehnt haben. Der zweiten Generation der Rezeptionsforschung werden die ethnographischen Zuschauer- studien zugeordnet, also jene Studien, die sich auf das Alltagsleben und den Medienumgang bezogen. Der von Alasuutari gemachte Vorschlag einer dritten Generation der Zuschauer- forschung, zielt auf eine Analyse von Rolle und Stellung der Medien im Alltag, wie sie sich in unterschiedlichen Diskursen darstellt, also in Alltagsgesprächen selber aber auch auf Seiten der Produktion mit ihren Zuschauerkonstuktionen. Zwei der dazugehörigen Fragen sind z.B. wie Medien in Diskursen konstruiert werden und wie sie selbst wieder Diskurse strukturieren. Es geht aber auch um Diskurse, in denen wir uns selbst als Zuschauerschaft thematisieren und wie Bilder vom Publikum in die Produktion oder die Inhalte einfließen. 10/1/2001 Das implizite Fernsehpublikum 25 die tägliche Arbeitspraxis von Fernsehleuten bestimmen. Zuschauerschaften werden durch eine Art „Weiterwirken“ dieser Redeweisen und Intertexte der Fernseh-Arbeitspraktiken impliziert. Dieses Weiterwirken findet statt durch Sprechhandlungen und durch Routineaktivitäten, die dem ethnographischen Forscher Zugang zu dem geben, was Bakhtin die „lebende Äußerung“ nennt. Laut Bakhtin „kann eine lebende Äußerung, sobald sie in einem speziellen historischen Moment und einer spezifischen gesellschaftlichen Situation Bedeu- tung und Gestalt erlangt hat, gar nicht anders, als sich an tausenden lebenden dialogischen Fäden zu reiben, [.. .] als zu einem aktiven Teilnehmer eines sozia- len Dialogs zu werden" (Bakhtin, 1981, 276). Im Zusammenhang der Untersu- chung von HIV/AIDS Interviews hat Hassin unter Berufung auf Bakhtin argu- mentiert, dass „vergangene und gegenwärtige Erfahrungen und divergente Ideo- logien im Dialog in einen sich kontinuierlich entwickelnden und fortgesetzten Prozess hereingenommen werden, in dem der Sprechende seine bzw. ihre Stimme verhandelt“ (Hassin, 1994, 394). Dies ist beispielsweise in Interviews der Fall, wo die dominante Ideologie des AIDS-Infizierten als einem gesellschaftli- chen Außenseiter auf einen alternativen Diskurs trifft, der den AIDS-Infizierten als jemanden darstellt, der sozial verantwortungsvoll handelt. Die Praxis des Interviewens kann also Zugang zu jenem „sozialen Dialog“ ermöglichen, der die zahlreichen Identitäten eines Interviewten markiert, sei dies als jemand, der HIV-positiv ist, sei es als individuelles Mitglied eines Fernsehpublikums, das sich eine Sendung über AIDS ansieht, oder als Fernsehprofi, der an der Erstel- lung der Sendung beteiligt ist. Ethnographie ermöglicht auch den Zugang zu jenen „tausenden ... [anderen] lebenden dialogischen Fäden“ in den Raum/ Zeit-Koordinaten einer Fernsehproduktion. Hier sind es zahlreiche „Spreche- rInnen“, die mittels verschiedener Kommunikationsmodi (Drehbuch, Set-De- sign, Beleuchtung, Regie, Darstellung), professioneller Idiolekte und Zeit/ Raum-Determinanten eine „Stimme“ aushandeln. Produktion, Zeit/Raum und Intertextualität Zum Zeitpunkt meiner Untersuchung hatte ACP bereits sieben Jahre lang hohe Einschaltquoten für sich verbuchen können und schickte sich an, zur am längs- ten laufenden dramatischen Serie im australischen Fernsehen aufzusteigen. Hohe Einschaltquoten stellen natürlich die zentralsten Zeit/Raum-Koordinaten des kommerziellen Fernsehens dar. Um ein Publikum um sich zu sammeln, muss eine erfolgreiche Abendserie so viel unterschiedliche kulturelle bzw. demographische Räume wie möglich durchdringen; und sie muss ihre hohen 26 John Tulloch montage/av Einschaltquoten über den Verlauf der Zeit hinweg aufrecht erhalten, in dem dann andere Kanäle die eigenen Quotenrenner gegen die Serie im Programm platzieren. Im untersuchten Fall war es beispielsweise so, dass ein anderer kom- merzieller Kanal die Strategie fuhr, ACP mit der auch in Australien sehr erfolg- reichen US-amerikanischen Sitcom THE COSBY SHOW ausstechen zu wollen. In den Augen von Executive Producer James Davern hing der Erfolg von ACP als „langlebigste Serie in der australischen Fernsehgeschichte“ (Zitat Davern) ab von • ihren demographischen Eigenschaften: die Serie zog Zuschauerschaf- ten aus einem breiten Altersspektrum von den jugendlichen Teens bis zu den über 65jährigen an. Sie tat dies mittels Verwendung unter- schiedlicher, jeweils altersspezifisch zugeschnittener Handlungssträn- ge und einer vom Alter her sehr breiten Besetzung. Während andere, zeitweilig sehr erfolgreiche Soap Operas, die sich ganz auf ein jüngeres Publikum (beispielsweise SONS AND DAUGHTERS) oder ältere Zu- schauerschichten (CARSON’S LAW) konzentrierten, bald das Zeitliche segneten, blieb ACP mehr als ein Jahrzehnt im Programm; • ihrer Handlung, die die unersättlichen zeitlichen Anforderungen des kommerziellen zwei Stunden pro Woche Fernsehens mittels der For- mel des Krankenhausdramas erfüllte (wo Geschichten gewissermaßen einfach zur Tür hereinspazieren) und die zugleich mit dem Mythos ei- nes pastoralen Australien aufwartete. Davern glaubt, dass „im Unter- bewusstsein jedes Australiers eine Sehnsucht nach dem Land existiert ... ich habe mich entschlossen, an diesem Unterbewussten anzusetzen, indem ich die Serie in einer Stadt im ländlichen Raum spielen ließ“ (Tulloch und Moran, 1986, 28); • dem für das Drehbuch verfügbaren Budget: mit seiner Hilfe konnten einige der besten Film-, Bühnen und Fernsehautoren Australiens da- für gewonnen werden, die Geschichten über sehr ernsthafte Themen und Probleme innerhalb der Serie wie auch Romanzen zu schreiben; • ihrer seriellen Form: in serieller Hinsicht offen angelegte Romanzen und fortlaufende alltägliche Ereignisse („Soap“) wurden in das überge- ordnete Muster einer pro Woche zwei Mal ausgestrahlten Serie gewo- ben. Folglich wurde ACP in der gesamten Branche – also beispielswei- se von den EntscheiderInnen im Bereich Bühnenbild, in der Audio- Regie, in Aufnahmeleitung, Regie, Darstellung usw. als „Qualitäts- Soap“ angesehen, die eine besonders hochkarätige Professionalität verlangte. 10/1/2001 Das implizite Fernsehpublikum 27 In der Produktionszeit ihrer AIDS-Geschichte Sophie operierte ACP allerdings unter den finanziellen Einschränkungen des neuen Christopher-Sense-Manage- ments bei Channel 7, das Überstunden im Studio reduzierte. Nach Auskunft von Forrest Redlich, dem für die Drehbuchbearbeitung Zuständigen, machte ein Rückgang der Werbeeinnahmen außerdem ein Mehr an vorausschauender Planung erforderlich, die nun auf enger an den festen Figuren orientierte Hand- lungsstränge abzielte. Die narrativen Metapläne waren enger gestrickt und auf eine Geburt, eine Heirat oder einen Todesfall pro Jahr gerichtet, mit deren Hilfe sich während der Zeiten der Einschaltquotenmessung höchste Werte generieren und von denen sich andere Geschichten abzweigen ließen. Wie dies oft in Soap Operas der Fall ist, wurde Sophie geplant, um der neuesten und hohe Einschalt- quoten erzielenden Heirat zwischen dem Chirurgen Terence Elliot und der jün- geren Ärztin Alex Fraser „einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen“ (Red- lich). Als narrativ offenes Genre hat die Soap Opera die Eigenschaft, eine Einrichtung wie die Ehe, die Vladimir Propp als die Erfüllung der konventionel- len Narrativen beschreibt, ständig zu destabilisieren. Im Falle von Sophie war dies – als Ergebnis der engeren Handlungsführung und des Metaplans – auch an den danach geplanten, mit der Erwartung hoher Einschaltquoten verbundenen Todesfall geknüpft. Sophie war die gelegentlich auftauchende, als Journalistin arbeitende Tochter von Terence, eine gutsituierte und berufstätige Drogenkon- sumentin, die aufgrund ihrer Drogenabhängigkeit, aber auch aufgrund alters- mäßiger Nähe Auseinandersetzungen mit Alex hat. In Untersuchungen zur Beliebtheit einzelner Figuren hatte sich eine breite Zustimmung des Publikums zur „Chemie“ zwischen Sophie und Terence erwiesen, weshalb mehr als sechs Monate vor der Ausarbeitung der Sophie-Handlung bereits der Plan aufkam, eine neue Geschichte um die beiden zu entfalten. Vorgesehen war, dass die spe- zielle Sophie-Folge die Ehe von Terence und Alex weiter destabilisieren sollte, indem Sophie als nunmehr auf der Straße lebende Drogenabhängige wieder auf- taucht. Allerdings holte ACP im Rahmen ihres Profils als „Qualitäts-Soap“ in regelmäßigen Abständen medizinische und soziale Expertenberatung ein, wodurch dann andere Zeit/Raum-Koordinaten bedeutsam wurden. Geplant war, dass Sophie sich in Kings Cross infiziert, d.h. im Rotlichtviertel von Syd- ney, wo sie sich prostituiert, um ihre Abhängigkeit finanzieren zu können. Diese Erzählung nach dem Schema „die Gefahren der Großstadt“ sollte dann gleichzeitig ACPs bekannte pastorale Ideologie mobilisieren, indem Terence in die Stadt aufbricht, um seine Tochter ins „reinere“ ländliche Leben zurück- zuholen. An diesem Punkt wurde jedoch eine Sozialarbeiterin aus Kings Cross befragt, was dazu führte, dass die Handlung dann als AIDS „in seiner drit- ten Welle“ umgesetzt wurde. Hier kreuzten sich die Zeit/Raum-Koordinaten 28 John Tulloch montage/av des kommerziellen Fernsehens also mit denen des medizinischen Berufsstan- des. Redlich: Von der Heroingeschichte mal ganz abgesehen wussten wir, dass Sophie zurückkommen und als „Knüppel im Weg“ fungieren würde. Die Zuschauer wollen so etwas sehen. Alles war also in einem übergeordneten Plan festgelegt. Die besondere Füllung der speziellen Episode kommt auf- grund von Recherchen zustande ... aber der Metaplan war schon da. Dieser Metaplan wob die komplexen seriellen Stränge Heirat/Tod/neue Heirat sehr eng um die festen Figuren. (Diesbezüglich hatte die Episode Sophie auch die Funktion, die nächste große Liebesgeschichte zwischen dem Teenager Jo und dem jungen Arzt Michael aufzubauen.) Man kann sagen, dass „Recherche“, über die Sozialarbeiterin Virginia Foster vermittelt, den „Drei-Wellen-Diskurs" der medizinischen Zunft zugänglich machte. Foster: Wir unterstützen das Team von ACP etwa ein Mal pro Jahr [...] Sophie sollte raus aus der Serie [...] die Serienleute wollten Sophie als dro- genabhängig an einer Überdosis sterben lassen ... und da sagte ich: warum werdet ihr sie nicht durch AIDS los? Ich sorge mich derzeit nämlich wirk- lich wegen der hohen Zahl von Abhängigen in dieser Gegend, die sich die Nadel teilen und prostituieren ... und vielleicht kriegt man das zu den Zuschauern rüber, dass die Krankheit alle angeht ... Wichtig war auch, dass Sophie eine Frau ist, denn ich glaube, trotz all dem Aufklärungsmate- rial und den vielen Broschüren ist AIDS in den Köpfen vieler Menschen immer noch eine Homosexuellenkrankheit, und das müssen wir wirklich schleunigst ändern. Trotz Drucks der Australian Medical Association, zu der die Serie gute Bezie- hungen hatte, hatte Davern sich bis zu diesem Zeitpunkt geweigert, eine AIDS Geschichte zu machen. Die australische Serie DIE FLIEGENDEN ÄRZTE hatte bereits eine „Vorurteile gegen Schwule“-Geschichte gebracht und Davern hatte auf eine neue Perspektive gewartet. Der medizinische „Drei-Wellen-Diskurs" und die gewöhnlichen Alltagssorgen einer Sozialarbeiterin, die eine Verbreitung von AIDS durch Prostitution in die breite Bevölkerung hinein befürchtet, liefer- ten Davern einen solchen neuen Blickwinkel. Die unterschiedlichen zeitlichen Rahmen des Metaplans einerseits und des medizinischen Expertenwissens ande- rerseits verbanden sich und schrieben ihre unterschiedlichen Publikumsvorstel- lungen in die sich ändernden Produktionstexturen ein. An diesem Punkt begannen nun Texte und Idiolekte zu wirken, die sich von Bakhtins „lebenden dialogischen Fäden“ unterscheiden. 10/1/2001 Das implizite Fernsehpublikum 29 • als Arbeiterjunge aus den westlichen Vorortgebieten Sydneys etablierte Forrest Redlich als bei ACP für das Drehbuch Verantwortlicher einen besonderen Idiolekt von einander die Waage haltenden Geschichten. In diesem Fall richtete sich sein Streben auf eine Balance zwischen positi- ven versus negativen Geschichten über Jugendliche. Ihm war daran ge- legen aufzuzeigen, dass Jugendliche nicht nur der Gefahr von Drogen- abhängigkeit ausgesetzt sind, sondern dass sie auch von anderen Problemen betroffen sind, beispielsweise von strukturbedingter Ar- beitslosigkeit oder von Ausbeutung am Arbeitsplatz seitens Erwachse- ner, oder vom Auseinanderbrechen der Familie. Da zu jener Zeit Mi- ni-Serien hohe Einschaltquoten erzielten, entschlossen sich die ACP Produzenten, aus der Sophie-Geschichte eine „Mini-Serie“, d.h. einen Vierteiler statt des gewöhnlichen Zweiteilers zu machen. Folglich er- hielt auch die Balance-Strategie von Redlich mehr Raum, der u.a. für eine Unterhandlung um ein junges Mädchen genutzt wurde, der man den ersten Arbeitsplatz bei einem Schnellimbiss kündigt, als sie acht- zehn wird. Sie hat aber den Mut und den nötigen (typisch „ländlichen“) Rückhalt seitens ihrer Gemeinschaft und kämpft um ihren Job, so dass ihr „Sieg“ ein Gegengewicht zu Sophies Niederlage bildet. In einem an- deren Handlungsstrang geht es um eine Gruppe von langzeitarbeitslo- sen Jugendlichen, die an der Flasche hängen und in einem Unterschlupf hausen, in dem Sophie dann schließlich an einer Überdosis stirbt (was zusammen genommen den Schluss nahe legt, dass es auf dem Lande doch nicht ganz so unberührt und harmonisch zugeht). Ein dritter Strang handelt schließlich von einem Vater, der seine Kinder verlässt, um nach seiner streunenden Ehefrau zu suchen, deren Verschwinden er insgeheim den Kindern anlastet. Dieser Plot weist eine Parallele zur Hintergrundgeschichte von Sophie auf, die als Kind von ihrem Vater verlassen wird, als dieser dem Alkohol verfällt, nachdem er ihren jünge- ren Bruder David durch eine Fehldiagnose „umgebracht“ hat. Auf diese Weise boten nach Redlichs Ansicht eine ganze Reihe parallel angelegter alkohol- und drogenbezogener Geschichten ein Gegenge- wicht zum negativen Bild der die Nadel teilenden Drogenabhängigen als jungen gesellschaftlichen Außenseitern, indem Abhängigkeit als ein quer durch die Altersgruppen verbreitetes Phänomen gezeigt wird, das unter den unterschiedlichsten sozio-ökonomischen Bedingungen auftritt und sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande vorkommt. Autor Tony Morphett benutzte dann seine eigene Alkoholismuser- fahrung sowie Erzählungen, die er bei den Anonymen Alkoholikern 30 John Tulloch montage/av gehört hatte, um die Brücke von der Sophie des Sloane Square zum Straßenjunkie in Kings Cross zu schlagen. Er erinnert sich an eine an- gesehene Frau mittleren Alters, die bei den Anonymen Alkoholikern erzählte, wie sie über lange Zeit ihre Alkoholabhängigkeit verheim- lichte, bis sie eines Tages einen heruntergekommenen Obdachlosen mit seiner Flasche auf einer Parkbank beobachtete. In den Augen der Frau hatte sich der alte Alkoholiker mit seiner Sucht abgefunden – und sie wollte nun das gleiche tun. „Ich dachte an diese Frau, als ich mir So- phie vorstellte, die von sehr gut verdienenden Leuten umgeben ist. Sie geht zum Cross, um sich Stoff zu kaufen und sieht einen Jungen, der sich auf der Straße einen Schuss setzt. Und sie sagt: ‚Jetzt kapiere ich es. Er hat sich damit abgefunden. Er hat verstanden, was wichtig ist.‘ Für Sophie ist das wie eine Offenbarung und sie freundet sich mit dem Jun- gen, Paul, an. Paul war vorher in einer Kneipe gewesen, hatte sich gera- de für 50 Dollar verkauft, war dann um die Ecke gegangen und hatte sich sein kleines Päckchen geholt und sich den Schuss gleich auf der Straße unmittelbar vor seinem Haus gesetzt, weil er einfach nicht die Zeit damit verschwenden wollte, nach oben zu gehen. Und für Sophie war das die Offenbarung. „Das war das Fenster zur Wirklichkeit. [...] Das genau war der Moment, auf den es mir ankam, der Augenblick, der aus der integrierten Mittelklasseabhängigen den Straßenjunkie macht. Es war die Umarmung der Kultur der Straßenjunkies.“ Über den Intertext der Anonymen Alkoholiker fand also die Ökonomie des Nadelteilens Eingang in Sophie. • Bill Searle war im Bereich Drehbuch dafür verantwortlich, das Skript in zeitlicher Hinsicht auf die von Channel 7 aufgestellten engeren Be- dingungen abzustimmen. Da Folge 2 sich als zu kurz erwies, füllte Se- arle die Lücke unter Verwendung einer der „Ideen“, die Davern in ei- ner Skriptbesprechung erwähnt hatte und in der es um das Erfordernis einer Legalisierung von Heroin ging. Searle schrieb selbst eine zusätz- liche Szene, in der Oberschwester Sloane schockiert auf Überlegungen zur Freigabe von Heroin reagiert, die der etwas verwirrte Terence an- stellt, nachdem er gerade erfahren hat, dass Sophie HIV-positiv ist. Te- rence denkt laut darüber nach, dass eine Legalisierung die Verkettun- gen der Junkie-Ökonomie aufbrechen würde, die Morphett vorher als „ausschließlich darauf gerichtet, Geld zu beschaffen“ beschreibt, „egal ob Geld direkt gestohlen wird, oder ob irgend etwas anderes gestohlen wird, um es in Geld umzusetzen, das dazu dient, den Stoff zu kriegen, den man sich dann in die Venen jagt.“ 10/1/2001 Das implizite Fernsehpublikum 31 Auf diese Weise wurde die AIDS-Geschichte in ACP transformiert – im Sinne von Elams Sichtweise von Transformation als einer Umsetzung von Texten unterschiedlichster Herkünfte in andere schriftliche Erzählungen. Über eine ganze Reihe von Intertexten wurde dieser Vorgang aus den unterschiedlichen Zeit/Raum-Koordinaten des kommerziellen Fernsehens und des medizinischen Expertentums der aktuellen Geschichte und Epidemiologie von AIDS heraus mobilisiert. Im Rahmen eines fortlaufenden Zusammenspiels von Äußerungen und Intertexten wurden neue AIDS-Bedeutungen und –Erzählungen auf die Tagesordnung der Produktion gesetzt, die in ihren eigenen Zeiten und Räumen „aufgeführt“ wurde. Und nicht zuletzt versprachen die Balance-Geschichten, die zu diesem Transformationsvorgang beitrugen, das in Frage zu stellen, was Hassin als die dominante Ideologie der Junkies als gesellschaftlichen Außensei- tern beschrieben hat. Meine ethnographische Beteiligung an der Produktion ermöglichte mir dann einen Zugang zu der „Verarbeitung“ jenes Versprechens in Gestalt der späteren Stadien der Transkodifizierung des Texts. • Einige jener Äußerungen blieben auf der Tagesordnung: so etwa die Sache mit der Legalisierung von Heroin (was allerdings zu Problemen für das Studio führte); und auch die Parallelführung der vormaligen Alkoholabhängigkeit von Terence mit der Geschichte des Vaters, der seine Kinder im Stich lässt. • Andere wurden fallengelassen: so die Geschichte um Alkoholismus und Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen im ländlichen Raum, die ja die Klasse/Kultur Debatte von Sophie ausgeweitet hätte. Dieser Strang wurde nach den Aufnahmen aufgrund von Zeitdruck und technischen Problemen herausgenommen. • Wieder andere Äußerungen gingen zeitweise während des Schreibens verloren – so etwa Morphetts explizite Parallelführung von Terences vormaligem Alkoholismus und Sophies Drogenproblem, deren Pla- nung in seinen Notizen zu einer Skriptbesprechung über eine King Cross Szene festgehalten ist. Sie wurden dann aber später wieder in den Transkodierungsprozess hereingenommen – dadurch, dass die Musik- regie in diesem spezifischen Fall ein musikalisches Schellenbaum-Motiv „Stachel der Großstadt“ einfügte, um die Parallele anzuzeigen. Dieser Vorgang von Einschluss und Ausschluss ist nicht zufällig; vielmehr ist er abhängig von in Zeit/Raum eingebetteten Kompetenzen und Neigungen. Mythen, Erinnerungen und andere Erzählungen werden prozesshaft als Inter- 32 John Tulloch montage/av texte eingewebt (über Hintergrundgeschichten, die aus der Quelle Anonyme Alkoholiker stammen; über Berichte in Radio, Fernsehen und Zeitung über AIDS als 3-Wellen-Phänomen, über strukturelle Arbeitslosigkeit und die „Mac- Donaldisierung“ von Arbeitsplätzen; über Geschichten des Time Magazine über drogenabhängige Journalisten und den „Hippy-Pfad“; über Darstellungen psychologischer „Experten“ zu Identitäten, Kausalitäten und Verlusten in der Moderne, die angeblich durch frühe Sozialisation im Kontext einer gescheiter- ten Ehe determiniert werden; über die herkömmliche pastorale Stadt/Land Kontrastierung. Ihr Überleben bis zur Ausstrahlung hängt jedoch auch von professionellen Praktiken und Äußerungen ab: so etwa als die Aufmachung der Hauptdarsteller für einige der Szenen im Unterschlupf der jugendlichen Arbeitslosen durch die Maske dem Regisseur nach der Aufnahme missfiel; oder im Falle des pastoralen Kontrasts zwischen einer „ländlichen“ Oboe und einem „städtischen“ Schellenbaum-Motiv, den der Serienkomponist in die Sendung einbrachte. Über derartige Äußerungen (im Sinne von Intertexten) und Idio- lekte wurde das Fernsehpublikum für Sophie in den dann schließlich zur Aus- strahlung vorgesehenen Text eingeschrieben. Eine prozesshafte Produktionspoetik Mit einer Szene in den vier Sophie-Teilen hatte der Schauspieler Shane Porteus (der den Terence spielt) ziemliche Probleme. Dabei handelte es sich um die zusätzliche Szene zwischen Terence und Oberschwester Sloane, die Bill Searle im Anschluss an die zeitliche Anpassung des Skripts bei den Proben eingefügt hatte. Auch Regisseur Leigh Spence kam mit dieser Szene nicht klar, was ihn zu dem für ihn ungewöhnlichen Schritt bewog, den Kontrollraum zu verlassen, um die eingestellten Kamerawinkel auf dem Set zu verändern. Schon während er die Szene schrieb, hatte Searle sich gesorgt, denn da ist immer die Gefahr, dass etwas wie angeklebt aussieht, wie ein Werbe- spot der Öffentlich-Rechtlichen. Aber als ich dann die Aufnahme gesehen habe, schien es mir aber doch so, dass es ganz gut hereinpasste, dass dies ein Bereich der Heroin-Waids Situation war, die in den gesamten vier Stunden nicht berührt worden war. Die Differenz zwischen mir und Searle besteht darin, dass ich die Szene nicht nur beim Schneiden nach der Aufnahme gesehen habe, sondern auch dabei war, als sie aufgenommen wurde. Hierdurch eröffnete sich mir der Zugang zu den Strategien, die die Leute in der Produktion verwenden, damit eine Szene nicht 10/1/2001 Das implizite Fernsehpublikum 33 wie „angeklebt“ anmutet. Warum aber sollte nun die Tatsache, dass ich die Prak- tizierung dieser Strategien miterlebt habe, mir einen zusätzlichen analytischen Vorteil gegenüber einer Untersuchung des Endprodukts verschaffen? In einem sehr nützlichen Aufsatz über Auto-Kritik unter dem Titel „Über die Anziehungskraft des Texts und analytische Paralyse“ spürt Keir Elam „dem fatalen Reiz der Textualität“ nach (Elam, 1989, 3), der sich in vielen der frühen strukturalistischen Arbeiten zur Semiotik der Darstellung findet. In der dort entfalteten Argumentation war in dieser frühen Phase undenkbar, eine Semiotik der Irgendetwas zu begründen, ohne zuerst einmal, a priori, die Existenz eines vollständigen und autonomen textlichen Objekts zu setzen, das seinen eigenen Kanons syntaktischer und semantischer Kohärenz unterworfen ist und darauf wartet, dem semiologischen Experten seine eigene gehegte und gepflegte Les- barkeit zu überlassen.“ (ibid.) Elam zeigt hier die Notwendigkeit auf, unseren eigenen Diskursen gegenüber dieselbe Reflexivität an den Tag zu legen, die wir allen anderen Expertendiskur- sen gegenüber praktizieren. Er zitiert einen Phänomenologen des Theaters, um das Argument zu entwickeln, dass das Problem seiner eigenen früheren Semio- tik darin bestand, dass durch die Adressierung von Performanz als System von Codes [und damit als Text] „der perzeptuelle Eindruck, den Theater auf den Zuschauer macht, unweigerlich zergliedert wird [...] Die mit einem semiotischen Ansatz verbundene Gefahr besteht also darin, dass man dazu neigt, über den Schauplatz des sensorischen Engagements mit seinen empirischen Objekten hinaus zu blicken“ (States, 1985, 7). Da, wie ich aufzeigen möchte, Produktion ein kontinuierliches Zeit/Raum- Spiel von Intertext und Äußerung ist, kann der Begriff Zuschauer hier auch auf Fernsehprofis bezogen werden, die selbst „Zuschauer“ anderer Texte sind. Zu einem bestimmten Grad kritisiert Elam indirekt seine eigene Arbeit über die Segmentierung von Performanz als einem vielschichtigen Text, wenn er aus- führt, dass „wir noch zu eng mit der alten strukturalistischen Vorstellung von Performanz als einer Struktur von textlichen Schichten verhaftet sind, als End- produkt der Interaktion von Codes, das auf das große Messer wartet, das sich herabsenkt und die Scheiben herausschneidet.“ (Elam, 1989, 10) Obwohl Elams frühere Vorstellung von der semiotischen Dichte der Perfor- mance einen hilfreichen Einstieg in die Produktion bietet, liefert sie keineswegs eine Theorie. Und ich stimme zu, dass „ein grundlegender und weitreichender Wechsel des analytischen Paradigmas und auch des analytischen Objekts“ not- wendig ist (ibid., 11). Wichtig ist hier, worauf Elam hinauswill, denn hier besteht ein Bezug zu genau jenen Strategien, die Shane Porteus und Leigh Spence am Schauplatz ihres 34 John Tulloch montage/av sensorischen Engagements mit den empirischen Objekten der Performanz anwendeten. Ein rhetorischer Ansatz konzentriert sich auf Strategien der Über- zeugung und deshalb auf die praktischen Werte des Regisseurs, der die einge- stellten Kamerawinkel ändert oder des Schauspielers, der seine Darstellungslo- gik oder seinen performativen Stil abändert. In anderen Worten besteht der ana- lytische Vorteil dieses Ansatzes darin, dass man den Text auf der Ebene der in der Produktion/Performanz implizierten Zuschauerschaft liest statt auf der Ebene der tatsächlichen Zuschauerschaft (obwohl auch dies natürlich von einer prozessualen Poetik profitieren kann). Diese Bevorzugung einer „prozessualen Produktionspoetik“ vor einer Sicht- weise des Texts als „theoretischem Objekt“ verlangt natürlich, wie Elam sagt, nach einem „adäquaten (möglichst direkten) Zugang zu Produktionsmaterial.“ (ibid., 23) Und wie er ebenfalls feststellt, lässt sich die Transformation und Transkodifizierung eines narrativen Quellentexts ebenfalls zurückverfolgen bis zum „Dramaturgen bzw. Regisseur oder Bühnenbildner oder Schauspieler: worauf es ankommt sind nicht die Quellen des Prozesses, sondern die Prozesse als solche.“ (ibid., 23) Elams eigenes Interesse liegt im Bereich Theater und insbesondere bei Stü- cken, die von sich aus eine „Prozessualisierung der Produktion“ über die „ver- wendeten Probemethoden“ unterstreichen (ibid., 13). Mein auf das kommer- zielle Fernsehen bezogenes Interesse nimmt aufgrund seiner inhärenten natu- ralistischen Konventionen und denen eines „vollendeten Produkts“ einen etwas anderen Weg. Dessen ungeachtet sind die Betonung der Rhetorik und von Überzeugungsstrategien im Verhältnis zur Darstellung und zur Perfor- manz hier gleichermaßen bedeutsam – obwohl es immer notwendig ist, sie in die globalen Rhetoriken und Strategien des populären Fernsehens einzubetten. [...] Strategien der Überredung Ein auf die Performance bezogener rhetorischer Ansatz untersucht den Prozess, durch den in den Worten von Elam narrative Quellentexte transformiert und transkodiert werden. (1) In einer „prozessualen Poetik“ der Performanz kann diese Betonung rhetori- scher Strategien ihr Augenmerk auf jeden Punkt des Produktionsprozesses rich- ten. Sie kann beispielsweise die Art und Weise untersuchen, durch die die Auf- 10/1/2001 Das implizite Fernsehpublikum 35 fassung der Serie als „Qualitäts-Seifenoper“ die Umsetzung einer zweiseitigen Handlungssynopse in Folge 1 von Sophie durch einen Drehbuchautor kanali- siert, indem sie sich rhetorisch zwischen so unterschiedlichen populär- und hochkulturellen Intertexten wie THE BRADY BUNCH und Shakespeare bewegt. Tony Morphett beispielsweise referiert auf THE BRADY BUNCH, als er seine persönlichen Erinnerungen als Stiefvater ins Spiel bringt, um die „Qualität“ von ACP hervorzuheben: Morphett: Ich habe zwei Stiefkinder aus der ersten Ehe meiner Frau und meine Frau hat drei Stiefkinder aus meiner ersten Ehe. Die Situation eines Stief-Elternteils, in der Alex sich befindet, kenne ich also zur Genüge. Und mir kam es immer so vor, als ob genau diese Situation im TV-Drama immer entweder ignoriert wird oder zum Rührstück gerät, wie das bei- spielsweise THE BRADY BUNCH geschieht. Hier überprüft Morphett die Sentimentalität der Populärkultur anhand des Wirklichkeitsgehalts seiner eigenen Erinnerungen. In diesem speziellen Fall stellt sich die Sache für Morphett so dar, dass seine eigenen, dem Leben abgerun- genen persönlichen Erinnerungen und Hintergrundgeschichten Sophie sehr viel realer machen (und sich gleichzeitig weitaus besser an eine neue Generation von Eltern vermarkten lassen, die mit dem Stief-Syndrom Bekanntschaft geschlos- sen haben) als die sentimentalisierenden Darstellungen des populären US-ame- rikanischen Fernsehens. Diese „gelebte Erfahrung“ ist einer der rhetorischen Markierungspunkte von „Qualitäts-Soap Opera" (die zugleich eine gut ver- marktbare Soap Opera ist). Gleichzeitig orientiert sich Morphett – wiederum mit dem Ziel der Legitimie- rung von ACP als „Qualitäts-Soap Opera“ – aber auch an der Hochkultur, um Redlichs Strategie der sich die Balance haltenden Geschichten sowie die ACP-Formel „Gelächter und Tränen“ zu rechtfertigen: Morphett: Es ist absolut axiomatisch, dass eine Nebenhandlung eine Ver- knüpfung oder eine Art Parallele zur Haupthandlung aufweist ... das lässt sich beispielsweise an OTHELLO nachvollziehen, wo das Thema Eifer- sucht auf sämtlichen Handlungsebenen ausagiert wird. Offenbar tendiert die medizinische Geschichte, die ja eine Geschichte von Leben und Tod ist, zur schwerlebigeren Seite. Und dann gibt es noch die komische Seite, mit den „unverschämten Mechanikern“ ... Bob, Cookie und Esmie. Aber das hat eine lange Tradition ... In der Regel sind die Stü- cke Shakespeares, die das Beste an Komödie zu bieten haben, die Tragö- dien, so wie KÖNIG LEAR. Komödie ist zumindest in der englischen 36 John Tulloch montage/av Tradition von Autoren immer dazu genutzt worden, das Publikum in Vorbereitung auf die schweren Augenblicke zu entwaffnen. Die Sorge von Morphett, dass die dem kommerziellen Charakter der Serie geschuldete Neigung zu kurzen Szenen und zur Zuflucht zur Komödie den Elan ihrer ernsthaften Botschaften verringert und sein gleichzeitiger Trost, dass die Formel eine Tradition hat, die bis auf Shakespeare zurückreicht, sind Teil des dialogischen Prozesses, den Hassin beschreibt „in dem der Sprechende seine oder ihre eigene Stimme aushandelt“. Für das kommerzielle Fernsehen arbei- tende Profis wie Morphett handeln diese Stimme ganz klar über die implizierten Zuschauerschaften aus. Morphett arbeitet diese Sorge des professionellen Autors durch, indem er einerseits die Befürchtung äußert, für die Fernsehzu- schauerInnen an Schwung einzubüßen (was im kommerziellen Fernsehen als Kardinalsfehler gilt), und andererseits davon spricht, entweder Entlastung zu bieten oder den ZuschauerInnen in Vorbereitung der dramatischen Höhe- punkte jede Art der Wappnung zu verunmöglichen (was eine der herausragen- den Qualitäten der Shakespearschen Werke ist). Wie schon im Falle der zitierten Kombination einer Bezugnahme auf THE BRADY BUNCH mit der von ihm implizierten, von einem Stief-Syndrom betroffenen Zuschauerschaft, bilden Intertexte und implizite Zuschauerschaften die „lebenden dialogischen Fäden“ dieses Aushandlungsprozesses der Stimme. Einen Fernsehautor zu beobachten und ihn zu interviewen offenbart, wie die Tatsache, dass ein an „Qualität“ orien- tierter Autor gleichzeitig ein für ein kommerzielles Medium produzierender Autor ist, eine dialogische Aushandlung der Stimme begründet, wie Hassin sie in ihren HIV-Interviews beschrieben hat. Im Falle des Fernsehautors handeln jene implizite Zuschauerschaft, die „drangehalten“ werden muss (und nicht den Kanal wechseln soll) und diejenige, der das „wirkliche“ Stiefsyndrom oder die „wirkliche“ Junkiekultur nahegebracht werden soll, seine schreibende Stimme aus. (2) Doch wie schon diese bei jedem Fernsehprofi in jedem einzelnen Moment des prozessualen Produktionsflusses ablaufende Aushandlung von Subjektivitä- ten verlangt Bakhtins Verständnis der „lebenden Äußerung“ als „aktiv in einen sozialen Dialog einbezogenen Teilnehmer“ auch die Analyse der jeweils „spezi- fischen sozialen Umgebung“ (d.h. der übergeordneten Zeit/Raum-Koordina- ten), mit denen der Autor arbeitet und ringt. Deshalb muss eine Analyse der rhetorischen Strategien neben bestimmten Momenten des Transformationsprozesses – von den internen Metaplänen über das Drehbuch für Sophie zur Nutzung persönlicher Erinnerungen für die Figu- 10/1/2001 Das implizite Fernsehpublikum 37 rendarstellung durch die Schauspieler und schließlich bis zur Rhetorik der Pro- duzenten über Entscheidungen des Beibehaltens und Herausnehmens von erstelltem Material beim Schneiden – auch die übergeordnete Beziehung von Transformation und Transkodifizierung berücksichtigen, wo wieder andere und weitere institutionelle Redeweisen besondere Stile beim Proben, in der Figurendarstellung, in Bezug auf Kameraführung und Schnitt aufrufen (z.B. die der „komplexen visuellen Signatur“ von Regisseuren, die im öffentlichen Rund- funkwesen ausgebildet wurden; oder den von einem kommerziellen Regisseur gepflegten Stil des Probens im Ensemble oder über das implizite Fernsehpubli- kum eines Produzenten, der sich darum sorgt, ob letzteres „drei Minuten zehn“ an einem „bebilderten Radio“ dranbleibt). Obwohl Akteure wie Morphett gedanklich mit unterschiedlichen impliziten Publika spielen, etwa einem „typischen“ Seifenopernpublikum einerseits und einem „ernsthaften“ Publikum andererseits, setzt sich letztendlich der Tendenz nach das „kommerzielle“ Publikum durch – wenn etwa Bruce Best die Begräb- nisszene herausnimmt, weil sie für ihn drei Minuten zehn „bebildertes Radio“ darstellt, das seine implizite Zuschauerschaft nicht dabeizuhalten vermag. Oder, um dies nochmals anders und sehr simpel zu illustrieren: SozialarbeiterInnen, die in die Entstehung von Sophie einbezogen waren, hatten den Hinweis gege- ben, dass die Figur Sophie zu alt ist, um den Typus des Straßenjunkies „da drau- ßen“ zu repräsentieren, weil solche Junkies bereits in einem viel jüngeren Alter eine Überdosis nehmen; weshalb eine ausgeprägte Altersdiskrepanz zwischen Sophie als Tochter von Terence und dem Foto besteht, auf dem die wirkliche Tochter des Schauspielers Shane Porteus zusehen ist und das aus methodischen Gründen benutzt wird, als in der Geschichte ein Sozialarbeiter Terence Aufnah- men von an einer Überdosis gestorbenen drogenabhängigen Straßenkindern zeigt. An dieser Stelle erhielten also kommerzielle Überlegungen Vorrang: die Geschichte vom Leben als Straßenjunkie bzw. vom Nadelteilen, das zu einer HIV-Infektion führt, diente primär dazu, dem übergeordneten, auf die Erzie- lung maximaler Einschaltquoten abgestimmten Metaplan einer Abfolge von Heiraten und Sterbefällen „einen Knüppel in den Weg zu werfen“. Damit war das Alter von Sophie bereits festgelegt. Um mit dem Problem des tatsächlichen Alters eines Straßenjunkies annäherungsweise adäquat umzugehen, erhielt Sophie mit Paul einen jüngeren Partner. Paul allerdings wird – durch das musi- kalische Schellenbaum-Motiv und seine Einführung als „Großstadtschurke“ in einer ländlichen Pastorale – größtenteils im Sinne der dominanten Ideologie des die Nadel teilenden Junkies als gesellschaftlichem Aussenseiter porträtiert. Auf diese Weise handelte die Serie selbst die Stimme aus, mit der sie sprach: und zwar zwischen den nadelteilenden Junkies Sophie und Paul und teilweise innerhalb 38 John Tulloch montage/av der Figur von Paul selbst (da in einer Szene Paul seine persönlichen Erinnerun- gen des Verlassenwerdens durch die Eltern erzählt, was nochmals Redlichs Ästhetik der Balance ins Spiel bringt.) Wie meine ethnographische Untersuchung gezeigt hat, sind persönliche Erin- nerungen als Persuasionsstrategien auf verschiedenen Ebenen bedeutsam. Sie haben innerhalb der Diegese eine Bedeutung (so beispielsweise, wie oben ange- deutet, im Falle von Pauls Erinnerungen), auf der intertextuellen (als beispiels- weise Regisseur Lee Spence die Erinnerungen eines Fans aktiviert) sowie auf der extratextuellen Ebene (wenn Regisseur Bob Meillon in seiner Arbeitsweise stark auf das intensive intratextuelle und auch persönliche Erinnern der Serienschau- spieler setzt). Auch hier setzt sich tendenziell das „kommerziell“ (auf die Soap Opera) orientierte Erinnern durch. Schauspieler haben damit keine Probleme. Was ihnen Schwierigkeiten zu bereiten scheint ist, funktionierende Redeweisen zu finden, die ihnen dabei helfen, gesellschaftliche Problemstellungen zu ver- körpern, die außerhalb jener „serialen“ interpersonellen Beziehungen liegen, die in den Metaplänen enthalten sind. Die Erinnerungsfähigkeit der Schauspieler stellen eine Verbindung zu weiteren gesellschaftlichen Problemstellungen her. Der Punkt ist jedoch, dass die übergeordnete Serienplanung sie selten dazu ermutigt, dies zu tun; und wenn dies einmal gefragt ist, dann weichen sie auf ihre persönlichen Erinnerungen aus und „schauspielern in Bildern“, wie Shane Por- teous sagt. Spezielle „soziale Probleme“ werden in einem Produktionsblock angeschnitten und abgehakt (normalerweise innerhalb einer Woche oder, wie im Falle der „Mini-Serie“ Sophie, im Zeitraum von zwei Wochen), wohingegen die seriellen Romanzen fortdauern. Folglich ist die Situierung von Figuren in einem übergeordneten sozialen Zusammenhang seitens ihrer jeweiligen Darsteller ten- denziell episodischer Natur – sie erfolgt wie im Beispiel der Szene um die Legali- sierung von Heroin gleichsam als Nebenbemerkung. Die konventionellen Kompetenzen und Neigungen im Rahmen des kommer- ziellen Fernsehens, die in diese Richtung führen, werden während des Schneide- prozesses besonders augenscheinlich, da eine Folge oftmals unter Zeitdruck fer- tig gestellt werden muss (was beispielsweise dazu führte, dass eine Szene, die Sophies Begräbnis thematisiert, beim Endschnitt vom Produzenten Best gestri- chen wurde). Ein anderes Beispiel war die Entscheidung von Regisseur Bob Meillon, einen Teil des im Krankenhaus angesiedelten Materials zum Thema „junge Liebe“ (zwischen Michael und Jo) wegfallen zu lassen, um die von ihm verantwortete Folge im richtigen Zeitrahmen abschließen zu können, um dann zu erfahren, dass diese spezielle Unterhandlung gebraucht werde, weil in ihr die nächste Romanze – und damit die nächste quotenträchtige Heirat – der Serie angelegt sei. Im Unterschied dazu gab es wenig oder praktisch keinen Wider- 10/1/2001 Das implizite Fernsehpublikum 39 stand dagegen, dass Leigh Spence eine Nebenhandlung fallen ließ, in der es um Alkoholmissbrauch bei Heranwachsenden ging. Hier griff der rechtfertigende rhetorische Schachzug, dem zufolge das Thema des jugendlichen Alkoholmiss- brauchs es verdient, in einer eigenständigen Geschichte abgehandelt zu werden. Und gelegentlich bekommt ein solches Thema dann auch tatsächlich seine eigene Geschichte. Insgesamt bedeutet dies aber, dass die soziale Komplexität von Themen wie Drogen oder Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen in abgeschlos- sene und zeitlich abgegrenzte Erzählungen ausgesondert wird, die Zuschauer- schaften als „weit weg“ ansehen – wenn sie sie überhaupt sehen. Die Chance, dass ein Publikum komplexere und mehrschichtige Bezüge herstellt wie etwa • den zwischen Sophies jugendlicher Abhängigkeit und der Alkoholab- hängigkeit ihres erwachsenen Vaters oder • dem Alkoholmissbrauch bei arbeitslosen Jugendlichen und dessen Kontext von struktureller Arbeitslosigkeit geht daher tendenziell verloren. Wie dies genau funktioniert lässt sich zeigen, indem man nochmals Elams Analyse der Transformation und Transkodifizierung des erzählten Quellen- texts heranzieht. Elam verweist auf kanonische Prozeduren, durch die auf erzählte Schauplätze der Quellenerzählung innerhalb der mimetischen Räume des Dramas per Auswahl und Reduktion, Identifikation, Symbolisierung und Ellipse verwiesen werden kann: All diese Strategien sind in Sophie präsent, wo die Welt des Drei-Wellen- AIDS • ausgewählt und auf die Stadt/Land Pastorale reduziert wird, statt sie im Kontext der Abhängigkeitsökonomie zu zeigen, die sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande Relevanz besitzt; • mit Risiko-Umgebungen (in dem Falle mit Kings Cross) und mit gefährdeten Gruppen (Straßenjunkies) sowie mit einer Risiko-Dämo- nologie (dem Teilen der Nadel) in eins gesetzt wird; • deshalb als das „bedrohliche“ Kings Cross versus das anheimelnde oder gar lyrische Land symbolisiert wird (was von den unterschiedli- chen Idiolekten des Bühnenbilds, von Musik und Ton transportiert wird, die das schmuddelige, verwahrloste mise-en-scène der Stadt und das sonnendurchflutete, gleichzeitig aber auch gefährdete Bauernhaus auf dem Lande hervorheben. Und schließlich werden die Räume, die in den Land-Stadt-Land-Reisen in Sophie durchmessen werden, durch einen Prozess der Auslassung (der von einer 40 John Tulloch montage/av Reihe professioneller Idiolekte und Kanäle getragen wird) auf den „dramati- schen Konflikt“ zwischen positivem menschlichem Potenzial (in Form von Sophies Versuch einer Wiederanknüpfung an ihre journalistische Tätigkeit nach ihrer Rückkehr aufs Land, repräsentiert durch ihren Abschiedsbrief, in dem sie als eine Begabung mit dem Potenzial zur Verfasserin von Titelgeschichten für das Time Magazine erscheint) und der schlussendlichen Invasion der Stadt-als- AIDS (durch Paul). Als Paul in Teil 4 aufs Land fährt, um Sophie zu besuchen (und ihr dabei Hilfe zu leisten, sich eine Überdosis zu setzen), markiert dieser (durch die Beigabe des musikalischen Schellenbaum-Motivs) die das „Vorher“ beherrschende räumliche Enge und Geschlossenheit der Kings Cross Wohnung wie auch die sich im „Nachher“ einstellende klaustrophobische Abgeschlossen- heit jener anderen schmuddeligen Behausung, des Unterschlupfs, in dem Sophie eine Überdosis nehmen und sterben wird. Ein Indikator dafür, dass die „Räume“ in Sophie auf diese Weise tatsächlich für einige Zuschauer reduziert wurden (nachdem die arbeitslosen ländlichen Jugendlichen, die den Unterschlupf bewohnten, herausgeschnitten worden waren), wird von dem Umstand geliefert, dass der Komponist der Serie, Rhys Rees, nicht erkannte, dass der schmuddelige Unterschlupf auf dem Land, in dem Sophie stirbt, nicht „wieder in der Großstadt“ ist, als er den ersten Grobschnitt von Sophie sieht. Gleiches gilt für die zahlreichen Jugendlichen unter den in unserer Studie befragten Zuschauern, denen wir Sophie zeigten. Ohne die Unterhandlung um die arbeitslosen Jugendlichen, die ursprünglich den Unter- schlupf als auf dem Lande angesiedelt einführen sollte, konnotieren sämtliche Kennzeichen des Unterschlupfes (Heroin, Schellenbaum-Motiv, Verkommen- heit, Chiaroscuro [Helldunkelmalerei]) „Großstadt“. Die Möglichkeit, ein Verständnis der „Ökonomie des Nadelteilens“ als orts- unabhängiges, städtisches wie ländliches Phänomen einzubetten, ging so verlo- ren. In unserer Zuschauerstudie stellten wir eine relevante Veränderung (von 29% auf 50% für Jungen und von 21% auf 39% bei Mädchen) bei den „Ja“-Ant- worten auf die Frage in den vor und nach der Vorführung ausgeteilten Fragebö- gen „Sollte Heroin legalisiert werden?“ fest. Aber so gut wie niemand (bei mehr als tausend älteren SchülerInnen einer Highschool) bezog sich in der jeweils gegebenen kurzen Begründung auf die Ökonomie des Nadelteilens. Obwohl 20% der älteren SchülerInnen in unserer Zuschauerstudie (in einer offenen Frage danach, was ihnen an der Folge besonders gefallen habe) sagten, sie hätten die realistische Darstellung des Straßenlebens besonders gut gefunden, äußerte lediglich 1%, ihnen habe der „Heroin sollte legalisiert werden“-Aspekt beson- ders gefallen und ebenfalls nur 1% verknüpfte das Problem des Lebens auf der Straße mit sozio-ökonomischen Faktoren. 10/1/2001 Das implizite Fernsehpublikum 41 Auswahl und Reduktion, Identifikation, Symbolisierung und Auslassung waren allesamt wirkungsvolle rhetorische Strategien bei der Transkodifizierung des Raums für den sendefertigen Text von Sophie. Im Unterschied dazu hatte die Äußerung von Terence über die Notwendigkeit einer Legalisierung von Heroin faktisch wenig Raum, um ein diegetisches „da draußen“ zu entwerfen (das einen Bezug zu anderen alters-, klassen- und religionsbezogenen Diskursen herge- stellt hätte, durch den Abhängigkeit im weiteren Kontext von Kultur und Öko- nomie eingebettet worden wäre) oder gar ein „hier drinnen“ (innerhalb der per Metaplanung gesetzten Räume der interpersonellen Darstellung in ACP. Sie war, wie Porteous bemerkte, lediglich „ein a part zu Oberschwester Sloane.“ In dieser Beschaffenheit lag ihre „Rhetorik“ bloß, und da ihr – in textlicher Hin- sicht (durch Identifikation und Symbolisation), intratextuell (in Form des Figu- rengedächtnisses der Schauspieler) oder extratextuell (entweder als persönliche Erinnerung oder als weiterer sozio-ökonomischer Kontext) nur wenig diskursi- ver und rhetorischer Raum zur Verfügung stand, kam sie tatsächlich etwas pre- digthaft daher, was der Grund dafür war, dass der Regisseur (in Verarbeitung seines eigenen Intertexts vom „bebilderten Radio“) die zuvor eingestellten Kamerawinkel veränderte. Schlussfolgerung Fernsehproduktion beginnt mit einem Spektrum von Publikumsvorstellungen. Dies können demographische Vorstellungen sein, denen zufolge es darum geht, die „Streuung“ der Zuschauerschaft durch die Figurenzeichnung und unter- schiedliche Arten von Geschichten aufrecht zu erhalten. Es kann sich auch um rüde und ausschließlich auf Quantität gerichtete Vorstellungen handeln, wie dies generell für die Einschaltquotenorientierung der Fall ist. Oder es handelt sich um fokussierte quantitative Vorstellungen, wie etwa im Falle der Untersu- chung der Beliebtheit spezieller Figuren, über die Sophie und Terence wieder zusammenkamen. Es können der Intuition geschuldete qualitative Vorstellun- gen sein, wie etwa im Falle der Einschätzung, dass ACP (wie auch sein Sendeka- nal) ein „Zwischending“ zwischen dem öffentlich-rechtlichen Veranstalter ABC und den anderen „Kommerziellen“ darstellt. Manchmal wird die implizite Zuschauerschaft als der Injektionsnadel Fernsehen ausgeliefert betrachtet (deren Akzeptanz einer „schweren“ Botschaft angeblich den „vorwärts treiben- den Schwung“ des zielstrebigen Dramas erfordert). Bei anderen Gelegenheiten (etwa im Falle des „Stiefsyndroms“) wird die implizite Zuschauerschaft als durchaus zuschaltbereit gesehen, so man ihr Besseres als die „sentimentalisie- 42 John Tulloch montage/av rende“ BRADY BUNCH bietet. Manchmal werden der impliziten Zuschauer- schaft die Kompetenzen eines hochkulturellen bzw. in Bezug auf Klassenzuge- hörigkeit hochwertigen Habitus unterstellt, dem die verschiedenartigen Schichten eines Shakespearschen Textes zugänglich sind. Und wieder zu ande- ren Zeiten wird das implizite Publikum mit den Kompetenzen populärkulturel- ler „Fans“ ausgestattet – so etwa im Falle der Positionierung der Charaktere Terence und Alex durch Regisseur Leigh Spence in der Szene ihrer Verlobung. Außerdem gab es im Bereich der „gefährdeten Zuschauerschaften“ das implizite Publikum der Sozialarbeiterin Virginia Foster, der Sophie zu alt war, da ihre jugendlichen Klienten, die sich die Nadel teilen und sich prostituieren, um eini- ges jünger waren als die Figur. Und schließlich war da auch noch das aus heran- wachsenden Jugendlichen bestehende Publikum von James Davern, das „durch- aus bereit ist, sich bei einer Party mal einen Schuss zu setzen“ und durch das Anschauen von Sophie von einem derartigen Ausprobieren abgehalten werden könnte. Intertexte (der populären und der hohen Kultur, von den Anonymen Alkoho- likern stammende Hintergrundgeschichten, intratextuelle Erinnerungen, per- sönliche Kindheitserinnerungen, Erzählungen von SchülerInnen über Heroin, Geschichten über das „Stief-Syndrom“, die Äußerungen von SozialarbeiterIn- nen über die Erzählung von den drei Wellen in der AIDS-Epidemiologie, usw.) werden als Routineäußerungen und –praktiken für die Einbeziehung all jener Publika verwendet. Sie werden so zu Rhetoriken der Praxis, Überredung, und Identität im Alltagsleben von Fernsehprofis. Durch sie handeln diese ihre Stim- men als „lebende Äußerungen“ und „aktiv an einem sozialen Dialog Teilneh- mende“ aus. Es ist klar, dass ein ethnographischer Forscher in diesem gesamten Prozess niemals einfach „neutral“ sein kann. Auch die beteiligten Ethnographen „spre- chen“ in der dialogischen Debatte über die Kultur, die sie beschreiben. Als ich beispielsweise den Regisseur Leigh Spence bei seiner Arbeit beobachtete, war ich keineswegs nur die sprichwörtliche „Fliege an der Wand“. Als Spence plötz- lich den Kontrollraum verließ, um die Kamerawinkel zu verändern, wurde ich von Produzent Best (der mir zuvor die Ausbildung und Berufserfahrung von Spence bei BBC und ABC geschildert hatte) darauf hingewiesen, dass dieser Schritt untypisch für dessen Arbeitsweise sei. Und als ich Spence vorsichtig nach dem Grund seines außergewöhnlichen Handelns fragte, wurde ich selbst (wie auch durch den hier vollzogenen Akt des Aufschreibens) durch die den Cultural Studies verpflichtete Vorstellung von Intertextualität „gesprochen“. In ähnlicher Weise „redete“ unsere Zuschauerstudie unvermeidlicher Weise (und daher als Strategie und in zentraler und reflexiver Hinsicht) mit den Äuße- 10/1/2001 Das implizite Fernsehpublikum 43 rungen der Menschen, die Sophie gemacht hatten: sie suchte Methoden aus, mit deren Hilfe sich Tony Morphetts Frage überprüfen ließ, ob Botschaften wie die des Nadelteilens „wirksamer“ durch Erzählungen transportiert werden, die „wegführen“ oder durch solche, die dies nicht tun; oder um James Daverns Ansicht empirisch nachzugehen, dass die Bindung der Geschichten vom Nadel- teilen an eine der festen und beliebten Figuren wie Terence eine weitaus größere Wirksamkeit besitzt, als wenn man eine unpersönliche Fallgeschichte präsen- tiert. Nicht zu vermeiden war aber auch, dass wir unsere Zuschauerstudie im Licht akademischer Diskurse strukturierten. So griffen wir methodisch beispielsweise auf Elams Akzentuierung der Bedeutung der vielkanaligen Kommunikation in „semiotisch reichhaltigen“ Texten zurück und auf seine Betonung der „prozes- sualen“ Natur von Performanz (z.B. im Falle des Wechsels des Kommunika- tionskanals – vom Drehbuch zur Musik – von Morphetts Parallelführung der Abhängigkeit von einer Droge bei Sophie und Terence). Wir können in der Forschungspraxis Bakhtins „Verhandlung der Stimme“ genauso wenig entgehen wie in der Praxis der Fernsehproduktion oder in jener, die darin besteht, Fernsehpublika zu sein. Aus dem Englischen von Gabriele Kreutzner Literatur Alasuutari, Pertti (1999), Introduction: Three Phases of Audience Studies in Pertti Alasuutari (ed.) Rethinking the Media Audience: The New Agenda (London: Sage), S. 1–21. Bakhtin, Mikhail (1984), Problems of Dostoevsky’s Poetics. Manchester: Man- chester University Press. Elam, Keir (1989), Text Appeal and Analysis Paralysis: Towards a Processual Poetics of Dramatic Production in: T. Fitzpatrick (ed.), Altro Polo: Perfor- mance from Product to Process. Sydney: Frederick May Foundation for Italian Studies, Sydney University. Hassin, J. (1994), Living a Responsible Life: The impact of AIDS on the Social Identity of Intravenous Drug Users, in: Social Science of Medicine, 39 (3), S. 391–400. Lovell, T. (1981), Ideology and CORONATION STREET in Richard Dyer et al. (eds) CORONATION STREET. London: British Film Institute. 44 John Tulloch montage/av Propp, Vladimir (1968) Morphology of the Folk Tale Austin: University of Texas Press. Tulloch, John / Moran, A. (1986) A COUNTRY PRACTICE: „Quality Soap“ Syd- ney: Allen & Unwin. Gunther Kirsch Produktionsbedingungen von Daily Soaps: Ein Werkstattbericht 1. Einleitung Die Produktion von Daily Soaps unterliegt gänzlich anderen Bedingungen als beispielsweise die Herstellung wöchentlicher TV-Serien. Die tägliche Ausstrah- lung von ca. 25 Sendeminuten legt die Vermutung nahe, dass ein solch hoher Output an wöchentlicher Sendezeit nur durch erheblichen logistischen Auf- wand in der Organisation arbeitsteiliger Prozesse zu erreichen ist. Wie sich diese Anforderungen produktionspraktisch auswirken und welchen Einfluss sie auf das Endprodukt haben, habe ich in einer explorativen Produk- tionsstudie erfasst (Kirsch 2000), deren Ergebnisse ich hier ausschnittweise dar- stelle. In Form eines Werkstattberichtes werfe ich einen Blick auf die internen Befindlichkeiten einer Daily Soap und nutze hierzu meine Kenntnisse der Pro- duktionsprozesse GUTE ZEITEN, SCHLECHTE ZEITEN (in Folge kurz GZSZ), die seit Mai 1992 von Montag bis Freitag um 19.40 Uhr von RTL ausgestrahlt wird. 2. Berufsbilder bei Daily Soaps Die Art und Weise, nach der in Deutschland Daily Soaps produziert werden, stammt weitgehend aus Australien und geht auf das Know-how der Produk- tionsfirma Grundy Worldwide zurück, deren Tochter Grundy UFA TV Pro- duktions GmbH (mit Sitz in Potsdam-Babelsberg) fast alle derzeitigen Daily Soaps im deutschen Fernsehen herstellt. Lediglich die tägliche Serie MARIEN- HOF wird von der Bavaria Film Produktion für das Vorabendprogramm der ARD produziert. Im Unterschied zum klassischen Fernsehspiel gibt es bei Daily Soaps einige Abweichungen in der Charakterisierung von Berufen. Der Drehbuchautor bei- spielsweise wird ersetzt durch ein komplettes Storydepartment, bestehend aus Chefautor, Storylinern, Story-Editoren, Dialogautoren, Skript-Editoren und Drehbuchkoordinator. 46 Gunther Kirsch montage/av Am deutlichsten treten die Unterschiede aber beim Producer hervor, der eine herausragende Position im Fertigungsprozess einer Daily Soap einnimmt. Der Producer ist nicht nur für die Einhaltung des Budgets verantwortlich, er sichert zudem die kreative Kontinuität der Folgen als eine Art „Über-Regisseur“. Der Producer bei GZSZ hat umfassende Entscheidungsgewalt innerhalb der Serie und vertritt das Produkt gegenüber der Redaktion bei RTL, sprich: dem Kunden. Bei der Produktionsfirma Grundy UFA sind dem Producer lediglich die Supervising Producer hierarchisch übergeordnet, welche u.a. für die Koordi- nation der verschiedenen Grundy-Soaps verantwortlich zeichnen. Der Producer stimmt die einzelnen Abteilungen inhaltlich und ästhetisch auf- einander ab. Er macht Vorgaben für neue Geschichten oder Figuren, entscheidet – in Absprache mit der Redaktion – über die Besetzung einer Rolle und nimmt Einfluss auf Studiodekorationen und Kostüme. Ihm kommen damit Aufgaben zu, die etwa im klassischen Fernsehspiel zu denen des Regisseurs gehören. Da jedoch bei GZSZ bis zu sechs Regisseure im Wechsel arbeiten, kann über die Regiearbeit keine Kontinuität gewährleistet werden. Langfristige Entscheidun- gen werden deshalb vom Producer getroffen. Daneben ist er wie ein klassischer Produzent verantwortlich für das Budget oder die Auswahl der Mitarbeiter im künstlerischen Bereich (Regie, Storyline etc.). Der Producer nimmt keinen direkten Einfluss auf die eigentlichen Dreharbeiten. Dieser Bereich der Produk- tion untersteht nach wie vor den Regisseuren. Eine weitere Besonderheit in der Soap-Produktion ist die Beschäftigung eines Schauspielcoaches. Der Coach bereitet neue Schauspieler auf die spezielle Arbeitsweise bei Daily Soaps vor und gibt – wenn nötig – rudimentären Schau- spielunterricht. Durch seine beständige Arbeit mit den Schauspielern am Cha- rakter ihrer Rolle ist es dem Coach möglich, die äußerst begrenzte Probenzeit der Regisseure aufzufangen. Er sorgt für eine gewisse Kontinuität in der Schau- spielführung und schafft so einen Ausgleich zu den unterschiedlichen Arbeits- weisen der Regisseure. 3. Produktionstechnische Rahmenbedingungen Der Rahmen, in dem sich die Produktion einer Daily Soap bewegt, wird durch die ökonomischen, technischen und zeitlichen Gegebenheiten bestimmt. Soaps unterliegen zahlreichen Beschränkungen, die für andere Sendeformate so nicht bestehen. Sowohl die dramaturgischen Besonderheiten als auch die geringe finanzielle und zeitliche Ausstattung fordern von den Mitarbeitern im kreativen Bereich ihren Tribut. Um trotz dieser Einschränkungen eine erfolgreiche Serie 10/1/2001 Produktionsbedingungen von Daily Soaps 47 produzieren zu können, sind die Macher gezwungen, sich mit diesen Gegeben- heiten auseinander zu setzen und Gegenmaßnahmen für Unzulänglichkeiten zu entwickeln und zu instrumentalisieren. Diese Maßnahmen bestimmen die Arbeitsweise der einzelnen Abteilungen oder erfordern sogar spezielle Abtei- lungen wie die des Coachings. Obwohl die Storyliner weitreichende Freiheiten beim Entwurf ihrer Ge- schichten haben, beeinflussen organisatorische Anforderungen oder vertrags- rechtliche Klauseln der Schauspieler die möglichen Geschichtsverläufe. Dazu kommt, dass die meisten Szenen aufgrund des hohen Drehpensums weitgehend in den Studiodekorationen zu spielen haben. Pro Woche stehen lediglich zwei Außendrehtage mit ca. zwölf Szenen zur Disposition. Schauspielern im Haupt- cast sind meist eine bestimmte Anzahl von Episoden, in denen sie auftreten, garantiert. Davon abgesehen decken sich Urlaubszeiten oder Krankheitsausfälle nicht immer mit den geplanten Geschichten. Dies hat zur Folge, dass Geschich- ten verlegt oder bei kurzfristigen Ausfällen schnell umgeschrieben werden müs- sen. Die finanzielle Ausstattung einer Daily Soap ist weitaus geringer als die eines Fernsehspiels. Aber der finanzielle Rahmen sollte auch eine untergeordnete Rolle spielen, wenn es um die Beurteilung der Arbeitsbedingungen bei Daily Soaps geht. Die Umsetzung teurer Ideen oder kostspielige Drehorte und Spe- zialeffekte sind zwar problematisch, stehen aber auch nicht im Zentrum einer Daily Soap. Es handelt sich hier ja bekanntlich weder um ein Actiongenre noch um ein Ausstattungsspektakel. Die finanzielle Ausstattung ist lediglich bei den Gagen von Bedeutung. Mit den Gagen, die bei einer Daily Soap gezahlt werden können, sind arrivierte Schauspieler nicht zu locken. Dieser Umstand fordert von den Casting-Agenten eine besondere Arbeitsweise. Die Notwendigkeit, aber eben auch die Möglichkeit der Daily Soaps, unbekannte, aber möglichst talentierte Darsteller zu casten, kann sich in diesem Maße kein anderes fiktiona- les Format leisten. Dementsprechend kommt es in den Daily Soaps immer wie- der zu Neuentdeckungen von Schauspielern, die ansonsten in der deutschen Fernsehlandschaft keine Chance gehabt hätten. Viel folgenreicher wirkt sich der Faktor Zeit auf den Produktionsprozess aus. Der Zwang, jeden Tag eine Folge GZSZ mit recht geringem Vorlauf zu produ- zieren, lässt wenig Spielraum für Unvorhergesehenes oder für zeitaufwändige Besonderheiten. Abgesehen von der Möglichkeit der schnellen Rückkopplung innerhalb des gesamten Produktionsablaufs wird denn auch die rasante Produk- tionsweise von den Mitarbeitern eher als qualitätsmindernd angesehen: Die Regisseure haben kaum Zeit für Proben oder Vorgespräche mit den Schauspie- lern, eine Szene kann bei Fehlern nicht oft wiederholt werden, und die Drehzeit 48 Gunther Kirsch montage/av ist mit 20 bis 25 Minuten pro Szene extrem limitiert. Andererseits ist jedoch zu vermerken, dass der relativ kurze Vorlauf und die Möglichkeit des Producers, jederzeit in alle Phasen der laufenden Produktion einzugreifen, die Daily Soaps in die Lage versetzt, schneller als andere Fernsehformate auf neue Trends, aber auch auf etwaige Unwägbarkeiten zu reagieren. 4. Die Logistik des Produktionsablaufs Die Produktionsabschnitte, in denen sich die Herstellung einer Folge GZSZ vollzieht, sind stark standardisiert. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie die Pro- duktion einer Folge von der ersten Idee einer neuen Geschichte bis zur fertigen Sendung organisiert ist. Zweimal im Jahr, jeweils an einem Wochenende, trifft sich die gesamte Story- line-Abteilung mit dem Producer, dem Supervising Producer und dem Assistant Producer. Bei diesen Treffen werden die Geschichten für die nächsten vier bis sechs Monate entworfen. In diesem Urzustand werden die Geschichtsstränge noch Future genannt. Futures sind kurze, nicht besonders detaillierte Beschrei- bungen darüber, was den Serienfiguren in nächster Zeit widerfahren wird. Sie geben also den groben Handlungsablauf vor, legen aber noch nicht die genaue Ausformung des Ablaufs fest, sondern dienen als Grundlage für die Ausarbei- tung der eigentlichen Storylines im täglichen Arbeitsprozess, als eine Art stich- punktartiger Leitfaden für den Entwurf der einzelnen Geschichtsstränge. Im täglichen Produktionsbetrieb ist die Zeiteinheit, in der bei GZSZ gedacht und geplant wird, der Block. Ein Block besteht aus fünf Folgen und repräsentiert eine Sendewoche und damit in der Regel auch eine Arbeitswoche. Verschiedene Arbeitsschritte wie das Schreiben der Drehbücher, die eigentlichen Dreharbei- ten oder die Endfertigung laufen parallel, wobei die einzelnen Abteilungen je- weils an unterschiedlichen Blöcken arbeiten. Für jede Abteilung sind die Ge- schichten unterschiedlich weit fortgeschritten: Während die Storyliner an Block 403 arbeiten, schreiben die Drehbuchautoren die Dialoge für Block 401, und im Studio wird währenddessen Block 395 gedreht. Dieses Zeitmanagement be- schreibe ich im Folgenden näher. Um eine bessere Übersichtlichkeit zu gewähr- leisten, gliedere ich den folgenden Ablaufplan in Produktionswochen und folge dabei chronologisch der Entstehung eines beispielhaften Blocks. In den ersten beiden Produktionswochen entwerfen die Storyliner aus den entsprechenden Futures die Storylines für einen Block. Dieser Vorgang wird plotten genannt. Hierbei werden Teile einer Future durch Handlung dramati- siert, einzelne Erzählstränge szenenweise miteinander verwoben und die Hand- 10/1/2001 Produktionsbedingungen von Daily Soaps 49 lung auf ca. eine Seite pro Szene zusammengefasst. Die Storylines werden redi- giert, von Producer und Redaktion abgenommen und danach an die Dialogau- toren weitergeleitet. Pro Woche schreibt jeder Dialogautor ein komplettes Drehbuch auf Grund- lage der gelieferten Storylines. Dabei werden die Vorgaben der Storylines in Dialoge und Handlung umgesetzt. Am Ende steht die sogenannte Autorenfas- sung der Dialogbücher. Dieses Drehbuch umfasst pro Folge im Schnitt 50 Sei- ten, ca. 18 bis 20 Szenen und eine Gesamtlänge von ca. 23 bis 25 Minuten. In den darauf folgenden Wochen durchlaufen die Drehbücher nun den glei- chen Prozess des Redigierens wie zuvor die Storylines. Am Ende der sechsten Produktionswoche werden die fünf fertigen Drehbücher eines Blocks an alle Beteiligten der Produktion verteilt. Die siebte Woche steht dem Team zur Vorbereitung dieses neuen Blocks zur Verfügung. Viele Mitarbeiter arbeiten jedoch gleichzeitig noch in anderen Pro- duktionsphasen, sind beispielsweise am Studiodreh beteiligt. In dieser Woche beginnt auch die Arbeit des Regisseurs. Die Schnitte und Kameraeinstellungen, die er für eine Szene vorgesehen hat, werden durchnummeriert, in die Drehbü- cher eingetragen und sind somit für alle Beteiligten schnell identifizierbar. Es entstehen die sogenannten Regiebücher, die später kopiert und an das Studio- team weitergeleitet werden. Am Ende der Woche findet eine Regiebesprechung statt. Bei diesem Treffen werden etwaige Unklarheiten, aber auch Ideen und Wünsche des Regisseurs erörtert. Im Anschluss daran können Szenen gegebe- nenfalls noch kurzfristig geändert werden. Ab der achten Woche bilden der Regieassistent und Script/Continuity mit dem Regisseur für zwei Wochen ein festes Team. Die Woche beginnt am Montag mit einer Produktionsbesprechung aller Abteilungen. Dienstag und Mittwoch dienen zur Vorbereitung z.B. des Außen- drehs. GZSZ verfügt über zwei Tage Außendreh pro Block, an diesen werden alle Einstellungen gedreht, die an besonderen Orten oder einfach nur im Freien spielen. Der Außendreh findet am Donnerstag und Freitag statt und wird mit nur einer Kamera gedreht. Am Donnerstag dieser Woche wird auch die Disposition für den Studiodreh der kommenden Woche fertiggestellt und verteilt. Bei der Erstellung der Dispo- sition versucht man, zeitaufwändige Umbauten in andere Dekorationen mög- lichst zu vermeiden. Um Kosten zu minimieren, wird außerdem darauf geachtet, dass Schauspieler, deren Gage pro Drehtag berechnet wird, möglichst wenige Drehtage haben. In der darauf folgenden Woche geht unser Beispielblock ins Studio. Der gesamte Montag und der halbe Mittwoch stehen dem Regieteam (Regisseur, 50 Gunther Kirsch montage/av Regieassistent, Script/Continuity) und den Schauspielern für Proben zur Verfü- gung. Am Montag werden beispielsweise 60 bis 65 Szenen besprochen und geprobt. Für jede Szene stehen etwa zehn Minuten (in Ausnahmefällen nur fünf Minuten) Probenzeit zur Verfügung. Auf Grundlage der Auflösung, die der Regisseurs festgelegt hat, schreibt das Script/Continuity sogenannte Shotcards für jede einzelne Szene. Diese Shotcards werden am Drehtag an die Kameras geheftet und dienen den drei Kameramännern zur Bestimmung ihrer jeweiligen Kameraposition und der Einstellungsgrößen. An den anderen Tagen werden sämtliche Szenen eines Blocks gedreht. Der Coach betreut während der gesamten Woche den Studiodreh und nutzt in der Regel die Drehpausen der Schauspieler für zusätzliches Training und die Einar- beitung in die kommenden Szenen. Der Dreh einer einzelnen Szene verläuft wie folgt: Zunächst wird eine Stell- probe durchgeführt. Basierend auf der Auflösung des Regiebuches und den Überlegungen während der Probentage werden die Gänge der Schauspieler und die Positionen der Kameras vom Regisseur oder dem Regieassistenten angesagt. In der Regel befindet sich der Regisseur während dieser Probe im Studio. Danach hat das technische Personal die Möglichkeit, Anpassungen vorzuneh- men: Die Beleuchtung wird auf die Gegebenheiten abgestimmt und zusätzliche Mikrofone können installiert werden. Der Regisseur erteilt den Schauspielern letzte Anweisungen zur Inszenierung der Szene. Anschließend folgt die Gene- ralprobe. Während dieser befindet sich der Regisseur bereits im Regieraum. Die Kommunikation mit den Schauspielern wird nun von seinem Assistenten über- nommen, der über Funk mit dem Regisseur, dem Chefkameramann, dem Bild- mischer und dem Tonmeister in Kontakt steht. Nun wird die Szene – möglichst ohne Unterbrechung – gedreht, wobei sich die Kameramänner nach den Beschreibungen auf den Shotcards richten. Der Bildmischer schneidet die Szenen, so wie die Auflösung des Drehbuchs es vor- gibt, live auf ein MAZ-Band. Dabei sagt er die jeweilige Schnittnummer allen Beteiligten über Kopfhörer an. Nach der Aufzeichnung wird die Szene im Regieraum noch einmal abgespielt, wobei auf etwaige technische, inhaltliche oder schauspielerische Mängel geachtet wird. Der gesamte Dreh einer Szene darf in der Regel nicht länger als 25 Minuten dauern. Ein voller Drehtag beträgt zehn Stunden; auf diese Weise werden etwa 20 Szenen bzw. 25 bis 30 Sendeminuten hergestellt. In der zehnten Woche beginnt die Endfertigung. Während sich der Regieassi- stent bereits auf den nächsten Block vorbereitet, befinden sich der Regisseur und das Script/Continuity im Schnitt. Am Montag und am Dienstag entstehen durch die Montage der live geschnittenen Studioszenen die fertigen Folgen. Die nur 10/1/2001 Produktionsbedingungen von Daily Soaps 51 Dreharbeiten zu GUTE ZEITEN, SCHLECHTE ZEITEN (Foto: RTL) mit einer Kamera gedrehten Szenen des Außendrehs müssen zunächst komplett geschnitten und anschließend ebenfalls in die Folgen montiert werden. Am Mittwoch und am Donnerstag findet die Tonbearbeitung statt. An beiden Tagen ist ein Komponist anwesend, der für die Musikauswahl verantwortlich ist. Je nach Bedarf werden aktuelle Stücke aus den Charts oder selbst produ- zierte Kompositionen verwendet. Am Freitag schließlich wird der gesamte Block durch die Redaktion abge- nommen. Bei dieser Abnahme wird noch einmal ein Resümee gezogen. Auch kleine Änderungen auf Wunsch der Redaktion werden hier beschlossen, bevor die fertigen Sendebänder zu RTL nach Köln geschickt werden. Der Sendetermin eines Blocks liegt etwa vier Wochen nach seiner Fertigstellung. Innerhalb des hier aufgezeigten chronologischen Ablaufs bei der Produktion von GZSZ arbeiten die verschiedenen Abteilungen in einem unterschiedlichen 52 Gunther Kirsch montage/av Zyklus: Während Regisseure einen vierwöchigen Turnus haben, arbeiten der Regieassistent und das Script/Continuity in einem dreiwöchigen Rhythmus. Alle anderen Mitarbeiter, z.B. die Storyliner oder das technische Personal, pro- duzieren in einem einwöchigen Rhythmus. 5. Das Beispiel Szenenbild Der Anschaulichkeit halber möchte ich im Folgenden die Konsequenzen der täglichen Produktionsweise am Beispiel der Abteilung Szenenbild beschrei- ben. Das Erscheinungsbild der Dekorationen einer Daily Soap unterscheidet sich in manchen Punkten von dem anderer Formate, denn die Entstehung einer neuen Dekoration für eine Daily Soap ist auf die Anforderungen der täglichen Produktionsweise und der Aufnahme mit drei Kameras abgestimmt. Zeit ist der beschränkende Faktor einer Daily Soap. Das hohe Drehpensum erlaubt keine aufwändigen Kamera- und Tonumbauten. Die sogenannten Wohnbereiche der Charaktere beinhalten daher die drei Kernbereiche des tägli- chen Lebens: Wohnen, Küche, Esszimmer werden in einem einzigen Raum zusammengezogen. Dadurch entsteht eine bühnenähnliche Situation, die es ermöglicht, Handlungen im Fluss zu erzählen. Lange Gänge durch Flure kön- nen übersprungen werden, zumal enge Flure technisch nicht gut bespielbar sind. Deckenleuchten fehlen in nahezu allen Dekorationen, da der Tonassistent die- sen Raum für sein Mikrofon braucht; und die Vermeidung einer akzentuierten Beleuchtung ist nötig, um bei den verschiedenen Kamerapositionen ein einheit- liches Erscheinungsbild zu gewährleisten. Eine zu große Dynamik in der Aus- leuchtung würde bei drei Kameras zu unterschiedlichen optischen Qualitäten führen, und das Material wäre nicht sendefähig. Um etwaige Unvorhersehbarkeiten auszuschließen, gibt es schon beim ersten Entwurf einer Dekoration technische Absprachen mit dem Chefkameramann und dem Tonmeister. Neben solchen technischen Anforderungen an die Studiodekoration einer Soap müssen aber auch dramaturgische erfüllt werden. So müssen beispielsweise sogenannte overhearing situations inszenierbar sein, d.h. Gespräche zwischen den Charakteren müssen von anderen ohne Schwierigkeiten belauscht werden können. Solche Situationen gehören zum Standard-Repertoire der Soap-Dra- maturgie, in der sich viele Konflikte durch Missverständnisse, mangelhafte oder fehlende Kommunikation ergeben, und müssen vom Szenenbildner bereits in der Architektur angelegt werden. 10/1/2001 Produktionsbedingungen von Daily Soaps 53 Wie bei anderen Film- und Fernsehproduktionen richtet sich die Einrichtung einer neuen Dekoration an der Charakterisierung der neuen Rolle aus. Für den Szenenbildner einer Daily Soap ist das insofern schwierig, da Rollenprofile hier oft nur sehr dünn beschrieben werden. Dieser relativ offene Umgang mit Rol- lenprofilen ist eine Möglichkeit der Daily Soaps, mit problematischen Beset- zungssituationen umzugehen. Da es nicht immer ganz einfach ist, den passenden Schauspieler für eine Rolle zu finden, wird mit dem Rollenprofil freier umge- gangen als bei herkömmlichen Produktionen. Diese Offenheit, die für den Casting-Agenten von Vorteil ist, kann dem Szenenbildner Schwierigkeiten bereiten: Er arbeitet unter Umständen „auf Verdacht“, muss doch das Szenen- bild schon lange vor dem Auftreten einer neuen Rolle fertiggestellt sein. Ähnlich ergeht es den Storylinern und Dialogautoren: Sie haben bis zum ersten Drehtag des neuen Schauspielers kein vollständiges Bild der Rolle vor Augen und müssen nach der Besetzung gegebenenfalls ihre Vorstellungen den geänderten Realitä- ten anpassen. 6. Schlussbemerkung Für Daily Soaps wäre die Annahme eines omnipotenten Künstlers, dem Ent- scheidungsgewalt über die Produktion zukommt, irrig. Im Gegenteil: Hier geht es in erster Linie darum, Mitarbeiter hochgradig zu spezialisieren, strikte Hie- rarchien aufzubauen und Arbeitsabläufe zu koordinieren. Für die kreative Kontinuität, die in anderen Produktionsformen gemeinhin durch den réalisateur bzw. den Regisseur gewährleistet wird, ist in der Daily Soap der Producer verantwortlich. Ihm obliegt die kreative Entscheidungsge- walt und die Koordination der künstlerischen Teilbereiche. Gleichzeitig ist er verantwortlich für die Einhaltung des Budgets und fungiert als Relais der inner- betrieblichen Kommunikation. Bei Daily Soaps verschiebt sich also die klassi- sche Arbeitsteilung der Film- und Fernsehproduktion: Die Produktion wird hier maßgeblich bestimmt vom eher betriebswirtschaftlich orientierten Produ- cer, der aber dennoch weitreichende künstlerische Entscheidungen fällt. Die innerbetriebliche Kommunikation garantiert nicht nur einen reibungslo- sen Ablauf, sondern ist als ein zentrales Element im kreativen Schaffen einer Daily Soap zu begreifen: Wechselseitige Inspirationen finden nicht nur in der Gruppe der Storyliner statt, sondern durchziehen den gesamten Produktions- prozess. Allerdings kann der Reibungsverlust von der Idee bis zur fertigen Folge bei Daily Soaps erheblich sein, denn trotz der standardisierten Abläufe sind die Mitarbeiter bei Daily Soaps oft gezwungen zu improvisieren oder gestalterische 54 Gunther Kirsch montage/av Kompromisse einzugehen. Doch Soaps verfügen hierin über einen relativ gro- ßen Spielraum, finden doch die Improvisationen eine verhältnismäßig große Akzeptanz beim Publikum, oder zumindest scheinen die von den Machern z.T. als Kompromisslösungen empfundenen Resultate die Popularität des Genres keineswegs einzuschränken. Das kulturelle Produkt „Daily Soap“ lässt sich nur unter Miteinbeziehung der Produktionszusammenhänge angemessen beurteilen. Bisherige Studien zum Gegenstand basierten vorwiegend auf der Rezeption des Soap-Textes. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass auch die Produktionsbedingungen ent- scheidend auf das Produkt einwirken und somit den Soap-Text maßgeblich beeinflussen. In vielen meiner Gespräche mit Mitarbeitern von GZSZ wurde beklagt, dass Daily Soaps oft mit anderen Serien-Formaten verglichen werden, obgleich unter den gegebenen Produktionsbedingungen Daily Soaps nicht die gleichen erzäh- lerischen oder bildlichen Qualitäten erzielen können, wie sie etwa bei wöchent- lichen Serien möglich sind. Offenbar müssen sie das aber auch gar nicht, wie die Beliebtheit des Formats bei seinem Publikum zeigt. Literatur Kirsch, Gunther (2000) Rolle und Besetzung bei Daily Soaps. Eine Studie zur Rollenentwicklung bei Gute Zeiten, Schlechte Zeiten. Magisterarbeit Freie Universität Berlin: Fachbereich Geisteswissenschaften und Philosophie II, Institut für Theaterwissenschaft. Nathalie Iványi Alltagsmenschen als inszenatorische Ressource von Fernsehshows Eine Skizze produktionstheoretischer Erklärungsansätze Die Fernsehwelt ist schon lange nicht mehr den professionellen Stars und Pro- minenten, den Experten und Spezialisten aus Unterhaltung, Politik, Sport und Kultur vorbehalten, sondern hat sich zu einer Bühne verwandelt, auf der immer häufiger und thematisch allumfassend (d.h. anlass-übergreifend) der Alltags- mensch, mein Alltags-Zeitgenosse, der „Mann auf der Straße“ (Schütz 1972) sei- nen Platz gefunden hat. Man trifft ihn in Talkshows, Gameshows, Beziehungs- shows oder auch Unterhaltungsserien à la Reality-TV (BIG BROTHER) und überlässt es zunehmend diesem medial unerfahrenen, inszenatorisch ungeschul- ten Alltagsmenschen, den Zuschauer – also seinen kaum noch ‚strukturverschie- denen‘ Adressaten – zu unterhalten. Diese Entwicklung ist besonders aus produktionstheoretischer Perspektive interessant. Denn die Instrumentalisierung der narrativen und inszenatorischen Kompetenzen dieses „Amateurs“ durch die (Fernseh-)Produktionsgesellschaf- ten ist kein leichtes Geschäft. Sie stellt ganz neue Anforderung an die Akquise, an das Casting und an die dramaturgische „Schulung“ der unprofessionellen Medienakteure (vgl. Müller 1999, 53ff) – und: diese Entwicklung gibt Anlass, die bestehenden produktionstheoretischen Ansätze zu überarbeiten. Im folgenden soll daher am Beispiel solcher Beziehungsshows wie NUR DIE LIEBE ZÄHLT (SAT. 1) und TRAUMHOCHZEIT (RTL), aber auch entlang spezifi- scher Folgen von Daily Talks dargelegt werden, wie sich aus produktionstheoreti- scher Perspektive das Dasein dieser Medienprodukte in ihrer spezifischen „Soseinsform“ erklären lässt. Generell liegt den produktionstheoretischen Ansät- zen die Prämisse zugrunde, dass mediale Produktion als eine (in irgendeiner Form) geordnet ablaufende Praxis anzusehen ist, deren Ordnungsstrukturen und -prinzipien entsprechend rekonstruiert bzw. ermittelt werden können. Und so stellt sich auch im Zusammenhang mit den hier thematisierten „performativen Fernsehformaten“ (vgl. Keppler 1994, 8) – in denen echte, authentische Alltags- menschen auftreten, um mit und durch diesen Auftritt alltagsrelevante Handlun- gen zu vollziehen – die Frage, worin die Regelmäßigkeit medialer Produkte bzw. medialer Produktion besteht und woraus diese Regelmäßigkeiten erwachsen. 56 Nathalie Iványi montage/av Aus diesem Grund wird zunächst ein kleiner Überblick über verschiedene, mitunter nicht explizit als solche entwickelte, produktionstheoretische Ansätze geliefert. Anschließend sollen über einen Vergleich von verschiedenen Fernseh- formaten, die Alltagsakteure zur medialen Aushandlung von Beziehungsprob- lemen und -passagen in die Studios einladen, unterschiedliche produktionsorga- nisatorische Lösungen des Problems der Instrumentalisierung von Laien für Fernsehsendungen skizziert werden. Daraus ergeben sich schließlich neue Anforderungen an produktionstheoretische Überlegungen. 1. Produktionstheoretische Ansätze Die Kommunikator- bzw. Produktionsforschung – hat gegenüber anderen medienwissenschaftlichen Disziplinen bislang ein eher stiefmütterliches Dasein gefristet (vgl. Saxer 1997). Dieser Umstand zeigt sich nicht nur quantitativ an der geringeren Zahl von Studien in diesem Bereich, sondern auch qualitativ an der fehlenden Vielfalt und Weiterentwicklung von produktionstheoretischen An- sätzen über verschiedene Genres hinweg. So überwiegen z.B. bis heute Untersu- chungen im Bereich der Nachrichtenproduktion, und vornehmlich für dieses Genre bestehen überhaupt Ansätze, die weniger deskriptiv denn tatsächlich erklärend als „theoretische“ Ansätze betrachtet werden können, die sich also um erklärende Generalisierungen und Verdichtungen der beobachteten Phänomene bemühen (vgl. Müller 1994, 169). Der folgende – eher explorative denn erschöp- fende – Überblick über verschiedene produktionstheoretische Ansätze wird daher primär an Entwicklungen im Rahmen der Nachrichtenforschung an- knüpfen müssen, auch wenn diese Ansätze vor dem Hintergrund der später behandelten Genres der Beziehungsshows und Daily Talks evidenterweise mo- difikations- und ergänzungsbedürftig sind.1 Jedoch liegt es nahe, die hier behan- delten Fernsehformate, analytisch mit Ansätzen der Nachrichtenproduktions- forschung zu erfassen, weil Beziehungsshows und Daily Talks – wie Nachrichten – immer auch von der narrativen Qualität der Alltagswirklichkeit leben (vgl. Mikos 1993; Müller 1994). Produktionstheoretische Ansätze sollten, wie oben festgestellt, Antworten auf die folgenden Fragen liefern: a) Worin bestehen Regelmäßigkeiten der Medienproduktion? Und b) woraus erwachsen diese Regelmäßigkeiten? Ver- schiedene Ansätze haben dabei durchaus unterschiedliche Gewichtungen zwi- 1 Für einen kurzen Überblick über die Forschungsliteratur zur Produktion fiktionaler Genres siehe Newcomb (1991). 10/1/2001 Alltagsmenschen in Fernsehshows 57 schen diesen beiden Fragen vorgenommen, sich mal primär mit der ersten oder zweiten Frage auseinandergesetzt, zudem mal den Produktionsprozess, mal das Produkt selbst zum Ausgangspunkt genommen. So stellt beispielsweise der Gatekeeper-Ansatz – als „Klassiker“ der am Genre der Nachrichtenproduktion ansetzenden Annäherungen (vgl. Blöbaum 1994) – nur die erste Frage: Regelmäßig, so die Antwort, besteht Nachrichtenproduk- tion aus dem Handlungstyp der „Selektion“. Regelmäßig werden also aus der Fülle der in der Redaktion eintreffenden Nachrichten einige ausgewählt, diese werden durch das ‚Tor‘ hindurch gelassen und entwerfen dann ein notwendig reduziertes, jeweils für sich genommen jedoch „realistisches“, d. h. unverzerrtes Bild dessen, was sich an „Neuigkeiten“ in der Welt tut. Dieser Ansatz fokussiert demnach Informationsflüsse und stellt als einzige Regelmäßigkeit das Bestehen von Selektionsinstanzen und -mechanismen heraus. Als Selektionskriterium werden subjektive Relevanzen von Gatekeepern angeführt (vgl. Saxer 1997, 45; Blöbaum 1994, 49), und damit wird impliziert, dass die Medienprodukte selbst keine Regelmäßigkeit über die Tatsache hinaus aufweisen, dass sie Reduktionen darstellen. Demgegenüber haben die Ansätze der Nachrichtenwerttheorie, die sich aus Untersuchungen der Medienprodukte selbst speisen (vgl. Blöbaum 1994, 57f), einen Weg gefunden, Erklärungen für das Entstehen solcher Regelmäßigkeiten zu liefern: Denn weil, so die Antwort, Journalisten regelmäßig die gleichen Se- lektionsprinzipien anwenden, nach denen sie Ereignissen in der Welt mal grö- ßere, mal geringere „Wertigkeiten“ zusprechen, weisen die Nachrichtenpro- dukte typische inhaltliche Strukturen auf. Sie berichten von „negativen“ und „überraschend“ eintretenden Ereignissen, handeln von den politischen oder kulturellen Eliten und thematisieren eher ‚persönliche Schicksale‘ denn ab- strakte Prozesse etc. (vgl. Blöbaum 1994, 57). Auch hier wird Nachrichtenpro- duktion vornehmlich über den Handlungstyp der Selektion charakterisiert, aber zugleich der Versuch unternommen, jene Kriterien zu verdichten, die diesen Handlungstyp in seiner Anwendung wiederum zu einem „regelgeleiteten“ Phä- nomen machen. Wie es nun aber zu eben diesen Kriterien gekommen ist, ob es sich dabei um kulturell oder gar anthropologisch-universalistisch zu erklärende „Schemata“ und „Skripts“ handelt (vgl. Schmidt/Weischenberg 1994), auf wel- che Weise die einzelnen Journalisten mit den geltenden Kriterien vertraut gemacht werden – woraus die beschriebenen Regelmäßigkeiten also ihrerseits erwachsen, ist keineswegs erschöpfend behandelt worden.2 2 Galtung und Ruge (1970) haben zum Teil universale (anthropologisch begründbare) Wahr- nehmungskonstanten für die intersubjektiv geltenden Selektionskriterien verantwortlich ge- 58 Nathalie Iványi montage/av Ganz anders stellt sich der Zugriff auf das Phänomen der Nachrichtenpro- duktion im Rahmen der politisch-ökonomischen Ansätze dar. Diese nähern sich zunächst der Frage nach den Gründen von Regelmäßigkeiten an (b), bevor sie dann – in deduktionistischer Manier – darauf schließen, worin die Regelmäßig- keiten bestehen (a). Weil, so die Antwort, sich Nachrichtenproduktion im Rah- men von privatwirtschaftlich organisierten Strukturen vollzieht, entsteht eine große Homogenität der Nachrichtenprodukte als status-quo-erhaltende Mani- festationen ideologisch durchtränkter Zugriffsweisen auf „Welt“ (vgl. Schudson 1991). Gegenüber den zuvor geschilderten Ansätzen wird Nachrichtenproduk- tion nicht auf den Handlungstyp der Selektion reduziert, sondern zudem das Aufspüren von Nachrichten und deren redaktionelle Ver- und Bearbeitung berücksichtigt. Und diese Handlungstypen werden auch nicht mehr am subjek- tiven Individuum (Gatekeeper) oder kulturell und professionell sozialisierten Journalisten festgemacht, sondern in die soziale Praxis der sich stetig neu repro- duzierenden Klassengesellschaft eingebettet, in welcher Journalisten kontinu- ierlich den sozialen Kontrollen in privatwirtschaftlich geführten Nachrichten- organisationen ausgesetzt sind (vgl. Hopf 1972). Sichtbar wird hier demnach, dass es sich diesem Ansatz zufolge in der Nachrichtenproduktion nicht nur um soziale Akteure handelt, die soziokulturell gewonnene und professionell über- formte Deutungs- und Handlungsschemata einsetzen, so dass trotz einer Viel- zahl individuell vorgenommener Selektionstätigkeiten Regelmäßigkeiten er- kennbar werden (vgl. Schmidt/Weischenberg 1994). Vielmehr handelt es sich auch um sozial positionierte (Eigentümer) und sozial kontrollierte (Journalisten) Akteure, so dass sich – zumindest indirekt – Nachrichtenproduktion selbst als eine soziale Praxis darstellt (vgl. Hopf 1972; Breed 1973). Noch deutlicher tritt diese Orientierung in organisationssoziologischen Ansätzen auf 3, in denen in besonderer Weise betont wird, dass Nachrichten sozial konstruiert sind (vgl. Tuchman 1991). Und dies nicht nur deshalb, weil sie von Akteuren hergestellt werden, die – gemäß den Anschauungen des symboli- schen Interaktionismus – immer schon als „soziale Akteure“ anzusprechen sind, oder weil diese Akteure sozial generierte Deutungs- und Handlungsschemata (Berger/Luckmann 1980) mobilisieren, sondern weil Nachrichten gemäß geron- macht, doch wird mittlerweile auch auf organisationsinterne Sozialisationsprozesse verwiesen, um die intersubjektive Geltung der Nachrichtenwertbestimmungen zu erklären; vgl. Wei- schenberg 1995, 174ff. 3 Im Gegensatz zum anglo-amerikanischen Raum handelt es sich in Deutschland dabei in der Regel um systemtheoretisch inspirierte Ansätze (vgl. Blöbaum 1994), in denen Redaktionen als „organisierte soziale Systeme“ (Rühl 1979) thematisiert werden. 10/1/2001 Alltagsmenschen in Fernsehshows 59 nener Strukturen sozialer Interaktion konstruiert werden (Tuchman 1991, 87; Schudson 1991, 148). Die Regelmäßigkeit der Nachrichtenproduktion, so die Antwort dieses Ansatzes, beruht demnach auf regelgeleiteten, weil institutionell präformierten Interaktionsstrukturen, welche immer schon Interaktionskon- takte (z.B. zwischen Journalist und Informationsquelle) und Interaktionsbedin- gungen (z.B. die Regelmäßigkeiten der Kontakte, die je unterhaltenen Bezie- hungsstrukturen, die jeweils möglichen Beitragstypen etc.) festschreiben.4 Bei Nachrichtenproduktion handelt es sich somit um eine arbeitsteilig organisierte, professionalisierte und routinemäßig zu bewältigende „Arbeit“, welche als soziale (kollektive) Praxis über zeitliche, räumliche, finanzielle, personelle und organisatorische Regelungen und Restriktionen eine bürokratische Kontur annimmt – und, was noch viel wesentlicher ist: eine Eigenlogik entfaltet, die mit Verweis auf ihre überindividuelle Hervorbringung erklärt wird (vgl. Rühl 1989; Blöbaum 1994). Einen neuen Anstoß erhalten die bislang skizzierten Annäherungen durch eine kleine Zahl von Analysen, die zwar primär als Produktanalysen angesehen werden müssen, dabei jedoch zugleich a) auf Daten rekurrieren, die der Beob- achtung des Produktionsprozesses entstammen, und b) daher eine – zumindest implizite – produktionstheoretische Anschauung zum Ausdruck bringen. Diese Anschauung, die sich besonders bei den Autoren Holly/Schwitalla (1995) und Kotthof (1993) im Rahmen von Auseinandersetzungen mit Fernsehdiskus- sions-Sendungen findet, lässt sich m.E. am besten als kommunikations- bzw. wissenssoziologische Perspektive beschreiben. In beiden Aufsätzen wird der Produktionsprozess als eine soziale Praxis betrachtet, in der sich die Handlungstypen der Themengestaltung, der Kandida- tenprofil-Bestimmung, der Kandidatenrekrutierung und ggf. -schulung bis hin zur Titelgestaltung, Moderationsausübung und Nachbereitung antreffen lassen. Sozial ist diese Praxis, weil die Mitarbeiter des Produktionsteams nicht nur all- tagsweltlich, sondern auch institutionell generierte und überformte Deutungs- und Handlungsmuster mobilisieren und die zu bewältigenden Handlungspro- bleme dabei kommunikativ definieren, aushandeln und lösen. Medienproduk- tion ist demnach selbst bereits Ausdruck von und Folge kommunikativer Praxis und somit trotz ihres institutionellen Rahmens nicht nur einer vor-strukturier- ten, sondern auch einer sich situativ entfaltenden Handlungslogik ausgesetzt: in 4 Kennzeichnend ist daher eine Haltung, nach der der einzelne Journalist nichts, die Organisation alles bedeutet (Schudson 1991, 150f). Zur Plausibilisierung dieser Haltung werden primär die Handlungstypen der Recherche und Informationssammlung – der Journalisten-Informations- quellen-Kontakt also – thematisiert. 60 Nathalie Iványi montage/av der Vorbereitungsphase ebenso wie im Vollzug. Sie bleibt demnach im Kern undeterminiert – trotz der allgegenwärtigen sozialen, ökonomischen, politi- schen und auch kulturellen Einflussfaktoren und trotz der vielfältigen Anstren- gungen des Produktionsteams, den Sendeablauf durch professionelle Vorberei- tung, durch strukturgebende Rahmengestaltung und durch gesprächsleitende, konversationelle Maßnahmen des Moderators in irgend einer Form zu fixieren und berechenbar zu machen. In den Mittelpunkt rücken so die notwendig zu erfolgenden Abstimmungs-, Koordinations- und Aushandlungsprozesse als situativ zu erbringende kommunikative Leistungen, die sich mitunter auch aus institutionell gewonnenen und aufgebauten Wissensvorräten speisen. Daher laufen die Anstrengungen einer kommunikations- bzw. wissenssoziologisch orientierten Forschung darauf hinaus, die je spezifischen, alltagsweltlich und institutionell generierten Kompetenzen, Praktiken und (Sonder-)Wissensbe- stände der beteiligten Akteure zu identifizieren und sie als kommunikativ einge- setzte Ressourcen in der kollektiven Gestaltung von „Medienwelten“ genauer zu analysieren. 2. TRAUMHOCHZEIT, NUR DIE LIEBE ZÄHLT, Daily Talks Im Rahmen des DFG-geförderten Forschungsprojektes „Mediale (Re)Präsenta- tion von Liebe“ haben wir untersucht, durch welche Zeichen, Darstellungs- und Entäußerungsformen die Kandidaten der Sendung TRAUMHOCHZEIT (RTL) und NUR DIE LIEBE ZÄHLT (SAT.1) ihren Partnern gegenüber das Bestehen von „Liebe“ zum Ausdruck bringen.5 Dabei konnte sich unsere Ausgangshypo- these bestätigen, dass es sich jeweils um „theatralisierte“ Darstellungshandlun- gen von Liebe handelt. Die Kandidaten greifen demnach auf Inszenierungsfor- men zurück, welche sich nicht nur an den Wahrnehmungs- und Verstehensbe- dürfnissen ihres konkreten Adressaten orientieren, sondern auch an denen der zuschauenden Öffentlichkeit (vgl. Reichertz 1998). So bringen die Kandidaten der Sendung TRAUMHOCHZEIT z.B. ihren Ehe- wunsch in einer Form vor, welche verhältnismäßig „bereinigt“ ist von lücken- 5 Beide Beziehungsshows werden von Endemol produziert: die TRAUMHOCHZEIT seit 1992, NUR DIE LIEBE ZÄHLT – mit Unterbrechung und unter Wechsel des ausstrahlenden Senders (zunächst RTL dann SAT. 1) – seit 1993. Während in der TRAUMHOCHZEIT die Beziehungs- passagen des Heiratsantrags und der (standesamtlichen) Trauung bestritten werden, stellt NUR DIE LIEBE ZÄHLT ein Format dar, in welchem neben Kontaktanbahnungen und Danksagungen auch Versöhnungen und Zusammenführungen von getrennt lebenden Paaren vollzogen werden. Für eine ausführliche Auseinandersetzung siehe Reichertz 2000 und Reichertz/Ivanyi 1999. 10/1/2001 Alltagsmenschen in Fernsehshows 61 haften, zögerlichen, unzusammenhängenden oder idiosynkratischen, nur vom konkreten Partner zu verstehenden, Zeichen und Verweisungen. Sie bedienen sich statt dessen verschiedener, gesellschaftlich anschlussfähiger Ausdrucksge- stalten von „Liebe“ und nutzen mitunter die Möglichkeit, ihrem Gefühl der Zugeneigtheit mehrdimensional Ausdruck zu verschaffen, indem typische Lie- bes-Requisiten, Liebes-Settings, Liebes-Kostümierungen, Liebes-Gebärden und -Ansprachen im Sinne einer multidimensionalen Performance miteinander verschmolzen werden. Die Virtuosität dieser Darstellungshandlungen erstreckt sich nicht nur auf die vorab festgelegte Kombination konventioneller Aus- drucksmittel, sondern reicht bis in die Vollzugsphase hinein, in der die Initiato- ren von Heiratsanträgen über alle situativ entstehenden Widerstände, Ablen- kungen, Störungen und/oder Hindernisse hinweg die von ihnen geplante Bitt- stellerrolle kunstfertig und zeremoniell „durchziehen“. Während der laufenden Projektarbeiten wurden wir indessen auf Liebesdar- stellungen aufmerksam, die seit etwa 1998 zunehmend im Rahmen von Daily Talks unter solch vielsagenden Titeln wie „Heute sag ich’s Dir: Du bist meine große Liebe“ wiederkehrend zu beobachten sind.6 Interessant sind diese Lie- bes-Performances nicht nur aufgrund der Tatsache, weil sie – gegenüber den Performances in den „etablierten“ Medienformaten von Endemol – durch eine ausgesprochen hohe „Misserfolgsquote“ gekennzeichnet sind, so dass nur gut ein Drittel aller (zu welchen Anlässen auch immer) vollzogenen Liebeserklärun- gen bei den jeweiligen Adressaten auch tatsächlich auf Zuspruch stößt. Vielmehr weichen diese Liebesdarstellungen im Vergleich zu denen, die sich in der Sen- dung TRAUMHOCHZEIT oder NUR DIE LIEBE ZÄHLT finden, von der „guten Gestalt“, dem „Idealtypus“ der Liebesdarstellung mitunter erheblich ab. Nur sporadisch wird von Liebessymbolen Gebrauch gemacht, nur in seltenen Fällen finden sich vorgefertigte und entsprechend geübt vorgetragene Liebeserklärun- gen, nur vereinzelt lassen sich aufwendigere „Verkörperungen“ (durch Köper- haltung, Kleidung, Requisiten etc.) von Liebe antreffen.7 6 Einen Überblick zu den Daily Talks in Deutschland (Sendekonzept, Moderatoren, Themen etc.) liefert Semeria (1999). Ihm zufolge stellt dieser „Einzug des Theatralischen in Daytime Talk- shows“ (1999, 128) eine Erneuerung dar, die in amerikanischen Talkshows schon seit längerem zu beobachten ist. Er bezeichnet solche Folgen als „Live-Life-Drama“. Unseren Beobachtungen zufolge decken die Daily Talks mittlerweile sämtliche, oben (Fußnote 5) beschriebenen per- formativen Interaktionsanlässe ab: von der ersten Liebeserklärung bis zur Trauung. Bis zu neun KandidatenInnen – und ebenso viele „Überraschte“ – werden dazu nach einander vorgestellt und tragen dann vor dem Studiopublikum und dem/der ModeratorIn ihr jeweiliges Anliegen vor. 7 Beispiele werden in Reichertz/Ivanyi 1999 dargestellt. 62 Nathalie Iványi montage/av Im folgenden soll die unterschiedliche Verteilung „guter Gestalten“ bzw. „virtuoser Darstellungshandlungen“ in den unterschiedlichen Fernsehformaten produktionstheoretisch ins Visier genommen werden. Da zunächst einmal für alle Formate gilt, dass sie es prinzipiell mit Laien, d.h. mit inszenatorisch nicht bereits geschulten Akteuren zu tun haben, stellt sich die Frage, durch welche Maßnahmen im Rahmen der Produktion dieser Formate das beobachtete Phä- nomen erklärt werden kann. 8 Empirisch haben wir uns der Antwort bislang noch nicht erschöpfend zuwen- den können, sondern können an dieser Stelle vorerst nur vereinzelte und zudem unterschiedlich gewonnene Beobachtungen in Anschlag bringen: dazu gehören die Aufzeichnungen der Sendungen9; ein Experteninterview, das mit einem Redakteur der Talkshow Bärbel Schäfer geführt wurde; Interviews, die mit Kan- didaten der Sendungen TRAUMHOCHZEIT und NUR DIE LIEBE ZÄHLT geführt wurden; und Feldnotizen, die wir im Rahmen des Besuches zweier Aufzeich- nungen von Daily Talks (beide Male BÄRBEL SCHÄFER) sowie bei einer Auf- zeichnung der Sendung TRAUMHOCHZEIT angefertigt haben. Methodischer und methodologischer Bezugsrahmen der Auswertung bildet dabei die wissens- soziologische Hermeneutik (vgl. Soeffner 1989; Schröer 1994). Aus darstellungsökonomischen Gründen kann im folgenden allerdings pri- mär eine rein ergebnisorientierte und damit verdichtete Präsentation unserer Untersuchungen erfolgen. 3. Produktionstheoretische Begründungen inszenatorischer Perfektion Im Sinne des Gatekeeper-Ansatzes könnte eine Begründung für die unter- schiedlichen Darstellungspraktiken der Studiogäste an den individuenspezifi- schen Kompetenzen der Studiogäste selbst festgemacht werden, die als „Infor- mationsträger“ entsprechend unterschiedliche inszenatorische Voraussetzun- gen mitbringen. Dass dieser Ansatz mit seinem Fokus auf die Leistungen von Auswahltätigkeiten durchaus einen wichtigen Erklärungsansatz liefert (vgl. 8 Auch Hügel (1993, 39) spricht den Umstand an, dass Kandidaten von Spielshows an der von ihnen zu erfüllenden Darbietungsfunktion durchaus scheitern können. Er macht dieses Risiko am Ausmaß der den Kandidaten gewährten „Bewegungsfreiheit“ fest; vgl. auch Müller 1994. 9 Unser Videoinventar umfasst 15 Aufzeichnungen der Sendung TRAUMHOCHZEIT (1992–2000), 12 der Sendung NUR DIE LIEBE ZÄHLT (1993–1999) und 20 Folgen von Daily Talks (1998–2000) – und zwar von ARABELLA KIESBAUER (Pro7), ANDREAS TÜRCK (Pro7), BÄRBEL SCHÄFER (RTL), BIRTE KARALUS (RTL), VERA AM MITTAG (SAT. 1) und SONJA (SAT. 1). 10/1/2001 Alltagsmenschen in Fernsehshows 63 Burger 1991, 402; Müller 1999, 55ff), zeigt sich im Zusammenhang mit der Be- werberquote, die bei der Sendung TRAUMHOCHZEIT sehr hoch, bei Daily Talks (zu diesem spezifischen Thema bzw. Sendeanlass) hingegen nicht so hoch veran- schlagt werden kann.10 Ergänzend muss jedoch auch die Wirksamkeit unter- schiedlicher Selektionskriterien berücksichtigt werden, so dass neben den indi- viduenspezifischen Kompetenzen der Alltagsakteure auch die redaktionell aus- geübte Beurteilung dieser Kompetenzen für das beobachtete Phänomen unter- schiedlicher Darstellungsqualitäten herangezogen werden kann. Während nämlich im Rahmen der Beziehungsshows im Vorfeld der Kandidaten-Re- krutierung und -Auswahl das Ziel verfolgt wird, möglichst positiv ausgehende Beziehungsprobleme in die Sendung aufzunehmen, so dass die Bewerber tat- sächlich den gewünschten Zweck (Beziehungsstiftung, Verlobung, Aussöhnung etc.) erreichen, setzen Daily Talks dagegen auf das für dieses Genre typische, Kontroversen thematisierende Differenzial von Ausgängen. Der glückliche Ausgang aller medial sichtbar gemachten Beziehungsprobleme kann weder durch die Selektion garantiert werden, noch ist er tatsächlich erwünscht. Statt dessen sind die im Vorfeld ablaufenden Maßnahmen der Kandidatenrekrutie- rung orientiert an den generellen Leitkriterien der Programmzusammenstel- lung: d.h. an Konflikt und Kontroversen.11 Unsere Daten legen jedoch nahe, einem anderen Aspekt sehr viel mehr Erklä- rungskraft zuzuschreiben. Wir haben diesen Aspekt im Verlauf unserer Unter- suchungen als Ausmaß bezeichnet, in welchem Studiogäste bzw. Kandidaten in das Produktions-Ensemble integriert werden (vgl. Goffman 1983). Damit sind eine ganze Reihe von Phänomenen von uns zusammengefasst worden: Zum einen ist damit nach dem Ausmaß gefragt, in welchem Kandidaten zur Bewältigung ihrer Darstellungshandlungen sowohl in der Vorbereitungs- wie in der Vollzugsphase vom Produktionsteam Unterstützung erhalten. Diese Unterstützung bezieht sich a) auf Ideenstiftung (Wie, wo, wann könnte sich die Darstellungshandlung vollziehen?), b) auf die materielle Ausstattung (Welche Requisiten und Kulissen werden zur Verfügung gestellt?), c) auf organisatori- sche (also auch personelle) Hilfestellungen in der konkreten Ausführung des performativen Vorhabens (Gibt es Komplizen, Erfüllungsgehilfen, die den rei- 10 Zu den erstaunlich hohen Bewerberzahlen für die TRAUMHOCHZEIT siehe Reichertz 2000, 137. Demgegenüber schilderte uns der Redakteur von BÄRBEL SCHÄFER seine Rekrutierungsproble- me. 11 Wie Semeria (1999, 25ff) in der Übersicht zur (internationalen) Forschungsliteratur zeigt, gehört das „confrontational“ Element ganz maßgeblich zu den Konstituenten des Genres Daytime- Talkshow – selbst in jenen Folgen, in denen zugleich der „Bekenntnischarakter“ („confessional“ Element) von Bedeutung ist. 64 Nathalie Iványi montage/av bungslosen Ablauf garantieren können?), sowie d) auf die Ermöglichung eines Trainings bzw. einer Schulung noch vor dem Vollzug (Wird den Kandidaten ein Feedback-gesteuertes Einstudieren ihrer Inszenierung eingeräumt?). Mit Un- terstützung ist demnach in der Vorbereitungsphase primär die Vermittlung von Inszenierungs-Know-How angesprochen und in der Vollzugsphase die – redaktionell zu leistende – Fassadengestaltung (vgl. Goffman 1983, 23ff) der Vollzugssituation durch szenische Arrangements (Kulissen, Beleuchtung, Musik etc.), welche der je spezifischen Darstellungsaufgabe (Heiratsantrag, Ent- schuldigung, Kontaktanbahnung etc.) angepasst sind. Zum anderen ist damit nach dem Ausmaß gefragt, in dem die Kandidaten Zustimmung vom Produktionsteam erfahren – und damit nach dem Ausmaß, in dem sich die Kandidaten vor, während und nach der Aufzeichnung als mora- lisch akzeptiert und in ihrem Vorhaben legitimiert fühlen dürfen. Während nun – sehr pauschal zusammengefasst – die Kandidaten der Bezie- hungsshows Unterstützung und Zustimmung erhalten, gilt dies hingegen für die Kandidaten der Talkshows nicht.12 Letztere erhalten weder vergleichbare Unterstützung hinsichtlich der Szenengestaltung (Kulissen, Requisiten), noch werden ihnen im Vorfeld Ideen und Inszenierungs-Know-How vermittelt. So erklärt uns z. B. der Redakteur von Bärbel Schäfer (SAT. 1): Ich hab’ beispielsweise eine der Kandidatinnen gefragt, was sie besonders gut kann, ob sie beispielsweise ihm ‘nen Lied singen möchte, ähm dann haben wir zusammen entschieden, dass sie es nich kann (1.0) (lachend:) äh (Lachen) äh mit dem Gedicht, das ist alles irgendwie so tierisch abgedroschen inzwischen [...] und dann hab ich gesagt, komm, geh ganz spontan diese Treppe runter und sag’s ihm. (Z. 546–556) Ein Playback-Gesang, der produktionstechnisch entsprechend aufwändig gewesen wäre und im Rahmen der Beziehungsshow NUR DIE LIEBE ZÄHLT immer wieder zum Einsatz kommt, kam für den Redakteur der Talkshow dem- nach nicht in Frage. Aber nicht nur ökonomisch begründete Produktionskal- küle sind an dieser Stelle angesprochen. Denn statt der „Abgedroschenheit“ einer Gedicht-Rezitation präferiert der Redakteur zudem Spontaneität – den authentischen, unvorbereiteten und darum natürlichen Gang der Dinge. Inso- fern wirkt der Redakteur hier ein – wie im einzelnen auch immer gewonnenes – 12 Als Ausnahme kann in unseren Augen der Daily Talk ARABELLA KIESBAUER (Pro7) angesehen werden – und zwar sowohl hinsichtlich der hier beschriebenen Produktionsprozesse als auch hinsichtlich der Konsequenzen für die Darstellungsqualität. Das zeigt u.E. nur, dass das zur Verfügung stehende Produktionskapital allein nicht für die beobachteten Differenzen auf- kommt. 10/1/2001 Alltagsmenschen in Fernsehshows 65 Wissen in die Darstellungshandlung der Kandidatin ein, welches nicht produk- tiv (zur Vermehrung von Handlungsoptionen), sondern negativ (zu deren Reduktion) eingesetzt wird und zugleich die Kandidatin auf das von ihr schon immer gewusste und praktizierte Wissen zurückwirft. Zudem nehmen Talkshow-Moderatoren sehr viel deutlicher nur die Rolle des „Vertreters/Anwalts der Rezipienten“ (vgl. Burger 1991, 276ff) wahr, solidari- sieren sich somit mit dem Studiopublikum, anstatt in der Rolle des „Gastgebers“ die Kandidaten vor den „Herabsetzungen“ (Goffman 1983, 156ff) des Studio- publikums zu bewahren. Diese Gewichtung, die sich inszenatorisch auch darin ausdrückt, dass die Moderatoren häufig im Studiopublikum und nicht auf der Bühne bei den Gästen positioniert sind – also effektiv zu keinem Zeitpunkt in physischen Kontakt mit den Kandidaten treten –, führt dazu, dass sich die Kan- didaten erst vor dem Studiopublikum bewähren müssen, um dann mitunter auch beim Moderator auf Akzeptanz und Bestätigung zu stoßen. Gelingt ihnen das nicht, sind sie dem Hohn und Spott, dem Unmut und Ärger der im medialen Raum sichtbar gemachten Akteure erkennbar ausgesetzt, denn das Mikrophon der Moderatoren steht jederzeit bereit, um den Kommentaren des Studiopubli- kums die notwendige Verstärkung zu geben13 – Stimmen, denen im Rahmen der Sendung TRAUMHOCHZEIT und NUR DIE LIEBE ZÄHLT kein Gehör geschenkt wird.14 Der Laiendarsteller im Rahmen von Daily Talks erfährt sich insofern als ‚Ein-Personen-Ensemble‘ (Goffman 1983, 86), dessen Darstellung sich nicht mit, sondern unter anderem auch für das Produktions-Ensemble vollzieht. Unternimmt man den Versuch, die hier hervorgehobenen Kriterien der Erzeugung ‚guter Gestalten‚ zu verdichten, so ist damit einerseits das Ausmaß angesprochen, in dem die Darstellungshandlung der Laiendarsteller auf kollek- 13 Auch Semeria (1999, 107) hat in seiner Studie feststellen können, dass deutsche Talkshowmode- ratoren zwar vornehmlich eine Protektionsstrategie (78%) und Provokationsstrategie (64%) ihren Gästen gegenüber anwenden und insofern – im Gegensatz zu ihren amerikanischen Kollegen – sehr viel seltener Disqualifikationsstrategien (11%) ausspielen, dies jedoch nur, weil sie durch ihre Provokationen (= Imagebedrohungen) die tatsächlich disqualifizierenden (= imageverletzenden) Beiträge dem Studiopublikum überlassen: „Die Imagebedrohung ist häufig nur die rhetorische Überleitung zur ‚Preisgabe‘ der Imageverletzung durch das Publikum“ (ibid., 109). 14 Anzumerken ist, dass diese Stimmen aus dem Publikum weniger im Rahmen von „positiven“ Interaktionsanlässen ausgespielt werden, sondern vornehmlich im Rahmen von „negativen“: Während die Talkshow-Moderatoren die Publikumsbeteiligung bei Heiratsanträgen oder Danksagungen demnach nicht fördern oder initiieren, animieren sie das Publikum hingegen zu Kommentaren im Falle von „Versöhnungsangeboten“ und „Entschuldigungen“. Diejenigen Kandidaten, die sich also ‚nichts zuschulden kommen lassen haben‘, haben demnach auch in Talkshows gute Aussichten, vom Studiopublikum verschont zu bleiben. 66 Nathalie Iványi montage/av tiv (intersubjektiv) generiertes, reflexiv gewordenes Wissen um gesellschaftlich anschlussfähige (Re)Präsentationen von ‚Liebe‘ zu rekurrieren vermag. Dabei handelt es sich um jenes dramaturgische Wissen, das teilweise von den Alltagsakteuren selbst schon immer gewusst wird, größtenteils jedoch von dem professionellen Produktionsteam verwaltet und akkumuliert wird und prinzi- piell als Skriptwissen an die Laiendarsteller vermittelt werden bzw. zur Rah- mung ihrer Performance eingesetzt werden kann.15 Die durch ein individuelles, praktisches Bewusstsein geprägte Handlungsrationalität des Laiendarstellers wird demnach transzendiert: Im Rahmen der Vorbereitung und Schulung wird es einerseits (in irgendeiner Form) expliziert und zum Gegenstand der Reflexion erhoben – und damit zugleich auch korrigierbar und kontrollierbar, so dass sich für den Laiendarsteller nach einer Übungsphase durchaus jene Distanz zur Dar- bietung einstellen kann, welche für eine gelungene Aufführung, für eine gelun- gene Ausdruckskontrolle notwendig ist (vgl. Goffman 1983, 196); andererseits ist es von vornherein angereichert um das professionelle, erfahrungsgespeiste und kollektiv verhandelte Inszenierungswissen des Produktionsteams, das auf- grund seiner überindividuellen Genese von vornherein gesellschaftliche An- schlussfähigkeit (Verstehbarkeit, Prägnanz) zu verbürgen vermag. Diese Wissensdimension ist jedoch noch um die Zustimmungsdimension zu erweitern, welche – aus der Darstellerperspektive betrachtet – Handlungssicher- heit zu stiften vermag, die insofern vonnöten ist, als sich der Akteur – für eine tatsächlich „theatrale Inszenierung“ – notwendig in eine Rolle begeben muss (vgl. Hügel 1993, 43; Müller 1994, 174f), die ihm ohne den Rückhalt des Teams mitunter lächerlich, fremd und künstlich vorkommt. Gerade weil eine theatrale Performance nicht mehr ausschließlich über alltägliche Handlungs- und Dar- stellungsmuster organisiert wird, gerade weil die theatrale Performance vom Laiendarsteller demnach eine Überwindung eingewohnter Routinen verlangt, kommt der Zustimmungsdimension die wichtige Funktion zu, den Akteur auf ein sozial abgeschirmtes und behütetes Terrain zu führen, auf dem er in einem Stadium der Unantastbarkeit die Überschreitung seines Alltags-Ich risikolos bestreiten kann. Beide Dimensionen lassen nun aber erkennen, dass die Soseinsform medialer Produkte im hohen Maße abhängig ist a) von Art und Umfang der institutionell spezialisierten und sozial verhandelten Wissensbestände, b) von Art und Inten- 15 Auch dieses Wissen ist auf Seiten des Produktionsteams aber nicht notwendig gegeben: Das Rotationsverfahren in der Redakteursbesetzung bei BÄRBEL SCHÄFER (RTL), wonach jeder Re- dakteur abwechselnd verschiedene Typen von Talkshow-Folgen leitet, untergräbt z. B. den systematischen Aufbau von spezialisiertem Sonder- bzw. „Expertenwissen“ (Schütz 1972). 10/1/2001 Alltagsmenschen in Fernsehshows 67 sität der in der Vorbereitungs- und Vollzugsphase sich einstellenden Kommuni- kationsprozesse zur Vermittlung dieses Wissens sowie c) von Art und Ausmaß der durch dieses Wissen geleiteten Maßnahmen zur Strukturierung (Rahmung) der schließlich situativ zu bewältigenden Vollzugssituation. Nicht nur die Wirk- lichkeit der Alltagswelt erweist sich als gesellschaftlich konstruiert (vgl. Ber- ger/Luckmann 1980), auch die changierende Wirklichkeit der Medienwelt (vgl. Müller 1999, 35ff) ist eine intersubjektiv gestaltete, verhandelte und definierte Wirklichkeit, in welcher nur derjenige zum kompetenten Mitglied wird, der sich – einem Sozialisationsprozess gleich – den hier geltenden, institutionalisierten Wissensvorrat anzueignen und die hier kollektiv erzeugbaren Rahmungen in seinen Dienst zu stellen vermag. 4. Fazit An Mikos (1993) anknüpfend lässt sich insofern einerseits behaupten, dass sich die Medienwelt der Beziehungsshows und Talkshows durchaus aus einem all- tagsweltlich generierten Handlungs- und Deutungswissen speist: In diesen Shows „orientieren sich alle Beteiligten an den im eigenen Alltag erworbenen und angewendeten kommunikativen Verhaltens- und Handlungsmustern“ (ibid., 129). Aber dieses Wissen alleine reicht nicht aus. Denn es trifft nicht zu, dass innerhalb dieser Medienwelten ausschließlich oder primär „die allgemeinen Interaktionsregeln gelten, die den Umgang der Kommunikationspartner im Rahmen des kulturellen Kontexts und des lebens- weltlichen Horizonts bestimmen“ (ibid., 127). Vielmehr handelt es sich zugleich um institutionelle Interaktionssituationen (vgl. Burger 1991, 8; Kotthof 1993, 177), in denen sich nur der „domestizierte“ Alltagsmensch (vgl. Burger 1989, 140), derjenige, der eine mediengerechte „Formatierung“ erfahren hat (Müller 1999, 53ff), virtuos bewähren kann. Auch ist den Beobachtungen von Niehaus (1991, 108) zu widersprechen, wonach das Medium die (theatralen) Verhaltens- weisen, die es sendet, automatisch selbst generiert. Das theatrale Handeln der Medienakteure, als eben solches Handeln, das im Bewusstsein eines zuschauen- den Publikums inszeniert wird, ist in seiner Formvollendung – d. h. Gewährleis- tung von allgemeiner Anschlussfähigkeit, Verständlichkeit und Prägnanz – keine alltagsweltlich immer schon erworbene und geschulte Kompetenz (vgl. Burger 1991, 74). Eine tatsächlich bewirkte gesellschaftliche Anschlussfähigkeit des Handelns vor der Kamera ist vielmehr Resultat einer tatsächlich gesellschaft- lichen Hervorbringungspraxis – und insofern: buchstäblich Ergebnis „prakti- scher Intersubjektivität“ (Joas 1980). 68 Nathalie Iványi montage/av Ob die so ermöglichte „Professionalisierung“ der Laiendarsteller langfristig gesehen überhaupt angestrebt wird, bleibt abzuwarten. Auffällig ist jedoch, dass der gegenwärtige Aufsteiger unter den Produktionsunternehmen (Endemol) nicht nur frühzeitig dazu übergegangen ist, systematisch Alltagsmenschen als narrative und darstellende Ressource nutzbar zu machen, sondern parallel dazu auch produktionspragmatische Strategien entwickelt hat, um auch mit diesen Ingredienzen „gute Gestalten“ zu produzieren. Literatur Blöbaum, Bernd (1994) Journalismus als soziales System. Geschichte, Ausdiffe- renzierung und Verselbständigung. Opladen: Westdeutscher Verlag. 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Udo Göttlich Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung Aspekte der Verschränkung von Fernsehproduktion und Alltagsdarstellung 1. Einleitung Ob die derzeitige Programmoffensive der sogenannten „Real Life Soaps“ vor allem damit erklärt werden kann, dass ein neuer Hunger nach Realität besteht, wie Der Spiegel schrieb, darf bezweifelt werden.1 Auch der Rückgriff auf die Formel des Fernsehens als „kulturellem Forum“, auf dem die unterschiedlichen Lebensauffassungen der Gesellschaft (re-)präsentiert würden, erklärt für sich genommen noch wenig, wiewohl sich diese Deutung in ihren unterschiedlichen Varianten als Hintergrund allfälliger Interpretationen durchsetzt. Die derzeit unternommenen Erklärungsversuche bemühen sich um ein Verständnis der sicherlich auffälligsten Entwicklung der letzten Jahre: dem Umstand, dass das Fernsehen immer stärker zum Ort der Verhandlung von Alltagsproblemen und Alltagsfragen wird und dabei zusehends mit unprominenten Personen als Akteuren arbeitet. Prominent sind in diesem Zusammenhang Auffassungen, die die Veränderungen des Fernsehens mit einem medialen und gesellschaftlichen Wandel verknüpfen und das Fernsehen als Identitätsmarkt oder als Treibriemen der Individualisierung diskutieren. Dem Untersuchungsinteresse dieses Beitrags liegt die Frage zugrunde, wie die beiden Bereiche der Fernsehproduktion und des gesellschaftlichen und kultu- rellen Wandels im Falle der neuen Fernsehformate und des mit ihnen unterstell- ten „Einbruchs der Realität“ miteinander vermittelt sind. Zwei der Leitfragen dazu lauten: Aufgrund welcher Voraussetzung wird der Alltag unprominenter Personen in die Fersehproduktion eingeschrieben und wie ist diese Entwicklung des Fernsehprogramms mit dem als „Eventisierung“2 beschreibbaren Prozess der Medienkommunikation vermittelt? Mit den nachfolgenden Überlegungen, die im Umfeld einer kulturwissen- schaftlich orientierten Kommunikationsforschung angesiedelt sind, verfolge ich 1 Siehe Nikolaus von Festenberg / Marianne Wellershoff 2001, 158–161. 72 Udo Göttlich montage/av eine Perspektive, die in den Cultural Studies von Stuart Hall (1997), Paul du Gay (1997) und Richard Johnson (1983) in den Mittelpunkt gestellt wurde und die auf das Wechselverhältnis von kultureller Produktion und der Produktion von Kultur bezogen ist. Du Gay, Hall und andere haben die Möglichkeit und Reich- weite der Verbindung beider Perspektiven: der von kultureller Produktion und der von Produktion der Kultur anhand der Geschichte und Bedeutung des Sony Walkmans vorgeführt (du Gay, Hall et al. 1997). Das zugrundeliegende theore- tische Modell ist als ein Kreislaufmodell prominent geworden. Nach Johnson (1999) steht jeder Kasten in der Abbildung zum Kreislaufmo- dell für ein Element dieses Kreislaufs, die alle voneinander abhängig, zugleich aber von den anderen unterschieden sind. Befindet man sich bei einem Element, etwa der Konsumption oder der „representation“, also auf der Ebene von Tex- ten, so ist nicht erkennbar, was bei den anderen Elementen, etwa der Produk- tion, geschieht. Johnson hat die daraus erwachsende analytische Anforderung folgendermaßen zusammengefasst: Prozesse verschwinden in Resultaten. [...] So werden zum Beispiel alle Kulturprodukte notwendigerweise produziert, aber die Produktionsbe- dingungen lassen sich aus ihrer Analyse als „Texte“ nicht erschließen (ibid., 149). Um diese Transformation zu verstehen, müssen wir also die Bedingungen jedes der Elemente von einer Analyse der Resultate her aufschließen und auf die Bedingungen ihrer Genese oder des Prozesses, in denen die Elemente ihre spezi- fische Rolle und Funktion einnehmen, befragen. Die Nutzbarmachung dieser theoretischen Perspektive erscheint im Fall der neuen, hierzulande als Real Life- oder Real People-Formate benannten Fernsehangebote, vielversprechend. Gerade da das Resultat dieses Prozesses in einer Alltagsdramatisierung und zunehmenden „Eventisierung“ besteht, gehören Fragen kultureller (Re-)Pro- duktion im Sinne einer Reproduktion von Alltag und Kultur zum Grundbe- stand der Analyse. Der vorliegende Beitrag möchte zeigen, dass sich die Beson- derheit der gegenwärtigen Entwicklung, die in der Medienwissenschaft wegen 2 Vgl. zum Begriff der „Eventisierung“ Gebhardt 2000, der den Begriff auf die „Veralltäglichung festlicher Erlebnisse“ anwendet und Event sowie Eventisierung auf den inneren und äußeren Gestaltwandel von Festen und des Festlichen bezogen sieht (ebd., 26). Dabei handelt es sich so- wohl um die Folgen einer zunehmenden Kommerzialisierung als auch um eine – auf den Zusam- menhang der Veränderung der Fernsehproduktion ebenfalls anwendbaren – Multiplizierung des „Festlichen“, d.h. einer Vervielfachung der Angebote, mit denen ein bestimmtes Ereignis repro- duziert werden kann. 10/1/2001 Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung 73 Abb. 1 Kreislaufmodell der Konzentration auf textorientierte Zugänge aus dem Fokus zu geraten droht, durch einen Rückgriff auf dieses Modell aufschließen und erklären lässt. Das Hauptgewicht der nachfolgenden Betrachtungen wird dazu auf Fragen der Produktion, der Programmierung und des Programmmarketing, also kurz den auffälligsten Veränderungen der Fernsehproduktion in den letzten Jahren liegen. Damit ist zwar nur ein Element, das der Produktion, von der Seite seiner auf unterschiedlichen Ebenen aufscheinenden Resultate anvisiert. Da aktuelle Aspekte der Fernsehproduktion aber den Schwerpunkt der in diesem Heft ver- sammelten Betrachtungen und Beiträge bilden, ist diese Grenzziehung gewollt. Zur Beantwortung der Frage der kulturellen Reproduktion – die umfassend erst mit einer Diskussion des gesamten Kreislaufmodells gegeben werden kann – wird zunächst in den Kapiteln 2 bis 4 die Rolle der neuen Formate vor dem Hin- tergrund des Medienwandels sowie deren Wurzeln und Grundelemente ver- folgt. Die Behandlung der Alltagsproblematik wird mit Rückgriff auf eine wei- 74 Udo Göttlich montage/av tere Theorie aus dem Umfeld der Cultural Studies in Kapitel 5 erfolgen. Anhand von Raymond Williams Problematisierung der Rolle des Dramas in der Alltags- kultur lässt sich zeigen, dass die mit den Real-Life-Formaten einhergehende Entwicklung in einer kulturellen Tradition der Dramatisierung von Alltagsdar- stellungen steht, die mit dem Fernsehen neue Möglichkeitsspielräume erobert. Letztere sind nicht unabhängig von den technischen Möglichkeiten, womit sich erneut der theoretisch behauptete Kreislaufprozess kultureller Produktion und Reproduktion schließt, worauf in Kapitel 6 am Beispiel der Eventisierung einge- gangen wird. Mit einem kurzen Ausblick im siebten Kapitel schließt der Beitrag. 2. Die neuen Bedingungen des Geschäfts Es ist hier nicht der Ort, zum wiederholten Male ausführlich die Dualisierung des Fernsehens als Startpunkt von Entwicklungen in der Fernsehproduktion der letzten fünfzehn Jahre zu schildern (vgl. Schatz et al. 1996; Wehmeier 1998). Die Bedingungen des Geschäfts, die auf Produzentenseite eine Minimierung der Risiken von aufwändigen und teuren TV-Produktionen erstrebenswert erschei- nen lassen, sind oft hervorgehoben und kritisiert worden. Die Entlastung von hohen Produktionskosten ist heute bare Münze wert, zumal wenn sie, getragen vom spektakulären Angebotsprofil des Neuen, einer nachhaltigen Verankerung des Senders oder der Senderfamilie im Bewusstsein des Publikums dient. Der Erfolg des Programmangebots BIG BROTHER, der unzweifelhaft den vorläufi- gen Höhepunkt der zeitgenössischen Fernsehentwicklung darstellt, hat denn auch andere Sender dazu verleitet, eigene Sendungen dieses Typs aufzulegen.3 Im niederländischen Fernsehen erprobte die Produktionsfirma Endemol bereits die Möglichkeiten des neuen Genres mit der Umsetzung weiterer Sendungsva- rianten wie DE BUS oder CHAINED. SAT. 1 und RTL haben dies im deutschen Fernsehen mit GIRLS CAMP und HOUSE OF LOVE unternommen und erneut die Grenzen dessen, was bislang als möglich und vertretbar angesehen wurde, verschoben. Die Produktion der täglichen Seifenopern, die von RTL mit GUTE ZEITEN, SCHLECHTE ZEITEN 1992 angestoßen wurde, hat sich als ein zentrales Experi- mentierfeld für die neuen, heute als selbstverständlich angesehenen Produk- tionsweisen und Marketingstrategien erwiesen. Denn neben der grundsätzli- 3 Gemessen an den über drei Millionen Zuschauern, die durchschnittlich die erste und zweite Staffel von BIG BROTHER verfolgten, hatten diese Ableger allerdings einen weitaus geringeren Erfolg. 10/1/2001 Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung 75 chen Herausforderung, täglich sendefähiges Material in einem Umfang von 25 Minuten zu produzieren, was in Soap-fernen Zeiten im deutschen Fernsehen als undenkbar galt, ist es die Erfahrung im Umgang mit den kameraunerfahrenen Laien und deren Casting, die als eine wichtige Voraussetzung zur Umsetzung des neuen Sendeformats mit einberechnet werden muss.4 Das Fernsehgeschäft und die Programmierung stehen aber auch in einem Wechselverhältnis mit gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, wo- rauf gerade in der Diskussion von BIG BROTHER immer hingewiesen wird. Die- ses Wechselverhältnis zeigt sich auf Anbieter- und Produzentenseite vor allem darin, dass die Frage nach dem Publikum nicht nur immer neu gestellt, sondern mit der Zuschneidung neuer Angebote auch stets von Neuem zu beantworten gesucht wird.5 Das Kalkül von BIG BROTHER besteht hier in einer zielgruppen- gerichteten Ansprache, als deren Folge die bislang drei Staffeln jeweils verschie- dene Publikumssegmente adressiert haben, um die für diese Sendeform bestän- digsten Publikumsgruppen zu isolieren und für die Ziele des Marketing und der Senderbindung gezielt ansprechen zu können. Die erste Staffel von BIG BRO- THER hat es dabei deutlicher als die nachfolgenden beiden Staffeln vermocht, ein vorwiegend junges und aufstiegsorientiertes Milieu anzusprechen und für eine gewisse Zeit an sich zu binden. Deutlich wurde diese Leistung vor allem an dem Profil der Nutzer, die das Internetangebot zu BIG BROTHER aufsuchten (vgl. Trepte/Baumann/Borges 2000, 554). Da die Fernsehanbieter aus der Konkurrenzsituation heraus spezifische Stra- tegien entwickeln, ihr Angebot, vor allem das der Fernsehunterhaltung, dem jugendlichen Publikum darzubieten, ist die Analyse des Wechselverhältnisses von Zuschaueradressierung und Mediennutzung für die Fernsehproduzenten vielversprechend. In den letzten Jahren haben sich bereits eine Reihe von Strate- gien etabliert, die auf Erfahrungen der Daily Soap-Produktion zurückgreifen und die dort nicht nur Zuschauerbindungen mit unterschiedlichem Erfolg erprobten, sondern auch die Soaps und deren Produktionsweise nachhaltig ver- ändert haben. Da scheint es nur konsequent, auch bei der Produktion der Real Life-Formate an diese Erfahrungen anzuschließen und die Umsetzung dieser Strategien zu forcieren. Zu diesen Strategien gehören: 4 Die im Nachmittagsprogramm plazierten Daily Talks leisten in diesem Zusammenhang Ähn- liches. 5 Tulloch geht in diesem Heft am Beispiel der Daily Soap-Produktion in Australien dieser für die Fernsehproduktion und ihre Analyse zentralen Frage der Einschreibung des Publikums in die Produktion nach. 76 Udo Göttlich montage/av • die Schaffung eines Stammpublikums und damit verbunden • die für die Senderbindung zentrale Organisation des „audience flow“; • die Einbindung neuer Technologien (sowohl im Bereich der Übertra- gung als auch des Abrufs) als Antwort auf die neuen Nutzungsmög- lichkeiten, vor allem durch das Internet; • die Ausbildung eines Senderimages durch die Nutzung bestimmter Produktfamilien, wobei einzelne Genres zum Anker für die unter- schiedlichen jugendlichen Publikumsschichten werden; • die Erprobung neuer Werbestrategien und -konzepte, die weit über das konkrete Programmangebot hinausreichen und in die Schaffung zusätzlicher populärkultureller Ereignisse und Events münden; • die Ansprache von Lebensstilen durch die Verwendung unterschiedli- cher populärkultureller bzw. jugendkultureller Codes. Da das Fernsehen als zentraler Ort der TV-Produktion und Distribution trotz der fortschreitenden medialen Ausdifferenzierung als Knotenpunkt im Netz- werk neuer Medientechniken bislang nicht übersprungen werden kann, ist die angebotsbezogene Vernetzung der verschiedenen Produkte auf den unter- schiedlichen Ebenen der Wertschöpfungskette gefragt. Mit einem Seitenblick auf die kulturwissenschaftliche Dimension dieser Entwicklung lässt sich fol- gern, dass die Individualisierung erstaunliche Möglichkeiten für die Ausweitung der Wertschöpfungskette schafft, die über die Nutzung „klassischer“ Ressour- cen hinausgeht und nun auch die Individuen konsequent dem „business“ zuschlägt. Das ist zum einen medienhistorisch, zum anderen produktionstech- nisch und programmstrukturell zentral. Die Rezipienten werden nicht nur als Konsumenten einem industriell und kommerziell erweiterten Angebotsspek- trum ausgesetzt, sondern auch als Akteure dem Programm und den Genres selbst in einem neuen Sinne zugeschlagen.6 Medienhistorisch gesprochen befinden wir uns an dem Punkt einer multimedi- alen Vernetzung unterschiedlicher medialer Formen und Angebote. Dabei erlau- ben neue Techniken neue Anwendungen, die zur Distribution an ein Massenpub- likum aber noch an die „klassischen“ Massenmedien – sprich: Kanäle – gebunden sind. Big Brother stellt in diesem Zusammenhang eine nochmalige Weiterent- wicklung der bereits im Umfeld der Daily Soaps erprobten und mit Erfolg durch- gesetzten Strategien dar. In der Nutzung und Schaffung von zusätzlichen popu- lärkulturellen Ereignissen und den damit entstandenen kommunikativen An- 6 Vgl. den Beitrag von Natalie Ivanyi, der sich auf die Beziehungsshows konzentriert. 10/1/2001 Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung 77 schlussmöglichkeiten und Identifikationspotenzialen liegt ein zentraler Erfolgs- faktor dieser Sendung begründet (vgl. Göttlich/Nieland 1998a und 1998b). Produktionstechnisch und programmstrukturell haben wir es mit Besonder- heiten des „Kult-Marketing“ zu tun, die bis in einzelne Programmangebote hin- einreichen (vgl. Göttlich/Nieland 1998a). Auf großen Programmstrecken von RTL und RTL 2 erhält man den Eindruck, dass die Sendung Big Brother nur deswegen in das Programm genommen wurde, weil sich im hauseigenen Repor- tagemagazin EXPLOSIV bis hin zu diversen Extra-Sendungen wie BIG BRO- THER – DER TALK oder BIG BROTHER – DIE REPORTAGE auf das Format rekurrieren lässt.7 Diese an anderer Stelle auch als Selbstreferentialität bezeich- nete Strategie bietet augenscheinlich die beste Möglichkeit, billig zu produzieren und die eigenen Produkte auf vielfältigen Programmplätzen unterzubringen. Damit erscheint ein Fernsehen am Horizont, das die Wirklichkeit, über die es berichtet, bis in den kleinsten Winkel hinein selbst entworfen hat und kontrol- liert. Vor diesem Hintergrund ist die Verbindung der Sendung mit dem Internet von Bedeutung, wobei das Real Life-Format nicht zufällig eine seiner Wurzeln in der Verwendung von Web Cams findet. Da es im Folgenden jedoch um den Wandel der Fernsehproduktion selber geht, wird die Entwicklung dieser eigen- ständigen Internet-Angebote, die nicht mit Fernsehsendungen im Zusammen- hang stehen, nicht weiter vertieft (vgl. dazu Neumann-Braun/Schmid 2000). BIG BROTHER und andere Ableger dieser neuen Spielart des Reality TV ste- hen in diesem Horizont für den Ausbau des Fernsehens in Richtung eines multi- medialen Event- bzw. Ereignisangebots.8 Die multimediale „Integration“, die in einer hier weiter interessierenden Entgrenzung von verschiedenen Medien besteht, hat auch Konsequenzen für die Durchdringung der Grenzflächen von medialer Inszenierung, kultureller Produktion und Alltag, was von der Produk- tionsseite aus wieder auf die kulturwissenschaftliche Ausgangsfrage zurück- weist. Im Zuge der Etablierung neuer Hybridformate vermischen sich die Ziele der Fernsehproduktion und die Rolle und Stellung der Sender in der Öffentlich- keit. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt mit den Orientierungsbedürfnissen der Individuen verbunden, denen die Teilnahme an bestimmten Ereignissen soziale Distinktion beschert. Auch diese Entwicklung rückt wieder die Verschränkung von Alltagsinszenierung, also der symbolischen Vermittlung von Alltagsszenen mit dem Alltag der Zuschauer in den Vordergrund. 7 Diese Verschränkung wurde von RTL bereits in Spiel- und Gameshows erprobt, in denen die Darsteller verschiedener Soaps gegeneinander angetreten sind. Die Shows wurden am Samstag- abend ausgestrahlt und füllten damit einen herausragenden Sendeplatz. 8 Vgl. dazu die begriffliche Einordnung von Mikos 2000, 13. 78 Udo Göttlich montage/av 3. Die Wurzeln des factual entertainments im deutschen Fernsehen Die Relevanz der neuen Formate ist in der Medien- und Kommunikationsfor- schung mit verschiedenen Zugängen untersucht worden, wobei die Analysen der neuen Akteure oft genreabhängig erfolgten und selten generelle Verände- rungen der Fernsehproduktion erörtert wurden (Bente/Fromm 1997, Müller 1999, Fromm 1999, Reichertz 2000). Berücksichtigt man hingegen die Ge- schichte derjenigen Genres, die im anglo-amerikanischen Sprachraum als „fac- tual entertainment“ bezeichnet werden (vgl. Brunsdon et al. 2001), so erkennt man, dass die auf Endemol zurückgehende Einführung des Formats BIG BRO- THER mit seinen spin offs eine konsequente Anwendung der bereits in Vorläu- ferformaten entwickelten Dramatisierungs- und Darstellungsweisen darstellt und diese nun mittels neuer Techniken in einen neuen Zusammenhang gebracht worden sind. Vor einem erweiterten Hintergrund kommen auch die (Vorläu- fer-)Formate des Reality TV in Betracht, die im engeren Sinne von Kriminalität, von Schicksalsschlägen verunglückter Menschen oder von in Not geratenen Personen und ihrer Rettung erzählen. Sie liefern aber, wie die Doku Soaps, allenfalls Grundbausteine der Inszenierungsweise und weniger Hinweise zur aktuellen Form der Alltagsdramatisierung, die z. T. durch ihre Verbindung mit, aber auch Herkunft aus dem Internet andere Wurzeln hat. Ein frühes und beinahe schon klassisches Beispiel stellt die zu Beginn der neunziger Jahre auf MTV ausgestrahlte Sendung THE REAL WORLD dar. In die- ser Sendung haben erfahrene Soap-Produzenten Soap-typische Inszenierungs- strategien auf das Alltagsleben angewendet, indem sie Jugendliche einer WG mit Videokameras ausstatteten und sie ihren Alltag filmen ließen. Viele der doku- mentierten Konflikte zwischen den Jugendlichen erklären sich dabei bereits aus dem inszenatorischen Kalkül, gegensätzliche Charaktere für diese Produktion in einer WG zusammengebracht zu haben. Im MTV-Programm wurden diese inszenierten Einblicke in das WG-Leben junger Leute u. a. aus New York (1992), Los Angeles (1993), San Francisco (1994) und London (1995) jeweils täg- lich mehrfach ausgestrahlt (siehe Johnson/Rommelmann 1995). Ferner gab es zu Beginn der neunziger Jahre im deutschen Fernsehen eine Sendung mit dem Titel DAS WAHRE LEBEN, in der der Alltag einer WG von einem Kamera- und Ton- team gefilmt und begleitet wurde.9 An den REAL WORLD-Produktionen lassen sich bereits entscheidende Ent- wicklungspunkte festmachen, auf die man dann einige Zeit später bei den soge- 9 Diese Sendung wurde 1994 unverschlüsselt auf Premiere ausgestrahlt. 10/1/2001 Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung 79 nannten Doku Soaps trifft, die wiederum eine Tendenz aufgreifen, die auf eine Programmtendenz seit dem Ende der achtziger Jahre zurückgeht und die im Reality TV und in den Talkshows wurzelt. Die Geschichten folgen einer Ereig- nisdramaturgie, die als wichtigstes Element den Auftritt nichtprominenter Per- sonen besitzt. Dabei müssen diese alltäglichen Akteure stark genug sein, eine Episode oder gleich mehrere Folgen mit ihren Geschichten zu tragen. Im Unter- schied zum Reality TV sind es nicht Schicksale und Emotionen, die interessie- ren, sondern der Alltag von Personen, der narrativ aufbereitet wird. Zu den Doku Soaps gehören Sendungen wie DIE FAHRSCHULE (SAT. 1), ABNEHMEN IN ESSEN (WDR) oder EINE NEUE LIEBE IST WIE EIN NEUES LEBEN (SAT. 1), die jeweils nicht nur unterschiedliche Ausschnitte des Alltagslebens darstellen, sondern auch unterschiedlich weit reichende Inszenierungsstrategien anwen- den.10 Generalisiert gesprochen hängt die mit Blick auf diese Angebote bereits früh- zeitig kritisierte Grenzverwischung von Öffentlichkeit und Privatheit bzw. Intimität mit der unterschiedlichen Nutzbarmachung von Strategien der Emo- tionalisierung, Personalisierung, Privatisierung und Intimisierung zusammen. Zum einen mündet diese Entwicklung in verschiedene narrative Formen der Alltagsdramatisierung. Neben dem MTV-Format gehören dazu unzweifelhaft und an zentraler Stelle Fernsehserien und Daily Soaps sowie schließlich die Spielshows, in denen Liebe und Intimität dargestellt und verhandelt werden. Während für diese Formate Aspekte der Fiktionalität und der Inszenierung von Privatheit und Intimität im Vordergrund stehen, fallen die ebenfalls zentralen Formate des Reality TV, der Daily Talks und schließlich der Doku Soaps durch ihren Authentizitätsanspruch auf, der gerade für BIG BROTHER zentral ist. 4. Grundelemente der Real Life Soaps Talkshows und Doku Soaps stellen aber nur einen Moment der neuen Real Life Soap-Entwicklung dar, die sich eher an Vorbildern wie Daily Soaps, Spielshows und Darstellungsformen aus dem Internet orientiert. Mikos et al. (2000) erken- nen in diesen Formaten und insbesondere in BIG BROTHER „eine nach den Dar- stellungsweisen und der Dramaturgie von Soap Operas inszenierte verhaltens- und persönlichkeitsorientierte Spielshow“, die auf einer „Echtzeit-Inszenie- 10 Die Produktion DIE FUSSBROICHS (WDR, seit 1979) wurzelt hingegen im narrativen Doku- mentarfilm und erfährt eigentlich erst in der Rückbetrachtung eine genregeschichtlich nicht ganz korrekte Einordnung als Vorläufersendung der Doku Soap. 80 Udo Göttlich montage/av rung“ mit einem straffen Regelkatalog beruht (Mikos et al. 2000, 28). In diesem Sinne handele es sich um ein „um die Inszenierung von Authentizität bemühtes, auf die Alltagswelt von Zuschauern und Kandidaten Bezug nehmendes Format, das zum performativen Realitätsfernsehen gezählt werden kann“ (ibid.). Bereits Keppler (1994) hat mit dem Begriff des performativen Realitätsfernse- hens nicht nur auf die veränderten Wirklichkeiten des Fernsehens aufmerksam gemacht, wozu sie sich auf die Anfang der neunziger Jahre noch neuen Ange- bote TRAUMHOCHZEIT (RTL, seit 1992), VERZEIH MIR (RTL, 1992–1994), NUR DIE LIEBE ZÄHLT (RTL, 1992–1993) und auf das schon bekannte Format VERSTEHEN SIE SPAß (ARD, seit 1983) bezog. Sie hat zugleich auch Rück- schlüsse auf die Veränderung der gegenwärtigen Wirklichkeit in ihre Betrach- tung mit einbezogen. Dazu gehört vor allem der Umstand, dass die Kandidaten oder Spielpartner als ‚Akteure ihres eigenen Lebens‚ auftreten, worauf Kepplers Ansicht nach der Performativitätsbegriff am nachhaltigsten verweist (vgl. ibid., 7). Für die Produktion entstehen durch die Mitwirkung alltäglicher Personen als Akteure ihres eigenen Lebens vom Casting bis hin zur inszenatorischen und dramaturgischen Umsetzung einschneidende Folgen, die nicht mehr mit einem Zusammenschnitt einzelner Sequenzen wie im Reality TV verglichen bzw. mit diesen Mitteln bewältigt werden können. Das Setting birgt zum Beispiel unkon- trollierbare Situationen und die angezielte Dauer der Ausstrahlung bzw. Auf- zeichnung überfordert jedes inszenatorische Konzept. Die in BIG BROTHER immer wieder eingebrachten Spielsituationen erinnern an Versuche, die Insze- nierung zumindest zu rahmen, und dienen dem Zusammenschnitt der Tageser- eignisse als Materialbasis. Vergleichbares gilt für die Routinesettings, etwa die Gespräche im Besprechungszimmer und die Nominierung. Die für die Produktion ebenfalls zentrale Fragen, ob die Bereitschaft der Kan- didaten, als Akteure des eigenen Lebens aufzutreten, von diesen Formaten bloß aufgegriffen oder erst geschaffen wurde und ob die Akteure nicht in eine Dop- pelrolle aus Selbstbild und Fernsehfigur geraten, berührt wieder die Grenzfläche der Einwirkung des Fernsehens auf das Leben und die Wirklichkeit. Diese Fra- gen zu entscheiden fällt nicht leicht, da Entwicklungen miteinander in Bezie- hung gebracht werden müssen, die auf unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Feldern stattgefunden haben. Antworten auf die Veränderungen gibt es zahlreiche. Mal sind sie moderate- ren, mal deterministischen Charakters. Für die Medien- und Kommunikations- wissenschaft kommen jedoch nur Erklärungen in Betracht, die den kulturellen Ort der Medien und ihrer Produktion in der Gegenwartskultur bestimmen und diesen eingrenzen helfen. Es handelt sich um Fragen der Alltagsdramatisierung, um die Veränderung öffentlicher Kommunikation, kurz den Öffentlichkeits- 10/1/2001 Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung 81 wandel sowie um die Rolle des Kult-Marketing und dem von dieser Entwick- lung ausgehenden Einfluss auf die Produktion. Auch die unterschiedlichen Rollendefinitionen und Zielbestimmungen bei öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlich organisierten Sendern können bei der Stellung und Verbreitung der neuen Formate nicht unberücksichtigt bleiben. Ib Bondebjerg (1996) sieht in der Entwicklung der von ihm als „true- life-story“ bezeichneten Fernsehgenres eine Demokratisierung der mit dem öffentlich-rechtlichen System verbundenen Öffentlichkeitsvorstellung, die vor allem in ihrer Frühphase mit der Formulierung des Bildungs-, Unterhaltungs- und Informationsauftrags patriarchalische Aufgaben beanspruchte und ver- folgte. Diese Beobachtung und Bewertung ist allerdings auf das englische Fern- sehen bezogen. Dort werden die nun als factual television bezeichneten Formate verstärkt auch von der BBC produziert und gesendet. Für Deutschland sind gerade vor dem Hintergrund der dualen Konkurrenz mit ihren anders gelager- ten juristischen und institutionellen Regelungen andere Entwicklungen aus- schlaggebend. Die Verbreitung der neuen Genres geht hierzulande wie bereits seit den Tagen des Reality TV vor allem auf die privatkommerziellen Sender zurück, bei denen es somit auch die längsten Produktionserfahrungen gibt. 5. Reproduktion des Alltags? Verglichen mit den Formaten, die im Kontext der Begriffsbildung „performati- ves Realitätsfernsehen“ bei Keppler oder in Studien von Bente/Fromm (1997), Fromm (1999) und Müller (1999) verhandelt wurden, stellen die neuen Real Life Soaps eine interessante Steigerung der Inszenierungsweise und der dramaturgi- schen Elemente dar. Der Auftritt der unprominenten Akteure ist über den mit der Spielsituation gegebenen Anlass hinaus in ein dramaturgisches Gerüst einge- fügt, das seine Herkunft aus den täglichen Seifenopern weder verleugnen noch verschweigen muss. Was Raymond Williams (1998) bereits im Rückblick auf Entwicklungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in der These des „Dramas in der dramatisierten Gesellschaft“ zum Ausdruck brachte, hat sich nun in einer eigenen, neuen Form als tägliches Programmelement verfestigt. Strategien der Intimisierung, Privatisierung, Personalisierung und Emotiona- lisierung, wie sie bereits in Beziehungsshows, Daily Talks und auf eine eigene Art in den Daily Soaps angelegt sind, werden hier in einer alltagsnahen Form und im Rahmen von Handlungssituationen, die die Bewältigung von Alltags- problemen zum Inhalt haben, zusammengebunden. Das setzt spezifische An- forderungen an das Casting und die Produktion voraus, wobei die Entscheidung 82 Udo Göttlich montage/av über die Geschicke der Kandidaten sogar ein Stück weit in die Hand des Publi- kums gelegt wird. Den inneren Zusammenhang der Real Life Soaps und ihrer Produktion bildet die Darstellung und Inszenierung von Alltag und Alltäglichkeit, und eine Leit- frage betrifft deshalb das Verhältnis der angesprochenen Strategien zur Grenz- verwischung von Öffentlichkeit und Privatheit. Dabei gilt es zu berücksichti- gen, dass nicht nur das Moment des Einblicknehmens auf eine Intimisierung und Privatisierung hinausläuft. Durch den systematischen Entzug von Rück- zugsmöglichkeiten und durch die Dauerbeobachtung werden die Kandidaten unmittelbar in die Situationen hineingezogen. Die Darstellungsweise der All- tagsszenen erhebt einen Anspruch auf Authentizität, während das Verhalten der Kandidaten eher als „authentischer Versuch zu werten [ist], mit einer extremen Situation zurechtzukommen“ (Neumann-Braun/Schmidt 2000, 69) – ein Ver- such, der auf Produzentenseite willkommenes Material für zahlreiche Inszenie- rungsstrategien liefert. Das Skript soll das Leben selber liefern, das dazu in einer Art von Laborsitua- tion zur Schau gestellt wird. Eine solche Laborsituation ist für die Fernsehpro- duktion etwas grundsätzlich Neues, und die Verantwortlichen in den Sendern, die das Format eingekauft hatten, waren sich bei der Implementierung durchaus unsicher. Zum einen mangelte es an Erfahrungen mit dem Publikumszuspruch. Zum anderen entstand eine Wertedebatte, die Einfluss auf die Form genommen hatte, indem sie den Regelkanon, etwa mit der Erzielung einer aufzeichnungs- freien Stunde, mitgeschrieben hatte. Daher sind die Real Life Soaps auch nur vermittelt mit den privaten Websites und Webcams vergleichbar, wenngleich die Real Life Soaps deren Darstellungsformen für ihre Inszenierungszwecke nutzen und fernsehtypisch, d.h. auf die Programmerfordernisse ausgerichtet, radikali- siert haben. Das ansonsten von den Usern selbst zusammengestellte Medien- menü wird hier in eine fertig abrufbare Form gebracht. Die Moderatoren Percy Hoven und Oliver Geisen mit ihren Assistentinnen Sofie Rosentreter und Ale- xandra Bechtel sind sozusagen die Showmaster dieser neuen Spielshows, die den Alltag selbst zum Gegenstand haben. Die Frage der Erreichung von Alltagsnähe hat sich jedoch als die entschei- dende Hürde für die Produktion erwiesen, an der sich dieses Format bei seiner Implementierung zu bewähren hatte. In der ersten Staffel kam BIG BROTHER dabei als ein unterstützendes Moment die Neuartigkeit des Formats zu. Aber bereits die Kandidaten der zweiten Staffel hatten ihr Verhalten ganz auf die Kameras, die Situation und ihr Bild vom Publikum ausgerichtet, so dass die dritte Staffel nur noch mit der stärkeren Herausstellung von Konflikten ver- sucht auf sich aufmerksam zu machen. 10/1/2001 Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung 83 Verbleiben wir daher noch weiter auf der Produktions- und Produktseite und den Regeln des Fernsehgeschäfts, und fragen wir danach, wohin der „Einbruch des Alltags“ in diesen Formaten führt. Die hier auf dem Konzept der Alltagsdra- matisierung aufbauende Deutung führt auf Beziehungs- und Vermittlungsmus- ter, die in ihrem zugrunde gelegten Vermittlungsrahmen zunächst weniger an- spruchsvoll erscheinen als die in den Konzepten der Individualisierung und der Annahme eines Orientierungsverlusts behandelten Fragen. Einige Erklärungen, die auf der Individualisierungstheorie fußen, neigen dazu, entscheidende Ent- wicklungen, die auf die Produktion zurückgehen, unmittelbar mit Orientie- rungsfragen der Individuen in einen Zusammenhang zu stellen. Sie vernachlässi- gen Aspekte der Produktion und ihrer Entwicklungsdynamik, die einen eigen- ständigen Grund für die Verbreitung dramatisierter Erzählformen bieten. Aller- dings müssen die Besonderheiten der jeweiligen Angebote auf diesen Wandel noch genauer bezogen werden. So dürften sich die Rollen fiktionaler Unterhal- tung von den im Internet entstehenden Unterhaltungsangeboten unterscheiden oder die Hybridisierung und Eventisierung der Angebote eine neue, noch wenig analysierte Stufe der Alltagsdramatisierung darstellen. Zentraler ist in diesem Zusammenhang auch die Frage einer Dramatisierung der kommunikativen Beziehungen, die im Prozess der Individualisierung erst die Voraussetzung für die beobachtbaren Entdifferenzierungen liefert und ein Angebot, aber keine notwendige Antwort auf das Orientierungsproblem dar- stellt. Theoretisch auf einem vollkommen anderen Niveau angesiedelt, korres- pondiert diese Beobachtung mit Habermas’ Idee der Entkopplung von System und Lebenswelt und ihren Folgen. Habermas verhandelt eine der nachhaltigsten Konsequenzen für die gesellschaftliche Kommmunikation, die daher rührt, dass die in modernen Gesellschaften entstehenden Bereiche organisationsförmiger und mediengesteuerter Sozialbeziehungen für die identitätsbildenden sozialen Zugehörigkeiten und für die Einübung normenkonformen Handelns nicht mehr zur Verfügung stehen. Daraus leitet sich die Notwendigkeit neuer Bühnen zur Verhandlung dieser in der Lebenswelt nicht eliminierbaren Fragen ab, die aber erst eine Form finden müssen (vgl. Habermas 1981, 231). Warum das im Modus der Dramatisierung von Alltagssituationen geschieht, ist noch nicht beantwortet. Beobachten lässt sich allenfalls, dass in diesen Genres die sozusa- gen an die Peripherie gedrängten Fragen – wenn man hier Habermas weiter folgt – auch in Form einer Fernsehinszenierung von Alltagssituationen wieder in die Lebenswelt eingespeist werden. Diese Überlegung bietet die Möglichkeit zu einem Analogieschluss als Erklä- rung für die Entwicklung. Während sich die bürgerliche Gesellschaft die Ein- übung ihrer Regeln mit Dramen und somit in fiktionaler Form vor Augen 84 Udo Göttlich montage/av stellte, geschieht die Einübung nun anhand konkreter Lebenssituationen bzw. deren inszenatorischen und symbolischen Verdichtung. Das Leben selbst wird als Ernstfall auf die Bühne gestellt, wodurch Fragen zu den eigentlich als einge- spielt gedachten Verhaltensweisen und Normen entstehen. Im „dramaturgi- schen Handeln“ der Kandidaten werden uns die Verhaltensweisen und Normen als Grenzüberschreitungen vorgeführt und nehmen dabei sogar einen „beson- deren Platz in den kommerziell organisierten Träumen der Nation“ ein (Goff- man 1968, 31).11 Insofern stellt BIG BROTHER einen weiteren Modellfall in einer Kette von Grenzverschiebungen seit den Tagen des Reality TV dar. Es zeigt sich, dass die jetzt geäußerten Fragen nach der Entgrenzung der Intimität nicht nur einer dringlichen Beantwortung bedürfen, sondern auch für neue Zusammenhänge gelten müssen. Das Kult-Marketing und die Inszenierung von Events hält dazu auf der Produktionsseite Bühnen bereit, auf denen man auch die Ressourcen heranzüchtet, die für die Weiterexistenz der Programme im engeren und das Unterhaltungsbusiness im weiteren Sinne gebraucht werden. Geht man vor dem Hintergrund dieser Einordnung auf Motivsuche bei den Sendern, vor allem aber bei der Produktionsfirma Endemol, die BIG BROTHER auf unterschiedlichen europäischen Medienmärkten mit Erfolg verkauft hat, so scheint die Besonderheit zunächst in der „Nutzbarmachung“ der Ressource „Alltagsmensch“ zu liegen. Auf diese Ressource greifen nämlich die meisten Endemolformate zurück, wenn sie Kandidaten für unterschiedliche Spielanlässe nutzen und dazu auf unterschiedlichen Bühnen plazieren. Mediengeschichtlich, genauer fernsehgeschichtlich beinhaltet dieser Umstand eine neue Erfahrung, wozu der Umgang mit dem Alltag und seiner Inszenierung in BIG BROTHER z.B. unter der Maxime „back to the basics“ steht. Die Kandi- daten sollen, nicht zuletzt aus produktionsökonomischen Erwägungen, den Alltag mit sowenig Komfort wie möglich bestreiten. Diese Rahmenbedingung dient nicht zuletzt einer Inszenierung von Alltagsrealität, hier verstanden als Nähe zu alltäglichen Handlungs- und Verhaltenssets mit einem spezifischen Bias auf Kontaktaufnahme und -pflege bis hin zur Beziehungsarbeit. Soziolo- gisch stellt diese Inszenierung eine höchst spannende Form dar, da die Regeln und Sets sowohl des schlichten Sich-Verhaltens wie auch der Handlung als 11 Goffman spielt noch auf die Rolle von Schauspielern und Sportlern als Idole an. Seit BIG BRO- THER hat man sich aber mit den Selbstdarstellungen von „gewöhnlichen“ Menschen und nicht mehr mit Prominenten und ihren als legitim und normal geltenden Marotten auseinanderzuset- zen. 10/1/2001 Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung 85 sozialem Handeln aktiviert und dem Zuschauer, fernsehgerecht aufbereitet, dar- geboten werden. Auf diese Herausforderung hat die Sendung GIRLS CAMP (SAT. 1) scheinbar mit einem gegenteiligen Konzept reagiert. Acht Frauen leben nicht nur luxuriös auf einer Ferieninsel unter angenehmen klimatischen Bedingungen, sie können auch zur Unterhaltung männliche Gäste auswählen. Mit der Ausrichtung auf Beziehungsarbeit und Beziehungsprobleme ist der dramaturgische Kanon der Sendung jedoch erheblich darauf eingeschränkt mitzuteilen, wer bei wem reüs- siert oder eben nicht reüssiert, was zu einer beständigen Reflektion des Impres- sion Management der Kandidatinnen und Kandidaten vor laufender Kamera führt. Kurz, in beiden Formaten kommt es zu einem Einbruch von besonders gerahmten Alltagsausschnitten in den Alltag des Publikums. 6. Die Eventisierung der Fernsehproduktion Als eine Erklärungsmöglichkeit für die bislang geschilderten Prozesse, die alle bei einer Veränderung der Fernsehproduktion ansetzen, greift erneut die Rolle des Kult-Marketing, das mittlerweile einen maßgeblichen Einflussfaktor auf die Fernsehproduktion darstellt. Das Phänomen besteht dabei nicht allein im bereits für Soaps charakteristischen Einsatz von sendebegleitenden Maßnahmen bis hin zur Durchführung spezieller Events, vielmehr werden jugendkulturelle Szenen nicht nur zum Ziel sondern selbst zum Ausgangspunkt der Inszenie- rung. Während fiktionale Produkte diese Mitinszenierung durch die Zurschau- stellung von Lifestyle-Attributen, Moden, Marken und Musik leisten, bietet BIG BROTHER eine eigenständige Bühne, auf der die verschiedenen Kanditaten ihre Szenezugehörigkeiten und Lifestyleorientierungen einbringen und in Spiel- situationen ausagieren können. Für die Zuschauer eröffnet sich die Möglichkeit zur emotionalen Bindung an die Sendung und ihre Kandidaten. Die sich ausbil- denden unterschiedlichen Event-Gemeinschaften fungieren nach Herbert Wil- lems als „Spiegel“ [...] der Selbstinszenierungen, die die Dramatisierung von Indi- vidualität und Distinktion als symbolische bzw. „ästhetische“ Gestaltung der und in der Gemeinschaft bezwecken. Die Event-Gemeinschaft schafft – mit Rückwirkungen auf Selbstbild und Identität – eine Bühne, auf der das Individuum Qualitäten demonstrieren und erzeugen kann, die in anderen (System-)Kontexten nicht interessieren oder deren „Entfaltung“ stören würde: Qualitäten des Körpers, des „Charakters“, der Geschlecht- 86 Udo Göttlich montage/av lichkeit, der Phantasie u.s.w. So kann jede „graue System-Maus“ vor anderen dramatisches Format gewinnen und sich selbst als jemand mit solchem Format erleben, z. B. als Held oder Virtuose (Willems 2000, 55). Diese Entwicklung verweist auf den Kern eines medientheoretischen Problems, das sich aus dem Umstand ergibt, dass die Alltagswahrnehmung unmittelbar mit Medienwahrnehmung verknüpft ist, ja, dass die Dramatisierung des Alltagsle- bens und die Präsentation von Dramen über den Alltag zentrale Merkmale der Fernsehkultur darstellen. Der Art und Weise der Alltagspräsentation in den Serien, Serials und factual-entertainment-Programme sind dabei Hinweise zur Funktion und Rolle dieser Genre zu entnehmen, die eben nicht einen neutralen Alltag zeigen, sondern mit Werbestrategien, Szenen und Events eng verbunden sind. Für die aktuellen Ausprägungen des Kult-Marketing und der Bindungswir- kung der sich in ihrem Umfeld ausbildenden Event-Gemeinschaften stehen in erster Linie die Pop(-musik)karrieren der Ex-Bewohner aus BIG BROTHER. So hatte Zlatko binnen weniger Wochen zwei Singles in den Charts und war mit dem Ex-Containerbewohner Jürgen an Songs beteiligt. Die Merchandisingpro- dukte zur Sendung sind inzwischen nahezu überall präsent. Ein Fanmagazin ist verlegt worden, und die öffentlichen Auftritte der ehemaligen Akteure auf ganz unterschiedlichen Events und Veranstaltungen nehmen kein Ende.12 Schließlich muss die Berichterstattung der Boulevardmagazine als einem zentralen Be- schleuniger des Kults um BIG BROTHER genannt werden. Nach Zlatkos diver- sen Bekenntnissen zur fehlenden Allgemeinbildung sowie seiner als skurril aus- stellbaren Lebenseinstellung13 waren es eine Zeit lang die Beziehung zwischen Alex und Jenny Elvers, die dem Publikum in allen erdenklichen Facetten vorge- führt wurde, sowie anschließend die Beziehung von Karim und Daniela, die durch RTL-Boulevardmagazine noch nach deren freiwilligem Ausscheiden aus der Sendung beobachtet und zu weiteren Inszenierungen ihres Lebens angehal- ten wurden. Vergleichbares geschieht mit Jürgen und Alex aus der ersten Staffel und Harry aus der zweiten Staffel, deren von RTL arrangierte und finanzierte Urlaubstrips im Sinne des factual entertainment als Reise- oder Szenenberichte 12 Die Herausgabe des Fanmagazins orientiert sich nicht zufällig an der erfolgreichen Vermark- tungsstrategie der deutschen Daily Soaps – insbesondere an der von GUTE ZEITEN, SCHLECHTE ZEITEN, vgl. dazu Göttlich/Nieland 1998a. 13 Endemol Entertainment/RTL2 haben mit BIG BROTHER – ZLATKO THE BRAIN. Seine besten Sprüche (2000) Zlatkos vorgeblich wichtigsten und interessantesten Äußerungen in Buchform für die Nachwelt festgehalten. 10/1/2001 Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung 87 versendet werden. Und auch die Verbindung mit den Daily Soaps wird auf besondere Art evident. Der Container-Bewohner „Walter“ aus der zweiten BIG BROTHER-Staffel spielt in MARIENHOF in einer Gastrolle einen Radiomodera- tor. Mit dieser Entwicklung gelangen wir an einen Punkt, der sich als der entschei- dende Effekt darstellen wird, an dem sich nicht nur die Fernsehentwicklung zukünftig orientieren wird, sondern der auch eine Steigerung der bereits im Umfeld der Daily Soaps entwickelten Marketingstrategien als Basis der Fern- sehproduktion darstellt. Es handelt sich um die bereits angesprochene „Eventi- sierung“ der Alltagskommunikation mit entsprechenden im Fernsehen geschaf- fenen und vom Fernsehen ausgehenden Ereignissen, die eine entscheidende Ver- änderung der öffentlichen Rolle und Bedeutung des Mediums darstellen. Der Begriff der Eventisierung bezeichnet hierbei zum einen die oben bereits ange- sprochene Veralltäglichung außeralltäglicher Ereignisse – diese müssen meistens erst geschaffen werden – und steht zum anderen für die damit erreichte Multipli- zierung der Angebotspalette, die von einem Format ausgehend in unterschiedli- che Produktionen ausstrahlt. Zwar stehen Events in einer „sich verlängernden Reihe außeralltäglicher Sozialräume, in denen Gegenalltägliches praktiziert wird“ (Willems 2000, 68), wobei die Massenmedien als Verstärker fungieren, dennoch ist die Rückbindung in den Alltag heute nicht mehr an bestimmte Anlässe, Daten oder Termine gebunden, sondern geschieht beinahe unter- schiedslos zu jeder möglichen Stunde. 7. Ausblick Der Beitrag hat unterschiedliche Beobachtungen zusammengetragen, die unter der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Kommunikationsforschung den Zusammenhang von medialer Produktion und kultureller sowie gesellschaftli- cher Reproduktion betreffen. Dazu wurde auf ein theoretisches Modell rekur- riert, das in seinen Wurzeln auf die Cultural Studies und materialistische Pro- duktions- und Reproduktionstheorien zurückgeht. Die abschließende These ist, dass die Aspekte der Alltagsdramatisierung Momente der Selbstauslegung der Kultur der Spätmoderne bieten, wobei die Individuen sich unter dem Inszenie- rungszwang nicht selbst entwerfen, sondern zwischen den Lücken, die die Pro- duktion noch lässt, Blicke auf die authentische Auseinandersetzung mit der außeralltäglichen Situation möglich sind. Deutlich wurde dieses Phänomen in der ersten Staffel von BIG BROTHER, als die Kandidaten mit den zum Teil hefti- gen Reaktionen, die über die Besucher am Container zu ihnen drangen, fertig 88 Udo Göttlich montage/av werden mussten. Es ist absehbar, dass auch diese Lücken mit der voranschrei- tenden Beherrschung dieser Situationen durch die Veränderung und Verschär- fung der Spielregeln eingehegt und inszenatorisch beherrscht werden. Indem die neuen, vormals unprominenten Personen als Stars in neuen Sendungen auftre- ten, die der Strategie der Eventisierung des Programmangebots folgen, sind erste Entwicklungslinien vorgezeichnet. Die Frage der Reproduktion des Alltags, die in der Medien- und Kommunika- tionswissenschaft mit Blick auf das Modell des Fernsehens als einem kulturellen Forum oder auch mit Blick auf Orientierungs- und Identifikationsfragen behan- delt wird, kann durch eine genaue Analyse der in den Genres geleisteten unter- schiedlichen Formen der Alltagsdramatisierung und ihrer Rolle in der Alltags- kommunikation vertieft werden. Durch die angesprochene Hybridisierung der Formate werden Entwicklungen zu untersuchen sein, die den Imperativen der Reproduktion des kommerziellen Systems folgen. Die Formen der Alltagsdra- matisierung in den neuen Unterhaltungsgenres folgen aber auch eigenen forma- len Prinzipien, die sich nicht umstandslos als symbolische Verdichtungen im Sinne einer Widerspiegelung des Alltags von Alltagsmenschen interpretieren lassen. Die Frage der Reproduktion des Alltags hat sich an die im Kreislaufmo- dell dargestellten Wechselwirkungen anzunähern und diese analytisch zu ver- folgen. Der vorliegende Beitrag konnte auf die Produktion bezogene Aus- schnitte dieser umfassenden Entwicklung thematisieren und ihr Einmünden in die Eventisierung als einen aktuellen Aspekt der Alltagsdramatisierung fassen. Literatur Bente, Gary/Fromm, Bettina (1997) Affektfernsehen. Motive, Angebotsweisen und Wirkungen. Schriftenreihe Medienforschung der LfR. Bd.23. Opladen: Leske + Budrich. Bondebjerg, Ib (1996) Public Discourse/Private Fascination: Hybridisation in „True-Life-Story“ Genres. In: Media, Culture and Society, 18,1, S. 27–45. 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Dülfer 1982; Madauss 1994), bisher erst in geringem Umfang erforscht. Und was für die Koordination von Projek- ten allgemein gilt, trifft umso mehr für die Koordination von Projektnetzwer- ken zu (Sydow/Windeler 1999). Interessiert man sich für die Frage der Steuerung projektbasierter Produktion in Unternehmungsnetzwerken, dann eignet sich die Fernsehindustrie in beson- derem Maße. Schließlich handelt es sich nicht nur um eine sehr dynamische Industrie, in der die Produktion von Content überwiegend in unternehmungs- übergreifenden Netzwerken erfolgt. Sie befindet sich auch in einem grundlegen- den Umbruchprozess: Etablierte Praktiken werden im Zuge des technischen Wandels (Stichwort: Digitalisierung) in Frage gestellt, neue Formate entwickelt (zum Beispiel täglich gesendete fiktionale Serien und Wissenschaftsmagazine), was zu einem Vordringen neuer Unternehmungen auf die Medienmärkte führt, und nicht zuletzt steigert sich auch durch die Internationalisierung des Ge- schäfts die Konkurrenz in einem vorher ungekanntem Maße. Die Steuerung projektbasierter Produktion in Unternehmungsnetzwerken lässt sich in der Fernsehindustrie besonders gut anhand der Produktion von Fernsehserien untersuchen. Fernsehsender weisen Fernsehserien wegen ihrer profilbildenden Bedeutung eine hohe strategische Bedeutung zu, da Profilie- 1 Bei diesem Aufsatz handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung eines Textes, der zunächst erschienen ist in Steuerung von Netzwerken. Hrsg. v. Jörg Sydow & Arnold Windeler. Opladen, 2000, S. 178–205. Wir danken Autoren und Verlag für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck. 92 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av rung für sie eine Schlüsselrolle beim Kampf um Zuschauer und Werbegelder im hart umkämpften und fragmentierten deutschen TV-Markt spielt. Fernsehse- rien sind daher lukrative, gleichzeitig aber auch hoch risikoreiche Produkte und stellen damit (schon traditionell) besonders hohe Anforderungen an die Koordi- nation der Produktion. Höchst lukrative Produkte sind sie, da mit ihnen in der werberelevanten Zeit (Publikumsakzeptanz von für die Werbeindustrie interes- santen Zuschauergruppen unterstellt) beträchtliche Erlöse erzielt werden kön- nen. Das gilt trotz erheblicher Kosten, die sich bei einer durchschnittlichen Vor- abendserie der ARD wie PRAXIS BÜLOWBOGEN auf DM 16–20.000 pro Pro- grammminute belaufen (Heimlich/Thomsen 1994). RTL erwirtschaftete bei- spielsweise mit der Soap GUTE ZEITEN, SCHLECHTE ZEITEN 1997 einen De- ckungsbeitrag von DM 160 Mio.; das entspricht in etwa zwei Drittel des gesam- ten Jahresgewinns dieser Unternehmung (Jakobs 1999).2 Der Risikogehalt von Fernsehserien rührt für Produzenten daher, dass sie durchschnittlich von zehn Sendern angebotenen Serienprojekten lediglich für eins einen Produktionsauf- trag erhalten. Für Sender besteht das Risiko darin, dass nur wenige der ausge- strahlten Serien den Erfolg erzielen, den sie sich von ihnen erwarten. Mangels Zuspruch werden viele Serien daher nach der Ausstrahlung einer ersten Staffel von 13 Folgen abgesetzt. Wie die Produktion von Fernsehserien gesteuert werden kann, ist daher für Sender und Produzenten strategisch bedeutsam. Auf der Grundlage, dass Fern- sehserien heute vornehmlich arbeitsteilig von mehreren Unternehmungen in Projekten produziert werden, lautet unsere These: Die Produktion von Fern- sehserien wird insbesondere über die Auswahl der Projektteilnehmer gesteuert.3 Wir fragen daher: Nach welchen Kriterien wählen Sender und Produzenten sich wechselseitig aus? Und: Inwiefern bzw. inwieweit steuern sie darüber die unter- nehmungsübergreifende projektbasierte Produktion? Den Aspekt der Steue- rung durch Selektion in Projektnetzwerken stellen wir daher in den Mittelpunkt 2 Ähnliches gilt auch für die öffentlich-rechtlichen Sender, die zusätzlich zu den Gebühren- einnahmen DM 915 Mio. Werbeerlöse vor allem durch die Ausstrahlung und Vermarktung von Serien erzielen (Stuttgarter Zeitung vom 25. Juni 1999, 16). 3 Die empirischen Befunde beruhen auf (bislang) 50 leitfadengestützten Interviews mit relevanten Akteuren aus der Fernsehindustrie. Im Zentrum stehen Interviews mit Produzenten bzw. Pro- duktionsfirmen sowie Redakteuren öffentlich-rechtlicher und privater Fernsehsender. Nur bei wörtlichen Zitaten verweisen wir explizit auf diese Interviews. Wir danken der Deutschen For- schungsgemeinschaft (DFG) für die finanzielle Förderung des Projekts (No. Sy 32/2–1), den Teilnehmern des Workshops „Medienmanagement“ im Mai 1999 an der Freien Universität Berlin für die kritische Diskussion unseres Vortrags und Jörg Sydow für seine Unterstützung bei der Ausarbeitung dieses Aufsatzes. 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 93 unserer nachfolgenden Erörterungen. Wir konzentrieren uns in der Darstellung auf die Praktiken der Selektion von Sendern und Produzenten, da sie in Projekt- netzwerken der Produktion von Fernsehserien die Akteure sind, die den größ- ten Einfluss auf deren Gestalt haben. Steht bei der Diskussion um Steuerung innerhalb von Unternehmungen der- zeit die Schaffung und Nutzung von Flexibilitätspotenzialen (z. B. durch Reen- gineering, lernende Organisation) im Zentrum, stellt sich das Problem für die Steuerung von Projektnetzwerken in der Fernsehindustrie genau entgegenge- setzt: Wie kann trotz hoher Offenheit und Flüchtigkeit der Beziehungen zwi- schen den Akteuren unternehmungsübergreifend eine proaktive, stabile Zusam- menarbeit gewährleistet und geregelt werden? Die Selektion von Unterneh- mungen spielt, so unsere These, eine ausschlaggebende Rolle. Selektion von Un- ternehmungen ist in allen Unternehmungsnetzwerken eine grundlegende Ma- nagementaufgabe (Sydow/Windeler 1994). In Projektnetzwerken (mit dem für sie charakteristischen Spannungsverhältnis von Fragilität und Stabilität) bildet die fortlaufende Selektion von Geschäftspartnern – und damit auch von Ge- schäftsbeziehungen – ein eher noch kritischeres Moment intelligenter Steue- rung. Das gilt vor allem in der Fernsehindustrie, in der Projekte unter Zuhilfen- ahme eines in dieser Branche eher weniger denn mehr ausgefeilten Management- instrumentariums geplant, realisiert und kontrolliert werden. Im einzelnen will dieser Beitrag erstens, indem er die Kriterien wechselseitiger Selektion von Sendern und Produzenten herausarbeitet, am Beispiel der Fern- sehindustrie ein Verständnis für die in den Praktiken der Selektion in projektba- sierten, netzwerkförmig strukturierten Industrien oft nur mitlaufenden Orien- tierungen vermitteln. Zweitens will dieser Aufsatz, indem er die Praktiken der Selektion in den Mittelpunkt rückt, zu einem (sozial-)theoretisch fundierten Verständnis der Steuerung ökonomischer Aktivitäten zwischen Unternehmun- gen in zugleich projektorientierten und netzwerkbasierten – und hier deshalb als Projektnetzwerk bezeichneten – Formen der Koordination beitragen und eine organisations- bzw. netzwerktheoretische Entwicklungsperspektive auf die in der Literatur bislang kaum theoretisch fundierte Frage der Steuerung von Pro- jektnetzwerken eröffnen. Zunächst führen wir die Begriffe des Projekts und des Projektnetzwerks sowie die sie charakterisierenden Aufgabenstellungen und Steuerungsanforde- rungen mit Bezugnahme auf die Fernsehindustrie ein. Dann stellen wir unser Verständnis von Netzwerksteuerung vor, und illustrieren am Beispiel der Fern- sehindustrie die von Sendern und Produzenten verwendeten Kriterien der Selektion. Wir diskutieren die Selektionspraktiken in ihrer Bedeutung für die Steuerung von Projektnetzwerken, und widmen uns abschließend Ansatzpunk- 94 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av ten zur Fortentwicklung einer reflexiven Netzwerksteuerung in Projektnetz- werken in sich sehr dynamisch wandelnden Umwelten. Produktion von Fernsehserien in Projektnetzwerken Aufgrund der geringen vertikalen Integration der Fernsehindustrie – zumindest wenn man sie mit dem traditionellen Studio-System Hollywoods vergleicht (Storper/Christopherson 1987) – und aufgrund des projektbasierten Charakters der Produktion werden Programminhalte wie Fernsehserien heute in der Regel in „überbetrieblichen Projekten“ (Korbmacher 1991) unter der Beteiligung von Sendern, Produzenten, Autoren, Regisseuren und technischen Mediendienst- leistern (z.B. Studiotechnik) sowie künstlerischen Mediendienstleistern (z.B. Kameraleute) realisiert (s. Abb. 1).4 Die an der Produktion von Fernsehserien beteiligten Akteure koordinieren ihre unternehmungsübergreifende Zusam- menarbeit netzwerkförmig. Wegen des projekt- und zugleich netzwerkförmi- gen Charakters der Zusammenarbeit handelt es sich um einen besonderen Typ von Unternehmungsnetzwerk, das Projektnetzwerk.5 Unternehmungsnetzwerke setzen sich vornehmlich aus Geschäftsbeziehun- gen und -interaktionen mehrerer Unternehmungen zusammen, die diese domi- nant im Hinblick auf den dauerhaften Beziehungszusammenhang zwischen den Unternehmungen koordinieren, ohne dabei ihren Status als rechtlich selbstän- dige Unternehmungen aufzugeben (Windeler 2001). Projektnetzwerke bestehen aus zeitlich befristeten, auf Projekte bezogenen Geschäftsbeziehungen und -interaktionen, die am Projekt beteiligte Unterneh- mungen projektbezogen und projektübergreifend netzwerkförmig miteinander koordinieren. Akteure koordinieren in Projekt-Netzwerken also ihre jeweiligen Projektaktivitäten unter Rückgriff auf Praktiken und Geschäftsbeziehungen aus vorhergehenden Projekten und gestalten sie unter Einbezug der mit ihnen im Beziehungszusammenhang gemachten Erfahrungen sowie der an dessen Fort- entwicklung geknüpften Erwartungen. In dem rekursiven Zusammenspiel pro- jektbezogener und projektübergreifender Koordination liegt die entscheidende 4 Als Projekt wird in dieser Branche eine Anthologie, eine (typischerweise zunächst 13-teilige) Fernsehserie oder langlaufende Serien wie Weekly oder gar Daily Soaps angesehen. 5 Ein Teil der Akteure in Projektnetzwerken, insbesondere technische und künstlerische Medien- dienstleister, changiert zwischen selbständiger Arbeit als Unternehmer oder Freiberufler und abhängiger Beschäftigung. 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 95 Abb. 1 Netzwerk der an der projektbasierten Produktion von Fernsehserien beteiligten Akteure Ursache dafür, dass es sich bei Projektnetzwerken um mehr als bloß „temporary systems“ handelt (Goodman 1981, vgl. Sydow/Windeler 1999). Dass wir in der Fernsehindustrie auf Unternehmungsnetzwerke, genauer auf Projektnetzwerke, stoßen, verwundert nicht. Das Fernsehen, und zwar nicht nur das private, ist auf der einen Seite auf dauernde Programminnovationen angewiesen, um die Zuschauer vor dem Bildschirm zu halten. Unternehmungs- netzwerke gelten auf der anderen Seite als innovationsfördernd und, ob ihrer Flexibilität, als geeignet für den Wettbewerb auf dynamischen Märkten, in denen es sowohl auf die Anwendung neuer Technologien als auch auf die Ent- wicklung neuer Produkte bzw. Leistungen ankommt (vgl. Miles/Snow 1986; 1992). Die Form des Projektnetzwerks scheint in der Fernsehindustrie beson- ders passend: Sie erlaubt einerseits die im Bereich fiktionaler Serien erforderliche Innovation durch einen gewissen Wechsel der Kooperationspartner – etwa durch den Einbezug wechselnder Autoren, die neue Folgen für die Serien schreiben; Projektnetzwerke gestatten andererseits gleichzeitig, bei der Produk- tion quasi ad hoc – selbst in Projekten von wenigen Tagen Dauer – wieder an Praktiken und Erfahrungen aus früheren Projekten anzuschließen. Getragen werden die für Projektnetzwerke typischen Möglichkeiten des Anschlusses von Projektpraktiken aneinander durch miteinander verträgliche Sicht-, Legitima- tions- und Handlungsweisen. Sie betreffen insbesondere qualitative Vorstellun- 96 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av gen über (gerade im Bereich der Produktion von Programminhalten für das Fernsehen zuweilen nur recht rudimentär vorab festgelegte Realisierungen von) Contents, über die für deren Produktion notwendige arbeitsteilige Organisation der Praktiken und über die inhaltlichen sowie manageriellen Anforderungen auf vor- und nachgelagerten Produktions-stufen. Die Produktion wird wegen dem engen finanziellen und zeitlichen Rahmen der Projektbudgetierung in vielerlei Hinsicht erst durch das Zusammenspiel der projektbezogenen und -übergrei- fenden Praktiken ermöglicht. Die Feststellung, dass Programminhalte in der Fernsehindustrie in Projekt- netzwerken produziert werden, ist international betrachtet kein neuer Befund (vgl. Jones/Walsh 1997; DeFillippi/Arthur 1998). In der deutschen Fernsehin- dustrie ist das anders. Die Durchsetzung von Projektnetzwerken geschah erst Ende der achtziger Jahre. Die privaten Fernsehsender gingen (nach ihrer Zulas- sung Mitte der achtziger Jahre) in Deutschland erst aufgrund stagnierender oder sogar leicht rückläufiger Einschaltquoten von dem marktlichen Zukauf zumeist US-amerikanischer Serien verstärkt dazu über, entweder konzerneigene Toch- terfirmen oder unabhängige Produzenten mit der Produktion von Programmin- halten bzw. Content zu beauftragen. Die Produzenten (einschließlich der kon- zerneigenen Produktionsfirmen) übertrugen wiederum fortlaufend Funktionen auf andere Mediendienstleister (z. B. auf Location Scouts, Casting Agenturen, Technikdienstleister, Studiobetriebe, Unternehmungen für Special Effects und Post Production). Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, vor allem die in der ARD zusammengeschlossenen Sender, begannen mit dem Aufkommen des pri- vaten Fernsehens ebenfalls verstärkt damit, die Produktion von Programm aus- zulagern und in Projektnetzwerken zu koordinieren. Sie behalten gleichwohl, nicht zuletzt aufgrund ihres öffentlich-rechtlichen Auftrags, bis heute einen größeren Teil der Produktion als die Privaten „inhouse“ (insbesondere im Be- reich Information).6 Selektion geeigneter Akteure ist in der Fernsehindustrie eine vielschichtige, voraussetzungsreiche, arbeitsintensive und kontinuierliche Aufgabenstellung: Der Produzent ist immer auf der Suche: [...] Bei der Stoffsuche hilft mir zweierlei, was am Ende eins ist: Erfahrung und Nase. [...] Ein Produzent muss, wenn er einen Stoff gerochen hat, sofort eine sehr genaue Vorstel- lung davon haben, wer ihm diesen Stoff inszenieren soll und wer dabei die Hauptrolle spielen soll. Ich muss [...] es regelrecht sehen können, wie das 6 Ein Überblick über die Outsourcing-Diskussion im Bereich des öffentlich-rechtlichen Fern- sehens findet sich in Media Perspektiven, Nr. 1, 1999. 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 97 Produkt aussieht, wenn es mir der oder die Regisseurin macht mit dem oder der Schauspielerin. [...] Dabei hilft mir natürlich, wenn ich weiß, wer derzeit wofür die geeignete Besetzung ist. Aber woher weiß ich das? Man muss Schauspieler kennen und sich nicht dem Regisseur ausliefern, der natürlich auch welche kennt, aber vielleicht nur solche, die meiner Vor- stellung nicht entsprechen. Ich muss auch Regisseure kennen. [...] Ich muss auch Kameraleute kennen, nicht nur, um zu wissen, wer schnell oder langsam arbeitet, sondern weil es auf die Qualität der Bilder am Ende ent- scheidend ankommt. Das aber heißt: Wann immer ich Zeit habe, schaue ich mir alles an, was immer es zu sehen gibt: Fernsehen aktuell, Video-Kassetten, Filme im Kino. Ich habe die komplette Presse auf dem Tisch, die Quoten der Sender sehe ich mir täglich an. Ich muss wissen, welches Stück auf welchem Platz welche Quote hat. [...] Ich treffe mich fortgesetzt mit Leuten (Ziegler 1999, 6 f.). Von Bedeutung sind neben den Stars, den Regisseuren, Kameraleuten und Schauspielern aber auch die Handwerker: Ich kann handwerkliche Schwächen nur schwer ertragen. Ein schlechter Ton verdirbt den ganzen Film. Also suche ich mir Handwerker, die ihr Handwerk beherrschen. Für alle Departments. Für den Ton, das Licht, das Kostüm, den Bau usw. Davon gibt es in Deutschland gegenwärtig nicht genug auf der obersten Ebene. [...] Wir alle haben unsere Notizbü- cher. Und wir brauchen, weil das Produzieren nicht nach Schema F ver- läuft, immer auch einen zweiten oder dritten Namen. Und das dürfen keine Ersatzleute sein. Aber was wir vor allem brauchen ist der oder die, die das jetzt in die Hand nehmen: den Producer, den eben, der es konkret machen muss und der dazu wieder seine Leute hat (ibid., 7). Gepflegt sein wollen aber auch die Beziehungen zu Sendern, Verleihern, PR-Experten usw.: Kaum ein Produkt entsteht ohne Fernsehgeld. Also muss ich sie kennen, die dieses Geld verteilen, die auf diesem Markt kaufen: die Redakteure der Häuser, die von heute und am besten auch die von morgen. Es herrscht da ein starkes Kommen und Gehen. Ich muss ihre Vorlieben kennen, mit welchem Regisseur sie sich schmücken wollen und mit welchem Star, auch: welche Stoffe sie nicht mögen. Worauf sie stehen. Und wie ich ihnen widerstehen kann. Ich muss auch die Verleiher kennen, [...]. Ich muss die PR Experten kennen, die meinen Film raufschreiben können oder runter- schreiben lassen (ibid., 9 f.). 98 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av Das koordinierte Zusammenspiel projektbezogener und -übergreifender Praktiken und Beziehungen ist in Projektnetzwerken nicht einfach gegeben; es muss vielmehr immer wieder neu unter der Bedingung hergestellt werden, dass jeweils eine Vielzahl der Beziehungen jeweils nur latent sind und andere, neue Geschäftsbeziehungen hinzutreten. Wegen der hochgradig unsicheren Reso- nanz beim Publikum schließt in der Fernsehindustrie im Regelfall ein Projekt zumindest nicht direkt an ein anderes an, folgt auf den Auftrag zur Erstellung einer Staffel von 13 Folgen einer Serie nicht direkt der Anschlussauftrag. Der Handlungshorizont der Akteure ist daher auf das jeweilige Projekt bezogen. Das macht den Anschluss an projektübergreifende Zusammenhänge in Projek- ten nicht nur alles andere als selbstverständlich, sondern auch zu einem sensib- len Datum der Koordination der Projektarbeit wie der Reproduktion von Pro- jektnetzwerken. Sender wie Produzenten legen über ihre Selektionspraktiken den Grundstein dafür, dass Akteure in Projekten an projektübergreifende Zusammenhänge anschließen können. Dass der Anschluss an Praktiken frühe- rer Projekte gelingen kann, liegt ferner an einer gewissen Qualität der Latenz der Beziehungen. Die Frage ist daher: Wie wird sie sichergestellt? Eine Vielzahl zumeist öffentlicher Branchentreffs besitzt in der Fernsehindust- rie eine hohe Bedeutung für die Qualität der Latenz der Beziehungen. Was auf den ersten Blick und von außen betrachtet lediglich einen eher informellen Cha- rakter besitzt, erweist sich im zweiten Blick und insbesondere für Insider als unausweichliches Moment des Geschäfts: Man trifft andere Produzenten, Redakteure und Sender auf Parties, bei Filmfestivals und Premierenfeiern. Dort wird die Produzenten- und Sen- derpflege eigentlich betrieben. Das ist einfach Kontaktpflege. Wenn man nicht gerade eine Serie zusammen macht, sieht man sich ja nicht. Wenn der Sender auch nicht gerade ein großes Projekt plant, erübrigt sich ein größe- rer Kontakt. Das ist eine große Aufgabe zu gucken, wo gibt es neue Ideen auf dem Produzentenmarkt, oder wer hat gerade keine Zeit, weil er fünf Movies anschiebt usw. Jeder Redakteur und Abteilungsleiter handhabt diese Pflege etwas anders oder misst ihr eine unterschiedliche Bedeutung bei. Ich halte diese Pflege jedenfalls für sehr wichtig (Redakteur 4). Auch wenn jeder Sendervertreter sowie Produzent die Pflege der Beziehungen ein wenig anders handhabt als der andere und ihr unterschiedliche Bedeutung zu- weist: Sie pflegen ihre Geschäftsbeziehungen über persönliche Kontakte und über Branchentreffs. Ihren Praktiken unterliegt zudem als Maxime: Unterhalte syste- matisch, gemessen an den faktisch über einen bestimmten Zeitraum real genutzten Geschäftsbeziehungen, immer einen gewissen Überschuss an Beziehungen. 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 99 Diese Maxime der Beziehungspflege reflektiert, dass in hochdynamischen, projektbasierten Industrien jeweils unsicher ist, welche konkreten Projekte in Zukunft gemacht werden und welche Geschäftsbeziehungen wichtig sind. Da scheint es durchaus rational, Beziehungen zu potenziell relevanten Akteuren auch in Zeiten zu aktualisieren, in denen man keine gemeinsamen Projekte macht – und indem das in dieser Art und Weise erfolgt, bilden Akteure wechsel- seitig entsprechende Erwartungen aus, dass das geschieht. Oft umfasst die Pflege den Austausch von Meinungen über einzelne Projekte, zum Branchengeschehen und zu strategischen Absichten, das Aufmerksammachen auf neue Talente – was Berichte über Aktivitäten anderer, die man aus gemeinsamen Projekten kennt, einschließt. Hierüber stellen Akteure zumindest eine Mindestqualität der Bezie- hungen wie der Reflexion auf den (unter Umständen zu verändernden) Zusam- menhang zwischen den Akteuren in Projektnetzwerken sicher. Gute Geschäfts- beziehungen und eine gezielte Betrachtung der Netzwerkzusammenhänge ver- langen weitere Anstrengungen. Zudem ist zu erwarten: Auch wenn Akquise nicht direkt die Intention für die Teilnahme an Branchentreffs und persönliche Kontakte für die Akteure ist: Viele Projekte dürften nicht unwesentlich über gemeinsame Gespräche auf diesen Treffen angebahnt worden sein oder ihren Ursprung dort finden. Ähnliches dürfte auch für die Selektion von Autoren, Schauspielern usw. für Projekte respektive Projektnetzwerke (und damit für deren Weiterentwicklung) gelten. Netzwerksteuerung durch Selektion – Eine strukturationstheoretische Einstimmung Steuerung ist – wie neuere Sozialtheorien lehren – Moment reflexiver Regula- tion sozialer Systeme. Sie zielt für Luhmann (1988, 328) auf die „Verringerung von Differenz“, etwa zwischen einem angestrebten und einem sich abzeichnen- den Systemzustand. Ein an Anthony Giddens (1984) angelehntes struktura- tionstheoretisches Verständnis von Steuerung nimmt implizit Luhmanns Be- stimmung auf, hebt aber drei weitere Aspekte der Steuerung sozialer Systeme hervor: die Orientierung und Bindung der die Systeme charakterisierenden sozialen Praktiken, die Steuerung sozialer Systeme durch Aktivitäten reflexiver Akteure und das machtabhängige Zusammenspiel von Selbst- und Fremdsteue- rung sozialer Systeme (vgl. hierzu ausführlicher Sydow/Windeler 2000). Netzwerksteuerung ist Steuerung, die in Unternehmungsnetzwerken, auch in Projektnetzwerken, stattfindet und/oder sich vor allem auf die Auslegung der Praktiken in ihnen bezieht. Rekursiv einbezogen in die Netzwerksteuerung 100 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av über Auswahlentscheidungen zwischen Angeboten unterschiedlicher Produ- zenten sind ebenso Vorstellungen, was ein gutes Produkt, ein üblicher Kosten- rahmen ist und was einen guten Produzenten ausmacht wie Ansichten, wie man mit Abhängigkeiten, etwa der Produzenten von Sendern, umgeht. Sender und Produzenten nutzen in den Selektionspraktiken also Geld und Budgets als allo- kative Ressourcen, verwenden Beziehungszusammenhänge zwischen den Akteuren (inklusive der in sie eingeschriebenen Abhängigkeiten) als autoritative Ressourcen und beziehen übliche Regeln der Signifikation und Legitimation in ihr Handeln ein (vgl. Ortmann/Sydow/Windeler 1997, 318 ff.; Windeler 2001).7 Die Möglichkeiten auszuwählen (wie die Chancen, die Möglichkeiten für andere diesbezüglich einzuschränken), sind durch die Macht der Beteiligten und die Machtdifferenzen zwischen ihnen bestimmt. Selektion ist wegen der Kon- tingenz der Reproduktion des Sozialen und der Fähigkeit von Akteuren, kom- petent zu handeln, aber trotz aller (durch Projektnetzwerke geschaffener) Ab- hängigkeiten und Machtungleichgewichte nie ein vollständig einseitiger Pro- zess. Er ist vielmehr immer ein wechselseitiger, einer, der durch die Aktivitäten der Akteure je nach ihrer mobilisierbaren Macht beeinflusst wird. Sender- und Produzentenprofile – Zu den Kriterien der Netzwerksteuerung durch Selektion Der Kreis der Sender, die fiktionale Fernsehserien ausstrahlen und deshalb pro- duzieren (lassen) müssen, beschränkt sich in der deutschen Fernsehindustrie auf die wenigen großen deutschen Vollprogrammanbieter; die Anzahl der Produ- zenten von Fernsehserien ist auf um die 20 bis 30 Unternehmungen begrenzt. Unter dem Aspekt der Steuerung durch Selektion stellen sich zwei Fragen: Wie lassen sich diese Zahlen angesichts einer größeren Anzahl von Sendern und der Gesamtheit von etwa 1.500 bundesdeutschen Produzenten erklären? Und: Was bedeuten diese Zahlen für die Steuerung von Projektnetzwerken? Sender- bzw. Produzentenprofile sind unseres Erachtens von entscheidender Bedeutung für die Selektion von Produzenten durch Sender wie von Sendern durch Produzenten. Der Möglichkeitsraum wechselseitiger Selektion wird hie- 7 Produzenten greifen aber auch Vorstellungen der Zuschauer auf. Diese werden in der Fern- sehindustrie nicht nur über Einschaltquoten berücksichtigt, sondern vor allem proaktiv über sogenannte Fokusgruppen und andere Methoden der Marktforschung, über die insbesondere die Akzeptanz von Sendungen durch Zuschauer als Endkonsumenten ermittelt wird (vgl. auch Windeler 1999). 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 101 rüber maßgeblich bestimmt, da die Profile für die Akteure im Kampf um Zuschauer und Werbegelder sowie um die Legitimierung von Gebühren heute zunehmend strategische Bedeutung erlangen. Profilierung (und zwar nicht nur oder nicht vornehmlich im Sinne einer aufgesetzten Corporate Identity) zielt darauf ab, im Wettbewerb mit anderen sich durch entsprechende Geschäfts- praktiken eine unverwechselbare, für die Marktposition und für die Bindung der Kunden relevante Identität zu verschaffen. Profile sind so nicht nur für die Praktiken der Selektion bedeutsam, vielmehr sind die Praktiken der Selektion mindestens ebenso selbst wichtige Momente der strategischen Einflussnahme auf die Ausgestaltung des eigenen Profils. Das für die Praktiken der Selektion relevante Profil eines Senders bzw. eines Produzenten bestimmen wir über die in den wechselseitigen Auswahlprozessen – gleich vorzustellenden – typischen Selektionskriterien und über typische Gewichtungen der Geschäftspraktiken hinsichtlich der branchenweit gültigen Steuerungsgrößen Inhalt, Budget und Einschaltquote. Unsere These lautet: Sowohl für den Zuschlag8 für eine kon- krete Produktion als auch für die von Produzenten Sendern angebotenen Pro- jekte sind deren sich über den Einbezug in Projektnetzwerke konstituierenden Profile von maßgeblicher Bedeutung. Die Profile von Sendern und Produzenten fließen, wenn auch nicht gleichgewichtig (s. u.), in die Selektionsentscheidungen ein. Sie bewirken sukzessive die angesprochene Reduktion potentieller wie fak- tischer Geschäftspartner in den durch Selektionsentscheidungen konstituierten Entscheidungskorridoren wechselseitiger Selektion. Was wir hier für die wech- selseitige Selektion von Sendern und Produzenten gleich genauer nachweisen, ließe sich ähnlich auch für die Beziehungen von Produzenten mit Autoren, Regisseuren, Kameraleuten usw. zeigen. Kriterien wechselseitiger Selektion von Sendern und Produzenten Bei der Auswahl von Produzenten für die Produktion einer Fernsehserie legen Sender wie Produzenten jeweils fünf Kriterien zugrunde, die alle, wenn auch zum Teil indirekt, den dauerhaften Beziehungszusammenhang der Projektnetz- 8 Wir sprechen an dieser Stelle von Zuschlag, weil der Abschluss eines formellen Vertrags in der Regel erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt. Häufig hat der Produzent bei Vertragsschließung schon die Produktion aufgenommen, zumindest hat er jedoch in der „Handschlagbranche“ (Pro- duzent 2) Fernsehindustrie mit Dienstleistern und auf Projektdauer beschäftigten Mitarbeitern ebenfalls Absprachen getroffen oder sogar Verträge geschlossen. 102 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av werke reflektieren und, so sie angewendet werden, die Reproduktion von Pro- jektnetzwerken befördern. Diese Kriterien und ihre senderspezifischen Gewichtungen bilden nicht nur einen wichtigen Aspekt der netzwerkbezoge- nen Konstitution der Senderprofile; sie schränken die Auswahl der Produzen- ten, die für die Produktion einer Fernsehserie in Frage kommen, weitgehend ein. Selektionskriterien der Sender Sendeplätze für Fernsehserien im Vorabend- und Abendprogramm sind rar – allein schon wegen der vergleichsweise geringen Zahl an Sendern, die solche Serien ausstrahlen (vor allem fünf Vollprogrammanbieter von derzeit 33 Pro- grammen). Die Konkurrenz bei der Vergabe von Aufträgen ist deswegen groß. Den Sendern steht, wenn sie kompetent agieren, oft eine Vielzahl attraktiver Projektvorschläge zur Auswahl. Aus ihnen können sie – und das ist ein erstes Selektionskriterium – unter dem Aspekt der Attraktivität vorgeschlagener In- halte die interessanten Projekte auswählen. Selbst etablierte Produzenten sind so mit dem bereits erwähnten Umstand konfrontiert, dass von zehn entwickel- ten Projektvorschlägen, die teilweise schon bis zur ersten Drehbuchfassung vor- liegen, in der Regel nur einer ausgewählt und in Produktion gegeben wird. Dabei erreichen Vorleistungen der Produzenten für einzelne Projektvorschläge teilweise die Grenze von DM 50.000, was angesichts der branchenüblichen Zuschläge für Handlungskosten (6%) und Gewinn (7,5%) auf die Nettoherstel- lungskosten ein erheblicher Betrag ist. Die Auftragsvergabe an externe Produ- zenten impliziert also im Vergleich zur ‚inhouse‘-Produktion neben dem Aspekt der gesteigerten Legitimität stärker marktlich gebildeter Produktpreise vor allem eines: die Externalisierung beachtlicher Risiken auf andere Unterneh- mungen. Aus Sicht der Sender müssen Fernsehserienproduzenten – zweitens – über eine ausreichende Kapitalausstattung verfügen, um zumindest einen Teil der Ent- wicklungs- und Produktionskosten vorfinanzieren zu können. Das ist nötig, da die ersten Zahlungen nicht dem oft schon sehr weit fortgeschrittenen Produk- tionsstand entsprechen. „Ich finanziere im Grunde genommen erst das fertige Produkt“, so ein Redakteur (Redakteur 3). Zudem müssen Produzenten, bevor sie den Zuschlag für eine Produktion erhalten, in der Regel mittels einer Bürg- schaft eine hinreichende Ressourcenausstattung nachweisen. Neben der Exter- nalisierung von Risiken gestattet die externe Vergabe von Produktionen – zumindest der Möglichkeit nach – auch eine Externalisierung von Kapitalkos- ten. Aufgrund der Machtasymmetrie zwischen Sendern und Produzenten sind letztere zumeist nicht in der Lage, diese Kosten in Kalkulationsgesprächen bei der Festsetzung von Budgets zur Geltung zu bringen. 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 103 Darüber hinaus müssen Produzenten – und das ist ein drittes Selektionskrite- rium – kompetent Projektnetzwerke koordinieren. Das klingt selbstverständ- lich, beinhaltet aber die recht weitgehende Anforderung, innerhalb eines kurzen Zeitrahmens ein produktionsfähiges, den Qualitätsanforderungen der Sender genügendes Projektnetzwerk zusammenzustellen und kompetent zu managen. Von der Stoffentwicklung über die Produktion bis zur Nachproduktion müssen Produzenten es etwa verstehen, die Aktivitäten der beteiligten Akteure unter Einhaltung eines enggesteckten Budget- und damit auch Zeitrahmens kompe- tent zu koordinieren.9 Produzenten müssen aus der Sicht des Senders in der Lage sein, ein seinen Vorstellungen entsprechendes Produktionsergebnis (trotz ar- beitsteiliger Produktion unter Beteiligung verschiedener Unternehmungen) zu gewährleisten. Sender wählen, wenn sie sich entscheiden, einem Produzenten einen Zuschlag für ein Projekt zu erteilen, insoweit weit mehr als nur einen ein- zelnen Produzenten aus. Gleichsam mit ihm selektieren sie ein Netzwerk von Unternehmungen, das die eigentliche Produktion der Programminhalte vor- nimmt, und damit auch eine bestimmte Qualität arbeitsteiliger Produktion. Für die Akquisition des Projekts sind wie angedeutet (naheliegenderweise) nicht alle Akteure des Projektnetzwerks von gleicher Bedeutung: Entscheidend ist aus der Sicht der Sender oft, dass Produzenten einen bestimmten Star oder Regisseur für die Serie beschaffen können: Ein Produzent, der eine überraschend gute Idee einbringt oder mit einem Drehbuchautor ankommt, den wir schon mal haben wollten, aber nicht bekommen haben, oder eine Hauptdarstellerin mitbringt, Katja Riemann oder wen auch immer, hat auch gute Chancen (Redakteur 4).10 Produzenten schnüren in ihren Projektangeboten für Sender, quasi als Reaktion auf die Anforderung‚ Projektnetzwerke kompetent zu managen, daher soge- 9 Die Einhaltung der Budgets steuern die Produzenten über ihre Produktions- und/oder Herstel- lungsleiter, die auf Basis der Drehbücher die einzelnen Szenen in DM-Beträge ‚umrechnen‘, die für deren Realisierung notwendig sind. Ein permanenter Abgleich der Soll- und Istzahlen findet in der Phase der Realisierung durch ihre Filmgeschäftsführung oder – bei kleineren Projekten – durch den Produktions- bzw. den Herstellungsleiter im Zuge eines projektbezogenen Control- lings statt. Diese Zahlen werden auch von einigen Sendern in den wichtigsten Budgetpositionen, insbesondere den Gagen, auf Basis der Verträge und den tatsächlich geleisteten Zahlungen kontrolliert. 10 Im Branchenjargon gesprochen sind vor allem Akteure ‚above the line‘ beim Packaging von Inte- resse. Den meisten anderen Mediendienstleistern etwa, als Vertreter der Akteure ‚below the line‘, wird dagegen eine vergleichsweise geringere strategische Bedeutung für das Gelingen des Pro- jekts zugewiesen. 104 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av nannte Packages, die neben einem guten Stoff, Stars, Autor und Regisseur ent- halten: Wenn man sagt: Für Eure zentrale Zuschauergruppe, 14 bis 49, und für die Frauen, die bei Euch gucken, da habe ich einen tollen Stoff und den spielt Katja Riemann. Dann ist man richtig drin im Slot, im Ideenslot. Definiert wird der Korridor aber vom Sender selber (Produzent 2). Alteingesessene Firmen, mit denen Sender positive Erfahrungen in der Vergan- genheit machten und die ihrer Ansicht nach in der Lage sind, attraktive Inhalte zum verabschiedeten Budget zu produzieren und erwartete Einschaltquoten zu realisieren, werden gerne berücksichtigt – das bildet ein (mit der vorher genann- ten Fähigkeit, Projektnetzwerke kompetent zu managen, verwandtes) viertes Selektionskriterium. Produzenten, die das gewährleisten, wird nicht nur ein Vertrauensvorschuss gewährt; sie besitzen vor allem einen relevanten Selek- tionsvorteil. Trotz des fortwährenden Bedarfs an neuen Programminhalten und der Knappheit an attraktivem, das heißt, Zuschauer anziehenden und bindenden Content (vgl. Dowling/Lechner/Thielmann 1998), haben neugegründete Pro- duktionsunternehmungen daher mit einer besonderen Form der „liability of newness“ (Hannan/Freeman 1977; 1984) zu kämpfen und erhebliche Marktein- trittsbarrieren zu überwinden (vgl. Jones 1996; Jones/DeFillippi 1996): Beispielsweise gibt es eine neue Produktionsfirma in Köln, WigWam hei- ßen die. Da ist die Frau Maier beim Sender gewesen. Der Herr Schulze ist ein sehr renommierter und guter Autor. Die haben eine Produktionsfirma aufgemacht und haben von einem Sender den Auftrag bekommen, eine neue Nonnenserie zu machen. Da hat es auch intern Auseinandersetzun- gen gegeben. Kann man ihnen das zutrauen? Sie haben auch schon zwei oder drei Fernsehspiele produziert. Das ist aber die erste Serie, die sie pro- duzieren. Hätte es da nicht persönliche Erfahrungen gegeben, wäre das niemals zustande gekommen (Redakteur 3). Während originelle Programmideen jungen Produzenten durchaus den Zugang zu Sendern eröffnen können, müssen sie die Fähigkeit zur Realisation der Pro- jekte erst noch unter Beweis stellen. Vor allem müssen sie erst die Chance erhal- ten zu demonstrieren, dass sie auch ein ‚guter‘ Partner sind. „Das schwerste ist, an den ersten Auftrag heranzukommen“ (Produzent 2), lautet dann auch eine oft von Produzenten geäußerte Einschätzung. Der Markteintritt erfolgt deshalb häufig anknüpfend an Hochschulkontakte oder an alte Arbeitsbeziehungen. Sender besitzen zudem eine Neigung, Content im eigenen Konzern oder – im Fall öffentlich-rechtlicher Sender – in Sendern angeschlossenen Produktionsfir- 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 105 men zu generieren, obwohl für die Selektion immer wieder qualitative Kriterien und auch Preise hervorgehoben werden. Konzernzugehörigkeit kann daher als ein fünftes Selektionskriterium angesehen werden: In dem Moment, wo sie eine Produktionsfirma als Tochter haben, sind sie praktisch in diesem Verpflegungswesen und Versorgungswesen ein Stück weit gebunden, das heißt, es hat auch eine Zeit gegeben, wo uns gesagt wurde: Unbedingt wieder was für die Tochter tun (Redakteur 3). Diese Tendenz wird, so formulieren einige der von uns Interviewten, aber seit dem Auftreten der privaten Sender zurückgenommen: „[D]ie Zeiten sind eigentlich vorbei. Auch weil es diese private Konkurrenz gibt, so dass man auch sagt: Die haben jede Freiheit. Der darf auch jedem anderen Sender, privat oder nicht pri- vat, anbieten“ (Redakteur 3). An anderer Stelle ergänzt derselbe Redakteur: „Auf die Idee kommt es immer an. Ich würde die Grenze da ziehen, dass zum Beispiel wir unsere Tochter auffordern würden: Macht uns mal wieder eine neue Familienserie oder habt ihr nicht eine gute Idee, wie man den Krimi gut besetzen kann.“ Und auch für private Sender gilt seiner Ansicht nach: „Auch RTL muss in erster Linie daran denken, die erfolgversprechendsten Ideen aufzugreifen.“ Gleichwohl äußern andere, dass sowohl bei öffentlich-rechtlichen als auch bei privaten Sendern, eigene Produktionsfirmen bei gleicher Qualität aus Auslas- tungs- und Steuerungsgründen vorgezogen werden (Röper 1999). Die großen privaten Sender vergeben immer mehr Aufträge an Tochter- und Beteiligungs- unternehmen, unabhängigen Dritten dagegen fehlen diese Aufträge. Einige Pro- duzenten sehen das ähnlich: Die Auftragsvergabe seitens der Sender ist ja schon eingeschränkt durch deren Zugehörigkeit entweder zum Kirch- oder Bertelsmann-Lager. Die konzerneigenen Produktionsfirmen werden in gewisser Weise präferiert, um das vorsichtig auszudrücken. Ein unabhängiger Produzent, der weder dem einen noch dem anderen Lager angehört, muss jedes Mal neu akqui- rieren, um einen Kunden zu finden. Diese Beziehung zum Kunden muss man langsam aufbauen und pflegen. Für die Entwicklung muss man also einiges Geld investieren (Produzent 4). Die fünf vorgestellten Selektionskriterien der Sender sind in Abbildung 2 zu- sammengefasst und mit den gleich zu erörternden Selektionskriterien der Pro- duzenten in Verbindung gebracht. Die wechselseitige Konstitution der Krite- rienkataloge ist Bedingung wie Ausdruck der in dem organisationalen Feld der Fernsehindustrie – wie in allen Dienstleistungsindustrien – angestrebten „Kun- denintegration“ (Kleinaltenkamp 1997). 106 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av Selektionskriterien der Produzenten Selektionskriterien der Produzenten Betrachtet man die Selektionspraktiken bundesdeutscher oder in Deutschland aktiver Produzenten, dann zeigt sich: Produzenten wählen für ihre Produkte auf dem nationalen Fernsehmarkt aktive Sender aus – so ein erstes Selektionskrite- rium. Die Nutzung dieses Kriteriums der Selektion mag in vielen Fällen für Pro- duzenten, die ausschließlich für den nationalen Markt produzieren, eher verbor- gen bleiben. Angesichts zunehmend international ausgelegter Produktion wird dieses Kriterium jedoch zunehmend reflektiert werden (müssen). Dass bundesdeutsche Produzenten sich vornehmlich (oder gar ausschließlich) an auf dem heimischen Fernsehmarkt aktiven Sendern orientieren, ist nur dann selbstverständlich, wenn man als gegeben annimmt, • dass Produkte bundesdeutscher Produzenten auf internationalen Märkten wie bisher auch in Zukunft keine Chancen haben,11 • nationaltypische, etwa auf deutsche Zuschauer zugeschnittene Fernsehge- schichten und – mit Einschränkungen – auch Formate (Stichwort: „cultural dis- count“12) nicht nur heute, sondern (wie allgemein erwartet wird) auch in Zu- kunft verstärkt nachgefragt werden, • die Sender eine nationale Produktionsstrategie verfolgen, und • Produzenten nur geringe Möglichkeiten haben, Gewinnquellen zu erschlie- ßen und Rechtekapital aufzubauen, die ihnen Chancen eröffnen würden, stärker auch für den internationalen Markt zu produzieren.13 11 Die attraktiven Auslandsmärkte sind deutschen Produzenten bisher – abgesehen von wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel den Fernsehserien DERRICK und DER ALTE – verschlossen geblie- ben. Das bedeutet nicht, dass deutsche Serien überhaupt nicht ins Ausland veräußerbar sind. Aber es handelt sich dann in der Regel um Randmärkte. Der Verkauf in diese Länder hat einen entscheidenden Nachteil: „Das bringt natürlich kein Geld“ (Producer 1). Erfolgversprechender ist unter diesen Bedingungen die Vermarktung von Formatrechten, die dem Käufer eine an den jeweiligen nationalen Markt adaptierte Produktion erlauben. 12 Gemeint ist mit „cultural discount“, dass beispielsweise Fernsehzuschauer in Frankreich er- warten, dass die Straßenschilder in Fernsehserien auf französisch geschrieben sind. Auf dem deutschen Markt lässt sich Ähnliches beobachten. So werden zur werbewirksamen Sendezeit bei den Vollprogrammanbietern fast nur noch deutsche Fernsehserien wie zum Beispiel EIN FALL FÜR STEFANIE (SAT. 1) ausgestrahlt. Ausländische Produzenten bzw. Produktionsfirmen sind für in Deutschland aktive Sender für eine Auftragsproduktion heute also zunehmend nur dann interessant, wenn sie in der Lage sind, Content für den deutschen Fernsehmarkt zu entwickeln. 13 Einen größeren Verhandlungsspielraum bei der Rechteakquisition haben allein konzerngebun- dene Großproduzenten wie die Bavaria und Studio Hamburg. Diese können aufgrund ihres Standings und ihrer Ressourcenausstattung einen Teil der Rechte, zum Beispiel die Formatrech- te, generieren, behalten bzw. erwerben und verwerten. In der Regel sind auch aufgrund dieses 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 107 Abb. 2 Rekursive Konstitution der Selektionskriterien von Sendern und Produzenten Produzenten wählen – zweitens – Programmanbieter von Fernsehserien mit passenden genrespezifischen Schwerpunktsetzungen aus. Das scheint selbstver- ständlich. Für die Fragen der Auswahl ist dieses Faktum jedoch nicht unerheb- lich, denn die Auswahl an Fernsehsendern ist für Produzenten von Fernsehse- rien damit auf dem deutschen Fernsehmarkt weiter (Stichwort: Verspartung) eingeschränkt: Zahlreiche Sender (darunter viele ausländische oder mit hoher ausländischer Beteiligung), die über das deutsche Kabelnetz erreichbar sind, ha- ben sich auf spezifische Programmsparten wie Sport, Nachrichten oder Doku- mentationen spezialisiert und strahlen keine Fernsehserien aus. Dazu gehören zum Beispiel das Deutsche Sportfernsehen (DSF), die Nachrichtenkanäle n-tv und CNN, der Dokumentationskanal Discovery Channel und der Ereigniska- nal Phoenix. Ein anderer Vollprogrammanbieter (RTL 2) strahlt bisher fast nur zugekaufte US-amerikanische Fernsehware aus – eine Strategie, die Mitte der achtziger Jahre alle privaten Sender verfolgten und mit der sie sich die ersten Jahre erfolgreich im Markt positionierten. Damit schränkt sich die Zahl der rele- Rechtegefälles bundesdeutsche Produzenten bisher kaum in der Lage, ihre Position gegenüber Sendern durch Internationalisierung ihrer Produktion zu verbessern. Die Internationalisierungs- strategie ist Produzenten jedoch weit über die Abgabe von Rechten an Sender hinaus verstellt. Internationalisierung würde nämlich implizieren, die bisher für den regionalen Fernsehmarkt produzierten Fernsehinhalte an internationale Standards (hohe Bildqualität und Produktions- werte z. B. durch aufwändige Stunts bei Action-Serien) anzupassen und in anderen Ländern übliche Sehgewohnheiten, Formatvorgaben und -längen zu berücksichtigen. 108 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av vanten Fernsehsender für Produzenten von Fernsehserien auf die Anbieter der fünf Vollprogramme (ARD, ZDF, RTL und Pro 7) ein, die jüngst um einige dritte Programme erweitert wurden.14 Produzenten wählen naheliegenderweise Sender aus, die eine zu ihrem Produzentenprofil passende Schwerpunktsetzung (etwa im Bereich von Action- oder Krimiserien) aufweisen, mit ihren von Pro- duktion und Geschäftspraktiken verträgliche Ansichten vertreten und für die Produkte attraktive Sendeplätze aufweisen: Unsere Investitionen in Projektentwicklungen sind immer zielgerichtet auf einen Sender abgestimmt. Es kommt schon vor, dass wir Projekte auch mehreren Sendern anbieten müssen. Aber es kommt seltener vor. Sie müs- sen schon gucken, wie muss ich den Stoff entwickeln, dass er auf einen spezifischen Sendeplatz passt. [...] Sie müssen als Produzent wissen, für welche spezielle Notwendigkeit der Sender den Stoff braucht. Sie müssen also spezifisch arbeiten. Es ist eine Auftragsproduktion. Wir machen das Produkt nicht nur für den speziellen Sender, sondern auch vor allem für den spezifischen Sendeplatz (Produzent 3). Die Selektionsmöglichkeiten der Produzenten (aber auch der Sender) engen sich drittens angesichts der distinkten öffentlich-rechtlichen und privaten Fernseh- welt weiter auf Sender aus vertrauten Fernsehwelten, das heißt auf Sender ent- weder aus dem Bereich des öffentlich-rechtlichen oder privaten Fernsehens, ein. In vielen Fällen spielen – viertens – die Qualität und Historie der Beziehungen zusammen mit dem zum Profil des Produzenten passenden Profil der Sender und fünftens die positiven Erfahrungen, die man bei früheren Produktionen ge- macht hat, auch für Produzenten eine wichtige Rolle. In der Tatsache, dass die starke Bindung zur einen Welt den Markteinstieg in die andere begrenzt, fließen diese drei letztgenannten Kriterien zusammen: „Wir sind besonders öffentlich- rechtlich bezogen, weil wir in der Zeit gewachsen sind“, so ein mittelständischer Serienproduzent. „Wir produzieren zwar auch für private Sender, aber unseren langjährigen und bedeutenden Kunden bieten wir die interessanten Stoffe an, anders als wir das bei anderen Kunden tun“ (Produzent 3). Ein gelingender Zutritt zu einer der Welten oder der besondere Erfolg in einer der Welten hat nicht selten zur Konsequenz, dass die andere Welt mehr oder weniger verschlossen bleibt. Diese weltspezifische Pfadabhängigkeit wiederum liegt nicht nur an den Sendern. Oft sind die in Projektnetzwerken versammelten Akteure, die vortreffliche Produkte für die eine Welt produzieren, nicht in dem- 14 Beispielsweise strahlt WDR 3 mit den ANRHEINERN eine soapähnliche Serie im Abendpro- gramm aus. 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 109 Abb. 3 Rekursive Konstitution der Geschäftsprofile von Sendern und Produzenten selben Maße geeignet, gleiches für die andere zu leisten. Das gilt von den als pro- filbildend angesehenen Stoffen bis hin zu Vorstellungen über den Schnitt der gedrehten Filmsequenzen. Die Bedeutung der Demarkationslinie zwischen den Fernsehwelten hat zwar an Bedeutung verloren, ohne jedoch vollständig irrele- vant zu sein, oder (so ist bei verbleibenden Differenzen zwischen den Fernseh- welten zu erwarten) je irrelevant zu werden. Inhalt, Budget und Einschaltquote – Geschäftspraktiken als Selektionskriterien Sender achten – jenseits der Bedeutung anderer Kriterien – sehr darauf, dass die Ausrichtung ihrer Geschäftspraktiken mit denen der Produzenten zusammen- passen, und so machen es die Produzenten auch (s. Abb. 3). Die Ausrichtung der Geschäftspraktiken, der Geschäftsprofile, drückt sich in einem spezifischen Verhältnis der drei industrieweit gültigen Steuerungsgrößen Inhalt, Budget und Einschaltquote aus. Über sie findet ein Zusammenspiel inhaltlicher, finanzieller sowie marktorientierter Steuerung der Geschäfts- und insbesondere der Pro- duktionspraktiken statt. 110 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av Je nachdem, wie sehr sich Sender über Werbegelder finanzieren, und welche Bedeutung sie welchen Inhalten beimessen, bildet sich ein spezifischer, dynami- scher Mix der drei Steuerungsgrößen heraus. Die Auslegung der Steuerungsgrö- ßen stellt zwar immer auch eine Legitimationsfassade im Sinne von Meyer und Rowan (1977) dar, die Praktiken der Produktion von Content sind in der Indu- strie durch sie aber auch konkret geprägt. Im Prozess der Produktion wie der wechselseitigen Selektion sind daher die Geschäftsprofile von Sendern und Pro- duzenten wechselseitig aufeinander bezogen. Gegenstand der Produktionssteuerung über Inhalte ist die Entwicklung einer originellen Geschichte, die Einhaltung von Genre- und Formatvorgaben (Kri- mis werden beispielsweise nach anderen Regeln geschrieben als Familienserien) aber auch die Berücksichtigung des Geschmacks und der Interessen des sender- spezifischen Zielpublikums. Ein großer, zu einem privaten Medienkonzern gehörender Produzent formuliert: Wenn sie Kunst machen, [...], dann müssen sie wissen, das geht nur bei öffentlich-rechtlichen Sendern. Das geht nicht mit einer Werbeunterbre- chung. Wenn sie da Werbung für Coca-Cola machen würden, das wäre peinlich. Wir versuchen wirklich gutes Fernsehen bei den öffentlich- rechtlichen Sendern unterzubringen (Produzent 5). Wie schon beim Packaging angedeutet, ist eine der Aufgaben des Produzenten als Netzwerkorganisator, die Akteure des Projektnetzwerks (insbesondere Autoren und Regisseure) so – gegebenenfalls zusammen mit Sendern – auszu- wählen und die Stoffentwicklung so zu koordinieren, dass ein mit den Vorstel- lungen des Auftraggebers kompatibles Endprodukt und ein starkes Commit- ment der wichtigsten Akteure für die Realisierung eines bestimmten Contents gewährleistet sind: Ich organisiere einen Informationsaustausch zwischen denen an der Stoff- entwicklung Beteiligten [d. h. Autor, Regisseur, Producer und Redakteur; Anm. d. Verf.]. Das hat zum Beispiel den Vorteil, dass ein Regisseur hin- terher nie sagen kann: ‚Das muss ich jetzt hier an dem Buch ändern.‘ Und er wird auch nicht dem Schauspieler sagen: ‚Du hast Recht, das ist nichts.‘ Wir haben dann schon oft über die Szene geredet. [...]. Das ist einfach bes- ser so. Den Inhalt handeln wir dann mit Autor, Redaktion und Regisseur hier am Tisch aus. Das heißt, wir arbeiten das Manuskript durch (Produ- cer 1). Reflexiv aufgenommen werden von den Akteuren bei der Inhaltegenerierung in den Projektnetzwerken auch die von Sendern vorgegebenen und relativ fixen 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 111 Budgets: „Das gehört auch zu meinem Selbstverständnis, dass ich ein Control- ling über den Etat mache, dass ich auch während der Dreharbeiten, während der Buchentwicklung daran denke“ (Redakteur 3).15 Kompetente Produzenten füh- ren zudem Einschaltquotenvorgaben als (implizite) Größen ihrer Produktions- steuerung mit: Natürlich weiß ich, dass ich Frauen ansprechen muss, dass ich eine weibli- che Zielgruppe ansprechen muss, und dann bin ich für den Sender ein Erfolg und bekomme mehr Sendungen. Ich erhalte dann die Quoten nach jeder Sendung, detaillierte Quoten. [...]. Aber sie wissen, wenn sie anfan- gen, sehr gut, wie hoch die Erwartung des Senders liegt, also etwa 15 Pro- zent Marktanteil. Sie wissen, wo sie hinkommen müssen (Producer 1). Einschaltquoten werden als Ergebnisgrößen nach der Ausstrahlung einer Folge gemessen. Sie sind aber zugleich als erwartetes oder gefordertes Ergebnis eine Steuerungsgröße, auf die sich Akteure rekursiv bereits in ihrem Handeln wäh- rend der Produktion und selbst in vorgelagerten Entscheidungs- und Aushand- lungsprozessen beziehen. Kompetente Produzenten und Redakteure wissen, welche Einschaltquoten erreicht werden müssen, und wie sie diese erreichen können. Insofern sind neben der kontinuierlichen Auswertung von Marktfor- schungsdaten ihre Erfahrungen für die Erreichung angestrebter Einschaltquo- ten wichtig. Die Orientierung an Einschaltquoten geben die Sender als Ver- markter der Inhalte vor. Dabei übersetzen sie die Anforderungen der Werbe- wirtschaft und bringen auf diese Weise deren Sicht-, Handlungs- und Legitima- tionsweisen in die (Steuerung durch Selektion der) Projektnetzwerke ein. Das Verhältnis zwischen den drei Steuerungsgrößen ist nicht konfliktfrei, was durch das magische Dreieck in Abbildung 3 angedeutet ist und was die Netz- werksteuerung durch Selektion verkomplizieren kann.16 Budgets ermöglichen bestimmte Inhalte, restringieren sie aber zugleich. Umgekehrt sind für be- stimmte Inhalte entsprechende Budgets erforderlich. Ebenso verhalten sich Ein- schaltquote und Inhalt rekursiv zueinander: Sendeplätzen angemessene Inhalte haben das Potenzial, Sendern entsprechende Einschaltquoten zu bescheren. Die Einschaltquoten ihrerseits wirken auf die Inhalte zurück, ermöglichen sie doch 15 Umgekehrt wird auch von einem vom Produzenten engagierten Autor erwartet, dass er „auf Budget schreiben kann“ (Branchenexperte 1). Die Beachtung von Budgets wird auch von den an- deren Akteuren im Projekt, jedoch insbesondere von Regisseuren und Produktionsleitern, erwartet. 16 Zum Beispiel ist es oft nicht klar, ob ein Quoteneinbruch dem Produzenten und seiner Arbeit zu- gerechnet werden soll, oder aber äußere Umstände, wie ein attraktives Konkurrenzprogramm (z. B. Fußballänderspiel), dafür verantwortlich sind. 112 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av erst die Zuweisung entsprechender Budgets. Die selektionsrelevanten Ge- schäftspraktiken von Sendern und Produzenten stehen zudem in einem Rekurs- ionsverhältnis – das bedeutet aber nicht gleich, dass sie immer untereinander harmonieren. Das Gegenteil dürfte oft der Fall sein – strukturelle Machtun- gleichgewichte sind in der Regel auch ein guter Nährboden für mikropolitische Auseinandersetzungen (vgl. Ortmann/Windeler/Becker/Schulz 1990). Inhalt, Budget und Einschaltquote sind zentrale Steuerungsgrößen des ge- samten Produktionsprozesses von Programminhalten.17 Als Moment des Profils von Sendern wie von Produzenten weist die Trias von Inhalt, Budget und Ein- schaltquote für die Akteure jeweils gewisse Gewichtungen auf. Ob des hohen Grades von Risiko, Lukrativität und Kontingenz bei der Produktion von Uni- katen ist also ein gewisser variabler Fit zwischen den Gewichtungen bei Inhalt, Budget und Einschaltquote zwischen Sendern und Produzenten Voraussetzung dafür, dass die Produktion sowohl für Sender als auch für Produzenten in einem akzeptablen Sinne verläuft. Es verwundert daher nicht, dass Sendervertreter wie Produzenten diesem Fit in ihren wechselseitigen Selektionsentscheidungen hohe Bedeutung zuweisen. Die Steuerungsgrößen Inhalt, Budget und Einschaltquote und die vorgestell- ten Selektionskriterien stehen (wie in Abb. 4 visualisiert) ihrerseits miteinander in einem rekursiven Konstitutionsverhältnis, tragen sie doch im Prozess wech- selseitiger Selektion zu einem aufeinander abgestimmten Profil der beteiligten Akteure bei (oder lassen einen Misfit offensichtlich werden). Legt der Sender sein Schwergewicht bei den Selektionskriterien etwa auf die journalistische oder literarische Qualität des Inhalts, so ist es wahrscheinlich, dass er auch im Pro- duktionsprozess der Steuerungsgröße Inhalt im Hinblick auf diese Spezifika hohe Beachtung schenkt und andere Inhalte in Auftrag gibt als ein Sender, der sich vor allem am Einschaltquotenerfolg orientiert. Konzentriert er sich vorran- gig auf Einschaltquoten, so dürfte nicht nur die Qualität der Inhalte eher nach- rangig sein, sondern auch andere Inhalte produziert werden. 17 Inhalt, Budget und Einschaltquoten fließen nicht nur in Verträge ein. Außer bei Soaps sind bei Fernsehserien explizite, vertraglich vereinbarte Einschaltquotenvorgaben im Unterschied zu Talk- shows und anderen Unterhaltungssendungen, wie zum Beispiel Christiansen, (gegenwärtig noch) unüblich. Inhalt, Budget und Einschaltquoten finden jedoch Eingang in „die ganze Erzählweise. Angefangen von der Regie bis hin zu den Protagonisten“ (Redakteur 3), das heißt in den Inhalt der Geschichten, die Figurenkonstellation, die Requisite, den Schnitt und vieles andere mehr – bis hinein in die Fortsetzung von Projekten. Bei letzterem steht auf Basis von Marktforschungs- daten eventuell die Modifikation des Inhalts im Mittelpunkt. Aufgrund „transaktionspezifischer Investitionen“ (Williamson 1985) wird bei langlaufenden Fernsehserien wie Soaps selbst bei grundlegenden Problemen noch versucht nachzusteuern, um die Investitionen zu retten. 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 113 Abb. 4 Das rekursive Zusammenspiel von Sender- und Produzentenprofilen Definiert sich beispielsweise ein Sender als „Großstadtfernsehen“ (Pro- grammdirektor 1), dann bedeutet das für Produzenten, die für diesen Sender produzieren (wollen): Sie müssen Geschichten entwickeln und produzieren können, die den Großstadtflair widerspiegeln. Da die Wahl dieses Profils vom Sender auch eine Reaktion auf seinen enggesteckten Haushalt ist, müssen seine Produzenten ferner in der Lage sein, Produktionen mit niedrigen Budgets zu managen. Gelingt ihnen das, so haben sie gute Chancen, von diesem Sender (re-)selektiert zu werden. Allerdings verbessern sie damit aber nicht unbedingt ihre Chancen bei Sendern, die überregional ausgerichtet sind, sich an anderen Standards orientieren und mit höheren Budgets arbeiten. Produktionsunternehmungen entwickeln ihrerseits Produzentenprofile. Sie verstehen sich etwa als „Qualitätsproduzent“ (Produzent 2). So orientieren sich manche an dem Anspruch journalistischer Qualität, mit dem sich öffentlich- rechtliche Sender von privaten Sendern zu differenzieren versuchen. Andere Produzenten entwickeln das Profil eines „Action-Serienproduzenten“. Produ- zenten mit diesem Profil richten sich etwa stärker an privaten Sendern aus, die 114 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av aufgrund ihres Erfolgs und ihrer Pionierrolle mit eher preiswert gefertigten Serien eine „industrielle Massenfertigung“ (Redakteur 1) von Serienfolgen ver- langen. Eingeschränkte Selbststeuerung der Projektnetzwerke durch Produzenten „[A]uswählen können! Aber diesen Luxus können sich nur wenige leisten. Doch damit fängt es eigentlich an: ablehnen können, selbst bestimmen, was man machen möchte, nicht: machen müssen, sondern machen wollen“ (Ziegler 1999, 6). Stimmt diese von der Film- und Fernsehproduzentin Regina Ziegler gege- bene Einschätzung der Situation deutscher Produzenten (und vieles spricht dafür), dann hat das weitreichende Folgen. Immerhin verbindet sich mit den Möglichkeiten zur Selektion in Projektnetzwerken weitgehend die Frage der Kontrolle der Produktionsprozesse: Auszuwählen und gegebenenfalls auszu- tauschen, wer den Stoff inszeniert, wer Regie führt, wer in der Lage ist, die Kamera so zu führen, den Schnitt so zu machen, dass nicht nur die Qualität der Bilder, sondern auch die Kosten am Ende stimmen, ist für Produzenten nämlich ebenso bedeutsam, wie die Fernsehredakteure mit ihren Vorlieben genau zu kennen. Für eine effiziente Produktion muss man als Produzent dabei nicht nur Regisseure, Schauspieler, Kameraleute und Redakteure mit ihren Qualifikatio- nen und Vorlieben kennen; man muss auch eine Vorstellung über deren Zusam- menarbeit besitzen und begründete Chancen haben, sie beim Sender gegebenen- falls auch durchzusetzen sowie den Produktionsprozess mit ihnen koordinieren zu können. Die Auswahl der Akteure zielt zwar immer auf eine spezielle Person, etwa einen Star, oder eine spezielle Unternehmung, etwa einen Studiobetrieb. Kom- petente Produzenten betrachten die Entscheidungen aber nicht isoliert vonein- ander. Sie wissen, deren Vorstellungen und Handlungsweisen müssen zueinan- der passen. „Ich muss es regelrecht sehen können, wie das Produkt aussieht, wenn es mir der oder die Regisseurin macht, mit dem oder der Schauspielerin“ (Ziegler 1999, 7). Kompetente Produzenten verbinden bereits bei der Konzep- tion von Projekten (im Vorfeld der Auswahl konkreter Akteure) Projekte in Zeit und Raum miteinander, schließen sie in Gedanken aneinander an, stellen zur Planung projektübergreifende Zusammenhänge her. Praktisch verwenden Produzenten von der Entwicklung bis zur Koordination der Projektaktivitäten eine (wie rudimentär auch immer ausgebildete) Netzwerkperspektive, in die sie markt- und produktionsökonomische Erfordernisse miteinbeziehen. Denn 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 115 wenn ein Drehtag drei bis fünf Prozent des gesamten Budgets für ein Projekt von zum Beispiel DM 3 Mio. verschlingt, entscheiden einzelne Drehtage darü- ber, ob Produzenten auf ihrem Overhead sitzen bleiben, Plus-Minus-Null herauskommen oder Gewinn machen. Da ist es schnell eine Überlebensfrage, wie reibungslos Projekte funktionieren (ibid., 9). Nicht nur Produzenten steuern Projekte de facto in einer Netzwerkperspek- tive. Gleiches gilt für Sender. Im Resultat erfolgt eine Netzwerksteuerung der Produktion, die sich nicht zuletzt in den Orientierungen der Aktivitäten von Sendern und Produzenten in den Selektionsprozessen manifestiert. Projektnetzwerke in der Fernsehindustrie sind hierarchische Netzwerke. Das gesamte Projektgeschehen und dessen Vermarktung wird von einem Zentrum her gesteuert. Die Praktiken wechselseitiger Selektion verdeutlichen unmissver- ständlich: Produzenten geben nur selten die Richtung an. Produzenten entwi- ckeln zwar weitgehend eigenständig ihre Projektideen zu Serien, Sender wählen aber aus der Vielzahl attraktiver Inhalte aus. Selbst etablierte Produzenten erhal- ten im Durchschnitt nur für eins von zehn den Sendern vorgelegten Projekten einen Zuschlag. Produzenten müssen zwar die Produktion managen und tragen die Verantwortung für die vertragsgemäße Ausführung des Projekts. Sender nehmen aber, wie wir gleich noch zeigen werden, recht weitgehend Einfluss auf die Auswahl wichtiger Projektteilnehmer und kontrollieren die Produktions- prozesse, sichern sich tendenziell alle Rechte an den Produkten.18 Der Eindruck, Produzenten steuerten nur recht eingeschränkt die Auswahl der Projektteilnehmer und die Produktion in Projektnetzwerken selbst, wider- spricht dem Selbstbild vieler Produzenten. Nicht wenige gehen davon aus, sie würden die Produktion alleine steuern. Tatsächlich gestalten Produzenten au- genscheinlich relativ eigenständig (zusammen mit den anderen am Projekt betei- ligten Akteuren) die Produktion; das geschieht zumeist jedoch lediglich im Rah- men der von Sendern weitgehend gesetzten Handlungskorridore und vereinbar- ten Vorgaben: „Definiert wird der Korridor aber vom Sender selber“ (Produ- zent 2), sagen selbst erfahrene und erfolgreiche Produzenten. Reduziert man die Rolle des Produzenten nicht darauf, über Drehtage, die Zahl der Klappen und über Geldmengen zu wachen, sondern greift weitere wichtige und grundlegende Aufgaben von Produzenten im Rahmen der Produktion von Programminhalten auf, wie die Selektion der Akteure, dann wird das überdeutlich. Produzenten schnüren zwar, wie erwähnt, Packages aus Autoren, Regisseu- ren, Schauspielern usw. Sender wählen aber schon Produzenten danach aus, ob 18 Ausgenommen sind die Rechte an dem Format, die etablierte Serienproduzenten (oder deren Autoren) zumeist in der Lage sind, für sich zu sichern. 116 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av sie Projektnetzwerke kompetent zusammenstellen und koordinieren können. Sie gehen dabei davon aus, dass Produzenten zu den für das Projekt wichtigen Akteuren Netzwerkbeziehungen unterhalten (oder sie selbst beschäftigen) und dass sich in deren Besetzungsvorschlägen schon die Vorstellungen der Sender widerspiegeln.19 Sender bestimmen oftmals auf Basis der Vorschläge von Produ- zenten oder mittels (Quasi-)Vetorechten recht weitgehend die kreativen Pro- jektteilnehmer und sind auch in der Lage, so sich Besetzungen in ihren Augen als unglücklich erweisen, Veränderungen durchzusetzen. Die Situation ist zwar keinesfalls für alle Produzenten gleich, und Besetzungen können auch im Ein- vernehmen zwischen Sendern und Produzenten vorgenommen werden; sie er- folgen aber weitgehend machtabhängig. Das ist in der Branche allgemein be- kannt: Wir bestimmen recht weitgehend über die Auswahl von Autoren und Regisseuren. [...] Eine erfolgreiche Produktionsfirma würde das nicht zulassen, ein weniger erfolgreicher Produzent sagt schon eher ja. Wir haben immer einen Passus im Vertrag, dass die künstlerische Oberhoheit bei uns liegt. Jedoch, wie gesagt, der eine Produzent verbittet sich das, der andere weniger (Redakteur 4). Sender steuern Projektnetzwerke in der Regel nicht nur über die Selektion von Akteuren ‚above the line‘ einschließlich der Besetzung der Position ihrer An- sprechpartner beim Produzenten, die sogenannten Producer, wenngleich dies nicht vertraglich abgesichert, sondern nur „faktisch so ist“ (Redakteur 3). In einigen Fällen, insbesondere bei relativ unerfahrenen Produzenten, reden Sen- der ferner gezielt bei der Besetzung der Position des Produktionsleiters mit, weil über ihn die kritische Budgetkontrolle erfolgt. Wenn auch keinesfalls notwendig als solche angesehen, praktizieren Sender in den Projektnetzwerken der Pro- duktion von Fernsehserien also eine Netzwerkselektion, eine (Einflussnahme auf die) Auswahl unterschiedlicher Akteure im Netzwerk im Hinblick auf deren erfahrungsgesättigtes oder erwartetes Zusammenspiel; sie begrenzen ihr Inter- esse keinesfalls nur auf die isolierte Selektion passender Produzenten. Sender flankieren ihre Einflussnahmen auf das Netzwerkgeschehen (über die Netzwerksteuerung durch Selektion hinaus) durch Kontrollen der Umsetzung der Vereinbarungen während der Produktionsprozesse (selbst bei einigen eta- blierten Großproduzenten, wie die folgende Passage verdeutlicht): 19 Dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse sind jedoch, wie gesagt, selten in der Branche. Producer besitzen in der Regel diesen Status. 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 117 Es werden diverse Positionen beim Sender kontrolliert. Also man kann nicht Mario Adorf kalkulieren und dann Hans Meyer spielen lassen. Natürlich auch beim Drehbuch. Wir haben alle Rechte und die werden auf den Sender übertragen. Die Hauptdarstellerverträge werden norma- lerweise auch dem Sender übergeben und diverse andere Positionen, die der Sender automatisch kontrolliert, zum Beispiel die Besetzung, den Regisseur. Vor jedem Drehtag gibt es eine Disposition. Die sieht der Sender. Am Ende des Tages bekommt er eine Tagesmeldung. Daran sieht er, welche Szene gedreht und welches Material gebraucht wurde. Das lässt sich der Sender alles vorführen, obwohl er einen Festpreis hat. Obwohl wir einen Festpreis haben, werden wir vom Auftraggeber kon- trolliert. Vom Sender her hat man eine Prozesskontrolle eingebaut (Pro- duzent 5). Die vertraglich gegebene Gesamtverantwortung der Produzenten für das Pro- dukt wird insgesamt so oft recht weitgehend relativiert. Sender müssen Einflussnahmen auf die Auswahl der Projektteilnehmer und Prozesskontrollen vielen Produzenten aber nicht abtrotzen. Produzenten sind vielmehr eigeninteressiert, Sender über spezielle Formen der Kundenintegration in die Produktionsprozesse miteinzubeziehen, um ihre Unsicherheiten zu redu- zieren – was jedoch selbst auch wieder als Ausdruck relevanter Machtungleich- gewichte gelesen werden kann und bezüglich der Steuerungsfähigkeit von Pro- duzenten zumindest ambivalente Resultate zeitigt. Die den Produzenten bei der Koordination der Produktion von Fernsehserien eingeräumten Koordinationsspielräume spiegeln für Sender das – durch das Sieb der „Mikropolitik der Sicherheit“ (Ortmann/Windeler/Becker/Schulz 1990, 444 ff.) passierte – ökonomische Bedürfnis nach Externalisierung von Steuerung (und damit vermeintlich die Abgabe direkter Verantwortung und eines Groß- teils der Risiken) bei gleichzeitiger Einflussnahme auf Steuerung und Sicherung eigener Profite. Der Rückgriff auf etablierte Beziehungen zu Produzenten, Schauspielern, Regisseuren usw. erlaubt Sendervertretern, Steuerungsaufgaben in als legitim angesehener Art und Weise auf Produzenten zu übertragen, ver- mittelt ihnen aber (eine kompetente Auswahl von Produzenten, Einflussnahme auf die Auswahl weiterer relevanter Akteure im Projekt und passende Prozess- kontrollen vorausgesetzt) gleichzeitig eine Sicherheit darüber, dass Netzwerk- steuerung in einer mit ihren Sichten verträglichen Weise durch die Produzenten erfolgt. Die Produktion in Projektnetzwerken wird so faktisch einer Selbst- steuerung der Produktion im Rahmen einer Unternehmung oder eines Kon- zernzusammenhangs weitgehend angeglichen. 118 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av Projektnetzwerke weisen im Ergebnis mit Sendern und Produzenten gleich- sam eine doppelte Führungsspitze auf, wobei jedoch Sender – zum Teil einge- gliedert in Medienkonzerne – in der Regel den Ton angeben. Produzenten neh- men eine mit Generalunternehmern in der Bauindustrie vergleichbare Funktion wahr. Ihre Steuerungsaufgaben im Prozess sind von Sendern delegiert, toleriert, immer aber kontrolliert. Je nachdem wie weitgehend die Einflussnahmen der Sender auf einzelne Produzenten sind, lassen sie sich als verlängerte Werkbänke oder als eher autonome Produzenten klassifizieren. Immer ist die Selbststeue- rung der Projekte durch Produzenten eingeschränkt. „Auswählen können ist wesentlich“ (Ziegler 1999, 6), aber den Luxus, auswählen zu können, können sich nur wenige leisten. Die Möglichkeiten der Sender, ihren Kriterien bei der Vergabe und Produk- tion von Fernsehserien Geltung zu verschaffen, weist sie unzweideutig als die mächtigeren Akteure im „organisationalen Feld“ (DiMaggio/Powell 1983) der bundesdeutschen Fernsehindustrie aus. Das sollte allerdings nicht darüber hin- wegtäuschen, dass zwischen Sendern markante Unterschiede zu berücksichti- gen sind. So ist – schaut man allein auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen – das Ressourcenpotenzial des Westdeutschen Rundfunks (WDR) als größter Anstalt der ARD um ein vielfaches höher als etwa das des Senders Freies Berlin (SFB) und selbst höher als das des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF). Andererseits finden sich mit Bavaria, Studio Hamburg und der Ufa große und mächtige Pro- duzenten im Feld, die wir auch in unsere Auswertungen einbezogen haben. Nicht alle Redakteure und Produzenten sind zudem willens oder in der Lage, ihre Machtpotenziale in gleicher Weise zu nutzen. So kommt es vereinzelt vor, dass statt der Redakteure machtvoller Sender, etablierte mittelständische Serien- produzenten die Produktion in Projektnetzwerken durchgängig recht autonom gestalten, Sendervertretern so gut wie keinen Einblick in ihre Vertragsgestaltung mit den am Projekt beteiligten Akteuren gestatten, den Produktionsprozess eigenwillig kontrollieren und Einflussnahmen des Senders zum Leidwesen der zuständigen Redakteure geschickt abblocken. Eine Untersuchung der Selek- tionsprozesse unter ökonomisch-strategisch höchst bedeutsamen Machtge- sichtspunkten hat daher jeweils genau zu schauen, welche Akteure, welche Res- sourcen in den Selektionsprozessen mobilisieren (können), welchen Einfluss sie damit in Projektnetzwerken auf Prozesse erzielen und welche Bedeutung sie dabei welchen Kriterien zuweisen. 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 119 Vor einer reflexiven Wende? – Wege zur Verbesserung der Selbststeuerungspotenziale der Produzenten Produzenten (wie auch Sender) betrachten die Auswahl von Projektteilnehmern zwar schon mit einer Netzwerkperspektive. Diese Perspektive ist in der Regel aber eher rudimentär entwickelt. Durch eine reflexivere Auswahl können sie ihre Potenziale zur Selbststeuerung verbessern. Eine reflexive Netzwerksteue- rung durch Selektion meint, dass Akteure kontinuierlich ihre Selektionsprakti- ken systematisch in ihrer Bedeutung für den Netzwerkzusammenhang analysie- ren und die daraus gewonnenen Informationen als Grundlage ihrer weiteren Auswahlprozesse zur Steuerung des Netzwerks, d. h. zur Fortführung oder weiteren Ausgestaltung sowohl einzelner Gechäftsbeziehungen als auch des Netzwerkzusammenhangs, nutzen. Auf dem Prüfstand stehen sodann jede der Geschäftsbeziehungen zu den am Netzwerk beteiligten Akteuren sowie der Beziehungszusammenhang als ganzer und die auf beide Ebenen bezogenen Steuerungspraktiken selbst.20 Eingeschlossen ist das vergleichende Ausloten möglicher Alternativen. Produzenten bieten sich verschiedene Ansatzpunkte, den Netzwerkzusam- menhang reflexiver über die Selektion von Akteuren zu gestalten. Wir stellen fünf von ihnen vor. Chancen der Verbesserung der Geschäftsmöglichkeiten ste- hen jedoch jeweils auch Risiken gegenüber. Produzenten können ihre Geschäftsbeziehungen erstens hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Beziehungszusammenhang in Projektnetzwerken kontinu- ierlich auswerten und die Informationen zur Auswahl der wichtigen Netzwerk- akteure nutzen. Als Resultat der Analyse können Produzenten zu dem Urteil gelangen, einige der Beziehungen nicht weiter oder in einem geringeren Ausmaß zu pflegen. Das setzt Kapazitäten frei, um die als strategisch angesehenen Bezie- hungen besser pflegen zu können. Der Abbau redundanter Beziehungen zur Freisetzung von Kapazitäten muss in der Fernsehindustrie dabei mit der not- wendigen Pflege eines Überschusses an Beziehungen zur Steigerung flexibler Reaktionsmöglichkeiten balanciert werden (Burt 1992; Wiesenthal 1990, Grab- her 1994). Zweitens kann ein Produzent ein Projektnetzwerk konsequent dahingehend entwickeln, dass das Produzentenprofil gestärkt wird. Unternehmungen wie 20 Die Auswertung der Netzwerke könnte zum Beispiel durch eine strategische (Crozier/Friedberg 1979) oder mikropolitische Analyse (Ortmann/Windeler/Becker/Schulz 1990) der Mechanis- men und Schwachstellen interor-ganisationaler Beziehungen und des interorganisationalen Beziehungszusammenhangs geschehen. Personalisierende Analysen, wie sie in der Branche üblich sind, können so vermieden werden. 120 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av Action Concept für Action-Serien oder Grundy-Ufa für Soaps ist es etwa gelun- gen, eindeutige Produzentenprofile in bestimmten Bereichen zu entwickeln. Sender(vertreter) wenden sich deshalb zunächst an sie, wenn entsprechende Sendeplätze zu besetzen sind. Das bedeutet für Produzenten, dass sie strategisch nur noch mit jenen Sendern, Regisseuren, technischen und künstlerischen Mediendienstleistern zusammenarbeiten, die ihr Profil verbessern. Allerdings gibt es dabei das von Leonard-Barton (1992) aufgezeigte Dilemma zu managen, dass eine Stärkung von „core capabilities“ unweigerlich gewisse „core rigidities“ in sich birgt. Drittens bietet die reflexivere Zusammenarbeit mit Akteuren im Projektnetz- werk gute Chancen, nicht nur die Koordination zu erleichtern, sondern auch Lernmöglichkeiten und Innovationen zu schaffen. Zu denken ist etwa an Prakti- ken von Großproduzenten, die kompetente Regisseure zwischen unterschiedli- chen Projekten versetzen,21 dadurch diese stärker nicht nur an sich binden, son- dern deren Kompetenzen auch über einzelne Projekte hinweg übertragen. Ver- besserungen der Fähigkeiten einzelner Akteure stehen hier Risiken der Abwan- derung zu anderen Produzenten gegenüber. Viertens können Produzenten eine reflexivere Netzwerksteuerung durch Se- lektion nutzen, um neue Absatzmärkte und neue Geschäftsfelder zu erschlie- ßen. Zum Beispiel können Produzenten freiwerdende Potenziale nutzen, um für private und öffentlich-rechtliche Sender gleichrangig aktiv zu werden, oder neue Geschäftsfelder, wie das Internet, für sich auszuloten. Produzenten könnten dadurch die Abhängigkeit von ihren wenigen Großkunden verringern, eher Kapital bilden und gegebenenfalls selbst verstärkt Rechte an denen von ihnen produzierten Serien erwerben, wodurch sie wiederum ihre Handlungsmöglich- keiten erweitern würden. Chancen, neue Märkten zu erobern, stehen hier Risi- ken der Verminderung der Bindung eines Produzenten an Sender als Geschäfts- partner gegenüber. Sieht man von den wenigen Koproduktionen mit deutscher Beteiligung, die sich vor allem auf (mehrteilige) TV-Movies beschränken, einmal ab, kommt es bisher kaum zu (horizontaler) Kooperation zwischen Produzenten. Das aber wäre eine fünfte überprüfenswerte Option. Durch die Kooperation mittelstän- discher mit Großproduzenten könnten gegebenenfalls internationale Serienfor- mate und, ähnlich wie der bisher Großproduzenten und großen ARD-Sendern sowie ihren Tochterunternehmungen vorbehaltene Zusammenschluss German United Distributors, neue Möglichkeiten des Vertriebs entwickelt und dadurch 21 Insofern nähert sich das Projektnetzwerk einem „internen Arbeitsmarkt“ (Sengenberger 1987) an. 10/1/2001 Netzwerksteuerung durch Selektion 121 neue Märkte erreicht werden.22 Die Bedeutsamkeit dieser Strategieoption lässt sich daran ablesen, dass selbst Hollywood-Produzenten sich aufgrund der Ent- wicklung national geprägter Fernsehmärkte gezwungen sehen, bei der Produk- tion von Fernsehserien mit Partnern im Ausland zusammenzuarbeiten. Hori- zontale Vernetzung wirft aber gleichzeitig Fragen nach der Gestaltung des Span- nungsverhältnisses von Kooperation und Kompetition auf (Dowling/Lechner 1998). Die Strategieoption der reflexiveren Netzwerksteuerung durch Selektion steht allen Produzenten offen, obwohl mächtigere Produzenten umfassendere Möglichkeiten zu ihrer Verfolgung haben (dürften). Aber auch weniger mächti- gen Produzenten verspricht sie relevante relative Positionsverbesserungen. Statt gleich Projektnetzwerke insgesamt zu organisieren, könnte es sich für sie anbie- ten, reflexiver an einzelnen Beziehungen anzusetzen, um sich dann Stück für Stück weitere Freiräume bei der Organisierung einzelner Beziehungszusam- menhänge im Projektnetzwerk zu erarbeiten. Netzwerksteuerung durch Selek- tion müsste zudem nicht notwendig zu Lasten der Sender gehen. Sender und Produzenten könnten sie auch zur Verbesserung der Zusammenarbeit nutzen. Diese, aus einer Analyse der Praktiken der Produktion von Fernsehserien gewonnenen Ansatzpunkte für eine reflexivere Netzwerksteuerung, lassen sich ähnlich auch für die Produktion anderer Formate formulieren. Am offensicht- lichsten ist dies bei TV-Movies, die in einer ähnlichen Art und Weise produziert und distribuiert werden wie Fernsehserien. Unsere bisherigen, hier aber nicht referierten Forschungsergebnisse zur Produktion von Beiträgen für Wissen- schaftsmagazine und Dokumentationen stützen die Vermutung, dass auch hier ähnliche Ansatzpunkte für eine Steigerung der Effektivität und Effizienz durch Netzwerksteuerung durch Selektion zu finden sind. Trotzdem ist bei der Über- tragung auf andere Content-Arten jeweils kritisch zu prüfen, ob sich ähnliche Möglichkeiten der Verbesserung der Nutzungsmöglichkeiten der Ressourcen durch reflexivere Formen der Netzwerksteuerung durch Selektion eröffnen. Formen reflexiverer Netzwerksteuerung durch Selektion könnten aber auch Fernsehsender ergreifen. Sollten sie diese Option etwa verstärkt aufgreifen, Pro- duzenten die Option jedoch nicht ergreifen, könnten sich bestehende Asymme- trien im Handlungsfeld fortschreiben oder gar vertiefen. Ob eher Produzenten 22 Insbesondere eine Kooperation im Vertrieb scheint angesichts des Wandels in der Rechtevertei- lung notwendig zu sein, weil Sender dazu übergehen, Produzenten gegen eine Eigenbeteiligung Rechte zu überlassen. Vgl. zu in der Versicherungsindustrie anzutreffende Möglichkeiten der Überwindung machtabhängiger Reziprozitäten zwischen Versicherungsmaklern und Versiche- rern Sydow/Windeler/Krebs/Loose/van Well (1995, 253 ff.). 122 Arnold Windeler, Anja Lutz und Carsten Wirth montage/av oder eher Sender die in einem reflexiveren Management der Selektionspraktiken schlummernde Potenziale zur Gestaltung der Projektnetzwerke für sich nutzen werden, um ihre Position im Handlungsfeld zu verbessern, bleibt abzuwarten. Literatur Burt, R.S. (1992) Structural Holes. The Social Structure of Competition. Cam- bridge, Mass./New York. Crozier, M./Friedberg, E. (1979) Macht und Organisation. Die Zwänge kollek- tiven Handelns. Königstein/Ts. DeFillippi, R.J./Arthur, M.B. 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Nicht etwa mangelnde Qualität der angebotenen Informationen war das Objekt der Entrüstung, sondern die Redaktionsbilder, die im Hintergrund von Moderator Ulrich Meyer zu sehen waren. Da wurden Redaktionsalltag und -hektik bildhaft vermittelt, Monitore und arbeitende Menschen suggerierten, der Zuschauer habe am Herstellungsprozess der gerade präsentierten Nachrich- ten teil. Zwei Einwände dekonstruierten diese Vermutung öffentlichkeitswirk- sam: Es war nicht die Redaktion der SAT. 1-Nachrichten, sondern die eines Nachrichtenbüros in Florida, und es war auch nicht live, sondern ein Endlos- band, das im Hintergrund der jeweils aktuellen Sendung abgespielt wurde. Be- obachter kritisierten dieses Vorgehen als Irreführung des Zuschauers und als „Mogelpackung“ (Süddeutsche Zeitung v. 17.01.1996), die Glaubwürdigkeit der SAT. 1-Nachrichten wurde in Zweifel gezogen. Ulrich Meyer und sein Team verteidigten den Einsatz des Videobandes als „Idee einer Nachrichtenredak- tion“, denn „Nachrichtenstudios sehen auf der ganzen Welt gleich aus“ (ibid). Damit ist eine interessante These für die Diskussion um die Virtualisierung von Fernsehnachrichten aufgestellt: Visualisieren darf man das, was so sein oder so aussehen könnte. Wenige Jahre später mutet die Auseinandersetzung um ein Endlosband einer unbekannten Redaktion als Nachrichtenhintergrund fast kleinlich an. Ganze virtuelle Studios sind heute auch im Fernsehnachrichtensektor längst im Ein- satz, virtuelle Moderatoren und Moderatorinnen werden (jenseits der Hard News) erprobt und sogar Nachrichtenbilder selbst werden im Computer er- zeugt, wenn die Kamera nicht rechtzeitig zur Stelle war oder das jeweilige Ereig- nis nicht zu bebildern ist. Die Produktionsabläufe des an Aktualitäten orientier- ten Fernsehens haben sich grundsätzlich verändert: Die Computertechnik be- schleunigt einen Entwicklungsprozess, der sich als Virtualisierung der Fernseh- nachrichten beschreiben lässt. 126 Miriam Meckel montage/av Von Kulissenschiebern zu Systemadministratoren: Präsentationstechniken Mit den technischen Möglichkeiten, die der Computer für den Produktionspro- zess im Fernsehnachrichtensektor eröffnet hat, waren schon vor Jahren weitrei- chende Hoffnungen und extreme Prognosen verbunden. Irgendwann werde jeder „Zuschauer“ – dann eher als individueller „Informationsdirektor“ – von seinem Personal Digital Agent (PDA) über das Internet zu den audiovisuellen Informationspools geleitet, die seinem Such- und Nutzwertprofil entsprechen. Der PDA stellt auf elektronischem Wege eine Nachrichtensendung (Newsfile) zusammen, die kein anderer Mensch so sehen kann und sehen wird. „Echte“ und digitale Bilder werden je nach Zielsetzung oder auch nach Belieben kombiniert und das Ergebnis wird – wiederum je nach Wunsch des Nutzers – von einem individuell konfigurierten Avatar präsentiert. So sieht die technischen Variante einer Zukunftsvision aus, die Eli Noam (1996, 11) eingängig formuliert hat: „Die Zukunft gehört dem Ein-Kanal-Fernsehen, dem »interaktiven, persönlichen« Kanal (»me-channel«)“: Cybernews you can use. Ganz so einfach verhält es sich allerdings nicht. Trotz aller dynamischen Fort- schritte hat die Computertechnologie nur schrittweise Einzug in die Fernseh- nachrichtenredaktionen und -produktion gehalten. Die Zeiten, in denen Kulis- senschieber noch wechselnde materielle Hintergrundbilder während der Tages- schau hin und her transportierten, waren schnell vorbei. Die Blue-Box (Chro- ma-Key-Verfahren) ersetzte die aufwändige Herstellung und Einbeziehung von materiellen Hintergrundbildern durch den Einsatz des Computers. Sprecher/in oder Moderator/in sitzen dabei im Nachrichtenstudio vor einer blauen Wand („Stanze“). Aus dem Kamerabild wird der Blauanteil im Computermischpult „herausgestanzt“ und durch ein anderes, im Computer vorliegendes Bild er- setzt. So können Fotos, Landkarten und Grafiken bequem und schnell gewech- selt und der jeweils präsentierten Nachricht angepasst werden. Nachdem das Chroma-Key-Verfahren jahrzehntelang im Einsatz war, ist es mit Hilfe der Computertechnik gelungen, das technische Prinzip auf das gesamte Studioumfeld zu übertragen: Das virtuelle Studio war geboren. In die- sem Raum befinden sich nur Moderator/in mit möglichen Studiogästen und digitale – in der Regel ferngesteuerte – Kameras. Boden und Wände des Studios werden wiederum in blauer Farbe gehalten, die im Computer durch andere Bildanteile ersetzt werden kann. Jedes einzelne Bild jeder einzelnen digitalen Studiokamera wird nach Standort, Blickwinkel und Bewegungsverlauf im Com- puter berechnet und mit den Bildern weiterer Kameras abgeglichen, so dass der Computer daraus das korrekte Gesamtbild errechnen kann. Die Rechenleistun- 10/1/2001 Die Produktion von Wirklichkeit 127 Abb. 1: Einzelne Bildkomponenten des virtuellen Studios und Gesamtbild GMD-Projekt The Virtual Studio (www.viswiz.gmd.de) gen, die dabei erbracht werden müssen, sind um ein Vielfaches höher als diejeni- gen, die für das traditionelle Blau-Stanz-Verfahren benötigt werden. Für Fern- sehbewegtbilder muss die Bildeinstellung der einzelnen Kameras in Verbindung mit den im Computer gespeicherten Raumelementen (virtuelle Dekoration, dreidimensionale bewegte Grafiken etc.) 24 bis 30 Mal pro Sekunde neu berech- net werden (frames per second). So entsteht jeweils das aktuelle Nachrichtensze- nebild. Die Qualität der virtuellen Studiobilder bemisst sich nach ihrer Vergleichbar- keit mit der fotorealistischen Wahrnehmung des menschlichen Auges und wird in Polygonen – kleinste Flächen mit Oberflächenstruktur und dazugehörigen Licht-Schatten-Effekten (textured and shadowed polygones) – bemessen. Hoch- leistungsrechner, die z. B. von SILICON GRAPHICS (SGI) hergestellt werden und sich durch die Produktion digitaler Effekte im Kinofilm (JURASSIC PARK, TERMINATOR 2) bewährt haben, bewältigen die Berechnung von inzwischen 128 Miriam Meckel montage/av mehr als zehn Millionen Polygonen pro Sekunde (vgl. Handelsblatt v. 30. 04. 1996). Das menschliche Auge ist dagegen in der Lage, etwa 80 Millionen Poly- gone pro Sekunde zu verarbeiten. Dies erklärt, warum selbst bei Hochleistungs- rechnern Unterschiede in der Bildqualität von realem und virtuellem Studio erkennbar sind. Es verwundert in diesem Zusammenhang auch wenig, dass die Entwicklung entsprechender Verfahren zur Bildgenerierung aufwändig und teuer ist (vgl. Meckel 1998, 205). Sendeanstalten versprechen sich von den mit dem Einsatz virtueller Studios verbundenen Investitionen allerdings langfristig mehr Effi- zienz und Effektivität in der tagesaktuellen Produktion. Die Kulissengestaltung wird vereinfacht und beschleunigt, Moderator/innen können sich freier im Stu- dio bewegen, die Szenengestaltung verlagert sich vom Akteur im Studio auf die durch die Regie gesteuerte Berechnung des Computers. Wenn zeitaufwändige Studioumbauten und die Herstellung von Dekoelementen entfallen, sollen sich auch die Herstellungskosten der Sendung verringern. Nach Angaben der Her- steller virtueller Studiotechnik belaufen sich die potenziellen Einsparungen auf bis zu 25 Prozent (vgl. Wolf 1995). Ob diese Prognosen irgendwann tatsächlich eintreffen, lässt sich noch immer nicht genau abschätzen. Ein Beispiel: Das vir- tuelle Bildgenerierungsverfahren ELSET (Electronic Set), das die öffentlich- rechtlichen Fernsehanbieter ARD und ZDF in der Testphase genutzt haben, wurde von der Hamburger Videoproduktionsfirma VAP (Video Art Produc- tion) in Zusammenarbeit mit dem EU-Forschungsprojekt MONA LISA (Model- ling Natural Images for Synthesis and Information) entwickelt. 160 Spezialisten waren drei Jahre lang mit der Entwicklung beschäftigt. 20 Millionen Mark hat diese Grundlagenforschung zur virtuellen Fernsehtechnik gekostet (ibid; Koe- nig 1994). Nur die Entwicklung eines breit einsetzbaren Standardverfahrens lässt es zu, dass eine solche Investition sich amortisiert. Hohe Herstellungskosten sind dann auch ein, aber nicht der einzige Grund dafür, dass die Virtualisierung des letzten Humanbestandteils der Fernsehnach- richtenpräsentation in den Kinderschuhen stecken bleibt. Moderator/innen sind bis heute aus Fleisch und Blut, obwohl ihr virtueller Ersatz formbarer und damit womöglich umgänglicher wäre. Erste Versuche sind in diesem Feld längst gestartet und auch wieder eingestellt worden. Das Kinderprogramm von Kabel 1 arbeitete Mitte der neunziger Jahre mit Hugo, einem Cyber-Pumuckel, der telefonisch und auf andere Weise seine Späßchen mit Kindern und Jugendlichen trieb (vgl. Schwarz 1997). HUGO ist inzwischen auf dem Datenfriedhof der Vir- tualisierungsgeschichte des Fernsehens gelandet. Um den Moderatoren-Klon zu den richtigen Bewegungen und Handlungen zu animieren, bedarf es immer noch menschlicher Hilfe und Anleitung. Eine „lebendige“ Computerfigur ent- 10/1/2001 Die Produktion von Wirklichkeit 129 steht dann, wenn ein Mensch sich in einem sensorenbestückten Anzug durch ein elektromagnetisches Feld bewegt. Die Bewegungsabläufe werden durch den Computer auf die virtuelle Figur umgerechnet, die so ihrerseits „in Bewegung gesetzt“ wird. Auch die Entwicklung dieses Verfahrens hat etwa 20 Millionen Mark gekostet (vgl. Arnu 1998) und sie führt letztlich zu mehr Aufwand als der Einsatz eines realen Moderators. Werden inzwischen schließlich weitergehende Überlegungen angestellt, in Zukunft könnten Avatare mit künstlicher Intelli- genz die Herrschaft über den Bildschirm übernehmen, so lassen sich diese durch die derzeit verfügbaren Exemplare schnell dekonstruieren. Wer beispielsweise die Internet-Moderatorin Cor@ der DEUTSCHEN BANK (www.deutsche- bank.de/ui) nach dem Namen des Bundesfinanzministers fragt, erhält die Ant- wort: „Das weiß ich leider auch nicht so genau.“ Journalistische Leistungen sind von virtuellen Moderator/innen also wohl vorerst nicht zu erwarten. Die Entwicklung virtueller Präsentationstechniken lässt sich aus heutiger Sicht daher kaum als durchschlagende Erfolgsgeschichte deklarieren. Zwar arbeiten verschiedene Anbieter, wie Focus TV im Sendezentrum München (SZM), mit virtuellen Studios und entwickeln Versuchsmodelle für den Einsatz von Avataren. Doch der Breitendurchbruch ist dieser Technik mit ihren einzel- nen Spielarten bislang nicht vergönnt. Während die Virtualisierung als Compu- tersimulation und -animation im Kino- und Fernsehfilm seit einigen Jahren einen echten Durchbruch erlebt hat, bleibt der Fernsehnachrichtensektor eher Versuchsfeld der computertechnischen Innovationen mit Hang zum Traditio- nalismus. Entgegen der einstigen Prognosen führender Fernsehmacher wie ARD-Aktuell-Chef Ulrich Deppendorf, der die virtuelle Technik Mitte der neunziger Jahre als „Technik der Zukunft, auch für Nachrichtensendungen“ bezeichnete (zit. nach Wolf 1995, 7), lässt die Breitenanwendung im aktuellen Fernsehen noch auf sich warten. Vom Journalismus zum Digital Data Processing: Produktionstechniken Bevor eine Fernsehnachrichtensendung als Gesamtprodukt ausgestrahlt werden kann, müssen unzählige Vorbereitungs- und Produktionsschritte absolviert werden, die inzwischen ebenfalls weitreichend durch Digitalisierung und Vir- tualisierung geprägt werden. Die traditionelle journalistische Informationsbe- und -verarbeitung in der Fernsehnachrichtenredaktion entwickelt sich zum Digital Data Processing. Schon seit einigen Jahren werden in Sendeanstalten zu- nehmend digitale Kameras und Schnittplätze (z. B. von FAST und AVID) ange- 130 Miriam Meckel montage/av schafft, die wiederum den Produktionsprozess beschleunigen, Materialver- brauch und -verschleiß mindern und somit Kosten reduzieren sollen. Mit der Umstellung einzelner Postproduktionsschritte auf digitale Basis ist aber nur ein Teil des gesamten Fernsehnachrichtenproduktionsprozesses computertech- nisch erschlossen worden. Darüber hinaus gehören bereits seit Jahren Nachrich- tenverwaltungssysteme zum Redaktionsalltag, über die Agenturzulieferungen, Sendepläne, Textverarbeitung und weitere verwaltungstechnische Prozesse rationalisiert und zentralisiert wurden. In den meisten Sendeanstalten steht inzwischen allerdings der Schritt zur totalen und systemintegrativen Digitalisie- rung an, der tatsächlich einen qualitativen Unterschied zu bisherigen Entwick- lungsschritten der Computerisierung darstellt. Neue digitale Fernsehnachrichtenredaktions- und -produktionssysteme wie iNews (www.avstarnews.com), ENPS (Electronic News Production System von Associated Press, www.enps.com) und IT4TV (www.it4tv.com) bieten ein neu strukturiertes und integriertes Ablaufmanagement bislang getrennter Arbeits- bereiche und -schritte im Fernsehnachrichtensektor (workflow management). Die Vorteile der Systeme neuer Generation liegen darin, dass sie • den Anwendern in Redaktion, Technik, Ablaufmanagement und Pro- duktion über eine integrierte Benutzeroberfläche am eigenen PC Zu- gang zu Informationspools und – je nach Anwenderstatus – Eingriff in einzelne Bearbeitungsschritte und -prozesse ermöglichen; • die reine Textverwaltung (Agentur- und Nachrichtentexte) durch multimediale Komponenten (Videodaten, Audiodaten, Grafiken, In- serts, Filmtexte etc.) ergänzen und alle Bestandteile in den Redaktions- und Produktionsprozess zentral integrieren; • eine flexible Planung und Direktsteuerung (On Air) des Sendeverlaufs ermöglichen; • eine Integration von Newsmanagement-Systemen und dem Internet vollziehen. Im Zuge dieser redaktionellen und produktionellen Vernetzung durch Digitali- sierung tun sich dem Fernsehnachrichtenjournalisten immer mehr Gestaltungs- freiheiten auf, die durch schnelleren, einfacheren und autonomen Zugriff auf Daten in multimedialer Form möglich werden. So stellt es eine erhebliche Erleichterung dar, wenn Fernsehnachrichtenredakteure am eigenen PC auf die Feeds des Tages zugreifen können, diese in Form eines Storyboards auf Text- und Bildbasis sichten können (vgl. Abb. 2), fehlende Bilder aus dem digitalen Archiv ergänzen und das gesamte Material womöglich gleich am eigenen PC zu einem neuen Beitrag mit Hilfe eines digitalen nicht-linearen Schnittssystems 10/1/2001 Die Produktion von Wirklichkeit 131 Abb. 2: Desktop des ProNews Organizers von IT4TV (www.it4tv.com) weiterverarbeiten können. Auf der anderen Seite zeitigt die Computerisierung des Redaktions- und Produktionsprozesses auch Konsequenzen, die im Sinne eines weiteren Schrittes der Zentralisierung und Erweiterung früher differen- zierter Tätigkeitsprofile ein erhebliches Maß an Mehrbelastung mit sich bringt (vgl. Meckel 1999, 68 ff.; Weischenberg 1982). Wenn noch vor wenigen Jahren Archivare für die Suche nach vorhandenen Bildern zuständig waren, Sichtungs- hilfskräfte die Mitschrift der Feeds von internationalen Fernsehnachrichten- agenturen vorgenommen und aufbereitet haben, Cutter/innen für den Bild- schnitt und Toningenieure für die Mischung des fertigen Beitrags verantwort- lich zeichneten, so sind all dies Tätigkeiten, die im Zuge der Digitalisierung über ein integriertes Redaktions- und Produktionssystem von Redakteur und Redakteurin am eigenen PC erledigt werden können und müssen. Auf der durch Digitalisierung erreichten neuen Stufe der Arbeitsprozessintegration wird es daher notwendig, eine neue Qualitätsdiskussion zu führen und zu beobachten, inwiefern die Qualität des journalistischen Endprodukts auf Beitrags- und Sen- dungsebene durch den Prozess der Virtualisierung redaktioneller und produk- tioneller Prozesse beeinflusst wird. 132 Miriam Meckel montage/av Faszination der Authentizität: Nachrichtenbilder lügen nicht? Nicht nur angesichts der Virtualisierung von Präsentations- und Produktions- formen im Fernsehnachrichtensektor eröffnet sich eine weitere wissenschaftli- che und anwendungsrelevante Diskussion um journalistische Qualität und Glaubwürdigkeit. Eine dritte Form der Virtualisierung von Fernsehnachrichten spielt in diesem Zusammenhang eine besonders herausgehobene Rolle – die Computergenerierung von in Nachrichtenbeiträgen verwendeten Bildern. Seit Mitte der neunziger Jahre setzen Fernsehnachrichtensender zunehmend die Computersimulation ein, um Bilder zu generieren, die aufgrund der örtlichen und zeitlichen Restriktionen der Realberichterstattung nicht zu bekommen sind. Flugzeugabstürze, Vulkanausbrüche oder Unfallverläufe werden im Com- puter berechnet und den Zuschauern in Verbindung mit Realbildern angeboten. Kritische Anmerkungen zur Virtualisierung von Fernsehnachrichtenbildern unter Gesichtspunkten des Glaubwürdigkeitsverlusts, des Missbrauchs, einer Verringerung des Wirklichkeitsbezugs und der Orientierungsleistungen von Fernsehnachrichten (vgl. Bleicher 1996) laufen allerdings ins Leere, wenn sie die Ursachen allein in der Virtualisierung suchen. Das Bild als Repräsentationsob- jekt des Authentischen, als „Abbild“ der Wirklichkeit steht seit seiner Existenz unter Manipulationsverdacht. Dass Bilder „lügen“ können, lässt sich durch die Geschichte der Visualisierung hindurch verfolgen. Ölbilder wurden übermalt, um missliebige Personen der zeitgeschichtlichen oder politischen Entwicklung entsprechend aus dem Fokus des Betrachters zu entfernen. Zeitungsbilder wur- den neu montiert, um Gegenstände oder Personen in ihren Konstellationen zu verändern (vgl. Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1998). Und schließlich hat es auch in der Fernsehgeschichte immer – entdeckte und nicht entdeckte – Formen der Manipulation gegeben. „Berühmt-berüchtigt wurden die ölverschmierten Vögel aus der Exxon-Valdez-Katastrophe in Alaska, die sich plötzlich in den ölverseuchten Gewässern des Golfs wiederfan- den.“ (Krieg 1997, 94). Zur visuellen Manipulationsgeschichte des Fernsehens gehören auch die vollständig nachgestellten, d.h. gefälschten Magazinbeiträge des Michael Born, von denen 16 bei STERN-TV und anderen Fernsehmagazinen in den Jahren 1994 und 1995 ausgestrahlt wurden und für die der Manipulateur vier Jahre Gefängnisstrafe erhielt. Die Computertechnologie verändert das Bild in seiner allemal problematischen Authentizität folglich nicht grundsätzlich, sondern graduell, indem die Manipulationsformen einfacher werden. Zudem muss man auch bei Fernsehnachrichtenbildern immer sehr grundsätz- lich fragen, welcher „Wahrheitsgehalt“ ihnen eigentlich zukommen kann. Dass Medienwirklichkeiten – auch in ihrer visualisierten Form – keine Abbilder einer 10/1/2001 Die Produktion von Wirklichkeit 133 Abb. 3: Computersimulation des Wirbelsturms El Niño bei RTL AKTUELL jenseits menschlicher Vorstellungen und Entwürfe existierenden Realität sind, sondern vielmehr sozial orientierte Wirklichkeitsentwürfe, die einen erhebli- chen Kontingenzgrad aufweisen, lässt sich gerade am Beispiel von Fernsehnach- richten sehr plastisch illustrieren. Jenseits jeglicher Manipulationsversuche liegt jeder Form der Fernsehberichterstattung ein Konstruktionsprozess zugrunde, durch den Fernsehnachrichten als solche überhaupt erst möglich werden. In Fernsehnachrichten wird eine unendliche Optionsvielfalt von Ereigniswelten durch journalistische Selektionsprozesse, werden unüberbrückbare Raum- und Zeitdifferenzen, z. B. durch den Bildschnitt, operationalisiert (vgl. Meckel 1998). Das Ergebnis kann nie mehr sein als ein journalistischer Wirklichkeits- entwurf, dem die Zuschauer aufgrund der Bilder einen besonderen Authentizi- tätsgrad zuweisen. Gerade deshalb ist es aber auch trotz aller grundsätzlichen Einwände gegen “Wahrheitsvermutungen“ zugunsten von Fernsehnachrichten- angeboten wichtig, Realbilder von Computerbildern zu unterscheiden Fernsehnachrichtenredaktionen müssen mit Rücksicht auf ihren journalisti- schen Auftrag besonders bedachtsam mit den Optionen der Virtualisierung umgehen. Shows und Unterhaltungsformate unterliegen einem anderen Realitätsan- spruch und -konzept. Deshalb sind dort „künstliche Welten“ nicht nur 134 Miriam Meckel montage/av unproblematisch, sondern geradezu konstitutiv. [...] Nachrichtensendun- gen können virtuelle Techniken nur vorsichtig als zusätzliche Visualisie- rungsmöglichkeiten einsetzen. (Schwarz 1997, 207) Für diesen Einsatz gilt es, gewisse inhaltliche und formale Kriterien zu erfüllen. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten sollte die Redaktion beim Einsatz einer computergenerierten Fernsehnachrichtensequenz nach ihrer Funktionalität dif- ferenzieren. Handelt es sich um eine Sequenz mit Orientierungs- und Service- funktion, die über den Einsatz visueller Komponenten das Verständnis auf Sei- ten der Zuschauer erleichtert, so ergibt ihr Einsatz auch aus journalis- tisch-professioneller Perspektive einen Sinn. Dies betrifft vor allem die visuelle Nachvollziehbarkeit von komplexen Sachverhalten oder Ereignisverläufen, die durch das reale Kamerabild gar nicht darstellbar sind, z. B. bei Themen aus den Bereichen Umwelt, Wissenschaft, Medizin und Technik. Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl hätte man einerseits die Aus- breitung der radioaktiven Wolke simulieren können, andererseits wären die kritischen Sicherheitsstellen innerhalb des Reaktors [...] darstellbar gewesen. (Dohle 1997, 187) Handelt es sich dagegen um eine Sequenz, die allein der voyeuristischen Visuali- sierung dient, so lässt sich über Sinn und Zweck ihres Einsatzes unter Zuhilfen- ahme journalistisch-professioneller Kriterien nicht streiten. Die computerani- mierte Darstellung des tödlichen Verkehrsunfalls von Lady Diana (vgl. Kamps 1999, 74), die spekulative Computersimulation eines Flugzeugcrashs oder die Visualisierung der technischen Details eines Verschlags für ein Entführungsop- fer gehören sicher nicht zu den notwendigen Verbildlichungen, die Fernseh- nachrichten ihren Zuschauern üblicherweise liefern sollten oder gar müssen. Unter formalen Gesichtspunkten muss den Zuschauern in jedem Falle durch eine klare Kennzeichnung computergenerierter Bilder deutlich gemacht wer- den, dass es sich bei den gezeigten Bildern um visualisierte Möglichkeiten han- delt, die sie als solche identifizieren können müssen, nicht aber um visualisierte Wirklichkeiten. Die hybride Ästhetik des Virtuellen: Fernsehnachrichten im Computerzeitalter Die Fortschritte der Computertechnologie und ihre Auswirkungen auf die Fernsehbilder werden langfristig einen Wandel der Beobachtungsperspektiven induzieren. So beobachten wir die Differenz zwischen Realbildern und compu- 10/1/2001 Die Produktion von Wirklichkeit 135 tergenerierten Bildern derzeit aus dem Kontext einer Wahrnehmungssozialisa- tion heraus, die eben diese Differenz als konstituierend voraussetzt. Mit der langfristigen Etablierung der Computertechnologie im Fernsehnachrichtensek- tor werden sich Wahrnehmungsmuster und deren soziale Interpretation verän- dern. Die Virtualisierung der Fernsehnachrichten bringt langfristig eine verän- derte Bildästhetik hervor, die womöglich nicht mehr mit der tradierten Grund- unterscheidung zwischen real und virtuell, sondern mit einer neuen Grundun- terscheidung operiert, z. B. mit einer „Leitdifferenz“ des Visualisierbaren und des Nicht-Visualisierbaren. Wie immer man die Verschiebung oder Reorientie- rung einer kulturgeschichtlichen Verortung des Bildes als Repräsentationsob- jekt (materieller) Wirklichkeit auch systematisieren oder benennen mag, sie stellt eine weitere Entwicklungsstufe dar, die gerade den Bereich des Bewegt- bildjournalismus im Fernsehen und Internet herausfordern wird. Paul Virilio (1989) unterscheidet in seiner Systematisierung zur Entwicklung des Bildes drei Stufen: (1) das Zeitalter der formalen Logik des Bildes, vor allem in Malerei und Architektur (realité); (2) das Zeitalter der dialektischen Logik des Bildes in Form von Fotografie und Kinematographie (actualité) und das Zeital- ter der paradoxen Logik des Bildes, manifestiert in Videographie und Infogra- phie (virtualité). Paradoxievermutungen, Manipulationsunterstellungen und Degenerationsthesen prägen in vielerlei Hinsicht die Auseinandersetzung mit der Rolle des Bildes in Zeiten seiner digitalen Generierbarkeit. Neue Formen der virtuellen Visualisierbarkeit – vor allem im Bereich der Faktenvermittlung, nicht dem der Fiktionsangebote – bewirken „eine weitgehende Fiktionalisierung der Welt [...], die nach und nach alle historischen Differenzen löscht, [...] eine Ent- mediatisierung der Medien [... und M.M.] eine Ohnmacht der Theorie gegen- über der Indifferenz der Verhältnisse (Herv. i. O.)“ (Kamper 1991, 94 ff.). Im- mer wieder finden wir die These, neue Formen der elektronischen Kommunika- tion hätten „den historischen Erfahrungszusammenhang der aufgeklärten Mensch- heit gesprengt“ (Zec 1991, 107). Vilém Flusser (1997, 28) macht explizit das Bild für das „Ende der Geschichte“ verantwortlich: Während der Text als linearer Code die Synchronisation von Diachronizität durch den Leser verlangt, muss der Betrachter eines Bildes Synchronizität diachronisieren. Nur im ersten Falle ent- steht Zeiterfahrung und in einem zweiten Schritt historisches Bewusstsein (ibid). Derartige Beobachtungen von Veränderungsprozessen resultieren in der Regel aus einer Differenzierung von „bisher“ und „ab jetzt“. Die zwischen die- sen beiden Zeithorizonten mit ihren jeweiligen sozialen Kontexten aufscheinen- den Differenzen werden als Problem der Andersartigkeit, verbunden mit dem Verlust von Bewährtem interpretiert. Gerade die Prozesse der Virtualisierung – selbst in Hinblick auf das Fakten-Fernsehen und seine Bilder – lassen sich aber 136 Miriam Meckel montage/av auch anders lesen. Virtualisierung gehört, ebenso wie viele technikinduzierte Innovationsprozesse zuvor, zu einer medienkulturellen Evolution, die eben nicht jeweils das völlig andere, sondern neue Mischformen, Hybridformen, her- vorbringt. Hybridisierung kennzeichnet dabei eine Entwicklung, die in unter- schiedlichen Zeitdimensionen herausgebildete Formen zu komplexen Kombi- nationen verbindet (vgl. Schneider 1997). Kombinationen von faktischen und fiktionalen Bildern in Fernsehnachrichten gehören ebenso wie viele andere Rekombinationen zur „Verkreuzung von Codes“ (Welsch 1987, 342) im Zuge medienkultureller Modernisierung. Zu dieser Entwicklung zählt die Herausforderung für die Zuschauer, den Umgang mit neuen Formationen hybrider Nachrichtenbilder neben den tradi- tionellen Formen zu erlernen und die Produkte eines langfristigen Prozesses der Virtualisierung des Fernsehens lesen zu lernen. Zwar halten sie [...] noch immer daran fest, dass die alltagspragmatische Basisunterscheidung zwischen wirklich vs. nicht-wirklich bezogen auf die [...] Referenzobjekte der medialen Kommunikation unproblematisch fortbesteht, doch sind sie andererseits fasziniert von der Auflösung dieser Unterscheidung durch die intensivierte Kommunikationsqualität von audiovisuellen Medien. (Spangenberg 1995, 37 f.) Die Faszination des (Nachrichten-)Bildes liegt heute nicht mehr nur in seiner unterstellten Authentizität, sondern ebenso in seiner Funktionalität, Anschau- ungswissen über ein Weltgeschehen zu ermöglichen und zu generieren, dass sich allemal dem individuellen sozialen Abgleich entzieht, aber als „reale Virtualität“ durchaus den Status der sozial viablen und verbindlichen visuellen Wirklich- keitskonstruktion erlangen kann, den andere Medienangebote ebenso für sich in Anspruch nehmen. Hybridformen realer und virtueller Fernsehnachrichtenberichterstattung durch Bilder entstehen ja gerade nicht als Vermischung von zwei unterschiedli- chen Ausprägungen, sondern als Vernetzung von Ausprägungen, deren Akti- vierung beispielweise im Rezeptionsprozess Ergebnis eines medienkulturellen Adaptionsprozesses ist. Virtualisierung lässt sich in diesem Zusammenhang daher – jenseits der rein technischen Betrachtung – nicht einfach als Form der Simulation abtun, sondern erzeugt Alternativen: „keine falschen realen Objekte, sondern wahre virtuelle Objekte, für welche die Frage der Realität ganz und gar gleichgültig ist“ (Esposito 1998, 270). Die Virtualisierung der Fernsehnachrich- ten mit ihrer hybriden Ästhetik ist Teil einer medienkulturellen Entwicklung mit jeweils eigenen Wirklichkeitskonstruktionen und Wirklichkeitsrepräsenta- tionen. 10/1/2001 Die Produktion von Wirklichkeit 137 Nicht die Künstlichkeit der Bilder aus dem Rechner ist das Dilemma, son- dern unser Verhältnis zu ihnen. Vielleicht ist die Angst vor dem totalen Wirklichkeitsverlust durch synthetische Bilder nur eine ohnmächtige Abwehrgeste gegenüber Auswirkungen einer noch unbegriffenen Kultur. Wir werden zu lernen haben, Bildsimulationen aller Art als eine andere Erscheinungsform von Wirklichkeit zu identifizieren. (Wolf 1997, 13) Fazit und Ausblick Die Virtualisierung von Fernsehnachrichten muss aus heutiger Sicht als medie- nevolutionärer Prozess interpretiert werden, der vordringlich durch zwei Fak- toren angetrieben wird: Zum einen bringt die zunehmende Konkurrenz um Zuschauerakzeptanz und Marktanteile auch für Fernsehnachrichtenanbieter die Notwendigkeit hervor, Programme und Formate auf dem neuesten Stand und damit attraktiv zu halten. Dazu gehört die professionelle Darbietung einer Sen- dung, verbunden damit, dass alle Möglichkeiten der Visualisierung als zentralem „Mehrwert“ des Mediums Fernsehen ausgeschöpft werden. Zum anderen lässt sich die Position eines Nachrichtenanbieters nur halten, wenn durch professio- nelles Produktions- und Produktmanagement eine „journalistische Prozessop- timierung“ stattfindet, die wesentlich durch virtuelle Techniken gestützt wird. Diese Entwicklungen verlangen von privaten und professionellen Beobachtern einen medienevolutionären Lernprozess, in dessen Folge sich Rezeptions- und Interpretationsmuster entwickeln, die veränderte Bedingungen und Ausprä- gungen einer virtualisierten Fernsehwelt ernst nehmen. Vor allem für die kom- munikations- und medienwissenschaftliche Beobachtung und Analyse genügt es nicht, tradierte Differenzoperationen (real/virtuell, Wirklichkeit/Medien- wirklichkeit) auf die neuen Hybridformen anzuwenden. Vielmehr wird eine zentrale Herausforderung darin liegen, neue Differenzen und Schnittstellen herauszuarbeiten, über die sich adäquat beobachten lässt, was „Virtualisierung“ langfristig für das Genre, seine Produktionsverhältnisse und Produkte bedeutet. Literatur Arnu, Titus (1998) Die Zukunft ist schon vorbei. Vor drei Jahren kamen virtu- elle Studios groß in Mode, nun ist der Zauber nicht mehr gefragt. 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München, New York: Saur. Welsch, Wolfgang (1987) Unsere postmoderne Moderne. Weinheim: Akademie. Wolf, Fritz (1997) Digitale Phantome. Die Entwicklung der computergenerier- ten Bilder. In: Agenda 31, S. 10–13. Wolf, Fritz (1995) Welt im Blauraum. Das virtuelle Studio und die Nachrichten- lage. In: Epd/Kirche und Rundfunk 28, S. 7–10. Zec, Peter (1991) Das Medienwerk. Ästhetische Produktion im Zeitalter der elektronischen Kommunikation. In: Florian Rötzer 1991, S. 100–113. Zu den Autoren Udo Göttlich, Dr., geb. 1961, Wiss. Mitarbeiter am Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung (RISP) an der Gerhard-Mercator-Univer- sität Duisburg; stellvertretender Projektleiter im Forschungsprojekt: „Daily Soaps und Kult-Marketing“ im DFG-Schwerpunktprogramm „Theatralität. Veröffentlichungen u. a. (Hrsg. zus. m. J.-U. Nieland u. H. Schatz), Kommuni- kation im Wandel. Zur Thetralität der Medien, Köln 1998; (Hrsg. zus. m. R. Bromley u. C. Winter), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg 1999; (Hrsg. zus. m. R. Winter), Politik des Vergnügens. Zur Diskus- sion der Populärkultur in den Cultural Studies, Köln 2000. Nathalie Iványi, M. A: geb. 1971, Wiss. Mitarbeiterin im Fach Kommunika- tionswissenschaft, organisatorische Leitung im DFG-Forschungsprojekt ‚Me- diale (Re)Präsentation von Liebe‘. Veröffentlichungen u. a.: Die herrschende Konstruktion der Wirklichkeit. Anthony Giddens wissenssoziologisch gelesen, in: Hitzler, Ronald et al. (Hrsg.) Hermeneutische Wissenssoziologie. Konstanz: 1999, S. 147–67. Zusammen mit Jo Reichertz, Tyrannei der Theatralität. Hei- ratsanträge der Sendung Traumhochzeit als neue Formen öffentlichen Lebens, in: Hahn, Kornelia (Hrsg.), Öffentlichkeit und Offenbarung. Eine (interdiszi- plinäre) Mediendiskussion. Konstanz 2001. Gunther Kirsch, geb. 1967, Tontechniker bei Gute Zeiten, Schlechte Zei- ten (Grundy UFA TV Produktions GmbH); Studium Publizistik und Theater- wissenschaft an der FU Berlin, Magisterarbeit zu den Produktionsbedingungen von Daily Soaps, insbesondere zu Fragen der Rollengestaltung, Besetzung und Rollenentwicklung im Produktionsprozess. Anja Lutz, Dipl.-Soz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungs- projekt „Vernetzte Content-Produktion für das digitale Fernsehen“. Arbeits- schwerpunkte: Interorganisationale Netzwerk. Miriam Meckel, Dr., geb.1967, Professorin für Publizistik- und Kommunika- tionswissenschaft am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität 142 montage/av Münster, Staatssekretärin und Regierungssprecherin in NRW. Veröffentlichun- gen u. a. Fernsehen ohne Grenzen. Europas Fernsehen zwischen Integration und Segmentierung Opladen, 1994; Redaktionsmanagement. Ansätze aus Theorie und Praxis, Opladen 1999. Die globale @genda. Kommunikation, Medien, Jour- nalismus in der Weltgesellschaft, 2000. Eggo Müller, Dr., geb. 1960, Assistenzprofessor am Institut für Medien und Re/präsentation an der Universität Utrecht; Veröffentlichungen zu Fernsehen und populärer Kultur, u. a. Paarungsspiele. Beziehungsshows in der Wirklichkeit des neuen Fernsehens, Berlin 1999. John Tulloch, Professor of Media Communication, Head of the School of Jour- nalism, Media and Cultural Studies, Cardiff University. Veröffentlichungen u. a. Performing Culture: Stories of Expertise and the Everyday London, 1999; Watching Television Audiences, London 2000. Arbeitet z. Zt. an einer Buchpub- likation über Risiken und einer Monographie zum Publikum von Live-Sen- dungen. Arnold Windeler, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie Koordinator der Forschungsgruppe „Unternehmungsnetzwerke“ am Institut für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Uni- versität Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Industriesoziologie, Organisationstheo- rien und interorganisationale Netzwerke. Carsten Wirth, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Foschungspro- jekt „Vernetzte Content-Produktion für das digitale Fernsehen“. Arbeits- schwerpunkte: Organisations- und Netzwerktheorie, industrielle Beziehungen, Dienstleistungsarbeit.