Migrational Aesthetics Zur Erfahrung in Kino und Museum Volker Pantenburg «Sie wissen von Ihrer Arbeit, dass ein Film nicht ein Film ist. Der eine Film ist wie ein Brötchen, der andere Film ist wie ein Krokodil, der nächste ist vielleicht eine Katatonie, für den übernächsten fehlt einem vielleicht gänzlich das Wort» (Farocki 1979, 527). Was Harun Farocki 1979 nach dem Kinostart seines Films Zwischen zwei Kriegen eini- gen Filmkritikern entgegenhält, gilt auch 30 Jahre später. Und es gilt doppelt, weil nicht nur auf der Ebene der Filme die Diversifizierung zugenommen hat, sondern auch die Zusammenhänge und Erfahrungs- modi vielfältig sind, in denen Filme wahrgenommen werden. Den ei- nen Film sehe ich häppchenweise im 10 x 7 cm großen Bildfenster zuhause auf YouTube, vimeo, dem Ubuweb oder im Streamingportal von The Auteurs, den anderen vormittags in einer Pressevorführung, den darauf folgenden gemeinsam mit ein paar Freunden im Multiplexkino und einen nochmals anderen im Dämmerzustand zwischen den Zeit- zonen, 11000 Meter über dem Indischen Ozean.1 Wer über die Filmerfahrung im Singular sprechen möchte, steht auf sandigem Boden; es gibt sie ebenso wenig wie es das Kino gibt. Film begegnet uns an den unterschiedlichsten Orten, in mehr oder weni- ger unscharfen Konturen, in allen Abstufungen zwischen privaten und öffentlichen Präsentationsformen. Es kommt hinzu, dass in die Fil- merfahrung ganz unterschiedliche indirekte Eindrücke eingehen, auf die Victor Burgin in seinem Konzept des «Remembered Film» (2004) hingewiesen hat: Selbst einen Film, den ich noch nicht gesehen habe – 1 Zum damit verbundenen Problem von Maßstab und Größe forscht in den letzten Jahren Mary Ann Doane. Vgl. neben anderen Aufsätzen zuletzt Doane 2009. 38 montage AV 19 /1 / 2010 so das geläufige Phänomen, das Burgins Gedächtniskonzept zugrunde liegt – kann ich durch Plakate, Trailer, Gespräche, Texte längst partiell «erfahren» haben, bevor ich die Kinokarte kaufe, den Kanal im Bord- entertainment wähle oder den entsprechenden Link anklicke. Kulturpessimisten bemühen in diesem Zusammenhang gern die Metapher der Bilderflut. Sie rücken das Phänomen in die Nähe ei- ner Naturkatastrophe, gegen die man sich schützen müsse. Treffender – buchstäblich und im übertragenen Sinne – ist es, von den zeitge- nössischen Migrationsbewegungen des Films als Strömen zu sprechen: Distributionskanäle und Datenströme, Übertragungsmedien für Texte und Debatten spielen in diesem Feld gleichermaßen eine Rolle. Sie beschleunigen und verlangsamen den Bildtransport, lenken und be- grenzen die Kapazitäten, modulieren die Grenze zwischen öffentlich und privat. Es gibt Orte und Diskurse, an denen sich diese Bilderströme ver- dichten und Knotenpunkte bilden. Zwei davon möchte ich hier in den Mittelpunkt stellen und näher zusammenrücken, als dies üblicher- weise geschieht. Der eine der beiden wird wahlweise durch die Berei- che «Kunst» und «Film» oder durch die Institutionen «Museum» und «Kino» bezeichnet. Gemeint ist die seit den 1990er Jahren unüberseh- bare Konjunktur von installativen Formen in Kunsträumen, die sich – anders als weite Teile der klassischen Videokunst und des Experimen- talfilms – emphatisch auf narrative Formen und Bildregimes des Kinos beziehen. Mit den Begriffen «Entre-Image» (Bellour 1990), «Cinéma d’Exposition» (Royoux 1997), «Kinematographische Installation» (Re- bentisch 2003), «Gallery Films» (Fowler 2004) oder jüngst «Artists’ Ci- nema» (Connolly 2009) sind immer wieder Gattungsbezeichnungen vorgeschlagen worden, um dem heterogenen Feld einen gemeinsamen Namen zu geben. Mit Stan Douglas, Steve McQueen, Douglas Gordon, Eija Liisa Ahtila, Doug Aitken, Pipilotti Rist, Mark Lewis, Pierre Huyg- he, Philippe Parreno oder Shirin Neshat haben sich längst Klassiker im Feld etabliert, von denen einige inzwischen auch Kinofilme gedreht haben.2 Auch Victor Burgin und Harun Farocki haben zu diesem Feld mit Installationen beigetragen, die eng auf das Kino bezogen sind. 2 So Philippe Parrenos und Douglas Gordons Zidane, un portrait du 21e siècle (F/ IS 2006) oder Steve McQueens Hunger (GB/IE 2008) und Pipilotti Rists Pepper- minta (AT/CH 2009). Die genannten Künstler sind ausnahmslos in den 60er Jahren geboren, aber um diesen Nukleus herum zeichnet sich ab, dass auch die zehn Jahre Jüngeren routiniert mit filmischen Formen und Kinotraditionen umgehen. Um auch hier einige Namen und Herkünfte zu nennen, die zugleich deutlich machen, dass die «Gallery Filmmakers» des letzten Jahrzehnts, anders als die vorige Generation von Pantenburg: Migrational Aesthetics 39 Die zweite Variante der «Entgrenzung des Kinos» beschreibt die Zweit-, Dritt- und Viertverwertung und Loslösung filmischer For- men vom Dispositiv Kino und die Migration in Privaträume. Sie setzt historisch mit dem Fernsehen ein, verstärkt sich mit der Durchset- zung der VHS-Kassetten und gewinnt unter digitalen Vorzeichen mit DVD, Video on demand und mobilen Abspielgeräten wie dem iPho- ne rasant an Dynamik (vgl. Klinger 2006; Snickars/Vonderau 2009). Die beiden skizzierten Phänomene – museale «Black Box» und kom- merzielles «cinema without walls» (Corrigan 1991) – werden meist isoliert voneinander wahrgenommen und in unterschiedlichen Kon- texten besprochen. Über installative Formen erfährt man in kuratori- schen Vorworten und kunstkritischen Zeitschriften,3 über den Film als «intertextual commodity» in filmökonomischen und medienwissen- schaftlichen Zusammenhängen. Mit der diskursiven Arbeitsteilung gehen normative Positionierun- gen einher. Den Kunsträumen steht die Kulturindustrie gegenüber, der ästhetischen Erfahrung das unterhaltsame Entertainment, der Reflexi- on des Besuchers die Berieselung des Zuschauers, der konzentrierten Wahrnehmung die zerstreuten Blicke. Mein Beitrag soll diesen Dicho- tomien den Gedanken entgegensetzen, dass die Transfers zwischen Kino und Museum präziser beschrieben werden können, wenn man über die beiden Phänomene hinausgeht und die Kommodifizierungs- und Er- fahrungsformen berücksichtigt, die den Hintergrund für Kino- und Ausstellungsbesuch bilden. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, dass die Musealisierung und Kommerzialisierung mehr miteinander zu tun haben als die säuberliche Trennung suggeriert. In der Gegen- überstellung von Kino und Museum fehlt häufig die Reflexion dar- auf, inwieweit beide Seiten der Unterscheidung auf eine gemeinsame Geschichte der Diffusion von Filmen bezogen sind, die seit der Ver- breitung von Videorecordern in den Siebzigern auch eine Geschichte der Ware Film ist. Drei Etappen in der Kunst/Kino-Geschichte werden in meinem kursorischen Durchgang im Vordergrund stehen: (1) Das «Expanded Cinema», (2) das Museum als Erfahrungsraum und (3) die Figur des Flaneurs als Prototyp des Museumsbesuchers. Die drei Etap- pen sollen deutlich machen, dass die Frage nach der Filmerfahrung auf Künstlern, aus ganz unterschiedlichen Ländern und Kontexten kommen: Clemens von Wedemeyer (* 1974, D), Laura Horelli (* 1976, FN), Anri Sala (* 1974, ALB), Rosa Barba (* 1972, D), Yang Fudong (* 1971, VCH), Omer Fast (*1972, ISR). 3 Und mit einiger Verzögerung in filmwissenschaftlichen Kontexten, wie die regelmä- ßigen Beiträge zum Thema in der Zeitschrift Screen zeigen (vgl. Fowler 2004 und Cowie 2009). 40 montage AV 19 /1 / 2010 ganz verschiedenen Analyseebenen ansetzen kann. Ist mit dem «Ex- panded Cinema» eine Gruppe von Künstlern, Positionen und Arbei- ten angesprochen, die mit ihrer kritischen Bezugnahme auf das Kino mindestens implizit auch eine Erfahrungsutopie verbinden, so steht mit dem Museum ein möglicher institutioneller Ort mit einer spezifischen Zeitlichkeit im Zentrum. Der Typus des Flaneurs schließlich weist da- rauf hin, dass in der Rekonstruktion der Filmerfahrung stets das Prob- lem statischer oder dynamischer Verhältnisse zwischen Zuschauer und Kunstwerk mitthematisiert ist. Es hängt nicht nur mit diesen unter- schiedlichen Ebenen des Gegenstands, sondern auch mit dem prote- ischen Charakter des Dispositivs Installation insgesamt zusammen, dass ein synthetisierender, auf Kunst allgemein bezogener Erfahrungsbegriff, wie ihn etwa John Dewey entwirft, hier nicht greift. Aussichtsreicher erscheint mir deshalb, einige Beschreibungen und Bewertungen auf ihre erfahrungstheoretischen Implikationen hin zu untersuchen. 1. Aus dem Kino | Expanded Cinema Zur kanonischen Vorgeschichte der Durchmischung von Kunst und Kino gehören die heterogenen Impulse, die unter dem Namen «Ex- panded Cinema» zusammengefasst wurden (vgl. Leighton 2008, 13- 20). Zum ersten Mal erfolgte zwischen 1960 und 1975 auf dem Boden der Kunst der mehr als nur punktuelle Versuch, mit alternativen Räu- men und multiplen Leinwänden zu arbeiten oder das Konzept ‹Film› ganz von Raum und Medium zu lösen.4 «Expanded Cinema ist der Versuch, die Grenzen der Filmleinwand zu sprengen und Film wieder auf seinen Wert als Medium zurückzuführen, befreit von jenem Sprachcharakter, den er im Laufe seiner Entwicklung angenommen hat», definieren Hans Scheugl und Ernst Schmidt jr. (1974, 253). Zwei Be- wegungen fallen zusammen: Dem Schritt weg von der Leinwand – und damit von der festen Anordnung zwischen Projektor, Leinwand und Zuschauer – entspricht komplementär die Gegenbewegung nach innen, hin zur materialistisch/modernistischen Untersuchung des Me- 4 Das bekannteste Beispiel ist wahrscheinlich Valie Exports Tapp und Tastfilm (AT 1980), ein um Exports Oberkörper geschnalltes Kino, in dem die Hände des Benut- zers die Brüste der Künstlerin betasteten. Scheugl und Schmidt nennen in ihrem Ein- trag aber auch «die Utopie von Pillenfilmen und Wolkenprojektionen» (1974, 253). Pantenburg: Migrational Aesthetics 41 diums Film. Scheugls und Schmidts Definition ist erkennbar aus dem Blickwinkel der Wiener Avantgarde formuliert. Exponenten wie Peter Kubelka mit der Reduktion auf einzelne Filmkader einerseits, Peter Weibel und Valie Export mit den aufgrund ihrer Drastik oft nur the- oretisch formulierbaren Angriffen auf den Kinozuschauer5 stellen Ex- trempositionen des Spektrums dar. In den Wiener Attacken war die Zuschauererfahrung vor allem als kathartischer, teils körperlicher Schmerz vorgesehen. Andere Ziele verfolgten die amerikanischen Gruppierungen, die Gene Youngblood 1970 in seinem gleichnamigen Buch als «Expanded Cinema» kanoni- siert hat. Auf das Kino bezogen sind die meisten dieser Arbeiten vor al- lem darin, dass sie das Prinzip der Projektion in andere Räume verlegen (auf Performance-Bühnen, in Kirchen, auf Open Air-Gelände oder in Konzertsäle) und die Zahl der Projektionen vervielfachen.6 Seltener als auf die ideologiekritische Stoßrichtung dieser Kinokritik wird auf die Erfahrungsutopie des «Expanded Cinema» hingewiesen, die der Filme- macher und Theoretiker Stan VanDerBeek bereits seit Mitte der 60er Jahre formulierte. Die kollektive Erfahrung mit Bildern müsse globali- siert und von der Vorherrschaft des gesprochenen oder geschriebenen Wortes befreit werden.7 Räumliche Voraussetzung ist für VanDerBeek eine immersive Kuppelarchitektur, die er «Movie-Drome» nennt. The ‹movie-drome› would operate as follows: In a spherical dome, simul- taneous images of all sorts would be projected on the entire dome-screen. The audience lies down at the outer edge of the dome, feet towards the cen- tre; thus almost the complete field of view is taken up by the dome-screen. Thousands of images would be projected on to this screen (VanDerBeek 1966, 43). 5 Einen Grenzfall der körperlichen Attacken stellen Weibels und Exports Aktionen im Rahmen der 1969 durch Deutschland und die Schweiz tourenden «Underground Explosion» dar, bei denen Weibel einen Wasserwerfer ins Publikum richtete und Valie Export in die Zuschauerreihen hineinpeitschte. Weibels Projekt Lasermesser (1969), bei dem den Zuschauern die Augenbrauen mit Lasern weggebrannt werden sollten, wurde nur noch theoretisch formuliert (vgl. Hein 1971, 158). 6 Die Technik der Bildprojektion bildet regelmäßig die Vergleichsebene, auf der Kunst und Kino miteinander in Beziehung gesetzt werden: Vgl. beispielsweise Into the Light. The Projected Image in American Art 1964-1977 (Iles 2001), Jenseits des Kinos. Die Kunst der Projektion (Jäger/Knapstein/Hüsch 2006), Art of Projection (Douglas/Eamon 2009). 7 Was diesen Punkt angeht, steht VanDerBeek in einer langen theoriehistorischen Li- nie, die von Béla Balázs’ Hoffnungen zu Beginn von Der sichtbare Mensch (2001, 16) bis zu den zahllosen Klagen Godards führt, dass die Sprache das Bild zu Unrecht dominiere. 42 montage AV 19 /1 / 2010 VanDerBeeks Kopplung von immersiver Architektur und edukativen Bildinhalten – er selbst nennt das Movie-Drome auch «experience machine» – versucht eine Kopplung von somatischer Überwältigung und intellektueller Adressierung des Zuschauers, die im Rahmen des Entertainment auf das IMAX, im Rahmen der Medienkunst auf die Arbeiten Jeffrey Shaws vorausweist. Am Horizont von VanDerBeeks Utopie, darauf kommt es mir an, stehen ursprünglich jedoch nicht die Galerie oder das Museum, son- dern die Hoffnung auf ein neues kommunikationstheoretisches Para- digma. Die Idee einer entgrenzten und immersiven Architektur hätte im Dienste einer vernetzenden, globalen lingua franca der Bilder stehen sollen, die dezidiert als Ausdruck eines anti-institutionellen, selbstbe- stimmten Kontexts gedacht ist. VanDerBeek spricht von einer «pictu- re-language based on motion pictures» (ibid., 41) und verortet seine Ziele im Schnittfeld von Kunst und Erziehung. Es gehe darum, so die aus der historischen Distanz etwas krude anmutende Mischung aus technischem Machbarkeitsglauben, psychologischen Annahmen eines «ozeanischen Bewusstseins» und Hoffnung in die Globalisierung, «to reach for the emotional denominator of all men, the non-verbal basis of human life» (ibid., 47). Es ist leicht, diese Vorstellungen als naiven Ausdruck des emanzipatorisch-esoterischen Zeitgeistes der 60er Jahre zu disqualifizieren. Entscheidend ist, dass VanDerBeek die Ideen, die zunächst noch an eine immersive Kuppelarchitektur im Stil Buckmin- ster Fullers gebunden sind, schon wenig später statt auf einen kinoähn- lichen Raum auf die technischen Medien Computer und TV bezieht. In einem Dokumentarfilm formuliert er das 1972 so: Quite clearly, with channel television and cable television, and other sys- tems all these ideas will become part of our life. By telephone, you’ll be able to reach out and get into a computer. Your children, 14, 15 years old, will be able work with this in probably three or four years. Art schools will teach programming as much as they teach live drawing. There’s a new who- le definition of communications which are now in our hands – if we can get our hands on them.8 If we can get our hands on them: Wie allen emanzipatorisch orientier- ten Medienutopisten (vgl. Brechts «Radiotheorie» oder Enzensbergers «Baukasten») schwebt VanDerBeek ein Modell vor, in dem der Rezi- pient zum Produzenten wird und der Empfänger zum Sender. «Ex- 8 VanDerBeek in The Computer Generation (John Musilli, USA 1972). Pantenburg: Migrational Aesthetics 43 panded Cinema» meint daher mehr als die Ablösung der klassischen Kino-Situation, der zeitgleich zu den pragmatischen Bemühungen der Expanded Cinema-Vertretern theoretisch in der Apparatus-Theorie der Prozess gemacht wurde. Festzuhalten ist, dass mit Computer und Fernsehen zu diesem Zeitpunkt zwei Medien die stärkste Anziehungs- kraft ausübten, deren emanzipatorischer Charakter im Falle des Fern- sehens schnell verloren ging und im Falle des Computers in den 90er Jahren unter den Bedingungen des Netzes als kommunikative, kaum jedoch als ästhetische Utopie wieder neu belebt wurde. Mit dem Phä- nomen der Musealisierung sind VanDerBeeks Bemühungen unverein- bar; nicht um die Festlegung auf ein institutionelles Feld mit eigenen Regeln und räumlichen Parametern ist es ihm zu tun, sondern um die möglichst weite Streuung und Ausbreitung eines Umgangs mit Bil- dern, der sich gerade nicht an institutionelle oder diskursive Einhe- gungen hält. Wer die Konfrontation mit dem Kino um 1970 als Schritt in Richtung Museum und Galerie interpretiert, verkennt insofern den anti-institutionellen Impuls der Bewegung. 2. Ins Museum | Centre Pompidou Aus einem institutionellen Impuls dagegen – als staatliches Prestige- projekt – entsteht in den 1970er Jahre in Paris eines der Museen, das seit 1990 immer wieder mit Einzel- und Gruppenausstellungen zur Konjunktur des Ausstellungskinos beigetragen hat. Auf die Eröffnung des Centre Culturel George Pompidou, von den Parisern kurz «Beau- bourg» genannt, reagiert Jean Baudrillard mit einem aggressiven Mani- fest, das den architektonisch und vom Ausstellungsdisplay implemen- tierten Erfahrungsmodus des Centre Pompidou als «Effet Beaubourg» kritisiert. Über die Museumsbesucher heißt es dort: Flowing through the transparent space they are, to be sure, converted into pure movement [...]. They are summoned to participate, to interact, to si- mulate, to play with the models... and they do it well. They interact and manipulate so well that they eradicate all the meaning imputed to this ope- ration and threaten even the infrastructure of this building (1982, 7). Das abschätzige «they» in Baudrillards Darstellung könnte nicht weiter entfernt sein von VanDerBeeks selbstbewusstem «we», das die Produk- tionsmittel selbst in die Hände nimmt. Zielte VanDerBeeks Computer- und TV-Utopie auf eine kollektive Erfahrung ab, die auf Bildern statt auf Sprache basiert und sich der appropriierten technischen Medien 44 montage AV 19 /1 / 2010 bedient, spricht Baudrillard ausdrücklich von den amorphen «Massen», die bei ihm eher als Objekt denn als Subjekt der Erfahrung in Betracht kommen. In der postmodernen Zuspitzung zur Kenntlichkeit entstellt, begegnet der Leser einer vertrauten Denkfigur der Kritischen Theo- rie. In seinem Text Kult der Zerstreuung hatte Siegfried Kracauer die «zerstreute» Erfahrung allerdings als Effekt der architektonischen und inhaltlichen Disposition der großen Berliner Kinopaläste gefasst. Die Massen, denen Baudrillards Geringschätzung sicher ist, konnten bei Kracauer zudem noch als mögliche Agenten einer nicht-bürgerlichen, alternativen Öffentlichkeit fungieren. Baudrillards Suada zielt auf das «Supermarketing» von Kunst und Kultur, in dem Ideale wie Partizi- pation und Interaktion nur noch als warenförmige und verdinglichte Schwundstufen ihrer emanzipatorischen Vorbilder vorkommen.9 Mit Installationen und bewegten Bildern im Museumskontext hat dieser Angriff nur implizit zu tun. Baudrillards Text zielt auf das Muse- umsdispositiv als Ganzes ab, er hat weder konkrete Ausstellungen noch Kunstwerke im Auge. Sein Generalverdikt berührt aber – für meinen Zusammenhang wichtig – die zentrale Frage, auf welchen Gegenstand die ästhetische Erfahrung sich im Ausstellungskontext eigentlich rich- tet: Auf das einzelne Werk? Auf die kuratorische Verknüpfung? Oder auf die Ausstellung als Ganze, wie Nicolas Bourriaud vorgeschlagen hat?10 Wäre die «migrational aesthetic» des umherwandelnden Muse- umsbesuchers auf der Ebene des Rezipienten das Gegenstück zu den «Relational Aesthetics» von Künstler und Kurator? Das hier angesprochene Problem betrifft die Zeitökonomie und das damit verbundene Verhältnis zwischen Besucher und Kunstwerk. Wäh- rend die Zeitspanne der Erfahrung im Kino durch die Länge des Films klar definiert ist, wird dieses Verhältnis im Museum stets neu ausgehan- delt. Ein Konflikt entsteht, da eine Vielzahl von Arbeiten um die Auf- merksamkeit des Besuchers konkurriert. Peter Osborne charakterisiert die Museumserfahrung in diesem Zusammenhang als «distracted recep- tion» und beschreibt die Grundsituation des Besuchers so: «Other works 9 Der gleiche Gedanke findet sich, spielerischer, in Kidlat Tahimiks Film Mababag- nong Bangungot (Der parfürmierte Alptraum, PHI 1977). Immer, wenn der nach Frankreich ausgewanderte Protagonist nach einer kurzen Reise zurückkehrt nach Paris, kommentiert er die Bauarbeiten am Centre Pompidou mit den Worten, die Arbeiten am großen Supermarkt nebenan seien wieder ein Stück fortgeschritten. 10 Nach Bourriauds Auffassung ist bei den «relational» arbeitenden Künstlern, unter de- nen viele auch mit Film arbeiten (Douglas Gordon, Pierre Huyghe, Philippe Parreno) nicht mehr das einzelne Werk, sondern die Ausstellung die «basic unit» der Kunster- fahrung (1998, 71f). Die Metapher, die nach Bourriaud am geeignetsten sei, um diese Entwicklung zu fassen, sei die des «Filmset», durch das sich der Besucher bewege. Pantenburg: Migrational Aesthetics 45 ‹gaze› at the viewer behind his or her back, making their own claims on his or her time, providing the reassurance of possible distraction» (2004, 69). Was als prinzipielle Offenheit der Museumssituation interpretiert werden kann, gerät hier im Sinne interner Konkurrenzen innerhalb ei- ner Ausstellung in den Blick. Flexibilität heißt, immer auch etwas ande- res sehen zu können. Die Modalität der Ausstellung ist deshalb der Kon- junktiv, während die Kinosituation alle denkbaren Alternativen durch diverse räumliche und textuelle Rahmungen für die Dauer des Films abschattet (Anfangszeit, Schließen der Tür, Herunterdimmen der Saal- beleuchtung, Werbung, Logos der Produktionsfirmen, Vorspann). Die Filmerfahrung, so könnte man sagen, ist eine Erfahrung im Indikativ.11 Für Kracauer und Walter Benjamin stellten Architektur und – vor al- lem – Kino den maßgeblichen Bezugspunkt für die Theoretisierung der «Zerstreuung» in den 30er Jahren dar. Gegen das bürgerliche Ideal der Kontemplation und Sammlung brachten sie einen ambivalenten, zwi- schen «aktiv» und «passiv» oszillierenden Erfahrungsmodus in Stellung,12 der dem modernen, großstädtischen Kontext angemessener sei und des- sen politische Implikationen noch nicht festlagen. In den Jahrzehnten nach Benjamins und Kracauers Einschätzungen wurden weitere medi- ale Teststrecken für das Verhältnis von Zerstreuung und Aufmerksamkeit erfunden. Zog in den 1960er Jahren das Fernsehen den Vorwurf auf sich, lediglich oberflächliche und zerstreute Rezeptionsformen zuzulassen, ist diese Einschätzung inzwischen auf den Computer und das World Wide Web umgeschwenkt. In aufmerksamkeitsökonomischer Hinsicht müsse aber, so Osborne, auch der Ausstellungsbesuch in die Reihe zeit- genössischer Zerstreuung aufgenommen werden: This need for distraction is readily fulfilled by the gallery: by the sounds and movements and sight of other viewers, by the beguiling architecture of gallery-space, the view out of the window, the curatorial information cards, the attendants, and by other works (2004, 68). In ihrer Eigenschaft als zeitbasierte Formen bringen insbesondere ins- tallative Filmarbeiten in Ausstellungen die prekäre Dialektik von Auf- 11 An anderer Stelle habe ich die Zeitmodi von Kino und Museum ausführlicher zuei- nander in Beziehung gesetzt und den Ausstellungsbesuch als «verräumlichte» Form des Zapping beschrieben (vgl. Pantenburg 2010). 12 Vgl. hierzu Martin Jays Rekonstruktion von Walter Benjamins Erfahrungskonzept: «[A] more complicated process was needed, which combined passive and active moments and would acknowledge the traumatic shocks of modern life and find a way to salvage them for a future realization of experience at its most redemptive» (Jay 2005, 337). 46 montage AV 19 /1 / 2010 merksamkeit und Zerstreuung auf den Punkt: Einerseits sind Zeit und Dauer das strukturgebende Merkmal der filmischen Artikulation. An- dererseits ist durch die Variablen der Ausstellungssituation ein oft we- nig produktiver Zusammenstoß mit der Zeitlichkeit des Besuchers vor- programmiert. Formen wie der Loop oder der kurze Clip formulieren mögliche Antworten auf dieses Problem, aber diese Antworten bleiben unbefriedigend, weil sie das Register filmischer Arbeit erheblich ein- schränken. Nicht zuletzt darin liegt die Unverbundenheit zwischen ei- nem Teil der Avantgardepraktiken der 1970er Jahre und dem «[m]ain- streaming of film and video installation in the 1990s as a gallery-based form» (Skoller 2005, 176) begründet. Das Paradigma der Freiheit, um es pathetisch auszudrücken, ist umgeschlagen in das der Unverbindlich- keit oder der zeitökonomischen Restriktion, in dem eine Zeiterfahrung zwar möglich, aber in den tatsächlichen Museumsbesuch schwer zu in- tegrieren ist – es sei denn, der Künstler fasst sich kurz und kalkuliert die Werk/Aufmerksamkeits-Ratio auf geschickte Weise mit in seine Arbeit ein. Für einen Filmemacher wie Malcolm Le Grice, der durch seine frü- he Hinwendung zu Computerfilmen und die Arbeiten mit Mehrfach- projektionen eine der zentralen Figuren der britischen Variante des «Ex- panded Cinema» war, stellt die implizite Zerstreuung des Galerieraumes daher ein wichtiges Argument gegen installative Produktionen dar: However I have largely rejected this form because of the transience of the viewers’ engagement and consequent lack of depth in time-based art in the gallery. This lack of sustained attention and duration veers work towards concept and idea rather than engaged experience (2001, 18). 3. Flaneur revisited Die Figur des Flaneurs wird gern als kulturgeschichtliche Blaupause für die derart streunende Aufmerksamkeit des Ausstellungsbesuchers her- angezogen. Dominique Païni, in der ersten Hälfte der 2000er Jahre Ku- rator für transdisziplinäre Ausstellungen am Cenre Pompidou, spricht in diesem Zusammenhang von einer «Rückkehr des Flaneurs».13 13 Der Hinweis auf die Mobilität des Besuchers (im Gegensatz zur festen Positionie- rung im Kino) fehlt in fast keinem Text über die Kunst/Kino-Konstellation. «The gallery installation invokes a mobile spectator in a specific historical space and time» (Cowie 2009, 126). Pantenburg: Migrational Aesthetics 47 Das Flanieren erzeugt Fiktion und lässt einen an einer wundersamen Be- stimmung der Kinovorstellung teilhaben, die bislang eine einzige Lein- wand und die frontale Fesselung des unbeweglichen Zuschauers impli- zierte. Durch die Befreiung aus dem Kinosessel sorgt das Flanieren des Zuschauers für die Verwirklichung und Montage der Fiktion (Païni 2002, 68f; Übers. V.P.).14 In der Figur des unfreien, entmündigten Zuschauers in seinem Ki- nosessel ist unschwer der Protagonist der Apparatustheorie zu erken- nen, die vielen euphorischen Beschreibungen der Museumssituation bis heute explizit oder implizit zugrunde liegt. Dabei ist nicht klar, inwiefern allein die physische Bewegung durch die Räume einen Er- fahrungsvorsprung begründen soll und warum der körperlichen Be- wegung a priori ein kritisches, distanzierendes Potential zugeschrieben wird15 – ein blinder Fleck, den Mark Nash bereits 2002 anlässlich der documenta 11 erkannt und benannt hat: The key question is whether the new physical mobility that the spectator is offered in gallery and museum installations really involves a critique of dominant spectatorial regimes of cinema. Do gallery-based moving-image practices participate in the construction and problematisation of the subject in this way? (2008 [2002], 449). Dominique Païni dagegen scheint von diesem Zweifel unberührt. In seiner Analogisierung von Flaneur und Museumsbesucher bleibt auch unberücksichtigt, dass der Straße und dem urbanen Raum, der für Ben- jamin das Medium des Flaneurs war, ein fundamental anderer Begriff von Öffentlichkeit zugrunde liegt als dem Museum und der Galerie. Ich habe bereits auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die Eigen- zeitlichkeit des Besuchers mit jener der installativen Arbeit produktiv zu synchronisieren. Der zeitliche Parameter der duration, der für zahl- reiche Experimente des Avantgarde-Films – insbesondere des struktu- 14 «Flâner engendre de la fiction et on assiste à une étrange destinée du spectacle ciné- matographique qui impliquait jusqu’alors un écran unique et la captivité frontale du spectateur immobile. [...] Libérée du fauteuil du spectacle cinématographique, c’est la flânerie du spectateur qui réalise, qui monte la fiction» (Païni 2002, 68f). 15 Hier unterscheidet sich meine Einschätzung deutlich von Juliane Rebentischs Be- wertung der kinematographischen Installation als reflexionsästhetisch gewendeter Erfahrungsform des Kinos (vgl. Rebentisch 2003, 188f). Insgesamt ist vielen kunst- theoretischen Bewertungen der Kunst/Kino-Konstellation ein eher schematischer Begriff der Filmerfahrung im Kino anzumerken. Vgl. etwa Frohne 2001, 223. Eine differenziertere Einschätzung bei Connolly 2009, 22-25. 48 montage AV 19 /1 / 2010 rellen Films – konstitutiv war,16 wird durch die räumlichen Parame- ter von Anordnung und Mobilisierung des Zuschauers überschrieben. Zwar ist die Dauer des Artefakts als Eigenschaft der filmischen Artiku- lation nicht suspendiert, aber sie ist nicht mehr vorgesehen als Erfah- rungsmodus, da sie in der direkten Konkurrenz mit der Eigenzeitlich- keit des Besuchers in den allermeisten Fällen unterliegt. Selbst einem Besucher mit den besten Intentionen wäre es unmöglich gewesen, Yang Fudongs fünfteiligen Film Seven Intellectuals in Bamboo Fo- rest (VRC 2003-2008) bei der Biennale in Venedig 2007 vollständig zu sehen. Païni erkennt in der Mobilisierung des Zuschauers den Schritt zu einer aktiven Mitarbeit. Der Zuschauer «komplettiere» das Werk – in diesem Fall Pipilotti Rists Remake of the Weekend (1998) – und set- ze die in der Installation angelegte fiktionale Arbeit fort; der Besucher ist Komplize und Co-Autor. Serge Daney dagegen hebt in seinem be- kannten Text über die Beweglichkeit der Bilder und Zuschauer eher die Gemeinsamkeit zwischen Videoinstallation und Fernseherfahrung hervor: Der audiovisuelle Konsum (natürlich das Fernsehen, aber ebenso die Vi- deo-Installationen oder ähnliches) zeigt, daß wir nun gelernt haben, vor den Bildern wie im 19. Jahrhundert vorbeizugehen: Man hatte es auch erst lernen müssen, vor den erleuchteten Schaufenstern vorbeizugehen (2001, 269). Vor den Schaufenstern des 19. Jahrhunderts, das wusste Walter Ben- jamin gut, übte der Flaneur nicht nur eine ästhetische Haltung ein, sondern auch ein Verhältnis zu den Dingen als Waren und eine Begeh- rensstruktur, die ihn selbst in die Nähe der Verdinglichung rückt. «Der Rausch, dem sich der Flanierende überläßt», hatte er in Das Paris des Second Empire bei Baudelaire geschrieben, «ist der der vom Strom der Kunden umbrausten Ware» (1991, 558). Dem Konzept Mobilität ist somit seit Baudelaire und Benjamin eine Ambivalenz eingeschrieben, die aus der Perspektive des Museums nicht 16 Vgl. Malcolm Le Grices grundlegenden Text Towards Temporal Economy (1979), in dem er von einer Äquivalenz zwischen der Zeitökonomie des Films und der des Zuschauers ausgeht: «Investment by the spectator in experience of current duration (the currency of duration) carries over to a value for (evaluation of) the duration of the recorded event. The spectator’s investment is matched and re-inforced by the in- vestment evident in the recording act, measured in part by its duration – its temporal magnitude» (70). Pantenburg: Migrational Aesthetics 49 in den Blick gerät. Wahrgenommen wurde sie dagegen in der Film- theorie, als sie die Erben des Flaneurs nicht im Museum, sondern im Multiplex und vor dem Videorecorder lokalisierte. Mobilisiert werde in der Nachfolge des Flaneurs weniger der Zuschauer als die Disposi- tion seines Blicks. Der «mobilized virtual gaze», dessen (männlichen) Ursprung Anne Friedberg im Typus des Flaneurs ausmacht (1993, 60), ist in den 90er Jahren zum Prototypen eines transmedialen («postmo- dernen») Erfahrungsmodus avanciert: Videorecorder, Multiplexkino und Shopping Mall seien gleichermaßen Orte der Kommodifizierung, an denen die Waren, seien es Filme oder nicht, um die Aufmerksamkeit des Zuschauers buhlen.17 Wo Flexibilität, Differenz und Mobilität zum dominanten Ideal der heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung geworden sind (vgl. Boltanski/Chiapello 2002, 129-147), muss man demnach auch den Charakter des Kino-Dispositivs historisch neu bewerten. Alexander Horwath, der mit dem Kinoprogramm der documenta 12 einen streit- baren Vorschlag gemacht hat, wie das Kino als «working system» aus- zustellen sei, fasst diesen Gedanken so: Today, under the conditions of Post-Fordism, where each citizen and con- sumer is expected to be an ‹expanded›, shape-shifting, multi-identity, multi- sensory creature, the ‹new museum›, with its expanded, multi-screen expe- riences, and its ‹freely roaming›, ‹reflective› visitors, has actually become the epitome of what used to be called the apparatuses of the ruling class – just like the shopping mall (Horwath in Cherchi Usai u.a. 2008, 132). Das Kino als starkes Erfahrungsdispositiv dem Museum gegenüber- zustellen, wäre aber zu einseitig. Ich will deshalb abschließend noch auf eine weitere Einschätzung der zeitgenössischen Zuschauererfah- rung zu sprechen kommen, die den Zusammenhang zwischen Muse- um und privaten «non theatrical» Präsentationsmodi deutlich macht. Denn überraschenderweise lokalisiert Laura Mulvey in ihrem jüngs- ten Buch die reflektierte und flexible Filmerfahrung nicht im Mu- seum, sondern vor dem heimischen DVD-Player. In ausdrücklicher Revision ihrer ideologiekritischen Verurteilung des narrativen Kinos in den 1970ern erkennt sie in der digitalen Abspieltechnik und ihren 17 «Thus for the first time, at Beaubourg, there is a supermarketing of culture which operates at the same level as the supermarketing of merchandise: the perfectly circular function by which, anything, no matter what (merchandise, culture, crowds, com- pressed air), is demontrated by means of its own accelerated circulation» (Baudrillard 1982, 9). 50 montage AV 19 /1 / 2010 Möglichkeiten zeitlicher Manipulation zwei Konzeptionen von specta- torship, die sie als «pensive» und «possessive» Spectator bezeichnet.18 Vo- raussetzung für beide Erfahrungstypen ist die Möglichkeit der Verlang- samung und des selektiven Zugriffs, der nach dem Diktat der «visual pleasure» nun einen analytischen und selbstbestimmten Blick erlaube. In der analytischen Rezeption am DVD-Player entsteht ein Zeitmo- dus, der komplementär zu filmischen Artikulationen (etwa bei Rossel- lini oder Kiarostami) zu einem «delayed cinema» führt. The spectator’s look, now interactive and detached from a collective au- dience, can search for the look of the camera while also asserting con- trol over the look within the fiction. Although enabled by a technological change, this is a consciously produced and actively imagined form of spec- tatorship that brings related, but different, psychic processes and pleasures with it (2006, 190). Mit DVD und Fernsteuerung eröffnen sich für Mulvey also genau die Möglichkeiten, die üblicherweise dem Museumsraum zugeschrie- ben werden: der interaktive, selbstbestimmte Zugriff auf die Bilder der Filmgeschichte, den ein mündiger und analytischer Umgang mit dem institutionellen und historischen Zusammenhang Kino ausmacht.19 Wenn ich hier die Kinoerfahrung und die DVD dem Museumsbe- such entgegengesetzt habe, so geschah das nicht, um die beiden Seiten gegeneinander auszuspielen. Die Übergänge zwischen den Räumen und Erfahrungsmodi sind fließend: Die Konzentration des Kinoraums muss nicht zwingend zu einer besonders aufmerksamen Wahrneh- 18 «Possessive» auch im ganz buchstäblichen Sinne des Kaufens und Sammelns von Fil- men auf VHS und DVD, wie Barbara Klinger (2006, 54-90) es für den Phänotyp des «Contemporary Cinephile» beschreibt. 19 In ihrer Rezension des Buchs hat Mary Ann Doane zu Recht darauf hingewiesen, dass Mulveys Einschätzung unverkennbar nostalgische Züge trägt. Man dürfe auch nicht vergessen, dass die von Mulvey enthusiastisch begrüßten Möglichkeiten indivi- dueller Nutzung zum einen sicher die Ausnahme des DVD-Konsums darstellten und zum anderen keineswegs im Gegensatz zur Ideologie des heute propagierten Indivi- dualismus stehen: «Yet the acceleration and propagation of individualized ways of con- suming images coincides with historically specific changes in commodity capitalism. Commodification now works through the promotion of notions of personal style and lifestyle, and training in consumerism masquerades as the proliferation of choices pro- vided by ‹interactivity›. Commodification no longer strives to produce homogeneity – in its objects and its consumers – but thrives on heterogeneity. Mobile phones used as both still and video cameras and exhibition venues make the image portable, mani- pulable, communicable – the world becomes both eminently film-able and file-able (Kracauer’s nightmare of photographic historicism)» (Doane 2007, 117). Pantenburg: Migrational Aesthetics 51 mung führen; die Flexibilität der DVD ist ebenso wenig wie die in- stallative Anordnung von bewegten Bildern ein Garant für Reflexion und Kritik. Im Ausgang des beschriebenen Phänomens würde es da- her eher darum gehen, die Frage der Erfahrung, hier allgemein auf die Dispositive und Anordnungen vor den Bildern bezogen, spezifischer in Fragen der Aufmerksamkeit zu reformulieren. Dass wir heute im Zeichen geteilter Aufmerksamkeiten leben, wird niemand bestreiten. Wo und in welchen Öffentlichkeiten geteilte Erfahrungen mit Kino- bildern zu machen sind, ist weniger klar. Literatur Balázs, Béla (2001) Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films [1924]. Frank- furt/Main: Suhrkamp. 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