ISBN 978-3-98767-491-4 hagen-up.de C hr is ti an L ei ne w eb er u nd C la ud ia d e W it t ( H g. ) MiD 6 Der interdisziplinäre Sammelband nähert sich ausgehend von digitalen Phäno- menen und Praktiken einer Reflexion des Erfahrungsbegriffs. Auch Analysen zur Digitalität auf Basis spezifischer theoretischer Konzeptionen von Erfahrung sowie empirischer Beschreibungen individueller und kollektiver Erfahrungs- welten werden vorgenommen. Leitend dafür sind Fragen danach, • welche wissenschaftlichen Begriffe, Verständnisse und Theorien von Erfah- rung geeignet sind, um Muster und Ausprägungen der Digitalität beobachten und analysieren zu können, • auf welche Art und Weise digitale Strukturen und mediale Szenarien derzeit (und zukünftig) in die subjektive Erfahrungswelt eingreifen, • wie das Verhältnis von menschlichen Erfahrungswelten und technisierten Arrangements konkret zu beschreiben ist und • inwiefern es gerade das Digitale ist, das Brüche in individuellen Erfahrungs- verläufen initiiert und deshalb zu veränderten Welt- und Selbstbezügen an- regt, indem es Zugänge zu Neuem, Anderem oder bislang Unbekanntem öffnet. Medien im Diskurs Band 6 D ig it al e Er fa hr un gs w el te n im D is ku rs Digitale Erfahrungswelten im Diskurs Interdisziplinäre Beiträge zum Verhältnis von Erfahrung und Digitalität Christian Leineweber und Claudia de Witt (Hg.) Digitale Erfahrungswelten im Diskurs Christian Leineweber und Claudia de Witt (Hg.) Medien im Diskurs Herausgegeben von Christian Leineweber und Claudia de Witt Band 6 Digitale Erfahrungswelten im Diskurs Interdisziplinäre Beiträge zum Verhältnis von Erfahrung und Digitalität Herausgegeben von Christian Leineweber und Claudia de Witt Impressum Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Publikationen von Medien im Diskurs erscheinen open access auf www.medien-im-diskurs.de. Das Titelbild wurde in Zusammenarbeit mit ChatGPT von OpenAI erstellt, basierend auf detaillierten Beschreibungen von Christian Leineweber. Satzlayout: Christian Leineweber Druck: CPI Druckdienstleistungen GmbH, Ferdinand-Jühlke-Straße 7, 99095 Erfurt 1. Auflage 2025 ISSN 2944-2052 (Print) ISSN 2944-2060 (Online) ISBN 978-3-98767-491-4 (Print) ISBN 978-3-98767-020-6 (E-PDF) DOI 10.57813/20230721-120225-0 Der Text dieser Publikation wird unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung –Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 Deutschland (CC BY-SA 4.0 DE) veröffentlicht. Hagen UP (Hagen University Press) FernUniversität in Hagen Feithstraße 152 58097 Hagen V 5 Inhaltsverzeichnis Editorial: Digitale Erfahrungswelten im Diskurs VII Christian Leineweber & Claudia de Witt Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien 01 Patrizia Breil Narration, Motivation, Subjektivation. Zum Konzept der Erfahrungspunkte in pädagogischen Kontexten 29 Miguel Zulaica y Mugica & Marc Fabian Buck „Ich bin aber der Meinung, was wird total überbewertet“. Einblicke in die digitalen Erfahrungswelten von Volkshoch- schulleiter:innen während der Corona-Krise 63 Franziska Bellinger & Beatrix Niemeyer Private Sphären als Lernerfahrungsraum. Wie Schüler:innen ihr digitales Lernen darstellen 85 Sarah Nell-Müller Diesseits von Code. Lebensweltliche Erfahrung von Empfeh- lungsalgorithmen und didaktische Zugänge für die Medien- pädagogik 115 Julian Ernst Digitale Bildung zwischen Erfahrungssinn und Entzogenheit. Interaktion im Lernraum Online-Konferenz 139 Anke Redecker Mensch-Technik-Beziehung. Sozial-emotionale Robotik als relationaler Erfahrungsraum 163 Inga Truschkat & Inka Bormann Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | VI Digitalisierung als Widerfahrnis. Autonomie und Agency in der Medienaneignung älterer Menschen 187 Tobias Wörle & Florian Fischer Politische Partizipation. Eine empirische Annäherung an Erfahrungskontexte junger Erwachsener 211 Caroline Gröschner Geteilte digitale Erfahrungswelten der Peers in der Krise? Wie 12- bis 15-Jährige während der Covid-19-Pandemie digitale Medien nutzten 239 Sina-Mareen Köhler, Anna Lena Winkler & Ulla Autenrieth Künstliche Intelligenz, Augmentation und der Mehrwert bildender Erfahrung in der Digitalität. Eine pragmatistisch- ethische Perspektive 263 Jessica Felgentreu Digitale Benutzeroberflächen im Horizont von Lernen. Dashboards – technischer Gewinn, pädagogischer Verlust? 293 Stefan Emmenegger Autor:innenverzeichnis 327 VII 7 Editorial: Digitale Erfahrungswelten im Diskurs – Interdisziplinäre Beiträge zum Verhältnis von Erfahrung und Digitalität Christian Leineweber und Claudia de Witt Der Begriff der Erfahrung verweist auf einen integralen Bestandteil individueller und kollektiver Wirklichkeiten. Sein Zweck besteht da- rin, die Bedeutung lebensweltlicher Situationen und Erlebnisse für das eigene Leben zu thematisieren. Bei Erfahrungen, die wir ma- chen, handelt es sich um Prozesse, in denen sich Sinn für uns bildet und in denen die Dinge in der Welt durch unseren Umgang mit ihnen eine konkrete Gestalt annehmen (vgl. Waldenfels 1997, S. 19). Eine Erfahrung zu machen, bedeutet demnach nicht bloß, sich eine ei- gene Meinung zu bilden oder eine spezifische Perspektive einzuneh- men, sondern einen anders gearteten Bezug zu etwas zu gewinnen, um die Welt, Andere oder uns selbst in einem veränderten Licht be- trachten zu können (vgl. Seel 1997; Meyer-Drawe 2003). Erfahrung gilt damit als die Basis eines menschlichen Lebens, welches sich dadurch auszeichnet, dass Menschen auf etwas treffen können, was sie fundamental zu verändern in der Lage ist (vgl. Buck 2019, S. 11; Dewey 2019, S. 47ff.). In der Erfahrung findet die Differenz zwischen innerer Erkenntniswelt und äußerer Realität eine den Men- schen formende Einheit. Erfahrung, so bringt es beispielsweise die Bildungstheoretikerin Christiane Thompson (2009, S. 13f.) auf den Punkt, „setzt in Beziehung, was als Auseinandersetzung nicht fass- bar ist, und wirft auf diese Weise die Frage nach der Identifizierbar- keit von Subjekt und Welt in der Erfahrung ebenso wie der Frage nach der Logik ihrer Beziehung auf“. Der digitale Wandel der Gesellschaft und die mit ihm zunehmend sichtbar werdenden „Wege in die Digitalität“ (Stalder 2016, S. 21) Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | VIII greifen insofern unmittelbar auf die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erfahrungswelt zu, als sie die Bedingungen von Wahrnehmungsmustern, Welt- und Selbstbeziehungen oder Le- bensformen tiefgreifend verändern. So ermöglichen digitale Techni- ken beispielsweise neu geartete Formen der Körperlichkeit und Leib- lichkeit durch die Vermessung von Aktivitäten und Bewegungen (vgl. Fuchs 2020), neu geartete Formen der Sinnlichkeit durch virtu- elle Realitäten oder digitale Sensoriken (vgl. Klein/Liebsch 2022), neu geartete Formen der Sozialität durch spezifische Kommunikati- ons- und Medienpraktiken (vgl. Baecker 2007), neu geartete Formen der Temporalität durch die Entgrenzung von Raum und Zeit (vgl. Rosa 2005) oder neu geartete Formen der Erkenntnis durch algorith- misch und künstlich intelligent errechnete Klassifikationen und In- terpretationen (vgl. Rosengrün 2021). Waren es in der Historie der Menschheit zunächst die Medien der Sprache, der Schrift und des Buches, die ausgehend von der Stellung des Subjekts zur gespro- chenen und verschriftlichen Sprache eine „hermeneutische Erfah- rung“ (Habermas 1973, S. 121) ins Zentrum geisteswissenschaftli- cher Betrachtungen rückten, so sind es heute digitale Medien, deren Potenziale und Herausforderungen neu akzentuierte Reflexionen zum Erfahrungsbegriff einzufordern scheinen. Es sind demnach di- gital gestaltete und affizierte Erfahrungswelten, mit denen ganz viel- fältige Fragen nach den Identifizierbarkeiten und Logiken der Bezie- hung von Subjekt und Welt unter neuen Vorzeichen zu stellen sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): • Welche wissenschaftlichen Begriffe, Verständnisse und Theo- rien von Erfahrung sind geeignet, um Muster und Ausprägungen des Digitalen beobachten und analysieren zu können? • Auf welche Art und Weise greifen digitale Strukturen und medi- ale Möglichkeitsräume derzeit und zukünftig in die subjektive Er- fahrungswelt ein? Inwiefern beteiligen sich Algorithmen, Künst- liche Intelligenzen, virtuelle Realitäten, Quantifizierungen usw. | Editorial: Digitale Erfahrungswelten im Diskurs IX 9 an Konstruktionsprinzipien von subjektiven Welt- und Selbstver- hältnissen oder an der Genese von Bedeutung und Sinn? • Wie ist das Verhältnis von menschlichen Erfahrungswelten und technischen Arrangements konkret zu beschreiben? Welchen Einfluss nimmt das Digitale beispielsweise auf körperliche, sinn- liche, soziale, temporale oder epistemische Formen der Erfah- rung? • Inwiefern sind es gerade Ausprägungen und Phänomenberei- che des Digitalen, die Brüche in individuellen Erfahrungsverläu- fen initiieren und auf diese Weise zu veränderten Welt- und Selbstbezügen anregen, indem sie Zugänge zu Neuem, Ande- rem oder bislang Unbekannten öffnen? Der vorliegende Band nimmt diese, aber auch weitere Fragen aus bildungswissenschaftlicher, medientheoretischer, soziologischer sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive in den Blick und stellt so eine Ergänzung dar zu genuin philosophischen und bil- dungstheoretischen Betrachtungen, die bislang zum Verhältnis von Erfahrung und Digitalität (vgl. Gehring/Grüny/Schnell 2021) und Di- gitalisierung und Lebenswelt (vgl. Buck/Zulaica y Mugica 2023) ge- macht wurden. Die versammelten Beiträge beleuchten dabei das Verhältnis zwischen Erfahrung und Digitalität auf Basis theoreti- scher Positionen und empirischer Analysen. Ihr Erkenntnisinteresse gilt – neben dem subjektiven Erleben – sowohl dem technischen Prozess der Digitalisierung als auch seiner gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung, der im spezifischen durch den Begriff der Di- gitalität adressiert wird (vgl. Stalder 2016). Beim vorliegenden Band handelt es sich um die nunmehr sechste Ausgabe von Medien im Diskurs1 – eine im Jahr 2013 am Lehrgebiet Bildungstheorie und Medienpädagogik (Leitung: Prof. Dr. Claudia de Witt) an der FernUniversität in Hagen ins Leben gerufene Online- _________________________________________________ 1 www.medien-im-diskurs.de Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | X Plattform mit wissenschaftlichem Anspruch, die einer interessier- ten Öffentlichkeit fundierte Stellungnahmen zu Medienformen und -phänomenen präsentieren möchte. Ziel von Medien im Diskurs ist es, facettenreiche und interdisziplinäre Perspektiven auf aktuelle Themen im Kontext digitaler Medien zu versammeln. Auf diese Weise werden Standpunkte verschiedener Wissenschaftsdiszipli- nen und unterschiedliche Haltungen zusammengeführt, um den wissenschaftlichen Diskurs durch unterschiedliche Perspektiven und Ansätze bereichern zu können. Als frei zugängliche Online- Plattform besteht eine Besonderheit von Medien im Diskurs darin, dass Trends und Entwicklungen zeitnah aufgegriffen und Beiträge fortlaufend ergänzt werden können. Dementsprechend finden sich die im Folgenden versammelten Beiträge nicht inhaltlich kontextu- alisiert, sondern chronologisch angeordnet. Eine weitere Besonder- heit der vorliegenden Ausgabe besteht darin, dass die Beiträge erst- mals nicht nur online, sondern in Form eines Buches über den im Jahr 2022 neu gegründeten Verlag Hagen University Press (Ha- genUP) veröffentlicht werden können. Zu den Beiträgen in diesem Band Den Auftakt gibt Patrizia Breil, die in ihrem Beitrag Digitales Selbst. Produktive Selbsterfahrung in und durch digitale Medien das Zusam- menspiel von technisch sortierten Datensammlungen einerseits und individuellen Interaktionen mit digitalen Medien andererseits (im Besonderen: bildgestützte soziale Medien und Trackingapplika- tionen) als Möglichkeitsraum für Paul Ricœurs Konzept der narrati- ven Identität analysiert. Selbstdarstellungen und -repräsentationen durch digitale Medien sind dadurch als spezifische mediale Aus- drucksformen interpretierbar, die Selbsterfahrungen technisch be- dingen und erst so in einem spezifischen, digital aufbereiteten Sinn verstehbar werden lassen. Im darauffolgenden Beitrag Narration, Motivation, Subjektivation. Zum Konzept der Erfahrungspunkte in pädagogischen Kontexten | Editorial: Digitale Erfahrungswelten im Diskurs XI 11 stellen Miguel Zulaica y Mugica und Marc Fabian Buck im Rahmen einer überaus materialreichen Betrachtung die Frage nach der Dif- ferenz zwischen Erfahrungspunkten in Spielwelten (Experience Points) und einem pädagogischen Erfahrungsbegriff im Anschluss an Günther Bucks Phänomenologie. Mit der These, dass beide Er- fahrungsbegriffe grundsätzlich differieren, öffnen die Autoren ein pädagogisch zu bearbeitendes Problemfeld, das normative, ethi- sche, soziale und politische Dimensionen einzunehmen vermag. Im Beitrag „Ich bin aber der Meinung, das wird total überbewertet“. Einblicke in die digitalen Erfahrungswelten von Volkshochschullei- ter:innen während der Corona-Krise tragen Franziska Bellinger und Beatrix Niemeyer ausgewählte empirische Erfahrungsberichte aus einem qualitativen Forschungsprojekt zusammen. Im Zentrum ihrer detaillierten Analyse steht die kontrastierende Gegenüberstellung von zwei narrativen Erfahrungsberichten über die digitale Bildungs- arbeit, die sich während der Corona-Pandemie in Volkshochschulen im Bundesland Schleswig-Holstein ereignet hat. Im Fokus des Beitrags Private Sphären als Lernerfahrungsraum. Wie Schüler:innen ihr digitales Lernen darstellen von Sarah Nell-Müller ste- hen die empirischen Lernerfahrungen von Schüler:innen der Sekun- darstufe II mit digital gestützten Lernszenarien. Anhand der rekon- struktiven Auswertung von visuellen Darstellungsweisen und Deutungen wird der häusliche Lernraum skizziert und im Hinblick auf die Ausgestaltung zukünftiger digitaler Lehr-/Lernkontexte inter- pretiert. Empirisch motiviert ist auch der Beitrag Diesseits von Code. Lebens- weltliche Erfahrung von Empfehlungsalgorithmen und didaktische Zu- gänge für die Medienpädagogik von Julian Ernst. Ausgehend von so- zialphänomenologischen Positionen im Anschluss an Alfred Schütz analysiert der Beitrag, auf welche Weise algorithmische Empfehlun- gen in die Erfahrungswelt ihrer Nutzer:innen eingreifen. Die gewon- nenen Ergebnisse werden anschließend im Kontext medienpädago- gischer Praxis reflektiert, um schließlich dafür plädieren zu können, dass lebensweltliche Erfahrungsberichte als empirische Grundlage Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | XII für die kritische Reflexion und Gestaltung von Algorithmen zu nut- zen sind. Ebenfalls phänomenologisch und darüber hinaus praxeologisch geht Anke Redecker in ihrem Beitrag Digitale Bildung zwischen Erfah- rungssinn und Entzogenheit. Interaktion im Lernraum Online-Konfe- renz vor. Der Beitrag stellt die Frage, wie sich die Praktiken erleben- der Subjekte in virtuellen Online-Konferenzen theoretisieren lassen. Online-Konferenzen werden dabei als Räume skizziert, in denen sich ambivalente Sphären zwischen Realität und Virtualität sowie Ver- trautem und Fremdem öffnen, womit in letzter Konsequenz auch besondere Potenziale und Herausforderungen für die Gestaltung von Lern- und Bildungsprozessen angedeutet werden. Im Beitrag Mensch-Technik-Beziehung. Sozial-emotionale Robotik als relationaler Erfahrungsraum nähern sich Inga Truschkat und Inka Bormann dem Verhältnis von Erfahrung und Digitalität anhand der Beobachtung, dass Roboter immer sozial-emotional versierter er- scheinen und sich folglich für den Menschen als technische Weg- begleiter eignen. Insofern es dadurch erforderlich scheint, grund- sätzlich neu über die Beziehung zwischen Mensch und Technik nachzudenken, diskutiert der Beitrag, inwiefern diese Beziehung die Konturen eines gemeinsam geteilten bzw. relationalen Erfahrungs- raums öffnet, um so zukünftige Forschungsperspektiven der Sozial- und Bildungswissenschaft zu skizzieren. Sozialwissenschaftlich orientiert ist auch der Beitrag Digitalisierung als Widerfahrnis. Autonomie und Agency in der Medienaneignung äl- terer Menschen von Tobias Wörle und Florian Fischer. Ausgehend von dem empirischen Sachverhalt, dass immer mehr Menschen auch in einem höheren Alter auf digitale Medien und assistive Tech- nologien zurückgreifen, problematisieren die beiden Autoren eine damit gleichsam einhergehende Förderung von Autonomie einer- seits und Fremdbestimmung andererseits. Mit der Nutzung digita- ler Technologien öffnet sich auf diese Weise ein Erfahrungsraum der Widerfahrnis, dessen fremdbestimmende Tendenzen es zu- künftig lebensweltlich umfassend zu reflektieren gilt. | Editorial: Digitale Erfahrungswelten im Diskurs XIII 13 Demgegenüber stellt der Beitrag Politische Partizipation. Eine empi- rische Annäherung an Erfahrungskontexte junger Erwachsener von Caroline Gröschner die Frage, wie sich der digitale Wandel der Ge- sellschaft auf die politischen Partizipationsmöglichkeiten und -prak- tiken auswirkt. Anhand der Auswertung von Interviews wird argu- mentiert, dass digitale Plattformen spezifische Erfahrungsräume des Rezipierens und Partizipierens öffnen und dadurch durchaus in- dividuelle Lern- und Bildungsprozesse in Gang setzen können. Weitere empirische Befunde liefert der Beitrag Geteilte digitale Erfah- rungswelten der Peers in der Krise? Wie 12- bis 15-Jährige während der Covid-19-Pandemie digitale Medien nutzten von Sina-Mareen Köhler, Anna Lena Winkler und Ulla Autenrieth. Anhand von qualitati- ven Daten gibt der Beitrag unterschiedliche Einblicke in jugendliche Medienpraktiken während der Corona-Pandemie – insbesondere mit Bick auf Fragen nach dem erfahrungsbasierten Umgang mit In- formationen zur Pandemie und der Bewältigung sich neu formieren- der lebensweltlicher Strukturen während des Lockdowns. Anschließend arbeitet Jessica Felgentreu in ihrem Beitrag Künstli- che Intelligenz, Augmentation und der Mehrwert bildender Erfahrung in der Digitalität. Eine pragmatistisch-ethische Perspektive eine sys- tematische Verknüpfung von Douglas C. Englebarts Konzept der Augmentation und John Deweys bildungstheoretisch gewendetem Erfahrungsbegriff auf. Auf diese Weise können praktische Perspek- tiven und ethische Herausforderungen eines erfahrungsbasierten Umgangs mit Künstlicher Intelligenz aufgezeigt werden. Der Band schließt mit dem Beitrag Digitale Benutzeroberflächen im Horizont von Lernen. Dashboards – technischer Gewinn, pädagogi- scher Verlust? von Stefan Emmenegger, der sich intensiv mit der Ent- wicklung auseinandersetzt, dass in Bildungsbereichen vermehrt Lernapplikationen mit sogenannten Dashboards zum Einsatz kom- men. Der Beitrag fragt insbesondere nach der pädagogischen Be- deutung von Dashboards, um spezifische Anregungen für deren wissenschaftliche Reflexion sowie praktische Anwendung und Ent- wicklung geben zu können. Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | XIV Der hier vorgelegten Veröffentlichung aller Beiträge geht ein Quali- tätssicherungsverfahren voraus, bei dem die eingereichten Beiträge zunächst durch zwei externe Reviews (double-blind) und anschlie- ßend durch uns als Herausgebende begutachtet worden sind. Inso- fern der vorliegende Band insgesamt zwölf Beiträge versammelt, möchten wir zunächst den zahlreichen Guterachter:innen für ihre ausführlichen und wertschätzenden Begutachtungen danken. Ebenso danken wir den Autor:innen für die vielen Beiträge und die Bereitschaft, sich bis zur Finalisierung auf unsere inhaltlichen An- merkungen und Rückfragen einzulassen. Für die finale Durchsicht der Beiträge danken wir Vanessa Meiners und Christin Böggering. Dem Hagen University Press danken wir für die Aufnahme in das Verlagsprogramm. Mit dem vorliegenden Band verbinden wir die Hoffnung, einen anre- genden und fundierten Beitrag zur lebensweltlichen Bedeutung des digitalen Wandels von Kultur und Gesellschaft sowie den sowohl wissenschaftlichen Diskursen als auch öffentlichen Debatten um di- gitale Medien leisten zu können. Den Leser:innen wünschen wir eine erkenntnisreiche und diskursanregende Lektüre. Hagen, im August 2024 Christian Leineweber und Claudia de Witt Literatur Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Buck, Günther (2019): Lernen und Erfahrung. Epagogik (herausgege- ben von Malte Brinkmann). Wiesbaden: Springer VS. | Editorial: Digitale Erfahrungswelten im Diskurs XV 15 Buck, Marc Fabian/Zulaica y Mugica, Miguel (Hrsg.) (2023): Digitali- sierte Lebenswelten – Bildungstheoretische Reflexionen. Berlin, Heidelberg: Metzler: DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-66123- 9. Dewey, John (2019): Kunst als Erfahrung (9. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fuchs, Thomas (2020): Verteidigung des Menschen. Grundfragen ei- ner verkörperten Anthropologie. Berlin: Suhrkamp. Gehring, Petra/Grüny, Christian/Schnell, Martin W. (Hrsg.) (2021): Di- gitalität und Erfahrung. Journal Phänomenologie, H. 55/2021. Habermas, Jürgen (1973): Der Universalitätsanspruch der Hermeneu- tik. In: Habermas, Jürgen/Henrich, Dieter/Taubes, Jacob (Hrsg.): Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Klein, Gabriele/Liebsch, Katharina (2022): Ferne Körper. Berührung im digitalen Alltag. Stuttgart: reclam. Meyer-Drawe (2003): Lernen als Erfahrung. In: Zeitschrift für Erzie- hungswissenschaft (Schwerpunkt: Hermeneutik und Bildung), 6 (2003) 4, S. 505-514. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeit- strukturen in der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rosengrün, Sebastian (2021): Künstliche Intelligenz zur Einführung. Hamburg: Junius. Seel, Martin (1997): Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhe- tischen Rationalität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp. Thompson, Christiane (2009): Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie. Paderborn, München, Wien, Zürich: Ferdinand Schöningh. Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1 1 Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien Patrizia Breil „All the world’s a stage, and all the men and women merely players.“ (Shakespeare 1623, S. 38) 1 Einleitung Digitalisierung im technischen Sinne der Überführung von analogen in digitale Formate ist längst keine Neuheit mehr. Genauso wenig neu ist die digitale Umstrukturierung von Verwaltungsstrukturen, die zwar längst nicht abgeschlossen ist, in ihrer Notwendigkeit aber kaum anzweifelbar ist. Was hingegen Gegenstand kontinuierlicher und ergebnisoffener Diskussionen ist, sind die gesellschaftlichen und sozialen Transformationsprozesse, die als Produkt oder Auslö- ser einer ‚Kultur der Digitalität‘ (vgl. Stalder 2016) diskutiert werden. Zur Debatte steht alles von einem möglichen Wandel der empathi- schen Begegnung (vgl. Martingano et al. 2021) bis hin zu politischen Fragen des globalen Miteinanders in mixed societies (vgl. Rieger 2022). Denkfiguren, die hierbei immer wieder in aktualisierter Vari- ante eine Rolle spielen, sind etwa solche des Rhizoms (vgl. De- leuze/Guattari 1977) oder der Vernetzung bzw. in dynamischerer Variante des Mesh (vgl. Anusas/Ingold 2013, S. 66). Zentral ist in jedem Fall der Fokus auf vielfältige, synapsenartige Verknüpfungen und die Fluidität der entstehenden Strukturen. Epistemologische Fragestellungen rund um derlei digitale Wissensstrukturen spielen auch im pädagogischen Kontext eine Rolle und fordern zu einem Neu- oder Andersdenken pädagogischen Miteinanders auf (vgl. Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 2 Macgilchrist 2021; Jandrić et al. 2018). Das Digitale hat sich dabei von seinem Nimbus des Besonderen gelöst und kann nicht mehr als unabhängiger Gegenpart des Analogen betrachtet werden (vgl. Schmidt 2020, S. 57f.) bzw. wird als immer schon mit dem Analo- gen verwoben dargestellt (Coeckelbergh 2020). Die Rede von digi- talen Medien in diesem Beitrag fokussiert daher nicht das spezi- fisch Digitale der konkreten Anwendungsszenarien. Vielmehr steht die Frage im Zentrum, wie und in welcher Art von digitalen Erfah- rungsräumen der Bezug zum eigenen Selbst hergestellt werden kann. Die Nutzung von sozialen Plattformen sowie von self tracking devices dienen hierfür als ausgewählte Beispiele, an denen Grund- züge eines sowohl digitalen als auch analogen Selbstbezugs deut- lich gemacht werden können. Digitale Medien sowie insbesondere soziale Medien beeinflussen das Was? und Wie? der Erfahrung. Selbst- und Fremdsteuerung grei- fen dabei insofern ineinander, als einerseits Design und Algorithmen einer bestimmten Plattform die Erfahrung in gewisse Bahnen len- ken und andererseits die Produser:innen (vgl. Bruns 2008) ihre me- diale Umwelt und ihre mediale Selbstrepräsentation selbst gestal- ten können. Die der Digitalität attribuierte Fluidität kommt auch hierbei zum Tragen. Das moderne, fragmentierte Subjekt findet sei- nen Ausdruck in den sich stetig aktualisierenden Feeds gängiger so- zialer Plattformen (vgl. Schachtner 2020, S. 59) und befindet sich so im Zug einer permanenten Selbstaktualisierung. Warnungen vor dem Entstehen von unglaubwürdigen Fake-Identitäten (vgl. z. B. Ag- regado/Abengaña 2015, S. 10) kursieren ebenso wie Zugänge, die die proaktive Gestaltung des Selbst unter Rekurs auf Paul Ricœur als Modus einer Auto-Narration hervorheben (vgl. z. B. Romele 2013). Mit Blick auf soziale Plattformen und self tracking devices beleuch- tet der vorliegende Beitrag zwei beispielhafte Anwendungsszena- rien, in denen die Selbst- und Fremderfahrung des Selbst digital me- diiert und in seiner Vielbezüglichkeit offenbar wird. Diese Vielbe- züglichkeit wird mit Ricœur einerseits als Identität über die Zeit hin- | Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien 3 3 weg in dem sich aktualisierenden Feed einer sozialen Plattform be- trachtet. Demgegenüber kann bei der Nutzung von self tracking de- vices der Versuch einer Erhebung eines Ist-Zustandes beobachtet werden, der die Identität in der Zeit adressiert. Ricœurs Terminolo- gie erweist sich dabei als probates Mittel, verschiedene Dimensio- nen des Digital-Sozialen herauszustellen, das die Selbsterfahrung eines Selbst prägt, das sich jenseits von nur analogen oder nur digi- talen Umgebungen konstituiert. Zunächst werden mit den Begriffen der Selbstheit, Selbigkeit und Mi- mesis zentrale Begrifflichkeiten rund um Ricœurs narrative Identität sowie deren Übertragung und in Frage stehenden Übertragbarkeit auf den Kontext sozialer Medien dargestellt (vgl. Kapitel 2). Mit ei- nem Fokus auf digitale tracking devices wird im Anschluss disku- tiert, inwiefern deren Nutzung als Versuch gedeutet werden kann, das Selbst in einem abgeschlossenen Ist-Zustand zu verstehen. Das Oszillieren zwischen Fluidität und Konstanz stellt sich dabei als eines heraus, das von Brüchen gekennzeichnet ist, die ein Verstehen des Selbst aber auch des Anderen zugleich erschweren und ermög- lichen (vgl. Kapitel 3). In der Erfahrung dieser Brüche liegt das päda- gogische Potential, die Bedeutung von Alterität sowie von der Hand- lungsträgerschaft digitaler Geräte für Bildungsprozesse herausstel- len zu können. 2 Digitale Selbsterzählung Ist die Rede von sozialen Medien, sind damit im weitesten Sinne di- gitale Medien gemeint, deren primärer Zweck ist, einen Raum für Austausch und Kommunikation zu schaffen. Soziale Medien sind insofern sozial, als es im Sinne der Vernetzung um intersubjektive Beziehungen geht. In der einen oder anderen Form wird mit Inhalten die oder der Andere direkt oder indirekt adressiert. Den Beginn der anfänglichen Nutzung von digitalen sozialen Medien markiert je- Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 4 doch oft keine kommunikative Öffnung zum Anderen hin, sondern vielmehr eine reflexive Rückschau auf das eigene Selbst: Am An- fang steht das eigene Profil, der Benutzername, die E-Mail-Adresse, über die man sich identifiziert, ein Bild. Zur Debatte steht hier einer- seits die technisch notwendige Identifizierbarkeit, die eine exklusive Zuordnung des Accounts zur zugehörigen Person gewährleisten soll sowie andererseits etwa die Wahl eines Bildes und/oder Benut- zernamens, mit dem der oder die Nutzer:in sich selbst identifiziert und worüber die Person nach Wunsch auch von anderen identifi- ziert werden kann. Vor dem Kontakt mit dem Anderen steht also der Kontakt mit dem Selbst: Wer bin ich und was macht mich aus? Was will ich preisgeben? Wie will ich von Anderen adressiert und wahr- genommen werden? Selbstheit und Selbigkeit Im Kontext digitaler, sozialer Medien folgt auf die Frage Wer bin ich? immer auch die Frage Wer bist du? – verbunden mit Forderungen nach Authentizität. Diese Forderungen tragen oft einen hartnäcki- gen dualistischen Kern in sich. Unabhängig davon, ob wir die oder den Andere:n auf einer digitalen, sozialen Plattform oder auf der Straße treffen, können wir mehr oder weniger das Gefühl haben, dass sich die oder der Andere auf eine bestimmte Art und Weise gibt. Aus der Frage Wer bist du? wird dann schnell die Frage Wer bist du wirklich? Insbesondere mit den technischen Möglichkeiten, die von lustigen Fotofiltern bis hin zu täuschend echten DeepFakes rei- chen, scheint die Kluft zwischen Selbstdarstellung und Selbstsein immer weiter auseinanderzuklaffen. Eine Vielzahl an philosophi- schen und soziologischen Identitätstheorien beschäftigt sich be- reits in ihren Klassikern mit dieser Diskrepanz und kommt – von Sartres Unaufrichtigkeit (vgl. Sartre 1943, S. 119-160) bis hin zu Gof- fmans Bühnenmetapher (vgl. Goffman 1959) – zu einem ähnlichen Schluss: Identität hat viele Facetten, die sich in Situation und Inter- aktion herausbilden. Die Person, als die sich die oder der Andere | Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien 5 5 gibt, ist also keine andere oder nachgeordnete Identität, sondern in nicht-pathologischen Fällen ein und dieselbe. Entsprechend stellt es auch keine große Herausforderung dar, die Profile einer Person auf unterschiedlichen digitalen, sozialen Plattformen – so unterschied- lich die Profile auch sein mögen – widerspruchsfrei als die Profile einer Person zu verstehen. Eine Theorie, die sich im Themenfeld sozialer Medien als besonders anschlussfähig erwiesen hat, ist die der narrativen Identität Paul Ricœurs. Ricœur kritisiert an herkömmlichen, analytischen Identi- tätsverständnissen, dass sie sich auf etwas beschränken, das Ricœur unter den Begriff der Selbigkeit fasst (frz. Mêmeté, lat. Idem). Die Selbigkeit, z. B. einer Person, besteht demzufolge darin, dass be- stimmte Eigenschaften gleichbleiben (vgl. Ricœur 1990, S. 144). Weil diese Eigenschaften gleichbleiben, kann man die Identität der Person zweifelsfrei feststellen. Problematisch ist hierbei unter an- derem die Bestimmung derjenigen Eigenschaften, die für die Identi- tät ausschlaggebend sind. Auch bei einem Menschen, der wächst und dessen Zellen sich in gewissen Abständen völlig erneuern, stellt sich diese Frage: Sehen wir nach 15 Jahren eine alte Bekannte wie- der, ist das, was wir sehen, unter einem strengen biologischen Ge- sichtspunkt nicht mehr gleich. Warum gelingt es uns trotzdem, die Identität der uns begegnenden Person mit der Bekannten von vor 15 Jahren festzustellen? Was ist das Gleichbleibende? Und was ist das Gleichbleibende im Digitalen? Während mit Captchas im Digitalen zunächst ein generelles Mensch- und nicht Computersein festgestellt wird, sind Passwor- teingabe und 2-Faktor-Authentifizierung Methoden der digitalen Identifikation. Identität beläuft sich dabei im Grunde auf den gleich- zeitigen Zugriff auf verschiedene Medien, die sich im Besitz dersel- ben Person befinden. Dieser Besitz wird teils über Gesichtserken- nungssoftware oder Fingerabdruckscanner verifiziert und um eine körperliche Komponente ergänzt. Identität wird somit in einer digi- talen Praxis konstituiert, in der die digitalen Endgeräte als Verlänge- rung des Körpers im Sinne des Embodiment und als konstituierende Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 6 Aspekte der eigenen Identität eine Rolle spielen. Tendenziell gleich- bleibende Eigenschaften, die Identität konstituieren, scheinen hier also zum Beispiel die Handynummer, die E-Mail-Adresse, der Fin- gerabdruck und das Passwort zu sein – wohlwissend, dass sich die einzelnen Teile jeweils ändern können; wohlwissend aber auch, dass eine gleichzeitige Änderung aller Parameter zur nahezu unlös- baren Herausforderung bei der Anmeldung auf der jeweiligen Platt- form werden kann. Angesichts der Schwierigkeiten bei dem Versuch, ein Identitätssub- strat zu fassen, wendet Ricœur ein, dass Identität gegebenenfalls mehr umfasst als letztlich bestimmbare Eigenschaften. Die Frage danach, was das Gleichbleibende der Identität sein könnte, müsse nach Ricœur ergänzt werden um eine „Beständigkeit in der Zeit, die die Antwort auf die Frage: ‚Wer bin ich?‘ darstellen würde“ (Ricœur 1990, S. 146f.). Identität zeichnet sich nach Ricœur auch dadurch aus, dass sich das Selbst zu sich in Beziehung setzt – und zwar auch über einen substanziellen Wandel hinweg. Diese Selbstheit (frz. Ipséité, lat. Ipse) drückt sich paradigmatisch im gehaltenen Ver- sprechen aus (vgl. Ricœur 1990, S. 152-155). Die Bekannte, die wir seit 15 Jahren nicht gesehen haben, mag sich charakterlich stark verändert haben. Wenn sie aber ein Versprechen, das sie uns da- mals gab, bis heute gehalten hat – und etwa ein Geheimnis wie ver- sprochen gehütet hat –, ist das ein Ausdruck ihrer Identität, ihrer Selbstheit. Diese Facette der Identität kann auch aktiv auf digitalen, sozialen Plattformen ausgetragen werden. Explizit geschieht das etwa dann, wenn Treueversprechen öffentlich dokumentiert werden und zu Jahrestagen daran erinnert wird. Zum Teil übernimmt auch die Plattform eine solche Erinnerungsleistung und trägt auf diese Weise aktiv zur Identitätsarbeit bei. Die narrative Identität ist Produkt einer Dialektik von Selbstheit und Selbigkeit (vgl. Ricœur 1990, S. 173). Beide Facetten liegen also nicht in ihrer Rohform vor, sondern werden meist in chiasmatischer Verschränkung gelebt. Eine solche Verschränkung zeigt sich in der Pflege eines Profils auf einer digitalen, sozialen Plattform. Ricœurs | Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien 7 7 Konzept der narrativen Identität zeigt sich also im Hinblick auf die Erzählung, die die Nutzer:innen über sich selbst über die Zeit hinweg produzieren, als äußerst anschlussfähig (vgl. z. B. Romele 2013). Die Konfrontation mit der Frage ‚Wer und was bin ich?‘, die die erst- malige Verwendung von sozialen Plattformen prägt, setzt sich in weniger expliziter Form in der Fortführung und Pflege des eigenen Profils fort. So kann jeder Beitrag, insbesondere jedes Selfie als re- flexive Bezugnahme des Selbst auf sich gedeutet werden. Gepostet wird ein Bild, eine Tonspur oder ein Text, mit der sich der oder die Nutzer:in im Mindesten momenthaft identifiziert und das als etwas präsentiert wird, das andere erfahren können als zum eigenen Profil gehörig. Insbesondere bei aktiven Profilen, die von den Nutzer:innen kontinuierlich mit Inhalten befüllt werden, kann in den Beiträgen über die Zeit hinweg sowohl substanzielle Identität sowie reflexive Selbst-Ständigkeit und Selbstheit ihren Ausdruck finden. Gerade in der Genese des Profils über die Zeit hinweg, lässt sich mitunter die Entwicklung einer Person nachzeichnen, die sich unabhängig von der Beständigkeit oder Nicht-Beständigkeit von identifizierbaren Ei- genschaften vollzieht. Dass auch solche Beiträge noch in dem Profil einer Person zu finden sind, die die oder der Nutzer:in selbst so zum aktuellen Zeitpunkt nicht mehr öffentlich teilen würde, zeugt von ei- ner Art Wort-halten dem früheren Selbst gegenüber und schafft Raum für „die Verschiedenheit, die Veränderlichkeit, die Diskontinu- ität, die Unbeständigkeit“ (Ricœur 1990, S. 173), die Ricœur in der Selbigkeit personaler Identität vermisst und demgegenüber in der Selbstheit der sich erzählenden narrativen Identität findet. Soziale Plattformen bieten dergestalt eine Oberfläche, auf der sich die Dia- lektik narrativer Identität sichtbar entfalten kann. Der kontinuierliche Wandel oder Erhalt bestimmter Eigenschaften mit deutlichem Wie- dererkennungswert (Was bin ich? – Selbigkeit) hat hier ebenso Raum wie die Veränderung, die sich entlang dieser Entwicklung voll- zieht (Wer bin ich? – Selbstheit). Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 8 Mimesis Zentrales Element der Narration ist laut Ricœur eine dreifache mi- metische Relation zwischen dem Bereich der Erzählung und dem Bereich der tatsächlichen lebensweltlichen Handlung (vgl. Ricœur 1985, S. 7). Die schriftliche bzw. erzählende Anordnung von Ereig- nissen oder Szenen (Mimesis II) wird dabei umrahmt von einer quasi vor-geschichtlichen Erkenntnis, dass bestimmte Erfahrungen erzählbar sind (Mimesis I) sowie der Refiguration des Erzählten in der Rezeption (Mimesis III). Auch im Hinblick auf Selbsterzählungen auf sozialen, digitalen Plattformen lässt sich eine solche dreifache Relation nachzeichnen. Der fluiden und stetigen Befüllung mit eige- nen Inhalten (Mimesis II) gehen Momente voraus, in denen be- stimmte Situationen und Eindrücke als erzählbar wahrgenommen werden – vom klassischen, piktoralen Latte Art-Stillleben bis hin zu pointierten politischen Alltagsbeobachtungen (Mimesis I). Die große Besonderheit einer digitalen, narrativen Identität liegt in der Öffentlichkeit ihrer Rezeption (Mimesis III). Wie ein geteilter Inhalt wahrgenommen wird und welche Rückschlüsse vom Inhalt auf die Person gezogen werden, drückt sich in Kommentaren, Likes und sonstigen Reaktionen aus. Auch der Kontext, in dem ein Beitrag er- scheint, ist zu großen Teilen abhängig von den Rezipierenden, deren Feeds für eine individuelle und algorithmisch strukturierte Umge- bung sorgen, die ihrerseits Bedeutung konstituiert. Die Selbsterzäh- lung, die auch auf sozialen Medien stattfinden kann, wird von ande- ren Nutzer:innen beeinflusst, die konstitutiv auf die Identität des Selbst einwirken, das sich auf der Plattform erzählend zur Debatte stellt. Diese identitätskonstitutive Beeinflussung reicht von der indi- rekten Beeinflussung über die unbewusste Wirkung fremder Profile bis hin zur direkten, interaktiven Beeinflussung über Likes, Kom- mentare, Tags oder Nachrichten (vgl. Cover 2012, S. 180). Mehr noch als etwa bei klassischen Romanen, bei denen die Erzählung durch verschiedene Rezeptionen einem Wandel unterworfen wer- den kann, der sich u. a. auch in verschiedenen schauspielerischen | Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien 9 9 Inszenierungen niederschlägt, kann bei sozialen Medien von einer multiplen Autor:innenschaft gesprochen werden, die sich z. B. in der Aneignung fremder Posts durch einen Re-Post ausdrückt. Eine solche geteilte Autor:innenschaft lenkt den Blick auf eine gene- rell intersubjektive Struktur von Erfahrung, die auch die Erfahrung des eigenen Selbst von sich jenseits einer negativ konnotierten Fremdbestimmung bedingt. Soziale Medien sind vor diesem Hinter- grund ein Ermöglichungsraum für die Konstruktion und Erfahrung des eigenen differenzierten und offenen Selbst. Dass das Indivi- duum, das z. B. Bilder von sich postet, die Konstitution der eigenen Identität proaktiv in einem intersubjektiven Handlungsraum aus- führt, ist dann keine passive Hingabe an eine Fremdsteuerung foucaultscher Lesart, sondern die Anerkennung der per se respon- siven Grundstruktur leiblichen, intersubjektiven Menschseins (vgl. Waldenfels 2000, S. 11). Die Vorstellung eines (ab)geschlossenen Selbst, das als fertiges Produkt präsentiert wird, kann auch deswe- gen abgewiesen werden, weil sie weder der theoretischen Offenheit des postmodernen Subjekts noch der praktischen Fluidität der Selbsterzählung in sozialen Medien gerecht zu werden vermag (vgl. Kapitel 3). Narrative Identität und soziale Medien Gegenstand der hier herangezogenen ricœurschen Abhandlungen, deren Erstveröffentlichungen 30 bis 40 Jahre zurückliegen, ist nicht die digitale Plattformen, sondern in erster Linie der Roman. Die digi- talisierungsbezogene Ricœur-Rezeption verhält sich notwendiger- weise explizit oder implizit zu dieser zeitlich eher geringen, aber im Hinblick auf die technologische Entwicklung nicht unwesentlichen Distanz. Dabei haben sich bestimmte Kritikfiguren herausgebildet: 1. Ein Feed ist kein Buch. Ricœurs Konzept der narrativen Identität resultiert aus umfassenden Untersuchungen von historischen und literarischen Texten. Ein naheliegender Kritikpunkt an der Übertra- gung des Konzepts der narrativen Identität auf Identitätsbildung Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 10 mittels sozialer Medien ist entsprechend, dass die Inhalte, die auf sozialen Medien geteilt werden, weder monomedial noch monoli- near sind und damit der ricœurschen Narration nicht mehr gleichen. An die Stelle des Buches tritt ein Konglomerat aus audiovisuellen und textuellen Elementen; statt des Lesens von einer Seite zur an- deren entfaltet sich eine hypertextuelle Verweisungsstruktur. Anstatt die narrative Identität angesichts dessen als Erklärungsmo- dell zu verwerfen, verweist z. B. Alberto Romele nachdrücklich auf die identitätskonstitutive Funktion weiterer künstlerischer Aus- drucksformen neben der literarischen Fiktion und zeichnet so das Bild einer Identität, die sich in einer multimedialen und multilinearen Narration konstituiert (vgl. Romele 2013, S. 115f.). Eine Selbstnarration dient dazu, so Ricœur, das eigene Selbst erzäh- lend besser zu verstehen. „Das Selbstverständnis ist eine Interpretation; die Selbstin- terpretation ihrerseits findet, nebst anderen Zeichen und Symbolen, in der Erzählung eine ausgezeichnete Vermitt- lung; letztere entlehnt Elemente sowohl aus der Geschichte als aus der Fiktion und macht so eine Lebensgeschichte zu einer fiktiven Geschichte, oder, wenn man so will, zu einer historischen Fiktion, die den historiographischen Stil der Bi- ographie mit dem romanhaften Stil der imaginären Autobi- ographie verknüpft.“ (Ricœur 1990, S. 142) Die Gesamtheit der öffentlich geteilten Inhalte einer Person kann dann auch gedeutet werden als Rückversicherung der eigenen Per- son unter fremder Zeug:innenschaft. Der Feed von sozialen Platt- formen ist zwar kein Buch im eigentlichen Sinne, öffnet aber doch einen Raum für Selbstdarstellung, -erzählung und -interpretation. 2. Narzissmus statt Neutralität. Die allgemeine Kritik am modernen Selbst, das sich auf sozialen Medien selbstverliebt in Szene setzt, lebt in Bezug auf Ricœurs narrative Identität abermals auf. Gegen- über Ricœurs Selbst, dem unterstellt wird, dass es sich wertneutral | Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien 11 11 erzählen möchte, wird ein Selbst gezeichnet, das sich auf sozialen Plattformen in exhibitionistischer Manier entblößt und um Anerken- nung buhlt: „This act of performance in constructing your identity is no longer done to express, but to impress“ (Agregado/Abengaña 2015, S. 10; Hervorh. Im Orig.); statt von „Self-Expression“ ist die Rede von „Self-Exposure“ auf sozialen Medien (vgl. Halsema 2021). Die Kritik an einer solchen narzisstischen Praxis trifft dabei die Nut- zer:innen sozialer Medien sowie die Medien selbst, die scheinbar zu einem entsprechenden Verhalten motivieren. Letztere Annahme, dass Nutzer:innen erst durch soziale Medien zu einer narzisstischen Selbstdarstellung animiert werden, wird von verschiedener Seite zu- rückgewiesen. Bernadette Kneidinger-Müller argumentiert etwa, dass neben der technischen Notwendigkeit der Selbstreferenz in der Profilbildung auch technologieunabhängige gesellschaftliche Prozesse dazu beigetragen haben, dass Identitätsbildung vermehrt äußerlich und sichtbar geschieht (vgl. Kneidinger-Müller 2017, S. 70). Die Offenheit und Wandelbarkeit, die dem (post-)modernen Subjekt zugeschrieben wird und die Identitätskonstruktion als un- abschließbaren und lebenslangen Prozess skizziert, geht einher mit einem gesteigerten Interesse an proaktiver Selbstkonstitution, die unter Zuhilfenahme digitaler, sozialer Medien differenziert realisier- bar ist (vgl. Molotokienė 2020). Grundsätzlich kann die Kritik an einer Selbstdarstellungskultur auf sozialen Medien von der Frage nach der Übertragbarkeit der ricœur- schen narrativen Identität auf digitale Erzählformate weitestgehend abstrahiert werden. Dies gilt insbesondere deshalb, weil zentrale Merkmale der Selbsterzählung auf sozialen Medien bereits in Ricœurs Überlegungen angelegt sind. Wie schon Ricœur zentrale Momente der Identitätskonstitution in die Rezeption auslagert, also den Lesenden der Selbst-Erzählung anheimstellt, zeichnen sich auch soziale Plattformen durch ein hohes Maß an Interaktivität aus. Zum Profil gehört nicht nur das, was geteilt wird, sondern auch die Reaktionen auf das Geteilte, wie etwa das abermalige Teilen oder Kommentieren. Darüber hinaus ist zu bemerken, dass auch eine Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 12 rein schriftliche Autobiographie durchaus zur Selbstdarstellung ein- lädt, für die soziale Plattformen gemeinhin lediglich vielfältigere Mit- tel zur Verfügung stellen. Reflexion als Rückschau auf das Selbst kommt letztlich ohne ein gewisses Maß an Ich-Bezogenheit kaum aus; wenngleich das auto der Autobiographie angesichts der in- tersubjektiven Konstitutionsleistung zweifelbar ist. Auch unabhän- gig von der Beteiligung anderer an der Selbst-Erzählung scheint die gern geforderte 100%-Authentizität und Transparenz für Ricœur kein notwendiges Merkmal narrativer Identität zu sein. Die identi- tätskonstituierende Narration wird von Beginn an als Oszillieren zwi- schen Autobiographie und Fiktion bestimmt (vgl. Ricœur 1990, S. 142). 3. Primat des Aktuellen. Die narrative Identität wird von Ricœur in starkem Zusammenhang mit Zeitlichkeit gedacht. Identitätsbildung und -narration werden zeitlich strukturiert. Während sich die narra- tive Identität Ricœurs als Identität über Zeit konstituiert, sind soziale Plattformen von einer temporalen Fluidität geprägt, die nicht ein schnelles Vergehen der Zeit, sondern vielmehr ein immerwährendes Präsens suggeriert. Der zeitliche Fokus im digitalen Raum ist ein Fo- kus auf Aktualität. Über stories und reels will man bevorzugt erfah- ren, was jetzt passiert. Dieser präsentische Charakter, der digitalen Anwendungen anhaftet, kann dabei sowohl durch die in Echtzeit be- rechneten digitalen Umgebungen und die stete Aktualisierbarkeit sozialer Plattformen unterstützt werden als auch durch den Ein- druck, sämtliche Informationen jederzeit, d. h. immer jetzt abrufen zu können (vgl. Bouchardon/Fülöp 2021, S. 307). Neben diesem vordergründigen Fokus auf Aktualität liegt jedoch insbesondere in der digitalen Erzählung, wie sie bspw. auf sozialen Medien erfolgen kann, die Möglichkeit von inhaltlicher Ausgestaltung über die Zeit hinweg, die Ricœurs narrative Identität durchsetzt. 4. Fehlende Räumlichkeit. Ricœurs starker Fokus auf Temporalität ist an sich Gegenstand einer Kritik geworden, die zudem um den Vorwurf der Vernachlässigung von Räumlichkeit ergänzt wurde (vgl. de Lange 2010, S. 234f.). Insbesondere in Anbetracht globaler Ver- | Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien 13 13 netzungsstrukturen seien auch räumliche Relationen zentrale iden- titätskonstitutive Aspekte: „What plots do for narrative identities, maps do for playful identities“ (de Lange 2010, S. 235). Erzählungen sind immer raumzeitlich situiert – unabhängig davon, ob sie analog oder digital vorgebracht werden. Interessanterweise ist die kritisierte Schieflage, die sich durch einen starken Fokus auf den temporalen Aspekt der Narration ergibt, auch in Diskursen und Praktiken der Selbsterzählung auf sozialen, digitalen Plattformen er- kennbar. Allein begrifflich findet das seinen Ausdruck in der timeline sowie strukturell darüber, dass sich aus der vorgegebenen maximal zulässigen Zeichenzahl in einem Beitrag auf videobasierten Platt- formen eine maximale Sekundenzahl der dort präsentierten Videos entwickelt hat. Der Nachvollzug von Temporalität jenseits der Aktualität findet in digitalen Umgebungen zumeist aber auch seinen Ausdruck in durchaus räumlich denkbaren Scrollbewegungen. Wer nach unten scrollt, geht in der Zeit zurück, wer nach oben scrollt, nähert sich der Aktualität. Ein Wisch von oben nach unten, mit dem die Seite aktua- lisiert wird, ist dann der Versuch, die Zukunft ins Jetzt zu holen. Zeit- lichkeit ist in dieser Art und Weise auch auf sozialen Plattformen eng mit Räumlichkeit verbunden. Ältere Nachrichten weichen auto- matisch den neueren und rücken zunächst nach ‚unten‘ und später ins Archiv. Schon das Reden über derlei digitale Narrationen kommt ohne Vo- kabeln des Raumes kaum aus. Dass der genaue, auch ontologische Status des Raumes dabei unklar bleibt, drückt sich beispielsweise in präpositionaler Unklarheit aus: Verabredet man sich auf, über, in oder sogar durch Instagram? Resultieren aus diesen begrifflichen Differenzen Bedeutungsunterschiede? Klar ist, dass dem digitalen Selbst sowohl in Narration sowie in Rezeption räumliche Elemente anhaften, die auf mindestens vier Ebenen zum Tragen kommen: Zum einen wird die digitale, soziale Plattform als Ort der Interaktion, d. h. als semantischer Raum mit eigenen Regeln und Umgangsfor- men wahrgenommen. Zweitens öffnet dieser einen virtuellen Raum Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 14 für Begegnung und Austausch,1 der visuell über Bild- und Textmate- rial zugänglich wird und mit dem Interface als Schnittstelle zwi- schen Plattform und Nutzer:in gewisse Körperpraxen erfordert. Sol- che körperlichen Abläufe manifestieren sich beispielsweise in Wischbewegungen über Bildschirme. Drittens wird an dieser Schnittstelle auch der physische Körper der Nutzer:innen bemerk- bar, der von der digitalen Handlung affiziert wird und den anzurüh- ren immer mehr in den Fokus digitaler Technologien rückt (vgl. Breil 2023). Ohne Verkörperung ist narrative Identität nicht denkbar (vgl. Dings 2018). Letztlich erhält die digitale Narration eine räumliche Komponente durch die benötigte technologische Hardware. Diese Ebenen der Räumlichkeit sind vielfältig verwoben. Während etwa der semantische Raum einer virtuellen Begegnungsstätte auf den ersten Blick wenig materiell ist, steht er in Zusammenhang mit kör- perlichen Praxen und Affizierungen, die maßgeblich zur Konstitution des Raumes beitragen. Die Tragfähigkeit des ricœurschen Konzepts der narrativen Identität besteht mitunter in dem Fokus auf verschiedene Facetten der Iden- titätskonstitution – ihre Räumlichkeit, ihre Zeitlichkeit sowie die Rol- le ihrer Rezipient:innen. Gerade diese begriffliche Differenzierung er- laubt es auch, verschiedene digitale Anwendungen kontrastierend im Hinblick auf ihre identitätskonstitutiven Bedingungen zu betrach- ten. Neben sozialen Plattformen, die häufig in Verbindung mit der narrativen Identität diskutiert werden, zeigen so auch self tracking devices Spuren einer Selbsterzählung auf, bei der mit Ricœur eine andere Gewichtung von Selbstheit und Selbigkeit zu beobachten ist. Gegenüber der Analyse sozialer Kommunikationsplattformen ist der Blick mit Ricœur auf self tracking devices deswegen besonders _________________________________________________ 1 Auf dieser Ebene sind auch die regen Diskussionen um Cyberspace (vgl. Gao et al. 2019) und Cyberplace (vgl. Holischka 2017) zu verorten. Mit dem Metaverse steht außerdem ein Konzept zur Debatte, das bewusst virtuelle und physische Realität in eine ‚post-reale‘ Relation bringt (vgl. Mystakidis 2022), die Räumlich- keit auf sämtlichen Ebenen adressiert. | Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien 15 15 ergiebig, weil die Rolle der Selbigkeit sowie die Rolle des Unerfahr- baren und Unquantifizierbaren, das den Umgang mit digitalen Me- dien entscheidend prägt, besonders zum Vorschein kommt. 3 Erfahrung des Unerfahrbaren Auch im Gebrauch von digitalen self tracking devices wie etwa Fit- nessarmbändern zeigt sich die dialektische, erzählende Konstitu- tion des Selbst. Während das Sammeln von Körperdaten vorder- gründig der Überwachung und Kontrolle bestimmter körperbezoge- ner Eigenschaften dient, deren Identität über die kontinuierliche Be- standserhebung garantiert wird, sind gewisse Funktionsweisen der Software bereits darauf ausgelegt, die Erkenntnisse in sozialen Kon- texten zu teilen und zu diskutieren. Die zurückgelegte Laufstrecke kann direkt in der Anwendung mit den Strecken von anderen Nut- zer:innen verglichen werden oder aber auf sozialen Medien geteilt und erzählt werden, wodurch das Selbst sich aktiv zu sich in Bezug setzt und sich präsentiert und versteht als Person, die läuft. Als Er- zählung ist jedoch auch diese Art der Selbstkonstitution geprägt von einem Nicht-Erzählten, das die grundsätzliche Unabgeschlossen- heit menschlicher Entwicklung unterstreicht. Ich, hier, jetzt? Bei der Nutzung von tracking devices werden im Allgemeinen be- stimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen einer Person in den Blick genommen und festgehalten; sei es der Zyklus, das Ess- oder Sportverhalten, oder auch die Nutzungszeit von bestimmten Apps, d. h. Beständigkeit in der Zeit wird hier generiert über die rege Nut- zung der Geräte, die kontinuierlich Daten erheben. Die Daten spie- geln die Identität der Nutzer:innen insofern wieder, als sie entweder konstant bleiben oder eine kontinuierliche Entwicklung nachzeich- Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 16 nen, über die ein ‚früheres‘ Selbst mit einem ‚späteren‘ in Bezug ge- setzt werden kann. Identität wird dabei nicht nur horizontal verhan- delt als Selbigkeit einer Person in der Zeit, sondern auch vertikal als Identität der Nutzer:in mit dem produzierten Datenkörper. Nimmt man den konkreten, punktuellen Einsatz der Geräte in den Blick, geht es weniger um Beständigkeit in der Zeit als vielmehr um eine detail- lierte und datengestützte Bestandsaufnahme. Der erhobene Ist-Zu- stand kann dann abgeglichen werden mit einem Soll-Zustand, der handlungsleitend für die Nutzung der Anwendung ist. In Frage steht bei dieser Form der Nutzung weniger die Identität mit dem, was die Nutzer:innen gewesen sind, sondern vielmehr mit dem Ideal-Ich, das sie sein wollen und das teils über bestimmte digital erfassbare Zielsetzungen virtuell realisiert werden und motivierend wirken kann. Das Wort-halten, das Ricœur als Ausdruck von Selbstheit an- führt, wird hier potentiell als Festhalten an gesetzten Zielen hand- lungsleitend wirksam. Gerade bei reger Nutzung von tracking devices lässt sich mit den erhobenen Daten leicht die Geschichte einer persönlichen Entwick- lung erzählen oder nachzeichnen. Inwiefern sich diese Erzählung aber von der Selbstnarration auf sozialen Medien unterscheidet, wird gerade unter Einbeziehung des ricœurschen Mimesis-Begriffs besonders deutlich. Mehr noch als bei sozialen Plattformen ist bei Selektion, Kuration und Rezeption der Inhalte das digitale Gerät in aktiver Rolle beteiligt. Grundsätzlich bieten die Benutzeroberflächen weniger Gestaltungsspielraum als diejenigen der sozialen Plattfor- men, die auf Interaktion ausgelegt und entsprechend variabler sind. Die Möglichkeiten, verschiedene Elemente der Selbsterzählung in- nerhalb einer Anwendung zu sammeln und zu ordnen (Mimesis II), sind dementsprechend eingeschränkt. Auch die Ebene der Selek- tion (Mimesis I) ist durch gewisse kreative Grenzen gekennzeichnet. Die Nutzer:innen entscheiden sich mit der Nutzung der Anwendung dafür, dass etwas erhoben und dokumentiert wird, was genau das aber ist, welche Herzfrequenz z. B., liegt zu großen Teilen im Ermes- sen des Geräts. Rezipient:innen der entstehenden Erzählung sind | Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien 17 17 daher auch in erster Linie die Nutzer:innen selbst. Über die Aufberei- tung der Daten, bspw. durch einen Sleeptracker, können sich Nut- zer:innen verstehend zu sich verhalten und den Daten verschiedene Bedeutungen beimessen (Mimesis III). Erst in zweiter Instanz, wenn die Ergebnisse mit anderen Nutzer:innen oder auf sozialen Plattfor- men geteilt werden, wird die Dokumentation aktiv als Element der eigenen Erzählung in Szene gesetzt. Self tracking device und Nut- zer:in treten dann in eine geteilte Autor:innenschaft. Die Quantifizierung des Selbst, die im Kontext von self tracking de- vices diskutiert werden kann, scheint getragen von dem Wunsch, sich das eigene Selbst vollständig zu erschließen und einen neuen Bezug zu sich herzustellen. Das Versprechen von Big Data schließt die Vorstellung einer lückenlosen, wissenschaftlich auswertbaren Ausleuchtung der eigenen Handlungsmuster ein. Neben den Fragen Wer bin ich? und Wer will ich sein? soll unter Rückgriff auf die entste- henden Datensätze auch die Frage beantwortbar werden, wie die Kluft zwischen diesen beiden Polen des Ist- und Soll-Selbst über- brückt werden kann. Aus dem Wunsch, die eigene Entwicklung selbstwirksam zu gestalten, resultiert die Nutzung von digitalen An- wendungen der Selbstüberwachung, die die Grundlage für weitere Handlungsimpulse liefern sollen. Wie oben gezeigt, haben digitale tracking devices in der Narration ihrer Nutzer:innen eine gewisse Handlungsmacht. Der Wunsch nach Kontrolle über die eigene Ent- wicklung wird also verfolgt durch die Abgabe von Kontrolle an ex- terne Geräte. Dennoch scheint die Praxis der Nutzung solcher Ge- räte oft als Selbstermächtigung erlebt zu werden. Die ‚thing power‘ der tracking devices, die sich in deren identitätskonstitutiver Wir- kung zeigt, wird demnach wiederum als kontrollierbar und als zuge- hörig zum eigenen Zugang zu Welt und Selbst verstanden.2 Gerade _________________________________________________ 2 Stellvertretend für eine große Bandbreite an theoretischen Zugängen zur be- sonderen Relation zwischen Mensch und Ding bzw. zwischen Mensch und Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 18 der Versuch einer vollständigen Quantifizierung mündet jedoch in der Erkenntnis, dass es Aspekte des Selbst gibt, die nicht quantifi- ziert erfasst werden können, sodass „über die Quantifizierung des Selbst und der Anderen hinaus das Wer der Person und damit ihre Unausdeutbarkeit sichtbar werden“ (Schnell 2021, S. 37, Hervorh. im Orig.). Unter Rückbezug auf Ricœur scheinen digitale tracking devices durchaus geeignet, substantielle Aspekte der Selbigkeit in ihrem kontinuierlichen Zusammenhang aufzuzeigen. Selbstheit je- doch scheint sich dem analytischen Zugriff der Theorie ebenso zu entziehen wie dem datengestützten Zugriff von tracking devices. Konkrete Erhebungen können u. a. als momenthafte Meilensteile der intendierten Entwicklung gedeutet werden. Dem Blick auf Daten- visualisierungen, die aus solchen Bestandsaufnahmen resultieren, kann dabei ein ähnlicher Aktualitätswunsch unterstellt werden wie auch der Aktualisierung via Wischbewegung auf sozialen Medien. Wie auch das Wer einer Person sich nicht in Daten erschöpft, bleibt auch der Wunsch nach dem Blick auf eine abgeschlossene Identität – Ich, hier, jetzt – letztlich unerfüllt. Das narrative Selbst kann sich erzählend konstituieren, doch handelt es sich dabei um eine Erzäh- lung ohne Ende. Soziale Medien sowie digitale tracking devices können jeweils als Medium der Selbsterzählung dienen und erlauben einen reflexiven Rückbezug des Selbst auf sich. Dem relativen Freiraum einer sozia- len Plattform steht eine stark vorstrukturierte Narrationsfolie der self tracking devices gegenüber, die beispielsweise durch ihre Tra- ckingkategorien die wesentlichen Merkmale der konstituierten Iden- _________________________________________________ Technologie seien an dieser Stelle der vitale Materialismus Jane Bennetts (vgl. Bennett 2010) sowie die postphänomenologischen Cyborg-Relationen genannt (vgl. Rosenberger, Verbeek 2015, S. 20-22). Während mit Bennetts posthuma- nistischem Zugang das tracking device als Aktant in den Blick genommen wer- den kann, eigenen sich postphänomenologische Zugänge vornehmlich dazu, konkrete Verkörperungen und Multistabilitäten von Technologien zu adressie- ren (vgl. z. B. Wellner 2015). | Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien 19 19 tität vorschreiben. Konstitutiv an der Identitätskonstitution beteiligt ist hier neben dem Selbst und dessen Rezipient:innen auch das di- gitale Gerät. Darüber hinaus wird mit self tracking devices ein stär- kerer sichtbarer Fokus auf die Selbigkeit einer Person, d. h. ein Fo- kus auf einen Ist-Zustand gelegt, mit dem die Nutzer:in identisch ist und der erst gegen ein Ideal-Ich gelesen von der Selbstheit der Nut- zer:in spricht. Brüche in der narrativen Identität Dem (post-)modernen Subjekt, das fluide und interrelational ist, steht im Schreiben und Erzählen eine Möglichkeit zur Verfügung, teils konträre Aspekte seines Selbst in einer Narration zusammen- zufassen (vgl. z. B. Faigley 1992). Die Fluidität sozialer Plattformen bietet dafür eine vorgefertigte digitale Oberfläche. Durch Multimedi- alität und Multimodalität stehen dabei eine Vielfalt an Ausdrucks- möglichkeiten zur Verfügung, die eine differenzierte Selbst- und Fremderfahrung ermöglichen, an die aber nicht der Anspruch einer ganzheitlich authentischen Ausleuchtung der Person herangetra- gen werden kann. Eine generelle Offenheit und Unverfügbarkeit der Erzählung wie auch der erzählenden Person ist nicht das Produkt digitaler Erzählformate, sondern kennzeichnet auch schon Ricœurs Überlegungen. Dass Selbsterzählungen immer auch ein Nichterzäh- len enthalten, zeigt Ricœur anhand dreier Dialektiken der Lektüre auf (vgl. Ricœur 1985, S. 274f.). Die Lektüre eines Textes zeichnet sich zunächst durch eine disso- nante Konsonanz aus, d. h. die oder der Lesende erwartet eine ko- härente Erzählung, wird in dieser Erwartung aber enttäuscht und muss die Kohärenz selbst herstellen (vgl. Ricœur 1985, S. 274). Die Lückenhaftigkeit der Selbsterzählung, die notwendigerweise auch den digitalen Selbsterzählungen anhaftet, wird damit in den Verant- wortungsbereich der Rezipierenden übergeben. Es ist weder Auf- gabe noch Möglichkeit der Erzählung, einen homogenen, abge- schlossenen Bedeutungsraum zu präsentieren. Die Erzählung dient Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 20 vielmehr als proaktiv vorstrukturierter (Selbst-)Erfahrungsraum, der auch anders hätte strukturiert werden können. Zahlreiche Kampag- nen sensibilisieren inzwischen dafür, dass Inhalte auf sozialen Me- dien Produkte einer Selektion und oft eines Bearbeitungsprozesses und einer Inszenierung sind. Abhängig von der Rezeption kann eine solche Inszenierung von bspw. Selfies schlimmstenfalls zu schwe- ren Störungen im Selbst- und Körperbild der Rezipierenden führen (vgl. z. B. Hogue/Mills 2019). Im positiven Sinne und auf Seiten der- jenigen, die sich proaktiv inszenieren, d. h auch erzählen, kann der geteilte Inhalt als Versuch gedeutet werden, einen möglichen Bezug zu sich selbst herzustellen und mit sich und den eigenen Selbst-Vor- stellungen in den Dialog zu treten und diesen Dialog identitätskon- stitutiv wirksam werden zu lassen. Brüche, die hierbei auffällig wer- den, sind Startpunkte einer reflexiven (Selbst-)Erfahrung. Die zweite Dialektik, von der eine Lektüre laut Ricœur geprägt ist, besteht in dem Miterzählen von Unerzähltem: „Jeder Text, gleich- sam als wäre er fragmentarisch, erweist sich für die Lektüre als un- erschöpflich, so als offenbarte die Lektüre durch ihre unausweichli- che Selektivität einen ungeschriebenen Teil des Textes“ (Ricœur 1985, S. 274). Wesensmerkmal einer Erzählung ist demnach, dass sie nicht alles erzählen kann. Der Anspruch auf Vollständigkeit kann auch an ein Profil auf sozialen Medien nicht gerechtfertigterweise gestellt werden. Der offene Interpretationsspielraum, der auch on- line geteilten Inhalten immer anhaftet, ist dann nicht notwendiger- weise dem Kalkül der Nutzer:innen zuzuschreiben, sondern liegt nicht zuletzt in der Unmöglichkeit begründet, alles zu erzählen. Die dritte Dialektik der Lektüre liegt schließlich in einem Schwanken zwischen der Illusion und ihrer Unhaltbarkeit, das die „‚richtige‘ Lek- türe“ (Ricœur 1985, S. 275) einer Erzählung ausmacht. Auch im ana- logen Kontext bleibt letztlich ungewiss, ob die Person uns gegen- über so ist, wie wir denken, dass sie ist – und dieses Schwanken ist der ganze Reiz zwischenmenschlichen Kontakts. Eine Selbsterzäh- lung auf sozialen Medien, die sich nicht mit unserer Erfahrung der jeweiligen Person deckt, ist vor diesem Hintergrund lediglich der | Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien 21 21 Hinweis darauf, dass man die Anderen nicht vollständig kennen kann. Das, was Einzelne auf sozialen Medien teilen, generiert eine gewisse Erfahrbarkeit der jeweiligen Nutzer:innen. Bei einer regen Nutzung der Plattformen erfährt man mitunter detailliert, was die Person tut, und entwickelt über die Zeit eine Vorstellung davon, wer die Person ist. Geteilte Inhalte dienen als Erfahrungsgrund, auf dessen Basis ein intersubjektiver Zugang zueinander möglich wird, der aber gleichermaßen als Ermöglichung differenzierter Selbsterfahrung dient. Insbesondere mit self tracking devices lässt sich verdeutli- chen, dass über den Einsatz digitaler Medien ein verstehender Rück- bezug auf das eigene Selbst möglich ist, indem etwas über das ei- gene Selbst gelernt werden kann. Etwas zu erfahren meint dabei mehr als ein konsequenzenloses Aufnehmen kontextloser Informa- tionen. Erfahrungen zeichnen sich in phänomenologischer Lesart vielmehr durch Bruchlinien aus (vgl. Waldenfels 2002), d. h. durch ein Aufbrechen und die Neuordnung bisheriger Welt-Selbst-Verhält- nisse, die als Beginn eines Lernprozesses gedeutet werden kann (vgl. Meyer-Drawe 2003, S. 430). Die eigene Identität auf sozialen Medien erzählend zu konstituieren, bedeutet demnach auch, aktiv in bestehende Welt-Selbst-Verhältnisse einzugreifen und neue Mög- lichkeiten der (Selbst-)Erfahrung zu generieren. Ausgehend von einem Bildungsverständnis, nach dem Bildung auf gesellschaftliche und individuelle Entwicklungen reagieren muss, ist der umfassende Prozess der Digitalisierung ein Phänomen, auf das die Bildungstheorie konkret reagieren muss, ohne lediglich auf the- oretische Konzeptionalisierungen zurückzugreifen (vgl. Thein 2020). Dies gilt auch für Subjektivierungsprozesse, die sich mitunter entlang technologischer Entwicklungen verändern (vgl. Jörissen 2018). Dass Fremdheit und Unbestimmtheit in Bildungsprozessen eine zentrale Rolle spielen, wurde insbesondere in der phänomeno- logisch orientierten Pädagogik wiederholt zum Thema gemacht. Dabei ging es um die Fremdheit der Lerngegenstände, um die Fremdheit des und der Anderen (vgl. Lippitz 2011), aber genauso Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 22 um die Unbestimmtheit und Unzugänglichkeit des Selbst (vgl. Breil 2021). Unter konkreter Bezugnahme auf den Umgang mit digitalen Geräten können Unbestimmtheiten und Widerständigkeiten erneut in unterschiedlicher Perspektivierung adressiert werden. Einerseits offenbart der verstehende Blick auf das eigene Selbst mittels digita- ler Medien wie self tracking devices, dass es Bereiche des Selbst gibt, die sich der quantifizierenden Erfassung und gegebenenfalls auch dem ermächtigenden Zugriff des Selbst entziehen. Anderer- seits ergeben sich aus neuer Technologie stets neuartige Unbe- stimmtheiten und offene Fragen, die die lebensweltliche Orientie- rung mitbestimmen. Gerade der Umgang mit solchen Unbestimmt- heiten, die sich im Kontext der Digitalität ergeben, stellt eine zentrale Herausforderung von Bildung dar (vgl. Allert, Asmussen 2017, S. 28). Autonomie umfasst in diesem Zusammenhang den produk- tiven und situationalen Umgang mit Unbestimmtheit, der eine refle- xive Bezugnahme des Selbst auf sich einschließt (vgl. Allert, As- mussen 2017, S. 54-62). Ricœurs Konzept der narrativen Identität zeichnet eine solche bil- dende und reflexiv-performative Erfahrung des Selbst nach. Entlang der Terminologie um Selbstheit, Selbigkeit und Mimesis konnten technologische Unzulänglichkeiten ebenso thematisiert werden wie allgemeine Widerständigkeiten im inter- und intrasubjektiven Selbst- und Fremdbezug, die Erzählung und Rezeption gleicherma- ßen prägen. Die performative Umsetzung einer narrativen Identität kann vor diesem Hintergrund gedeutet werden als bildende Erfah- rung des Selbst an sich und anderen. 4 Fazit Neben einer quantifizierenden Erfassung von gleichbleibenden Ei- genschaften über die Zeit hinweg, wie es z. B. self tracking devices erlauben, bieten insbesondere soziale Plattformen die Möglichkeit | Digitales Selbst. Selbsterfahrung durch digitale Medien 23 23 zur reflexiven Bezugnahme auf das eigene Selbst und sind darin Ausdruck der für die narrative Identität konstitutiven Selbstheit. Das digitale Profil, resp. die digitale Selbsterzählung lässt sich vor die- sem Hintergrund verstehen als proaktive Konstruktion eines Erfah- rungsraums, über den das eigene Selbst erfahren werden kann und der der konstitutiven Funktion der und des Anderen in der Identitäts- bildung Raum lässt. Zentral für die medienwissenschaftliche bzw. - pädagogische Forschung ist deshalb nicht nur, welche neuen Erfah- rungen mit digitalen Medien (möglich) gemacht werden, sondern auch, wie bestehende Erfahrungen sich verändern. Gerade die pro- aktive Identitätskonstitution durch Nutzer:in und Rezipient:in und di- gitale Anwendung zeigt, dass die Erfahrung des Selbst in digitalen Umgebungen nicht in erster Linie passives Widerfahrnis ist, sondern auch als proaktive Ko-Konstruktion als Teil der Selbsterzählung ge- wünscht sein kann. Die digitale Erfahrungswelt der Selbsterzählung kennt drei gleichberechtigte Protagonist:innen: das Selbst, die Rezi- pient:innen und die digitale Anwendung. Unter Rückgriff auf Ricœurs Konzept der narrativen Identität zeigen sich verschiedene Potentiale und Unbestimmtheiten, die mit der Nutzung von sozialen Plattformen oder digital tracking devices ein- hergehen und zentrale Aspekte des Selbst besonders gut oder we- niger gut fassbar machen können. Konzepte der Authentizität und Autobiographie fordern vor dem Hintergrund der notwendigen Lü- ckenhaftigkeit jeder Erzählung und ihrer Abhängigkeit von intersub- jektiver Rezeption zu einem Andersdenken heraus. Das bildende Po- tential der proaktiven Narration eines digitalen Selbst liegt dann im reflektierten Umgang mit der Unbestimmtheit, die den Umgang mit digitalen Geräten ebenso prägt wie den Zugang zu sich selbst und zu anderen. Das Selbst ist dabei nicht im klassischen, aufkläreri- schen Sinne autonom oder mündig. Genauso wenig ist es abge- schlossen oder statisch. Die Rede von Authentizität verliert dann ih- ren Sinn, wenn es kein wesenhaft Gleichbleibendes gibt, das als Bezugspunkt gilt. Identität und (substanzieller) Wandel sind keine Gegensätze. Das digitale Selbst ist proaktiv, abhängig, verwoben, Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 24 fragmentiert: Die digitale narrative Identität ist multimodal und mul- timedial. Literatur Agregado, Jose Emmanuel C./Abengaña, Ranier Carlo V. (2015): The Devalued Narrative Identity in the Age of Social Media: Calling for an Authentic Hermeneutics of the Self. In: Proceedings of the DLSU Research Congress, 3, S. 1-15. Allert, Heidrun/Asmussen, Michael (2017): Bildung als produktive Verwicklung. In: Allert, Heidrun/Asmussen, Michael/Richter, Christoph (Hrsg.): Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Per- spektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse. Bielefeld: transcript, S. 27-68. Anusas, Mike/Ingold, Tim (2013): Designing Environmental Relations: From Opacity to Textility. 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Sie können erworben und ver- loren werden durch Verhalten, das zuvor von der jeweiligen Lehr- kraft als ein solches bestimmt wurde (z. B. qua pünktlicher Abgabe von Hausarbeiten, gute Wortmeldungen usf.). Die Differenz zwischen einem solchen Erfahrungsbegriff, der in gamifizierten Lernumgebungen angelegt wird, und einem erzie- hungswissenschaftlich relevanten und ausgedeuteten gilt bisher als Desiderat der Gamification-Forschung (vgl. Buck 2017). Ihre Un- tersuchung scheint uns v. a. deswegen ein lohnendes Unterfangen, da beispielsweise mit der Benner’schen Figur der Erfahrungserwei- terung (vgl. Benner 2002) der Konnex von Lebenswelt, Bildung und Schule eingeholt, Erfahrung so zum zentralen Begriff in der Auf- _________________________________________________ 1 Innerhalb der Game Studies wird nicht systematisch zwischen dem Begriff der Erfahrungspunkte und dem Begriff der Experience Points unterschieden. Ganz im Gegenteil liegt hier eine Adaption analoger Role-Playing-Games in digitalen Spielen vor (vgl. Björk/Zagal 2018, S. 312f.). Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 30 gabenbeschreibung von Unterricht avanciert und pädagogischem Handeln wird und auch der Blick auf digitale Spiele verschoben wer- den kann (hierzu: Waldmann/Aktaş 2017; Feige 2015). Diese begrifflich-konzeptuelle Differenz zwischen Erfahrung in den Praxen des Spiels und der Erziehung steht im Zentrum unseres Erkenntnisinteresses. Wir möchten hierfür zunächst Erfahrung als pädagogischen Begriff skizzieren (vgl. Kapitel 2), wie er seit etwa 50 Jahren zum Bestand unserer Disziplin gehört, anschließend die Geschichte und Ent-wicklung der Erfahrungspunkte im analogen (Rollen-)Spiel (Role-playing Games; RPGs) nachzeichnen und deren sieben Funktionen für das Spiel und die Spielenden benennen (vgl. Kapitel 3), um dann über die beiden Stränge der Narratologie und Ludologie eine kritische Wendung hin zu einer Verwendung der Fi- gur der Erfahrungspunkte in pädagogischen Zusammenhängen vorzunehmen (vgl. Kapitel 4). Der Beitrag schließt mit einem vorläu- figen Fazit (vgl. Kapitel 5).2 2 Erfahrung als pädagogischer Begriff In der Erziehungswissenschaft nimmt der Erfahrungsbegriff vor al- lem in der Phänomenologie eine zentrale Rolle ein (vgl. Brink- mann/Kubac/Rödel 2015). In anderen Denktraditionen ist er meis- tens untergeordnet oder verweist schlichtweg auf die empirische Dimension pädagogischen Denkens und Handelns. Günther Buck hat 1967 mit seinem Werk Lernen und Erfahrung (2019) das Lernen als Erfahrung für pädagogische Reflexionen fruchtbar gemacht (siehe auch Meyer-Drawe 2010). Im Sinne Bucks zeigen sich Lerner- fahrungen als Negation antizipierter Erwartungen, die so wiederum „Bruchlinien“ (Waldenfels 2002) erzeugen und als Momente der Wi- _________________________________________________ 2 Für die überaus gründliche Durchsicht des Manuskripts danken wir Jan Bossek, Ann-Kathrin Hoffmann und Michael Olbrich (FernUniversität in Hagen) herzlich. | Narration, Motivation, Subjektivation 31 31 derständigkeit sicht- und pädagogisch bearbeitbar werden.3 Erfah- rungen jedweder Art sind zunächst durch ihre präverbale und prä- diskursive Stummheit gekennzeichnet (vgl. Husserl 1973, S. 77) und können erst im Modus der Reflexion sicht- und sagbar gemacht werden. Diese Reflexion ist eine, die sich durch stetes Zuspätkom- men auszeichnet und zudem den Sinngehalt leiblicher Erfahrungen niemals umfassend begreifen kann (vgl. Meyer-Drawe 1996; Brink- mann 2015). Für pädagogische Zusammenhänge zeigt sich überdies der Erfah- rungshorizont als hochrelevantes Moment. Er beeinflusst, worauf im In-der-Welt-sein bzw. genauer: in der Wahrnehmung die Intentio- nalität gerichtet ist bzw. welche Grundstimmung (Heidegger) vor- liegt. Diese Relationen sind jedoch keine innerlichen Konstruktionen jedes und jeder einzelnen, sondern können im Modus der Verstän- digung zu einem geteilten Verständnis, zu einer Horizontverschmel- zung (vgl. Gadamer 1960) führen. In theoretischer Hinsicht verfügt ein solcher auf Erfahrung beruhen- der Lernbegriff über diverse epistemologische wie erkenntnispoliti- sche Vorteile gegenüber anderen Lerntheorien: er berücksichtigt erstens die leibliche Gebundenheit von Erfahrungen an situative Be- dingungen unserer Existenz,4 er ist zweitens als notwendig soziales Moment nicht hinreichend aus der Innerlichkeit oder Psyche des Menschen ableitbar. Drittens verwehrt er sich gegen eine finalisti- sche und technische Reduktion des Lernens auf (messbare) Lern- ergebnisse, Kompetenzen o. Ä., sondern verweist auf die Individua- lität, Prozessualität und Opazität, mithin gar Unzugänglichkeit des Lernens, ohne fatalistisch die Möglichkeit einer Verständigung dar- über aufzugeben. _________________________________________________ 3 Insofern ließe sich argumentieren, dass Lernerfahrungen zugleich Bildungser- fahrungen sind, weil sie in doppelter Hinsicht in der Negation produktiv werden: in Bezug auf den Gegenstand und in Bezug auf das eigene Vorwissen. 4 An dieser Stelle wird zwangsläufig die Frage nach der Möglichkeit einer Virtua- lisierung von Erfahrung aufgeworfen. Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 32 Es stellt sich die Frage, welcher Begriff von Erfahrung in analogen und digitalen Spielen vorausgesetzt wird, die sich der Mechanik von Erfahrungspunkten als innerer Währung bedienen. Im Folgenden möchten wir historisch die Funktion von Erfahrung und Erfahrungs- punkten von ihren Anfängen bis zu heutigen (pädagogischen) gami- fizierten Spielumgebungen nachzeichnen und deren Bedeutung für das Spiel und die Spielenden rekonstruieren. Anschließend soll das dort zu erarbeitende mit dem hier vorgestellten Konzept einer päda- gogischen Erfahrung in einen Zusammenhang gestellt werden. 3 Erfahrungspunkte im Rollenspiel Das Konzept der Erfahrungspunkte hat vermutlich seinen Ursprung im Pen-and-Paper-Rollenspiel bzw. Tabletop-Rollenspiel (TRPG) Dungeons and Dragons (vgl. Arneson 1979) und wurde mit dem Auf- kommen elektronischer Spiele populär.5 Die Spielmechanik einer an vordefinierte Aktivitäten (Lösung von Herausforderungen, Kämpfen, Trainieren etc.) gebundenen Verteilung von Punkten, die zur Opti- mierung und Ausdifferenzierung von Charakteren eingesetzt wer- den und zum Aufstieg in Erfahrungsstufen mit entsprechenden Bad- ges hinführen, hat nicht nur einen signifikanten Einfluss auf gegen- wärtige digitale Spieldesigns. Diese markiert eine Etablierung eines Individualitätsdispositivs, das sich im Übergang von Wargames zu Tabletop-Rollenspielen (TRPGs) nachzeichnen lässt. Bei TRPGs, die von CRPGs (Computer RPG), LARP (live action role play) und MORPG (multi-player online RPG) unterschieden werden, handelt es sich um interaktive Spiele, die ein Hybrid zwischen Mi- _________________________________________________ 5 Als Argument für die Einführung nennt Arneson (1979) den Versuch, gegen das Ende eines Spiels anzugehen. Es entsteht mit dem Erfahrungspunktesystem eine ambivalente Mechanik, die zugleich Endlosigkeit und das Erreichen der nächsten Stufe (also das Ende der jetzigen) ermöglicht. | Narration, Motivation, Subjektivation 33 33 mikry und Agon und zwischen Narration und Simulation darstellen (vgl. Schmidt 2012). Basierend auf verschriftlichten Regelsystemen und narrativen Weltentwürfen handeln Spielende in Form von welt- inhärent veränderbaren Charakteren, geleitet von einer/einem Spiel- leiter:in (Game Master). Im Gegensatz zu anderen RPGs entfaltet sich die Immersion des TRPG über den gemeinsamen Dialog und anhand spielrelevanter Dokumente wie etwa Charakterbögen, auf den die Charakterwerte festgehalten werden (vgl. William 2018). In der hier dargelegten Argumentation beschränken wir uns auf die TRPGs und werden diese Form des Rollenspiels entsprechend des verfolgten Erkenntnisinteresses, den Begriff der Erfahrungspunkte auszuleuchten, weiter ausführen. 3.1 Gratifikation und Individualität im Tabletop-Rollenspiel Als erster Vorgänger des Tabletop-Rollenspiels (TRPGs) gilt Baron von Reiswitzʼ Kriegsspiel (1812), welches derzeitig im Schloss Char- lottenburg in Berlin besichtigt werden kann (vgl. Hillen- brand/Lischka 2014, S. 30). Das Kriegsspiel ist ein Spieltisch mit mehreren Schubladen, in dem verschiedene Module (militärische Einheiten, geographische Gegebenheiten) zur Gestaltung differen- ter Kampfsituationen aufbewahrt werden. Es besitzt ein umfassen- des Regelwerk, welches militärische Stärke und geographische Lage berücksichtigt und simuliert den Zufallsfaktor von Konfliktsi- tuationen mit Würfeln – ein Mechanismus, der sich im modernen Tabletop-Rollenspiel durchgesetzt hat. Innovativ an dem Spiel war die Position des „Vertrauten“, der die Umsetzung der Regeln koordi- niert und als Schiedsrichter fungiert (vgl. ebd., S. 30-34). Die Erfinder des ersten Tabletop-Rollenspiels Dungeon & Dragons, Gary Gygax, Dave Arneson und Dave Wesely, waren begeisterte Spieler von Kriegssimulationen, zu denen solche Spiele wie Gettys- Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 34 burg (1958) und Diplomacy (1957) gehörten (vgl. Peterson 2012, S. 409f.). Bei Diplomacy handelt es sich um ein Spiel, in dem inter- nationale Konflikte durch die Interaktionen der Spielenden bearbei- tet werden konnten. Aus der Kombination von Kriegs- und politi- scher Simulation entwickelte Dave Wesely in den 1970er Jahren das Spiel Braunstein, welches ein klassisches Kriegsspiel ist, in dem es zwei Fraktionen gibt, die jeweils von einer/einem Spieler:n über- nommen und deren Einheiten von diesen befehligt werden. Ein wichtiger Impuls für die Entwicklung des Rollenspiels lässt sich den Erzählungen von Wesely zufolge auf eine besondere Partie Braun- stein zurückführen, welche er während seines Studiums geleitet hat. Bei einer Spielpartie haben sich „mehr als acht Gäste“ (Hillen- brand/Lischka 2014, S. 269) angemeldet, die Wesely nicht als pas- sives Publikum, sondern als Mitspielende in das Spiel integrieren wollte. Er wies allen Spielenden eine Akteursrolle (z. B. als preußi- scher Offizier oder als pro-französischer Student) zu, welche die Spielenden rollenspielerisch ausfüllen und durch die sie als Indivi- duen (und nicht als Befehlshaber von mehreren Einheiten) in das Spielgeschehen eingreifen konnten. Die Spieler:innen verflochten sich ob ihrer erlangten Handlungsfreiheit in politische Debatten und interaktiven Handlungsverläufen. Am Ende der Spielsitzung stand Wesely als Spielleiter jedoch vor dem Problem, eine angemessene Bewertung des Spiels vorzunehmen. Während Kriegssimulationen auf einen Sieg oder auch ein Patt hinauslaufen – der Ausgang also bestimmbar ist – scheiterten die Bewertungspraktiken und das a- gonale Punktesystem (Graduierung des Erfolgs gegenüber dem Konkurrenten) an der Akteursrolle und der dynamischen Interaktion, die sich nicht mehr mit den festgelegten Zielen einer Kriegssimula- tion vermitteln ließ. Diese Unbestimmtheit der Interaktion und des Sieges wurde von den damaligen Spielern nicht problematisiert. Sie begrüßten die Handlungsfreiheit in einer virtuellen Welt, die vom Spielleiter Wesely improvisatorisch repräsentiert und flexibel ange- passt wurde, und identifizierten sich mit den jeweiligen Akteursrol- len (vgl. ebd. S. 267-274). | Narration, Motivation, Subjektivation 35 35 Die Innovation dieser veränderten Spielmechanik vom Brettspiel zum Tabletop-Rollenspiel ist die Identifizierung der Spielenden mit Charakteren, die im Zuge der spielerischen Inszenierung charakteri- siert werden und die nicht gegeneinander, sondern gemeinsam mit den Charakteren der Mitspieler:innen kooperativ Herausforderun- gen angehen. Der jeweilige Charakter wird mit eigener Biographie, eigenen Merkmalen, Fähigkeiten und Charakterzügen er- und aner- kennbar. Die/der Spieler:in bleibt nicht einfach Zwerg:in, Krieger:in oder Magier:in, sie bzw. er verkörpert auch keine populäre Figur aus Literatur oder Film. Der von ihr/ihm gespielte Charakter gewinnt eine Identität im Kontext der Narration und der Interaktion. Robin Junicke spricht deswegen beim Rollenspiel im Allgemeinen auch von einem prozessualen Erzählen, welches episodisch und damit seriell im gemeinsamen Spiel erzählt wird (Junicke 2019, S. 109- 111). In Referenz zum Fantasygenre entfaltet sich dieses prozessu- ale Erzählen ausgehend von Weltentwürfen,6 die auf Handlungsre- geln, Charakterklassen, sozialen Ordnungen, einer physikalischen Strukturierung der Welt, einer Symbol- und Bilderwelt basieren, hin zum kreativen Prozess im dialogischen Spielgeschehen selbst, in- dem sich eine Balance zwischen der Binnenerzählung, die von der/dem Spielleiter:in geplant und vorangetrieben wird, und der Handlungsfreiheit der Spieler:innen, die mit ihren Charakteren, den Interaktionen, Entscheidungen in die Geschichte eingreifen und diese partizipativ miterzählen (vgl. ebd., S. 119). Dieser Balancie- rung lässt sich mit dem Konzept der probabilistischen Narration an- nähern (vgl. Sallge 2010, S. 96f.), in dem die Handlungsfreiheit an bestimmten, für die Binnenerzählung zentralen Punkten verengt wird und nur ein vorbestimmtes Ensemble von Handlungen zu dem _________________________________________________ 6 Wichtige Einflüsse aus dem Fantasygenre: Richard Howards Conan der Barbar; Fritz Leibers Lankhmar; H.P. Lovcrafts Cthulhu; J.R.R. Tolkiens Mittelerde. Die gängigsten Tabletop-Rollenspiele: Dungeon & Dragon; Das schwarze Auge; Vam- pire the Masquerade; Shadowrun; Call of Cthulhu; Middle-earth etc. Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 36 Spielfortschritt führt. Dieses Prinzip, welches sich auch in Compu- terspielen durchgesetzt hat, ist im Tabletop-Rollenspiel, abhängig vom Spielsystem und den Aushandlungsprozessen in den jeweili- gen Gruppen, mehr oder weniger eng gefasst. Die Dialoge über Spielmechanik, Binnennarration, rollenförmigen Selbstnarrationen (vgl. hierzu Flöte 2017, S. 186) und den interaktiven Erzählakten im Spiel gehen beim Rollenspiel ineinander über. Dabei nimmt die prozessuale Erzählform auf verschiedenen Ebenen postmoderne Strukturmerkmale auf. Ein Strukturmerkmal ist, dass Rollenspiele als eine Bricolage funktionieren (vgl. Junicke 2019, S. 116). D. h. sie verwendet bekannte Elemente und eine Vielfalt an Stereotypen und kombiniert diese zu einer neuen Welt, einer fantas- tischen Welt. (Re-)Produktion und (Re-) Kombination der Elemente werden in immer weiteren Episoden fortgeschrieben und einer offe- nen Zukunft zugeführt. Dies macht ein Großteil der Faszination des Spiels und der Teilhabe an den jeweiligen Communities aus. Diese Bricolage bedeutet aber auch, dass etwa gesellschaftliche Ressen- timents, Rassismen und koloniale Vorstellungen im Spiel präsent sind und zugleich verhandelt werden (vgl. Unterhuber 2022, S. 3f.). Der weiße, gesellschaftlich unverdorbene Elf oder der dunkle, ewig böse Ork sind dabei nur die augenfälligsten Beispiele. Im Gegensatz zu Der Herr der Ringe sind Rollenspiele allerdings nicht abgeschlos- sen, in ihnen können Resignifizierungsprozesse7 stattfinden. So kann auch der Ork zu einer spielbaren Figur mit eigener Biographie, _________________________________________________ 7 Unter Resignifizierung versteht Butler einen sozialpolitischen Prozess der Um- deutung von Adressierungen durch veränderte Sprechweisen bzw. -akte inner- halb emanzipativer Identifikationspraktiken (vgl. Butler 2006, S. 66). Wenn die Adressierung Queer in den 19. Jahrhundert noch eine marginalisierende und diskriminierende war (pervers, obskur), rufen die vormals adressierten Gruppen mit dieser Adressierung inzwischen ein emanzipatives, widerständiges Selbst- konzept auf und gewinnen aufgrund der Neuverhandlung von Normen an Handlungsfähigkeit. Demnach kann auch der Ork zu einer positiv konnotierten Figur werden, die Normalitätsvorstellungen hinterfragbar werden lässt. | Narration, Motivation, Subjektivation 37 37 können Rassengrenzen überschritten oder mit sexuellen Identitäten experimentiert werden. Letztlich sind Spielsysteme konstitutiv offen und werden von den Verlagen und von den Communities aktuali- siert, ausgearbeitet und verändert. Spielsysteme wie Das Schwarze Auge kennen kein Ende der Geschichte (vgl. Unterhuber 2022, S. 13f.). Hiermit liegt ein zweites Strukturmerkmal vor. Die Immersion8 des Rollenspiels lässt sich auf das partizipative Erzählen zurückführen, in dem sich die Spieler:innen mit ihren Charakteren an dem Erzähl- fortgang beteiligen, sie instrumentell über den Charakter handelnd in die Geschichte eingreifen und sie sich spielerisch über ihren Cha- rakter selbst erfahren – sie demnach Selbsttechnologien in der Gruppeninteraktion anwenden. Sie entwerfen Identitäten, bauen diese zu einer konsistenten Identität aus, relationieren diese zum je- weiligen Spielsystem bzw. Weltentwurf und den Anerkennungsregi- men innerhalb der Gruppe. Das Rollenspiel vermittelt nach Laura Flöte eine Selbsterfahrung innerhalb der symbolischen Interaktion im Spiel und fordert einen Umgang mit pluralen Rollenkonstellatio- nen, mit Fragen der Authentizität und mit dem Erproben von Identi- tätsentwürfen heraus (vgl. Flöte 2017, S. 185). Die Identitätsentwür- _________________________________________________ 8 Der Begriff der Immersion ist ein sehr facettenreicher Begriff mit unscharfen Grenzen, der differente Aspekte umfasst wie etwa die Aufmerksamkeitsbin- dung durch Selbstwirksamkeitserfahrungen über die dynamische Anpassung von Anspruchsniveau und Können – hierzu das psychologische Flow-Konzept (vgl. Csíkszentmihályi 1990). Eine Reduktion der Immersion auf Flow wird nach Sarah Lynne Bowman aber dem phänomenalen Gehalt der Immersion im Rol- lenspiel nicht gerecht. Sie unterscheidet die Ebene der Konzeption von Immer- sion, auf der dieses mit Konzeptionen des Flows, des Involvements, des Enga- gements und u. a. der Präsenz relationierbar ist, von der Typologie, mit der die immersive Erfahrung im Rollenspiel inhaltlich angereichert werden kann – u. a. „Immersion into Narrative“ und „Immersion into Character“ (Bowman 2018, S. 383-390). Auf den letztgenannten Typen der Immersion liegt auch der Fokus innerhalb der dargelegten Diskussion, da für die Entfaltung der These des Indi- vidualitätsdispositivs die narrativ vermittelte Identifikation mit einer virtualisier- ten Lernbiographie konturiert werden soll. Digitale Erfahrungswelten im Diskurs | 38 fe über die Charaktere sind aus dieser Perspektive heraus ästheti- sche Tätigkeiten, die einem „Erproben“ (Kirchner et al. 2006, S. 19) gleichen. Spieler:innen erkunden die Motive, die Werte und die Ge- fühlswelt des Charakters über die Erfahrungen in der virtuellen Welt (vgl. Po