montage 17/2/2008 Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation [Immersion] Impressum montage AV 17/2/2008 Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation Herausgeber: Gesellschaft für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation e.V. ISSN 0942-4954 ISBN 978-3-89472-469-6 Redaktion: Andrea B. Braidt (Wien), Christine N. Brinckmann (Berlin), Robin Curtis (Berlin), Evelyn Echle (Potsdam), Britta Hartmann (Berlin), Vinzenz Hediger (Bo- chum), Judith Keilbach (Utrecht), Frank Kessler (Utrecht), Guido Kirsten (Jena), Ste- phen Lowry (Stuttgart), Jörg Schweinitz (Zürich), Patrick Vonderau (Bochum), Hans J. Wulff (Kiel) Koherausgeberin (als Gast): Christiane Voss Redaktionsanschrift: c/o Britta Hartmann, Körnerstr. 11, D-10785 Berlin, Tel./Fax: 030 - 262 84 20, E-Mail: montage@snafu.de Die Redaktion freut sich über eingesandte Artikel. www.montage-av.de Preis: Einzelheft 12,80 Euro / Sfr 23,50 Abonnement: zwei Hefte im Jahr, 22,– Euro / Sfr. 39,60 Studenten: 18,50 Euro / Sfr. 33,60 Verlag: Schüren Verlag GmbH, Universitätsstr. 55, D-35037 Marburg, Tel.: 06421 - 63084, Fax: 06421 - 681190, E-Mail: info@schueren-verlag.de Gestaltungskonzept: Ivy Kunze (Berlin) Satz: Nadine Schrey Druck: Difo-Druck, Bamberg Anzeigen: Katrin Ahnemann, E-Mail: ahnemann@schueren-verlag.de © Schüren Verlag 2008 Titel: This is Cinerama (Merian C. Cooper, Gunther von Fritsch, USA 1952) Bildnachweise: Bei den Autoren Inhalt Editorial 4 Robin Curtis / Christiane Voss: Fielding und die movie-ride-Ästhetik: Vom Realismus zur Kinesis 11 Raymond Fielding: Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910 17 Erkki Huhtamo: Unterwegs in der Kapsel: Simulatoren und das Bedürfnis nach totaler Immersion 41 Christiane Voss: Fiktionale Immersion 69 Robin Curtis: Immersion und Einfühlung: Zwischen Repräsentationalität und Materialität bewegter Bilder 89 Ute Holl: Immersion oder Alteration: Tony Conrads Flickerfilm 109 Ann-Sophie Lehmann: In der Ratte. Der Körper als immersiver Ort in 3D-Computeranimationsfilmen 121 Britta Neitzel: Facetten räumlicher Immersion in technischen Medien 145 Werner Wirth / Matthias Hofer: Präsenzerleben. Eine medienpsychologische Modellierung 159 Joachim Paech: Nachruf auf Jan Marie Lambert Peters (1920–2008) 177 Zu den Autoren 182 Theorien ästhetischer Immersion In medientheoretischen Zusammenhängen hat die Rede von ‹im- mersiven Erfahrungen›, also Erfahrungen des Involviert-Seins und des Sich-hineinziehen-Lassens, zunehmend Konjunktur, so dass sich die Frage stellt, welcher Typus von Erfahrung damit angesprochen wird. Eine begriffliche Bestimmung von ‹Immersion› ist insofern nicht in einem definitorischen Handstreich zu erledigen, als es sich dabei um ein ubiquitäres Phänomen handelt, das in verschiedenen Erschei- nungsformen zur Geltung kommt und sich aus verschiedenen Quel- len speist. So können sich immersive Zustände kinästhetischen, pro- priozeptiven, imaginären sowie raum-zeitlichen Selbstverortungen in fiktionalen Welten oder auch nicht-narrativen Matrixen wie Compu- terspielen verdanken. Fraglich ist von daher, ob es sich bei ‹Immersion› um einen Oberbegriff handelt, dem bestimmte Zustände mit über- einstimmenden Merkmalen als Instanzen einer Art zugeordnet wer- den können, oder nicht eher um eine heuristische Metaphernbildung, die bestenfalls Familienähnlichkeiten zwischen ganz unterschiedlichen Umgangsformen mit Medien anspricht. Innerhalb der versprengten Literatur zum Thema sowie zwischen den Disziplinen fallen die De- finitionen von ‹Immersion› entsprechend uneinheitlich aus. In diesem Heft wird daher kaleidoskopartig das immersive Verhältnis zu Filmen, Videospielen und virtual reality reflektiert. Formal betrachtet ist ‹Immersion› zunächst eine Kategorie der Wir- kung von etwas, das Aufmerksamkeitswert beansprucht, auf jeman- den, der sich auf dieses Etwas konzentriert und einlässt. Das lateinische Wort immersio verweist auf eine physische Erfahrung des Eintauchens in Flüssigkeit. Von dort her lässt sich die erweiternde Übertragung des Immersionskonzepts auf Wirkungen einer räumlichen Umschließung verstehen, wie sie unter anderem durch panoramatische Blickführung von Bildern und Installationen erzielt wird. Für die Kunstgeschichte hat Oliver Grau solche immersiven Tech- niken der räumlichen Umschließung in einem historischen Bogen von den Fresken Pompejis bis hin zur Medienkunst der 1990er Jahre Theorien ästhetischer Immersion 5 rekonstruiert (Grau 2001). Eine weitere Bedeutungsfacette des Im- mersionspotenzials, die sich auch anhand von Malerei exemplifizieren lässt, ohne deshalb auf die bildenden Künste beschränkt zu sein, hebt der Kunsthistoriker Michael Fried in seiner Studie über Adolf Menzel hervor (Fried 2002). Er versteht dort unter ‹Immersion› eine Form der Einbeziehung des Betrachters, die ein imaginär-leibliches Eintauchen in die Atmosphäre von Gemälden meint, wie sie von den dargestell- ten Objekten und Figurationen Menzels ausgeht. Demzufolge lassen wir uns besonders dann in die Atmosphäre einer Szene hineinziehen, wenn sie Figuren aufweist, die ihrerseits als in etwas absorbiert erschei- nen, so als seien sie – unbeobachtet vom Betrachter – in eine kontem- plative Tätigkeit wie Träumen oder Lesen vertieft. Der absorbierte Zustand einer solchen Figur kann nun seinerseits die spiegelbildliche Absorption anregen, ohne jedoch in seiner Eigen- bedeutung von dieser Betrachtermimesis abhängig zu sein. Für Fried ist die leibliche Absorption der kontemplativen Sorte eine ästhetisch empfehlenswerte Einbeziehung, der er die Theatralität als eine sich an- biedernde Form ästhetischer Präsenz negativ entgegensetzt. ‹Theatral› ist für ihn neben der minimalistischen Kunst alles Ästhetische, sofern es sich auf seine materielle Dinghaftigkeit reduziert und so jede darü- ber hinausweisende Bedeutungsfülle und -qualität demonstrativ vom Betrachter abhängig macht.1 Die theatrale Darstellungsform und -wir- kung besteht also in dessen direkter Adressierung und zielt somit auf Spektakel und laute Aufmerksamkeit. Der Betrachter wird hier nicht in ein dargestelltes Geschehen hineingezogen, sondern umgekehrt von diesem geradewegs angesprungen, etwa von einem ihm entgegen kommenden Motiv, Sound- oder Farbeffekt. Während Fried die theatral bedingten Effekte nicht als Formen von Immersion behandelt, ließe sich gleichwohl festhalten, dass Bildwir- kungen, die den Rezipienten anspringen, zwar die Richtung der Ver- strickung umkehren mögen, aber dennoch immersiv genannt werden können, sofern sie ihn durch Appell oder Überrumpelung ergreifen. Die Schockeffekte, Special Effects sowie wilden Bild- und Soundmon- tagen vieler Blockbusterfilme zielen auf Überrumpelung und liefern Beispiele für immersive Effekte, die durch aggressive Theatralität be- dingt sind.2 1 Zur Kritik an Frieds Theatralitätskritik und ihrer Rezeptionsgeschichte vgl. die Stu- die von Rebentisch (2003, 40-51). 2 Für eine Differenzierung zwischen theatraler und absorbierender Wirkung von Film argumentiert Rushton (2004; 2007). 6 montage AV 17 /2 / 2008 Obwohl immersive Wirkungen besonders mit Videospielen und virtueller Realität verbunden werden, handelt es sich keineswegs um eine exklusive Umgangsform mit neueren Medien. Jeder erinnert sich an Erfahrungen seiner Kindheit, wo bereits Rollenspiele3 oder die Lektüre eines Märchens derart zu überwältigen vermochten, dass man sich geradezu physisch distanzieren musste, um den Schreckens- oder Freudensszenarien zu entkommen. Das ist ein Verhalten, das uns als Erwachsene im Kontext unserer ästhetischen Erfahrungen wieder begegnet. Darüber hinaus sind Immersionserlebnisse nicht nur Sache der Kunst oder der Unterhaltungsindustrie. In der aktuellen neurowis- senschaftlichen Forschung wird zum Beispiel in Versuchen des ‹body swapping› mithilfe von head mounted displays (HMD) und kombi- nierten CCTV-Kameras die medial steuerbare Ausdehnung der un- mittelbar physischen Selbstidentifizierung von Personen ausgetestet. Dabei stehen die Effekte körperlicher Eigenempfindungen (Proprio- zeptionen) für die subjektive Selbstwahrnehmung und -verortung im Zentrum. Denn raumzeitliche Selbstverortung verdankt sich zu ei- nem großen Teil der unmittelbar wahrnehmbaren Lageveränderung der Organe in der Interaktion mit einem Gegenüber und in einer bestimmten Umgebung. Als body swapping werden daher die Effekte solcher Experimente beschrieben, in denen speziell die Illusion einer propriozeptiven Selbstlokalisierung in einem fremden Körper medial erzeugt wird.4 Experimentell konnte nachgewiesen werden, dass Pro- banden die paradox klingenden Empfindungen hatten, sich selbst ge- genüber zu stehen, die Berührungen eines anderen Körpers unmittel- bar als eigene zu empfinden oder gar sich selbst die Hand zu geben. Dass Propriozeptionen eine zentrale Rolle für die Möglichkeit des Sich-hineinversetzen-Könnens in andere Gestalten und Räume spie- len, ist auch für die Diskussion von ästhetischen Immersionseffekten informativ. Damit rücken Facetten der Verkörperung medial erzeugter Effekte ins Blickfeld. Hierzu zählen nicht zuletzt die Realitätswirkun- gen des Kinos, die emotionale Wirkung von bildlichen Darstellungs- welten sowie die Präsenzeffekte von virtual reality. 3 Die frühen Rollenspiele sind das Ausgangsszenario für Kendall Waltons (2004) Fiktionstheorie. 4 Vgl. dazu das Experiment der schwedischen Forschungsgruppe von Valeria Petkova und Henrik Ehrsson, die mit Hilfe von head mounted display (HMD) kombiniert mit CCTV-Kameras für die Probanden die Erfahrung ermöglichten, sich in einem frem- den, sogar leblosen Körper einer Schaufensterpuppe selbst wahrzunehmen. Theorien ästhetischer Immersion 7 Vor dem Hintergrund der Anwendungen des Immersionsbegriffs in unterschiedlichen Kontexten erweist sich das ursprünglich medien- spezifisch gedachte Versprechen, virtuelle Realität sei das privilegierte Medium totaler Immersion, selbst als historische Utopie. Sie bezieht sich auf die Erfahrbarkeit einer möglichst perfekt simulierten Welt, die im Idealfall maximal kontrollierbar sein soll. Doch zugänglich sind uns technisch produzierte, künstliche Welten eben auch in der Litera- tur und im Film. Und obwohl in diesen Medien bereits die medialen Rahmungen dafür sorgen, dass eine vollständige Ununterscheidbarkeit von empirischer und ästhetischer Welt, wie sie für virtual reality ange- strebt wird, ausgeklammert bleibt, scheint Immersion dort, wenn auch unter anderen Namen, als ein vielgestaltiges Ideal ästhetischer Wirk- samkeit Geltung zu beanspruchen: als Enthusiasmus, Kontemplation, ästhetischer Genuss, Spannung, Schauer, Identifikation, Unterhaltung. In diesem Heft beschäftigen sich die teils philosophisch, teils film- und medienhistorisch und teils empirisch ausgerichteten Beiträge auf die Bedeutung der Immersion im Umgang mit bewegten Bildern, und dies vornehmlich unter drei Gesichtspunkten: Erstens wird Immersion als körperextensive Zeit- und Raumerfahrung reflektiert; zweitens als somatisch-affektive sowie identifikatorische Involvierung des Rezipi- enten und drittens als Form der Illusionsbildung durch den imaginä- ren Übergang von der empirischen Realität in eine mediale Fiktion. Die immersive Lokalisierung, wie sie durch die filmische Koppe- lung von Bewegungs- und Reisemotiven gesteuert wird, wurde bereits von Raymond Fielding in seinem erstmals 1968/69 erschienenen Auf- satz über die so genannten Hale‘s Tours beschrieben. Hale’s Tours stel- len frühe Versuche dar, dem Publikum eine immersive Reise in ferne Räume und Zeiten zu verschaffen. In umgebauten Eisenbahnwaggons zeigte man dafür Kamerafahrten entlang pittoresker Zugstrecken, un- termalt von Fahrgeräuschen und unterstützt von verschiedenen Simu- lationstechniken, die den Attraktionen heutiger Vergnügungsparks ver- gleichbar sind. Auch wenn sich Fieldings Text nicht explizit mit dem Phänomen ‹Immersion› auseinandersetzt, ist er für Überlegungen zur heutigen movie-ride-Ästhetik gleichwohl wegweisend. Erkki Huhtamo beschreibt ‹Immersion› in seinem Beitrag (zuerst erschienen 1995) nicht als überzeitliches Phänomen, sondern als kul- turellen Topos, der sich mit dem Wandel historischer Kontexte verän- dert. Unter diesem Gesichtspunkt vergleicht er die Raumerfahrung des frühen Kinos mit der Angstlust des Jahrmarkts und der späteren Themenparks. Er untersucht eine Reihe von immersiven Erfahrun- 8 montage AV 17 /2 / 2008 gen auf ihre sehr unterschiedlichen historischen und ideologischen Beweggründe: von den stereoskopischen Bildern, die im bürgerlichen viktorianischen Heim wegen des ‹sicheren› Zugangs beliebt waren, den sie zum gefährlich gewordenen öffentlichen Raum eröffneten, bis hin zur «virtual reality craze» der frühen 1990er Jahre, die Zuflucht vor einer problematisch gewordenen Körperlichkeit bot. Mit diesem Aspekt der Immersion, dem Übergang von einer in die andere Welt, beschäftigt sich auch der Beitrag von Christiane Voss an- hand von Deutungsvorschlägen aus Philosophie, Literaturwissenschaft und Medientheorie. Aus Sicht der Literatur- und Medientheoretike- rin Marie-Laure Ryan ist unter dem Begriff der ‹Relokalisierung des Betrachters› ein mental vorzunehmender Übergang von einer empiri- schen in eine fiktive Welt bezeichnet. Immersion ist bestimmt als kog- nitive Funktion einer temporär begrenzten Selbstverortung in einer syntaktisch-semantisch sowie modallogisch spezifizierbaren Matrix. Indem Voss diese modallogische mit einer kinästhetischen und einer imaginationstheoretischen Lesart von Immersion ins Verhältnis setzt, die sie im Rückgriff auf den Philosophen Theodor Lipps und den Literaturtheoretiker Wolfgang Iser rekonstruiert, gelangt sie zu einem eigenen Begriff der Multiimmersion, wie er besonders für die Filmre- zeption einschlägig sei, der die Konstellation von geistigen und phy- sisch fundierten Immersionsmodi gleichermaßen umfasst. Robin Curtis zeichnet in ihrem Beitrag den Aspekt der Delokali- sierung durch Immersion nach. Sie reflektiert die Bedeutungsverschie- bung des Immersionsbegriffs im Englischen und problematisiert damit seine Gleichsetzung mit Kinesis in Reflexionen zur filmischen Immer- sion. Die viszeral wirkende Kinesis wird für gewöhnlich mittels einer naturalistischen ästhetischen Strategie, der movie-ride-Ästhetik, erzielt. Curtis verweist auf die immersiven Implikationen einer Einfühlungs- ästhetik, die im späten 19. Jahrhundert die Auseinandersetzung sowohl mit lebendigen Figuren wie auch mit leblosen Elementen des Film- bildes einforderte. Anhand einer Analyse von Hollis Framptons Avant- garde-Film (nostalgia) (USA 1971) zeigt sie, wie Immersion über die durch den Ton angeregte Phantasie des Rezipienten, aber auch die Ab- straktion und Materie des Filmbilds ausgelöst und erlebt wird. Der Aufsatz von Ute Holl thematisiert das Verhältnis von immersiver Raumerfahrung und Subjektkonstitution im Rekurs auf McLuhans Einsicht in die prinzipiell mediale Figuration und Defiguration von Subjektivität. Am Beispiel von Tony Conrads The Flicker (USA 1966) argumentiert Holl dafür, statische Raum- und Subjektauffassungen durch dynamische Frequenzraum- und Subjektbegriffe zu ersetzen. Theorien ästhetischer Immersion 9 Die damit angesprochenen frequenzorientierten Raumkonzepte füh- ren bis zu optischen Experimenten zurück, wie sie Faraday in den physiologischen Laboratorien des 19. Jahrhunderts entwickelte. Kino- sehen und Immersion in filmische Welten basierten demnach nicht auf einer ahistorisch zu denkenden Physiologie von Wahrnehmungssub- jekten, sondern seien durch apparative, institutionelle und architekto- nische Dispositive historisch geprägt. Ann-Sophie Lehmann untersucht im Rückgriff auf die Phänome- nologie der Filmerfahrung von Vivian Sobchack und am Beispiel der CGI-Produktionen Ratatouille (Brad Bird/Jan Pinkava, USA 2007) und Toy Story (John Lasseter, USA 1995) immersive Strategien in Animationsfilmen. Anstelle der herkömmlichen Gegenüberstellung von Reflexivität und Immersion weist sie anhand des Animations- films deren immanente Verschränkung aus. Lehmann unterscheidet dabei zwischen dem animierten Körper, dem Zuschauerkörper und dem Körper des Animators, die miteinander oszillieren. Gerade durch diesen anhaltenden Wechsel im Erleben verschiedener Körper gelinge eine Verschränkung von synthetischem Realismus, haptischem Schau- en und selbstreflexiver Geste der Animation, die kontinuierlich neue immersive Impulse hervorbringe. Britta Neitzel dekonstruiert die mit Immersion verbundene Rhe- torik einer vollständigen Betrachterinvolvierung in eine virtuelle Welt, wie sie in der Fernsehwerbung, aber auch in medienwissenschaftlichen Beschreibungen des Cyberspace zu finden ist. Sie kritisiert den Gehalt der Metapher vom ‹Eintauchen in eine fremde Welt› als Mythenbil- dung. Anhand von phantom rides, Telefon, Radio und Fernsehen argu- mentiert Neitzel dafür, Immersion als ambivalentes Bewusstsein eines gleichzeitigen Hier- und Dortseins zu verstehen. Auch das interaktive Involviertsein von Usern in Computerspielen durchbreche die Grenze zwischen empirischen und medialen Räumen sowie zwischen medial dargestellter Zeit und Spielzeit. Anders als im Bereich der Geisteswissenschaften wird in der Medi- enpsychologie der Begriff der Immersion normalerweise produktions- ästhetisch gefasst und der Begriff der Präsenz für die involvierenden Formen medialer Rezeption reserviert.5 Gegenüber den Reise- und Bewegungsmotiven konzentriert sich der Beitrag von Wirth und Ho- fer auf räumliches Präsenzerleben als eine Form immersiver Selbst- lokalisierung. Die Autoren stellen ein «Zwei-Ebenen-Modell der 5 Einen Überblick zur Begriffsgeschichte von ‹Immersion» und «Präsenz› liefert Mc- Mahon (2003). 10 montage AV 17 /2 / 2008 Formation räumlichen Präsenzerlebens» vor, das im Kontext eines EU-Forschungsprojekts zu presence entwickelt wurde. Besonders in- struktiv an dieser Forschungsrichtung ist eine Betrachtungsweise, die vom Technikdeterminismus früherer Ansätze abrückt und das Poten- zial neuerer Medien (der virtuellen Realität, des Films und des Fernse- hens) und älterer Medien (Bücher) erkundet, um Prozesse der Selbst- lokalisierung in ästhetischen Kontexten zu lenken. Mit Jan Marie Peters ist 2008 im Alter von 88 Jahren einer der großen europäischen Filmwissenschaftler verstorben. Neben Peter Wollen in England, Umberto Eco in Italien oder Christian Metz in Frankreich hat Peters in den Niederlanden den semiotic turn der Filmtheorie vor- angetrieben. Joachim Paech hat ihm einen Nachruf gewidmet. Robin Curtis und Christiane Voss Literatur Fried, Michael (2002) Menzel’s Realism. Art and Embodiment in Nineteenth–Cen- tury Berlin. New Haven: Yale University Press. Grau, Oliver (2001) Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Virtuelle Strate- gien. Berlin: Reimer. McMahon, Alison (2003) Immersion, Engagement, and Presence. A Method for Analyzing 3-D Video Games. In: The Video Game Theory Reader. Hg. v. Mark J.P. Wolf & Bernard Perron. New York: Routledge. Petkova, Valeria I./Ehrsson, Henrik H. (2008) If I Were You: Perceptual Illu- sion of Body Swapping. In: PLoS ONE 3, www.plosone.org, Zugriff am 15.12.2008. Rebentisch, Juliane (2003) Ästhetik der Installation. Frankfurt a.M: Suhrkamp. Rushton, Richard. (2004) Early, Classical and Modern Cinema: Absorption and Theatricality. In: Screen 45,3 (Herbst), S. 226-244. Rushton, Richard. (2007) Absorption and Theatricality in the Cinema: Some Thoughts on Narrative and Spectacle. In: Screen 48,1 (Frühling), S. 109-112. Walton, Kendall (2004) Mimesis as Make-Believe. Cambridge: Harvard Univer- sity Press. Fielding und die movie-ride-Ästhetik: Vom Realismus zur Kinesis Robin Curtis / Christiane Voss Im nachfolgenden Text, der erstmals 1968/69 erschien, schildert Ray- mond Fielding das Bemühen der frühen Unterhaltungsindustrie um «Ultrarealismus». Fielding zeichnet einen historischen Prozess nach, der bei den phantom rides des frühen Films begann und sich heute noch im IMAX-Kino fortsetzt. Er nahm damit implizit Aspekte der filmischen Immersionsdebatte vorweg, ohne jedoch den Begriff der Immersion zu verwenden. Vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb Fieldings Beitrag für die Diskussion des Konzepts erst wesentlich später erkannt wurde. Der Forschung zum frühen Kino, die sich zehn Jahre nach Erscheinen sei- nes Textes beim berühmten 34. FIAF-Kongress in Brighton formierte, gab er indes zweifellos wichtige Anstöße.1 Darüber hinaus inspirier- te Fieldings Aufsatz Untersuchungen zu den kinetischen und soma- tischen Reizen des bewegten Bildes und löste ein neues Nachden- ken über filmästhetische Strategien und Darbietungsformen aus, das in Beiträge über die historischen phantom rides und travelogues münde- te, aber auch Phänomene wie den Blockbuster mit seiner movie-ride- Ästhetik oder eben das Cinerama- oder IMAX-Kino theoretisch und historisch zu konturieren half.2 Die heute wohl gängigste Form der filmischen Immersion fußt auf dem simulierten Effekt einer rasanten Bewegung des Zuschauers durch den Raum. Dem Betrachter kommen dabei diverse Objekte mit hoher 1 Charles Musser spricht in The Emergence of Cinema: The American Screen to 1907 von «an excellent study of this subject» (Musser 1990a, 430). 2 Vgl. zu den phantom rides Rabinovitz 2004 und 2006 sowie Gunning 2006 und 2009; zu den travelogues den Überblick zum Reisefilm in Ruoff 2006 sowie Musser 1990b, und zur movie-ride-Ästhetik etwa Balides 2003. 12 montage AV 17 /2 / 2008 Geschwindigkeit entgegen, wobei die Kamera stets auf den Flucht- punkt ausgerichtet bleibt. Die damit erzeugte Wirkung hat Constance Balides – bezogen auf den zeitgenössischen Film – als «immersion effect» bezeichnet (2003, 316-321). Das Vorbild für diese ästhetische Strategie lokalisiert Balides im movie-ride-Effekt des ersten Star-Wars- Films (George Lucas, USA 1977) in den ausführlich dargestellten und für die damaligen technischen Möglichkeiten kinetisch beeindrucken- den Flügen durch kosmische Räume. Beim movie-ride wird die medi- ale Konvergenz des Films mit der Achterbahn-Attraktion eines The- menparks simuliert, eine Ästhetik, die im Actionfilm der Gegenwart zur Regel geworden ist (und dort auch dazu dient, die Möglichkeiten computergenerierter Bilder und Effekte zur Schau zu stellen). Wie Fielding nahelegt, kann man historisch die phantom rides als Vorläufer dieser Form der Bewegungsästhetik verstehen. Zwar wur- den sie häufig mit dem Reisefilm assoziiert, doch unterscheiden sie sich von der tatsächlichen Erfahrung einer Eisenbahnfahrt insofern, als sie nicht den Blick aus dem Fenster zur Seite, sondern die Bewegung nach vorne zeigen. Damit war ein Gefühlserlebnis angelegt, das, wie Lauren Rabinovitz (2004) und Tom Gunning (2009) dargelegt haben, eine Betonung zweier sich eigentlich widersprechender Ebenen filmi- scher Rezeption darstellt: Einerseits wird die Illusion einer Landschaft und damit das Gefühl der Distanz betont, andererseits dem Zuschauer die sinnliche Unmittelbarkeit der Fortbewegung vermittelt. Rabino- vitz schreibt: Across the century, Hale’s Tours, Imax, and modern ridefilms articulate a see- mingly contradictory process for the spectator: they attempt to demateria- lize the subject’s body through its visual extension into the cinematic field while they emphasize the spectator’s body itself as the center of an environ- ment of action and excitement (Rabinovitz 2004, 106). In der Somatik der Kinoerfahrung sieht Rabinovitz nichts weniger als ein Gegenmittel zu den gegenwärtig dominierenden Entkörperli- chungstendenzen. Sie betont damit die Relevanz des Körpers für die Filmrezeption, die Fielding in seiner historischen Darstellung nachge- wiesen hat. Gunning hebt ebenfalls die paradoxe Vermengung von Nähe und Distanz in den Hale’s Tours und phantom rides hervor, doch hinterfragt er zugleich Fieldings Annahme, dass eine solche Technik auf einen er- höhten Realismuseffekt ziele. Während Fielding (und andere) die phan- tom rides schlicht als Simulacra von Zugfahrten begreift (und die Hale’s Fielding und die movie-ride-Ästhetik: Vom Realismus zur Kinesis 13 Tours als deren komplexere Variante), rückt Gunning von der Vorstel- lung des kontemplativen Blicks ab, um vielmehr den Schock der er- höhten Sinnlichkeit herauszustellen. Er unterstreicht die im Wortsinne ‹phantomhafte› und unheimliche Qualität der Erfahrung und den Reiz des Neuen an der Bewegung durch den Raum, auf der sie beruht. Die Attraktion der Filme bestand demzufolge in der Bewegung an sich, sie 1 Hale’s Tours, Vineland 2 Hale’s Tours, Inneneinrichtung 14 montage AV 17 /2 / 2008 stellten die Umwandlung von Materie in reine Bewegung zur Schau. Es entstand ein völlig neues Erlebnis, das auf der Verbindung eigentlich gegensätzlicher Elemente beruhte: The return of the unreality of the image [is] repressed by the apparent sensual immediacy delivered by the cinematic experience of motion. [...] In these films the spectator vanishes physically, leaving only the energy of travel, the sensation of movement through the landscape. Yet this all-seeing eye is also a physiological eye, one alert for the possibility of collision and ready to flinch at the sensation of danger, even as it is protected by its very medium from physical contact (Gunning 2009). Nach Gunning ist die Bewegung des Zuschauers eine doppelte: Sie wird einerseits durch Abbildung, andererseits durch die Bewegung des Bildes selbst erzeugt. Bemerkenswert bleibt, wie sehr die Überlegun- gen zur Signifikanz der Bewegung für die Überwältigung des Zu- schauers, die Fielding vor rund vierzig Jahren beschrieb, in diesen und anderen Überlegungen aufgenommen und fortgedacht werden. Literatur Balides, Constance (2003) Immersion in the Virtual Ornament: Contempora- ry «Movie Ride» Films. In: Rethinking Media Change. The Aesthetics of Tran- sition. Hg. v. David Thorburn & Henry Jenkins. Cambridge: MIT Press, S. 315-336. Gunning, Tom (2006) «The Whole World Within Reach»: Travel Images with- out Borders. In: Virtual Voyages: Cinema and Travel. Hg. v. Jeffrey Ruoff. Dur- ham: Duke University Press, S. 25-41. Gunning, Tom (2009) Movement Genres. In: Film 1900: Technology, Perception, Culture. Hg. v. Annemone Liegensa & Klaus Kreimeier. Eastleigh/Bloo- mington: Libbey/Indiana University Press (im Erscheinen). Musser, Charles (1990a) The Emergence of Cinema: The American Screen to 1907. New York: Charles Scribner’s Sons. 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Wells und der Filmpionier Robert Paul Disneys Idee bereits 50 Jahre zuvor vorweg- genommen Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910* Raymond Fielding Im Laufe seiner wechselvollen 75-jährigen Geschichte wurde der Film stets von technischen Experimenten begleitet, die seinen realistischen Effekt steigern sollten und teils beim Produktionsprozess, teils bei der Vorführung ansetzten. Dabei entfernte man sich immer weiter von der anfänglichen Stilisiertheit in Richtung auf ein naturalistisches Kino: von der Farbe über monofonen, dann stereofonen Ton bis hin zu 3D- Bildern und schließlich den Breitwand-Verfahren. Ein Höhepunkt des Kinorealismus schien 1955 erreicht, als Walt Disney seine spektakuläre Trip to the Moon-Show im kalifornischen Disneyland eröffnete. Diese nach wie vor erfolgreiche Attraktion be- steht aus einer riesigen Rakete für 150 Passagiere, die im Inneren mit Leuchtanzeigen und Blinklichtern, Stewardessen und sonstiger Aus- stattung all das zu bieten hat, was zu einer fliegenden Untertasse nun einmal gehört. Nach einem dramatischen Countdown beginnen die Sitze zu rütteln, die Anzeigen pulsieren, man hört die Triebwerke röh- ren, und dann wird, perfekt synchron, der Animationsfilm einer Welt- raumreise auf Leinwände projiziert, die über und unterhalb des Publi- kums angebracht sind. Das Zusammenspiel all dieser Effekte schafft die überzeugende Illusion einer Fahrt durchs All (Abb. 1). So eindrucksvoll diese imaginäre Reise auch sein mag, neu war sie nicht. Schon 1895 hatten der Schriftsteller H.G. Wells und der britische Filmpionier Robert Paul ein Patent für eine ähnliche Filminstallation * Anm. d. Ü.: Der Aufsatz erschien ursprünglich im Smithonian Journal of History 3,4, Winter 1968-69, 101-124, danach in gekürzter Fassung im Cinema Journal 10,1, 1970 sowie in der Anthologie Film Before Griffith, Hg. v. John L. Fell (Berkeley etc.: Uni- versity of California Press, 1983). Die vorliegende Übersetzung folgt dem Text der Erstveröffentlichung. 18 montage AV 17 /2 / 2008 2 Feuerwehrchef George C. Hale in Uniform. Hale war Feuerwehr- mann, Erfinder, Verwaltungs- beamter und Aussteller, und er spielte eine wichtige Rolle bei der Einfüh- rung und Popu- larisierung des frühen Films. beantragt, die, inspiriert von Wells’ Science-Fiction-Roman The Time Machine (1895) das Ziel hatte, eine Reise durch Raum und Zeit zu simulieren. Die Zuschauer sollten auf einer schwankenden Plattform sitzen, die sie zu einer Leinwand hin und wieder zurück bewegte, auf die Film- und Standbilder projiziert wurden.1 Es war ein für jene Zeit genialer und ehrgeiziger Entwurf. Doch aufgrund der ungeheuren Kosten eines solchen Unternehmens waren Wells und Paul gezwun- gen, ihre Raumschiffpläne aufzugeben, und so gelang es ihnen nicht, Disneys Attraktion schon fünfzig Jahre vor Disney zu realisieren. Stattdessen sollte auf der anderen Seite des Atlantik, in den Verei- nigten Staaten, wo der Film ebenfalls noch eine Neuheit darstellte, die erste zumindest temporär ortsfeste ultrarealistische Kinoattrakti- on entstehen. Dies in Form eines nachgebauten Eisenbahnwaggons, wobei die Aufführung akustische, taktile, visuelle und Bewegungsreize miteinander verband, um so die erstaunlich glaubhafte Illusion einer Zugfahrt zu erzeugen. Sie lief unter dem Namen Hale’s Tours and Scenes 1 Die Film- und Lichtbildprojektoren sollten auf Rollen und Schienen montiert wer- den, so dass ihr Abstand zur Leinwand und damit auch die Größe der Bilder wäh- rend der Vorführung verändert werden konnten. Um die Illusion zu vervollständi- gen, sollte ein Gebläse auf das Publikum gerichtet werden, um die Geschwindigkeit, mit der man durch Raum und Zeit raste, zu simulieren. Patentantrag Nr. 19984, ein- gereicht am 24. Oktober 1895. Vgl. auch Ramsaye 1926, 152-161. Ein Patent wurde nicht erteilt, weil Wells und Paul die Formalitäten nicht zum Abschluss brachten. Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910 19 of the World 2 und war das Produkt des fruchtbaren und erfinderischen Geistes von George C. Hale (Abb. 2). Hale war ein Mechaniker mit Gespür für das Showbusiness, der den größten Teil seiner Karriere als Feuerwehrmann gearbeitet hatte. 1882 war er bis zum Feuerwehrchef von Kansas City aufgestiegen, eine Position, die er zwanzig Jahre lang, bis zu seiner Pensionierung 1902, innehatte.3 Er erfand und patentierte mehrere Geräte zur Brandbekämpfung, darunter flexibles Zaumzeug für Feuerwehrpferde, eine Kellerröhre, einen Metalldachschneider, ei- nen Elektrokabelschneider, eine drehbare Dampfmaschine sowie ein verbessertes telefonisches Alarmsystem. Letzteres war eine eher kom- plizierte Vorrichtung – ihrer Zeit womöglich zu weit voraus –, die Te- lefon und Grammofon miteinander koppelte, wodurch «die Kenntnis von einem beginnenden Brand mittels der menschlichen Stimme so- fort dem Hauptquartier berichtet wird».4 Irgendwann vor 1904 richtete Hale seine Aufmerksamkeit auf den noch jungen Film und erfand eine neue Einsatzmöglichkeit dafür. Zu jener Zeit war das Kino noch wenig mehr als eine technische Neu- heit und dazu verdammt, als Schlussnummer in Vaudeville-Theatern zu dienen. Im Durchschnitt dauerte ein Filmprogramm etwa 15 Mi- nuten und bestand aus verschiedenen kurzen «Stücken» komischen, dramatischen oder belehrenden Charakters, dazu Sport- und Land- schaftsaufnahmen sowie Neuigkeiten aller Art. Man hatte noch kaum damit begonnen, den Film zum Erzählen von Geschichten zu verwen- den. Manche Filme wurden nicht auf die Leinwand projiziert, sondern waren in den peep shows des Kinetoskops oder des Mutoskops in Au- tomatenhallen zu sehen. 2 Die Attraktion wurde unter verschiedenen Namen präsentiert, manchmal als Hale’s Tours, dann wieder als Hale’s Tours and Scenes of the World, Hale’s Tours Cars of the World usw. 3 Hale wurde am 28.10. 1849 in Colton, St. Lawrence County, New York geboren; er war ein Nachfahre des amerikanischen Patrioten Nathan Hale. Im Alter von 14 Jahren kam er 1863, mitten im Bürgerkrieg, nach Kansas City (Missouri) und arbei- tete als Gehilfe bei der Firma Lloyd & Leland. Zwischen 1866 und 1869 war Hale verantwortlich für die Maschinen, die zum Bau einer Brücke über den Missouri benötigt wurden. 1869 folgte eine Anstellung bei der Great Western Manufacturing Co. in Leavenworth (Kansas), die er zwischen 1871 und 1873 aufgab, um als Mecha- niker auf der John Campbell Engine No. 1 zu arbeiten, der ersten Feuerspritze von Kansas City. Vgl. Men of Affairs in Greater Kansas City, 1912 (Kansas City 1912, 57); Memorial and Biographical Record of Kansas City and Jackson County, Missouri (Chicago 1896, 183-186); Encyclopedia of the History of Missouri, Vol. III. Hg. v. Howard L. Con- rad (New York 1901, 148-149); Carrie Westlake Whitney, Kansas City, Mo. Its History and Its People 1808-1908 (Chicago 1908, 108). 4 Encyclopedia of the History of Missouri, III, 149. 20 montage AV 17 /2 / 2008 3 Cinéorama, eine der spek- takulärsten ultrarealisti- schen Shows der Filmgeschichte, vorgestellt 1900 auf der Pariser Weltausstellung. Wir wissen nicht, ob Hale den Raumschiff-Entwurf von Wells und Paul kannte. Allerdings war er mit seinen Feuerwehrleuten nach London gereist, um die Vereinigten Staaten auf einem internationa- len Kongress zu vertreten, der vom 12.–17. Juni 1893 in der dortigen Agricultural Hall stattfand.5 1900 nahm die Delegation dann an ei- nem ähnlichen Kongress in Paris teil.6 Die Auftritte von Hales Feu- erwehrtruppe auf beiden Kongressen galten als spektakuläre Erfolge: Ein kompletter Zug der Kansas-City-Feuerwehr in voller Montur, mit Pferden, Maschinen und der zur Lebensrettung nötigen Ausrüstung demonstrierte verschiedene Löschtechniken. Es mag sein, dass Hale auf der zweiten Reise von dem Wells/Paul-Entwurf erfuhr, und wich- tiger noch, dass er in Paris wohl die Gelegenheit hatte, die beiden ult- rarealistischen Filmattraktionen kennen zu lernen, die auf der Weltaus- stellung 1900 zu sehen waren. Die eine hieß Cinéorama und wurde von Raoul Grimoin-Sanson vorgestellt. Sie simulierte den Blick aus dem Korb eines riesigen Bal- lons, der über europäische Landschaften schwebte. Das Publikum be- fand sich auf einer erhöhten, kreisförmigen Plattform, unter der zehn synchron laufende Filmprojektoren angebracht waren, die bewegte Bilder auf eine 360°-Leinwand warfen. Diese hatte einen Umfang von 5 Memorial and Biographical Record of Kansas City, 183-186. 6 Encyclopedia of the History of Missouri, III, 149. Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910 21 330 Fuß und war 30 Fuß hoch (Abb. 3). Die handkolorierten 70mm- Aufnahmen hatte man bei wirklichen Ballonfahrten gefilmt.7 Die an- dere Attraktion stammte von den Brüdern Lumière, trug den Namen Maréorama und simulierte den Blick von der Brücke eines Schiffs in voller Fahrt.8 Hale mag auch von den sogenannten phantom rides ge- hört haben, die seit 1898 in England populär waren. Dabei handelte es sich um konventionell vorgeführte Landschaftsaufnahmen, die von der Spitze eines fahrenden Zugs aus aufgenommen wurden.9 7 American Scientific Supplement Nr. 1287, 1. September 1900, 20631. Vgl. auch Sadoul 1947, 100-107; Macgowan 1965, 465-467; Rabaud 1955, 8-11. 8 Einer Beschreibung zufolge handelte es sich um „eine Schiffsreise durchs Mittel- meer, wobei ein ausgeklügelter Mechanismus das Schaukeln und Wiegen eines wirk- lichen Schiffs nachahmt; mit Schornsteinen, Luftschächten, Sirenen, kurzum eine Reise, auf der man das Schauspiel von Meer und Küste erlebt: hier ein Sturm mit Blitz und Donner, dort ein Sonnenaufgang, dann ein Nachteffekt [...] (Sadoul 1947, 454-456). Vgl. auch Macgowan 1965, 468. 9 Dem englischen Filmpionier Cecil Hepworth (1951, 44-45) zufolge, der selbst viele solche Aufnahmen machte, wurden die phantom rides zuerst von der American Mu- toscope and Biograph Company1901 im Londoner Palace Theatre gezeigt. In der Rubrik «Music Hall Gossip» in The Era vom 9. April 1898 findet sich allerdings ein Hinweis auf eine frühere Vorführung: «In der Reihe der Zugaufnahmen von Chard’s Vitagraph ist die verblüffendste ein phantom ride, der von der Spitze einer S.E.R. Ma- schine ‹geschossen› wurde. Die gezeigte Fahrt führt durch Tunnel und Bahnhof von Chiselhurst, wobei die Umgebung klar zu erkennen und die Aufnahme bemerkens- wert ruhig ist» (zit. nach Slide 1966, 37). Auch in den USA wurden zahlreiche Filme von fahrenden Zügen, Straßenbahnen oder U-Bahnen aus aufgenommen. Von den 141 Titeln in den Beständen der Library of Congress aus der Zeit vor 1912, die sich auf die eine oder andere Weise auf solche Fahrzeuge beziehen, wurden mehr als 50 von der vorderen oder der hinteren Plattform eines Zuges gefilmt. Die meisten ent- standen 1899–1906 und wurden auf Anfrage von Edison oder American Mutoscope and Biograph urheberrechtlich geschützt (vgl. Niver 1967, 381-382). Verfolgt man diese Art von Schaustellungen weiter zurück, so entdeckt man, dass sie sich letztlich alle von der Phantasmagorie ableiten, einer populären Unterhaltungsform, die in Eu- ropa kurz nach der Französischen Revolution aufkam. Die Phantasmagorie war eine Art psychedelische, multimediale Lichtbildvorführung, bei der fantastische Bilder in einem dunklen Saal präsentiert wurden. Sie wurden so manipuliert, dass sie sich auf das Publikum zu oder von ihm weg zu bewegen schienen; noch spektakulärer wur- de es, wenn die Betrachter den Eindruck hatten, sie selbst glitten durch den Raum. Die Sujets umfassten Geister, Gespenster, Ungeheuer, Dämonen, Skelette und andere Furcht einflößende Erscheinungen, oft begleitet von Blitz und Donner. Für die Vor- führung bediente man sich einer Laterna magica auf einem Gestell mit Rädern, um sie vor und zurück zu schieben, wodurch die Größe der Bilder variierte. Teils pro- jizierte man auf eine flache Leinwand, teils auf weißen Rauch, was einen besonders unheimlichen Effekt erzeugte. Bisweilen wurden mehrere Projektoren eingesetzt, um verschiedene Bilder gleichzeitig zu zeigen, sie zu kombinieren oder ineinander übergehen zu lassen (vgl. Cook 1963, 19-21 sowie Quigley, Jr. 1948, 75-79). 22 montage AV 17 /2 / 2008 4 Keefes Patent (1904) eines Unterhaltungs- pavillons, in dem ein Eisenbahn- waggon die Zu- schauer um eine runde Leinwand kreisen lassen sollte, auf die aus der Mitte des Ge- bäudes Filme mit Reisebildern pro- jiziert wurden. Gestützt auf diese Informationen können wir nun versuchen, die Ereig- nisse zu rekonstruieren, die Hale dazu bewegten, ins Filmgeschäft ein- zusteigen. Zwischen 1902 und 1904 hatte ein Erfinder namens William J. Keefe aus St Louis, Missouri zu Unterhaltungszwecken einen runden Pavillon entworfen, an dessen innerer Peripherie ein halboffener Eisen- bahnwagen auf Schienen kreisen sollte, als ob er durch einen Tunnel führe. Dessen eine Seite bildete die Außenwand des Pavillons, die nach innen gerichtete Seite wurde von einer ringsum gespannten Leinwand begrenzt (ob reflektierend oder transparent, bleibt unklar), auf der Fil- Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910 23 5 Das fahrende Eisenbahnthe- ater, das Keefe sich vorstellte, war mit einem Vorführgerät be- stückt, das Filme der Landschaft, die der Zug durchquerte, auf die Vorderwand des Waggons projizierte. me und Standbilder zu sehen waren (Abb. 4). Die Projektoren sollten entweder im Zentrum des Pavillons oder auf dem Zug selbst installiert sein. Ziel dieser Darbietung war es, den Betrachtern eine einigermaßen naturgetreue Darstellung dessen zu bieten, was sie bei einer Fahrt durch die pittoresken Landschaften der Welt zu sehen bekämen; entsprechend sollten die dabei eingesetzten Aufnahmen auch aus fahrenden Zügen gefilmt werden. Die Illusion einer Zugfahrt wollte man noch steigern durch unregelmäßig gelegte Schienen, die den Waggon vibrieren und hin und her schwanken ließen, um eine hohe Geschwindigkeit zu sug- gerieren; außerdem sollte eine Windmaschine im Tunnel für eine fri- sche Brise sorgen. Möglicherweise war auch geplant, entsprechende Geräuscheffekte zu erzeugen, das Stampfen und Zischen der Dampf- maschine, das Rattern und Ächzen des Waggons und ähnliches. Keefe beantragte am 22. März 1904 ein Patent für seinen Entwurf, das am 9. August desselben Jahres bewilligt wurde. 10 Ob das System praktikabel war und der Beschreibung entsprechend funktioniert hät- te, bleibt allerdings fraglich. Dem Antragstext zufolge sollten bewegte und Standbilder über die gesamte Leinwand verteilt oder ineinander übergehend gezeigt werden, was selbst heute nur schwerlich erreich- bar scheint. Zudem sollten dem Patentantrag zufolge auch Filmauf- nahmen mittels eines auf dem Zug installierten Projektors auf die äu- ßere Tunnelwand projiziert werden. Wie man dies erreichen wollte, ist 10 United States Patent Nr. 767.281. 24 montage AV 17 /2 / 2008 6 Vergnügungs- Pike, 1904 auf der Weltausstellung in St. Louis, wo die Hale’s Tours der amerikani- schen Öffentlich- keit vorgestellt wurden. Das Ge- bäude ganz links im Bild könnte der Standort gewesen sein, denn auf seiner Vorderseite steht: «Eine Fahrt zu [?] mit der Großen Sibirischen Eisenbahn». ungewiss, zumal laut der dem Antrag beigefügten Zeichnung (Abb. 5) der Projektor eher nach vorn gerichtet blieb. Wichtiger ist jedoch, dass die Idee, den Wagen tatsächlich in Bewegung zu versetzen, unnötig kompliziert und kostspielig erscheint, wenn dieselbe Wirkung auch mit einem unbewegten Waggon hätte erreicht werden können. Den- noch beschreibt der Patentantrag prinzipiell ein System, das zwar ver- besserungsfähig, aber immerhin zur Auswertung geeignet war. Interes- santerweise beschränkte sich der Antragstext nicht auf die Simulation einer Eisenbahnfahrt, sondern erweiterte die Anwendungsmöglichkei- ten auf eine Bootsfahrt, ähnlich dem Maréorama der Lumières. Noch bevor er seinen Patentantrag im März 1904 einreichte, legte Keefe seinen Entwurf dem Richter Fred W. Gifford vor, einem Ma- gistrat von Kansas City und engen Freund von George Hale, weil er für die Weiterentwicklung seiner Erfindung Gelder einwerben wollte. Gifford und Hale beschlossen, die nötigen finanziellen Mittel für die Auswertung zur Verfügung zu stellen. Als das Patent im August 1904 bewilligt wurde, gehörten die Rechte zu zwei Dritteln ihnen, während Keefe sich mit einem Drittel begnügen musste.11 Schließlich erwarben 11 Diese Rekonstruktion des Sachverhalts stützt sich auf Angaben von Mildred J. Gif- ford aus Kansas City, Schwiegertochter des verstorbenen Richters Gifford, in einem Brief an den Autor vom 12. April 1967. Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910 25 7 Hales Feuer- wehrbrigade in Aktion bei der Weltausstellung 1904 in St. Louis. Die Besucher konnten täglich zu festgesetz- ten Zeiten mit ansehen, wie ein größeres Feuer erst entfacht und dann von der weltberühm- ten Feuerwehr wieder gelöscht wurde. Gifford und Hale die gesamten Rechte an der Erfindung und began- nen damit, sie kommerziell auszuwerten. Giffords Sohn Ward schloss sich ihnen an und trug sowohl zur technischen Perfektionierung des Systems wie zu seiner Vermarktung bei. Die kommerzielle Premiere fand 1904 statt, während der Weltaus- stellung in St. Louis, die an den Ankauf von Louisiana durch die Verei- nigten Staaten erinnerte und am 20. April eröffnet wurde. Von Anfang an war die Ausstellung ein großer Erfolg. Gleich hinter dem Eingangs- tor konnten die Besucher Neuheiten wie Eistüten, Eistee und Hot Dogs probieren.12 Eine der Hauptattraktionen bildete Lee de Forests drahtloses Radio, das mit dem Großen Preis sowie einer Goldmedaille prämiert wurde.13 Andernorts auf dem Veranstaltungsgelände präsen- tierte der deutsche Filmpionier Oskar Messter seine Tonbilder.14 Hale und Gifford eröffneten ihre Filmattraktion nicht ganz so ein- drucksvoll auf dem Pike, einem der Unterhaltung gewidmeten Gelän- de, wie es seit der Pariser Weltausstellung von 1867 auf allen Veran- staltungen dieser Art zu finden war (Abb. 6).15 Hale präsentierte dort auch eine Feuerwehrschau, wobei zu bestimmten Zeiten ein relativ großes Feuer angezündet wurde, um dann von seinen Leuten gelöscht 12 Vgl. Gordon 1965. 13 Vgl. De Forest 1950. 14 Vgl. Narath 1960, 732. 15 Vgl. Gies 1961, 22. 26 montage AV 17 /2 / 2008 8 Hales Patent von 1905 hatte Keefes ursprüng- liche Idee bedeu- tend verbessert. Der Waggon, in dem die Zu- schauer Platz nahmen, bewegte sich nicht. Statt- dessen wurden Filme auf eine Leinwand vor dem Publikum projiziert und eine Maschi- ne unter dem Boden erzeugte Geräusche und Schwankungen, wie sie bei Zugfahrten auftreten. zu werden (Abb. 7). Gleichzeitig war er auch verantwortlich für alle Gerätschaften, Einsatzpläne und die Organisation von Brandschutz- maßnahmen auf dem gesamten Ausstellungsgelände. Offenbar dokumentieren die erhaltenen Broschüren und Berich- te weder durch Fotos noch durch andere eindeutige Belege, dass die Hale’s Tours tatsächlich Teil der Weltausstellung gewesen waren. Gäbe es nicht den Hinweis von Terry Ramsaye in seiner Filmgeschichte aus dem Jahre 1926, man würde nicht vermuten, dass die Attraktion dort tatsächlich gezeigt wurde.16 Doch unabhängig von Ramsayes Schilde- rung ist es uns gelungen, zwei Zeitzeugen zu finden, die sich erinnern, die Hale’s Tours als Kinder auf der Weltausstellung gesehen zu haben: der inzwischen verstorbene Filmproduzent und Filmhistoriker Professor Kenneth Macgowan aus Los Angeles und Reid Ray, Filmproduzent aus Minneapolis. Beide konnten indes weder genau angeben, wo die Hale’s Tours damals standen noch wie sie ausgesehen und funktioniert hatten. Im folgenden Frühjahr, am 14. März 1905, beantrage Hale erneut ein Patent für eine, wie er es nannte, «Pleasure Railway», das am 19. Sep- tember desselben Jahres bewilligt wurde.17 Der neue Entwurf bestand 16 Vgl. Ramsaye 1926, 428-429. 17 United States Patent Nr. 800.100. Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910 27 9 Zu einem bestimmten Zeitpunkt waren in den USA mehr als 500 Hale’s Tours zugleich in Betrieb. Des- sen ungeachtet scheint dies die einzige erhaltene Fotografie einer Hale’s Tours zu sein. Hier wurden Reisen durch die Rocky Mountains, den Westen Kanadas und Schottland dargeboten. aus zwei Waggons auf einem kurzen und geraden Stück Gleis (Abb. 8). Die Kunden bestiegen den ersten Waggon, der kurz durch einen Tunnel fuhr und dann am anderen Wagen ankoppelte. Dieser stand still und war an beiden Seiten sowie nach vorne hin offen. Dort sahen die Zuschauer die Vorführung, welche die Illusion einer Reise vermittelte. Bei der späteren kommerziellen Auswertung scheinen die Hale’s Tours jedoch nur einen einzigen, stehenden Waggon eingesetzt zu haben; man verzichtete auf den zweiten, der lediglich die Aufgabe gehabt hätte, die Zuschauer vom Eingang zur eigentlichen Vorführung zu befördern. Wie aus den Patentzeichnungen ersichtlich, verfügte der Wagen über ansteigende Sitzreihen, um allseits gute Sicht zu gewährleisten. Durch die offene Vorderwand betrachtete das Publikum Filme, die man von der Spitze eines fahrenden Zugs aus aufgenommen hatte. Sie wurden auf eine leicht geneigte Leinwand projiziert, und zwar mittels eines Vorführapparats, der sich oberhalb und etwas hinter dem Wagen auf einer Plattform befand. Die Größe der Leinwand sowie 28 montage AV 17 /2 / 2008 der Abstand zwischen ihr und dem Projektor waren so berechnet, dass das Dargestellte lebensgroß erschien und das Blickfeld des Publikums ausfüllte. Alternativ sah das Patent auch vor, dass der Projektor hin- ter der Leinwand aufgestellt wurde. (Tatsächlich arbeitete man bei vielen, wenn nicht sogar den meisten kommerziellen Hale’s Tours mit Rückprojektion.) Auf Rollen und Walzen unter dem Wagen lief ein Endlosband, aus dem Stifte ragten. Diese schlugen gegen ein Metallteil an der Unter- seite des Waggons und erzeugten so das typische Rattern einer wirkli- chen Eisenbahn. Die Geschwindigkeit des Bandes konnte nach Belie- ben reguliert werden und so dem Anfahren, Anhalten, Beschleunigen oder Abbremsen des Zuges entsprechen, von dem aus der Film auf- genommen worden war. Außerdem sorgte ein Gebläse für Fahrtwind, und der Wagen konnte auf seiner Längsachse geneigt werden, um ihn während der Vorführung in Schwankung zu versetzen. (Bei späteren Verfeinerungen des Entwurfs wurden viele der zunächst per Hand be- dienten Vorrichtungen elektrifiziert.)18 Hale und Gifford werteten die Erfindung kommerziell aus und strichen dabei erhebliche finanzielle Gewinne ein. Bedeutsamer für die Filmgeschichte ist, dass ihre «Pleasure Railway» in der Karriere verschiedener, bis dahin wenig profilierter Leute eine wichtige Rolle spielte. Diese Neueinsteiger blieben der Branche verbunden und nah- men später führende Positionen in der amerikanischen Filmindustrie ein. Zu ihnen gehörten Sam Warner, Mitbegründer und Eigentümer der Warner Brothers Studios; J.D. Williams, Gründer und Präsident der First National Studios; Adolph Zukor, einer der Gründer der Famous- Players-Lasky Productions und Präsident der Paramount Pictures; so- wie Carl Laemmle, Gründer und Leiter der Universal Pictures Corpo- ration. Laemmle sah bei den Hale’s Tours die ersten Filme seines Lebens – eine Begegnung mit dem Filmgeschäft, die ihn davon überzeugte, dass er hier sein bescheidenes Kapital und seine enorme Energie inves- tieren müsse.19 Auch J.D. Williams, 1905 noch als reisender Schausteller unterwegs, eröffnete mit den Hale’s Tours sein erstes Filmunternehmen (in Vancouver).20 Sam Warners erster Job im Filmgeschäft war der eines Vorführers für die Hale’s Tours, zuerst im White City Park in Chicago, 18 B.S. Brown, Hale’s Tours and Scenes of the World. In: The Moving Picture World, 15. Juli 1916, 372. 19 Vgl. Ramsaye 1926, 449-450; 679-680; 789-790; 793; 826. 20 E.C. Thomas, Vancouver, B.C. Started with ‹Hale’s Tours›. In: The Moving Picture World, 15. Juli 1916, 373. Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910 29 dann im Idora Amusement Park in Youngstown, Ohio.21 Für Adolph Zukor dienten die Hale’s Tours als Übergang von seinen Penny-Arcades in New York zu ehrgeizigeren Projekten.22 Andere Pioniere, die durch die Hale’s Tours mit dem Film in Berührung kamen, waren die Schau- spielerin Mary Pickford, der Schauspieler Ronald Colman sowie der britische Naturfilm-Produzent Percy Smith.23 Der kommerzielle Betrieb Der erste kommerzielle Einsatz der Hale’s Tours nach der Weltausstel- lung in St. Louis fand 1905 im Electric Park in Kansas City, Missouri statt. Die Moving Picture World schreibt 1916: Es handelte sich um ein «Haus» mit zwei Waggons und einer mit Stuck ver- zierten Fassade, das $ 7.000 gekostet hatte, einschließlich der Vorführappara- tur. Der Eintrittspreis betrug 10 Cents, und die beiden Wagen mit ihren 60 Sitzplätzen waren 20 bis 75 Mal pro Tag mehr oder weniger ausgelastet.24 Doch erst als die Presse über die Debüts der Hale’s Tours am Union Square in New York und auf der State Street in Chicago berichtete, wurde man auch auf nationaler Ebene darauf aufmerksam. Die Veran- staltung in New York wurde von Adolph Zukor zusammen mit dem Showman William Brady eröffnet. Letzterer hatte die Rechte an den Hale’s Tours für zehn Staaten an der Ostküste erworben. Später betrie- ben Zukor und Brady andere Hale’s Tours Einrichtungen in Pittsburgh, Newark, Coney Island und Boston. In einem Brief an den Autor aus dem Jahr 1957 berichtet Zukor, dass die Veranstaltungen 20 bis 25 Mi- nuten dauerten, wobei die eigentlichen Filmvorstellungen 15 Minu- ten in Anspruch nahmen. Sein Waggon fasste bis zu 60 Besucher, die jeweils 10 Cents Eintritt bezahlten.25 An vielen Orten sah die Fassade des Theaters aus wie die eines Eisenbahndepots. Die Eintrittskarten kontrollierte ein uniformierter Aufseher, der auch den Schaffner spiel- te und nach Beginn der Fahrt die Schalter betätigte. Bei Zukors Vor- führungen trat überdies ein Erklärer auf, der auf die gezeigten Sehens- würdigkeiten hinwies und sie kommentierte. Abgesehen vom Fehlen 21 Vgl. Warner 1964, 49. 22 Vgl. Zukor 1953, 46-48 sowie Irwin 1928, 98-106. 23 Vgl. Wood 1937, 66; Oakley 1964, 54; Wagenknecht 1962, 144. 24 Brown, op. cit.; Croy 1918, 78. 25 Notiz von Adolph Zukor für Raymond Fielding, 30. Dezember 1957; vgl. auch Zu- kor 1927, 55. 30 montage AV 17 /2 / 2008 der Farben war die Illusion durchaus überzeugend, und zwar umso mehr, als die gefilmten Gleise vorne unter dem Wagen zu verschwin- den schienen. Laut einem Artikel in der Fachpresse war das Fahrerleb- nis so täuschend echt, dass die Besucher oft den Fußgängern im Bild zuriefen, sie sollten aus dem Weg gehen, damit sie nicht überfahren würden. Ein etwas verwirrter Kunde kam sogar Tag für Tag zurück, weil er dachte, dass der Fahrer früher oder später einen Fehler machen müsse, so dass er einen Zusammenstoß zu sehen bekäme.26 Apparatur In den diversen Einrichtungen kam eine Vielzahl von 35mm-Projek- toren zum Einsatz. Zukor verwendete, ebenso wie Sam Warner, Edi- sons Projektionskinetoskop. 1907 brachte William Selig ein Sonder- modell seines 35mm-Polyscope-Projektors auf den Markt, das speziell für die Hale’s Tours konstruiert worden war (Abb. 10). Es war mit ei- nem Weitwinkel-Objektiv ausgestattet und insbesondere für den bei den Hale’s Tours vorherrschenden Rückprojektions-Modus geeignet. Die Leinwand war transparent, die Filmaufnahme der Eisenbahnfahrt wurde von hinten projiziert, statt wie üblich von vorn. So war es mög- lich, den Apparat vor dem Publikum zu verbergen und gleichzeitig das Vorführgeräusch zu dämmen. Durch das Weitwinkel-Objektiv konn- te man den Projektor relativ nahe zur Leinwand aufstellen, so dass die Hale’s Tours auch unter eingeschränkten räumlichen Bedingungen stattfinden konnten. Laut Seligs Katalog von 1907 warf der Projektor aus 20 Fuß Abstand ein Bild von 9 x 12 Fuß auf die Leinwand und in einem kleineren Raum aus 15½ Fuß Abstand ein Bild von 7 Fuß, 5 Zoll x 9 Fuß, 10 Zoll.27 Bei Berechnungen auf Grundlage der Tabellen im Katalog kommt man zum Ergebnis, dass das Objektiv eine Brenn- weite von 1½ Zoll hatte. Für professionelle Vorführapparate gab es zu jener Zeit zwei Mög- lichkeiten zur Lichterzeugung: Kalklicht (das sogenannte lime light), das für kleine Theater und kurze Abstände zwischen Projektor und Lein- wand genügte, sowie elektrische Bogenlampen für große Säle mit ent- sprechender Projektionsdistanz. Bei ausreichenden finanziellen Mitteln und wo technisch möglich, wurde jedoch elektrisches Licht bevorzugt. Die Bogenlampe erzeugte Licht, indem man eine bogenförmige Ent- 26 Vgl. Thomas, op. cit. 27 1907 Catalogue of the Selig Polyscope and Library of the Selig Film. Chicago 1907, 19-21; 36 (aus den Beständen der Charles Clark Collection). Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910 31 10 Typischer Filmprojektor, wie er bei den Hale’s Tours ver- wendet wurde; der hier abge- bildete wurde von der Selig Polyscope Com- pany hergestellt und kostete 1907 $200. ladung zwischen zwei Kohlestiften herbeiführte, wobei mit entspre- chender Stromstärke über die beiden Elektroden Spannung entstand. Stand keine Elektrizität zur Verfügung, konnte man auch mithilfe von Kalklicht in einem sogenannten Kalkbrenner projizieren. Dabei ver- brannte Sauerstoff und Wasserstoff auf einem harten Kalkstäbchen, wo- durch man ein einigermaßen intensives Licht erhielt. Sauerstoff und Wasserstoff kamen für gewöhnlich aus Gasflaschen, konnten aber vom Vorführer auch mittels entsprechender Geräte während der Projekti- on erzeugt werden. Dazu verwendete man Schwefeläther zur Wasser- stoffgewinnung und Oxone oder Natriumperoxid für den Sauerstoff. Wie der Leser hieraus ersehen kann, musste ein Vorführer zu jener Zeit über allerlei Wissen und Fertigkeiten verfügen, von denen praktische Chemiekenntnisse nicht die geringsten waren. 32 montage AV 17 /2 / 2008 Seligs speziell für die Hale’s Tours gefertigten Polyscope-Projektoren funktionierten sowohl mit Kalklicht als auch mit elektrischen Bogen- lampen und kosteten 1907 rund 150 Dollar. Selig hatte auch nahtlo- se Leinwände für die Rückprojektion im Angebot, zum Preis von 25 Dollar in den Maßen 9½ x 12 Fuß, oder für 25 Cents pro Quadratfuß bei größeren Abmessungen. Erfolgreiche Vorführungen Nach ihrem Debüt an der Ostküste zeigte man Hale’s Tours schon bald anderswo im Land sowie in Kanada, in verschiedenen kalifornischen Städten sowie in Denver, Portland, Spokane, Winnipeg, Toronto und in einer Vielzahl anderer Orte. Einem Fachblatt zufolge gab es zu einem bestimmten Zeitpunkt 500 solcher Einrichtungen allein in den Verei- nigten Staaten.28 In den USA gastierten die Hale’s Tours zwischen 1905 und 1907 vor allem in den Sommer-Vergnügungsparks. Typische Bei- spiele hierfür sind die White City Amusement Parks in Syracuse, New York und in Chicago, das Atlantic Coast Resort in Atlantic City, New Jersey, der Athletic Park in Montgomery, Alabama, der Ponce de Leon Park in Atlanta, die Luna Parks in Cleveland und Pittsburgh sowie der Riverview Park in Chicago (Abb. 11).29 Vergnügungsparks waren für die Hale’s Tours besonders geeignet, weil sie oft von Straßenbahn- oder Eisenbahngesellschaften betrieben wurden. Viele Jahre lang gab es dort sogenannte Scenic Railroads, bei denen die Besucher auf Schmal- spurzügen durch Gelände, Tunnels und Gartenlandschaften fuhren, die einer Vielzahl exotischer Orte nachgebildet waren. Auch andere At- traktionen, so die Train Wreckers and Robbers-Schauen, die 1906 Teil des Unterhaltungsangebots vieler Parks waren, griffen das Eisenbahn- Thema auf.30 Man darf nicht vergessen, dass im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Züge das einzige weitgehend entwickelte mechani- sche Transportmittel für Menschen und Fracht bildeten, während Auto und Flugzeug noch in den Kinderschuhen steckten. Zudem war für die unteren Schichten eine Zugfahrt in einem Pullman-Wagen uner- schwinglich und deshalb von nachgerade exotischem Reiz. Ward C. Gifford brachte die Hale’s Tours 1906 nach Mexiko, Südafri- ka, Südamerika, auf den europäischen Kontinent, die britischen Inseln 28 Vgl. Brown, op. cit. 29 Vgl. Variety vom 14. Juli 1906, 12; 23. Juni 1906, 12-13; 21. April 1906, 11; 28. April 1906, 12; 17. Februar 1906, 11. 30 Variety, 10. März 1906, 11. Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910 33 11 Typische und selbst nach Hongkong.31 In Großbritannien erwarb Henry Iles Hale’s-Tours- eine Franchise und debütierte damit in London, 165 Oxford Street. Zelteinrichtung in Danach wurden die Hale’s Tours in Hammersmith gezeigt sowie in ver- Heim’s Summer Amusement Park schiedenen anderen Regionen. In England, wie schon in Amerika, wa- in Kansas City, ren sie die erste weit verbreitete, spezialisierte und für längere Dauer an 1907. Einige der einem Ort gezeigte Form der Filmvorstellung und spielten eine wich- dort gezeigten tige Rolle dabei, das Publikum mit dem Medium vertraut zu machen. Filme hatte der Kameramann Interessanterweise sorgte die Einrichtung in London für einen Präze- Norman Dawn denzfall, da sie Klassenunterschiede gewissermaßen abschaffte und alle aufgenom- Kunden zum Einheitspreis von Sixpence Einlass gewährte. Die kon- men, der diese kurrierenden Penny Arcades machten sich darüber lustig und prophe- Zeichnung aus dem Gedächtnis zeiten, «dass die erste Klasse sich nicht mit der dritten würde mischen anfertigte. wollen». Sie täuschten sich: Herren im Zylinder saßen Seite an Seite mit Arbeitern, und die Vorführungen verzeichneten bis zu 1.000 Besu- cher pro Tag – zumindest für eine gewisse Zeit. Doch wie in Amerika verflog der Reiz der Neuheit auch hier, und die Hale’s Tours wurden vom englischen Äquivalent des Nickelodeon verdrängt, den kleinen gepflegten Filmtheatern mit regelmäßigem Programmwechsel.32 Normalerweise lief jedes Hale’s Tours-Programm für eine Woche und wurde dann durch ein neues ersetzt, das Eisenbahnfahrten durch 31 Vgl. Brown, op. cit. 32 Ibid., 372-373; Oakley 1964, 18; Low 1949, 13. Low gibt an, dass in London eine von einem Mr. Starr patentierte, Maréorama-artige Schau namens Scenic Attractions auf die Hale’s Tours folgte. Vgl. auch Wood 1937, 64-66 und Wood 1947, 125-126. In dem früheren Werk erwähnt Wood, dass während der Vorstellungen in London auch farbi- ges Licht zum Einsatz kam. Vgl. außerdem Allister 1948, 97; Croy 1918, 78 sowie die Auszüge aus den Aufzeichnungen von Albany Ward, zit. n. Low/Manvell 1948, 115. 34 montage AV 17 /2 / 2008 ganz andere Landschaften zeigte. Den Betreibern verkauften Hale und Gifford die Filme für 15 bis 22 Cents pro Fuß, um sie, nachdem sie gelaufen waren, gegen einen niedrigeren Preis zurückzukaufen.33 Diese Praxis pflegten sie bereits vor Entwicklung des Distributions- systems der exchanges in den USA – einem System, das als Vermittler zwischen Produzenten und Kinobesitzern fungierte, wobei der Ver- leih oder das Leasen der Filme an die Stelle des Kopienverkaufs trat. Ohne dieses Vertriebssystem hätte die Filmindustrie, wie wir sie heute kennen, nicht entstehen können. Ein Fachblatt schrieb 1916, die zahl- reichen, weit verbreiteten Hale’s Tours-Einrichtungen allein hätten für eine derartige Nachfrage an Filmen gesorgt, dass die Entwicklung des exchange-Systems in den USA unumgänglich war.34 Zu Beginn erwarb Hale einige Filme von der amerikanischen Edi- son Company und der französischen Firma Pathé; später nahm er selbst Kameraleute unter Vertrag, zum Beispiel die Amerikaner Nor- man Dawn35 und T.K. Peters.36 Dawn filmte für Hale in Mexiko und in der Schweiz, Peters im Orient. Beide postierten sich mit der Ka- mera auf fahrenden Zügen, um den gewünschten Effekt zu erzielen, manchmal an der Zugspitze oder einem flachen Wagen vor der Loko- motive, manchmal auf der hintersten Plattform. Peters erinnert sich, dass man ihm 50 Cents für jeden Fuß belichteten Film zahlte. Später boten einige der frühen Studios und Vertriebszentralen ebenfalls Filme an, die sich für den Einsatz bei den Hale’s Tours eigneten. Sowohl Wil- liam Swanson als auch die George Kleine Company in Chicago ver- trieben solche Aufnahmen. Eine Angebotsliste Kleines vom 20. April 1907 enthielt 14 Titel für Hale’s Tours, die alle an ausländischen Orten entstanden waren, darunter Tokio, Kanton, die Schweiz, Ceylon, Ha- noi, Lourdes, Montserrat, der Vesuv, Agra und Frankfurt.37 Ihre Länge variierte zwischen 65 und 508 Fuß, der Durchschnitt lag bei 161 Fuß. Nimmt man an, dass der 35mm-Film in den Hale’s Tours mit 16 Bildern pro Sekunde oder 60 Fuß pro Minute vorgeführt wurde, dann betrug die durchschnittliche Laufzeit nur 2,7 Minuten. Möglicherweise wurden also bei den Vorführungen mehrere Aufnahmen aneinander gehängt. Für die Selig Polyscope Company waren die Hale’s Tours offenbar derart wichtige Kunden, dass man ihnen im August 1906 ein eigenes 33 Vgl. Brown, op. cit., 373. 34 Ibid. 35 Der Autor interviewte Norman Dawn im Zeitraum 1963/64; vgl. auch Fielding 1963. 36 Briefe von T.K. Peters an den Autor vom 3. April sowie 2. und 11. August 1967. 37 The Moving Picture World, 20. April 1907, 110. Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910 35 12 Die Nachfra- ge nach Filmen für die amerika- nischen Hale’s Tours war enorm und spielte eine wichtige Rolle bei der Aus- bildung und Verbreitung eines landesweiten Vertriebssystems. 1905 brachte die Selig Polyscope, eine der größten Vertriebsfirmen, diesen Spezial- katalog heraus, der nur Hale’s- Tours-Filme enthielt. Katalogsupplement widmete (Abb. 12).38 Es führt 25 verschiedene Fil- me auf, mit einer Länge zwischen 445 und 635 Fuß und einer Laufzeit von etwa zehn Minuten. Die meisten Zug- und Straßenbahnfahrten in diesem Katalog betreffen Orte in Amerika, unter anderem den Red 38 Katalog aus dem Jahr 1906 der Selig Polyscope Co., 43-45 Peck Court, Chicago, Il- linois. Bei dem Supplement Nr. 44, August 1906, handelt es sich um eine vierseitige Broschüre mit dem Titel Hale’s Tours Films; aus den Beständen der Charles Clarke Collection. 36 montage AV 17 /2 / 2008 Rock Canyon, Royal Gorge, Pike’s Peak, Ute Pass, Denver, den Co- lumbia River, Chicago, die Niagara-Fälle, Chattanooga und Lookout Mountain, Jacksonville, Tampa, Cincinnati, Palm Beach, Utah, Tacoma, Seattle, die Black Hills und das White River Valley; hinzu kamen aus- ländische Strecken in Argentinien, der Schweiz, Borneo, Ceylon, Ir- land und England. Für jeden Titel gab es eine Beschreibung, so etwa: 1825 – Ute Pass von einem Güterzug aus gesehen Dieses Sujet weicht vom Gewohnten ab. Der erste Teil zeigt die Lokomo- tive von hinten und vermittelt einen wunderbaren Eindruck von dem ge- schäftigen Treiben des Heizers und des Lokomotivführers. Das Stampfen und Schaukeln von Lokomotive und Tender sind äußerst realistisch. Die Szene beginnt in Divide, Colorado und führt den Pass hinunter, bis der schneebedeckte Pike’s Peak direkt vor uns liegt. Dann wird die Kamera im hintersten Wagen postiert, und man sieht den Güterzug, der sich durch Tunnel und entlang steiler Abhänge über die kurvenreiche Strecke windet. Der Hintergrund ist von erhabener Schönheit. Die gesamte Aufnahme ist so hypnotisierend, dass der Betrachter sich unwillkürlich in den Kurven aufrichtet, um gegen die Neigung anzusteuern. Es ist unmöglich, sich nicht vorzustellen, dass man sich tatsächlich im Zug befindet. Die Szene endet in Manitou. Länge 600 Fuß, Preis: $ 72.39 Man beachte, dass offenbar gegen die Konvention verstoßen wird, sich bei einer kontinuierlichen Zugfahrt mit einem einzigen Kamerastand- punkt zu begnügen, denn der Apparat steht im zweiten Teil auf dem Begleitwagen. In anderen Selig-Filmen kommen sogar abrupte Orts- wechsel während ein und derselben Fahrt vor, wobei man von einem Streckenabschnitt zu einer völlig anderen Gegend springt. Zudem gibt es Beispiele, bei denen die Kamera den Zug zeitweilig verlässt, um konventionelle Stadtansichten aufzunehmen; und gelegentlich wird die Kamerafahrt unterbrochen, um eine einfache Geschichte zu er- zählen. Das geschieht beispielsweise in dem Selig-Film Trip to the Black Hills (1907): Eine wunderschöne Reise, die jeder Veranstalter im Programm haben soll- te. Sie beginnt mit der Abfahrt des Zuges aus dem Bahnhof, es folgt ein 39 Ibid. Das Exemplar in der Clarke Collection enthält zahlreiche handschriftliche Kor- rekturen, die offenbar hinzugefügt wurden, als der Katalog noch in Gebrauch war. Sie betreffen die Filminhalte, Titel sowie Längen- und Preisangaben. Das Zitat gibt den ursprünglichen, gedruckten Text wieder. Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910 37 Panorama mit einem Doppelgespann in Front. Dann eine Panorama-Fahrt auf den Berg, unterbrochen von einer komischen Szene, welche zeigt, wie schwierig es ist, sich in einer Pullman-Koje anzuziehen [Herv. R.F.]; die Reise endet mit der Ankunft in einem Bahnhof.40 Gewinne und Verluste Für Hale und Gifford war der Verkauf von regionalen Auswertungs- rechten überaus profitabel. Angeblich erhielten sie für die britischen Rechte allein 100.000 Dollar, während Hales Gesamtgewinn mit den Tours auf 500.000 Dollar geschätzt wird – eine für jene Zeit unge- heure Summe.41 Hingegen erwies sich das Unternehmen für diejeni- gen, die Apparatur und Territorialrechte erwarben, oft als weniger er- folgreich. In Zukors Fall zum Beispiel lief die Einrichtung am Union Square nur drei oder vier Monate, bevor man schließen musste. Zu- nächst hatte es lange Schlangen und hohe Besucherzahlen gegeben, doch nach wenigen Wochen nahm das Interesse ab, um schließlich fast ganz zu versiegen. Die Verbindlichkeiten beliefen sich auf geschätzte 180.000 Dollar.42 Zukor kam auf den Gedanken, die Vorführung von Zugfilmen nach etwa der Hälfte des Programms zu unterbrechen und das von Edwin S. Porter 1903 für Edison gedrehte und überaus po- puläre Eisenbahn-Melodrama The Great Train Robbery zu zeigen. Im Nu stiegen die Besucherzahlen wieder an, weil das Publikum nun wegen des spannenden Zwischenspiels erschien. Schließlich entledig- te Zukor sich der teuren Hale’s Tours-Apparatur und verwandelte die Räumlichkeiten in ein konventionelles Nickelodeon mit regelmäßi- gem Programmwechsel, das «Comedy Theater». Das neue Unterneh- men war ein großer Erfolg und bereitete den Weg für Zukors spätere Karriere als Kinounternehmer und Filmproduzent.43 Wie Zukor erfahren musste, gingen die Einnahmen aus Hale’s Tours zu einem bestimmten Moment zurück. Dies lag zum einen daran, dass es schwer war, an neue Filme zu kommen, trotz der Anstrengungen Hales, Kameraleute wie Norman Dawn und T.K. Peters zu verpflich- ten, um sich exklusives Material zu sichern. Jeweils war nur eine be- schränkte Anzahl von Titeln verfügbar, so dass die Programme nicht 40 Ibid. 41 Vgl. Ramsaye 1926, 429 sowie Brown, op. cit. 42 Vgl. Irwin 1928, 104. 43 Korrespondenz Zukors mit dem Autor (wie Anm. 24); vgl. auch Zukor 1953, 46-48. 38 montage AV 17 /2 / 2008 abwechslungsreich genug waren. Zum anderen verhielt es sich hier wie mit allen technischen Neuheiten: Sobald der Reiz des Unbekann- ten verflogen ist, sehen sich die Kunden nach anderen Unterhaltungs- möglichkeiten um. Ein Bericht in Variety aus dem Jahr 1906 beschreibt den Niedergang der Hale’s Tours wie folgt: Mit dem Ende des Sommers kündigt sich auch das allmähliche Verschwin- den der sogenannten Hale’s Tours an. Wenig Erfolg war der in einem Ei- senbahnwagen eingeschlossenen Vorführmaschine beschert. Wegen des Schaukelns mieden Frauen die Einrichtung nach dem ersten Besuch; die Schwierigkeiten, genügend Landschaftsbilder aufzutreiben, waren ein wei- terer Grund. Auch die Enge des Raums trug zum Niedergang bei. Manche Wagen verdienten zu Beginn gutes Geld, machten aber später vorwiegend Verluste.44 Niemand weiß, wann die letzten Hale’s Tours vom internationalen Markt verschwanden, doch geschah dies vermutlich um 1912.45 Hale selbst betätigte sich nicht mehr in der Filmindustrie, sondern erfreute sich eines gesicherten Daseins als Rentner in Kansas City, wo er am 14. Juli 1923 im Alter von 73 Jahren starb.46 Man mag Hales unbeholfene Versuche, die Wirklichkeit zu simulie- ren, aus heutiger Sicht belächeln, doch ist der Einfluss seines Unter- nehmens auf die im Entstehen begriffene Filmindustrie nicht zu un- terschätzen. Es trug nicht nur dazu dabei, den Film zu popularisieren und zu verbreiten, sondern fungierte auch als Brücke zwischen der primitiven Guckkastenattraktion der Penny Arcades oder den Vaude- ville-Vorführungen jener Zeit und den ersten Filmtheatern, die zwi- schen 1905 und 1910 in den USA allerorten entstanden. Zusammen mit den Nickleodeons waren die Hale’s Tours die ersten ortsfesten, spe- zialisierten und als solche erkennbaren Filmvorführstätten in den Ver- einigten Staaten. Wegen ihrer weiten Verbreitung und der unstillbaren Nachfrage nach Filmen spielten sie eine wichtige Rolle bei der Etab- lierung eines Vertriebssystems, ohne das die Filmindustrie nicht hätte überleben können. Und schließlich bildeten sie eines der ersten Bei- spiele in einer langen Reihe von Versuchen, Aspekte der wahrgenom- 44 Variety, 22. September 1906, 11. 45 Fernandéz Cuenca (1949) gibt an, dass noch 1912 eine Hale’s Tours unter dem Na- men «Metropolitan Cinema Tour» in Madrid lief. Der irische Theaterautor Denis Johnston erzählte dem Autor 1968, er habe um 1910 als Kind in Dublin eine Hale’s Tours besucht. 46 Nachruf in The Kansas City Star, 14. Juli 1923, 2. Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910 39 menen Welt zu simulieren oder zu duplizieren. Ein halbes Jahrhundert, nachdem die Hale’s Tours 1904 auf dem Ausstellungsgelände in St. Lou- is zu sehen waren, zeigte man auf der Weltausstellung in Brüssel 1958 eine Filminstallation mit dem Titel Impressions of Speed. Vermutlich hatten die Veranstalter nie von den Hale’s Tours gehört. In einem Artikel in der Evergreen Review hieß es: Impressions of Speed: ein überaus fesselndes Experiment in einem speziel- len Pavillon für jeweils 25 Zuschauer: Die Zuschauer sitzen wie im Füh- rerstand einer simulierten Lokomotive mit freier Sicht auf die Landschaft, nicht nur durch die Frontscheibe, sondern auch nach beiden Seiten; fort- laufend wird ein umfassendes Bild durch die simulierten Fenster projiziert; Stereoton kommt zum Einsatz; die Landschaft huscht vorbei, perfekt syn- chron und in Farbe, der Gesamteindruck ist so lebhaft, dass er fast an die tatsächliche Erfahrung heranreicht. Die Jury ist ratlos: Hat dieser Film die ‹Kunstillusion› hinter sich gelassen, um zur Wirklichkeit selbst zu werden? (Vogel 1958, 75). Zweifellos waren die ursprünglichen Hale’s Tours weit weniger ausge- reift als ihr Nachfolger aus dem Jahr 1958, doch war auch das Publi- kum weniger anspruchsvoll. Alles in allem ist es gut möglich, dass man bei den Hale’s Tours mehr Spaß an der Sache hatte. 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Die Beschreibungen gehen ausei- nander: ‹ins Wasser eintauchen, sich in die Fluten stürzen›, ‹die Lein- wand (oder den Spiegel) durchbrechen›, ‹den Körper verlassen (oder gegen einen anderen vertauschen)›, ‹sich in einer simulierten Welt ver- lieren› oder ‹im Cyberspace herumnavigieren›. Alle diese Metaphern beinhalten einen Übergang, eine Passage von einem Bereich in einen anderen, aus der unmittelbaren Realität greifbarer Objekte und di- rekter sinnlicher Daten in ein Anderswo. Offenbar spielt die Techno- logie die Rolle des Vermittlers, doch der Sachverhalt erweist sich als komplexer, denn die Technologie ist selbst zu einem Anderswo unseres Begehrens geworden, zu «einem obskuren Objekt unserer Begierde» – verführerisch und abstoßend zugleich. Viele populäre Texte, darunter der Film Tron (Steven Lisberger, USA 1982 ), in dem ein Computer- Zauberer in die relativ unparadiesische Welt des Computer-Inneren gescannt wird, spielen mit dieser Ambiguität. Das Bedürfnis nach Immersion manifestiert sich sowohl als Produkt einer Erlebnisindustrie wie im Diskurs von Träumen, Vorstellungen, Wünschen und Ängsten. Auf besonders sensationelle Weise kommt es in Texten aus dem Umkreis technologischer virtueller Realitäten * «Encapsulated Bodies in Motion: Simulators and the Quest for Total Immersion» erschien in: Simon Penny (Hg.) Critical Issues in Electronic Media. New York: State University of New York Press, 1995, 159–186. Übersetzung mit freundlicher Geneh- migung des Autors. 42 montage AV 17 /2 / 2008 zum Ausdruck; aber ein ähnliches Bedürfnis ist auch bei so unter- schiedlichen Phänomenen wie Computerspielen, computervermit- telten Kommunikationssystemen oder professionellen Simulatoren zu verzeichnen und ebenso bei Spezialitäten-Kinos, Themenpark-Trips, neopsychedelischen oder ‹kyberdelischen› Technohaus-Partys oder beim Drogenkonsum und beim New-Age-Interesse an ‹mentalen Maschinen› und ‹Psychotechnologien›, inklusive östlicher Philosophie und Schamanismus – um nur einige zu nennen. Selbst das Mainstream-Kino sucht nach Möglichkeiten, das Publi- kum stärker zu involvieren. Die Zunahme an subjektiven Steadicam- Aufnahmen, computergenerierten virtuellen Zooms und ‹Fahrten› in die Tiefe des Bildes hinein – häufig in Verbindung mit gegenläufigen Objekten, die dem Zuschauer entgegenfliegen – kann dies bezeugen.1 Sie sollen dem Publikum das Gefühl geben, direkt durch die Ober- fläche der Leinwand in die diegetische Welt des Films einzudringen. Renny Harlin, der Regisseur von Cliffhanger (USA/F 1993), sagte in einem Interview: «Die heutige Filmsprache ist wie Rock’n’Roll, nicht mehr wie klassische Musik. Die Zuschauer geraten aus der Fassung, klammern sich voller Angst an ihre Sitznachbarn. Die Kamera kämpft unablässig um ihre Aufmerksamkeit. Das ist neu.»2 Kein Wunder, dass man zwischen dem Erlebniskino und der Attraktion von Themenparks Parallelen zieht. Der Variety-Kritiker Todd McCarthy hat Cliffhanger charakterisiert als «zweistündige Achterbahnfahrt, die ohne Pause von der ersten bis zur letzten Minute durchbrettert» (1993, 44). Immersionsbedürfnis als kultureller Topos Doch das Bedürfnis nach technologisch induzierter Immersion stellt keineswegs eine Neuheit dar, die unerwartet am kulturellen Hori- 1 Mein Verständnis, wie solche ‹Figuren› funktionieren, vor allem im Kontext des Fernsehens, aber auch im Kino, verdankt Margaret Morse (1987) viel. Dass die im- mersiven Tendenzen im Mainstream-Kino sich heute auf solche formalen filmischen Aspekte konzentrieren, statt die Parameter des ganzen Apparatus zu ändern (anders als in den 1950er Jahren, als Cinerama eine echte Neuheit innerhalb der herrschen- den Substruktur darstellte), hat mit seiner schizophrenen Beziehung zu den neuen Distributionskanälen zu tun, also mit dem Fernsehen und dem Videorekorder; das Kino weiß nicht, wo oder wie es sich positionieren soll. Die Neuheiten, die den ge- samten kinematografischen Apparat betreffen, so die Riesenleinwand und Trips mit Bewegungssimulatoren, finden außerhalb des traditionellen Kinos statt – auf Jahr- märkten, Messen, in Spielarkaden und letztlich in neuen Substrukturen wie dem Cinetropolis-Projekt von Iwerks Entertainment. 2 Ilta-Sanomat (Finnland), 15. März 1993 (in finnischer Sprache). Unterwegs in der Kapsel 43 zont aufgetaucht ist. Ein Werbetext für Cinerama, ein neues, besonders breitwandiges Kinospektakel, versprach Anfang der 60er, «Sie schauen nicht auf eine Leinwand – Sie finden sich direkt in den Film versetzt, mitten zwischen seine Bilder und Töne» (Belton 1992, 188f). Schon 1944 hatte ein Werbetext für DuMont-Fernseher versprochen: «Sie se- geln mit dem Fernsehen durch schwindende Horizonte in neue, auf- regende Welten.»3 Dies erinnert wiederum an Oliver Wendell Holmes’ klassische Beschreibung (1859) seiner Erfahrung mit stereografischen Fotos, die er mit einem speziellen optischen Apparat, dem Stereoskop, betrachtete: «Ich werde im Nu vom Ufer des Charles-Flusses zur Furt des Jordan transportiert und lasse meine leibliche Hülle im Lehnstuhl am Tisch zurück, während mein Geist vom Ölberg auf Jerusalem her- ab blickt» (Holmes 1980 [1859], 59). Wie diese Beispiele zeigen, ist das Bedürfnis nach immersiver Er- fahrung ein Topos, der immer wieder in bestimmten kulturellen und ideologischen Momenten aktiviert – oder sogar fabriziert – wurde.4 Es ist jedoch schwierig, die Logik seines Kommens und Gehens fest- zumachen, ohne auf Universalien zurückzugreifen wie das vermeintli- che ‹kollektive Bedürfnis› der Menschheit, in andere Realitäten als ihre unmittelbar physische Umgebung einzutauchen, oder das angeborene ‹Streben nach Naturalismus›, das im Idealfall zur Aufhebung des Un- terschieds zwischen der Realität und ihrer Darstellung führt. Danach bestünde die ultimative virtuelle Realität in der perfekten Simulation der Wirklichkeit, ihrer sinnlichen Verdoppelung. Ich möchte mir jedoch solche ahistorischen Erklärungen versa- gen und Immersion als eine historische und ideologische Konstruktion betrachten, die sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten manifestiert hat. Ich werde diese Manifestationen miteinander vergleichen und damit zur Erstellung einer mentalen Topografie der Beziehung zwischen Mensch und Maschine beitragen, die gegenwär- tig viele Kulturhistoriker beschäftigt. So lässt sich beispielsweise der erstaunliche Boom, dessen sich die Stereografie in der zweiten Hälf- 3 Die Werbung, bei der ein winziger Fernsehzuschauer vor einem gewaltigen Bild- schirm sitzt, die beide im ‹Raum› schweben, mit Fata-Morgana-Szenen (aus angebli- chen TV-Programmen) ‹in den Wolken› im Hintergrund, ist bei Cecilia Tichi (1991, 15) abgebildet. 4 Laut Ernst Robert Curtius (1948) sind topoi Versatzstücke thematischer oder stilis- tischer Art, die in literarischen Traditionen weitergegeben werden und in gewissem Sinne deren elementares Baumaterial darstellen. Sie können zudem als kulturelle Motive betrachtet werden, die sich in den verschiedenen Diskursen mit immer neu- er Bedeutung füllen. 44 montage AV 17 /2 / 2008 te des 19. Jahrhunderts beim viktorianischen Bürgertum erfreute, zu bestimmten sozialen, kulturellen und metapsychologischen Faktoren in Beziehung setzen.5 In der viktorianischen Welt wurde eine immer schärfere Grenze gezogen zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre, vor allem in der aufsteigenden Mittelschicht, eine Grenze, die auch die männliche von der weiblichen Welt schied. Vom sicheren Blickpunkt des viktorianischen Heims war die öffentliche Sphäre ein Bereich von Stress, zunehmendem Tempo und potenzieller Bedrohung (symbolisiert durch das industrielle Proletariat). Die Kolonien und fer- nen Länder lagen, trotz der Fortschritte bei Verkehrsmitteln und Re- produktionstechniken, immer noch jenseits des Horizonts der meisten Menschen. Und doch waren sie seltsam gegenwärtig. Man konnte in das Okular des Stereoskops eintauchen wie in ei- nen virtuellen Tunnel. Viktorianische Hausfrauen und Kinder (im häuslichen Kontext auch Männer) vermochte dieser Apparat gefahrlos durch ferne Länder und Kulturen zu transportieren und blendete da- bei die verstörende Wirklichkeit der Fabriken, Gefängnisse und Slums aus. Als erste ‹Sehmaschine› für den Hausgebrauch, die zum Massen- medium avancierte, nahm das Stereoskop die Rolle vorweg, die später das Fernsehen als ein stets verfügbares ‹virtuelles Fenster› spielen sollte. Aber die Stereografie hatte zugleich eine dominant männliche Seite, die mit den Freiheiten korrespondierte, die Ehemännern im öffentli- chen Kontext gestattet waren: Es eröffnete ihnen die eigentlich verbo- tenen Freuden des Voyeurismus. Wie Charles Baudelaire beobachtete: [...] tausende begieriger Augen [beugten sich] über die Öffnungen der Ste- reoskope, als seien sie die Dachfenster zur Unendlichkeit. Das Gefallen am Obszönen, das die Natur des Menschen so lebhaft erfüllt wie das Gefallen am eigenen Ich, läßt sich eine so gute Gelegenheit zur Befriedigung nicht entgehen (Baudelaire 1999 [1859], 110). 5 Es gibt äußerst wenige seriöse kulturelle und soziale Studien zur Stereoskopie des 19. Jahrhunderts, vgl. jedoch Crary 1996 [1991], Kap. 4, und Krauss 1986. Zu den histo- rischen Fakten vgl. Darrah 1977 und van Keulen 1990. Eine repräsentative Samm- lung viktorianischer pornografischer Stereografien findet sich bei Nazarieff 1990. In Linda Williams’ ansonsten bemerkenswerter Studie (1995 [1989]) fehlt merkwürdi- gerweise eine entsprechende Darstellung. Unterwegs in der Kapsel 45 Immersion und die Dynamik des medialen Environments Die immersive Erfahrung wird gemeinhin als Erfahrung aufgefasst, bei der man sich außerhalb des eigenen Körpers empfindet; als sol- che führt sie die hartnäckige christlich-kartesianische Trennung von Geist und Körper weiter.6 Doch auch der Wunsch, sich vom ‹äuße- ren Gehäuse› zu befreien und die Seele in die immateriellen Gefilde des Anderen, der Fantasie und des Begehrens, strömen zu lassen, sollte als ein Phänomen betrachtet werden, das historisch bedingt ist. In ih- rem Kommentar zum Bedürfnis nach virtueller Realität schlägt Vivian Sobchak vor, das VR-Motto «Realität allein genügt nicht mehr», psy- choanalytisch umzuformen in «Realität ist zur Zeit zu viel» (1994, 20). Sobchak sieht im «angstvollen Ausblenden des menschlichen Körpers» eine Reaktion auf gegenwärtige Todesängste angesichts von AIDS, nu- klearer Vernichtung und ökologischem Selbstmord. In gleicher Weise könnte die verbreitete Immersion in chemisch in- duzierte Bewusstseinsveränderungen während der 1960er Jahre – zu- mindest für die Vereinigten Staaten – zum Teil als Reaktion auf die pri- märe (unwillkürliche) Immersion in das allgegenwärtige audiovisuelle Environment des Fernsehens erklärt werden. Man empfand weithin, dass es sein anfängliches Versprechen nicht erfüllte, Ausgangsstation für virtuelle Reisen in aller Herren Länder zu sein. Stattdessen füllte es den Bildschirm mit geistlosem Zeitvertreib oder mit ermordeten und verstümmelten Körpern teils anonymer Provenienz (aus Vietnam), teils von bestens aus den Medien bekannten Personen (JFK oder Martin Luther King). Das löste ein Gefühl von Entfremdung und kollekti- ver Schuld aus, was sicherlich dazu beitrug, dass man sich im eigenen Leibe nicht mehr wohlfühlte. Drogen wurden als Medium betrachtet, als alternatives Kommunikationssystem, das Zugang zu einem weniger bedrängenden (virtuellen) Environment versprach.7 Mindestens seit Anfang der 1950er Jahre war das Thema ‹Immer- sion› unwiderruflich mit der inneren Dynamik des medialen Envi- ronments verknüpft. Das neue Triumvirat aus Fernsehen, Breitwand- Kino und Disneyland kann rückblickend als symbolisches Modell für die Reorganisation der audiovisuellen Medienlandschaft verstanden 6 Eine historische Kritik zu diesem Thema findet sich bei Penny 1992. 7 Ausdrücke wie «Drogen sind Software im Informationssektor», «Drogen sind ein Instrument», oder «das Medium Marihuana» wurden in der «Bibel der alternativen Medienbewegung» verwendet. Vgl. Shambergs 1971, 17ff. 46 montage AV 17 /2 / 2008 werden. Die neuen Breitwandspektakel (wie Cinerama, Cinemascope, Todd-AO) und die 3D-Filme setzten dem Versprechen des Fernsehens, virtuelle Reisen in Realzeit via die kleine Mattscheibe zu ermögli- chen, eine ‹neue› überwältigende Erfahrung entgegen: ein Bild, welches das Publikum allseits umgibt, und ein veritables Sound-Environment.8 Disneyland involvierte die Zuschauer, indem es sie in ein physisch re- ales, aber total simuliertes Universum einlud; es bot eine Alternative zu Bildschirm und Leinwand, da man «zweidimensionale Kinogeschichten und Schauplätze im dreidimensionalen Raum nachkonstruierte und in Vergnügungspark-Fahrten verwandelte» (Belton 1992, 79). Alle diese ‹neuen› kulturellen Formen hatten etwas mit der Metapher der Reise und der entsprechenden Neudefinition und Neuverortung des Körpers zu tun. Disneyland, das zum Modell der «Schauplatz-Un- terhaltung» (location-based entertainment) wurde, bot die konventionellste (aber enorm erfolgreiche) Lösung an. Da es wie ein simuliertes, verklei- nertes imaginäres Universum organisiert war, das sich in verschiedene «Länder» untergliederte (das Land der Frontier, das Abenteuerland, das Land der Fantasy), lud es das Publikum zu einer «Wanderung durchs Universum» ein, wobei entkörperlichte Erfahrungen allerdings nur ge- legentlich eine Rolle spielten. Cinerama, das ehrgeizigste und spekta- kulärste der Breitwandsysteme der 1950er, hatte sich den sogenannten travelogue, den Reisefilm, zum primären Genre auserkoren. Die Tatsa- che, dass es eine Reihe von Besuchen unterschiedlicher Schauplätze rund um die Welt anbot, statt der narrativen Linie einer Story zu fol- gen, unterschied es von Hollywood-Produktionen und rückte es in die Nachbarschaft von Disneyland. Fred Waller, sein Erfinder, hatte es sich genau überlegt: Cinerama sollte «kein Kind des Kinos» sein, sondern «eine brandneue Form der Unterhaltung» (Belton 1992, 95). Es ist bedeutsam, dass das erste Cinerama-Produkt, This Is Cinerama (1952), mit einer Panoramasequenz begann, die aus einer Achterbahn aufgenommen war. Cinerama betonte die Verbindung zum Kino/Ver- gnügungspark durch ein Reklamebild, auf dem das Publikum sich auf dem Vordersitz eines Achterbahnwagens zusammendrängte. Doch da- neben kamen auch Fotomontagen der Kinozuschauer auf ihren Lo- genplätzen zum Einsatz, die buchstäblich innerhalb der virtuellen Welt 8 Für eine Darstellung dieser Entwicklung im Kontext der Filmvorführung vgl. Go- mery 1992. Ein Blick von der anderen Seite, aus der Perspektive der Fernsehkultur der 1950er Jahre, findet sich bei Spiegel 1992. Unterwegs in der Kapsel 47 des Films umherflogen oder -schwammen.9 Interessanterweise ist weder eine Familie mit von der Partie (wie sonst fast immer in der damaligen Fernsehwerbung)10 noch das übrige Kinopublikum: nur einzelne Zu- schauer in ihren transformierten – oder verformten – Körpern, die über dem Publikum von La Scala schweben oder an den sparsam bekleideten Surfern von Cypress Gardens vorbeigleiten.11 Die voyeuristische Prä- senz des Zuschauers innerhalb der diegetischen Welt des Films verleiht diesen Bildern eine fast metaphysische Qualität, was an Antonionis oder Resnais’ Bilder der modernen Entfremdung erinnert – außer dass hier die Gesichter eine naive Begeisterung über ihre Anwesenheit in der me- diatisierten immateriellen Landschaft der Moderne zur Schau stellen. Auch wenn diese Fantasie auf den ersten Blick immersiv und inter- aktiv erscheint, ist sie doch weitgehend passiv; der Zuschauer mag zum Teilnehmer geworden sein, aber er oder sie ist immer noch Außenste- hender und driftet durch eine «schöne neue Welt», wobei das Ziel vor- her feststeht. So zum Beispiel der Standort der Hauptattraktion Cinera- ma: «Wenn Sie nach Detroit kommen, müssen Sie Cinerama besuchen» (zit. n. Belton 1992, 96). Der Zuschauer von This Is Cinerama besucht nur in zweiter Linie Mailand, Venedig, Schottland, Spanien, Wien und verschiedene Orte in den Vereinigten Staaten. Er oder sie fliegt – und erwartet dies schon vor dem Start – direkt in den Schoß der Tech- nologie, in das moderne Wunder. Die ‹unschuldige› Attraktivität der Technologie, die sich darin ausdrückt, trug sicherlich dazu bei, dass sich Cinerama so gut zum Vehikel ideologischer Propaganda eignete. John Belton zitiert aus einem Text der Journalistin Hazel Flynn von 1955: 9 Dieser Fantasie am nächsten kommt der Magic Carpet (der «fliegende Teppich») der Imax Corporation, ein Spezialtheater mit zwei gigantischen, miteinander synchro- nisierten Leinwänden, eine vor den Zuschauern, die andere unter ihnen in einem durchsichtigen Zwischenboden. Dies wirkt, als sei man ganz vom Bild umgeben, insbesondere bei Flugszenen. 10 Die Verbindung zwischen Familie und virtueller Reise war auch in der View-Master- Werbung zentral, einem 3D-Bildsystem für den Hausgebrauch. View Master war in den 1950er Jahren ein populärer Zeitvertreib. Wie zu erwarten, basierte es als später Nach- fahre auf der viktorianischen Stereoskopie. Ursprünglich hatte man vor allem «virtuelle Reisen» durch die ganze Welt angeboten; in den 1960ern traten jedoch Themen aus Disney-Comics und Fernsehserien in den Vordergrund, da man sich vor allem an ein kindliches Publikum wandte. Auf einem Reklamebild aus den 1950ern ist der Erdball zu sehen, den View-Master-Spulen als Satelliten umkreisen. Ein anderes Bild zeigt Vater, Mutter, Sohn und Tochter mit dem View Master und der Unterschrift «vergnügliche Stunden für die ganze Familie» (zit. n. van Keulen 1990, 16ff). 11 Vgl. die Illustrationen in Belton 1992, 97f, 190. Reklamebilder von Personen, die zusammen auf der Vorderbank einer Achterbahn sitzen, finden sich auf S. 180 und auf dem Umschlag. 48 montage AV 17 /2 / 2008 Cinerama ist in den Congressional Record aufgenommen worden als wich- tiges Instrument, mithilfe dessen der American way of life anderen Nationen nähergebracht werden kann. Es wurde vom State Department eingesetzt, um der Anziehungskraft des Kommunismus in anderen Ländern entgegen- zuwirken (zit. n. Belton 1992, 90). Ansätze zu einer psychotopografischen Landkarte der Audiovisualität In seiner Betrachtung des Verhältnisses Körper/Maschine im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert betont Mark Seltzer (1992, 12f) die Rolle der «radikalen und intimen Kombination von Körpern und Maschinen» als Möglichkeit, sich die Palette von «nicht ganz kompa- tiblen» Konzepten dieses Verhältnisses in der amerikanischen Kultur jener Zeit zu erklären. Dazu gehören die Vorstellungen, dass Maschi- nen die Körper und Personen ersetzen könnten, dass Personen bereits Maschinen seien oder dass die Technologien Körper und Menschen herstellen. Seltzer zieht eine Vielzahl literarischer, pädagogischer und medizinischer Diskurse bei, um «die Psychotopografie der Maschi- nenkultur» zu kartografieren (ibid., 4). Seine Darstellung durchkreuzt jeden Versuch, Konzepte wie ‹das Natürliche› und ‹das Technologische› als einfache polare Gegensätze aufzufassen, und unterstreicht ihre in- nersten komplexen Wechselbeziehungen. Seltzer analysiert Jack Londons Kurzgeschichte The Apostate (Der Ab- trünnige), deren Hauptfigur ein junger Fabrikarbeiter ist, und zwar «der perfekte Arbeiter an der perfekten Maschine». Da er aufgrund von Tem- po und Monotonie seiner Tätigkeit unter «pathologischer Müdigkeit» leidet, «geht er einen von Grün gesäumten Weg an den Geleisen ent- lang» und klettert in einen leeren Güterwagen. Seltzer kommentiert: Wenn die Arbeit an der Maschine den Abtrünnigen neurasthenisch oder hysterisch macht, so scheint sein «Entkommen» in den Güterwagen weni- ger eine Alternative zur Arbeit an der Maschine oder zur Neurasthenie als vielmehr eine andere Methode – ähnlich der Methode der Hysteriker – , den eigenen Körper (oder «ein Stück des Lebens») ohne eigenes Zutun in Bewegung zu versetzen (1992, 17). Seltzers Gedanken lassen sich auf die Analyse der Beziehung Mensch/ Maschine im audiovisuellen System übertragen. Alle diese Systeme, von den Attraktionen der Themenparks bis zum Kino und der virtuellen Unterwegs in der Kapsel 49 Realität, können als ‹Apparatus› begriffen werden, als technologisch- metapsychologische Maschinen, die bestimmte kognitive und emoti- onale Bewusstseinszustände erzeugen (und womöglich auch körper- liche Zustände). Sie evozieren nicht nur das Konzept der «Kopplung von Körpern und Maschinen», sondern auch jenes, sich der Maschine einzuverleiben, sich ihr einzukapseln. Die Analyse dieser Apparate soll- te mit der Erforschung der allgemeinen kulturellen Psychophysik un- seres Verhältnisses zu den Maschinen zusammengedacht werden. Dies erweist sich als besonders fruchtbar, wenn wir die Betrachtung immer- siver Systeme mit zwei Konzepten verbinden, die das Substrat der Ma- schinenkultur bilden und oft als polare Gegensätze behandelt wurden: Automatisierung und Interaktion. Automatisierung meint den selbstregulierenden Mechanismus, der, einmal in Gang gesetzt, von sich aus eine Reihe festgelegter Aufgaben erfüllt. Für das Publikum ist eine Filmvorführung eine solche automati- sche Erfahrung, denn sie vollzieht sich unabhängig von seiner mentalen oder physischen Involviertheit. Selbst für den Vorführer ist sie zumin- dest halbautomatisch: Seine Rolle beschränkt sich darauf, die Spulen zu wechseln und die Projektion zu überwachen. Ein interaktives System braucht hingegen die ständige Zusammenarbeit zwischen Nutzer und Maschine. Der Mensch wird vom Aufseher zum Protagonisten in je- nem Bereich, den die spezifischen Funktionen der Maschine vorgeben. Seine Aktionen bestimmen das System, das seinerseits auf sie reagiert. Oft werden die Erfahrungsmodi, welche automatische und inter- aktive audiovisuelle Systeme bereitstellen, in polarer Weise als ‹passiv› respektive ‹aktiv› etikettiert. Dies betrifft auch Gender-Unterschei- dungen, wenn Ersteres das Weibliche repräsentiert (Unterwerfung, In- aktivität), Letzteres das Männliche (Herrschsucht, Aggressivität). Wie verhält sich dies in Bezug auf die immersiven Tendenzen der Medien? Die Polarität scheint ihrerseits auf der Ebene kultureller Diskurse an- gesiedelt zu sein. Weithin wird Immersivität dabei negativ konnotiert: ‹den Zugriff auf die Realität verlieren›, ‹sich ins Auge des Sturms zie- hen lassen› oder ‹im Wasser untergehen, ertrinken›. Manche Mitglie- der von Moral-Majority-Gruppen sehen sogar das Fernsehen und die Wirkung der Medien allgemein als immersiv, so dass passive und ent- fremdete Subjekte die Folge sind. Ein weiterer, gleichfalls starker Diskurs betont dagegen die ‹natürli- che› Beziehung zwischen Immersion und (Inter)Aktivität: «Schließlich ist es ja der virtuell Reisende, der die Initiative ergreift.» Dieser Diskurs wird häufig von Geschäftsleuten angestrengt, die immersive Erfahrun- gen und Technologien verkaufen wollen, aber auch von Kulturoptimis- 50 montage AV 17 /2 / 2008 ten in der Tradition von McLuhan. Neue Technologien stellen für sie Erweiterungen des sinnlichen Apparats und letztlich des menschlichen Nervensystems dar. Immersion in die sich immer weiter ausbreitende Technosphäre bietet der Menschheit neue Möglichkeiten zur Kontakt- nahme und gegenseitigen Verständigung, die das Individuum stärken und aktivieren. Dies bedeutet zugleich eine Wendung hin zur Vergeisti- gung und zur Immaterialität; der Körper ist dabei sekundär und könnte sogar die Entwicklung eines globalen Bewusstseins behindern. Um die Validität solcher Verallgemeinerungen zu ermessen und sie letztlich zu überwinden, lohnt es sich, die spezifischen Konstellationen zu betrachten, welche die Parameter einer Begegnung von Mensch und Maschine kennzeichnen – etwa Intensität, Dauer, Kontext, Struk- tur und Funktion. Die Beziehung zwischen Immersion und Interakti- vität scheint beispielsweise weniger klar, wenn wir von der Ebene der Modelle zur Ebene der Erfahrung schreiten. Noch immer wird häufig eine Subjektposition (als vom System vorgegeben) mit dem Verhalten realer Subjekte verwechselt. Eine Subjektposition gibt einen Rahmen vor, ein Set bevorzugter Codes, bestimmt jedoch nicht das tatsächliche Verständnis und die realen Erfahrungen in einer wirklichen Situation. Ein großes Verdienst von Sherrie Turkles klassischer Studie des Com- puter-Nutzers (1984) bestand darin, dass sie es vermied, die extre- me Bandbreite der subjektiven Erfahrungen in Kategorien wie ‹aktiv› oder ‹passiv› einzupassen. Den Erfahrungen mögen Begegnungen mit mehr oder weniger identischen Technologien (und Schnittstellen) zu- grunde liegen, aber sie sind in persönliche Lebensgeschichten einge- bunden und diese wiederum in spezifische historische, soziologische und ideologische Systeme der Kodierung. Der Bewegungssimulator als hybride Form Ich möchte mich nun einem immersiven System zuwenden, das trotz seiner großen populären, theoretischen und historischen Bedeutung we- nig kritische Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Es geht um den ‹Be- wegungssimulator› oder das ‹dynamische Kino› oder die ‹simulierte Ver- gnügungsfahrt›. Bewegungssimulatoren bilden heute weltweit die Basis vieler Attraktionen in großen Themenparks. In Tokio haben sie bereits eine neue Generation von Spiel- und Unterhaltungszentren erobert, und sie finden sich auch als eigenständige Attraktion im öffentlichen ur- banen Raum (als ‹virtuelle Theater›). Firmen wie Iwerks Entertainment und Hughes Rediffusion Simulation haben in letzter Zeit auch mobile, ‹nomadische› Bewegungssimulatoren auf den Markt gebracht. Unterwegs in der Kapsel 51 Der Bewegungssimulator ist eine Freizeitattraktion für mehrere Personen, wobei ein Filmprojektor mit den hydraulischen Bewegun- gen entweder der Sitze oder des Fußbodens oder einer ganzen ‹Simu- lationskapsel› synchronisiert wird, um eine simulierte Fahrt – ein vir- tuelles Reiseerlebnis – zu vermitteln. Er hat erst in den 1980er Jahren in die Themenparks Einzug gehalten (freilich gibt es viele Vorläufer, etwa Disneylands Trip to the Moon, 1955) und ist eine hybride Form, da er Charakteristika früherer technologischer Apparate in sich vereinigt, zum Beispiel solche mechanischer Vergnügungspark-Fahrten, des tra- ditionellen Kinos und des professionellen Flugsimulators.12 Nicht zu- letzt die Kombination von (vermeintlich) unvereinbaren Eigenschaften macht ihn interessant. Das Konzept ist ‹altmodisch›, verdankt jedoch aktuellen Innovationen digitaler und hydraulischer Technologien viel. Bewegungssimulatoren sind nicht interaktiv, aber deutlich interaktiven Systemen verwandt und werfen bezüglich der Politik der Körper in- teressante Fragen auf – so bezüglich des Verhältnisses der Entkörperli- chung des Körpers zur gleichzeitigen Fokussierung auf seine Leiblich- keit als Hauptort der Lustproduktion. Wie der Fahrstuhl oder das Riesenrad (als seine Freizeitvariante) bewegt die Eisenbahn unbewegte Körper. Was diese mobilen Technologien mög- lich machen, und zwar auf verschiedene Art und Weise, sind Thrill und Pa- nik, wobei die Eigeninitiative zugleich erweitert und aufgehoben ist (Selt- zer 1992, 18). Die Idee, Körper in einer Maschine einzukapseln und zwecks Lust- gewinn physisch in Bewegung zu versetzen, kennzeichnete bereits die ersten mechanischen Attraktionen der Vergnügungsparks im frü- hen 19. Jahrhundert – so etwa Wasserrutschen, Riesenräder und Ach- terbahnen. Ihre Verbreitung stand deutlich in metapsychologischem Zusammenhang zur wachsenden Mechanisierung der menschlichen Umgebung und der Erfahrung von Zeit und Raum. Mit verschiede- nen technologischen ‹Prothesen› gekoppelt zu sein war ebenso trau- matisch wie befreiend, wie Werner Schivelbuschs Beschreibung der «Eisenbahn-Neurose» des 19. Jahrhunderts beweist (1989). Ein offen- sichtliches Beispiel bilden die multiplen Traumata durch monotone mechanische Fabrikarbeit. 12 Für historische Informationen vgl. Pourroy 1991. Der Artikel konzentriert sich vor allem auf den Simulator Back to the Future: The Ride (1991), der für den Themenpark des Universal Studios in Florida hergestellt wurde. 52 montage AV 17 /2 / 2008 Vergnügungspark-Attraktionen gewährten momentane Erleichte- rung von der stressigen Routine und dem oft schwierigen Verhältnis zur Technologie des Alltags, indem sie dieses Verhältnis als ein rituali- siertes und modifiziertes nachinszenierten. Die technologische Basis und sogar die Art und Weise des Erlebnisses glichen sich weitgehend: Nur die Parameter des Mensch/Maschine-Verhältnisses hatten sich ge- wandelt. Ein Beispiel bietet die seltsame Parallele zwischen dem elek- trischen Stuhl (der 1888 eingeführt wurde und seitdem eine ambiva- lente Kontroverse in Gang hält), der klinischen Elektrotherapie sowie populären Jahrmarktsapparaten, bei denen man testete, wie viel elekt- rischen Strom man durch seinen Körper leiten konnte (der Stromkreis schloss sich, wenn man zwei Griffe erfasste). Schlicht durch Änderung des Kontexts und Dosierung der Stromstärke konnte die Elektrizität also ganz unterschiedlichen Zwecken dienen: der Hinrichtung, der Genesung oder der sportlichen Herausforderung. Achterbahnen und andere Attraktionen auf Schienen waren er- weiterte und zugleich verkleinerte Versionen der Eisenbahn und des Straßenbahn-Netzes.13 Ihre Attraktivität gründete auf Unterdrückung ihrer Funktionalität und Übertreibung jener Gegebenheiten, welche die Straßen- und Eisenbahn-Betreiber gerade zu eliminieren suchten (künstliche Hügel statt horizontal verlaufender Schienen; plötzliche Kurven und Gerumpel statt sanftem Gleiten). John Kasson hat be- obachtet, dass der Vergnügungspark «Eigenschaften der Gesamtgesell- schaft abstrahiert, um sie in intensiverer, fantastischer Form zu prä- sentieren: Produktionsmittel, die der Effizienz dienten, wurden zu Vergnügungsinstrumenten umfunktioniert [...]» (1978, 73). Obwohl mechanische Thrill-Fahrten gelegentlich thematisch motiviert waren, bestand ihr Hauptziel darin, ein Delirium der Sinne zu erzeugen. Dies dank einer doppelten Operation: Laut Lauren Rabinovitz «unterwarf man sich der Maschine, damit sie den Körper auf die eine oder ande- re Weise von seiner normalen Statik und Ortsgebundenheit befreite» (1990, 77). 13 Viele der frühen Vergnügungsparks in den USA gehörten Straßenbahngesellschaften. Ein cleverer kommerzieller Schachzug: Die Parks befanden sich an der Stadtgrenze am Ende einer Straßenbahn-Linie. So mussten die Besucher zusätzlich zum Ein- trittsgeld eine Rückfahrkarte kaufen; zugleich konnte man überschüssige Strom- kapazitäten absetzen, die nachts, an Wochenenden und zur Ferienzeit anfielen. Laut David E. Nye (1992, 122ff) erklärt dies auch die hohe Zahl von Simulator-Trips, die auf Straßenbahn-Technologie basierten. Unterwegs in der Kapsel 53 Phantomkörper im Eisenbahnphantom Tony Bennett hat die Wirkung von Themenpark-Vorführungen fol- gendermaßen beschrieben: «Sie wirbeln das Auge durch den Raum, während sie den Körper arretieren» (1983, 151). Dies passt gleicher- maßen auf das Kinoerlebnis. Im Kino – dessen Geburtsstunde mit dem Aufkommen der ersten großen Vergnügungsparks in den 1890er Jahren zusammenfällt – wurde die physische Bewegung im Zug oder in der Achterbahn durch ein virtuelles Fahrgefühl ersetzt, das durch Zusam- menwirken der verschiedenen Komponenten des filmischen Apparats zustande kam. Während der frühen Jahre des Mediums existierte sogar ein Filmgenre, das die somatische Erfahrung der neuen Transportmit- tel explizit simulierte; in gewisser Weise wurde der Apparat Kino selbst zum (virtuellen) Transportmittel, zum Ersatzzug, zur Ersatztram. Beim erwähnten Genre handelt es sich um den sogenannten phan- tom ride (die Kamerafahrt mittels eines Fahrzeugs, das selbst nicht ins Bild kommt) –, und das Genre verdient schon deshalb Beachtung, weil es gegenwärtig als filmische Komponente der Simulationsfahrt ein Revival erlebt. Technisch gesehen (in seiner Idealform) war der phantom ride ein durchgehender Filmstreifen, der mit fixer Kamera, die vorn auf einem Zug stand, gedreht wurde und das durchmessene Ge- lände zeigte.14 Der fixe Blickpunkt und die kontinuierliche Bewegung entlang der Tiefenachse des Bildes gaben dem Publikum das Gefühl, förmlich in die gezeigte Welt einzudringen. Laut einem Beobachter von 1897 war der Zuschauer dabei kein Außenstehender, der aus sicherer Distanz vorbeirasende Wagen be- trachtet. Er war vielmehr Passagier eines Phantomzuges, der ihn mit einer Geschwindigkeit von einer Meile pro Minute durch den Raum transpor- tierte. Und das ohne Rauch und ohne dass man die Wände vibrieren oder die Räder stampfen sah. Nichts deutete auf Bewegung – außer dem Blick auf schimmernde Geleise, die unwiderruflich, hastig verschwanden, und dem Panorama der Flussufer und Zäune, die vorbei flogen (zit. n. Musser 1984, 53). 14 Phantom-ride-Filme wurden in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre und auch spä- ter noch in großer Zahl in verschiedenen Ländern produziert. Wie alle Filme aus den ersten Jahren des Kinos waren sie kurz, meist kürzer als eine Minute. Allerdings wurden sie oft gekoppelt, manchmal auch kombiniert mit sogenannten ‹Ansichten› (views), die man später aus Eisenbahnfenstern oder von der rückwärtigen Plattform eines Zuges aufgenommen hatte. Dies zerstörte zum Teil die ideale formale Einheit der Zuschauerposition beim phantom ride. 54 montage AV 17 /2 / 2008 So platzierte der phantom ride die Zuschauer als Fahrgäste im Phan- tomzug, der an- und abwesend zugleich war: eine imaginäre Erwei- terung oder eine Projektion des diegetischen Raums der Leinwand auf den (psychologischen) Raum des Publikums. Der verdunkelte Saal des Auditoriums war dabei mehr Vorbedingung als Teil der Erfahrung. Für die Zuschauer vollzog sich eine temporäre Entortung und Neuorgani- sation des sinnlichen Apparats; die Augen traten metonymisch für den gesamten sensomotorischen Komplex in den Vordergrund. Sie wurden zum Phantomkörper, der im Phantomzug saß, welcher sich auf die Leinwand zu bewegte. Obwohl der reine phantom-ride-Film bald in der Entwicklung des Spielfilms aufging, lässt er sich mehr als alternatives Modell für ein Ki- nospektakel betrachten denn als lediglich primitive Umsetzung ei- ner vertrauten Erfahrung in ein neues Medium.15 Tom Gunning hat ihn zum «Kino der Attraktionen» gezählt, das er als dominante Form bis 1906 oder 1907 ansieht. Diese Art Film fordert «die Aufmerksam- keit des Zuschauers auf sehr direkte Weise, erweckt die visuelle Neu- gier und bereitet vermittels eines aufregenden Spektakels Vergnügen» (1996 [1990], 29). Gunning betont das «direkte Auslösen von Schocks oder Überraschungen vor dem Ausbreiten einer Geschichte oder dem Erschaffen eines diegetischen Universums»; «die Energie richtet sich nach außen, auf einen adressierten Zuschauer […]» (ibid., 30). In einem weiteren Artikel unterstreicht Gunning (1990) erneut die Funktion des frühen Kinos, den Zuschauer ins Zentrum zu stellen, und hängt daran eine Kritik an Noël Burchs These auf, dass «die Iden- tifikation des Zuschauers mit einer allgegenwärtigen Kamera» (Burch 1990, 228) den Schlussstein des klassischen Erzählkinos darstelle, dessen Formen sich erst Jahre später stabilisierten. Laut Gunning unterschätzt Burch die zentrale Rolle narrativer Strategien (etwa der Zuschauer- identifikation mit häufig wechselnden Blickpunkten) beim «Einnä- hen» (suturing) des Publikums im späteren Kino (Gunning 1990, 101). In einem phantom-ride-Film ist die Zentrierung des Zuschauers in der Tat die Hauptsache, obwohl die Energie weniger nach außen fließt 15 Anfänge der Narrativisierung des Genres manifestieren sich schon in G.A. Smith’ A Kiss in the Tunnel (USA 1899). Smith hatte die Idee, in einen phantom-ride-Film eine Aufnahme einzufügen, die offenbarte, was sich während der Tunnelfahrt zutrug. Diese zusätzliche Aufnahme, die ein Paar zeigt, das sich im Abteil küsst, war aus dem objektiven Blickpunkt einer dritten Person gefilmt. Das Ergebnis war ein Spielfilm aus drei Einstellungen, deren Blickpunkt zwischen objektiver und subjektiver Per- spektive wechselt. Die Einheit der Subjektposition, die ein phantom-ride-Film bot, war damit zerstört. Unterwegs in der Kapsel 55 als vielmehr dazu dient, das Publikum nach innen zu ziehen.16 Doch die Zuschauerposition wird zugleich durch die Identifikation mit dem virtuellen Zug beschränkt; der Lustgewinn gründet auf der Dialektik von simultaner Ermächtigung und Entmächtigung. Diese Erfahrung unterscheidet sich offensichtlich von jener, die der ungarische Filmäs- thetiker Béla Balázs in den 1920er Jahren (für den klassischen Spiel- film) beschreibt: Die Kamera nimmt mein Auge mit. Mitten ins Bild hinein. Ich sehe die Dinge aus dem Raum des Films. Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und verwickelt in seine Handlung, die ich von allen Seiten sehe (1930, 9f). Hier ist das Phantomfahrzeug verschwunden, der Zuschauer scheint aus seiner Gefangenschaft befreit. Das ‹Auge-plus-Körper› ist in die diegetische Welt des Films geglitten, schwerelos, wie im Traum. Es hat mobile Allgegenwärtigkeit erreicht. Doch diese voyeuristische Freiheit ist illusionär; sie wird immer noch von der Kamera beschränkt (die den kinematografischen Apparat repräsentiert), auch wenn die Ideologien von Transparenz und Anthropomorphismus dies verschleiern. Balázs war sich dessen gewiss bewusst; doch er übertreibt auf poetische Weise das pure immersive Potenzial des traditionellen Kinos (und trifft sich dort mit der oben erwähnten Position Burchs). Er schildert eine Art Supererlebnis, das im Grunde dem Navigieren in der virtuellen Welt näher steht als der Kinoerfahrung. Balázs’ Beschreibung würde dem Kontext kinematischer Systeme wie Cinerama oder ihrer wichtigsten heutigen Nachfahren Imax und Omnimax mehr entsprechen, da sie danach trachten, den Zuschauern ein immersives Erlebnis zu bieten und sie zugleich von der traditionel- 16 Einiges spricht dafür, dass die Subjektposition beim phantom ride den Zuschauer viel stärker involviert als etwa bei einer Fahrt im Trickfilm, welche die Distanz aufrecht erhält, auch wenn das Publikum direkt adressiert ist. Denn die diegetische Welt des phantom ride ignoriert den Zuschauer und nimmt damit die Identifikationsmecha- nismen des Spielfilms vorweg. Gunnings Beschreibung der Energie, die nach außen drängt «auf einen Zuschauer, der als solcher akzeptiert wird» (1996 [1990], 30), lässt uns ans 3D-Kino denken, das häufig als eine seiner zentralen Attraktionen «Dinge ins Publikum schleudert». Das vielleicht extremste Beispiel einer solchen Schockattrak- tion bietet Cecil Hepworths How It Feels to Be Run Over von 1900. Ein Auto fährt geradewegs auf die Kamera zu, scheint mit ihr zusammenprallen und den Zu- schauer überfahren zu wollen. 56 montage AV 17 /2 / 2008 len Bindung an eine Erzählung zu lösen.17 Imax- und Omnimax-The- ater erreichen dies technisch, indem sie die Leinwand horizontal und vertikal vergrößern, um sie der peripheren Wahrnehmung der Zu- schauer anzupassen, sowie durch ein überdimensionales Filmbild von ultra-high-definition-Qualität. Zudem wird das Publikum in ein Sound- Environment eingebettet.18 Cinerama in den 1950ern und Imax und Omnimax seit den frühen 1970er Jahren waren in der Tat Versuche, das «Kino der Attraktionen» als alternativen Modus der Kinoerfahrung und zugleich als eine neue kommerzielle Substruktur wieder einzuführen. Dies bedeutete eine Rückkehr zu den Anfängen, da sowohl die Technologie als auch die Filmerfahrung als Attraktion ausgestellt wurden. Im Falle von Imax und Omnimax wurde das genannte Ziel von einer marken- (statt einer film-) orientierten Werbung in Angriff genommen, und zwar durch Projektionskabinen mit durchsichtigen Wänden und durch technolo- gische Informationen vor Beginn der Show. Gleichzeitig tut man alles, um das Filmerlebnis als ‹authentisch› auszuweisen. Dieser doppelte Nachdruck auf der materiellen wie der immateri- ellen Seite (was den politisch ausgerichteten Theoretikern des ‹Anti- Illusionismus› der 1960er Jahre Probleme beschert hätte) als Garantie für eine ‹reale› Erfahrung scheint symptomatisch für die Entwicklung der Technokultur. Technologie wird allmählich zur zweiten Natur, zu einem Bereich, der sowohl extern ist wie internalisiert, und zugleich zu einem Objekt der Begierde. Es ist nicht notwendig, die Technologie weiterhin transparent zu halten, schon deshalb nicht, weil man sie nicht 17 Praktisch alle Imax- und Omnimax-Filme, die ich bisher gesehen habe, waren von eigenartiger formaler Hybridität. Meist handelt es sich um Travelogues und dramati- sierte Dokumentarfilme, die traditionelle narrative Techniken mit phantom-ride-artigen Sequenzen verbinden, wie sie in anderen Genres eigentlich nur als Höhepunkte vor- kommen. In seinem Buch Widescreen Cinema kritisiert John Belton die Zuschauer- theorien von Stephen Heath, Jean-Louis Baudry und Christian Metz dafür, dass sie die Repositionierung des Zuschauers, die in den 1950er Jahren mit Cinerama und ande- ren Breitwand-Verfahren erfolgte, nicht berücksichtigen. «Die Partizipation hob den systematischen Unterschied zwischen aktiver und passiver Zuschauerschaft auf. Breit- wand erbrachte eine völlig neue Kategorie der Partizipation» (192). 18 Imax- und Omnimax-Systeme wurden von der Imax Corporation in Toronto ent- worfen, hergestellt und vermarktet. Imax ist ein Projektionssystem mit einer riesigen rechteckigen, flachen Leinwand; Omnimax, sein Bruder, projiziert in eine Kuppel. Imax wurde erstmals 1970 auf der Expo in Osaka vorgestellt. Das erste permanente Imax-Theater entstand 1971 in Toronto, das erste Omnimax-Kino 1973 in San Die- go. Sie arbeiten mit dem gleichen Format: horizontal ausgerichtetes 70mm. Deshalb ist das einzelne Bildkader zehnmal größer als bei normalem 35mm- und dreimal so groß wie ein Standard-70mm-Bild. Unterwegs in der Kapsel 57 länger als Widerspruch zur Authentizität der Erfahrung empfindet. Die heutige Position ist nicht eine des Entweder-oder, sondern eine des Sowohl-als-auch, obschon sie nicht frei von Widersprüchen ist. Virtuelles Reisen und physisches Schwindelgefühl Bei der Fahrt im Bewegungssimulator hat sich das Phantomfahrzeug materialisiert, und das neutrale Auditorium hat sich in eine Kulisse verwandelt, in einen theatralischen Raum, in dem sich der virtuelle Raum auf der Leinwand materiell fortsetzt. Selbst das hat es aller- dings um das Jahr 1900 bereits gegeben.19 Einer der Vorläufer der Si- mulationsunterhaltung, Hale’s Tours and Scenes of the World, das an der Weltausstellung in St. Louis 1904 vorgestellt wurde, band die phantom- ride-Filme an einen konkreten Ort (und belebte das bereits schwin- dende Interesse am Genre), indem es ein simuliertes Eisenbahnabteil zum Zentrum der Attraktion machte. Das Publikum saß im Abteil, und phantom-ride-Filme liefen auf einer Leinwand, die auf der offe- nen Frontseite des Waggons installiert war. So entstand eine Simulation tatsächlicher Zugfahrten. Neben dem visuellen wurden noch weitere Sinne angesprochen (durch Windstöße, durch künstlich erzeugtes Rat- tern der Schienen und Ruckeln des Waggons).20 Ein Bewegungssimulator kann die Form eines Flugzeugs, U-Boots oder einer Weltraumfähre annehmen; entsprechend verwandelt sich 19 Als frühstes Projekt eines Bewegungssimulators, der Film einsetzt, ist wohl das nicht verwirklichte Vorhaben des britischen Filmpioniers Robert W. Paul von 1895 zu be- trachten, das auf H.G. Wells’ Roman The Time Machine von 1895 basierte. In seinem Patentantrag beschreibt Paul eine Mechanik, «die aus einer Plattform oder Plattformen besteht, welche je eine angemessene Zahl von Zuschauern aufnehmen und seitlich ab- gesperrt werden können, sobald alle Platz genommen haben, wobei eine Öffnung nach vorn den Blick auf eine Leinwand gestattet, auf der die Ansichten gezeigt werden. Um den Eindruck einer Reise zu vermitteln, kann jede Plattform an einem System von Pleuelstangen aufgehängt und mittels Motor oder anderen Antriebselementen bewegt werden. Der Mechanismus soll in der Lage sein, die Plattform sanft zu wiegen sowie als Ganzes ein Stück nach vorn zu schieben» (zit. n. Ramsaye 1986, 153). 20 Vgl. Fielding 2008 [1983], in diesem Heft. Ein weiterer berühmter früher Simulator, der Filmtechnologie einsetzte, war Raoul Grimoin-Sansons Cinéorama, das auf der Pariser Weltausstellung von 1900 vorgeführt wurde. Das Publikum kletterte auf eine riesige Plattform, die eine Heißluft-Ballonkabine simulierte. Es sah 360° panorama- tische Filme, die mit zehn Filmkameras rundum aus einem realen Ballon aufgenom- men worden waren. Diese Attraktion, die eine Weiterentwicklung des gemalten Pan- oramas darstellte, einer der beliebten öffentlichen Attraktionen des 19. Jahrhunderts, kam ohne Ton oder Bewegung aus, setzte aber kostümiertes Personal ein. Cinéorama wurde von den Behörden schon nach wenigen Vorführungen wegen Feuergefahr aufgrund mangelhafter Belüftung geschlossen. 58 montage AV 17 /2 / 2008 die Leinwand in eine ‹Windschutzscheibe›. Oft stellen solche Filme Kriege im All oder Unterwasserfahrten dar.21 Die Simulator-Show selbst ist häufig von einer zugehörigen Show gerahmt, die im the- matisch hergerichteten Vestibül stattfindet. Dieses wird etwa als Welt- raumstation möbliert und das Personal als fiktive Crew mit Kostümen ausstaffiert – wie in den klassischen Star Tours von Disneyland.22 Das Publikum kann dabei entsprechende Räume besuchen und sich Initi- ationsritualen unterziehen, die mit Wartezeiten (zur ‹Identifizierung›, ‹Desinfektion› und dergleichen) verbunden sind, bevor es in den ei- gentlichen Bewegungssimulator eingelassen wird. Mit solchen Maßnahmen lässt sich der Besucherstrom regeln, um den Profit zu maximieren (neue Gruppen können in kurzen Abständen eingeschleust werden); und zugleich verlängert sich die Gesamtveran- staltung (die Simulationsfahrt selbst dauert gewöhnlich nur vier bis fünf Minuten). Die ganze Attraktion wird damit zu einer großen Ma- schine, welche die Besucher wie auf einem unsichtbaren Förderband durchschiebt.23 Ihre Körper sind in einen technologisch-mythisch- ökonomischen Apparat eingeschlossen, noch bevor sie überhaupt die Kapsel des Simulators erreichen. In Toronto endet die Tour of the Uni- verse (1984) der CN-Towers denn auch folgendermaßen: Die Besu- cher werden durch einen schummrigen Tunnel aus ihrem simulierten Weltall-Abenteuer in eine Spielhalle mit Souvenirshop entlassen. Die vorgelagerten Attraktionen fungieren als Initiation in die fiktio- nale Welt; sie schüren Erwartungen und steigern die Spannung. Selbst 21 Die einfachsten ride-Filme reproduzieren lediglich mithilfe von Kamerabildern das Achterbahn-Erlebnis oder das Fahren zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Ande- re stellen elaborierte Fantasien dar, die mithilfe von Miniaturen und traditioneller Trickfotografie verwirklicht sind (Back to the Future: The Ride, im Themenpark der Universal Studios in Florida, hergestellt von Douglas Trumbulls Firma Berkshire Ridefilms) oder aber, mit zunehmender Tendenz, mithilfe von synthetischer 3D- Animation (Iwerks Entertainment Sub Oceanic Shuttle von Ex Macchina, Showscans Space Race von ILM und The Devil’s Line von Little Big One). 22 Selbst diese Aspekte waren in den Spektakeln der Jahrhundertwende bereits berück- sichtigt. Raoul Grimoin-Sanson erläutert Cinéorama: «Kaum hatte eine ausreichende Zahl von ‹Passagieren› Platz genommen, so begann schon der Aufstieg. Der Kapitän, in blauer Marinetracht, verkündete feierlich: ‹Meine Damen und Herren, wir heben aus dem Bassin der Tuilerien ab. Alle anschnallen!›» (zit. n. Toulet 1988, 141). Zu den Hale’s Tours vgl. auch Fielding in diesem Heft. 23 Diese Dinge wurden zur Zeit der Jahrhundertwende mit nachgerade wissenschaft- lichem Eifer von den Inhabern der Vergnügungsparks betrieben. Sie «mussten wie Fabrikmanager die Herstellung der Erlebnismaschinen organisieren. Zwecks Profit- maximierung beurteilten sie die Attraktionen danach, wie viele Kunden sie in einer Stunde abfertigen konnten» (Nye 1992, 131). Unterwegs in der Kapsel 59 die praktischen Informationen und Instruktionen, wie man sich zu verhalten habe, dienen diesem Ziel. Außerdem wird die Immersion erleichtert, indem die Grenze zwischen der wirklichen Welt und der virtuellen auf der Leinwand allmählich schwindet, auch wenn dies in spielerischer Weise und unter willfährigem Sich-Einlassen auf die Illu- sion vonstatten geht. Während der eigentlichen Fahrt geschieht dann zweierlei: Neben dem üblichen kinematischen Effekt körperlicher Entmaterialisierung wird der somatische Aspekt des Körpers betont. Dies in erster Linie durch die bewegten Sitze – ihr synchrones Schau- keln oder Vibrieren ist in der Tat eine physische Verlängerung der virtu- ellen Bewegung auf der Leinwand, der sie eine materielle – und sogar taktile – Dimension hinzufügt. Das Wesen des Bewegungssimulators gründet auf eben dieser doppelten Operation, durch die sich das schie- re somatische Schwindelgefühl mit dem virtuellen Trip verbindet.24 Die Body Wars der Walt Disney World bieten nachgerade eine Me- tapher hierfür. Die Fahrt vollzieht sich in einem Miniaturfahrzeug, das innerhalb eines menschlichen Körpers (!) unterwegs ist und eine Art Kapsel in der Kapsel in der Kapsel generiert: Der Körper befindet sich in der Maschine, die sich wiederum in einem Körper befindet ... Der Trip wird durch einen ‹Unfall› unterbrochen: Ein entzündlicher Split- ter hat sich durch die Haut des simulierten Körpers gebohrt und ver- sperrt nun den Weg. Das Publikum erfährt, dass eine Ärztin an Bord ist. Sie zieht Taucherkleidung an und verlässt das Schiff, um die Lage zu sondieren. Nach einer Weile kann man durch die ‹Windschutz- scheibe› mit ansehen, wie sie durch Zellen und Blutgefäße schwimmt. Dieser Trick bestätigt die Körperlichkeit der virtuellen Welt, indem eine physische Person scheinbar aus dem Schiff aussteigt, um in sie einzutauchen. 24 In frühen Berichten über phantom-ride-Filme lag der Akzent oft auf dem Delirium der Sinne statt darauf, dass ‹die Welt durchs Fenster› zu sehen war. Das ist verständlich, denn von einem phänomenologischen Standpunkt aus ist das Bezugsobjekt eher die Achterbahn als der Zug oder die Tram, in denen «der schimmernde Anblick der Glei- se, die unwiderruflich verschwinden», den Passagieren normalerweise nicht geboten wurde. Doch mitunter tritt auch der Aspekt der virtuellen Reise in den Vordergrund. The Post Express (Rochester, N.Y.) schrieb am 4.10.1898: «Der Fahrgast darf dieses Panorama drei Minuten lang genießen, und alles ist so lebensecht, dass er das Gefühl hat, in einem Aussichtswagen zu sitzen, der im Tempo von 30 oder 40 Meilen pro Stunde von einer Lokomotive gezogen wird. Mit wachsender Begeisterung lässt er, die Augen weit geöffnet, die faszinierendsten Bilder der Welt in sich eindringen; Na- tur und Kunst sind hier harmonisch verschmolzen» (zit. n. Pratt 1973, 21). «Ein Aus- sichtswaggon, der von einer Lokomotive geschoben wurde», diente manchmal dazu, phantom-ride-Filme zu drehen, war für normale Passagiere aber nicht vorgesehen. 60 montage AV 17 /2 / 2008 Immersion und Interaktivität Trotz zunehmender technischer Raffinesse lässt sich behaupten, dass der Bewegungssimulator in der beschriebenen Form nichts Neues darstellt. Das Konzept, die Zuschauer in eine ‹verräumlichte Fiktion› einzubetten, bildete bereits eine der ursprünglichen Ideen für Disney- land, und seine Grundzüge waren schon 1895 vom britischen Film- pionier Robert W. Paul in Zusammenhang mit einem unrealisierten Projekt beschrieben worden.25 Auch die vorgelagerte Show ist ein ver- trautes Element vieler mechanischer Thrill-Fahrten, so zum Beispiel des Space Mountain in Disneyland. So besehen scheint der Bewegungs- simulator fast ein nostalgisches Objekt, das an ein Publikum appelliert, welches an konservativen Erlebnissen Geschmack hat, die unter einem zeitgenössischen Hightech-Mantel daherkommen. Allerdings sind sich Themenpark- und Simulationsentwickler ei- nig, dass all dies auf lange Sicht nicht genügen wird. Sie beziehen sich vor allem auf die gegenwärtige Mode des Interaktiven, wie sie in der enormen Popularität von Video- und Computerspielen zum Ausdruck kommt, sich aber in der zeitgenössischen Technokultur insgesamt ma- nifestiert (vgl. Huhtamo 1993, 133ff). Auch wenn die Rede von einer ‹Kultur der Interaktivität› sich als reiner Werbehype herausstellen sollte, besteht zweifellos ein weit verbreitetes Interesse daran, «mit den eige- nen Fingern fernzusehen» (um eine Formulierung von Nam June Paik zu paraphrasieren). Gegenwärtig versucht man, im Unterhaltungssektor Immersivi- tät und Interaktivität zu koppeln. Das hat dazu geführt, eine weitere Quelle zu aktivieren, den professionellen Simulator. Die Entwicklung früherer Geräte zur Bewegungssimulation – so etwa die Hale’s Tours zu Beginn des 20. Jahrhunderts – war der Entwicklung eines professionel- len Flugsimulators parallel gegangen. Trotz der Neuheit der Luftfahrt gab es laut Ron Reisman (1990) bereits um 1910 diverse Übungsge- räte für Piloten. Hinsichtlich ihrer technischen Lösungen standen sie den mechanischen Vergnügungspark-Attraktionen näher als der vir- tuell-physischen Kombination, wie sie die Hale’s Tours pflegten. Der Billings-Trainer war zum Beispiel ein «nicht-fliegendes Gerät mit Flü- geln, das auf eine Säule montiert war. Mithilfe eines Steuerknüppels konnte man diese Maschine zum Wind drehen, und ebenso ließ sich das Gleichgewicht kontrollieren, ähnlich wie bei gewissen modernen Surfboard-Trainingsapparaten» (ibid., 159). 25 Vgl. Anm. 18. Unterwegs in der Kapsel 61 Die metapsychologische Motivation für die Entwicklung all dieser Geräte – mit dem Ziel, die neue Technologie zu beherrschen, indem man sich ihr unterwarf, was das Subjekt aus seiner ‹natürlichen› raum- zeitlichen Beschränkung befreite – mag jeweils identisch gewesen sein, aber ihre Manifestationen unterschieden sich deutlich. Der Flugsi- mulator sollte es ermöglichen, die neue Technologie zu beherrschen, ohne unnötige Risiken einzugehen. Insbesondere im Ersten Weltkrieg wurden diese Risiken, die zunächst nur von technischer und psycho- logischer Bedeutung gewesen waren, auch politisch und ideologisch bedeutsam. Flugsimulatoren dienten dazu, den Sieg über den Feind zu proben. Der in der Kanzel eingekapselte Pilot lernte seine bedrohte Existenz zu verteidigen, indem er eine symbiotische und interaktive Beziehung mit der Maschine einging. Der Flugsimulator avancierte zu einem der Basismodelle interaktiver Medien, insbesondere seit auch die interaktive Visualisierung möglich war. In den Thrill-Fahrten des Vergnügungsparks wurde die Beherr- schung der Technologie zu einem ritualisierten Spiel, einer Nachinsze- nierung des Kampfes zwischen Kontrolle und Katastrophe; das Ergeb- nis war (außer in jenen seltenen Fällen, in denen tatsächlich ein Unfall passierte) im Voraus bekannt. Das Publikum konnte sich getrost der Technologie anvertrauen und sich auf die beklemmenden Trips einlas- sen. Die grundsätzlich passive Form des Vergnügens wurde auf Attrak- tionen wie die Hale’s Tours oder die Bewegungssimulation übertragen. Den Besuchern wurde der Eindruck vermittelt, als Passagier an Bord zu sein, nicht das Gefühl, ein Flugzeug oder U-Boot zu steuern;26 die Kontrolle fand anderswo statt, im imaginären Cockpit (das auf merk- würdige Weise der Projektionskabine glich). Obwohl Bewegungssi- mulatoren die Kluft zwischen realem Raum und virtueller Welt zu schließen suchen, um eine dynamischere Publikumsreaktion auszulö- sen, bleiben sie doch einem traditionellen Zuschauerkonzept verhaftet, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und sich im Diorama wie in der Oper oder dem melodramatischen Theater manifestierte. 26 Margaret Morse (1987, 16) hat Ähnliches fürs Fernsehen beobachtet: «Fernsehgrafik ist ein ‹Flugsimulator in Echtzeit› genannt worden, doch wir sind keine Piloten, son- dern Passagiere, die von unsichtbaren Händen getragen Bewegungsthrills ausgesetzt werden.» 62 montage AV 17 /2 / 2008 Interaktivität und kollektive Erfahrung Mit dem Aufkommen von Realzeit-Computerbildern ab den 1960er Jahren boten sich auch bei den Flugsimulatoren neue Möglichkei- ten, die Beherrschung der Maschine in einer überzeugend simulier- ten Umgebung zu üben. Die Computerspiel-Industrie entsprang im Wesentlichen dieser Entwicklung. In ähnlicher Weise regte dies die Hersteller von Freizeit-Simulatoren an; sie zeigten sich besonders be- eindruckt, dass man nun eine moderne hydraulische Plattform mit computerkontrollierten Bewegungsbildern synchronisieren konnte.27 Heutzutage produzieren Firmen wie Hughes Rediffusion Simulation oder Mitsubishi Heavy Industries Bewegungsplattformen für professi- onelle wie für Unterhaltungszwecke. Interessanterweise sind die inter- aktiven Möglichkeiten, die für die professionelle Simulation so zentral sind, im Kontext der Freizeitindustrie bis vor kurzem kaum ausge- schöpft worden. Dafür gibt es offensichtliche Gründe, die mit dem traditionellen Publikumskonzept zusammenhängen: Es ist schwierig, für zehn oder gar hundert Leute im gleichen Raum sinnvolle Interaktionsmodi zu konstruieren, die alle einbeziehen. Dieses Problem war bereits bei den sterilen elektronischen Wahlsystemen in Erscheinung getreten, mit de- nen das Publikum kollektiv über den Fortgang eines Films abstimmen sollte.28 Einer der interessantesten Versuche, einen Bewegungssimulator für viele Benutzer mit wahrhaft interaktiven Fähigkeiten auszustatten, ist Galaxian, das vom japanischen Spielefabrikanten NAMCO entwi- ckelt und 1990 auf der Expo in Osaka vorgestellt wurde. Galaxian ist für 28 Personen ausgelegt, die im Kreis auf einer Bewegungsscheibe sitzen und nach außen auf eine 360°-Projektionsfläche blicken, die sie 27 Douglas Trumbull wird meist die Hauptverantwortung für diese Verbindung zuge- schrieben. Sein Ruhm gründet vor allem auf den Special Effects für die Stargate- Korridor-Sequenz von Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968) – vgl. Young- blood 1970, 151ff. 28 Ein Beispiel für ein solches Spektakel ist der Cinéautomate im französischen Themen- park Futuroscope nahe Poitiers. Man kann nur zu bestimmten Momenten sein Votum abgeben, die zwischen den Akten des Films liegen. Für das Filmerlebnis ist es störend, dass verschiedene Anzeichen darauf hinweisen, wann dieser Augenblick gekommen ist. Die Vorführung wird unterbrochen, die Lichter gehen an, und es erscheint sogar eine Hostess aus Fleisch und Blut, um die Prozedur anzuleiten (meine Erfahrung, Juni 1992). Vielversprechender ist ein Interaktionssystem, das die Firma Loren Carpenter’s Cinematrix, Inc. entwickelt hat. Die Teilnehmer erhalten Sendegeräte, deren Signale von Sensoren im Auditorium empfangen und von Computern registriert werden, die für Computerspiele und ähnliches ausgelegt sind. Das System wurde auf der USA Sig- graph 1991 und 1994 sowie auf der Ars Electronica in Linz 1994 vorgeführt. Unterwegs in der Kapsel 63 als Panorama umgibt. Die Zuschauer sind in ein Abenteuer à la Star Wars (George Lucas, USA 1977) involviert mit der Aufgabe, ein Im- perium gegen Horden feindlicher Flugkörper zu verteidigen; als Inter- face-Instrument dient eine Strahlenpistole. Obwohl jeder Einzelne nur mittels der Pistole interagieren kann, registriert und visualisiert Galaxian sowohl individuelle wie kollekti- ve Erfolge, die das Schicksal des Imperiums und die Dauer des Spiels bestimmen. Dies scheint Konzentration und Immersionseffekt zu stei- gern, wenn auch auf ganz andere Weise als bei traditionellen Bewe- gungssimulatoren. Man hat keine Zeit, sich passiv im Spiel zu verlieren, als ob man vor einem Mandala meditierte, oder sich der relativen Passi- vität hinzugeben, wie sie eine Fahrt im Bewegungssimulator gestattet. Stattdessen herrscht eine nachgerade panische Aktivität, so dass man kaum zu Atem kommt. Um zu verstehen, welches Vergnügen diese Art von Spektakel be- reitet, lohnt es sich, auf Sherrie Turkles Second Self zurückzukommen. Turkle hat Manager, Buchhalter und Chirurgen bei Videospielen be- obachtet, welche als Basismodell für immersive und interaktive Tech- nologien zu betrachten sind. Sie konnte eine intensive Beziehung ih- rer Testpersonen zu den Spielen konstatieren und kam zum Ergebnis: «Für Menschen, die unter Stress stehen, ist Konzentration eine Form der Entspannung.» Manche Personen gaben an, beim Spiel «neue Be- wusstseinszustände» zu erreichen. Sie betonten den meditativen Cha- rakter totalen Involviertseins: «Während des Spiels kann man an nichts Anderes denken.» Oder man hob die Genugtuung hervor, welche die zielgerichtete Aktivität, allmählich das Spiel zu beherrschen, bereitet – «Im Gegensatz zum Meditieren empfinde ich beim Spielen, dass ich etwas geleistet habe.» (ibid., 77ff) Galaxian gestattet beide Typen der Gratifikation. Hinzu kommt die Lust am Wettkampf – die übrigen Spieler zu besiegen, während man ‹allein in der Menge› agiert – sowie an der physischen Erfahrung, he- rumgewirbelt zu werden. Diese Art des intensiven und konzentrierten Erlebnisses scheint einer stark von Konkurrenz geprägten Medienge- sellschaft wie der japanischen besonders zu entsprechen. Man braucht eine kurze Auszeit aus dem Berufsleben, in der man «mit den Fingern denkt». Zugleich braucht man die Möglichkeit, den dauernden Zwang zur Verbesserung der eigenen Leistung und zum Konkurrenzkampf nachzuinszenieren, indem man ihn auf eine abstrakte und mytholo- gisierte Ebene hebt. Vielleicht lässt sich sogar der Erfolg traditioneller 64 montage AV 17 /2 / 2008 ‹passiver› Simulations-Trips in Japan folgendermaßen erklären: Die In- tensität der Erfahrung muss in direkter Proportion zur Kürze der Zeit stehen, die Lohnempfängern außerhalb der täglichen Routine zur Ver- fügung steht, in der sie sich gefangen fühlen. Vom Körper in der Kapsel zu seiner Freisetzung im Netz Trotz seines kollektiven Einsatzes bei Galaxian ist der interaktive Be- wegungssimulator gewöhnlich als Simulator für Einzelpersonen ge- dacht. Dies mag so aussehen wie das ultimativ letzte Kapitel in der Geschichte der Einkapselung von Körpern in Maschinen. Ohne die beruhigende Präsenz der übrigen Besucher wird jeder Einzelne – oder jede Gruppe, gewöhnlich nimmt man Paare – separat verkapselt.29 Ein gutes Beispiel bietet der Commander, «ein zweisitziger interaktiver Frei- zeit-Simulator» von Hughes Rediffusion Simulation. Die Teilnehmer sitzen in einer kleinen Kapsel und blicken auf eine ‹Windschutzschei- be› (einen Computergrafik-Bildschirm) und einen kleineren ‹Radar- monitor›. Eine Reihe von Kontrollinstrumenten, darunter ein ‹Panik- knopf›, sind vorhanden, ebenso ein ‹Notausstieg› (vgl. Vince 1993). Wie tröstlich zu wissen, dass man nach wie vor in die Realität zurückkeh- ren kann, falls plötzlich Nostalgie ausbricht! Die virtuelle Realität scheint noch weiter getrieben, wenn man sich nicht nur aus der normalen Umgebung, sondern sogar vom eigenen Körper löst, den man gegen einen virtuellen Ersatzkörper in com- putergenerierter Umgebung eintauscht. Dieser ist nicht einmal den Gesetzen der Physik unterworfen, denen der reale Körper gehorchen muss, sondern neuen Gesetzen, die für die virtuelle Welt als gültig pro- grammiert wurden. Einfache Bewegungen der (realen) Finger vermö- gen die virtuelle Hand zu vervielfachen, wie der australische Künst- ler Stelarc mit seiner Schöpfung Virtual Arm (1992) demonstriert hat. In gewisser Weise kann man nachvollziehen, dass die Apologeten der virtuellen Realität darin einen größeren Bruch im Umgang mit dem Körper sehen. 29 Vergnügungspark-Attraktionen pflegen die Besucher in Zweiergruppen aufzuteilen und entsprechen damit der ideologischen Sozialnorm, dass die Gesellschaft mög- lichst aus (heterosexuellen jungen) Paaren bestehen soll. Noch heute ist die Bewe- gungsplattform der Thrill-Trips, Achterbahnen und Bewegungssimulatoren häufig mit paarweise bewegten Sitzen bestückt. Sie liefern Erlaubnis und Motivation, sich am Partner festzukrallen. Unterwegs in der Kapsel 65 Der Diskurs über die entmaterialisierende Wirkung der virtuel- len Realität verfällt häufig in eine überzogen idealistische Rhetorik. In ihrer Basisform ist virtuelle Realität jedoch, wie unsere gesamte Existenz, fest in der Physikalität des Körpers verwurzelt; die ganze Erfahrung wird durch physische Bewegungen und Gesten in Gang gesetzt.30 Das zeigte sich bereits – vielleicht unbeabsichtigt – in den Plänen des Utopisten der virtuellen Realität, Randal Walser (1991), zu einem «Sport- und Freizeit-Spielhaus», das entsprechende Technologi- en einsetzen sollte (etwa für eine Rudermaschine, die mittels HDM einen See überquert), oder in der albernen sexuellen Gymnastik, die man im Cyberspace des Films Lawnmower Man (Brett Leonard, USA 1992), für die Liebe braucht. In der Tat bestand eine der bedeutendsten Errungenschaften von Künstlern, die – wie etwa Jeffrey Shaw – mit interaktiven oder virtuellen Technologien arbeiten, in der kritischen Erforschung der ‹Doppelverortung›, die dank virtueller Realität mög- lich wird: der simultanen, in Wechselwirkung stehenden Präsenz des Körpers an zwei Orten und in zwei Formen des Seins. Die physische und die virtuelle Existenz verhalten sich komplementär, schließen sich nicht gegenseitig aus. Doch der Einschluss des Körpers in die Simulatorkapsel könnte auch zu einer Freisetzung im Netz führen. Sogar ein Gerät wie der Commander lässt sich mit bis zu 15 anderen Kapseln vernetzen, die geo- grafisch weit auseinander liegen können (einzig die Signalverzögerung im Netzwerk setzt hier Grenzen). Diese Art von virtuellen Spiel-En- vironments, die auf der Gestaltung virtueller militärischer Manöver- gelände fußen (wie das BattleTech Center in Chicago), haben inte- ressante Befunde zutage gefördert, wie sich Menschen via virtuelle Begegnung sozialisieren und neu gruppieren (vgl. Jacobson 1993, 36). Doch sie sind nur die Nachfahren jener Immersionsgemeinschaften, die sich online in computermediatisierten Kommunikationsnetzen (CMCs) wie dem Internet entwickeln. Sie weisen auf neue Formen des Verbundenseins. Roy Ascott (1993, o.S.) hat kürzlich den Ausdruck Telenoia geprägt für «vernetztes Bewusstsein, interaktive Bewusstheit, Gedanken auf Distanz, ‹den Geist auf freien Füßen›, um Gregory Ba- teson zu zitieren». 30 Ein äußerst merkwürdiges und bedauerliches Element bei den meisten Demonstra- tionen virtueller Realität ist der unerlässliche physische Helfer und Führer (eine Art Virgil für den ‹Cyber-Dante›), eine ständige Präsenz vor, während und nach dem virtuellen Trip. 66 montage AV 17 /2 / 2008 Sicherlich gehen wir unserer Körper nicht verlustig, wenn wir einander im Netz begegnen, doch die Frage nach einer Präsenz aus Fleisch und Blut scheint, ebenso wie die Genderfrage, weiter an die Pe- ripherie der Diskurse zu wandern – zumindest wird sie komplexer. Ziel ist nicht, die Körper aus unserem Leben zu eliminieren, sondern ihre Reichweite über den bisherigen Radius hinaus zu erstrecken. Die Not- wendigkeit, uns dem telematischen Environment anzupassen – sympto- matisch für die elektronische Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts – verlangt, dass wir überkommene Vorstellungen von ‹Publikum›, vom ‹Männlichen› und ‹Weiblichen›, vom ‹Privaten› und ‹Öffentlichen› hin- terfragen. Und sie verlangt zudem ein neues Konzept vom ‹gemeinsa- men Alleinsein› – aber nicht im gleichen Sinne wie in der Fernsehkultur, bei der die Idee eines nationalen oder internationalen Publikums immer noch einer abstrakten hierarchischen und im Grunde nicht-interakti- ven Denkweise verhaftet bleibt. Immersion in ein telematisches Envi- ronment sollte ein genuin interaktives Erlebnis sein, ohne vorgegebene technologische, ökonomische und ideologische Beschränkungen. Dies mag womöglich niemals eintreten, doch es bleibt ein lohnendes Ziel. Aus dem Amerikanischen von Christine N. Brinckmann Literatur Ascott, Roy (1993) Telenoia. Unveröff. Ms. Telecommunication and Art-Sympo- sion in Helsinki, 15. 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Aber dass wir uns zu einem Geschehen verhalten müssen, das uns seine eigene Schicksalhaftigkeit und Logik präsentiert und das uns im gelingenden Fall mit auf eine Reise ins Ungewisse nimmt, gehört zu den so unhintergehbaren wie erwünschten Effekten des Spielfilms. Wenn wir dem fiktiven Filmge- schehen so weit folgen, dass ein Großteil unserer Aufmerksamkeit da- bei absorbiert wird, kann man von Immersion in ein fiktionales Gebilde oder auch von fiktionaler Immersion sprechen.1 Die Tatsache, dass wir auch von Dingen und Prozessen absorbiert werden können, die nicht zur Kategorie fiktionaler oder ästhetischer Darstellung gehören, macht die terminologische Abgrenzung von ver- schiedenen Arten der Immersion sinnvoll.2 Denn Immersion im Sin- ne von Absorption der Aufmerksamkeit ist ja keineswegs ein Privileg ausschließlich ästhetischer Erfahrungen. Absorbiert werden wir zum Beispiel auch in unsere Sprache, während wir sie verwenden, oder in unsere Arbeit, während wir sie ausführen, in die Wahrnehmung unse- 1 Wie im Editorial dieses Heftes näher ausgeführt, diskutiert Michael Fried (2002) in synonymer Verwendung mit ‹Absorption› und ‹Empathie› das immersive Potenzial von Gemälden und das entsprechende Verhältnis zu ihnen. 2 Allerdings gibt es auch Autoren, die diesen Unterschied für sekundär halten und nur den Aspekt hervorheben, dass Immersion in jedem Fall eine distanzlose Form der Einlassung auf darstellungsartige Erscheinungen sei, gleichgültig, ob diese natürlich sind wie Träume oder fiktional wie Spielfilme und Romane. Als Beispiel für diese undifferenzierte Verwendung von ‹fiktionaler Immersion› sei verwiesen auf McGinn (2006, 96ff). 70 montage AV 17 /2 / 2008 rer Umwelt, während wir uns in ihr orientieren, sowie in unsere Träu- me, Gedanken und Gefühle, während wir von ihnen besetzt sind.3 Ein gemeinsames phänomenales Merkmal dieser unterschiedlichen Aus- prägungen von Immersion ist, dass die Medien dieser Vollzüge (wie Sprache, Bewegungen, schematisierte Handlungen, Gefühle, Gedanken, Wünsche, sensorische Aktivierungen, Traumgebilde) im Bewusstsein des immersiv Erlebenden nicht von ihren Gehalten geschieden sind. So wie routinierte Autofahrer oder Tangotänzer unwillkürlich das Rich- tige tun und erst ins Stocken geraten, wenn sie gezwungen werden, ihre Teilhandlungen zu explizieren, beschreibt die Ungeschiedenheit von Medium und Gehalt mentaler Akte den Normalfall gelenkter Auf- merksamkeit auf einen Gegenstand oder Zweck. Während Aufmerk- samkeitslenkung im Alltag der Selbstsituierung in der Umwelt dient, ist es weniger eindeutig, welche Funktionen unserer immersiven Einlas- sung in Filme zukommen. Aus philosophischer Sicht stellt sich daher zunächst die Frage: Eine Realität welcher Art prägt sich uns im Kino oder vor dem Fernseher ein? Was wir selbst im Falle intensiver Ab- sorption eindeutig nicht glauben, ist, dass das Filmgeschehen in einem herkömmlichen Sinne real ist. Die immersive Wahrnehmung filmischer Realität lässt sich folglich auch nicht als eine Form epistemischer Täu- schung beschreiben. Dem entspricht auch unser Rezeptionsverhalten: Die durch Film evozierten Eindrücke und Gefühle verführen uns nicht dazu, uns direkt handelnd zum Filmgeschehen zu verhalten. Im Rahmen seiner Fiktionstheorie schreibt Wolfgang Iser diesen handlungsentlastenden Effekt der Einklammerung unserer natürlichen Einstellungen gegenüber fiktionalen Gebilden zu: Dies drückt sich im ‹Als-ob› aller Fiktion aus. Der Partikelkomplex des ‹Als-ob› bezeich- net die Funktion, «ein vorliegendes Etwas mit den Konsequenzen aus einem unwirklichen oder unmöglichen Falle gleichzusetzen», wie Iser (1993, 39), seinerseits Vaihinger (1922, 585) zitierend, feststellt. Fikti- onal in diesem grundlegenden Sinn sind auch Spielfilme, insofern sie uns etwas unter den Bedingungen suspendierter Realitätsüberprüfung als evi- dent darbieten. Diese Definition von ‹filmischer Fiktionalität› zielt in- sofern über die seit Coleridge gängige Formel von der einklammern- den Haltung einer willing suspension of disbelief hinaus, als sie nicht nur 3 Sprachwissenschaftler nennen es «Sprachbad», wenn Personen in ein fremdsprachi- ges Umfeld versetzt werden, um dort die Sprache zu erwerben (vgl. Wode 2001, 424–446). Fiktionale Immersion 71 einen Effekt auf unser Überzeugungssystem impliziert4; im Wissen um die genuine Irrealität oder Eigenrealität des Filmgeschehens ist der ge- samte Organismus des Rezipienten bis zur immersiven Erlebnisebene seiner natürlichen Anpassungsfunktionalität enthoben. Welchen Beitrag leisten, unter diesen einklammernden Bedingun- gen, unsere immersiven Erlebnisse mit Spielfilmen? Eine intuitive Ant- wort zielt in folgende Richtung: Immersionen verschaffen uns eine körper- lich-geistige Nähe zum Filmgeschehen. Immersion ist dabei stets episodal und nicht dispositionell,5 das heißt, sie ist nur als aufmerksame Fokussie- rung eines gegenwärtig präsentierten Geschehens zu haben und nicht als bloß latente Bereitschaft zur Aufmerksamkeitslenkung. Diese aktuell sich vollziehende Absorption in ein fiktionales Geschehen führt eine unhinterfragte Akzeptanz der greifbaren Gegenwart dieses Geschehens mit sich und gleicht so die Distanz erzeugenden Fiktionsmarkierungen des filmischen ‹Als-ob› auf der Erlebnisebene aus. Man weiß, dass es ‹nur› ein Film ist, und erfährt zugleich immersiv den Gang der Ereignis- se hautnah mit. Der phänomenale Charakter der Präsenz eines immersiv fokussierten Gegenstandes variiert allerdings mit dem Medium: Weisen Gemälde eher eine Präsenz der Simultanität ihrer meist kontemplativ fokussierten Aspekte auf, so nimmt immersives Sich-Einlassen auf einen Film die temporale Struktur der bewegten Ton-Bild-Sequenzen für die Dauer der Projektion oder Sendung an. Der Realität des Films kommt im immersiven Modus also stets sequenzieller Ereignischarakter zu, wobei bis zum Ende ungewiss ist, wohin uns die Filmerzählung führen wird.6 Im Folgenden werden drei Ästhetikansätze, die unterschiedlichen Traditionen entstammen, in Hinblick auf die Frage diskutiert, wie sie jeweils den Realitätseindruck ästhetischer Gebilde fassen, der hier un- ter dem Gesichtspunkt der Immersion reflektiert werden soll. Trotz ihrer unterschiedlichen Taxonomien und Programmatiken, so meine Leitintuition für den Theorievergleich, finden sich in allen drei An- 4 Fiktionalität zuzuschreiben ist also nicht nur eine Funktion des ‹So tun, als ob man glaubte, dass p (in x existiert)›; vgl. dazu Searle 2007, 31ff; Currie 2007, 41ff; Walton 2007, 101ff. 5 Ein Beispiel für einen dispositionellen Zustand ist z.B. die Überzeugung, dass der Eiffelturm in Paris steht, während wir aktuell an etwas anderes denken. 6 In dieser Hinsicht lässt sich auch von der filmischen Konstruktion einer ‹Welt› spre- chen, auch wenn der Inhalt dieser gängigen Redewendung nicht eindeutig ist. Für einige Autoren bedeutet ‹Welt› das Ganze eines Verweisungshorizontes intentionaler Wesen, für andere das Ganze aller Existenzformen und ihrer Beziehungen unter- einander. Zur Varianz der Weltsemantiken vgl. Bunia 2006, 81-88; zur Debatte um die Spielarten von Weltkonstruktionen durch den Film das Themenheft «Diegese», Montage AV 16,2, 2007. 72 montage AV 17 /2 / 2008 sätzen relevante Aufschlüsse zur fiktionalen Immersion. Sie lassen sich zueinander ins Verhältnis setzen, weil sie Immersion oder ihre Modifi- kationen wie ‹Einfühlung› und das ‹Imaginäre› als wirkungsästhetische Kategorien analysieren und dabei jeweils einschlägige Charakteristika des Phänomens hervorheben. Konkret handelt es sich erstens um die auf den Philosophen und Psychologen Theodor Lipps (1903-1906) zurückgehende Einfüh- lungstheorie, die ich hier als eine Deutung von Immersion zu lesen vorschlage;7 zweitens um die von der Literatur- und Medienwissen- schaftlerin Marie-Laure Ryan (2001) entwickelte modaltheoretische Konzeption von Immersion; drittens um die Verbindungung von Im- mersion mit dem Imaginären, wie es vom Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser (1993) formuliert wurde.8 Iser ist einer der Begründer der Rezeptions- und Erfahrungsästhetik; seinen Ansatz hier einzube- ziehen ist zusätzlich dadurch motiviert, dass seine Überlegungen zum Zusammenhang von fiktionalen Gebilden und dem imaginären Ein- satz des Rezipienten auch für außerliterarische Medienästhetiken pro- duktiv gemacht werden können. Dies ist bislang kaum geschehen. Immersion als Einfühlung Wie Theodor Lipps in seinen Schriften zur Psychologie und Ästhetik am Anfang des letzten Jahrhunderts ausgeführt hat, soll der Raum des Ästhe- tischen medienübergreifend eine bestimmte Form des Erlebens eröffnen: das Sich-selbst-Erleben in einem Anderen, kurz: Einfühlung. Der durch Einfühlung in einen Gegenstand zustande kommende Eindruck, die- ser sei belebt und innerlich von Kraft und Energie durchströmt, ist das, was Lipps als «symbolischen Gehalt» aller Kunst bezeichnet und was hier mehr oder weniger synonym mit ‹Immersion› verstanden werden soll: Symbol nennen wir das Wahrgenommene, in dem wir unmittelbar ein An- deres, nämlich ein Streben, ein inneres Tun und eine entsprechende innere Weise der inneren Erregtheit, kurz, eine Weise unserer inneren Lebensbe- tätigung, unmittelbar erleben (Lipps 1903, 140). 7 Im Rahmen ihrer Studie zum Autobiografischen in verschiedenen Medien und spe- ziell im Film unter besonderer Berücksichtigung deutscher nichtfiktionaler Filme seit den 1920er Jahren hat zuletzt Robin Curtis (2006, 61-63) systematisch auf Lipps’ Einfühlungstheorie Bezug genommen; vgl. auch Curtis 2008a. 8 Die Ansätze von Lipps und Ryan werden hinsichtlich ihres Beitrags zur Erhellung des Phänomens filmischer Immersion auch von Curtis (2008b, in diesem Heft) diskutiert. Fiktionale Immersion 73 Wichtig ist für Lipps, dass das einfühlende Erfassen einer lebendigen Kraft ohne weitere Präsuppositionen von Wirklichkeit auskommt. Die so unmittelbare wie unstrittige Empfindung von Lebendigkeit in der ästhetischen Einfühlung ersetzt die Realitätsprüfung und macht ratio- nale Begründungen für Existenzannahmen überflüssig, wie sie für un- ser Verhältnis zur empirischen Welt ansonsten leitend sind. Unter ‹äs- thetischer Einfühlung› versteht Lipps die kinästhetische Nachahmung eines optisch empfangenen Ausdrucks. Dies verdeutlicht er am Bei- spiel von affektivem Verstehen.9 Die Muskel-, Haut-, Tast- und Organ- empfindungen, die mit Affekten einhergehen, bilden die fühlbare, kin- ästhetische Signatur des Affekts, der sich nach außen mimisch-gestisch ausdrückt. Die Verknüpfung von inneren Bewegungsempfindungen mit ihren gestisch-mimischen Außenseiten erfolgt in der Einfühlung erlebnisartig und somit weder auf assoziative noch auf logische Weise. Projektive Einfühlung beschränkt sich nicht auf den Kontakt zwi- schen Lebewesen. Lipps zufolge haben auch Farben, Formen, Klänge, Räume und Dinge eine Bewegungsrichtung, ein Gewicht, Atmosphä- ren, taktile Dimensionen, die wir allesamt kinästhetisch nachempfinden und daher mit einer Innerlichkeit ausstatten können, die unserer eige- nen entspricht. Auf die materiell bedingten Anmutungsqualitäten der Dinge und Bildeindrücke kann man zudem auf zwei Weisen reagieren: Entweder sie widerstreben uns, oder sie kommen unseren eigenen Vi- talkräften und leiblichen Tendenzen entgegen. Im ersten Fall haben wir es nach Lipps mit negativer Einfühlung zu tun, im letzteren mit posi- tiver. Überträgt man diese Unterscheidung auf fiktionale Gegenstände, so hilft sie zu erklären, inwiefern fiktionale Immersionen gradierbar sind: Nicht jede einfühlende Wahrnehmung, die uns etwa ein Spielfilm dank der gewählten Mittel und Techniken als seine Realität offeriert, ist uns auch willkommen. Da Lipps selbst den Anspruch erhebt, mit sei- ner Theorie ästhetischer Einfühlung einen Grundmodus ästhetischer Erfahrung konzeptualisiert zu haben, scheint mir die Übertragung auf den von ihm selbst nicht thematisierten Film durchaus legitim. Produktiv ist die einfühlungstheoretische Lesart von Lipps im Ver- hältnis zur Frage der Immersion in Filme, weil sich damit erhellen lässt, wie Film und Zuschauer gewissermaßen qualitativ verschmelzen kön- nen, wobei zugleich die eigenständige Lebendigkeit des Filmgeschehens auf nicht-abstrakte, plastische Weise greifbar wird: als kinästhetisch wahr- nehmbare Erscheinung. Problematisch daran ist allerdings, dass hier ein 9 Zur Universalität emotionaler Ausdrucksweisen vgl. Ekman (1980); zur Universalität narrativer Schematisierung von Emotionen Hogan (2003). 74 montage AV 17 /2 / 2008 spezieller Zug ästhetischer Immersion auf Kosten anderer verabsolutiert wird. Die kinästhetische Form der Einfühlung ist ja eingeschränkt auf einen Realitätseindruck, der gänzlich einem somatischen Empfinden ent- springt (vgl. Brinckmann 1999). Doch schon die Selbstständigkeit, mit der filmische Figuren zu handeln und sich zu bewegen scheinen, sowie der Eindruck von intentionaler Mentalität statten das Filmgeschehen mit einer Lebendigkeit aus, welche die rein kinästhetische und somit vorsemantische Form von einfühlender Lebendigkeit überschreitet. Assoziative Bezüge zu anderen Werken oder auch zu lebensweltli- chen Zusammenhängen herzustellen fällt für Lipps bereits unter die Kategorie des intellektuellen, nicht mehr ästhetisch einfühlenden Ver- haltens. Was wir über implizit regelgeleitete, assoziative Verknüpfungen von x und y (Zeichen und Gegenstand im weitesten Sinne) erfahren, ist für ihn ein bloßes Abstraktum, insofern darin nur das einseitige und subjektivistische Erfahrungsgemäße von Gegenständen oder Hand- lungen gespiegelt würde und gerade nicht die Natur der erscheinen- den Dinge, wie sie in sich selbst sind. Für einen assoziativ-intellektu- ellen Zugriff auf Filme müsste dann dasselbe gelten: Dieser vermag entsprechend lediglich die logischen Beziehungen zwischen den fil- misch präsentierten Dingen und Elementen auf Kosten anderer, zum Beispiel ihrer affektiven Beziehungen, in den Vordergrund zu stellen. Das jedoch würde bedeuten, die filmischen Darstellungen unter dem Gesichtspunkt gewohnter Schlussfolgerungen – und demnach intel- lektualistisch verkürzt – zur Kenntnis zu nehmen. Ästhetische Einfühlung zielt hingegen nach Lipps darauf, sich am Ei- genwert eines Objekts unmittelbar wahrnehmend zu erfreuen. Da Ob- jekt und Akt im Prozess kinästhetischer Einfühlung ineinander überblen- det werden, sind für das sich einfühlende Subjekt erst über anschließende Reflexionen Alter und Ego, Film- und Zuschauerposition analytisch un- terscheidbar. Folglich sind Reflexionsleistungen für Lipps stets post- und anti-immersiv: Vollkommene Einfühlung schließt Reflexion ebenso aus wie die Distinktion von Subjekt und Objekt. Ästhetische Einfühlung besteht im besten Fall darin, in einem optisch Wahrgenommenen voll- ständig aufzugehen. Dann erst wird für Lipps der eigentliche ästhetische Zweck erreicht, der Freiheitsgewinn, den er folgendermaßen beschreibt: Bin ich von meinem realen Ich frei und frei von dem, das außerhalb des ästhetischen Objekts liegt, bin ich ganz in ihm, dann verwirklicht sich in ihm meine ganze Kraft der Auffassung und Bewertung. […] Ich bin nicht nur frei von allem außer dem Objekte und meinem realen Ich, sondern ich wirke und lebe auch in dem Objekte frei mich aus (Lipps 1906, 89). Fiktionale Immersion 75 Das sich einfühlende Ich, so lässt sich der von Lipps artikulierte Ge- danke auf die Situation der Immersion in den Film übertragen, verliert während dieser hingebungsvollen Versenkung beispielsweise seine ei- gene Geschichtlichkeit und lebensweltliche Verortung, wird also durch die Immersion irrealisiert. Das ästhetische Ich ist dann auf der Erleb- nisebene und damit für Lipps auch objektiv selbst von irrealer Exis- tenz, da es sich in die Instanz der formgebenden Lebendigkeit eines äs- thetischen Gegenstandes aufgelöst hat. In diesem vermeintlich idealen Zustand soll alle differenzierende Reflektiertheit ausgelöscht bleiben. Wenn wir aber bereits im Alltag in der Lage sind, uns sogar in logi- sches und wissenschaftliches Denken zu vertiefen, warum sollten dann diese Formen von absorbierter Aufmerksamkeit für das Ästhetische kei- ne Rolle spielen? Wir ‹beseelen› Dinge wie Texte und Bilder auch da- durch, dass wir ihnen Geist zuschreiben – aber das ist eine andere Form der Einfühlung als die ausschließlich bei Lipps thematisierte kinästheti- sche. Man könnte sogar anfügen, dass wir ohne kognitive Interventionen wie etwa Antizipationen und Schlussfolgerungen überhaupt nicht in der Lage wären, erzählende Kunstformen aufzunehmen und zu goutieren, weil in diesem Fall der notwendige Vorgriff auf die Zukunft entfiele. Wenn wir nicht in der Lage sind, die kausale und logische Wahrschein- lichkeit sowie narrative Kohärenz antizipierbarer Handlungsverläufe zu ermessen, funktioniert beispielsweise kein Spannungserleben – und dies sind nun einmal kognitive, zum Teil auch reflexive Operationen. Weil Lipps die Erfahrungen kinästhetischer Regungen isoliert, ist ästhetische Einfühlung bei ihm auf solche Selbstaffektionen beschränkt. Betrach- ten wir aber das Feld möglicher Immersionen im Alltag sowie bezogen auf die Künste, so zeigt sich ein anderes Bild: Immersion, als Absorption verstanden, scheint von sich aus indifferent gegenüber den Unterschie- den zwischen somatischen, affektiven oder kognitiven Aktivitäten. Das heißt, wir können in Schmerzen ebenso wie in Emotionen, in künst- lerische Darstellungen oder auch in philosophische Reflexionen ab- sorbiert sein. Und schaut man sich die Rezeptionsgeschichte etwa der Filme von Hitchcock oder Tarantino an, so scheinen die Möglichkeiten von immersiver Einlassung auch im Falle des Spielfilms intellektuelle und affektive Qualitäten problemlos zu verbinden. Der Unterschied zwischen alltäglichen und fiktionalen oder ästhe- tischen Immersionen ist dann aber kein phänomenologischer, son- dern einer ihrer Rahmungen und der damit verbundenen normati- ven Zwecksetzungen. Solche Rahmungen und Zwecke in die eigene Reaktion auf ästhetische Gegenstände reflexiv einzubeziehen hieße aber gerade, entgegen Lipps’ Vorstellung vom sich gänzlich entlee- 76 montage AV 17 /2 / 2008 renden Ich, keinesfalls den realen Boden unter den Füßen zu ver- lieren. Wenn die eigene historische und raumzeitliche Annullierung tatsächlich der Preis unserer ästhetischen Einlassung wäre, würde dies wohl nur Todessehnsüchtige anziehen. Dieser Aspekt der vollständigen Selbsttransformation in und durch ästhetische Immersion scheint mir überdramatisiert; es empfiehlt sich, die institutionellen und pragma- tischen Dimensionen des (Film-)Ästhetischen in die Thematisierung fiktionaler Immersion einzubeziehen. Fiktionale Immersion als Weltensprung An den Aspekt des Einflusses von Rahmenbedingungen auf die eigenen Einstellungen gegenüber ästhetischen Darstellungsformen knüpft die Li- teratur- und Medienwissenschaftlerin Marie-Laure Ryan an. Für sie be- steht die Voraussetzung zu fiktionaler Immersion insbesondere darin, die Bereitschaft und Fähigkeit aufzubringen, sich aus der perspektivischen Zentrierung innerhalb der realen Welt hinüber in eine andere zu verset- zen. Während sich zunächst der empirisch reale Weltenraum mit seinen physikalischen Gesetzmäßigkeiten um uns herum schließe, krümme sich beim immersiven Übergang in einen Film dessen fiktionaler Raum so um uns, dass nun dieser, temporär begrenzt, zur maßgeblichen Umwelt für unsere darauf bezogenen Einschätzungen und Ableitungen werden könne.10 Diese Verschiebung des referenziellen Bezugshorizontes sowie unserer mentalen Selbstlokalisierung beschreibt Ryan als einen ‹Modus der Re-Zentrierung› (recentering; Ryan 2001, 103). Der signifikante Un- 10 Vgl. zur räumlich und logisch verstandenen Umschließung in immersiver Erfahrung den Beitrag von Wirth und Hofer (2008) in diesem Heft. Ryan selbst thematisiert nicht, ob die von ihr beschriebene Rezentrierung auch für die Rezeption von Doku- mentarfilmen einschlägig sein soll. Doch wenn letztlich die pragmatische Rahmung ausschlaggebend für die Unterscheidung von fiktionalen und nichtfiktionalen Dar- stellungsformen ist, so müsste nach meinem Verständnis von Ryans Taxonomie der Dokumentarfilm als eine Hybridform sui generis zwischen faktischer und fiktionaler Darstellung changieren. Denn auch Dokumentarfilme schaffen Sichtbarkeiten von Ereignissen und Dingen, die es außerhalb des Filmischen nicht gibt. Gleichwohl erhe- ben sie den Anspruch, mit den Mitteln der Kombination, Vedichtung und systemati- schen Auslassung auf reale Zusammenhänge hinzuweisen. So kündet etwa Let’s Make Money (Erwin Wagenhofer, A 2008) aufklärerisch von den verheerenden sozialen, ökologischen und politischen Folgen der derzeit herrschenden spekulativen Zirkula- tion von Geld, Gütern und Arbeit unter globalisierten, neoliberalen Gesichtspunkten und kreiert zugleich eine ästhetische Visualität gebrochener Perspektiven, abstrakt- malerischer Ansichten und bildreflexiver Spiegelungen, die den inszenierten Charak- ter der Einstellungen betonen. Die Immersion changiert zwischen moralischer Em- pörung bei gleichzeitig reflexivem Genuss der stilistisch streng komponierten Bilder. Fiktionale Immersion 77 terschied zwischen ästhetischen und anderen Imaginationen liegt für sie auf einer pragmatischen Ebene: Wenn wir in wissenschaftlichen oder all- täglichen Kontexten mit kontrafaktischen Annahmen operieren, in de- nen Propositionen mit dem Prädikat der Nicht-Faktizität ausgezeichnet sind, bleibt das Bewusstsein in der empirischen Lebenswelt verankert, wird die mögliche Welt gewissermaßen von außen in Augenschein ge- nommen. Maßstab der Aussagekraft solcher Hypothesenbildung bleiben also die Gesetze, die Geschichtlichkeit und die Grenzen unserer fakti- schen, empirischen Welt, auf die wir die Hypothesen ihrem Gehalt und ihren Konsequenzen nach rückbeziehen. Im Falle der Immersion in einen Film dagegen werden Propositi- onen über die dargestellten Ereignisse und Entitäten nicht bloß un- ter das Prädikat ihrer Nicht-Faktizität gestellt, nach dem Motto: Die Aliens existieren nicht wirklich, aber dennoch tun wir so, als ob es sie gäbe.11 Vielmehr prädizieren wir den projektiv stets ergänzten Ereig- nissen und Figuren auf der Leinwand oder dem Bildschirm auch ganz direkt eine aktuell erfahrbare, lebendige Faktizität, die nicht mit der vermeintlichen Faktizität der Referenten identisch ist oder, wie im Falle nicht real existierender Wesen, etwa der Aliens, damit auch nur identisch sein könnte. Dabei, so Ryan, schlagen wir gerade Profit aus der Tatsache, dass wir normalerweise die erlebbare Aktualität von Sei- endem indexikalisch definieren. Das besagt: Weil die Dinge nicht nur intentional, sondern auch kausal auf uns einwirken, erfassen wir sie als reale. Die filmimmanente, indexikalische Basis ist aber gerade nicht identisch mit der unserer physikalischen Lebenswelt, auch wenn die fiktionalen Zeichen und Bilder ihrer materiellen Genese nach sehr wohl in kausalen Relationen dazu stehen.12 Die indexikalische Ba- sis für unsere fiktionalen Immersionen wird in der Darstellungsform 11 Dieses augenzwinkernde ‹Ich weiß, aber dennoch› ist von dem französischen Psy- choanalytiker Octave Mannoni (in einem Text gleichen Titels, 1964) geprägt und in der psychoanalytischen Filmtheorie oft zitiert worden. Robert Pfaller (2002) zufolge ist es eine psychologisch wirksame Maßnahme zum Unterlaufen von Ichideal-An- sprüchen, mithilfe derer man sich u.a. Lizenzen für den Genuss am Verbotenen, Fik- tiven und sogar Verächtlichen zu verschaffen vermag. Dabei würden «Einbildungen ohne Eigentümer» (ibid., 261) produziert, deren Entlastungsfunktion darin bestehe, das Genuss störende Unwissen über fiktionale Illusionen an unsichtbare Dritte zu delegieren. Sofern man selbst, im Kontrast zu einem solchen imaginierten naiven Zuschauer, explizit nicht an die Realität einer Fiktionsbildung glaube, könne man sich im Spiel damit umso ernster darauf einlassen (vgl. ibid., 128ff). 12 Dazu Ryan: «An image obtained by mechanical means is not only an icon bearing a visual resemblance to an object but also an index related to its referent through a causal relation: the mark on a sensitive surface of the patterns of light reflected by the object» (2006, 37f). 78 montage AV 17 /2 / 2008 eines Spielfilms mitgeliefert. Die Anfangssequenzen mit ihren klassi- schen establishing shots, die der Orientierung des Zuschauers in Raum und Zeit dienen, übernehmen zum Teil diese Funktion (vgl. Hart- mann 2009, Kap. 3). Ebenso liefern uns die Handlungssequenzen und Einstellungen eine axiomatische Basis für sämtliche Inferenzen inner- halb ihres vermeintlich ontologisch und logisch geschlossenen Raums. Das bringt Ryan zur Unterscheidung modaler Universen: Counterfactuals function as telescopes, while fiction functions as a space- travel vehicle. In the telescope mode, consciousness remains anchored in its native reality. [...] In the space-travel mode, consciousness relocates itself to another world and recognizes the entire universe of being around this virtual reality. I call this move recentering. [...] Insofar as fictional worlds are, objectively speaking, non-actual possible worlds, it takes recentering to experience them as actual (Ryan 2001, 103). Ryan zufolge vollzieht sich fiktionale Immersion in der Umlenkung der eigenen Perspektivierungen auf ein präsentiertes Geschehen bei gleichzeitigem Wechsel des Bezugshorizontes. Ein mitlaufendes Be- wusstsein des ‹Gemacht-Seins› eines Spielfilms oder Romans ist für sie mit fiktionaler Immersion nur dann kompatibel, wenn die entspre- chenden Verfahren hinreichend subtil bleiben. Hingegen verunmögli- che ein demonstratives Durchbrechen der Transparenz des Mediums die immersive Nutzung, wenn dadurch die Aufmerksamkeit des Be- trachters auf die mediale Machart hin und vom Dargestellten abge- lenkt werde.13 Tendenziell verhalten sich für Lipps wie für Ryan ästhe- tische oder fiktionale und reale Welten disjunktiv zueinander.14 Diese unterschiedlichen Weltenbezüge in einem immersiven Modus mitein- ander zu verbinden scheint nur begrenzt oder gar nicht möglich. Doch in dieser Sicht bleibt die wirksame ‹Als-ob›-Markierung, die jedem Film unabhängig von allen Gattungs- und Genreunterscheidun- gen eingetragen ist, ausgeblendet. Die basale, Fiktionalität markierende 13 Mit medienreflexiven Brüchen spielen anti-narrative und anti-illusionistische Stra- tegien des Experimentalkinos und anderer Kunst-Avantgarden, die Ryan als anti- immersiv fasst (vgl. 2001, 171f). Im strukturellen Film werden etwa Schwarzfilmpro- jektionen und Materialbeschädigungen verwendet, um auf die materielle Basis des Films zu reflektieren. 14 Hier sei daran erinnert, dass Lipps den Term ‹ästhetisch› für sämtliche künstlerischen Sachverhalte und Darstellungsformen verwendet, die ihm zufolge allesamt eine rein «ideelle Existenz» in der Imagination von Künstlern und der sich ästhetisch einfüh- lenden Rezipienten haben (Lipps 1906, 79f). Fiktionale Immersion 79 mediale Rahmung führt ja erst zurmAussetzen der anpassungsfunktio- nalen Realitätsüberprüfung, welche die Bedingung dafür ist, dass unse- re Aufmerksamkeit vor der Leinwand oder dem Bildschirm überhaupt freigesetzt wird. Insofern haben wir es nicht nur, wie Ryan meint, mit einem logisch-semantischen Referenzwechsel, sondern auch mit einer performativ-leiblichen Rezentrierung des Zuschauers auf das Lein- wandgeschehen hin zu tun. Eine vollständige ‹Selbstentleerung des Ichs› (Lipps) in eine Fiktion hinein ist, wie zuvor bereits ausgeführt, ebenso wenig möglich wie eine vollständige Relokalisierung des eige- nen Selbst (Ryan), weil wir trivialerweise unsere diesseitige Verortung, Lebenserfahrung und Leiblichkeit auch vor Filmen nicht abstreifen können. Unsere physisch-geistige Leiblichkeit bleibt die unhintergeh- bare, materielle und transzendentale Bedingung jeglicher Erfahrung, auch der ästhetischen.15 Es gibt keinen lebensfernen Standpunkt, von dem aus wir uns wie eine Tabula rasa mit ästhetischen Dingen neutral konfrontieren könnten. Das müsste dann aber in einer theoretischen Beschreibung von fiktionaler Immersion berücksichtigt werden. Wenn Immersion jedoch nicht auf einen eigenständigen Zustand re- duziert werden kann, sei es auf die Wahl eines perspektivischen Stand- orts oder auf den der kinästhetischen Nachahmung, bleibt noch die Möglichkeit, sie eher funktional als eine Anschubkraft gesteigerter Aufmerk- samkeit für ganz unterschiedliche mentale und körperliche Regungen zu be- trachten. Dann wäre ein Wechsel zwischen mehr affektiven und wiede- rum stärker kognitiven Formen immersiver Bezüge, einhergehend mit einem Nachlassen der Aufmerksamkeit mal auf der einen, mal auf der anderen Ebene, umstandslos unter das Konzept fiktionaler Immersion zu subsumieren. Nicht jede Ebene unseres Bewusstseinssystems ist ja in gleichem Maße durchgehend aktiviert, während wir einem Film folgen. Narrative Antizipationen und Retrospektionen, intertextuelle Bezüge sowie die emotionale Anteilnahme an den Charakteren und Konflik- ten fließen in unsere Immersionen ebenso ein wie physische und stim- mungsmäßige Reaktionen auf die materialästhetischen Eigenschaften der gewählten Darstellungsmittel. Die Selbstverständlichkeit, mit der solche multiimmersiven Bezüge im Falle des Spielfilms möglich sind, sollte weder durch einen zu strikten Welten- und Erfahrungsdualismus – wie dem von Ryan – noch durch ein allzu anti-repräsentationales Ver- ständnis von Immersion – wie dem von Lipps – aus dem Blick geraten. 15 Eben diese Einsicht ist der Ausgangspunkt von Sobchacks (1992) phänomenologi- schen Rezeptionsanalysen. Ähnliche Überlegungen finden sich bei Hansen 2004; Jones 2006; Rodowick 2007. 80 montage AV 17 /2 / 2008 Immersion und das Imaginäre Gegen ein duales Oppositionsverhältnis von Realem und Fiktivem hat Wolfgang Iser (1983) ein um den Begriff des ‹Imaginären› erweiter- tes, triadisches Modell fiktionaler Rezeption gesetzt. Innerhalb seiner Theorie rücken die unhintergehbare Selbstanzeige aller Fiktion sowie die Kategorie des Imaginären ins Zentrum. Ästhetische Fiktionsbil- dungen bezeichnen nicht etwas außerhalb von ihnen Bestehendes, son- dern verweisen, so Iser, von sich aus auf die bloße Vorstellbarkeit von etwas (vgl. ibid., 133). An dieser Selbstanzeige der Fiktion setzt das Imaginäre an, das mit dem, was wir unter ‹Immersion› fassen, zusam- mengedacht werden kann. Iser definiert das Imaginäre als ein in sich selbst unbestimmtes und gegenstandsloses Vermögen, das offen ist für die Prägungen medialer Vorgaben und eine Aktualisierung latenter Bedeutungsstrukturen fik- tionaler Gebilde leistet. Was in Texten oder Filmen über «Akte des Fin- gierens» (ibid., 122-135), das heißt durch Selektion und Kombination zu einer Sinneinheit konstelliert ist, muss Iser zufolge stets vom Rezi- pienten um systematisch Ausgelassenes zu einer imaginären Gestalt er- gänzt werden. Als Resultat solch aktiver Mitgestaltung weist das Ima- ginäre immer schon über die mediale Materialität der es speisenden Vorlage hinaus. Realistische Momente und auch Gefühle spielen dabei in Fiktionen hinein, ohne dort aber um ihrer selbst willen wiederholt zu werden. Ästhetische Rezeption oszilliert daher zwischen einer im Vorstellen zu erbringenden Aktualisierung von Sinn und einer gleich- zeitigen Irrealisierung der als realistisch wiedererkannten Momente der fiktionalen Darstellung.16 Dabei fungiert das Imaginäre als diffe- renzielle und dynamische Brückenfigur, die sich, irreduzibel auf einen der beiden Pole, als drittes Element zwischen das Reale und das Fikti- ve schiebt. Das Imaginäre wirkt als Kraft, die sich nur in Abhängigkeit von Fingiertem (d.h. von Darstellung) als dessen sinnhafte Bestimmt- heit manifestiert und sich daher nicht unabhängig ontologisieren lässt. In der triadischen Wechselbeziehung von Realem, Fiktivem und Ima- ginärem – und nicht im Oppositionsverhältnis zum Wirklichen/Re- alen – verkörpert sich für Iser die Beschaffenheit aller Fiktion. Seine 16 ‹Irrealisierung› bedeutet, dass ein wiedererkennbares Element einer Darstellung (das kann auch ein Gefühl sein) dem ursprünglich realen Kontext, aus dem wir es ken- nen, enthoben ist und zum fiktionalen Element umgewertet wird. So wird etwas Wirkliches – wie z.B. die Stadt Paris – in die Zeichenhaftigkeit einer Darstellung von Paris etwa bei Proust transformiert, wo es als Allegorie oder Bild für etwas An- deres steht. Fiktionale Immersion 81 Charakterisierung des Imaginären ist für das Phänomen ‹Immersion› relevant: Gleichzeitig wird deutlich, was das Fiktive […] auszeichnet. Wird die im Fingieren wiederholte Realität zum Zeichen, dann geschieht zwangsläu- fig ein Überschreiten ihrer Bestimmtheit: Der Akt des Fingierens ist folg- lich einer der Grenzüberschreitung. Darin bringt sich seine Verbindung mit einem Imaginären zur Geltung. Dieses ist in seiner uns durch Erfahrung bekannten Erscheinungsweise diffus, formlos, unfixiert und ohne Objekt- referenz. Es manifestiert sich in überfallartigen und daher willkürlich er- scheinenden Zuständen, die entweder abbrechen oder sich in ganz anderer Zuständlichkeit fortsetzen (ibid., 20f). Im Imaginären mündet demzufolge der Prozess eines immersiven En- gagements, angesichts eines zeichenhaft operierenden Mediums wie der Literatur oder dem Film. Dabei wird ein realitätsbezogenes Erfah- rungswissen mit phantasiehaften Abweichungen anhand der Material- konstellation der medialen Vorlage zu einer imaginären Darstellungs- form eigener Realität und Intentionalität transformiert. Insofern ist das Imaginäre seiner eigenen Natur nach ungreifbar, weil es ja formal nur die polymorphe Antriebskraft bezeichnet, mit der reversible Bestim- mungen von zeichenhafter und expressiver Bedeutung einer medialen Vorlage verarbeitet werden können. Die prinzipielle Unbestimmbar- keit des Phänomens bei gleichzeitiger Wirkungsmacht kann nun zur positiven Bestimmung auch der polymorph verstandenen Immersion werden, wie wir sie in den vielseitigen Dimensionen affektiver, kogni- tiver und synästhetischer Einlassung auf Film vorfinden. Multiimmersivität als Index der ephemeren Filmrealität Fassen wir kurz die drei bisher skizzierten Bestimmungen von Im- mersion zusammen, ergibt sich folgendes Resultat: Werden bei Lipps kinästhetische Nachahmung und bei Ryan der modallogische Refe- renzwechsel auf Kosten anderer Formen von Immersion einseitig her- vorgehoben, so ist das unbestimmte Imaginäre bei Iser eine offenere Kategorie, welcher die beiden anderen (und auch noch weitere, bisher ungenannte Ausformungen von Immersion) ergänzend an die Seite gestellt werden können. Zu dem, was wir eingangs als hervorstechende phänomenologi- sche Eigenschaft des Films benannt haben, nämlich seine indikativi- 82 montage AV 17 /2 / 2008 sche Evidenz, gehört, dass wir mit vermehrter Aufmerksamkeit so- wohl unsere Vorstellungsmöglichkeiten (Imaginationen) wie unseren Organismus (Somatik, Gefühle) gleichsam in ihn ‹einspeisen›.17 Bei der Absorption in ein multimediales Filmgeschehen fundiert offenbar ein komplexes Zusammenspiel von kognitiven, affektiven und synäs- thetischen Reaktionen den evidenten Realitätseindruck.18 Trifft diese phänomenale Charakterisierung zu, so wird ein entsprechend ausdif- ferenziertes Konzept von Immersion erforderlich, eines, das die ge- nannten Dimensionen umfasst. Und auch die Filmerzählung, so gilt es ergänzend anzufügen, stellt keineswegs bloß eine abstrakte Hinter- grundstruktur dar, wie es eventuell die kinästhetisch reduzierte Deu- tung von Immersion bei Lipps nahelegen könnte. Vielmehr, so lautet mein Vorschlag, fungiert die narrative filmische Struktur als aussagba- re, Sinn stiftende Ordnung unserer durch den Film verursachten im- mersiven Bewusstseinsregungen. Während der Rezeption wird jedoch unser Bewusstsein nie, wie in Traumzuständen, gänzlich vom Filmge- schehen besetzt; die reale Rezeptionsumgebung wirkt weiterhin auf uns ein, wie subliminal auch immer. Eben deshalb halten wir auch nicht jede gegebene Regung, beispielsweise ein Jucken im Knie, für einen Immersionseffekt des Films, mit dem wir gerade noch so ver- strickt sein mögen. Diese Unterscheidung von filmzugehörigen und sonstigen Regungen ist aber nur deshalb möglich, weil selbst unsere körperlichen Empfindungen ausschließlich durch unser Informiert- sein über ihre Kontextzugehörigkeit das für uns sind, was sie sind. Eine unvollständige Relokalisierung angesichts von Spielfilmen, so lie- ße sich Ryans Vorschlag variieren, greift dann ästhetisch, wenn auf Ba- sis unserer immersiven Partizipationen geistiger und körperlicher Art die filmische Erzählhandlung zur vorübergehend fokussierten Matrix unserer Einlassungen wird. Dass wir dabei zeitgleich die Gewissheit verspüren, im Kino oder vor dem Fernseher zu sitzen, schmälert die Hierarchisierung von vordergründiger und hintergründiger Wahrneh- mung nicht, sondern konstituiert sie. Was erlebnishafte und affektiv wirksame Gestalt im Vordergrund unserer Wahrnehmung annimmt, ist, mit Iser formuliert, ein Imaginäres. Die Eingangsfrage dieses Beitrags, was fiktionale Immersion im Falle des Films zu leisten vermag, kann jetzt folgendermaßen beant- wortet werden: Durch unsere multiimmersiven Einlassungen erhält 17 Diesen Vorgang beschreibe ich an anderer Stelle als «Leihkörperschaft des Zuschau- ers»; vgl. Voss 2006. 18 Wird dies dann als ‹Welt› zusammengefasst, so ist dagegen nichts einzuwenden. Fiktionale Immersion 83 jede Filmfiktion ihren eigenen imaginären Index, aus dem sich ihre rezeptionsabhängige, ephemere Realität speist. Mit diesem paradox anmutenden Neologismus eines ‹imaginären Indexes› sei nochmals die Einheit folgender Merkmale angesprochen: Der Anteil des Imaginä- ren zeigt den Ort sowie die Beschaffenheit dessen an, was in der Re- zeption zu filmischer Realität verarbeitet wird. Es bezeichnet den im Zwischenraum zwischen Leinwand oder Bildschirm und Rezipienten stattfindenden leiblichen Austausch, der zu jenen filmischen Gestalt- bildungen führt, die sich aus den Vorgaben des Films und den projekti- ven Einbringungen des Zuschauers als Imaginäres ergeben. Der Hinweis auf das Indexikalische bringt zudem eine Verbind- lichkeit und kausale Erdung in das Verhältnis der immersiven Semi- otisierung von Film ein, die nun allerdings nicht in der referentiellen Funktion der verwendeten Zeichen im Verhältnis zu einem als real gedachten vorfilmischen Ereignis begründet ist. Seit Charles Sanders Peirce wird das indexikalische Verhältnis eines Zeichens zu seinem Ge- genstand ja bekanntlich in Abgrenzung zur symbolischen Relation, die auf Konvention beruht, sowie zur ikonischen, welche auf Ähnlichkeit beruht, in einer Kausalrelation gesehen, die eine raumzeitliche Ver- bindung von Zeichen und Gegenstand impliziert (vgl. Peirce 1986, 429ff). Im Unterschied zu natürlichen indexikalischen Zeichen wie etwa zum Rauch, der als Zeichen für Feuer fungieren kann, gilt für künstliche indexikalische Zeichen, dass der Zusammenhang zwischen ihnen und ihren Gegenständen durch eine Kommunikationssituation erzeugt ist, wobei außerhalb und unabhängig von dieser nicht klar ist, worauf sich die indexikalischen Zeichen beziehen. Dies gilt beispiels- weise für sprachliche Pronomen wie ‹dieser› oder ‹jener›. Auf Film bezogen, so mein Vorschlag, lässt sich dieses strikte kau- sale und logische Abhängigkeitsprinzip der zeichenhaften Bedeutung künstlicher Indexe auf die Situation immersiver Filmrezeption übertra- gen. Was im Kontext der fiktionalen Immersion mit Film an kausalen Verbindungen eine nicht nur produktionstechnisch gegebene, sondern qualitativ-ästhetisch bestimmende Rolle spielt, sind eben jene verkör- pernden Transformationen, die durch den multiimmersiven Einsatz des Rezipienten in somatischer und imaginativer Hinsicht dem Gezeigten Realität verleihen. Eine filmische Qualität, wie etwa die kalte Atmo- sphäre eines Films von Ingmar Bergman, lässt sich nicht unabhängig von solchen Transformationen gewinnen. Die Möglichkeit, Gegen- stand filmischer Immersion zu werden, ist demzufolge nicht unabhän- gig von den immersiven Einlassungen identifizierbar. Erst in den auch kausalen Wechselwirkungen von Leinwandgeschehen und Rezipien- 84 montage AV 17 /2 / 2008 tenleib emergiert die lebendige Realität allen Filmgeschehens, wie sie sich in der Immersion kundtut. Die Schwingungen, Gefühle, kinästhe- tischen Veränderungen und affektiv-kognitiven Horizontbezüge bilden insgesamt den kausal-semiotischen Index des Films. Wenn diese noch bruchstückhaften Überlegungen zutreffen, so wird fraglich, ob es sich bei der im Prinzip multiimmersiven Einlas- sung auf Spielfilme tatsächlich um das Verfolgen und die Präsupposi- tion einer ‹Welt› handelt oder handeln muss. Kann es nicht sein, dass gerade die ephemere und imaginäre Realität des filmischen Medi- ums uns von der weiteren Verortung eines präsentierten Ereignis- und Handlungsablaufs in eine Welt ebenso entbindet wie uns selbst von ei- ner entsprechenden Notwendigkeit zur Selbstlokalisierung in einer solchen? Zwar spinnen wir im Geiste das filmisch Dargestellte über den engen Rand der Bildschirm- oder Leinwandbegrenzung hinaus semiotisch fort. Aber die Möglichkeit, dabei eine vollständige und ge- schlossene Welt zu ersinnen, bleibt begrenzt und ist auch unnötig. Was, wenn Filme gar keine Welten oder umfassenden Weltsichten bieten und hinsichtlich der wahrnehmbaren Verortung des Präsentierten in ein Raumzeitkontinuum unabschließbares Fragment bleiben? Was, wenn jede filmische Erzählung immer nur auf einer einzigen, dafür umso kurvenreicheren phänomenalen Zeitachse existierte, und zwar auf der unseres multiimmersiven Erlebens? Man kann nun bestreiten, dass die hier herangezogenen Ansätze an- gemessene Deutungen des Phänomens ‹Immersion› darstellen. Dann wäre allerdings eine stärkere alternative Theorie vonnöten, und eine solche ist bisher nicht in Sicht. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die in Spannung zueinander geratenden und selbst teils opaken Cha- rakterisierungen des Phänomens integrativ zu denken. In diese Rich- tung zielt auch meine Intuition: Immersion erwiese sich dann aber nicht als ein psychologisch eindeutig bestimmbarer Zustand, sondern als die analytisch uneinholbare Einheit der mit jeder konkreten Re- zeptionssituation wechselnden kausalen, logischen und leiblichen Ein- lassungen auf einen filmischen Input. Schließlich möchte ich zumindest noch hinweisen auf eine ganz anders geartete Perspektive auf fiktionale Immersion, die womöglich die theoretische Beschäftigung weiterhin antreiben wird: Das opake Phänomen der Immersion fungiert auch als eine Metapher filmäs- thetischer Rhetorik, mit der eine ihrerseits utopische Form filmischer Rezeptionsmöglichkeit aufgerufen wird – die Utopie nämlich, eine lebendige und sinnhafte Zeitlichkeit ohne festen Horizont und ohne eigene Finalität erfahren zu können. Fiktionale Immersion 85 Literatur Brinckmann, Christine Noll (1999) Somatische Empathie bei Hitchcock: Eine Skizze. 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(nostalgia) von Hollis Frampton, 1971 Immersion und Einfühlung Zwischen Repräsentationalität und Materialität bewegter Bilder Robin Curtis Der Begriff der Immersion, der erst seit wenigen Jahren überhaupt in der deutschen Sprache gebräuchlich ist, wird im Englischen seit lan- gem im Alltag verwendet und hat dort eine Vielfalt von Bedeutungen. Wortwörtlich bezeichnet Immersion in der ersten Definition des Ox- ford English Dictionary das vollständige Ein- und Untertauchen eines Objekts in eine Flüssigkeit. Im übertragenen Sinne wird das Wort auf unterschiedlichste Weise verwendet, um den Vorgang des Eintauchens oder den Zustand des Versunkenseins zu beschreiben, darüber hinaus aber auch häufig, um einen veränderten Zustand des Objekts als Er- gebnis dieses Eintauchens zu suggerieren: Das paradigmatische Bei- spiel hierfür ist die christliche Taufe, die im Englischen auch als immer- sion bezeichnet wird. Ein anderes Beispiel ist die total immersion beim Sprachunterricht, der darauf setzt, allein die Fremdsprache während des Unterrichts zu verwenden. In diesen beiden Fällen werden abwe- sende Umgebungen (das Paradies beziehungsweise die fremde Kultur) durch bestimmte Praktiken simuliert und spürbar gemacht. In der heutigen, für die Film- und Medienwissenschaft geläufigen Definition wird ‹Immersion› allerdings hauptsächlich als Synonym ei- ner Illudierungserfahrung1 gebraucht. Diese Erfahrung wird durch technische Apparate erzielt, die sowohl Zugang zu körperexternen (durch die Apparate vermittelte) Sinneserfahrungen wie auch zu fer- nen oder nur virtuell existenten Welten versprechen. Die Bezeichnung 1 Zum Begriff der Illudierung vgl. Koch/Voss 2006. 90 montage AV 17 /2 / 2008 immersive für die Erfahrung einer gefühlten Präsenz2 in künstlichen oder digital erzeugten Räumen hat sich in der englischen Sprache erst zögerlich ab den 1960er Jahren3 eingebürgert. Diese Anwendung muss allerdings als semantische Intervention verstanden werden, da ein Begriff bewusst umgewidmet wurde, der vorher schon eine lange Ge- brauchsgeschichte hatte. Erst in diesem neuen Anwendungsgebiet der Präsenzforschung brachte man den Ausdruck schnell mit den tech- nischen Voraussetzungen immersiver Erfahrung in Verbindung. Doch muss schon hier darauf hingewiesen werden, dass etwa der englische Satz I was completely immersed sich bis heute vordringlich auf die Re- zeptionserfahrung mit Büchern bezieht. Konkret heißt das, mit einer so überwältigenden Lektüre beschäftigt zu sein, dass man sich und sei- ne Umgebung ‹vergisst› und sich in die durch die Imagination entstan- dene Welt hineinversetzt fühlt. Die Umwidmung des Begriffs ‹Immersion› hin zu einer Fokussie- rung auf apparative Aspekte der Immersionserfahrung kam vor allem in Verbindung mit zwei Modellen in Gebrauch, die sich zunächst als hypothetische Projektionen in die Zukunft der Technik verstanden, nämlich die Telepräsenz und die virtual reality. Beiden Modellen ge- meinsam ist die Betonung der Apparatur als Katalysator, was etwa in einer Formulierung Marvin Minskys spürbar wird, die hier zitiert sei. In einem wegweisenden Text beschrieb er 1980 diese noch phantasti- sche Vorstellung: You don a comfortable jacket lined with sensors and musclelike motors. Each motion of your arm, hand, and fingers is reproduced at another place by mobile, mechanical hands. Light, dextrous, and strong, these hands have their own sensors, through which you see and feel what is happening. Using this instrument, you can ‹work› in another room, in another city, in another country, or on another planet. Your remote presence possesses the strength of a giant or the delicacy of a surgeon (Minsky 1980, 45). Diese Vision einer uneingeschränkten Erstreckung des menschlichen Körpers in ein näheres und ferneres Umfeld ist heute schon in ei- 2 Einen Überblick zu den vielfältigen Forschungsprojekten und lebhaften Debatten in der Präsenzforschung gibt das Journal Presence. Teleoperators and Virtual Environments, das seit 1992 bei MIT Press Journals erscheint. Vgl. hierzu Wirth/Hofer in diesem Heft. 3 Eine Suche bei Google Books ergibt schon ab den frühen 1960er Jahren vor allem im Kontext der Aerospace-Forschung mehrere Erwähnungen von der ‹immersiven› Qua- lität der Erfahrung, die durch die Apparaturen der virtual reality ermöglicht werden. Immersion und Einfühlung 91 nigen Arbeitsgebieten zum Alltag geworden.4 Das ist auch mit sehr realen Konsequenzen verbunden, da die Technik eine Deplatzierung des Nutzers in einen anderen, fernen ‹Echtraum› leistet, in dem dieser dann tatkräftig agiert. Im Gegensatz zum Phänomen der Telepräsenz besteht der Anreiz der virtual reality im Wissen um die Folgenlosigkeit der Erfahrung. Virtual reality verspricht eine räumliche Übertragung der Handlungsfähigkeit des Nutzers in eine digitale, virtuelle – und damit ungefährliche – Um- gebung. Auch wenn beide Techniken eine Deplatzierung des Nutzers bewirken, wurde die Freizeittechnik der virtual reality wesentlich häu- figer mit extremen Formen der Körperfusion in Verbindung gebracht. So etwa in der Vermengung des menschlichen Nervensystems mit ex- ternen Datennetzen, wie das zuerst vielleicht in William Gibsons Neu- romancer als ein «jacking-in» in die «Matrix» beschrieben wurde (Gibson 1984). Diskussionen, die an Gibsons (eigentlich dystopischer) Vorstel- lung anzuknüpfen versuchen, fußen in der Regel auf den apparativen Voraussetzungen für solch einen phantastischen Datenaustausch und damit auf einer technologischen Ergänzung des Körpers – wobei es einerlei ist, ob ein head-mounted display (HMD) mit einem Datenhand- schuh oder einem ähnlichen Haptikersatz kombiniert wird, denn die Kapazität für Immersion – das heißt für die Erstreckung des Körpers in eine andere ‹mögliche Welt› – wird jeweils in der Apparatur lokalisiert. Die Herausforderung für die Technik, so sah das Minsky damals, lag darin, Natur-ähnliche sensorische Reaktionswege zu entwickeln, die in der Lage sein sollten, haptische und kinästhetische Erfahrungen nachzuahmen, nämlich: «touch, pressure, textures, vibration. We must learn which sensory defects are most tolerable» (1980, 50). Minskys Position aus dem Jahr 1980 zeigt eine größere Offenheit gegenüber der Vorstellung von Präsenz oder Immersion als viele spätere Theorien. Das hat damit zu tun, dass er die Komplexität der Raumwahrneh- mung betont, diese aber als Fehlbarkeit der Sinnesorgane deutet.5 Ha- rold Rheingold, einer der ersten Kommentatoren dieser Szene, stellte in seinem 1991 erschienenen Buch Virtual Reality fest, dass für die da- maligen Forscher «haptic visualization» der Schlüssel für die virtuel- 4 Heutige Anwendungen schließen so unterschiedliche Hand- und Armersatztechni- ken ein wie etwa den so genannten ‹Canadarm› (oder ‹Shuttle Remote Manipulator System›) am Spaceshuttle im Weltraum oder auch die Telesurgery, die chirurgische Eingriffe mittels Roboter aus der Ferne ermöglicht. 5 Trotz der Arbeitsbezogenheit seiner Hypothese gilt auch für Minsky Folgendes: «The biggest challenge to developing telepresence is achieving that sense of ‹being there›» (ibid. 1980, 48). 92 montage AV 17 /2 / 2008 le Realität war: «Haptic VR works approximately twice as well as the next best method, by objective measures» (1991, 41).6 Es mag an dieser Feststellung deutlich werden, warum der Begriff ‹Immersion› und die sich in ihm abbildende Erfahrung heute noch stark mit apparativen Ermöglichungszusammenhängen in Verbindung gebracht wird. Immersion als wahrnehmungsphysiologisches oder apparatives a priori? Nach diesem historischen Abriss zeigt sich eine offene Frage, der ich hier – zwanzig Jahre, nachdem Rheingold 1988 in einem Forschungs- labor der NASA seine erste Begegnung mit virtual reality machte (1991, 15) – nachgehen will: Hat man die Immersionserfahrung, die man in euphorisierten Beiträgen sowohl zukunftsgerichtet zu ‹phantasieren› wie auch gegenwartsbezogen zu definieren suchte,7 nicht bisher in viel zu enge Grenzen eingeschrieben, weil man die Aufmerksamkeit zu stark auf die Apparatur richtete? Ich schlage deshalb vielmehr vor, die Immer- sion als Ergebnis komplexer Rahmenbedingungen der Rezeption zu verstehen, die die Konfrontationen mit textlichen Eigenschaften, Wahr- nehmungsstrukturen und den Leerstellen dazwischen voraussetzen. Es scheint höchste Zeit, die frühe Phase der Immersionsforschung aus einer historischen Perspektive neu zu betrachten, gibt es doch bei der bisheri- gen Betonung der technischen Apparatur einen systematischen Mangel an Komplexität, was den Rezeptionsvorgang der Immersion angeht. In diesem Sinne könnte der kunsthistorische Überblick zum im- mersiven Potenzial von Bildern, der von Oliver Grau in seinem 2003 erschienenen Virtual Art. From Illusion to Immersion angeboten wurde, als Abschlussbericht einer ersten Phase der Immersionsforschung gelten. Grau beschreibt ‹Immersion› zunächst als mentalen Zustandswechsel: In most cases immersion is mentally absorbing and a process, a change, a passage from one mental state to another. It is characterized by diminishing critical distance to what is shown and increasing emotional involvement in what is happening (Grau 2003, 13). 6 Rheingold stellt hier die Arbeit Ming Ouh-Youngs dar, der damals als Postdoctoral- Forscher in der Informatik an der Entwicklung des ARM – «Argonne remote ma- nipulator» (einem Handersatz) – gearbeitet hat. 7 Vgl. vor allem die in den 1990ern erschienenen Reihen von sehr erfolgreichen Bü- chern in hoher Druckauflage zu diesem Thema. Neben den schon erwähnten Tex- ten von Rheingold und Minsky vgl. auch Laurel 1991; Turkle 1995; Murray 1997; Heim 1998. Immersion und Einfühlung 93 Obwohl er offenbar Abschied von einer technophilen Bestimmung der Immersion nimmt, weil er von der Notwendigkeit eines Wahrneh- mungsersatzes (wie beim HMD und Datenhandschuh) absieht, rückt Grau nicht von einer apparativen Definition der Immersionserfahrung ab. Er beschreibt die Immersion als eine Universalie, indem er einen historischen Bogen schlägt, der von den Fresken Pompejis über die panoramatischen Raumerfahrungen des späten 18. und 19. Jahrhun- derts bis hin zu den virtuellen Angeboten der Medienkunst der 1990er Jahre reicht. Dieser Universalisierungsversuch vernachlässigt die histo- rische Prägung und damit auch prädispositionale Formung der Wahr- nehmung durch den Nutzer, kurz: sie vernachlässigt Komplexität. In Graus Beitrag wird Immersion ausschließlich dort lokalisiert, wo der Rezipient durch die Mediennutzung in eine Räumlichkeit ver- setzt wird, die ihn 360° umschließt – unabhängig davon, ob es sich um Gemälde, Filme im Cinerama-Format oder um Datenräume handelt. Es werden ausschließlich produktionsästhetische Aspekte der jeweili- gen Medien bedacht und selbst die einfachsten rezeptionsästhetischen Überlegungen beiseite geschoben. Für Grau ist die Mediengeschich- te dementsprechend eine Geschichte des Fortschritts. Das Publikum ist bei ihm eine naive Masse (die einer «diminished critical distance» unterliegt), die nur kurz der illusionistischen Täuschung der neuesten Technik verfällt, um dann, von Erlebnishunger getrieben, nach ei- ner ‹besseren› Illusion Ausschau zu halten.8 Eine solche Betonung der technischen Grundlage immersiver Illudierungskraft hat notwendig die Vernachlässigung von Wahrnehmungskomplexität zur Folge. Der Rezipient ist für Grau demnach ein irrelevanter Faktor. Etwas anders argumentiert Allison Griffiths in ihrem 2008 erschie- nenen Buch Shivers Down Your Spine: Cinema, Museums and the Immersive View. Da ist Immersion definiert als «the sensation of entering a space that immediately identifies itself as somehow separate from the world and that eschews conventional modes of spectatorship in favor of a more bodily participation in the experience» (ibid.). Im weiteren Ver- lauf der Argumentation betont Griffiths vor allem auch den Effekt der Deplatzierung: «One feels enveloped in immersive spaces and strangely affected by a strong sense of the otherness of the virtual world one has 8 Dementsprechend reproduziert Grau in seiner Argumentation zur Immersion die schon vielfach widerlegte Legende über die erste öffentliche Filmvorführung von 1895: «The audience reacted to the approaching train in this film, its ‹brutal reality›, with screams of panic, by running away, and, according to many contemporary sour- ces, by fainting» (2008, 151). Vgl. die unzweideutige filmhistorische Korrektur dieser populären Legende bei Gunning 1994 und Loiperdinger 1996. 94 montage AV 17 /2 / 2008 entered, neither fully lost in the experience nor completely in the here and now» (2008, 3). Griffiths unterscheidet sich von Grau darin, dass sie mit Blick auf mittelalterliche Kathedralen, auf Panoramen, Planeta- rien, IMAX-Kinos und naturwissenschaftliche Museen eine breite Hi- storisierung des Phänomens der Immersion anstrebt und auch die so- matische Ebene der immersiven Erfahrung unterstreicht. Dabei betont sie besonders die performative Praxis, die für die Nutzung und Erfah- rung der angesprochenen Medienräume bestimmend ist und die dazu dient, das Abwesende (ob Gott, das Weltall oder die Vergangenheit) in irgendeiner Form habhaft zu machen. Doch obwohl die physischen Parameter, die für Griffiths notwendig sind, um immersive Erfahrun- gen hervorzuheben, deutlich weniger bestimmt sind, als sie es bei Grau waren, besteht auch sie weiter darauf, dass die räumliche Beweglichkeit des Zuschauers oder Nutzers für die Immersion unabdingbar ist, ja als wichtigster somatischer Bestandteil der Immersion gelten müsse. Da- mit weist Griffiths die Kino- und Fernseherfahrung als nicht immersiv zurück und sieht das Potenzial, dem Rezipienten Schauer über den Rücken zu jagen, lediglich noch beim Horrorfilm (ibid., 2). In Griffiths’ Studie (wie auch bei Grau) gilt ‹Realismus› als zentraler Bestandteil der immersiven Erfahrung. Griffiths unterscheidet im Ge- gensatz zu Grau jedoch zwischen «representational realism» und «ex- periential realism». Sie erkennt damit an, dass immersive Erfahrung am besten durch eine Synthese erreicht wird. Wenn sich die Frage nach Immersion so stellt, dass sie nicht an die durch eine Apparatur gege- bene Interaktivität geknüpft wird (wie etwa bei Computerspielen),9 muss dem «experiential realism» folgerichtig mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.10 An dieser Stelle knüpft mein Beitrag dezidiert an eine Theorie an, die in der Erfahrung des bewegten Bildes eine prototypische Immer- 9 Griffiths lehnt Interaktivität im engen Sinne als Basis für Immersion ab, weil sie diese für einen zu instabilen Begriff hält: «Few would dispute that interactivity is an unwieldy, nonspecific concept, so the closest thing to a definition is the idea of it as an activity that extends an invitation to the spectator to insert their bodies or minds into the activity and affect an outcome via the interactive experience» (2008, 3). Der Standardtext zum Begriff der Interaktivität problematisiert ebenfalls eine vereinfach- te Definition des Begriffs, die allein durch technische Apparaturen ermöglicht wird (vgl. etwa Aarseth 1997). 10 Einen weiteren, sehr spannenden Beitrag zu dieser Frage liefert Maria Walsh, die eine Vermengung der Thesen von Deleuze und Merleau-Ponty zur Involvierung des Filmzuschauers vorschlägt (trotz Deleuzes Kritik an der Verankerung des Zuschauers, die in der Phänomenologie vollzogen wird), um die vollkommene somatische Invol- vierung des Zuschauers mit dem Filmbild zu erklären. Siehe hierzu Walsh 2004. Immersion und Einfühlung 95 (nostalgia) sionserfahrung sieht, ohne dabei weitere Bedingungen an die Rezep- tion oder an die Plattform beziehungsweise das Trägermedium zu stel- len. Ich möchte dabei die Rolle der Raumwahrnehmung betonen, weil ich der Überzeugung bin, dass die Präsenz und Involvierung bei der Filmrezeption einerseits durch die Plastizität und Greifbarkeit so- wie andererseits durch die Deplatzierungsfähigkeit der filmischen Er- fahrung ermöglicht wird. Der Film weist dem Zuschauer buchstäblich einen Platz im filmischen Raum zu, indem er in seiner Leiblichkeit so sehr vom Film adressiert wird, dass er unfreiwillig auf die Parameter jenes Raums reagiert – sei es etwa durch Übelkeit oder kinetische Er- regung. Der filmische Raum wird jedoch nicht unbedingt durch die Gebote des visuellen Realismus gestaltet, sondern bietet nicht selten auch Brüche in der (nur imaginierten) räumlichen Kontinuität.11 Des- halb sind die Parameter für die räumliche Zuweisung von Immersion schwer zu bestimmen und weiterhin umstritten. Das kann nicht über- raschen, da auch in anderen Disziplinen die Auseinandersetzung mit räumlichen Aspekten der Immersion von rezeptionsästhetischen Fra- gen bestimmt wird, wie ich im Folgenden anhand der Literaturwissen- schaft und Philosophie zeigen möchte. Immersion und Imagination Die englischsprachigen Beiträge zum Begriff der Immersion in den Literaturwissenschaften und der Philosophie12 gehen überwiegend von einer ‹textbasierten› Erfahrung aus und stellen die Imagination des Rezipienten in den Mittelpunkt des Diskurses. Diese Imaginati- 11 Der basale Raumeffekt des bewegten Bildes ist Thema meines Buchs Conscientious Viscerality: The Autobiographical Stance in German Film and Video (Curtis 2006), wo ich feststelle, dass das Einschreiben einer historischen Person in ein audiovisuelles Medi- um auf der spezifischen Phänomenologie des filmischen Raums fußt. 12 Vgl. hierzu etwa Nell 1988, Gerrig 1993, Ryan 2001 und Walton 2004. 96 montage AV 17 /2 / 2008 onsleistung bedarf einer räumlichen Bühne, die weitgehend durch na- turalistische Parameter gekennzeichnet ist, um die Immersionsleistung überhaupt zu vollbringen. In ihrem Buch Narrative as Virtual Reality bestimmt Marie-Laure Ryan Immersion als «an imaginative relation- ship to a textual world. [...] For a text to be immersive, then, it must create a space to which the reader, spectator, or user can relate, and it must populate this space with individuated objects» (Ryan 2001, 14). Diese Definition setzt die wesentliche Mitwirkung der Imagination bei der Herstellung des Gefühls von Partizipation mit einer possible world voraus, das heißt einer artifiziellen Welt außerhalb derjenigen, in welcher sich der Rezipient oder Nutzer aktuell befindet. Jene imagi- nierte Welt muss aber laut Ryan räumliche Konturen besitzen,13 denn erst diese ermöglichen es, sich die imaginierten Objekte auch plastisch vorzustellen. Dabei steht auch für Ryan außer Frage, dass sich diese räumlichen Konturen bei den Operationen der Imagination von den Parametern der Zentralperspektive freimachen können. Filmischer Raum kann jedoch nicht als Abbild realer, architekto- nischer Räume verstanden werden. Er ist kein schlichter Behälter, in dem Objekte stehen oder in dem sich Handlungen ereignen, die dann abgebildet werden. Vielmehr muss der filmische Raum als eine relatio- nale Anordnung gesehen werden, die ständig im Fluss ist. Der Film bot den Zuschauern bei seiner ersten öffentlichen Vorführung 1895 eine auffallend andere Raumerfahrung, als sie von anderen Medien bis da- hin geboten wurde. Erwin Panofsky beschreibt sie folgendermaßen: Beim Film hat der Zuschauer einen festen Platz inne, aber nur äußerlich, nicht als Subjekt ästhetischer Erfahrung. Ästhetisch ist er in ständiger Be- wegung, indem sein Auge sich mit der Linse der Kamera identifiziert, die ihre Blickweite und -richtung ständig ändert. Ebenso beweglich wie der Zuschauer ist aus demselben Grund der vor ihm erscheinende Raum. Es bewegen sich nicht nur Körper im Raum, der Raum selbst bewegt sich, nähert sich, weicht zurück, dreht sich, zerfließt und nimmt wieder Gestalt an (Panofsky 1999 [1947], 25). Es handelt sich um eine Art ‹Raumgeschmeidigkeit›, um die Oszillati- on zwischen Tiefe und Oberfläche, zwischen Realismus und Abstrak- tion, die dem Zuschauer durch das bewegte Bild nahe gebracht wird. 13 Vgl. zum Beispiel Scarry 1999, die auf der wahrnehmungspsychologischen For- schung von J.J. Gibson fußt. Für eine Diskussion der Anwendbarkeit jener Parameter in der Filmwahrnehmung siehe Curtis 2006a. Immersion und Einfühlung 97 Diese ‹Geschmeidigkeit› bestimmt die Art und Weise, wie sich die In- volvierung in das filmische Bild vollzieht, sie bestimmt oftmals sogar die Intensität der Immersion. Filmische Immersion entsteht im Wesentlichen, so meine The- se, durch zwei Vorgänge, die miteinander im Einklang stehen müssen: zum einen durch die Kombinationsleistungen und Kombinationsef- fekte, die durch die Konfrontation der Multimodalität der Wahrneh- mung mit einem ästhetischen Gegenstand entstehen, und zum ande- ren durch die ästhetischen Effekte der Einfühlung. In diesem Sinne ist die Immersion eben nicht ausschließlich als Effekt der spezifischen Eigenschaften der Wahrnehmung oder lediglich als Wahrnehmungs- täuschung zu fassen. Vielmehr ist Immersion als ästhetischer Effekt zu beschreiben, der gerade durch die Verlebendigungsimpulse der Einfüh- lung zu vielfältigen Möglichkeiten der Involvierung Anlass gibt – und das auch jenseits einer naturalistischen Abbildstrategie. Es liegt sogar nahe zu denken, dass Immersion und Einfühlung so sinnverwandt sind, dass sie als synonym betrachtet werden können. Zunächst möchte ich aber auf die Multimodalität zu sprechen kommen: Im Unterschied zu der spezialisierten Wahrnehmung eines genuinen Synästhetikers, der unbewusst und ungewollt zwei spezifi- sche Sinne in Kombination miteinander wahrnimmt, scheinen alle Menschen in der Lage zu sein, verschiedene sensorische ‹Modalitäten› miteinander in Verbindung zu bringen, um Sinnesreize aus scheinbar unangemessenen Quellen zu gewinnen.14 Dass die somatische Kraft des Films vor allem durch kinetische Effekte deutlich wahrnehmbar ist, lässt sich zum Beispiel durch die Multimodalität der Wahrnehmung erklären. Die bisherige Forschung zu den immersiven Kapazitäten des Films richtete die Aufmerksamkeit dementsprechend vor allem auf ki- netische Effekte der Geschwindigkeit,15 und zwar auf solche, wie sie in den zeitgenössischen movie-ride-Filmen zu sehen sind. In der Tradi- tion der so genannten phantom-rides des frühen Films konzentrieren sich zeitgenössische movie-ride-Filme auf die Bewegung der Kamera auf einen Fluchtpunkt zu, um somatische Effekte beim Zuschauer zu erzielen. Dies geschieht sowohl mittels der kinetischen Wucht der im Raum dargestellten Objekte wie auch durch die Bewegung des Film- 14 Hierzu vgl. Marks 1978a oder Marks 1978b. 15 Zur Ästhetik des movie-ride-Films vgl. Balides 2003, Schweinitz 2005. Obwohl er nicht explizit auf den Begriff der Immersion verweist, ist Raymond Fieldings Bei- trag «Hale’s Tours: Ultrarealism in the Pre-1910 Motion Picture» (deutsch in diesem Heft) für diese Tradition in der Filmwissenschaft richtungweisend gewesen. 98 montage AV 17 /2 / 2008 bilds selbst oder durch die filmische Abstraktion.16 Dass die menschli- che Wahrnehmung besonders sensibel auf die Kinetik des Filmbildes reagiert, wird von der Forschung zur Multimodalität seit langem be- hauptet. Schon 1965 stellte Ivo Kohler fest, dass die kinästhetischen und propriozeptischen Rezeptoren im menschlichen Körper leicht durch andere Sinnesreize überwältigt werden. Der Körper lässt sich schnell davon überzeugen, dass er bewegt wird, selbst wenn eine reale Bewegung fehlt: Die Wahrnehmung [lässt sich] in der Tat leicht täuschen [...], wenn Reiz- änderungen der oben besprochenen universellen Art künstlich geboten werden (z.B. bei Verwendung der Maschen Trommel oder in Filmszenen, die mit fahrender Kamera oder mit Gummilinse aufgenommen wurden, bei Drehungen oder Schwankungen von vorgezeigten Objekten ohne differenzierten Hintergrund u. dgl. mehr). [...] Das Fehlen kinästhetischer Nachrichten über die eigene Bewegung macht in solchen Fällen erstaun- lich wenig aus (Kohler 1965, 630). Das bewegte Bild erzeugt stets Situationen des multimodalen Wider- spruchs, die dann im Rezeptionsvorgang unter einen Hut zu brin- gen sind. Die hier beschriebenen Aspekte der räumlichen Erfahrung, die unter dem Einfluss der Multimodalität entstehen, erinnern durch- aus an die Anleitung Marvin Minskys, der für die Telepräsenz «touch, pressure, textures, vibration» für wesentlich erachtete und schrieb: «We must learn which sensory defects are most tolerable» (Minsky 1980, 50). Mir scheint jedoch, dass die Multimodalität der Wahrnehmung und die dadurch entstehende somatische Involvierung nicht allein für die Immersionseffekte zuständig sein können. Die Immersion ist zu- gleich mehr und auch weniger – sie ist nicht nur das Ergebnis ver- blüffender somatischer Effekte, die auf die Leiblichkeit des Subjekts verweisen, sie ist zugleich auch mit einer Übertragung des Selbst ver- bunden, das dann die Erfahrung eines entkörperlichten Daseins offen- legen kann.17 16 Zur Rolle der Abstraktion in der kinetischen Immersion vgl. Curtis 2009. 17 Zur Idee der somatisch fundierten Entkörperlichung vgl. auch Ryans Exkurs zu Ig- natius von Loyola (2001, 116). Immersion und Einfühlung 99 (nostalgia) Einfühlung als Immersion Ein erneuter Blick in die Geschichte zeigt, dass ungefähr zeitgleich zur ersten öffentlichen Vorführung des Films die Debatten zur Ein- fühlungsästhetik ihren Höhepunkt erreichten. Die vielfältigen Dis- kussionen zu diesem Thema in Kunstgeschichte, Psychologie und äs- thetischer Theorie um 1900 sind in der Filmwissenschaft bisher fast ausschließlich anhand der Schriften des Philosophen Theodor Lipps zur Kenntnis genommen worden.18 Die Filmwissenschaft versuchte damit vor allem identifikatorische Prozesse mit fiktionalen Figuren zu erklären. Doch Lipps’ Konzept der Einfühlung beschränkt sich nicht darauf, sondern geht vornehmlich davon aus, dass man sich auch in unbelebte Gegenstände wie Farben, Formen, Stimmungen oder Räu- me einfühlen kann. Auch diese Form der Einfühlung kann sich für die Filmwissenschaft als fruchtbar erweisen. Lipps fasst die Einfühlung schlicht als ein Erlebnis der Vitalität des Selbst, die in den Dingen der Welt in objektivierter Form zu fühlen ist. Ästhetischer Genuss ist laut seiner Formel objektivierter Selbstgenuss: «So ist jedes Ding für mich ein Individuum, nicht in der logischen Betrach- tung, aber als psychologische Tatsache. Es ist in ihm das in ein mannigfalti- ges Tun auseinandergehende und darin sich zur Einheit zusammenfassende Ich enthalten.» 18 Vgl. hierzu etwa Smith 1995 und Tan 1996. Beide Autoren basieren ihre Begriffe der Empathie auf die Arbeit von Theodor Lipps. Während es sehr viele Beiträge zur Funktionsweise der Empathie mit Menschen oder Tieren in der Filmwissenschaft gibt, haben sich nur wenige mit den Implikationen der Einfühlung für Fragen der filmischen Form beschäftigt. Siehe hierzu Paech 1997 und Brinckmann 1997 sowie Curtis/Koch 2009. 100 montage AV 17 /2 / 2008 Dies hat Konsequenzen für die Art und Weise, wie man die Formen von Objekten erlebt. Lipps fährt fort: Solcher Einfühlung gebe ich schon im gemeinen Leben Ausdruck, indem ich von der Linie selbst sage, sie strecke sich, biege sich, woge auf und ab, begrenze sich; und vom Rhythmus: es sei in ihm ein Fortstreben und Zu- rückhalten, Spannung und Lösung usw. Dies alles ist meine Tätigkeit, meine lebendige innere Bewegung; aber eben objektiviert (Lipps 1906a, 196). Somit kann man mit Lipps nicht sagen, dass man sich bei der Einfüh- lung mit einer objektiv gegebenen Welt und den Charakteristiken der Dinge dieser Welt befasst. Vielmehr ist man mit den Charakteristiken des eigenen leiblichen Engagements mit den Objekten beschäftigt, kurz: mit den Sensationen, Aktivitäten und Stimmungen, die durch diese Beschäftigung entstehen. In Lipps’ Text Raumästhetik und geo- metrisch-optische Täuschungen wird die räumliche Erfahrung im Detail untersucht und die Architektur als Objekt der Einfühlung eingeführt. Die dorische Säule stehe etwa mit einer strebenden Kraft in Verbin- dung, denn, so Lipps: Das kraftvolle sich Zusammenfassen und Aufrichten der dorischen Säule ist für mich erfreulich, wie das eigene kraftvolle Zusammenfassen und Auf- richten, dessen ich mich erinnere, und wie das kraftvolle Zusammenfassen und Aufrichten, das ich an einem Anderen wahrnehme, mir erfreulich ist. Ich sympathisiere mit dieser Weise der dorischen Säule sich zu verhalten oder eine innere Lebendigkeit zu betätigen, weil ich darin eine naturge- mässe und mich beglückende eigene Verhaltungsweise wiedererkenne. So ist alle Freude über räumliche Formen, und wir können hinzufügen, alle ästhetische Freude überhaupt, beglückendes Sympathiegefühl (Lipps 1966 [1897], 7). Die dorische Säule ist also ein Beispiel für positives Streben, und die- ses mündet in der so genannten positiven Einfühlung, die als stets le- bensbejahender ästhetischer Impuls wahrgenommen wird. Leben und Tätigkeit sind für Lipps synonym: «Denn was ich einfühle, ist ganz allgemein Leben. Und Leben ist Kraft, inneres Arbeiten, Streben und Vollbringen» (Lipps 1906b, 100). Das Gegenteil davon, die negative Einfühlung, ist für Lipps als ästhetische Aktivität kaum vorstellbar und wird von ihm nur kursorisch behandelt. Dass sich die Einfühlung fast ausschließlich auf eine positive, vitale und lebensbejahende Verbindung beschränkt, möchte ich jedoch bezweifeln und mittels eines filmischen Immersion und Einfühlung 101 (nostalgia) Beispiels einige andere Formen des Eintauchens oder Sich-Versenkens zur Diskussion stellen, die in der filmischen Rezeption möglich sind. Dies ist jedoch keine Absage an die viszeralen und lebensbejahen- den Effekte des Filmsbildes, denn die Tatsache, dass es in der Lage ist, ähnliche Vitalitätseffekte hervorzurufen wie die von Lipps beschrie- benen, steht inzwischen sogar für die Filmkritik außer Frage.19 So- mit werden mittels räumlicher Plastizität – man könnte selbst von der Greifbarkeit von Geschwindigkeit sprechen – somatische Effekte im Zuschauer produziert. Durch eine Fusion des zeitgenössischen Begriffs der Immersion mit dem historischen Begriff der Einfühlung ist es dar- stellbar, warum auch die abstrakte Bewegung eine so mitreißende so- matische sowohl wie emotionale Involvierung des Zuschauers jenseits des ‹representational realism› bewirken kann. Doch dessen körperli- che Beteiligung am Film wird nicht allein durch die Erfahrung der Geschwindigkeit ermöglicht. Das Eintauchen, das Versunkensein und die Deplatzierung, die in der Immersionserfahrung vollzogen werden, können durch kontemplativere Rezeptionshaltungen entstehen. Fallstudie (nostalgia) – Immersion und imaginierte Räume Im folgenden Beispiel, das aus der amerikanischen Avantgarde des spä- ten 20. Jahrhunderts stammt, werden Räume hergestellt und zerstört. Das hat zur Folge, dass die Verortung des Zuschauers in den räumli- chen Konstrukten zunehmend beunruhigend wird. Im Film (nostal- gia) (Hollis Frampton, USA 1971) fungiert der Ton als Auslöser der immersiven Erfahrung. Der Schwarzweiß-Film, der etwa 36 Minuten dauert, präsentiert zwölf Fotos, die nacheinander auf eine Kochplat- 19 Eine Kritik zum neuesten James-Bond-Film leistet eine sehr genaue Beschreibung dieser ästhetischen Strategie (vgl. Graff 2008). 102 montage AV 17 /2 / 2008 te gelegt werden.20 Jede Einstellung beginnt mit einer Nahaufnahme des Fotos, die Kochplatte ist nur am Rande des Bildes sichtbar. Ihre Heizschlangen zeichnen sich jedoch durch das Foto hindurch ab, bis es Feuer fängt und langsam zu Asche zerfällt. Die Einstellungen dauern jeweils etwa drei Minuten21 – lange genug, um das Foto wie auch den Prozess seiner Zerstörung genau studieren zu können. Die kontemp- lative, geduldige Haltung, die hier dem Zuschauer abverlangt wird, ge- hört zur performativen Praxis, die für die Rezeption der Filme dieser Avantgarde selbstverständlich war. Während die zwölf Fotos auf die beschriebene Weise präsentiert werden, ertönt immer wieder eine monotone Stimme aus dem Off, die vom Kontext und Entstehungsprozess des Fotos im Leben des Fo- tografen (Hollis Frampton selbst) erzählt. Diese (wohl) autobiografi- schen Geschichten sind detailliert und manchmal schrullig. Weil die Beschreibung der Entstehung und das Motiv der Fotos sehr elaboriert sind, wird dem Zuschauer erst nach und nach klar, dass nicht das ge- rade sichtbare, sondern das nächste Bild, das auf der Kochplatte gleich verglühen wird, Gegenstand der Erzählung ist. Dies bedeutet, dass man mit einem visuellen Abgleich beschäftigt ist: Einerseits gilt es, das gera- de zu sehende Foto mit einer erinnerten Erzählung zu verbinden, an- dererseits muss man sich gleichzeitig mit der imaginationsgetriebenen Vorstellung eines neuen Bildes beschäftigen, das zu der momentanen Erzählung passen könnte. Dies entspricht in etwa dem Verständnis von Immersion, wie es in der Literaturwissenschaft und der Philosophie kursiert. Man lässt in der Imagination Räume entstehen, die durch die Erzählung en detail sowohl räumlich wie auch zeitlich (hier: im zeitlichen Kontext eines Lebens) konturiert werden. Um die Worte der Literaturwissenschaft- lerin Marie-Laure Ryan zu paraphrasieren: Die Erzählung der Stim- me schafft einen Raum, auf den sich der Zuschauer bezieht, indem er diesen Raum mit individuierten Objekten bevölkert. Doch die Zeit- lichkeit der Rezeption wird durch den Film bestimmt und schafft eine Situation, in der man überfordert ist, von der zu erbringenden Ima- ginationsleistung einerseits und der gleichzeitig zu leistenden Erin- nerung andererseits. Der vom Zuschauer imaginierte Raum und die 20 Der Film ist online zu sehen auf der Website http://hollisframpton.org.uk/nostalgia. htm (letzter Zugriff am 28.10.08). 21 Die Dauer der Einstellungen wird durch die Machart des Films bestimmt: Er ist aus 13 Rollen à 100-Fuß (= 3 Minuten) 16mm-Film entstanden. Vgl. hierzu Rachel O. Moore, die sich seit längerem ausführlich mit diesem sehr komplexen, witzigen und zugleich beunruhigenden Film auseinandersetzt. Immersion und Einfühlung 103 von ihm imaginierte Zeit wird in (nostalgia) mit einem konkreten Gegenstand, dem Foto, kontrastiert, das gegenüber dem imaginierten Bild fast immer abfällt. Zum Schluss des Films wird diese zugleich projektive Imagina- tions- und retrospektive Erinnerungsleistung des Zuschauers auf eine Leerstelle gebracht – denn die Stimme aus dem Off versucht zu erklä- ren, warum der Fotograf zunehmend unzufrieden mit seinen Fotogra- fien war. Er erzählt von einer Erfahrung, die ihn so erschüttert habe, dass er meinte, nie wieder fotografieren zu wollen. Nach einem lan- gen Nachmittag unterwegs mit der Kamera auf der Suche nach einem Motiv sieht er etwas, das ihn interessiert, und fängt an, eine Komposi- tion des Gesehenen zu bestimmen. Diese wird durch einen plötzlich einbiegenden Lastwagen, der direkt vor ihm parkt, schlagartig zerstört. Er belichtet das Foto trotzdem und fährt nach Hause. Die Erzählung fährt wie folgt fort: When I came to print the negative an odd thing struck my eye. Something, standing in the cross-street and invisible to me, was reflected in a factory window and then reflected once more in the rear-view mirror attached to the truck door. It was only a tiny detail. Since then, I have enlarged this small section of my negative enormously. The grain of the film all but obli- terates the features of the image. It is obscure; by any possible reckoning, it is hopelessly ambiguous. Nevertheless, what I believe I see recorded in that speck of film fills me with such fear, with such utter dread and loathing, that I think I shall never dare to make another photograph. Here it is! Look at it! Do you see what I see? Die unheimlichen Erwartungen, die diese Beschreibung weckt, müs- sen aber enttäuscht werden, da die Erzählungen des Films sich ja stets auf das nächste Bild bezogen haben. Die letzte Erzählung hat jedoch kein Bild mehr, weil der Film an dieser Stelle endet. Da Frampton den Beitrag des Zuschauers bei der Bilderzeugung inszeniert und damit auch ihm eine genaue performative Praxis, die eng an Erinnerung und Imagination geknüpft ist, vorgibt, hat der Schluss dennoch etwas zu- tiefst Befriedigendes. Die Fähigkeiten und Grenzen des Mediums Film werden mit dem der Fotografie kontrastiert, um schließlich grundsätz- lich nach der Funktionsweise eines Bildes zu fragen. Hier wird – so könnte man sagen – die Bedeutung von represen- tational realism für die Immersion hinterfragt, denn die Abbilder der besprochenen Räume stehen nur kurz vor Augen. Schnell wird ihre Fähigkeit, drei Dimensionen zu suggerieren, zersetzt. In diesem Film 104 montage AV 17 /2 / 2008 verbringt man mehr Zeit mit den verbrennenden oder verbrannten Fotos als mit der Betrachtung abgebildeter Räume. Lange ist man mit ihren ‹sterblichen Resten› konfrontiert, die fast so erscheinen, als seien sie animiert: Sich drehend und zusammenschrumpfend werden sie so lange im Blick gehalten, bis sie sich nicht mehr verändern. Das sind die bewegtesten und bewegendsten Bilder dieses Films, die mehr die Veränderung im filmischen Raum betonen als die wortwörtliche Be- wegung, die Panofsky hervorgehoben hatte. Immer wieder werden hier mögliche Bildräume durch Flammen zerstört. Somit steht (nostalgia) in derselben Tradition wie jene Fil- me, welche die Materialität des Trägermediums hervorheben, um die Vergänglichkeit der filmischen ‹Anleitungen›22 für die Imagination des Zuschauers hervorzuheben. Hier wäre zum Beispiel auf Filme wie Lyrisch Nitraat (Peter Delpeut, NL 1991) oder Decasia: The Sta- te of Decay (Bill Morrison, USA 2003) zu verweisen, die die Ab- bildungsfähigkeit des Zelluloids mit dem Verfall des Trägermediums kontrastieren. Das Verlustgefühl, das hier angesichts des Verfalls solcher sich (noch) bewegender Abbildungen empfunden werden kann, legt eine Personifizierung des Trägermediums nahe. In diesem Sinne wird die immersive Kapazität dieser Filme (die durch ein ‹going into› ge- kennzeichnet werden könnte) mit einer Einfühlung in die Materie der Bilder (ein ‹feeling into›) kombiniert und kontrastiert. Die Bewegung wird durch die in Bildern ‹fixierte› Erzählung wie durch den Verfall der Materie des Mediums inszeniert. Man oszilliert damit zwischen einer Immersion in die möglichen Welten des Films und einer Ein- fühlung in die Materie des Mediums. Rachel Moore schreibt zu (nos- talgia): «A moving picture’s gelatine emulsion [...] is made of animal bones. It decays» (2006, 3). Während Theodor Lipps in der Einfühlung prinzipiell eine lebensbejahende Aktivität sah, die einen selbst in un- belebter Materie die Tätigkeit des Lebens erkennen lässt, geht es in diesen Filmen nicht um Vitalität, sondern darum, Verfall und die Spu- ren der Vergänglichkeit greifbar und sogar inhabitable – der Imagination zugänglich zu machen. So könnte man sagen, dass diese Filme mit Horrorfilmen verwandt sind, die laut Allison Griffiths ja allein in der Lage sind, ein immersives Schaudern zu erzeugen. Bemerkenswerterweise sieht Griffiths in der Operation der Immersion etwas grundsätzlich Unheimliches: 22 Vgl. hierzu Scarry 1999. Immersion und Einfühlung 105 The desire to be elsewhere without actually going elsewhere seems to be hardwired into the human psyche, as the evidence of centuries of both se- cular and profane culture suggests [...]. Could it be that being somewhere or someone without actually occupying the space or assuming that subject’s position gives us a chance to try on death without cost? (Griffiths 2008, 286). Vielleicht lässt sich sagen, dass die Neigung, die filmische Immersion ausschließlich in der eindeutig dreidimensional gestalteten, kinetisch aufregenden und belebenden movie-ride-Ästhetik erkennen zu wollen, sich zu Lipps’ Begriff der positiven Einfühlung analog verhält. Aber die vielfältigen Formen der Immersion, die durch die Nutzung unterschied- licher Medien – vom Videospiel bis zum Planetarium – angeboten wer- den, suggerieren, dass das dem Begriff innewohnende Eintauchen oder Versunkensein nicht bloß als ein sich Hineinversetzen in einen kontu- rierten Raum der Aktivität oder des Handelns verstanden werden darf. Immersion lässt sich ebenso gut als Einladung zur Einfühlung in das Nirgendwo eines zerstörten Bildes begreifen. Oder anders formuliert: Die Immersion befriedigt eine Neigung zur Einfühlung auf der Basis der filmischen Abstraktion, ermöglicht durch die Multimodalität der Wahrnehmung, die (paradoxerweise?) sogar im Gefühl einer Entkörper- lichung oder in einem ekstatischen Aufgehen münden kann. Literatur Aarseth, Espen (1997) Cybertext: Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore: Johns Hopkins University Press. Balides, Constance (2003) Immersion in the Virtual Ornament: Contempora- ry ‹Movie Ride› Films. In: Rethinking Media Change. The Aesthetics of Tran- sition. Hg. v. David Thornburn & Henry Jenkins. Cambridge: MIT Press, S. 315-336. Brinckmann, Christine N. (1997) ‹Abstraktion› und ‹Einfühlung› im deut- schen Avantgarde-Film der 20er Jahre. In: Dies., Die anthropomorphe Kame- ra und andere Schriften zur filmischen Narration. Hg. v. Mariann Lewinsky & Alexandra Schneider. Zürich: Chronos, S. 246-274. 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Immersion oder Alteration: Tony Conrads Flickerfilm Ute Holl In seiner Reduktion auf die elementarsten Momente des Filmsehens wirft Tony Conrads The Flicker (USA 1966) im Hinblick auf den Komplex des Immersiven eine entscheidende Frage auf: Wie steht es um das Verhältnis von medialer Raumerfahrung und Subjektivierungs- prozessen, und inwiefern ist, wenn von einem Eintauchen in einen medialen Raum die Rede ist, die Verführung zur Immersion unwei- gerlich geknüpft an die Unterwerfung unter Prozesse violenter Altera- tion als Formen kultureller De- oder Entsubjektivierung? Dass das Konzept dessen, was das Subjekt umfasst, durch histori- sche Medienanordnungen je radikal verändert wird, formulierte Mar- shall McLuhan etwa zeitgleich mit Conrads Arbeit an The Flicker. McLuhan wies darauf hin, dass Prozesse der Subjektivierung und der Sozialisierung im Zeitalter der Elektrizität nicht mehr von Sinnge- bung, sondern von der Untersuchung ästhetischer Effekte bestimmt seien, «for effect involves the total situation, and not a single level of information movement» (McLuhan 1995 [1964], 26). Seine Diagnose, Wahrnehmung in Gefügen kühler Medien, also solcher, die einen ho- hen Anteil an persönlicher Partizipation verlangen, tendiere stets zur Halluzination (ibid., 32), betrifft nicht nur eine bemessene Zeitspanne der Rezeption als eines Wechsels in einen anderen künstlichen Raum, sondern meint einen fundamentalen Wandel des kulturellen Raumre- gimes insgesamt. Damit hat er nicht zuletzt den Begriff der Subjektivi- tät unter Medienbedingungen herausgefordert. Die Verknüpfung von Subjektivität und Ästhetik im 19. Jahrhundert (vgl. Menke 2003, 774f) ist symptomatisch für einen Prozess, der als Lösung oder ‹Erlösung› vom Individuum und als Medium-Werden des Künstlers (vgl. Nietz- sche 1980, 47) in die Genealogie jeder Geschichte ästhetischer Immer- 110 montage AV 17 /2 / 2008 sionen – oder Immersion als Aisthesis – gehört. Diese Erlösung kann jedoch einfacher auch als kultureller Transformationsprozess eines his- torischen Ego-Modells beschrieben werden. Modelle medialer Immersion in psychologischen Untersuchungen (Wirth 2007) gehen ganz selbstverständlich von einem stabilen Ich oder Selbst aus, das durch medieninduzierte Aufmerksamkeitsverlage- rung neue mentale Raumkonstruktionen bildet, die jedoch stets als «egocentric frames of reference» (ibid., 505) im Bezug auf ein ein- tauchendes oder abtauchendes ‹Ich› angenommen werden. Im Unter- schied dazu stellen Flickerfilme im allgemeinen (vgl. Battcock 1967; Hein 1971; Scheugl/Schmidt 1974; Vogel 1997) und insbesondere The Flicker von Tony Conrad den filmischen Raum als möglichen frame, als wie auch immer verschiebbaren Rahmen der Wahrnehmung über- haupt in Frage zugunsten eines völlig anderen Paradigmas des Räum- lichen, dem das Verhältnis von Rahmung und Welt ebenso wenig wie das von cadre und cache mehr genügt. Tony Conrad, ehemaliger Harvard-Mathematiker und praktizieren- der Musiker, knüpfte 1965 die Erfahrung des stroboskopischen Se- hens explizit an das Modell des von Michael Faraday im Experiment und von James Clerk Maxwell in mathematischen Gleichungen vor- gestellten Frequenzraums (Siegert 2003, 308f). Damit ist Immersion nicht einfach als Eintauchen in einen mit dem realen konkurrieren- den, medial vermittelten Raum bezeichnet, sondern als Wahrnehmung eines Kontinuierlichen auf dem Feld prinzipieller Diskontinuität einer eben doch sprunghaft sich organisierenden Natur. Die Wahrnehmung von Effekten der Induktion und Interferenz als «peculiar perceptions» (Faraday 1859), die von einer Diskontinuität natürlicher Phänomene ausgehen, wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht nur die Na- turwissenschaften, sondern Wissen überhaupt und auch die Künste erschüttert hatten, verlangten entsprechende Reformulierungen von Modellen der Subjektivierung. Die im Raum der Frequenzen unmög- liche Unterscheidung von deception und perception setzt auch die Kon- stitution eines Ich oder Ego einem weiteren Prozess kultureller Ord- nungen auf den Feldern des Optischen und Akustischen aus. Tony Conrads Flickerfilm wurde 1966 auf dem New York Film Festival zum ersten Mal öffentlich projiziert, als Randphänomen des Filmischen, «in the small, two-hundred-seat library auditorium – a fit- ting place for Subversia» (Wellington 1967, 43). Licht wurde, bemerk- ten Kritiker, in diesem Film als reines Medium und als Macht vor- geführt: «[...] sheer light, light as the medium and power, light as the substance and subject» (Kelman 1967, 105). Die 30 Minuten lange Tony Conrads Flickerfilm 111 Komposition aus 47 verschiedenen Mustern von Schwarz-Weiß-Ein- zelbild-Kombinationen, die alle noch einmal der grundlegenden fil- mischen Frequenz von 24 Bildern pro Sekunde aufruhen, wurde von Anfang an als Angriff auf die Unversehrtheit der ZuschauerInnen in der visuellen Wahrnehmung verstanden. Im Vorspann des Films wird eigens auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Vorstellung von einem Arzt – wenn schon nicht mehr von einem Bewusstsein – begleiten zu lassen, da bestimmte Flickerfrequenzen das stroboskopische Sehen, das der Film initiiert, auslösen können, bei disponierten BetrachterInnen sogar epileptische Anfälle. Eine solche Ergreifung (seizure) ist gewiss der Extremfall einer Fusion von psychophysiologischem und medi- al evoziertem Raum, jedoch stellt sich damit grundlegend die Frage, inwiefern im Filmischen die Differenz von willkürlicher und unwill- kürlicher Wahrnehmung, wie sie in der Wahrnehmungspsychologie unterschieden wird, auf der Ebene des Medialen bereits kassiert ist. Die mediale Funktion einer «involuntary attention allocation» (Wirth 2007, 499) und Formationen mentaler Repräsentationen, die Kontakt und Komparation mit einer «realen» (ibid., 513) Welt aussetzen, wer- den durch The Flicker jenseits aller semantischen oder dramaturgi- schen Qualitäten aktualisiert, und zwar als durchaus violente. Conrad reduzierte seinen Film minimalistisch auf das Mediale in- termittierenden Lichts: «I looked at each pattern in terms of both the number of alternations and the duration (reiterations actually) of black and white frames» (Conrad/Mussmann 1966, 3). Stroboskopisches Se- hen, das ein apparativ induziertes Bewegungssehen bezeichnet, dem kein bewegtes Objekt entspricht, wird hier sogar jenseits jeder Ob- jektbewegung als reine Halluzination vorgeführt. Das Stroboskopische im Flicker evoziert den Eindruck von Farben oder Raumtiefe aus rei- nen Lichtblitz-Frequenzen. Gerade weil The Flicker – anders als z.B. Paul Sharits’ Razor Blades (USA 1965-1968) – in seinem Purismus auf alle kognitiven Aspekte und Assoziationen verzichtet, bleibt die medial induzierte Raumwahrnehmung – mindestens in einigerma- ßen unversehrten Kopien des Films – von kognitiven und reflektie- renden Überlegungen verschont und ungestört. Die Form der tech- nisch generierten Bilder, deren Grundmaterial Conrad ganz einfach mit einer 16mm-Kamera als weiß-überbelichtete oder durch Abde- ckung nicht-belichtete Filmkader aufnahm und daraus im Kopierwerk Schwarz- und Weißfilmvorräte für seine Mustermontage herstellen ließ, unterscheidet sich hier deutlich von Formen künstlerisch-male- rischer Raumkonstruktion: Im Falle der Zentralperspektive etwa kön- nen Konstruktionsfehler oder Irritationen der Tiefenillusion auf die 112 montage AV 17 /2 / 2008 Operationen des Künstlers aufmerksam machen. Im Falle des Flicker- films bleibt die Aufmerksamkeit von der filmisch medialen Funktion selbst (vgl. Wirth 2007, 499, 502) automatisch gebunden. Tony Conrads Metaphorik, wenn er seinen Film als «hallucinatory trip through unplumbed grottoes of pure sensory disruption» (Con- rad 1965, 1) beschreibt, erinnert an die Ambivalenz jeder filmischen Wahrnehmung, wie sie im wiederkehrenden Bild des Kinosaals als pla- tonische Höhle artikuliert ist (Baudry 1999 [1975]). Kinosehen ist in diesem Kontext charakterisiert als vom Gefängnis des Dispositivs reg- lementiert, als Illusion eines Realitätseindrucks, der mit dem Eingang in die Höhle den Eingang in eine wahrnehmungspsychologische Un- mündigkeit markiert. Gleichzeitig jedoch hält der Flickerfilm, wenn er das Intermittierende am Grund jeder Filmprojektion selbst zeigt, die Kluft zwischen imaginärer Kontinuität und technisch realer Dis- kontinuität der Bilder offen. Einerseits führt der Film in visuelle Grot- ten künstlicher Farb- und Raumeffekte, und andererseits greift er die Halluzination als unmittelbare Affizierung der Nerven in Form von diskreten Reizen, als Unterbrechungsvorrichtung an, eben als «senso- ry disruption». So verweist The Flicker als Kinoerfahrung gleichzei- tig darauf, wie Halluzinationen aus intermittierendem Licht entstehen, und wäre also auch als Ausgang aus der Höhle der Illusionen zu be- zeichnen, als Emanzipation und Entfesselung: Conrads Film führt vor, dass es im Kino, anders als bei anderen Halluzinogenen, eine Erfahrung und sogar ein Wissen davon geben kann, wie sich die Welt unter Kino- bedingungen konstituiert. Wenn, wie Jean-Louis Baudry anmerkt, im Kino die physische Motilität fehlt, die die realitätsprüfende Unter- scheidung von Wahrnehmung und Vorstellung gestattet (Baudry 1999 [1975], 395), so ist es gerade die physisch spürbare Einwirkung puren Lichts, die die Evozierung der Vorstellung im Kino deutlich als eine von außen induzierte markiert. So können Kinowissenschaftler, anders als Philosophen, die mit dem Eingang in die Höhle die Schau der Ide- en, die Theorie aus den Augen verlieren, beruhigt ins Dunkel der Pro- jektion abtauchen, weil dort die Bedingungen des Schauens und damit auch die der Theorie als psychophysische Wahrnehmungsbedingungen einer kinematografischen Moderne selbst spürbar werden. Die Dramaturgie von The Flicker beruht auf einer allmählichen Induktion des visuellen Flackerns, eines Phänomens, das in den psy- chophysiologischen Laboratorien des 19. Jahrhunderts sorgfältig un- tersucht worden war (vgl. Hoffmann 2001; Holl 2002; Nichols/Le- derman 1985; Scheugl/Schmidt 1974). Solches Flackern kann bereits bei einer Frequenz von weniger als 40 Bildern oder genauer Blitzen Tony Conrads Flickerfilm 113 pro Sekunde auftreten, ein Grund dafür, dass in den klassischen Film- 1 Lichtbe- stimmungsplan projektoren die 24mal pro Sekunde durchlaufenden Lichteindrücke für the Flicker noch einmal durch Flügelblenden unterbrochen und also frequenzi- ell verdoppelt oder verdreifacht werden. Wenn Conrad auf die kon- 114 montage AV 17 /2 / 2008 tinuierliche Lichtblitzfrequenz von 24 Bildern, die als unmerklicher basso continuo des Kinos normalerweise unsichtbar bleibt, eine zweite Schwarz-Weiß-Frequenz setzt, produziert das Verhältnis der Impulse Interferenzen, die als Rhythmus-, Raum- und Farbeffekte halluzinato- rische und psychedelische Wahrnehmungsphänomene erzeugen. Da- bei spielen wiederum bestimmte Frequenzverhältnisse eine besonde- re Rolle. The Flicker unterschreitet in seinem Verlauf allmählich die Schwelle des Kontinuitätseindrucks, wenn er von 24 Bildwechseln auf vier pro Sekunde reduziert und dann wieder in erhöhter Frequenz aus dem Flackerbereich herausführt. Die Effekte, die Conrad damit erzielt, fasste er nach den ersten Selbstexperimenten zusammen: «The first notable effect is usually a whirling and shattered array of intangible and diffused color patterns, probably a retinal after-image type of effect. Vision extends into the peripheral areas and actual images may be ‹hallucinated›» (Conrad 1966a, 5). Was ihn jedoch mehr als der Nachbildeffekt interessiert, ist das stroboskopische Sehen, das als Anwendung von Obertonverhältnis- sen auf Licht betrachtet werden kann: «There is a way to apply harmo- nic structures to light, and that is to modulate its intensity with time [...]. This has to do with the stroboscopic use of light. [...] visually the flicker is entirely stroboscopic» (ibid. , 2). Der als Interferenz berechen- bare Stroboskopeffekt ist das Entscheidende in diesem künstlerischen Verfahren, denn durch ihn werden Schwingungsüberlagerungen in Vielfachen der Grundschwingungen, wie sie in Obertonverhältnissen auftauchen, als Lichtimpulsfrequenzen auf den Film übertragbar. Der Übergang vom Sehen einzelner Impulse zum Eindruck kon- tinuierlichen Lichts, der Psychologen als CFF – critical fusion frequen- cy – interessierte (Nichols/Lederman 1985, 99), hängt nicht nur von der Frequenz, sondern auch von der Strahlkraft der Bilder ab, und in- sofern fügen die Experimente mit puren Schwarz-Weiß-Bildmustern der Frequenz noch eine weitere Variable in der Erzeugung halluzina- torischer Eindrücke aus vorsemantischen filmischen Impulsen hinzu. Im Kino selbst, schreibt Conrad, hat das Flicker-Stück seine Tonika, seine Grundharmonie, «relating the whole flicker experience to a sin- gle frequency, corresponding to the tonic or key note in music; in the case of film, a natural tonic is already suggested by the standard projec- tion frequency, 24 fps» (Conrad 1966a, 2). Allerdings ist die Vorstellung einer natürlichen Tonika in diesem Kontext kurios. Unter dem Ge- sichtspunkt von Frequenzverhältnissen kann der Kinorhythmus zwar durchaus als kulturelle Tonika einer visuellen Harmonie bezeichnet werden, aber kaum als «natural tonic». Tony Conrads Flickerfilm 115 Auch wenn alle Wahrnehmungen in den chronometrischen Expe- rimenten der physikalischen und physiologischen Laboratorien im 19. Jahrhundert dicht am menschlichen Körper und dessen Sinnesphysio- logie getestet wurden, ist die schließlich als Kino standardisierte Fre- quenz von 24 Bildern eine, die immer wieder auf Laborpraktiken und Experimentalaufbauten zurückzuführen ist: Faraday schnitt sein dop- peltes Zahnradmodell zur experimentellen Herstellung optischer In- terferenz mit zweimal zwölf Zähnen aus (Faraday 1991 [1859], 295); Joseph Antoine Ferdinand Plateau bastelte in seinen Untersuchungen zu den vom Licht auf das Gesichtsorgan hervorgebrachten Eindrücken Papierscheiben, die «in eine gewisse Anzahl gleicher Sectore, z.B. 24» zu teilen seien, um damit Experimente intermittierender Lichtimpulse durchzuführen (Plateau 1830, 311). Als er 1832 im Rahmen seiner For- schungen zur Physiologie des Sehorgans das Phenakistiskop – gleich- zeitig mit Simon Stampfer und Peter Mark Roget – als «philosophical toy» erfindet, sind es 16 Moment-Abbildungen eines wie verrückt tan- zenden Pierrots, die, durch Schlitze einer Platte betrachtet, wiederum von einem Spiegel aus Einzelbildern synthetisiert werden (Wachelder 2001, 273). Je nachdem, wie schnell das Phenakistiskop gedreht wurde, ließ sich der Charakter der Illusion verändern, vom Bild-für-Bild-Mo- dus zum langsamen Flackern und dann, als Schwellenüberschreitung der CFF, zum Umschlag in ein qualitativ anderes Bewegungssehen, das wieder ins Flackern der Einzelbildwahrnehmung zerfällt, sobald die Frequenz unter 15 Bilder sinkt. Das Flimmern im frühen Kino, das handgekurbelt zwischen 16 und 18 Bilder pro Sekunde und in der Projektion dann nur unregelmäßi- ge Impulse ergab, provozierte das Unbehagen der Zuschauer und das Interesse der Psychologen, wie das des Dr. Stigler aus Wien, der dem «Flimmern der Kinematographen» nachging. Stigler führte zur Behe- bung der Störung, als die das Flimmern ja erschien, eben die Flügel- oder Sektorenblende ein, welche die Frequenz der Bilder verdoppelte oder verdreifachte. Diese Bildsequenzen, deren Einzelkader noch kür- zer projiziert wurden, erwiesen sich als schärfer und flackerfreier als die 18-frequentigen des Normallaufs (Stigler 1908; Schäffner 1996). Die Experimente der Gestaltpsychologen zeigten einige Jahre später, dass ein bestimmtes Flackern das [phi]-Phänomen des Bewegungssehens von diskret gezeigten Bildern hervorrufen kann, ganz unabhängig von den auf einer Leinwand gesehenen Objekten (Wertheimer 1912, 137f). Zwar untersuchen Wahrnehmungspsychologen genau die Schwelle, an der Bewegungssehen, das [phi]-Phänomen, auftritt, als diejenige «Fre- quenz, in der die optischen Überlagerungen mit der physiologischen 116 montage AV 17 /2 / 2008 Bildfrequenz übereinstimmen» (Schäffner 1996, 29). Dennoch schei- nen alle Tests immer zugleich Trainingseinheiten gewesen zu sein. Die Frage ist, ob unter solchen medialen Bedingungen überhaupt noch von «physiologischer Bildfrequenz» (Schäffner 1996, 29) gespro- chen werden kann und nicht vielmehr stets von einer kulturellen und historischen Relation im Psychophysischen die Rede sein müsste. Das Kinematografische jedenfalls müsste als ein historischer epistemischer Aufbau betrachtet werden, der es allererst gestattet, Fragen nach der psychischen Disposition im Hinblick auf Immersionen wie das Bewe- gungssehen jenseits aller Objekte und Räume zu stellen (Hoffmann 2001, 249). Für das Problem der Immersion heißt das, dass dem Ki- nosehen nicht natürliche oder einfach physiologische Bedingungen vorausgesetzt sind, sondern Dispositive als Verbindungen von appara- tiven, architektonischen, institutionellen Einrichtungen und wissen- schaftlichen und/oder moralischen Aussagen. Damit sind in den Pro- zess der Immersion, das zeigt The Flicker, Alterationen des Medialen, der Raumerfahrung und der Subjektivität immer zugleich und glei- chermaßen verwoben. Die Annahme eines konstanten, stabilen, ahis- torischen und medienunerfahrenen Subjekts, das sich, ausgerüstet mit einem «egocentric reference frame», anderen Raumerfahrungen über- lässt, um später unverändert daraus aufzutauchen, ist daher nicht auf- recht zu erhalten. Tony Conrads Flickerfilm hat eine Vorgeschichte in einem akus- tischen Projekt, das explizit die Transformation historischer Subjek- tivität und kultureller Identität zum Ziel hatte, nämlich dem mit La Monte Young und John Cale gemeinsam gegründeten Theatre of Eter- nal Music. Die Kompositionen dieser Gruppe orientierten sich dar- an, die Frequenzverhältnisse in den musikalischen Klängen für un- terschiedliche Kulturen zu errechnen und diese in ebenfalls rein auf Frequenzverhältnissen der Töne – und eben nicht mehr auf Harmoni- en – beruhenden Kompositionen als Identitätsalteration in tagelangen Konzerten zu übertragen (vgl. Holl 2006). Conrads Konzept eines Fli- ckerfilms nahm seinen Ausgang von dem Versuch, die rational frequency ratios aus der Musik auf das Visuelle zu übertragen und damit auch die Obertonverhältnisse des Sichtbaren neu zu organisieren. Damit unter- sucht der Film nicht mehr, wie Experimentalfilmer seit Richter und Eggeling es getan hatten, Effekte von Helligkeiten, Formen oder Farb- verläufen auf die Kinowahrnehmung, sondern Effekte rhythmisierten Lichts selbst. Farben und andere Nebeneffekte existieren dabei nicht auf der Leinwand, sondern entstehen erst in der Übertragung und der Wahrnehmung des Publikums in einem Dazwischen, das für die Tony Conrads Flickerfilm 117 Epistemologie der Filmwissenschaft ebenso entscheidend ist wie für jede Medienwissenschaft. Anders als in der akustischen Wahrnehmung, die seit Helmholtz immer wieder physikalischen und kulturellen Fre- quenzanalysen unterzogen worden war (Helmholtz 1971 [1878], 247), hatte es ein rein frequenzorientiertes Projekt für die Optik, genauer: für menschliches Sehen, noch nicht gegeben. Conrads akustische und optische Experimente erproben die un- merkliche Versenkung in jenen Frequenzraum des stroboskopischen Sehens, der im 19. Jahrhundert mit den Experimenten Faradays bereits entdeckt und sowohl in den physiologischen als auch in den psycholo- gischen Laboratorien erforscht war. Nicht die von Nietzsche erhoffte Erlösung vom Individuum, sondern die Feststellung kultureller For- mationen im Subjektivierungsprozess, die bereits vorsemantisch ein- zuordnen sind, wäre als präzises Ergebnis der Flickerexperimente zu verbuchen. Symptomatisch ist zuletzt, dass das Stroboskopische am Bewegungs- sehen für die Kinotheorie selbst immer wieder zugunsten einer Nach- bildtheorie des Kinosehens in Vergessenheit geriet (Doane 2002; Ni- chols/Lederman 1985), um in bestimmten historischen Situationen, zum Beispiel durch Conrads Flickerfilm, wieder in Erinnerung geru- fen zu werden. Das scheint mit der eingangs referierten Verbindung von kultureller Identität und medialer Praktik zusammenzuhängen, die, wie der Flickerfilm zeigt, sich als ein optisch Unbewusstes auf durchaus gewalttätige und das Subjekt versehrende Weise herstellen kann. Literatur Battcock, Gregory (1967) The New American Cinema. A Critical Anthology. New York: Dutton. Baudry, Jean-Louis (1999) Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks [frz. 1975]. In: Kursbuch Medienkultur. Die maßgebli- chen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Hg. v. Claus Pias et al. Stuttgart: DVA, S. 381-404. Conrad, Tony (1966) Tony Conrad on The Flicker. From a Letter to Henry Romney, Dated November 11, 1965. In: Film Culture 41, S. 1-3. Conrad, Tony (1966a) Inside the Dream Syndicate. In: Film Culture 41, S. 5-8. Conrad, Tony/Toby Mussmann (1966) An Interview with Tony Conrad. In: Film Culture 41, S. 3-5. Doane, Mary Ann (2002) The Emergence of Cinematic Time. 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In der Ratte Der Körper als immersiver Ort im 3D-Computeranimationsfilm Ann-Sophie Lehmann «Animation [...] is a medium that has body.» (Bouldin 2001, 50) Wenn der verbitterte und gefürchtete Gourmetjournalist Antoine Ego in Ratatouille (Brad Bird/Jan Pinkava, USA 2007) den ersten Bissen des gleichnamigen Gerichts schmeckt, das die Ratte Remy mit pro- phetischer Sensibilität für sein tiefstes Verlangen zubereitet hat, erlebt er eine Proustsche Erleuchtung. Wie Marcel Proust durch die in Linden- blütentee getauchte Madeleine, so wird Ego durch das einfache Bau- erngericht in seine Kindheit zurückversetzt. Doch wo Proust sich die Ursache des plötzlichen Glücksgefühls mühsam erarbeiten muss und die zugehörige Erinnerung erst nach angestrengtem Nachschmecken aus seiner Teetasse zu ihm emporsteigt, transportiert der Geschmack der Ratatouille Ego direkt in die Küche seiner Mutter. Und die Rata- touille bringt ihm nicht nur die Vergangenheit zurück, sondern wirkt sich auch aus auf die Gegenwart: Ego verlässt das Restaurant mit der kochenden Ratte als ein glücklicher und besserer Mensch. Die überwältigende Macht des Geschmackserlebnisses illustriert eine Kamerafahrt, wie sie nur im Computeranimationsfilm möglich ist.1 Die 1 ‹Computeranimation› wird hier als Synonym für ‹3D-Computeranimation› verwen- det, was streng genommen der korrekte Begriff ist, weil auch traditionelle 2D-Ani- mationen seit geraumer Zeit mit dem Computer erstellt und bearbeitet werden (vgl. Kohlmann 2008, 37-45). 122 montage AV 17 /2 / 2008 Kamera folgt zunächst dem erwartungsvollen Blick des Kochs Linguini, der in einem Close-up den ersten Bissen in Egos Mund verschwinden sieht, zoomt dann auf seine Augen und simuliert einen schwindelerre- genden Zoom-out. Der Zuschauer wird buchstäblich von der Erinne- rung aufgesaugt und findet sich plötzlich von Angesicht zu Angesicht mit dem kleinen Ego in der Küche der Mutter wieder, die ihm liebevoll Ra- tatouille serviert. Wieder zoomt die Kamera auf das Gesicht und fährt ra- send schnell durch die Augen zurück in die Gegenwart, wo der Betrach- ter nun in Egos entspannte und scheinbar um Jahre jüngere Züge blickt. In ihrem Buch Narrative as Virtual Reality (2001) hat Marie-Laure Ryan die räumliche Immersion des Lesers in literarischen Texten als Ergebnis des durch gezielte Formulierungen erreichten ‹Madeleine- Effekts› beschrieben. Der Film hingegen, so Ryan (2001, 21), bietet dem Betrachter unmittelbaren Zugang zu räumlichen Strukturen. In der beschriebenen Szene wird die Unmittelbarkeit des visuellen Ma- deleine-Effekts durch die medienspezifischen Eigenschaften der Com- puteranimation noch intensiviert. Diese verleiht dem Unmöglichen – traditionell die Domäne des Zeichentrickfilms – eine Dimension, die das immersive Potenzial des Genres erheblich vergrößert: Virtuelle Ka- merafahrten und visueller Realismus lassen den Zuschauer Räume be- treten und Bewegungen erfahren, die im klassischen Zeichentrickfilm nicht überzeugend darstellbar sind und die der Realfilm nicht zulässt. Der computeranimierte Madeleine-Effekt dient aber nicht nur dem Zurschaustellen medienspezifischer Eigenschaften. Das Proustzitat bil- det auch eine Schlüsselszene des Films, welcher die Geschichte zweier Köche erzählt, die ihre jeweiligen Defizite – der eine kann nicht ko- chen, der andere ist zwar ein begnadeter Koch, aber eine Ratte – er- folgreich kombinieren, um zu guter Letzt den strengsten aller Kritiker zu überzeugen. Vor dem Hintergrund eines atmosphärisch gerender- ten Paris wird dieser Plot maßgeblich von zwei Elementen bestimmt: der besonderen Beziehung zwischen Linguini und der Ratte Remy und der Wahrnehmung der Restaurantküche mit ihrer Flut an sinnli- chen Eindrücken aus der Perspektive der Ratte. Diese Elemente wer- den dezidiert eingesetzt, um die Zuschauer visuell und emotional zu involvieren. Während die detaillierte, überdimensionale Reprodukti- on der Großküche mit ihren Gerichten, Gerätschaften, Gerüchen und Geräuschen eine synästhetische Wahrnehmung herausfordert, erzeugt die Interaktion zwischen Remy und Linguini physische und emotio- nale Nähe (die Ratte dirigiert Linguinis Handlungen, indem sie ihn unter der Kochmütze an den Haaren zieht). Man könnte diese beiden Elemente als technologische und empathische Immersionsstrategien In der Ratte 123 bezeichnen, die gemeinsam die Wirkungsästhetik der Computerani- mation, insbesondere der Pixar Produktionen, bestimmen. Wie diese Immersionsstrategien zustande kommen und funktionieren und in- wiefern sie sich sowohl vom traditionellen Zeichentrickfilm als auch vom Realfilm unterscheiden, soll hier anhand von Beispielen aus Toy Story II (John Lasseter/Ash Brannon, USA 1999), The Incredibles (Brad Bird, USA 2004) und Ratatouille untersucht werden. Zu- nächst möchte ich aber auf den Unterschied zwischen technologi- schen und empathischen Strategien der Immersion eingehen. Digitale Bildtechnologien und körperliche Wahrnehmung als Erzeuger von Immersion Die technologischen Immersionsstrategien der Computeranimation lassen sich aus der Geschichte des Mediums erklären. Lange Zeit wur- de der Animationsfilm als eigenständiger Nebenstrang der klassischen Filmproduktion gesehen. Durch ihre Digitalisierung, so konstatiert die neuere Film- und Medientheorie, ist jedoch eine Tendenz zur Ent- grenzung der beiden Gattungen festzustellen. Digitale Postproduktion und Special Effects lassen den Realfilm inzwischen als einen «parti- cular case of animation» erscheinen (Manovich 2001, 302), während Computeranimationsfilme zusehends mehr die Konventionen realfil- mischer Darstellung imitieren (vgl. Cubitt 2005; North 2008). Diese Angleichung führt auf der anderen Seite dazu, dass sich Hersteller aus künstlerischen und ökonomischen Gründen auf die Eigenheiten der Computeranimation konzentrieren und deren charakteristische As- pekte herausarbeiten (Flückiger 2008; Kohlmann 2008). Diese Eigen- heiten sind einerseits historisch vorgeprägt, so etwa die Anthropomor- phisierung von Tieren oder Belebung von Objekten, entstehen aber auch neu, und zwar meistens durch die innovativen Technologien der Computergrafik, deren Entwicklung wiederum durch das Paradigma eines visuellen Realismus bestimmt wird. Dies soll hier anhand der Darstellung menschlicher Körper auf- gezeigt werden, die oft als «Heiliger Gral» der Computeranimation bezeichnet wird: Obwohl technische Neuerungen die Körper fort- während noch realistischer erscheinen lassen, scheint die vollkomme- ne Wiedergabe unerreichbar.2 Dies ist ein starker Antrieb für Wissen- 2 Bislang gibt es noch keine überzeugenden Animationen mit vollständig fotorealisti- schen menschlichen Protagonisten. Die japanischen Game-Adaptionen Final Fan- tasy: the Spirits Within (Hironobu Sakaguchi, J/USA 2001) oder Polar Express 124 montage AV 17 /2 / 2008 schaft und Industrie, nicht zuletzt weil die überzeugende Erscheinung menschlicher Körper als besonders relevant für die immersive Wir- kung der Filme gilt. Von Medientheoretikern und Kritikern wird das Paradigma des fortschreitenden Realismus oft als Beschränkung der kreativen Möglichkeiten der Computeranimation gesehen und diese als technology driven beschrieben (Moszkowicz 2002; Wells 2002; Wood 2007, 25). Praktiker reagieren auf diesen Vorwurf häufig mit dem All- gemeinplatz: Technology is nothing, story is everything. Bei genauem Hin- schauen zeigt sich jedoch, dass es nicht um die Hierarchie, sondern die Ausbalancierung beider Elemente geht. So erscheint das immersi- ve Potenzial der Animationsfilme der Pixar Studios dann am größten, wenn die Narration sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen der technischen Innovation und des visuellen Realismus produktiv zu machen versteht. Empathische Strategien der Immersion sind diffuser und methodolo- gisch schwerer greifbar. Das liegt zum Teil an der Selbstverständlichkeit des Phänomens an sich, denn dass Bilder körperliche Reaktionen beim Betrachter auslösen können, lässt sich kaum bezweifeln. Dennoch hat es lange Zeit an wissenschaftlichen Methoden und Theorien gefehlt, diese Reaktionen und ihre möglichen immersiven Effekte zu untersuchen, wenn man von vereinzelten historischen Studien (z.B. Freedberg 1991; Roodenburg 2005) einmal absieht. Inzwischen hat die Phänomenolo- gie den Kunst- und Medienwissenschaften allerdings einen theoreti- schen Überbau für die Erforschung physischer und emotionaler Reak- tionen geliefert (Sobchack 1992; Marks 2000), und neuerdings werden empathische Reaktionen auf Bilder auch in den Neurowissenschaften erforscht (z.B. Freedberg & Gallese 2007; Onians 2007). Gemeinsam ist diesen Ansätzen ein gewisser Universalanspruch. So ist das empa- thische Erleben von Film, das in der maßgeblich von Vivian Sobchack geprägten phänomenologischen Filmtheorie beschrieben wird, weder an stilistische noch an historische oder geografische Grenzen gebunden (Sobchack 1993, 2001). Wenn, wie Sobchack schreibt, unsere intellek- tuelle Beziehung zum Film als embodied spectatorship wesentlich durch eine über den Sehsinn hinausgehende körperlich-sinnliche Wahrneh- (Robert Zemeckis, USA 2004) resultierten in künstlerischen und kommerziellen Misserfolgen. Die fotorealistische Computeranimation stößt vorläufig noch an die Grenze des so genannten uncanny-valley-Effekts, der auftritt, wenn eine Simulation des menschlichen Körpers fast, aber eben nicht ganz lebensecht erscheint und da- durch intuitiv als unheimlich erfahren wird (vgl. Powers 2008). Die Filmindustrie hat schnell erkannt, dass hybride Kombinationen von Realfilm und Computeranimation erfolgreicher sind (vgl. North 2008). In der Ratte 125 mung des Dargestellten bestimmt wird, gilt es diese in genauen histori- schen, technischen und kulturellen Kontexten zu verorten, wie das hier für die Computeranimation versucht werden soll. Allgemein kann ein phänomenologischer Ansatz medientheoreti- sche Forschungen zum Phänomen ‹Immersion› ergänzen, weil diese selbst ein wachsendes Interesse an der Rolle des Körpers zeigen. Wo Immersion anfänglich vor allem als technischer Effekt untersucht wird (z.B. Fielding 1968/69, in diesem Heft), stellen Erkki Huhtamo und Marie-Laure Ryan Mitte der 90er Jahre in ihren Forschungen zu vir- tual reality der Technologie die körperliche Erfahrung des Betrachters zur Seite. So schreibt Huhtamo: «In its basic form, VR [virtual reality] is, like our whole existence, firmly rooted in the physicality of the body, the whole experience is triggered by physical movements and gestu- res» (1994, 176); und Ryan: «Virtual reality, as its developers conceive it, reconciles immersion and interactivity through the mediation of the body» (1994, 39). Nachdem virtual reality als gescheitertes Experiment und unvollständige Materialisierung utopischer out-of-body-Phantasien als Massenmedium vorläufig abgeschrieben wurde, bahnten sich digi- tale Medien mit locative-media-Applikationen, GPS-tracking und RFID- devices einen Weg aus dem virtuellen in den realen Raum. Immersion soll nun durch das simultane Ineinanderschieben dieser Räume ent- stehen. Auch hier steht der Körper als Träger der neuen immersiven Technologien im Mittelpunkt theoretischer Analysen (vgl. Hansen 2006). Gleichzeitig bleibt die Frage nach den immersiven Strategien bildschirmgebundener Medien akut. In den Game Studies wird neuer- dings vorgeschlagen, den Begriff ‹Immersion› mit ‹Inkorporation› zu ersetzen, um damit die Erforschung der Beziehung zwischen Betrach- ter oder Spieler und den jeweiligen technischen Aspekten des Spiels zu präzisieren (vgl. Cheng 2005; Bartle 2007; Calleja 2007). Ob eine Ver- änderung in der Begrifflichkeit eine Konkretisierung mit sich bringt, muss sich zeigen. Den dargestellten wie den wahrnehmenden Körper als Ausgangspunkte für die Erforschung immersiver Effekte zu nehmen ist angesichts dieser Entwicklungen jedoch sicherlich gerechtfertigt. Das scheinbar duale Verhältnis zwischen Film und Zuschauer, zwi- schen Bildtechnologien und verkörpertem Blick, wird aber noch von einem dritten Faktor bestimmt. Das ist der Körper des Filme- machers, den Sobchack als kollektiven Körper aller am Herstellungs- prozess Beteiligter definiert (1992, 9). Ihr zufolge bringt der Filme- macher sein verkörpertes Sehen in den ‹Filmkörper› (film’s body) ein, wo der Betrachter es wiederum erfahren kann. Die Anwesenheit des Filmemachers ist allerdings indirekt und sein Einfluss auf die filmische 126 montage AV 17 /2 / 2008 Erfahrung immer nur mittelbar, weil er sich hinter der Kamera befin- det (ibid., 173). Dieses mediatisierte Verhältnis sei in allen Gattungen gleich: «For the filmmaker, the world (whether ‹real›, drawn, or con- structed in any other fashion) is experienced through the camera. It is seen and felt at the end of the lens» (ibid., 175). Eine solche Homogenisierung der gefilmten Welt geht jedoch an einer essentiellen Eigenschaft der Animation vorbei: Hier wird die Welt, bevor sie gefilmt wird, zunächst geschaffen. Während des Herstellungsprozesses hat der Animator unmediatisierten Kontakt und greift fortwährend in Form und Erscheinung ein. Während der «filmmaker’s touch», wie Sobchack schreibt, nur als metaphorischer Überschuss der symbiotischen Einheit «filmmaker-camera» entstehen kann (ibid., 185ff), ist er in der Animation konkrete Praxis. Dadurch verändert sich die Position des Filmemachers in der Beziehung zwi- schen Film und Betrachter; sie wird explizit. Nicht nur hat der Fil- memacher ein unmittelbares Verhältnis zur dargestellten Welt und den sich darin befindenden Körpern, er tritt darüber hinaus oft selbst in ihr in Erscheinung. Nachdem im nächsten Abschnitt zunächst die Beziehung zwischen computeranimierten Körpern und dem Zuschauer untersucht wird, soll im letzten Abschnitt dieses Beitrages gezeigt werden, wie sich die Rolle des Animators in der Computeranimation gestaltet und wie er als ‹dritter Körper› zwischen den technologischen und empathischen Immersionsstrategien vermittelt. Animierte Körper. Realismus, Wahrnehmung und Wissen In den Animation Studies, die sich in den letzten Jahren als selbstständi- ges Forschungsgebiet etabliert haben, wird das Streben nach Realismus und damit nach Immersion häufig mit der affirmativen, kommerziel- len Animation in der Tradition Walt Disneys verknüpft. Experimentel- le Animation hingegen entwickelt nach dieser Lesart subversive Re- präsentationsstrategien und stellt illusionistische Bildkonzepte in Frage (vgl. Wells 2002). Die Filme der Pixar- oder Dreamworks-Studios wie- derum ziehen Kritik auf sich, weil sie Disneyschen Hyperrealismus mit der Imitation kinematografischer Konventionen verbinden und sich damit vermeintlich noch weiter vom künstlerischen Potenzial der Animation entfernen; mit ihrer Standardisierung narrativer und sti- listischer Elemente erscheinen sie als Kitsch und Massenkonfektion (Friedrich 2007). In der Ratte 127 Demgegenüber ist festzuhalten, dass der Computeranimation eine veritable Renaissance der Gattung zu verdanken ist, in kommerziel- ler wie in künstlerischer Hinsicht. Gerade in den so kritisch beurteil- ten Blockbuster-Animationsfilmen finden sich nämlich, wie wir sehen werden, zahlreiche Elemente, die den Gegensatz zwischen affirmativen und subversiven Strategien als fragwürdig erscheinen lassen. Um die Bedeutung des fortschreitenden visuellen Realismus in der Computeranimation für die Darstellung des Körpers zu verstehen, ist ein Blick auf die Anfänge der Gattung nötig. In den Animationsfilmen der 1920er Jahre waren Körper, wie Joanna Bouldin formuliert hat, exzessiv, ja buchstäblich ‹unmöglich› (2000, 59). Nach dem Prinzip des squash’n’stretch werden sie als extrem flexibel und resistent gegen Zerstörungen aller Art gestaltet. Sie lassen sich vermehren, halbieren, zerstückeln, plattwalzen oder ausradieren und stehen am Ende doch wieder unversehrt bereit für eine weitere Episode. Dieser permanen- te Widerstand gegen die Naturgesetze, der die fröhlich-anarchischen frühen Animationen bestimmt, ist heute noch in den abstrakten, äs- thetisierten Formen der Gewalt im japanischen Anime wahrzunehmen (McCrea 2008). Als Walt Disney Mitte der 1930er den Zeichentrick- film zum abendfüllenden feature ausbaute, führte er auch eine ande- re Körperauffassung ein. Er stellte zehn Gebote für seine Zeichner auf, deren Essenz darin bestand, die phantastischen Elemente mit ele- mentaren Naturgesetzen zu kombinieren und durch konsequente An- thropomorphisierung die Illusion von Lebensechtheit zu erreichen (Thomas & Johnston 1981). Das Ergebnis war ein Hyperrealismus, der sowohl stilistisch wie narrativ normgebend war: Bambi bewegt sich wie ein echtes Reh, und Bambi ist sterblich. Mit der Computeranimation wird der Hyperrealismus nicht nur um die Illusion der dritten Dimension, sondern auch um die mimeti- sche Wiedergabe von Stofflichkeit erweitert. Diese Entwicklung voll- zieht sich nicht gleichmäßig. Erst wenn die Eigenschaften einer visu- ellen Struktur errechnet werden können, lässt sie sich in Bildelemente übersetzen. Eben weil die Bilder konstruiert und nicht aufgezeichnet werden, befinden sich ihre unterschiedlichen Elemente, ähnlich wie in der Malerei, je nach Stand der technischen und stilistischen Entwick- lung auf verschiedenen Realitätsniveaus. Das Ergebnis ist ein «syn- thetischer Realismus» (Manovich 1997). Mitte der 1990er Jahre zum Beispiel konnten Reflexionen glänzender Oberflächen mit ray tracing überzeugend wiedergegeben werden, während diffuse Lichteffekte, organische Texturen und Bewegungen noch schwierig zu simulieren waren. Entsprechend sehen computeranimierte menschliche Körper 128 montage AV 17 /2 / 2008 aus dieser Zeit aus, als seien sie aus Plastik, während metallene oder gläserne Gegenstände ungleich realistischer erscheinen. In dem ers- ten abendfüllenden Computeranimationsfilm Toy Story (John Lasse- ter, USA 1995) wurde diese Beschränkung in eine Stärke verwandelt: Die Protagonisten sind Spielzeugfiguren, deren glänzende Plastikober- flächen und marionettenhaften Bewegungen sich bereits überzeugend simulieren ließen (Paik 2007, 80ff). Auf dem Gebiet der Simulation von Haut wurden erst fünf Jahre später jene entscheidenden Fortschritte erzielt, die die überzeugende Wiedergabe des menschlichen Körpers möglich machten.3 Compu- terwissenschaftler aus Stanford publizierten zwischen 1999 und 2001 die Algorithmen, mit denen sich das semi-transparente Reflexions- muster der Haut (subsurface scattering) rendern ließ, und Physiker in Utrecht beschrieben drei Jahre später die Ursache für einen pfirsich- artigen Teint (asperity scattering) (vgl. Lehmann 2008). Die unendlich komplexe Simulation menschlicher Haare – die abgesehen von Fri- sur und Farbe auch Textur, Reflexion, Interaktion zwischen einzelnen Haarsträngen, Haar und Körper sowie Haar und Luft berücksichtigen muss – steckt wissenschaftlich gesehen zwar noch in den Kinderschu- hen, kann aber durch visuelle short cuts überzeugende Ergebnisse er- zielen. So werden fließende Bewegungen langer Haare mit ähnlichen Bewegungsalgorithmen berechnet wie Flüssigkeiten (vgl. Ward 2007). Diese und andere Fortschritte trugen maßgeblich dazu bei, dass in der Pixar-Produktion The Incredibles (Brad Bird, USA 2004) erst- mals Menschen im Mittelpunkt der Handlung stehen konnten (vgl. Flückiger 2008, 462-64). Allerdings sind die Incredibles keine norma- len Menschen, sondern eine Familie untergetauchter Superhelden. Ihre übermenschlichen Eigenschaften manifestieren sich an ihren Körpern. So kann etwa Helen Parr alias Elastigirl sich endlos dehnen und wie ein menschlicher Kaugummi beliebige Formen annehmen. Damit syn- thetisiert sie den ‹unmöglichen Körper› der frühen Animation mit dem visuellen Realismus der Computergrafik (Wood 2007, 26). Dieser Re- alismus wiederum wird in dem für die Computeranimation typischen Spannungsfeld zwischen mimetischer Lebensechtheit (lifelikeness) und gattungsgerechter Glaubwürdigkeit (believability) gestaltet (Doyle 2002). 3 Auch die Simulation von Bewegung, Mimik, Gestik, auf die hier nicht näher einge- gangen werden kann, ist wesentlich für die lebensechte Erscheinung menschlicher Si- mulationen. Obwohl sich mit motion-capture-Techniken natürliche Bewegungen in die Computeranimation überführen lassen, scheint die daraus resultierende Synthese inde- xikaler und piktoraler Verfahren Immersion eher zu verhindern als zu stimulieren und stellt ein weiteres Beispiel des uncanny-valley-Effekts dar (Bouldin 2001; Powers 2008). In der Ratte 129 Gestalt und Gesicht der Figuren bleiben cartoonartig schematisch, während Haut und Haar beinahe fotorealistisch sind. Aber auch auf dem Niveau des einzelnen Bildelements wird das Prinzip des syntheti- schen Realismus bewusst eingesetzt. So beschreibt Karen Paik in ihrer (autorisierten) Geschichte der Pixar Studios, dass sich Brad Bird die Haut der Protagonisten «simpel – keine Poren oder Behaarung –, aber auch nicht im Plastik-Look» vorstellte (Paik 2007, 246). Um diesen Ef- fekt zu erreichen, wurde die oben erwähnte Technik des subsurface scat- tering in die eigens für Pixar entwickelte Software Skin Paint integriert: «Mit Skin Paint», so der Technical Production Director in einem Interview, «können wir die Farbe der Haut kontrollieren, wenn das Licht in die Haut einfällt [...]. Es ist wunderbar, wenn die physikalische Komplexi- tät der Figuren endlich stimmt, doch die künstlerische Kontrolle über die Prozesse bleibt die Hauptsache» (Robertson 2005, 18). Der Vorrang der Kunst vor der Technik, der hier behauptet wird, ist übrigens ein weiterer Gemeinplatz im Diskurs um Computeranimatio- nen. Die Praxis zeigt, dass weder Handlung noch künstlerische Gestal- tung notwendig Vorrang vor der Technologie haben; vielmehr stehen sie in kreativer Wechselbeziehung zueinander. Das zeigen etwa die Haare der Protagonisten, die wiederum ein kleines bisschen naturalistischer als die Haut erscheinen und ein Beispiel für die narrative Instrumentali- sierung des synthetischen Realismus sind: Als naturalistisches Anhängsel der relativ schematischen Gesichter ziehen sie die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich und werden eingesetzt, um wesentliche Charakter- züge der Figuren zu visualisieren. Das lange schwarze Haar der ältesten Tochter Violet, hinter dem sie ihr Gesicht versteckt, symbolisiert das Unbehagen des Teenagers und paraphrasiert zugleich ihre Superkraft: Sie kann sich unsichtbar machen. Die schütteren Haare Mr. Incredib- les signalisieren seine midlife crisis und reduzierte Potenz als Superheld. Dashs wilder Haarschopf spricht für die ungestüme Art eines Zehnjäh- rigen, und die in fast jeder Situation makellose Frisur Mrs. Incredibles bringt die kontrollierende Funktion der Mutter zum Ausdruck. Eine noch vielschichtigere Synthese von Technologie und Narra- tiv stellt die Kleidung der Incredibles dar. Weil deren supersuits haut- eng anliegen und sich den körperlichen Superkräften anpassen, fun- gieren sie im Film eigentlich als zweite Haut und damit als Teil der Körper. Wie die Haare stellten diese flexiblen Kleidungsstücke denn auch eine enorme technische Herausforderung dar (Paik 2007, 245- 46). Davon zeugt das im Abspann neben den gewohnten Lighting, Tex- turing, Shading und Rendering Teams aufgeführte umfangreiche Hair and Cloth Team. Technischer Aufwand und Geschichte bedingen einander, 130 montage AV 17 /2 / 2008 denn die supersuits liefern buchstäblich den Stoff für den Film. Wie ein textiler Subtext zieht sich das Motiv durch die Handlung und hat mit Edna Mode, einer skurrilen Modedesignerin für Superheldenanzüge, sogar eine eigens dafür erdachte Figur. Am Anfang des Films spannt sich der Stoff zunächst um den zu dick gewordenen Bauch des heimlich wieder in Einsatz gekommenen Su- perhelden im Ruhestand, Bob Parr alias Mr. Incredible. Wenn Bob zu Edna Mode fährt und sie bittet, einen Riss in seinem abgetragenen su- persuit zu flicken, steht der Stoff für die Sehnsucht nach den alten Zeiten und das Verlangen nach neuen Abenteuern. Als Bob sich einen Umhang für seinen neuen Anzug wünscht und Edna dessen unpraktische, ge- fährliche Nachteile auflistet und damit den Unterschied zwischen den Incredibles und verstaubten, Umhang tragenden Comic-Helden her- ausstellt, wird der Stoff zur Metapher für den Plot des Films allgemein, die Renaissance der Comic-Helden im Zeitalter der Computeranimati- on. Später, als der fachkundig geflickte Riss im alten Anzug Helen Parr verrät, dass ihr Mann sich keineswegs auf einem Kongress für Versiche- rungsvertreter befindet, sondern wieder als Superheld aktiv ist, wird der Stoff zur Spur. Als Helen Edna Mode um Hilfe bittet, präsentiert diese ihr in einer spektakulären Modenschau eine neue Kollektion für die Familie, jeder Anzug ist so ausgerüstet, dass er die individuellen Super- kräfte optimal unterstützt. Die Kleider konfrontieren Helen mit ihrer verleugneten Identität als Superfrau und signalisieren damit den Beginn des Abenteuers. Kurz darauf sehen wir Mrs. Incredible am Steuer eines Flugzeugs unterwegs, um ihren Mann zu retten. Ihre Kinder haben sich heimlich an Bord versteckt. Als sie von feindlichen Raketen beschossen werden und ein Absturz droht, ziehen sie ihre neuen Anzüge an und schlüpfen damit endgültig in ihre wirkliche Rolle. So schreibt der Stoff Technologie und Handlung untrennbar in die Körper der Protagonisten ein und spinnt damit auch die Zuschauer in die Geschichte ein. Wie aber ‹berührt› der Stoff den Betrachter und erzeugt die für die Computeranimation typische Verknüpfung von Technik und narrati- ver Immersion? Auf der Suche nach der Ursache der besonderen Lust am Zeichentrickfilm und den Quellen seines immersiven Potenzials hat Joanna Bouldin Sobchacks Theorie der embodied spectatorship für die frühe Animation fruchtbar gemacht. Ihr erster Schritt besteht da- rin, den verkörperten Blick aus dem Korsett der indexikalischen Auf- zeichnung zu lösen, beruht die Theorie doch auf der Basis einer foto- grafischen Wiedergabe des Körpers: In der Ratte 131 The lack of the verisimilitude embedded in animation, which complicates the possibility of a one-to-one somatic identification on the part of the car- toon viewer, is merely enhanced by the often ‹impossible› bodies of many animated characters (Bouldin 2000, 59). Weil die Animation keinen indexikalischen Realismus kennt, scheint sie sich einer somatischen Identifikation im Sinne Sobchacks entgegen- zustellen. Bouldin kann jedoch zeigen, dass der Zuschauer gerade sei- nen eigenen Körper benötigt, um die animierten Körper zu begreifen: Even more than with live-action film or television, in order for the car- toon viewer to make sense of, and make sensible the animated world, s/he must resort to her/his own ‹body› of experiences and experiences of the body (ibid., 60). Bouldin kommt zum Schluss, dass der animierte Körper embodied spec- tatorship noch mehr herausfordert als der Körper im Realfilm: «The animated body can perform feats and take forms that the live actor’s body cannot, thus animation extends the possibilities of the viewer’s embodied responses» (ibid., 63). Wie das Beispiel der Incredibles zeigt, strebt die Computeranimation nach einer Fusion des ‹unmöglichen› Körpers früher Animationen mit dem visuellen Realismus der Com- putergrafik. Theoretisch potenziert und intensiviert sich damit auch das Identifikationsangebot an den Zuschauer, dem sowohl fotorealisti- sche Elemente als auch die erweiterten Möglichkeiten des animierten Körpers zur Verfügung stehen. Noch präziser lässt sich die Reaktion auf das Gesehene mit Laura Marks’ Theorie des haptischen Blicks (haptic visuality) beschreiben, die sich ebenfalls auf Sobchacks phänomenologische Filmtheorie bezieht und filmische Strategien untersucht, die ein haptisches Schauen be- sonders ansprechen.4 Marks zufolge sind so genannte haptische Bilder typisch für den interkulturellen Film, der sich gegen die Ästhetik Hol- lywoods stellt, die maßgeblich durch den Blick in die Tiefe bestimmt wird, so wie die Renaissance-Malerei durch die Zentralperspektive bestimmt wurde. Marks schreibt: «In intercultural cinema, haptic ima- 4 Vergleichbar ist Mark B. Hansens Theorie des haptischen Sehens. Wo fotografische Technologien den Blick vom Körper trennten, erfordert die Produktion und Wahr- nehmung von Bildern mit digitalen Technologien nicht nur die Fakultät des Sehens, sondern den ganzen affektiven Körper (Hansen 2001, 66). Durch den Computer «wird die Wahrnehmung genötigt, ihre konstituierende, physische Basis wiederzu- entdecken» (ibid., 79, Übers. d. A.) und entsteht ein haptisches Sehen. 132 montage AV 17 /2 / 2008 ges are often used in an explicit critique of visual mastery, in the search of ways to bring the image closer to the body and the other senses» (2000, 152). Formale Kategorien der haptischen Visualität sind Un- schärfe und Körnigkeit der Bilder sowie die Bewegung der Kamera entlang von Oberflächen und Texturen statt der Fahrt in die illusioni- stische Tiefe (ibid., 162). Marks konstruiert hier eine Parallele zu der kunsthistorischen Differenzierung zwischen haptischen und optischen Stilen in der Malerei, die der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl um 1900 vorschlug (vgl. Fend 2007). Obwohl sich die Computeranimation an der Hollywood-Ästhetik orientiert und die Fahrt in die Tiefe perfektioniert hat, spricht sie auch den haptischen Blick sehr pointiert und unter Verwendung genau je- ner formalen Aspekte an, die Marks beschreibt – wenn auch das Ziel keineswegs darin besteht, eine «visual mastery» zu kritisieren.5 Weil die Computeranimation nicht nur Materialien und Texturen selbst, son- dern auch ihre kontextabhängigen Eigenschaften wie Alterung, Pa- tina, Nässe immer naturalistischer simulieren kann (vgl. Dorsey et al. 2008), können Texturen und Oberflächen, die auch im Realfilm als «narrative Werkzeuge» gelten (Kohlmann 2008, 114), immer dezidier- ter verwendet werden, um Geschichten zu erzählen. In Ratatouille zum Beispiel wird die authentische Beschaffenheit der Oberfläche von Lebensmitteln, Töpfen und Textilien eingesetzt, um die Wahrnehmung aus der Perspektive der Ratte überzeugend zu gestalten. So sagt Sharon Calahan, Director of Photography and Lighting, in einem Interview: We wanted to have a nice variety of patina on everything as if it was all very old, but very well cared for, and to have that luster on the metal surfaces […]. Many of the textures were over-scaled to create this stylization. […] looking at the world from the rats’ point of view, we needed to exaggerate scale even more to help make the world seem huge to them (Barbagello 2008). Die Patina eines kupfernen Kochtopfs wird also nicht nur sichtbar gemacht, um die Aura der Restaurantküche zu evozieren, sondern vor allem, um dem Zuschauer die Erfahrung aus der für ihn fremden Perspektive der Ratte zu ermöglichen. Ganz besonders wird der hapti- sche Blick durch die Simulation des Hindurchschauens angesprochen. Aus der Perspektive der Ratte, die sich in der Menschenwelt ständig 5 Lev Manovich (1996) hat bereits früh angedeutet, dass die Computergrafik diese Dichotomie überbrückt und sich sowohl optischer als auch haptischer Strategien bedient. In der Ratte 133 verstecken muss, schauen wir aus zahlreichen alltäglichen, aber für un- sere Wahrnehmung normalerweise unzugänglichen Objekten heraus, so etwa aus den Löchern in einem metallenen Sieb oder durch das Glasdach über der Küche. Am wirkungsvollsten ist diese Perspekti- ve, wenn Remy auf Linguinis Kopf sitzt und durch den durchlässigen Stoff seiner Kochmütze in jene Welt blickt, die ihm als Ratte verboten ist. Die virtuelle Kamera wechselt dabei eine Point-of-View-Einstel- lung mit dem Blick über die Schulter Remys ab, wodurch der Zu- schauer sowohl aus der Ratte als auch mit der Ratte schaut, was das Gefühl, ebenfalls unter der Mütze zu sitzen, noch verstärkt. Sowohl die somatische Spiegelung in den unmöglich-realistischen Körpern als auch der Appell an den visuellen Tastsinn können also im- mersiv wirken. Die synthetische Mimesis der Wirklichkeit der Com- puteranimation stimuliert eine embodied spectatorship aber noch durch einen weiteren Aspekt, nämlich ihren epistemologischen Ursprung. In ihren Anfängen diente die Computergrafik nicht in erster Linie der Imitation medialer Bildkonventionen oder der Herstellung von Illusion, sondern der Analyse und Simulation visueller Phänomene und damit der Wissensproduktion (Nakame 1995).6 Computergrafi- ken bilden also nicht nur ab, sondern vermitteln auch Wissen, weil sie mathematisch codierte Erkenntnisse über mögliche und tatsächliche Phänomene visualisieren (vgl. Wagner 2005). Der epistemische Aspekt computergenerierter Bilder kann immersiv wirken, insofern der Be- trachter nicht nur etwas anschaut, sondern etwas erfährt, in dem dop- pelten Sinne, dass er eine Erfahrung macht und etwas lernt dabei. Wie Paul Wells treffend formuliert hat, ist auch die Animation ih- rem Wesen nach ein Medium, das Wissen generiert, wenn auch nicht unbedingt wissenschaftliches Wissen: «Animation intrinsically inter- rogates the phenomena it represents and offers new and alternative perspectives and knowledge to the audiences» (Wells 2002, 11). Die- se Tendenz potenziert sich durch das Hinzukommen der Computer- grafik. Diese konstruiert nicht nur das Unmögliche, sondern auch das Vertraute. Der synthetische Realismus ihrer Bilder fordert den Be- 6 Erst wenn die Computergrafik das Labor verlässt und zum Medium der Kultur- und Kreativindustrie wird, tritt ihr illusionistisches Potenzial in den Vordergrund und die Algorithmen werden den entsprechenden Anforderungen der Bildproduzenten und des Publikums angepasst. In der Medientheorie wurden Forschung und Technologie hinter den computergenerierten Bildern oft als black box behandelt (z.B. Jones 1989; Moscovich 2002) oder poetisiert (z.B. Kittler 2001), statt sie analytisch offenzulegen, wie Lev Manovich dies fordert (2006). Erst seit kurzem werden auch technische As- pekte berücksichtigt (z.B. Flückiger 2008; Kohlmann 2008). 134 montage AV 17 /2 / 2008 trachter auf, auch die alltägliche Wahrnehmung zu hinterfragen: Sehen so vom Wind zerzauste Haare aus, scheint Licht so durch die Haut, be- wegen sich Beine so beim Gehen? In jeder Beziehung spricht die Darstellung des Körpers in der Computeranimation also die Erfahrung des Zuschauers an und fordert ihn auf, sich einem Schauen mit dem ganzen Körper hinzugeben und ins Medium einzutauchen. Das geschieht buchstäblich in der Szene, die auf den Flugzeugabsturz der Incredibles folgt. Mrs. Incredible und ihre zwei Kinder fallen ins Meer und kommen nach Luft schnappend wieder an die Oberfläche. Der Zuschauer erfährt diesen Moment so- wohl über die mit der virtuellen Kamera simulierte Orientierungslo- sigkeit als auch über die nun nassen, vorher so ‹charaktervollen› Haare der Protagonisten. Ähnlich wie der Madeleine-Effekt in Ratatouille kann das Ein- und Auftauchen aus dem Wasser als Metapher für das immersive Potenzial des Mediums gelesen werden. Auch hier werden empathische an technologische Strategien der Immersion gekoppelt. Die Immersion erfasst hier aber noch einen weiteren Körper, den des Animators. Im Making-of zu Finding Nemo (Andrew Stanton, USA 2003), der The Incredibles vorausgeht und für den die beschriebe- nen Unterwasser-Effekte erstmals hergestellt wurden, sagt Regisseur Andrew Stanton: «The first thing we did was we went diving with the whole crew.» Damit man eine Welt darstellen kann, muss man sie erst erleben, und zwar am eigenen Körper. Der Körper des Animators. Selbstreflexivität als Immersion Die Reflexion auf ihre Produktionsprozesse wird im Allgemeinen als typische Eigenschaft der Animation bezeichnet (Lindvall & Melton 1994). Reflexivität kann sich auf verschiedene Weise manifestieren, am eindeutigsten aber dann, wenn der Animator selbst ins Bild kommt. Das ist der Fall in hybriden Animationsfilmen der ersten Jahre des Kinos, in denen man den Animator beziehungsweise seine zeichnen- de Hand im Dialog mit den von ihm erschaffenen Figuren sieht (z.B. The Enchanted Drawing (J. Stuart Blackton, Thomas A. Edison, USA 1900); Humorous Phases of Funny Faces (J. Stuart Blackton, The Vitagraph Co. of America, USA 1906); Animated Painting (Edison Studio, USA 1904). Aber auch später bleibt die Interaktion von Ani- mator und Animation eine beliebte Formel, deren Pointe meist darin besteht, dass die gezeichneten Wesen versuchen, sich der Kontrolle ih- res Schöpfers zu widersetzen (z.B. Osvaldo Cavandoli, La Lignea, IT In der Ratte 135 1972; Chuck Jones, Duck Amuck, USA 1953). Der Verweis auf Her- stellungsprozesse hebt die künstlerische Leistung der Trickfilmer her- vor und unterstreicht, dass es die Hand ist und nicht die Kamera, die die primäre Arbeit leistet. In einem Artikel zum Verhältnis von Animation und Neuen Medien hat David Clark den immersiven Effekt der selbstreflexiven Geste beschrieben: The ‹hand of the animator› is a term used in the history of animation to de- note the self-referential use of the animator’s hand on the screen to interact with the drawn animated figures in the frame [...]. Through the hand of the animator we are able to imagine our body inside the strange and foreign parallel world (Clark 2005, 144). Clark sieht die Hand des Animators in Web-basierter Kunst und in- teraktiver digitaler Animation als Hand des ‹user› wiederkehren: «The computer has incorporated the hand of the animator effect into the design of the machine itself. The computer mouse allows us to be the hand of the animator – to reach into and interact with this stran- ge new world» (ibid., 145). Die Hand des Animators selbst aber wird in der computergenerierten Animation nicht mehr repräsentiert. Viel- mehr entsteht der Eindruck, als ob sie durch den Computer von ih- rem Produkt strikt getrennt würde, was die selbstreflexive Geste der frühen Animation unmöglich zu machen scheint. Paul Wells zufolge arbeitet auch der neue Realismus der Computeranimation der Selbst- reflexivität als medialem Prinzip entgegen. Der Computer «heightens the sense of realism until the form does not announce itself as anima- tion but insists upon its representational validity» (Wells 2002, 13). Das Medium bringt sich demnach selbst zum Verschwinden, so wie der Fotorealismus in der Malerei danach strebt, die Spur des Pinselstrichs zu verwischen. Tess Takahashi hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass die fotorealistischen Tendenzen der Computeranimation eine Renaissance der direct animation ausgelöst haben. Diese versucht den technischen Apparat des Films im Herstellungsprozess zu umgehen, indem die Filmoberfläche direkt mit Farbe, Kratzen, Ätzen etc. bearbeitet wird (Takahashi 2005, 166). In den zahlreichen Beispielen, die Takahashi nennt, bringen die Animatoren oft nicht nur ihre Hand, sondern ihren ganzen Körper ins Spiel: Blut, Körpersekrete, Haut und Haare werden auf den Film aufgetragen. Takahashi schreibt: «Films that incorporate the artist’s body seem to want to present those bodies as physically 136 montage AV 17 /2 / 2008 present in the film, rather than represented» (ibid., 173). Allerdings, so bemerkt sie nebenbei, wird dieses Streben durch die Form selbst blo- ckiert, denn im Endprodukt erscheint das Körpermaterial nur noch als abstraktes Zeichen (ibid., 174). Auch wenn der Körper des Animators buchstäblich im Film ist, evozieren die Bilder, die man sieht, nicht des- sen körperliche Präsenz. Obwohl Vivian Sobchack, ganz im Gegensatz zu diesen künstlerischen Strategien, den Körper der Filmemacher aus- schließlich hinter der Kamera positioniert, ist der Effekt vergleichbar. Sowohl die Präsenz des Körpers als Material in der direct animation als auch seine Präsenz hinter der Kamera sind im Ergebnis nicht direkt erfahrbar. Interessanterweise ist es nun gerade die als immateriell und maschinisiert stigmatisierte Computeranimation, die die körperliche Präsenz des Machers wieder sichtbar in den Vordergrund stellt. In den Filmen selbst, namentlich aber auch in den Paratexten, kommt sie zur Sprache. Da ist zunächst das Making-of. Making-ofs verstehen sich grund- sätzlich immer als lehrreiche Dokumentarfilme über eine Produktion (Hediger 2005; Hight 2005). Im Falle der Computeranimation stellen sie systematisch das Klischee der Entmaterialisierung und Standardi- sierung durch den Computer in Frage. Stattdessen zeigen sie, wie im Produktionsvorgang materielle und physische Prozesse sowie künstle- rische ‹Handarbeit› mit digitalen Technologien verknüpft werden. Die Akteure sind die Animatoren selbst, die häufig in einer Art Forscherrol- le präsentiert werden. Ein beliebtes Motiv ist der Animator, der seinen eigenen Körper, seine Gestik, Mimik und Bewegung einsetzt, um eine glaubwürdige Darstellung zu erzielen. Im Making-of von Toy Story zum Beispiel berichten die Macher, dass sie Holzbretter an ihre Füße schnallten und so durchs Studio liefen, um herauszubekommen, wie Plastikspielzeugsoldaten laufen würden, wenn sie es könnten (DVD, Bonusmaterial). Im Making-of zu Finding Nemo sehen wir, wie Ani- matoren vor dem Spiegel ihre Mimik studieren, auf der Suche nach einem glaubwürdigen Gesichtsausdruck für Fische. In einem bonus fea- ture zu Ratatouille unterstreicht Brad Bird, wie essentiell das Studi- um des eigenen Körpers ist. «People film themselves», sagt er, «and use elements for their animation, and then they notice aspects of their own actions they weren’t aware of before» (DVD, Bonusmaterial «The Fine Art of Animation and Cooking»). Abstrahiert man vom kommerziellen ego busting der involvierten Künstler und Produzenten, dann bietet das Making-of einen idealen Ausgangspunkt für die Untersuchung jenes für die Animation so charakteristischen Zusammenspiels von körper- licher Praxis und pikturalen Repräsentationsformen. In der Ratte 137 Wenn der Körper des Animators im Produktionsprozess unent- behrlich ist, dann ist es nur konsequent, dass er – getreu Leonardo da Vincis Credo «ogni pittore dipinge se» – auch im Film selbst in Er- scheinung tritt. Er tut das auf unterschiedliche Weise. John Lasseter zum Beispiel beschreibt, wie die Protagonisten in Toy Story im Laufe der Produkti- on mit seinen Charaktereigenschaften und denen seiner Kollegen ‹ge- füllt› wurden (Paik 2007, 91). Noch pointierter wird dieses Verhältnis in The Incredibles, wo Physiognomie und Gang des Regisseurs Brad Bird die Gestaltung des Bösewichts inspirierten. Gegen Ende des Films betreten noch zwei andere Animatoren die Bühne, was nun den Cha- rakter einer bewussten Hommage annimmt. Frank Thomas und Ollie Johnston, Birds Lehrmeister und zwei der ‹nine old men› der Disney Studios, betrachten den Showdown vom Rand des Geschehens aus und liefern lobenden Kommentar («This is old school, Frank»). Solche und zahlreiche andere puns und Referenzen werden auf Fansites auf- gelistet und in der International Movie Database (IMDB.com) unter dem Schlagwort trivia gesammelt. Die Reflexion über Herstellungs- prozesse und die komplexe künstlerische und technische Leistung der Animatoren bahnt sich aber auch – wie der Stoff der supersuits – einen Weg in die Handlungen selbst, wie zwei Beispiele zeigen sollen. In Toy Story ii gerät die Cowboypuppe Woody in die Hände ei- nes Sammlers, der damit eine Kollektion vervollständigt, die er mit viel Gewinn nach Japan verkaufen will. Woody ist allerdings ziem- lich ramponiert und muss restauriert werden. Der Sammler ruft einen Spielzeugrestaurator an, der mit seinem Werkzeugkasten unterm Arm erscheint und sich an die Arbeit macht. Der nun folgenden Restau- rierung ist die Sequenz «The Cleaner» gewidmet, die sich durch ein eigenes musikalisches Thema, reduzierte Handlung und Dialog vom Rest des Films unterscheidet und voller Bezugnahmen auf den Ani- mationsprozess ist. Wenn der Sammler den Cleaner fragt, wie lange er brauchen wird, antwortet dieser: «You can’t rush art.» Dann öffnet er seinen Werkzeugkasten, dessen unendlich viele Schubladen mit den darin befindlichen Utensilien den technologischen Apparat der Com- puteranimation zu paraphrasieren scheinen. Die virtuelle Kamera zeigt die Reparatur abwechselnd aus der Perspektive Woodys, der Gesicht und Werkzeuge des alten Mannes überlebensgroß wahrnimmt, und des Spielzeugrestaurators, der eine leblose Puppe vor sich hat. So wird der erste Point-of-View-Shot aus Woodys Sicht von einem Wattestab verdunkelt, wenn der Cleaner dessen Augen poliert (Abb. 1). In den zu neuem Glanz erwachten Augen spiegelt sich nun die Umgebung, ein 138 montage AV 17 /2 / 2008 1 the cleaner Effekt, der die Technologie des ray-tracing zur Schau stellt, die in Toy Story ii ausführlich zum Einsatz kam. Als nächstes flickt der Restau- rator Woodys Kleidung. Wie ein Mikroskop zoomt die Kamera auf die Stofffasern und verweist damit auf das Bemühen der Computergrafik um die realistische Wiedergabe von Texturen. Sie lässt den Betrachter sogar Teil des Textils werden, wenn wir aus einer ‹unmöglichen› Per- spektive, aus einem Riss im Körper der Puppe schauen und erleben, wie er vor unseren Augen zugenäht wird. Wenn der Cleaner zu guter Letzt Woodys Wangen mit Farbe besprüht, referiert er nicht nur auf den Pygmalionmythos; seine Handlung schafft auch einen Bezug zu einer berühmten Anekdote aus der Produktion von Snow White (Walt Disney, USA 1937): Schneewittchens Wangen mussten auf tausenden von Einzelbildern mit Hand nachgefärbt werden, nachdem Disney sie in letzter Minute als zu blass und leblos befunden hatte (Finch 1973). Der Restaurator steht so gesehen für den Animator und seine Ar- beit. Die relative Statik und Ruhe der Sequenz ermöglichen es dem Zuschauer, die Kunst der Animation und damit auch die Quellen der eigenen Schaulust zu reflektieren, ohne dass durch dieses kontemplati- ve Moment der Fluss der Narration unterbrochen würde. In The Incredibles wird die bereits erwähnte Modenschau zur Parabel auf den Animationsprozess. Als Vorführerin ihrer Kollektion ist Edna Mode ein stand-in für den Animator. Während ihre äußere Erscheinung die berühmte Kostümdesignerin aus Hollywood, Edith Head, persifliert, verweist ihr Name auch auf eine maßgeschneiderte Softwareapplikation für Pixar (emode); ihre Synchronstimme aber ist die des Regisseurs Brad Bird selbst. Das Setting, in dem Mrs. Incre- dible die supersuits vorgeführt werden, gleicht der Vorführsituation im Kino und rückt die Reflexion über die Struktur des Mediums noch deutlicher in den Vordergrund als in Toy Story ii. Edna und Mrs. In- In der Ratte 139 2–3 the credible sitzen im Dunkeln, und die Kreationen ziehen hinter Glas auf incredibles einem hell erleuchteten Fließband an ihnen vorüber. In den Kleidern stecken keine Menschen, sondern Schaufensterpuppen, die aussehen wie halbfertige Computeranimationen, bevor sie die für shading und texturing zuständigen Abteilungen durchlaufen haben (Abb. 2 und 3). Die besonderen Eigenschaften der Anzüge erläutert Edna stolz anhand miniaturisierter Special Effects – Explosionen, Kugelhagel, extreme Torsionen und Geschwindigkeiten –, die sich später im Film in realem Maßstab wiederholen werden. Es sind genau jene Effekte, deren dyna- mische Darstellung den Animatoren so viel Kopfzerbrechen bereiten. Die Modenschau paraphrasiert damit nicht nur die Produktion der Bilder selbst, sondern auch die Präsentation von Sequenzen in ver- schiedenen Stadien während der Produktion eines Animationsfilms. Obwohl Selbstreflexivität im Grunde als Gegenteil von Immersion gilt, gelingt es der Computeranimation, sie hier als immersive Form zu gestalten. Wie bei der Restaurierungsszene in Toy Story ii ist die Se- quenz so in die Handlung eingebettet, dass sie diese vertieft, statt sie zu unterbrechen. Einen wesentlichen Beitrag dazu liefert die Darstellung der fasziniert-entsetzten Reaktion Helen Parrs auf die Show, die als Einkoppelungsfigur für den Zuschauer einsteht, der sich der Faszinati- on durch die gezeigten Stoffe/Bilder ebenfalls hingeben soll. Die drei Körper der Computeranimation In Ratatouille wird die Verknüpfung der technischen und empa- thischen immersiven Strategien durch den Animator besonders an- schaulich. Sie manifestiert sich in der bereits beschriebenen besonde- ren Beziehung zwischen der Ratte Remy und Linguini. Um Linguini kochen zu lassen, dirigiert Remy ihn wie ein Puppenspieler seine Ma- rionette. Er zieht an Linguinis Haaren und kontrolliert damit seine Bewegungen, lässt ihn Gewürze riechen, Gemüse schneiden, flambie- ren, die phantastischsten Gerichte bereiten und auch die Frau seines Herzens küssen, als er zu lange zögert. Selbstverständlich muss dieses 140 montage AV 17 /2 / 2008 4 ratatouille Zusammenspiel erst geübt werden, was zu allerlei komischen Situati- onen führt. Die physische Symbiose von Remy und Linguini trägt die Handlung des Films und illustriert, wie der Animator in seiner Rolle als ‹Körpermacher› den Betrachter für die Wahrnehmung des darge- stellten Körpers sensibilisieren kann (Abb. 4). Was die technischen Immersionsstrategien betrifft, so vereinen so- wohl der menschliche Körper Linguinis als auch der tierische Remys Elemente der klassischen Animation mit dem visuellen Realismus der Computergrafik auf eine vergleichbare Weise wie die Körper der In- credibles. Linguinis Gestalt ist stilisiert, aber Haar und Haut sehr rea- listisch gestaltet; Remys bläuliches Fell ist mit einem Algorithmus, der bereits für Monster & Co. entwickelt wurde, äußerst naturalistisch gerendert. Der synthetische Realismus von Haar und Fell rückt unter der Kochmütze in permanente Nahsicht des haptischen Blicks. Das Ziehen an diesen realistischen Haaren wiederum, die als ‹Fühler› des Körpers unmittelbar an das taktile Empfinden appellieren, fordert eine physische Reaktion beim Betrachter heraus und lässt ihn Remy quasi auf dem eigenen Kopf spüren. Der Animator tritt nun in Ratatouille nicht als externe Figur in Erscheinung wie der Cleaner oder Edna Mode, sondern er ist sozu- sagen dieser unwahrscheinliche dritte Körper, der in der Symbiose von Ratte und Mensch entsteht. Das Puppenspiel ist aber nicht nur eine allgemeine Metapher für die Animation. Denn die Art und Wei- se, wie Remy Linguini dirigiert, referiert auf eine tatsächliche Com- puter-Animationstechnik, das point-weight based rigging (entwickelt für die komplexen Körperbewegungen der Incredibles), mit dem Com- putermodelle über definierte Punkte an der Oberfläche kontrolliert werden «like a marionette controlled by hundreds of tiny strings that can be pulled in any direction» (Paik 2007, 245). Wiederum liefert die Technologie die Inspiration für ein narratives Element, welches In der Ratte 141 die verschiedenen Episoden des Films verknüpft und den Zuschauer einbindet. Als Animator hält Remy die Fäden der Geschichte in sei- nen Pfoten und dirigiert Linguini durch den Film. Gleichzeitig ist der Betrachter im Körper der Ratte der Welt der Menschen ausgeliefert. Dieser anhaltende Wechsel im Erleben verschiedener Körper kreiert in der Verschränkung von synthetischem Realismus, haptischem Schauen und der selbstreflexiven Geste der Animation kontinuierlich neue im- mersive Impulse. Die Ratte lässt uns buchstäblich nicht los. Literatur Barbagallo, Ron (2008) The Art of Making Pixar’s Ratatouille: Harley Jessup, Sharon Calahan & Brad Bird on Ratatouille, www.animationartconservati- on.com, letzter Zugriff am 12.02.2009. Bartle, Richard (2007) Presence and Flow: Ill Fitting Clothes for Virtual Worlds. In: Techné 10,3, S. 39-54. 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Facetten räumlicher Immersion in technischen Medien Britta Neitzel Als Boris Becker 1999 in einer AOL-Werbung begeistert «Ich bin drin!» ausrief, nachdem er sich ins Internet eingewählt hatte, saß er noch an einem Schreibtisch. 2008 können Internet-Benutzer offenbar in der Badewanne bleiben, um «drin» zu sein. In einer Werbung für ihre «Call & Surf»-Pakete zeigt die Telekom ein Paar, das einer Arie lauscht, wäh- rend es in einem Schaumbad Champagner schlürft. Nur benutzt das Paar dafür weder Radio- noch Fernsehgerät; die Badewanne erscheint vielmehr als Loge in einem Opernhaus. Eben diese visuelle Durchdrin- gung von öffentlichen und privaten Räumen war das durchgängige Repräsentationsprinzip der Telekom-Werbung im Jahre 2008 für on- line vermitteltes Erleben, dem auf diese Weise eine besondere immersi- ve Qualität zugesprochen wird. Nicht nur findet sich die Badewanne in der Oper, in anderen Spots erscheint das Schlafzimmer mitten in einem Schuhgeschäft oder das Fernsehsofa in einer Videothek, und ein Film- team samt Leiche dreht im Wohnzimmer einen Krimi. Musste Boris Becker sich also noch «rein» begeben, so scheint man heute immer schon «drin» zu sein: die Zuschauer sind omnipräsent. So ruft das Paar in der Badewanne verschiedene, gegenläufige Assoziati- onsketten auf. Die Werbung nimmt das alte Faszinosum des Überall- dabeisein-Könnens, ohne das Haus verlassen zu müssen, wieder auf, mit dem man schon das Radio und später vor allem das Live-Fern- sehen bewarb und populär machte, und überträgt es, den immersiven Aspekt ausbauend, auf das Internet. Die wichtigste Verschiebung be- steht darin, dass nunmehr kein Apparat – wie das Fernsehgerät in alten Werbebotschaften – ein ‹Fenster zur Welt› darstellt, sondern dass man mit der Qualität eines unmedialisierten Erlebens an jeden Ort der Welt virtuell zu gelangen und in ihn einzutauchen scheint. Es ist die Ver- 146 montage AV 17 /2 / 2008 vollkommnung der immediacy, wie sie Bolter und Grusin (2000) be- schreiben. Die Werbung suggeriert, dass der neue Erlebenstyp eigent- lich kein ‹woanders›, kein Differenzempfinden zwischen hier und dort kennt. Sie wirft damit ein Schlaglicht auf die These von Engell (2004), wonach in der digitalen Welt alles Virtuelle immer schon präsent und sichtbar ist und nur noch ausgewählt zu werden braucht. Gleichzei- tig ist im Blick auf diesen Werbespot der Rekurs auf den Begriff ‹Im- mersion› besonders naheliegend, steht er doch nicht nur für ein me- dientheoretisches Konzept, sondern in der Medizin zugleich für eine Vollbad-Anwendung zu Heilzwecken. Die Telekom-Figuren sind ver- sunken (immersed) im Schaumbad und in der Oper, das heißt auch im Opernhaus. Wo der Fokus der Aufmerksamkeit liegt, bleibt offen. Im Folgenden möchte ich diese in der AOL- und der Telekom- Werbung angespielte Idee von der Möglichkeit, virtuell überall einzu- tauchen und mit dabei zu sein, zum Anlass nehmen, theoretische Kon- zepte von Immersion sowie Immersionsstrategien in verschiedenen Medien zu betrachten. Immersion wird von einigen Theoretikern mit dem Modell der Reise an einen anderen Ort beschrieben (vgl. z.B. Ryan 2001, 93ff), wobei mediale Immersionsstrategien darauf abzielen, die Grenze zwi- schen dem medialen Raum, in den man eintritt, und dem eigentlichen Rezeptionsraum im Bewusstsein der Rezipierenden partiell auszulö- schen oder zumindest die Aufmerksamkeit von dieser Grenze abzu- ziehen. Neue Medien entwickeln nicht jeweils neue Techniken der Immersionserzeugung, sondern übernehmen sie von ihren Vorgängern und modifizieren sie. Ich werde deshalb auf Strategien der Raumüber- windung in verschiedenen technischen Medien eingehen, um sie dann in einem kurzen Ausblick mit den Veränderungen zu konfrontieren, die sie unter den Bedingungen interaktiver digitaler Medien erfahren. Als Beispiel ziehe ich das Computerspiel heran, wobei sich die Frage stellt, ob ein möglichst hohes Niveau der Immersion oder der Diffu- sion von medialem Raum und Rezeptionsraum, von Schaumbad und Oper, wirklich das Ideal beim digitalen Spiel sein kann? Immersion, Telepräsenz, presence Janet E. Murray fasst ‹Immersion› als Erfahrung, an einen kunstvoll si- mulierten Ort (elaborately simulated place) befördert zu werden, in wel- chen man eindringt. Immersion sei Facetten räumlicher Immersion in technischen Medien 147 a metaphorical term derived from the physical experience of being sub- merged in water. We seek the same feeling from a psychologically immer- sive experience that we do from a plunge in the ocean or swimming pool: the sensation of being surrounded by a completely other reality, as different as water is from air, that takes over all of our attention, our whole perceptu- al apparatus. We enjoy the movement out of our familiar world, the feeling of alertness that comes from being in this new place, and the delight that comes from learning to move within it (Murray 1999, 98f). In dieser begeisterten Beschreibung der Immersion, die nicht zufäl- lig in einem Buch mit dem Titel Hamlet on the Holodeck zu finden ist, fällt bei näherem Hinsehen ein Denkfehler auf: Wenn wir tatsächlich länger im Wasser ‹untertauchen›, ertrinken wir. Die totale Immersion, auf die Murray abzielt, die unsere ganze Aufmerksamkeit und unse- ren gesamten Wahrnehmungsapparat beansprucht, ist ein Mythos und muss ein solcher bleiben: ein mythischer, unerreichbarer Endpunkt der Mediengeschichte, der in Visionen vom totalen Realitätsverlust zuta- ge tritt (vgl. Schweinitz 2006) und in Filmen wie The Matrix (Andy & Larry Wachowski, USA 1999) zum Gegenstand populärer Diskurse wurde. Das Gefühl des Transportes und die Faszination, anderswo prä- sent zu sein, bedarf mindestens zweier Orte, und die Unterscheidung zwischen hier und dort lässt sich niemals völlig aufheben. Immersion ist ein ambivalentes Phänomen, das gleichzeitiges Hier- und Dortsein bedeutet. Verwandt ist die Immersion mit dem Konzept der Telepräsenz, bei dem sich schon im Begriff die Ambivalenz von Ferne und Gegenwär- tigkeit zeigt. Verwandt ist sie aber auch mit dem vor allem in der eng- lischsprachigen Literatur diskutierten Konzept der presence, das sich mit Konzeptualisierungen von Immersion überschneidet (vgl. Lombard/ Ditton 1997; King/Krzywinska 2006, 97ff). Lombard und Ditton un- terscheiden in ihrer Beschreibung von presence drei mögliche Ausrich- tungen der Reise, nämlich «You are there», «It is here» und «We are together (shared space)». Sie schlagen damit eine richtungsbezogene Differenzierung von presence vor, die jedoch weiter geht und mehr An- schlussmöglichkeiten bietet als die einfache Reisemetapher. Denn der Begriff der Immersion, wenn er im Zusammenhang mit den digitalen Medien, insbesondere der virtuellen Realität und den Computerspie- len diskutiert wird, hat als expliziten oder impliziten Endpunkt stets die ‹totale Immersion›, den Transport eines Benutzers in die virtuelle Welt, die ihn vollkommen absorbiert. Dazu gehört Murrays Vision von der andersartigen Umgebung, die den Benutzer umschließt, ebenso 148 montage AV 17 /2 / 2008 1 l’arrivée d’un train en gare à la ciotat wie Oliver Graus (2000) Vorstellung, dass nur ein Bildraum von 360° zur Immersion führe. Die Auffächerung von Lombard und Ditton bie- tet demgegenüber größere Differenzierungsmöglichkeiten. Denn da- mit kann man die ‹Reise› in simulierte Welten, also die Vorstellung von ‹Immersion› als Hineingezogenwerden in eine mediale Umgebung, an ein weiter reichendes Konzept anschließen, das auf der Annahme fußt, im Mediengebrauch finde immer eine – je spezifische – Diffusion von Räumen und Orten unterschiedlicher Qualität (metaphorisch, mate- riell, imaginär oder virtuell) statt. Ich will im Folgenden einigen Strategien dieser Diffusion nachge- hen, die den Eindruck entstehen lassen, dass man sich in den medialen Raum hineinbegibt, dass ein medialer Raum in den materiellen Raum hineinragt oder dass man sich an einem dritten Ort befindet. Das wird zunächst in Hinsicht auf einige analoge Medien geschehen, bevor ich die Wiederaufnahme, Modifikation und Ergänzung dieser Strategien im Computerspiel diskutiere. Heraus und Hinein: Kinematografische Zugfahrten Die Mythen, die sich um die Ereignisse bei der Vorführung von L’ar- rivée d’un train en gare à La Ciotat (Auguste & Louis Lumière, F 1895) ranken, sind bekannt: «[D]ie Lokomotive [raste] vom Hintergrund der Bildwand her auf die Zuschauer zu, die vor Schreck aufsprangen, weil sie fürchteten, überfahren zu werden» – so heißt es spektakulär bei Georges Sadoul (1982 [1949], 27). Auch wenn neuere filmhistorische Facetten räumlicher Immersion in technischen Medien 149 Untersuchungen von weit weniger panischen Reaktionen ausgehen (Bottomore 1999; Loiperdinger 1996), so bleibt doch eine neuartige, zumindest irritierende Erfahrung: der Eindruck, dass sich der abgebil- dete Zug auf die Zuschauer zu bewegte, der Irritationen auf der Ebene von somatischer Empathie ausgelöst haben mag (Abb. 1). Stephen Bottomore zitiert zudem Äußerungen aus der Frühzeit des Kinos, in denen Zuschauer ihre Verwunderung darüber ausdrückten, dass Objekte, die sich im Bild bewegten, einfach verschwanden. «The train comes ‹straight out into the darkness where you are sitting ... and then just vanishes›» (Maxim Gorki, zit. n. Bottomore 1999, 194).1 Filmbilder, die solche Eindrücke hervorrufen, erscheinen nicht völlig geschlossen, der Raum, den sie evozieren, ist vom Raum des Zuschau- ers nicht komplett getrennt. In L’arrivée d’un train lassen sich die Schienen und damit die Bewegung des Zuges imaginär aus dem Bild heraus verlängern. In anderen Filmen der Lumières wie etwa Niagara (F 1897) verschwinden bewegte Objekte in einem nicht weiter de- finierten Off: Wo kommt das Wasser her, das in großen Mengen und hoher Geschwindigkeit von links nach rechts durchs Bild fließt, und vor allem: Wo bleibt es, wenn es hinunterstürzt? Die Bewegungsrich- tung von Objekten innerhalb eines Bildes, das sich nicht selbst bewegt, scheint die Imagination auf einen anderen Raum zu lenken, der nicht zu sehen ist (Abb.2). Eine dem ankommenden Zug entgegengesetzte Bewegung, die je- doch ebenfalls mit der Phantasie der möglichen Verbindung von medi- alem und realem Raum zu tun hat, findet sich beim phantom ride. Rief die Ankunft des Zuges die partielle Suggestion hervor, er könne aus der Leinwand heraus in den Zuschauerraum rasen, so nehmen die fil- mischen phantom rides das Publikum visuell und mental auf suggestive Weise mit, während sie in den Bildraum eindringen. Für die phantom rides, die zwischen 1896 und 1907 sehr populär waren (vgl. Gunning 2007), wurde die Kamera auf eine Lokomotive montiert, die in die Tiefe des Raums hinein fuhr. Gunning zitiert Be- schreibungen von Produktionsfirmen, die den phantom rides panorama- tische Qualitäten zusprechen. Als touristische Attraktionen boten sie spektakuläre Aussichten auf Berge und Schluchten (vgl. auch Fielding 1968/69, in diesem Heft). Gunning betont jedoch, dass die phantom rides 1 Bottomore an anderer Stelle: «One young man dashed forward on a bicycle, and it seemed to me that he very narrowly missed falling out of the picture entirely. [...] the train dashed towards us, as if about to leave the screen and land in the hall» (1999, 192ff). 150 montage AV 17 /2 / 2008 2 niagara mehr erleben ließen als entfernte Panoramen, denn der Kamerastand- punkt, der den Effekt einer Fahrt hervorruft, lasse Distanz nicht zu. Vielmehr erzeuge er einen Thrill, da die Zuschauer kaum anders kön- nen, als dem ‹Blick der Kamera› zu folgen, deren Bewegung sie nicht aufzuhalten vermögen. Visuell an die Spitze des Zuges versetzt, ist man dem Sog in die Tiefe des Raums gleichsam ausgeliefert. Die Situation eines solchen Ausgeliefertseins an die Bewegung ist für Erkki Huhtamo (1995, in diesem Heft) grundlegend für das Erlebnis der Immersion. Er spricht im Zusammenhang von Achterbahnen und ähnlichem von «encapsulated bodies in motion»: eingekapselte, festgeschnallte, stillge- stellte Körper werden Bewegungssensationen ausgesetzt. Beim phantom ride handelt es sich um einen entkörperlichten Blick, der in den Raum vordringt. Was das Publikum sieht – sein ‹erblickter Blick› gewissermaßen – lässt sich keiner personalen Instanz zuschrei- ben, und auch Lokomotive und Zug bleiben unsichtbar. Die stete Be- wegung in den Raum hinein entspricht auch keiner gewöhnlichen objektiven Einstellung, bei der die Kamera (ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen) lediglich als transparenter Mittler fungiert. Viel- mehr scheint es sich um ein Phantom zu handeln, das blickt: «Since it remains off-screen and invisible, the locomotive takes on a character- istic of a phantom, a presence evident in its effects, while remaining unseen» (Gunning 2007, o.S.). Einstellungen, die als Blicke kodiert sind, ohne an eine Figur an- gebunden zu sein, werden im klassischen Film vor allem im Point- of-View-Shot und damit in einem Kontext eingesetzt, der deutlich macht, wessen Blick hier simuliert wird (vgl. Branigan 1984, 57f): Be- Facetten räumlicher Immersion in technischen Medien 151 vor die Kamera den Standpunkt einer Figur einnimmt, wird gezeigt, dass diese Figur sieht. Einstellungen hingegen, die nicht zeigen, wessen Blick sie wiedergeben, finden sich vor allem dort, wo gezeigt werden soll, dass sich eine Bedrohung nähert: eine ‹blickende› Bedrohung, de- ren Charakter verborgen bleibt, was sie noch bedrohlicher macht.2 Die kinematografischen Zugfahrten zeigen also, dass illusionistische Bewegung aus dem Bildraum heraus und das suggestive Eindringen in den Bildraum hinein immersive Effekte erzeugen, indem die Grenze zwischen Zuschauerraum und Bildraum im rezeptiven Erleben partiell aufgehoben wird. Im Äther: Telefon Keine Phantom-Blicke, wohl aber Phantom-Stimmen bringt das Te- lefon hervor. Während die filmische Repräsentation von Fahrzeugen, die auf eine Kamera zufahren oder eine in die Tiefe eindringende Ka- mera darauf abzielen, Zuschauerraum und dargestellten Raum zu ver- binden, schafft die Telefonie Räume, die es zuvor nicht gab. Kabel, Ver- mittlungsstellen und Telefonapparate bilden die technisch-materiellen Voraussetzungen für den Telefonraum. Er wird jedoch erst aktualisiert, wenn tatsächlich telefoniert wird. Auch ist der Kommunikationsraum, der dabei entsteht, nicht materiell zu verorten – weder in den Kabeln noch an den Vermittlungsstellen oder den Apparaten, an denen ge- sprochen wird. Stefan Münker bezeichnet das Telefonieren insofern als eine Vorform der virtuellen Realität: Eine ‹virtuelle Wirklichkeit› ist als fertige (verkörperte, physikalisch gebil- dete) Wirklichkeit nicht ‹vorhanden›. Sie entsteht, indem man sie nutzt. [...] Präziser muß es entsprechend heißen: Technisch generierte virtuelle Realitäten sind ästhetische Weisen der Welterzeugung, die erst und nur im Gebrauch der entsprechenden Medien existieren – zum Beispiel während wir telefonieren (Münker 2000, 187). Damit muss auch Oliver Graus Aussage modifiziert werden, dass eine «Vorgeschichte der Idee, an fernen Orten zu wirken, die Telepräsenz, [...] die Größe Bild nicht umgehen» kann» (2001, 50). Denn ein Wir- ken an anderen Orten ist auch über die Stimme möglich, die mittels 2 Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist der Beginn von Halloween (USA 1978, John Carpenter). Hier werden die Zuschauer über sieben Minuten im Unklaren ge- lassen, wessen Blick man folgt. 152 montage AV 17 /2 / 2008 Telefon jemandem, der weit entfernt ist, etwas ins Ohr flüstert. Das paradoxe Konzept der ‹Telepräsenz› wird gerade beim Telefonieren ak- tualisiert. Denn hier verbindet sich die Stimme eines Menschen, die als flüchtiges Medium nur präsent zu vernehmen ist, mit der körperli- chen Abwesenheit der Sprechenden. Die «Größe Bild», von der Grau spricht und auf die er sich mit Medienutopien wie Edisons Telepho- noscope (2001, 52f) bezieht, wird heute über Videokonferenzen reali- siert. Die Vorgeschichte kam ohne Bild aus. Über den Äther: Radio, Fernsehen Die Broadcast-Medien Radio und Fernsehen schaffen weniger ei- nen dritten, von den Nutzern geteilten Raum (vgl. Lombard/Ditton 1997), als dass sie Entfernungen zwischen materiellen Orten überwin- den. Das von diesen Medien kreierte disperse Publikum spürt im Mo- ment des rezeptiven Erlebens nicht unmittelbar, wie beim Telefonie- ren, die Präsenz der übrigen Nutzer. Die spürbarste Erfahrung war und ist in Hinsicht auf viele Live-Programmanteile die, dass über Radio und Fernsehen ‹die Welt ins Haus kommt›. Für die Idee der Raumüberwindung durchs Fernsehen ist natürlich das Bild wichtig, insbesondere jenes Bild, das ohne Zeitverzögerung gesendet wird. Das Fernsehen empfahl sich vor allem über das Ver- sprechen des Live-Dabeiseins. Die Übertragung der Olympiade 1936 bescherte den Fernsehversuchen im NS-Deutschland die ersten nen- nenswerten Zuschauerzahlen, die Olympiade 1946 verhalf der BBC zum Wiedereinstieg in die Fernsehübertragung, und zur Etablierung des Fernsehens als Massenmedium trugen maßgeblich die Live-Über- tragungen der Krönung von Elisabeth II. (1953) und der Mondlan- dung (1969) bei (vgl. Hickethier 1998; Engell 2004). Live-Übertra- gungen ermöglichen es, zu Hause zu bleiben und doch an Ereignissen teilzuhaben, die an einem anderen Ort stattfinden. «Wir glauben nicht, daß ein Besucher der Horner Rennbahn ein gleich geschlossenes Bild vom Rennverlauf gehabt hat wie der Zu- schauer vor seinem Empfänger daheim», vermerkte Kurt Wagenführ 1952 in den Fernseh-Informationen (zit. n. Hickethier 1998, 86). Die Live-Übertragung erscheint hier dem eigentlichen Ereignis überlegen. Mehrere Kameras ermöglichen dabei den Blick aus verschiedenen Po- sitionen, geben ein komplexeres Bild vom Ereignis und bringen die Zuschauer auf diese Weise nah an das Geschehen heran. Die Freude auf dem Gesicht eines Siegers wird man im Stadion nicht sehen, das Fernsehen jedoch kann sie zeigen. Live-Übertragungen kompensieren Facetten räumlicher Immersion in technischen Medien 153 Nicht-Anwesenheit mit der medialen Bearbeitung des Gezeigten. Mit Narrativierung (vgl. Neitzel 1997) oder Emotionalisierung suchen sie ihre Zuschauer einzubinden, die Aufmerksamkeit zu steigern und auf diese Weise immersive Effekte zu erreichen. Eine besondere televisuelle Strategie zur imaginär-immersiven Ver- bindung des Zuschauerraums mit dem im Fernsehen präsentierten Raum ist die parasoziale Interaktion. In Bezug auf die Überwindung von Raumgrenzen ist vor allem das ursprüngliche Konzept von Hor- ton und Wohl (1956) relevant,3 das sich auf die Technik von Modera- toren und Talkmastern bezieht, die ihre Zuschauer vermeintlich di- rekt adressieren. Durch den Blick in die Kamera, gepaart mit Sätzen wie «Guten Abend, meine Damen und Herren!» oder «Ich freue mich auf Sie!», wird der Anschein einer realen Interaktion erweckt. Bedin- gung für soziale Interaktion ist jedoch die tatsächliche gemeinsame Anwesenheit (vgl. Goffman 1971, 27f), die beim Fernsehen nicht ge- geben ist. Horton und Wohl (1956, 215) gehen dennoch davon aus, dass die Zuschauer auf die Kommunikationsangebote reagieren: «The more the performer seems to adjust his performance to the supposed response of the audience, the more the audience tends to make the response anticipated.» Lässt sich auch allenfalls vermuten, wie die Zu- schauer reagieren – fühlen sie sich wirklich angesprochen? –, so lässt sich doch festhalten, dass hier gegenseitige Anwesenheit simuliert wird. «Die Situation, die so entsteht, umfasst nicht nur das Bühnen-, sondern auch das Geschehen im Zuschauerraum. Der Zuschauer ist Teil der In- szenierung», beschreibt Wulff (1993, 42) im Rekurs auf die Theatersi- tuation diese auf immersive Effekte zielende Strategie der imaginären Überbrückung, ja Diffusion räumlicher Grenzen. Handeln im medialen Raum: Computerspiele Digitale Medien – im Folgenden werde ich mich nur auf Computer- spiele beziehen – ergänzen die genannten Strategien der Durchdrin- gung verschiedener Räume und die Etablierung von genuin medialen Räumen um einen wesentlichen Aspekt, nämlich die Möglichkeit, in den medialen Räumen auch zu handeln. Das ‹Wirken an einem anderen 3 Das Konzept der parasozialen Interaktion oder der parasozialen Beziehungen hat seit 1956 einige Bedeutungsverschiebungen und -erweiterungen erfahren, s. dazu Hip- pel 1992 und 1993; Wulff 1993 sowie Vorderer 1996. 154 montage AV 17 /2 / 2008 Ort›, das beim Telefonieren darauf beschränkt ist, mit einem Abwe- senden zu sprechen, wird im virtuellen Raum dieser Beschränkung enthoben und hat sichtbare Folgen. In Einzelspielerspielen besucht (und gestaltet) ein Spieler einen zweiten Raum. Der in Online- oder anderen Mehrspielerspielen gemeinsam besuchte dritte Raum wird durch die Handlungen der Spieler mitgestaltet. Anders als im Fall von Rundfunk und Fernsehen ist die Anwesenheit der Mitnutzer hier un- mittelbar erlebbar, der Raum wird zu einem aktiv geteilten Raum, zum shared space. So besteht eine grundlegende Eigenschaft von vielen Computerspielen im Explorieren und Manipulieren von Räumen. Dies trifft auch auf Spiele zu, die nicht mit einer grafischen Ober- fläche, also nicht mit der visuellen Darstellung von Räumen arbei- ten, sondern mit Text. Zork (Infocom 1971), eines der frühesten Text- Adventures, lebt vor allem durch die Beschreibung von Orten und die Eingabe von Bewegungsrichtungen durch den Spieler und eröff- net damit einen Raum, der im Laufe des Spiels exploriert wird. Auch grafikbasierte Computerspiele sind keine physisch behandelbaren und begehbaren Räume, sondern stellen Räume dar. Die Bilder gewinnen jedoch ihre räumliche Qualität nicht nur durch Abbildungsstrategien, sondern vor allem durch die Manipulationsmöglichkeiten, die sie den Spielern bieten. Eine Realitätsprüfung durch Handlung, wie sie weder im Film noch im Fernsehen möglich ist, gibt den grafischen Räumen ihren realistischen Charakter. So verändern sich auch die Strategien zur Überwindung von Raumgrenzen oder zur Aufhebung von Distanzen, die oben beschrie- ben wurden, durch den Aspekt der für ein Spiel notwendigen Nut- zung der Räume – dazu im Folgenden zwei Beispiele. Beispiel 1: In einem Computerspiel findet keine Live-Übertragung statt, es wird nichts gezeigt, das gerade an einem anderen Ort stattfin- det. Dennoch nimmt der Spieler an einer Situation teil, die sich gerade jetzt entwickelt, wenn auch nicht an dem Ort, an dem er sich befindet. Wird ein Spielgeschehen in Echtzeit berechnet, so erfolgen die Hand- lungen in der Spielwelt nur dann, wenn der Spieler sie auslöst, und in dem Moment, in dem er sie auslöst. Das Spielgeschehen ist an die Gegenwart gebunden und flüchtig, es findet jetzt statt und nur unter Beteiligung eines Spielers. Das Gefühl, sich woanders oder in einem shared space zu befinden, wie er in Hinsicht auf den Raum, der beim Telefonieren entsteht, be- schrieben wurde, stellt sich vor allem bei Online-Spielen oder den so genannten Metaversen wie Second Life (Linden Labs, seit 2003) Facetten räumlicher Immersion in technischen Medien 155 ein. Denn den übrigen Spielern, denen man dort vermittelt über ihre Avatare begegnet, begegnet man eben nur dort. Diese Subjekte befin- den sich weder auf dem eigenen noch auf einem anderen Computer, sondern entstehen erst in der im Spiel aktualisierten virtuellen Welt. Gleichwohl ist nicht immer auf den ersten Blick klar, ob eine Figur, der man begegnet, tatsächlich ein ferngesteuerter Avatar ist: Es könnte sich auch um einen Non Player Character (NPC) handeln. NPCs sind mit mehr oder weniger künstlicher Intelligenz ausgestattete Figuren, die auf den Avatar eines Spielers reagieren oder diesen zu Reaktionen motivieren können.4 Wie die TV-Zuschauer im Falle der parasozialen Interaktion wird der Spieler direkt angesprochen und in die Situati- on, die der NPC zu kreieren sucht, einbezogen. Es findet also eine Art parasoziale Interaktion statt, indem die NPCs Interaktionsmuster simulieren. Der entscheidende, immersive Momente steigernde Un- terschied zur televisuellen Situation liegt jedoch darin, dass der Verlauf der Situation durch die Reaktion des Spielers mitbestimmt wird. Beispiel 2: Der immersiven Filmform des phantom ride ähnlich ist die so genannte first-person-Perspektive des Ego-Shooters. Auch hier zeigt das Bild ein Blickfeld, ohne dass eine blickende Person gezeigt würde. Momente des Phantomhaften bleiben damit gewahrt (vgl. ausführli- cher Neitzel 2000, 194-200; Neitzel 2007). Jedoch ist diese Perspek- tive nicht – wie im Film – fremdgesteuert, sondern kann vom Spieler gelenkt werden. Sie dient nicht lediglich dazu, etwas sichtbar zu ma- chen, das auf den Blickenden zukommt, so dass sich ein Zuschauer dem Thrill ausliefern kann; sondern vielmehr dazu, das Spielfeld nach für das Spiel brauchbaren Gegenständen und nach Gegnern abzusu- chen. Der Blick in den Raum wird also nach spielrelevanten Motiven gelenkt. Jedoch ist beim klassischen Ego-Shooter, ähnlich dem phan- tom ride, die Blickrichtung an die Bewegungsrichtung gekoppelt. Kein Körper, der den Kopf wenden und somit die Blickrichtung von der Be- wegungsrichtung lösen kann, wird dargestellt. So ist der Ego-Shooter vor allem gekennzeichnet durch eine Vorwärtsbewegung in den abge- bildeten Raum hinein, die gekoppelt ist mit dem Blick nach vorn und verlängert werden kann durch den Schuss auf den Gegner. Außerhalb des Bildes gibt es eine der Vorwärtsbewegung analoge Bewegung mit dem Eingabegerät: Auf einer Tastatur wird durch die Pfeiltaste «nach 4 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch Figuren, die lediglich als Hinter- grund fungieren, also zum Setting gehören und nicht auf den Avatar von Spielern reagieren, als NPCs bezeichnet werden. 156 montage AV 17 /2 / 2008 oben», die aus Sicht eines Spielers nach vorn weist, eine Vorwärtsbe- wegung im Bildraum ausgelöst; beim Controller einer Konsole wird der Analogstick nach vorn gedrückt oder die Maus nach vorn bewegt. Neue Interface-Technologien, die nicht nur die Motorik der Hand, sondern (wie etwa die Wii-Konsole von Nintendo, 2006) den ganzen Körper einbeziehen, verstärken die sensomotorische Anbindung. Die beiden Beispiele zeigen, in welchem Maße digitale Medien an Techniken von räumlicher Immersion anknüpfen, die schon in analo- gen Medien existierten. Sie zeigen aber zugleich, wie sie im digitalen Medium an die Gegebenheiten des Spiels angepasst und weiter ent- wickelt werden. So ist die visuelle Technik von Immersion im Falle des Ego-Shooters durch den bewegten unkörperlichen Blick durch- aus erkennbar; sie ist jedoch in den Spielzusammenhang eingebunden, so dass die Bedeutung nicht mehr von einem stillgestellten Zuschauer abhängt, sondern vom Interesse des Spielers, im medialen Raum aktiv zu werden. An anderer Stelle (Neitzel 2008) habe ich deshalb vorge- schlagen, in Hinblick auf Computerspiele weniger von Immersion als vielmehr von Involvierung zu sprechen, um das für das Spiel entschei- dende aktive Moment in den Vordergrund zu rücken, während klas- sische Konzepte von Immersion häufig Passivität und die Utopie der Totalität konnotieren. Die Überbrückung und Diffusion von Räumen und die Phantasie von der totalen Immersion spielen in den Mythen des Digitalen, wie sie in der Telekomwerbung aufgegriffen werden, eine große Rolle. Das (immersive) Moment der räumlichen Diffusion wird gegenüber den Vorgängermedien beim Computerspiel durch die Aktivität des Spie- lers sogar noch gesteigert. Jedoch steht das Vergnügen, das sich durch die freiwillige Auslieferung an eine visuelle und sensorische Sensation einstellt, hier im Prozess des Spielens nicht im Vordergrund, denn der Gegeneffekt ist mindestens ebenso wichtig: Soll Vergnügen am Spiel entstehen, müssen die Spieler so weit ‹draußen› sein, dass ihre Hand- lungsfähigkeit gegenüber dem Spiel erhalten bleibt. Literatur Bolter, Jay David / Richard Grusin (2000) Remediation. Understanding New Me- dia. Cambridge, Mass.: MIT. Bottomore, Stephen (1999) The Panicking Audience? Early Cinema and ›Train Effect‹. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 19,2, S. 177-216. Facetten räumlicher Immersion in technischen Medien 157 Branigan, Edward (1984) Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film. 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Er steht auf einem schmalen Sims, der das Zimmer kaum zwanzig Zentimeter breit in großer Höhe umrundet. Kein Geländer bietet Schutz vor dem Sturz in die Tiefe, sollte er das Gleichgewicht verlieren. Seine Beinmuskeln spannen sich, um das Gleichgewicht zu sichern, er schwitzt, die Knie zittern, und er verspürt, wie Panik in ihm aufsteigt, wenn er nur daran denkt, einen Fuß über den Abgrund zu halten, geschweige denn das Zimmer zu durchqueren. Denn das ist die Aufgabe. Er weiß, es wäre gefahrlos – eigentlich könnte er ohne je- des Risiko geradeaus spazieren, denn das Zimmer ist nur eine Illusion. Doch sie löst intensives Präsenzerleben aus, in dessen Folge er physiolo- gisch und emotional reagiert und beinahe vergisst, dass er freiwillig an einem Laborexperiment teilnimmt (nach Rothbaum et al. 1995). Präsenzerleben (presence) wurde erstmals 1980 von Marvin Minsky erwähnt und anschließend vor allem von den Architekten virtueller Realitäten (VR) propagiert (vgl. Grigorovici 2003). Sie konnten wie- derholt beobachten, dass Personen, wenn sie die neuen virtuellen Re- alitäten erkundeten, für Momente vergaßen, dass sie nur eine medien- vermittelte Illusion sahen. Dieser Effekt ist keineswegs pathologisch: Später zweifelten die Probanden nicht daran, dass ihre Wahrnehmung medienvermittelt gewesen war, gaben jedoch an, dies während der Rezeption ‹vergessen› zu haben. In der medienpsychologisch orientierten Rezeptionsforschung fin- det sich eine Reihe von Konzepten, die diese Idee zumindest implizit 160 montage AV 17 /2 / 2008 teilen: Die Rezeption wird subjektiv als derart überwältigend erfah- ren, dass das Bewusstsein ihrer Vermittlung in den Hintergrund tritt. Auch beim involvement-, beim transportation- oder beim flow-Konzept schwingt dieser Gedanke der Non-Mediation mit (vgl. Klimmt/Hart- mann/Vorderer 2003; Wirth 2006). Non-Mediation als Bedeutungskern findet sich hingegen ausschließlich beim Präsenzerleben (vgl. Lom- bard/Ditton 1997).1 Besonders seit dem Aufkommen der Technologie virtueller Reali- täten interessieren sich unterschiedlichste Disziplinen, von der Com- puter- und Ingenieurswissenschaft über die Psychologie bis hin zur Philosophie, für das Präsenzphänomen. Jede Forschungstradition nä- hert sich dem Konzept allerdings auf andere Weise, so dass man von einer metatheoretischen Konfusion sprechen kann (Wirth et al. 2007, 494). So lässt sich in einem der ersten Aufsätze über Präsenzerleben (in diesem Falle telepresence) ein ausgeprägter Technikdeterminismus ausmachen, wie er in folgender Formulierung Marvin Minskys zum Ausdruck kommt: «Telepresence emphasizes the importance of high- quality sensory feedback […]» (Minsky 1980, 45; Herv.i.O.). Solche Konzeptualisierungen von presence zeugen von einer ingenieurswissen- schaftlichen Perspektivierung des Phänomens. Als fast schon triviales Missverständnis, das sich aus der Heterogenität der mit presence befass- ten Forschungsrichtungen ergibt, ist die abweichende Terminologie anzusehen (vgl. Lee 2004).2 Einen Versuch, Ordnung ins begriffliche Chaos zu bringen, unternahmen Lombard und Ditton (1997). Ihr For- schungsüberblick stellt sechs unterschiedliche Konzeptualisierungen von presence dar und grenzt sie voneinander ab, wobei allen sechs ge- meinsam ist, auf der «perceptual illusion of nonmediation» (ibid.) zu gründen. Ein Konstrukt, das mit der bei Minsky erwähnten telepresence am ehesten verglichen werden kann, ist räumliches Präsenzerleben (spatial presence).3 In diesem Beitrag soll räumliches Präsenzerleben aus medi- enpsychologischer Perspektive beschrieben und ein integratives Mo- 1 Im nachfolgend diskutierten Zwei-Ebenen-Modell (vgl. Hartmann et al. 2005; Wirth et al. 2007) wird nicht mehr explizit auf den zentralen Aspekt der Non-Mediation eingegangen. Non-Mediation wird als konzeptueller Kern von presence vorausgesetzt (vgl. Lombard/Ditton 1997) und muss bei der theoretischen Fundierung, die mit dem Modell vorgenommen wird, nicht mehr diskutiert werden. 2 So finden sich etwa Begriffe wie telepresence (Minsky 1980) virtual presence (Sheridan 1995) oder social presence (Lombard/Ditton 1997), die allesamt das gleiche Phänomen bezeichnen. 3 Wenn im Folgenden von presence oder von Präsenzerleben die Rede ist, ist damit immer spatial presence gemeint. Präsenzerleben 161 dell zur Erklärung des Phänomens vorgestellt werden, das «Zwei-Ebe- nen-Modell der Formation räumlichen Präsenzerlebens», entwickelt im Rahmen eines EU-Forschungsprojekts zu presence. Aus medienpsychologischer Perspektive ist presence eine bestimm- te Art und Weise, eine Rezeptionssituation zu erleben. Allgemein ge- sprochen geht es um das Gefühl, sich in der mediatisierten statt der realen Welt aufzuhalten (feeling of being there). Ziel der medienpsycho- logischen Präsenzforschung ist es, dieses subjektive Gefühl und sein Zustandekommen theoretisch zu verstehen, zu erklären und empi- risch zu messen. Dieses Vorgehen folgt der typischen medienpsycho- logischen Forschungslogik, die grob gesehen fünf Merkmalsqualitäten kennt: Charakteristika des Medienangebots, der Person, der Situation, des Rezeptionsprozesses sowie der kurz- und langfristigen Wirkun- gen. Diese Merkmalsqualitäten werden paradigmatisch getrennt gehal- ten, um ihre Beziehungen zueinander analytisch und empirisch bes- ser fassen zu können. Die medienpsychologische Forschung verfolgt also das Ziel, regelhafte Beziehungen zwischen einigen oder allen die- ser fünf Merkmalsqualitäten aufzudecken und empirisch zu belegen. Im Rahmen dieser Forschungslogik ist Präsenzerleben den Rezepti- onsprozessen zuzuordnen. Demnach moderieren bestimmte Medien-, Personen- und Situationsmerkmale die Wahrscheinlichkeit, dass Rezi- pienten presence erleben. Die medienpsychologische Forschungslogik behauptet keine de- terministischen Zusammenhänge, geht also nicht davon aus, dass be- stimmte Medienmerkmale unausweichlich zu Präsenzerleben führen oder gar damit gleichzusetzen sind. Medienangebote können jedoch mehr oder weniger günstige Voraussetzungen dafür bieten. Medien mit besonders vielen das Präsenzerleben begünstigenden Merkmalen werden als immersiv bezeichnet, und entsprechend wird lässt sich sagen, dass ihnen ein hohes Immersionspotenzial zukommt.4 Das Interesse an der Präsenzforschung ist seit gut zwei Jahrzehn- ten ungebrochen und hat 2000 zur Gründung der ISPR (International Society for Presence Research; vgl. ISPR 2000) mit Internetpräsenz und der interdisziplinären Fachzeitschrift Presence geführt. Im Jahre 2002 ist unter dem Dach des sechsten EU-Rahmenprogramms die Presence Initiative entstanden. In diesem Rahmen wurden mehrere interdiszip- 4 Aufgrund der heterogenen Tradition der presence-Forschung werden Begriffe wie ‹Telepräsenz› oder ‹Immersion› häufig synonym gebraucht. Immersion dient mit- unter auch der objektiven Beschreibung von Merkmalen der Medienumgebung, während mit Präsenzerleben das damit einhergehende subjektive Gefühl (vgl. Slater/ Wilbur 1997) gemeint ist. 162 montage AV 17 /2 / 2008 linäre Forschungsprojekte gefördert, um an unterschiedlichen Stellen die presence-Forschung voranzutreiben, darunter auch das kommuni- kationswissenschaftliche, medienpsychologisch ausgerichtete MEC- Projekt (Presence – Measurement, Effects, Conditions).5 Ziel des For- schungsprojekts ist es, Präsenzerleben theoretisch zu modellieren (vgl. Hartmann et al. 2005; Wirth et al. 2007), empirisch fassbar zu machen (vgl. Wirth et al., Böcking et al., im Druck) sowie dessen Implikatio- nen zu erforschen. Ein Prozessmodell für die Erklärung der Formation räumlichen Präsenzerlebens Im Rahmen des MEC-Projektes wurde das bereits erwähnte Zwei- Ebenen-Modell zur Entstehung räumlichen Präsenzerlebens konzi- piert, das Präsenzerleben als ein im Kern räumliches Wahrnehmungs- phänomen ansieht. Damit ist gemeint, dass der Rezipient sich räumlich in der mediatisierten Umgebung und nicht in der realen Umgebung fühlt, also den Rezeptionsort – den Kinosessel, das Sofa im Wohn- zimmer oder ein Experimentallabor – zumindest zeitweise vergisst. Seine Wahrnehmungen und Antizipationen, seine körperlichen und physiologischen Reaktionen, seine Gefühle und Gedanken und auch seine Handlungen (oder Handlungsabsichten) sind auf die mediati- sierte Welt bezogen. Erst auf Basis dieser räumlichen Wahrnehmung sind andere Varianten von presence wie soziales Präsenzerleben oder co- presence möglich (vgl. Zhao 2003). Das Modell geht von zwei zen- tralen Dimensionen des Präsenzerlebens aus. Die erste bezieht sich auf den mentalen Aspekt (Fühlen und Denken) und kann am besten dadurch umschrieben werden, dass man sich selbst als in der media- len Welt anwesend empfindet (Dimension der self localization); bei der zweiten Dimension geht es um die Reaktionen auf die mediale Welt tatsächlicher oder gedachter Natur. Entsprechend wird spatial presence im Rahmen des Modells – und in großer Übereinstimmung mit an- deren existierenden Definitionen (z.B. IJsselsteijn et al. 2000; ISPR 2001; Kim/Biocca 1997; Lessiter et al. 2001; Schubert/Friedmann/ Regenbrecht 1999; 2001) – als eine Rezeptionsmodalität definiert, bei der sich die Rezipienten «a) physisch in der medialen Umgebung an- wesend fühlen und bei der sie b) Handlungsmöglichkeiten in der me- 5 IST-2001-37661, Projektpartner waren Frank Biocca (Porto), Feliz Ribeiro Gouveia (Porto), Lutz Jäncke (Zürich), Timo Saari (Helsinki), Peter Vorderer (Los Angeles), Werner Wirth (Zürich). Präsenzerleben 163 dialen Umgebung erkennen und auf sich selbst beziehen» (Hartmann et al. 2005, 23). Das Modell erklärt nun nicht nur, welche psychologischen Prozesse zum Gefühl der Selbstlokalisation und der wahrgenommenen Hand- lungsmöglichkeiten führen, sondern verweist auch auf Eigenschaften des Medienangebots sowie des Rezipienten, die diese Prozesse fördern oder hemmen. Im Folgenden werden zunächst die Prozesse selbst, da- nach die medialen und personalen Einflüsse beschrieben. Prozesskomponenten Im Zentrum des Modells steht der eigentliche Entstehungsprozess räum- lichen Präsenzerlebens. Die Grundvoraussetzung für Präsenzerleben, aber selbstverständlich auch dafür, dass das Medienangebot überhaupt verarbeitet wird, ist Aufmerksamkeit. Sie kann entweder automatisch induziert oder intentional gesteuert werden (vgl. Wirth 2001). Die au- tomatische Aufmerksamkeitsfokussierung kommt primär in Mediennut- zungssituationen zum Tragen, in denen die Rezipienten gar nicht umhin kommen, sich dem Medienstimulus zuzuwenden, zum Beispiel im Kino, wenn eine große Leinwand das gesamte Blickfeld einnimmt und Sur- round-Sound ertönt, oder in interaktiven, multimodalen VR-Umgebun- gen (Biocca 1997; Biocca/Kim/Choi 2001), bei denen die Sinneswahr- nehmung nahezu vollständig von medialen Reizen beansprucht wird. Die kontrollierte Aufmerksamkeitsfokussierung hingegen kommt primär in Mediennutzungssituationen vor, die mehr Freiheit lassen, ob man sich mit dem Medieninhalt befassen möchte oder nicht. Beim Lesen hat man die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit voll auf das Buch zu lenken oder es nur quer und flüchtig zu lesen. Ohne die Initiative des Lesers können sich aufmerksamkeitssteigernde Faktoren, etwa eine spannende narrative Struktur, nur schwer entfalten (Gerrig 1993). In den meisten Rezeptionssituationen liegt eine Mischung aus kontrol- lierter und automatischer Aufmerksamkeitssteuerung vor. Aus Sicht des Zwei-Ebenen-Modells ist eine aufmerksame Ausein- andersetzung mit der medial präsentierten Welt nötig, um ein men- tales Situationsmodell zu generieren, das spatial situation model (SSM). Der Rezipient muss sich die Beschaffenheit des medialen Raums ver- gegenwärtigen. Hierbei helfen räumliche Hinweisreize, die jedoch unvollständig sein können; so genügen häufig schon wenige Infor- mationen (z.B. ‹Altar›), um durch interne Konstruktionsprozesse den medialen Raum schematisch zu ergänzen (zu einer Kirche). Die bloße Vorstellung reicht aber nicht aus, um von räumlichem Präsenzerleben 164 montage AV 17 /2 / 2008 zu sprechen; erst weitere kognitive Prozesse entscheiden darüber, ob man sich physisch in diesem medialen Raum oder noch im außerme- dialen Raum anwesend fühlt (Hartmann et al. 2005, 28). Hinweisrei- ze aus dem realen Raum – man denke an Popcornrascheln im Kino – können einen trotz intensiver Auseinandersetzung mit dem Me- dieninhalt immer wieder in den Kinosessel ‹zurückschleudern›. Um wirklich presence zu fühlen, geht es aus Sicht des Modells im nächs- ten Schritt darum, den medialen Raum als primären Referenzrahmen zu setzen, also als den Raum, der dominante Gültigkeit für die ak- tuellen Wahrnehmungsprozesse besitzt. In der Vorstellung des Zwei- Ebenen-Modells entwickelt der Rezipient zunächst mentale Modelle der jeweiligen Umgebung aus der Ich-Perspektive, den sogenannten egocentric reference frame (ERF; vgl. Carlson 1999). In Rezeptionssitua- tionen können verschiedene ERFs in Konkurrenz zueinander stehen, so kann man sich im medialen Raum (wie der Kirche) anwesend füh- len, zugleich aber auch in der realen Umgebung (wie dem Kinosaal). Der Rezipient entscheidet sich für einen ERF, der dann zum PERF (primary egocentric reference frame) wird. Presence erlebt er dann, wenn er den medialen Raum respektive das SSM und den daraus abgeleiteten ERF als seinen PERF annimmt. Diese Entscheidung erfolgt unbe- wusst, automatisch, punktuell und kurzfristig, in jedem einzelnen Au- genblick der Rezeption. Wie der Prozess der Annahme des SSM als PERF vonstatten ge- hen könnte, lässt sich mit der Hypothesentheorie der Wahrnehmung (Bruner/Postman 1949) erklären. Ihr zufolge ist Wahrnehmung kein direktes Abbild der Umwelt, sondern Ergebnis des Abgleichs zwi- schen Erwartungen (Hypothesen) über ihre Beschaffenheit und den eintreffenden Informationen. In Medienrezeptionssituationen wer- den aufgrund der konkurrierenden ERFs zwei Hypothesen gebildet: Die erste besagt, dass der ERF der realen Umgebung des Rezipienten sein PERF ist, die zweite nimmt die mediale Umgebung als PERF. Je mehr Informationen über den medialen Raum ergehen, desto wahr- scheinlicher wird die Akzeptanz der medialen Umgebung als PERF (vgl. Hartmann et al. 2005, 29ff) und damit räumliches Präsenzerleben mit seinen beiden Dimensionen (self localization und possible actions). Es wird deutlich, dass es in dem Modell um ein Entweder-Oder geht, eine binäre Entscheidung. Zwar berichten Probanden postrezep- tiv von einem ‹Mehr› oder ‹Weniger› an räumlichem Präsenzerleben; dieses Gefühl rührt jedoch daher, dass sie kognitiv zwischen der realen und der medialen Welt hin und her wechseln und ihre Erfahrungen im Nachhinein aggregieren. Je mehr Momente sie im Präsenzstatus erle- Präsenzerleben 165 ben, desto stärker dürfte rückblickend ihre Bewertung des räumlichen Präsenzerlebens in der Summe ausfallen. Die beschriebenen Prozesse kommen nicht von selbst in Gang: Wie die früheren Forschungen zu presence geht auch das Zwei-Ebenen- Modell davon aus, dass sowohl Eigenschaften des Mediums als auch personale Faktoren eine Rolle spielen. Medienfaktoren In ihren Anfängen legten Forschungen zu presence ihren Fokus fast ausschließlich auf virtuelle Realität (Hartmann et al. 2005, 21). Erst allmählich erkannte man, dass Präsenzerleben nicht nur bei hoch im- mersiven Medien auftritt, sondern ebenso bei Büchern oder Filmen. Auch aus Sicht des Zwei-Ebenen-Modells beschränkt sich räumliches Präsenzerleben nicht allein auf virtuelle Realitäten (Wirth et al. 2007, 459). So wird die oben angesprochene automatische Aufmerksamkeits- allokation durch Neuheit, Relevanz oder überraschende Eigenschaf- ten des Medienangebots erzeugt, wie sie nicht nur VR-Umgebungen aufweisen. Kontrollierte Aufmerksamkeitsfokussierung hingegen ge- schieht, wenn ein Medium das Interesse zu wecken vermag und die interessierte Rezeption dauerhaft werden lässt. Verschiedene Medien dürften in unterschiedlichem Maße die Aufmerksamkeit ‹an sich bin- den› und zur Ausbildung räumlichen Präsenzerlebens führen. Es ist plausibel, dass die Immersivität von Büchern oder Filmen (auf Leinwand oder Bildschirm) deutlich geringer ist als die von VR-Um- gebungen, weil das in virtuellen Realitäten bestehende multi-sensori- sche feedback insgesamt spatial presence wahrscheinlicher macht als Dru- ckerschwärze auf verarbeiteter Zellulose (vgl. Hartmann et al. 2005, 24). Auch Biocca (1997) argumentiert, dass VR-Systeme mehrere sensori- sche Kanäle eines Menschen ansprechen und damit die Lokalisierung der eigenen Person im medialen Raum erleichtern. Der Fall scheint klar: je höher die Immersivität eines Mediums, desto eher wird presence erlebt (Schubert/Crusius 2002, 54). Wie aber kann eine Novelle oder ein Roman Präsenzerleben erzeugen? Vermeintlich spielt bei literari- scher Rezeption räumliches Präsenzerleben nur eine marginale Rolle. Und trotzdem ist es möglich, dass auch der Leser eines Romans sich im fiktionalen Raum präsent fühlt. Dieses (scheinbare) Paradox wird als «Buchproblem» bezeichnet. Schubert und Crusius (2002, 55) formulie- ren fünf Thesen dazu, in denen sie auf der einen Seite der Kognition als «Eigenleistung» des Lesers eine entscheidende Rolle bei der Formation des SSM und bei der Wahl des medialen Raums als PERF zuweisen. 166 montage AV 17 /2 / 2008 Auf der anderen Seite sei es die Narration, durch die letztlich die in- teressierte Rezeption aufrechterhalten wird und die damit als wichtige Variable zur Erzeugung von Präsenz anzusehen ist: «Books can produce presence because they use the power of narration» (ibid., 57). Wirth, Bö- cking und In-Albon (2006) konnten empirische Evidenz für diese An- nahme finden: Je spannender ein Text, desto höher die Wahrscheinlich- keit, dass man aufmerksam weiterliest, was wiederum die Konstruktion eines mentalen Modells des im Buch beschriebenen Raums begünstigt. Somit können die fehlenden Sinneseindrücke durch einen spannenden Plot kompensiert werden. Die Narration versorgt den Rezipienten mit genügend Information für die Formation des SSM. In einem weiteren Schritt kann eine fesselnde Geschichte dazu führen, dass die dargestell- te Welt und das mit Hilfe inhaltlicher Hinweise konstruierte SSM als PERF gewählt wird, so dass der Rezipient presence erlebt. In verschiedenen Studien konnte nachgewiesen werden, dass neben der narrativen Struktur bei Büchern (oder bei Filmen) und der Men- ge der angesprochenen Sinne6 (auditiv, visuell, haptisch, vestibulär oder olfaktorisch) in VR-Umgebungen auch die Größe des Bildschirms positiven Einfluss auf das Empfinden von presence hat (vgl. Lombard et al. 2000). Die Autoren fanden bei verschiedenen Präsenz induzie- renden Variablen signifikante Unterschiede zwischen Versuchsperso- nen, die dieselben Filmausschnitte einmal auf einem großen (116,8 cm2), einmal auf einem kleinen (30,5 cm2) Bildschirm gesehen ha- ben. Auch die Bildqualität (HDTV oder NTSC) beim Fernsehen kann Einfluss auf das Präsenzerleben haben. So empfanden in einer Studie von Bracken (2005) Probanden, welche einen Film in HD-Qualität sahen, mehr spatial presence als Zuschauer, welche denselben Stimu- lus in NTSC-Qualität dargeboten bekamen. Des weiteren dürfte auch der Sound (Stereo oder Surround und gute oder schlechte Tonquali- tät) das räumliche Präsenzerleben beeinflussen (Hartmann et al. 2005, 26). Reeves, Detenber und Steuer (1993) zeigten der einen Experi- mentalgruppe einen Action-Film in guter, der anderen in schlechter Tonqualität. Erstaunlicherweise erlebten diejenigen Probanden mehr Präsenz, die die Version mit dem qualitativ schlechteren Sound sahen, obwohl die Versuchspersonen den Film mit der hohen Tonqualität als realistischer beurteilten. Dieses kontraintuitive Ergebnis deutet darauf hin, dass der perzeptive Realismus nicht notwendig Präsenzerleben 6 Im Zusammenhang von VR-Umgebungen spricht man von vividness und versteht darunter die Anzahl und die Konsistenz des sensorischen outputs; vgl. Lombard/Dit- ton 1997. Präsenzerleben 167 begünstigt. Keine signifikanten Unterschiede fanden die Forscher üb- rigens zwischen den Gruppen, die den Film in Mono und jenen, die ihn in Surround-Sound rezipiert hatten. Trotz dieser Evidenz kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass das Phänomen technikdeterminiert ist. Viele Studien wiesen Präsenzerleben auch bei eher ungünstigen Bedingungen nach. Und Mögerle et al. (2006) konnten zeigen, dass personale Einflüsse einen mindest ebenso starken Einfluss darauf haben wie mediale Faktoren. Das Zwei-Ebenen-Modell trägt diesen Befunden Rechnung und berücksichtigt, dass neben Medienfaktoren auch die Fähigkeit und die Motivation der Rezipienten, sich mit dem Medieninhalt auseinan- der zu setzen, von entscheidender Bedeutung für die Entstehung von presence sind. Einschränkend muss allerdings konstatiert werden, dass die empirische Erforschung der Medienfaktoren als Determinanten für Präsenzerleben noch nicht weit gediehen ist und sich der hoch ausdifferenzierten Welt der Mediengattungen, Genres und Stilmittel bislang kaum angenommen hat. Rezipientenmerkmale und Rezipientenhandlungen Um sich überhaupt einem Medieninhalt aufmerksam zuwenden zu können, muss man ein gewisses Interesse aufbringen (vgl. Prenzel 1988; Hartmann et al. 2005, 27). Wer sich nicht für die Thematik eines Buchs interessiert, wird es nicht aufmerksam lesen. Auch bei einem Film, dessen Plot man langweilig findet oder dessen Schauspieler man nicht mag, ist es weniger wahrscheinlich, dass ein mentales Modell des Raumes aufgebaut wird – unabhängig von spezifischen medialen Fak- toren. Neben dem grundsätzlichen Interesse sind auch die kognitiven Ressourcen eines Rezipienten von Einfluss: So muss er über genügend räumliches Wissen verfügen und die Fähigkeit besitzen, es in mentale Bilder umzusetzen. Beim Zwei-Ebenen-Modells geht man davon aus, dass besonders die Fähigkeit, reichhaltige räumliche Vorstellungen zu generieren (spatial visual imagery) (vgl. Hegarty et al. 2002; Maier, 1994), von Einfluss auf die Ausgestaltung des räumlichen Situationsmodells ist (vgl. Wirth et al. 2007). Neben diesen Rezipientenmerkmalen haben auch ‹Extraversion›7 und demografische Variablen einen Einfluss auf räumliches Präsenzerleben (Sacau/Laarni/Hartmann 2007, 2259). 7 «Extraversion» ist ein Begriff, der Persönlichkeitsverhalten charakterisiert. Extraver- tierte Personen sind in ihrem Verhalten nach außen orientiert – im Gegensatz zu introvertierten Personen. 168 montage AV 17 /2 / 2008 Hat der Rezipient ein mentales Bild des medialen Raums konstruiert, entscheidet eine weitere Eigenschaft darüber, ob die reale oder aber die mediale Welt als die Welt, in der er sich momentan ‹befindet›, als primä- rer Referenzrahmen (PERF) gewählt wird: die Absorptionsfähigkeit (ab- sorption), also die generelle Tendenz eines Individuums, sich mit einem Objekt – in diesem Falle einem Medieninhalt – in elaborierter Weise auseinanderzusetzen (Wirth et al. 2007, 515f). Personen mit hoher Ab- sorptionsfähigkeit tendieren stärker dazu, in den medialen Raum ein- zutauchen und Präsenz zu erleben. Ein Buch wird dem Rezipienten mehr Absorptionsfähigkeit ‹abverlangen› als ein Film, ein Film wie- derum mehr als eine VR-Umgebung; umgekehrt kann hohe Absorp- tionsfähigkeit aber auch ungünstige mediale Faktoren (kleiner Bild- schirm, schlechte Bildqualität) ausgleichen. Neben den genannten Eigenschaften, die jemand mitbringen muss, um sich im medialen Raum anwesend zu fühlen und sich dort auch handlungsfähig zu wähnen, sind vor allem zwei Nutzerhandlungen von Bedeutung: Aus Sicht des Modells ist es erstens nötig, technische Stö- rungen und inhaltliche Inkonsistenzen nicht salient werden zu lassen, sondern auszublenden (suspension of disbelief). Das auch in anderen Disziplinen bekannte Konstrukt, das auf Coleridge (1973 [1817]) zu- rückgeht, wurde im Rahmen des Projekts medienpsychologisch neu als Wahrnehmungstoleranz konzeptualisiert. Diese tritt auf, wenn trotz bestehender Inkonsistenzen des Medienangebots das Rezeptionsver- gnügen aufrecht erhalten werden soll (vgl. Böcking 2008; Böcking/ Wirth/Risch 2005; Böcking/Huwiler/Wirth im Druck; Wirth/Bö- cking 2008). Um Inhalte nicht ständig auf ihre Übereinstimmung mit der Realität zu überprüfen, muss ein Rezipient eine gewisse Toleranz gegenüber dem Gezeigten aufbringen, seinen potenziellen Nichtglau- ben also ausblenden. Das Gleiche gilt für inhaltliche und logische Brü- che: Bleiben diese unbemerkt, werden sie übergangen oder zumindest toleriert, wird die Wahrscheinlichkeit für Präsenzerleben größer (vgl. Böcking 2008). Suspension of disbelief führt mit anderen Worten dazu, dass die Hypothese der medialen Umgebung als PERF trotz inkonsis- tenter, lücken- oder fehlerhafter Information des Medieninhalts nicht verworfen wird, so dass Präsenzerleben ungeachtet der ‹Mängel› des Medienangebots möglich ist. Dazu ist zweitens hohes involvement (vgl. Wirth 2006) vonnöten. In- volvement ist ein Metakonzept, das verschiedene Formen intensiver und bewusster Auseinandersetzung mit einem Medieninhalt subsumiert. Diese Formen können kognitiver, affektiver oder konativer Form sein: Rezipienten machen sich intensive Gedanken über den Verlauf eines Präsenzerleben 169 1 Das Zwei- Ebenen-Modell räumlichen Präsenzerlebens (Wirth et al. 2007, 498). Films (kognitives Involvement), entwickeln Sympathien oder Antipa- thien gegenüber den Figuren und fühlen mit diesen mit (affektives In- volvement), oder sie ahmen Mimik oder Gestik von Filmfiguren nach (konatives Involvement) (vgl. Hartmann et al. 2005, 22f). Konatives In- volvement dürfte in interaktiven VR-Umgebungen besonders ausge- prägt sein, sich aber auch bei der Lektüre von Büchern zeigen – dort allerdings eher als ‹gedachtes Verhalten›. Diese intensive Beschäftigung mit dem Medieninhalt trägt dazu bei, dass Rezipienten verstärkt Infor- mationen aus der Medienwelt aufnehmen (Wirth et al. 2007, 513). In Abb. 1 ist das Zwei-Ebenen-Modell grafisch dargestellt. Messung und Ausblick Nach der theoretischen Fundierung eines Konstrukts besteht in der medienpsychologischen Forschung der nächste und ebenso wichtige Schritt darin, es empirisch zu erfassen. Im Rahmen des MEC-Pro- jekts wurde daher auch ein Instrument für die postrezeptive Messung räumlichen Präsenzerlebens entwickelt – der «MEC-spatial presence- Fragebogen». Dieser sollte nach den Zielvorgaben des Projekts ers- tens theoretisch fundiert, zweitens für den Einsatz in verschiedenen 170 montage AV 17 /2 / 2008 Medien geeignet sein und drittens klar zwischen Dimensionen und Antezedenzbedingungen räumlichen Präsenzerlebens unterscheiden. Der Fragebogen erfasst sowohl proximale und distale Antezedenzbe- dingungen – damit sind die Rezipientenhandlungen und die Rezi- pientenmerkmale gemeint – als auch das räumliche Präsenzerleben sowie subjektive Handlungsmöglichkeiten (Wirth et al. im Druck). Das mehrsprachige Messinstrument wurde an vier Medien getestet: Film, VR, Text und Hypertext. Insgesamt wurden zwölf Einzelstudien durchgeführt, an denen insgesamt 1536 Probanden teilnahmen. Die- se Studien dienten zum einen der Itemselektion8 und zum anderen der Itemvalidierung. Die Validierung wurde durch die Anwendung der Items auf die verschiedenen Medien vorgenommen, wobei über die Medien hinweg auf hohe Äquivalenz geachtet wurde. Insgesamt hat sich der «MEC spatial presence questionnaire» als brauchbares Instrument zur Erfassung räumlichen Präsenzerlebens und seiner Prozesskompo- nenten erwiesen (Wirth et al. im Druck). Im Rahmen des MEC-Projekts wurden weitere Messverfahren er- probt: die Methode des lauten Denkens (MLD),9 die Blickverlaufs- messung,10 die Reaktionszeitmessung bei Sekundäraufgaben (STRT, secondary task reaction time)11 und die funktionale Kernspintomographie (fMRI, functional magnetic resonance imaging). Diese alternativen Metho- den erlauben es, die Messung auch während und nicht nur – wie beim Fragebogen – nach der Rezeption vorzunehmen. Von Anfang an standen auch die Wirkungen und Implikationen von Präsenzerleben im Blickpunkt der Forschung. Das diesen Artikel ein- leitende Beispiel beschreibt das experimentelle setting einer Studie von Rothbaum et al. (1995), die sich mit Höhenangst befasste und die 8 Ein Item ist eine einzelne Frage in einem Fragebogen. Normalerweise wird ein Konstrukt (z.B. Empathie) mit mehreren Items abgefragt. Man spricht dann von ei- ner Skala. Man geht davon aus, dass jedes Item einer Skala dasselbe misst; vgl. Bortz/ Döring 2006, 213 ff. 9 Bei der MLD werden die Probanden aufgefordert, ihre momentanen Gedanken laut auszusprechen, was einen guten Einblick in ihre kognitiven Prozesse gewährt; vgl. Böcking et al. im Druck. 10 Die Registrierung von Blickverläufen basiert auf der Annahme, dass Menschen für das, worauf sie den Blick richten, auch die meisten kognitiven Ressourcen aufwen- den; vgl. Böcking et al. im Druck. 11 STRT soll das Ausmaß der Aufmerksamkeitsressourcen abbilden, die für die Verar- beitung eines Medienangebots aufgewendet werden. Je länger die Reaktionszeit für die Sekundäraufgabe, desto mehr Aufmerksamkeit wird dem Medienangebot entge- gengebracht; Böcking et al. im Druck. Präsenzerleben 171 Nützlichkeit des Einsatzes von VR-Umgebungen bei der Therapie dieser Phobie untersuchte. Auch diverse andere anwendungsorientier- te Forschungsbereiche beschäftigen sich mit den Implikationen räum- lichen Präsenzerlebens. Wo steht die medienpsychologische Forschung zum Präsenzerle- ben heute? Nach wie vor ist eine theoretische und empirische Vielfalt festzustellen, die hin und wieder den Eindruck der Beliebigkeit ent- stehen lässt. Dennoch besteht Konsens weitgehend darin, dass Prä- senzerleben ein subjektives Phänomen ist, das auf komplexen Kons- truktions- und Wahrnehmungsprozessen beruht, empirisch fassbar ist und medien- wie rezipientenbezogene Komponenten aufweist. For- schungslücken bestehen vor allem bei den Wirkungen, zu denen es bislang – sieht man von therapeutischen Wirkungen ab – nur relativ wenige Studien gibt. Vielleicht wäre die empirische Präsenzforschung gut beraten, wenn sie stärker die Perspektive der kulturwissenschaftlichen Medienwissen- schaft berücksichtigen und ihren reichhaltigen Fundus an materialbe- zogenen Theorien nutzen würde, um die medialen Einflüsse auf das Präsenzerleben zu untersuchen. Umgekehrt kann sicherlich auch die Medienwissenschaft von den Erkenntnissen der Medienpsychologie profitieren. Die hier vorgeschlagene Fokussierung der Konstruktions- prozesse der Rezipienten bei der Entstehung räumlichen Präsenzerle- bens könnte im Zuge der theoretischen Fundierung dieses Phänomens für kulturwissenschaftlich orientierte Medienforschung wichtige An- schlussmöglichkeiten bieten und einer einseitigen Betonung von nar- rativen Strukturen und Gestaltungsmerkmalen entgegenwirken. Literatur Biocca, Frank (1997) The Cyborg’s Dilemma: Progressive Embodiment in Vir- tual Environments. Journal of Computer-Mediated Communications 3,2 [http:// jcmc.indiana.edu/vol3/issue2/biocca2.html (Zugriff am 12.06.08)]. Biocca, Frank/Kim, Jin/Choi, Yung (2001) Visual Touch in Virtual Environ- ments: An Exploratory Study of Presence, Multimodal Interfaces, and Cross-Modal Sensory Illusions. In: Presence: Teleoperators and Virtual Environ- ments 10,3, S. 247-265. Böcking, Saskia (2005) Presence and Learning: A Review of Connections between Spatial Presence and Learning. Unveröffentl. 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Seine akademische Kar- riere und sein Werk spiegeln im europäischen Rahmen auf exemplari- sche Weise die Geschichte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Film in den vergangenen fünfzig Jahren, und einige seiner Schriften gehören zu den kanonischen Texten unseres Faches. So «Die Struktur der Filmsprache», der auf Deutsch zuerst 1962 in der Zeit- schrift Publizistik erschien, dann erneut in Karsten Wittes Textsamm- lung Theorie des Kinos und 1984, in gekürzter Fassung, bei Gerhard Adam in den Studientexten über Literaturverfilmungen. Seit 1979 ist der Aufsatz fester Bestandteil aller Auflagen der von Franz-Josef Albers- meier bei Reclam herausgegebenen Texte zur Theorie des Films. Jan Marie Peters fungierte schon seit 1949 als Direktor der katho- lischen Filmzentrale in Den Haag und Amsterdam, als für ihn, wie für so viele europäische Cinephile nach dem Krieg, die künftig untrenn- bare Liaison mit dem Film begann. 1950 nimmt er als niederländischer Vertreter im Schwarzwald-Örtchen Schluchsee an der zweiten Tagung der europäischen Ciné-Clubs (nach Titisee 1949) teil. Wie er uns spä- ter erzählte, war dieses Treffen mit den bedeutendsten Filmemachern der Zeit für ihn ein Initialerlebnis, ebenso wie für Enno Patalas, Heinz Ungureit, Theodor Kotulla und viele andere. Mit der ersten Disserta- tion über ein Filmthema in den Niederlanden, De taal van de film. Een linguistisch-psychologisch onderzoek naar de aard en de betekenis van het ex- pressiemiddel film, promoviert Peters im selben Jahr an der Universität 178 montage AV 17 /2 / 2008 Nijmegen. Seit 1957 erster Direktor der Niederländischen Filmakade- mie Amsterdam, wird er bald auch Privatdozent für Filmkunde an der Universität Amsterdam. Sein Hauptinteresse gilt zu dieser Zeit der Fil- merziehung; er verfasst für die UNECSO eine Reihe von Aufsätzen, und 1963 erscheinen auf Deutsch seine Grundlagen der Filmerziehung. 1963 beginnt auch seine Tätigkeit als hauptamtlicher Hochschulleh- rer an der Katholischen Universität im belgischen Leuven, wo er 1968 dann den Lehrstuhl in der Abteilung für Kommunikationswissenschaft übernimmt. Wie Peter Wollen in England, Umberto Eco in Italien oder Christi- an Metz in Frankreich, vollzieht auch Peters den ‹semiotic turn› in der Filmtheorie, dessen bedeutender niederländischer Vertreter er wird. In deutscher Übersetzung sind Titel wie «Die Struktur der Filmsprache» oder «Bild und Bedeutung – Zur Semiologie des Films» erschienen (1971 in dem von Friedrich Knilli hereausgegebenen Band Semiotik des Films, eingefügt zwischen Pasolini und Eco). In englischer Spra- che kam 1981 in Amsterdam Pictorial Signs and the Language of Film heraus. In dem breiten Diskurs über die ‹Sprache des Films› hat sich Pe- ters auf drei Schwerpunkte konzentriert: Die Film-Rhetorik schlägt für ihn eine Brücke zur Kommunikationswissenschaft (wie in dem gemeinsam mit Willem Hesling verfassten Buch Audiovisuele Retoriek, 1985). Aber noch mehr interessiert ihn der Status des Bildes im Film und darüber hinaus in einer visuell geprägten Kultur (Over beeldcul- tuur. Fotografie, film, televisie, video, 1993). Eine «Phänomenologie des mechanischen Bildes» (1967) wird von ihm narrativ und intermedial erweitert («Die malerische und die erzählerische Komponente in der bildlichen Formgebung der Fotografie und des Films», 1994). Das In- teresse am ‹Bild› führt zu einer Philosophie des Bildes, in der es um das mediale und das mentale Bild, Bilderverbot und Bildermagie und die Verbindung von Wort und Bild in der Bilderzählung geht (Kleine filosofie van het beeld, 1998). Peters Untersuchungen zum filmischen Erzählen greifen schließ- lich sämtliche bisher auch unabhängig voneinander bearbeitete Ein- zelelemente wie Bildtheorie oder Montage auf und verbinden sie zur konzisen Analyse verfilmter Literatur, sein zentrales Thema gegen Ende seiner Laufbahn. Roman en film hält sich schon 1974 nicht mehr bei Fragen einer ‹getreuen› Transformation auf, sondern untersucht gleichberechtigt die unterschiedlichen Verläufe der Erzählung im Ro- man Thérèse Désqueyroux von François Mauriac (1927) und in dessen Verfilmung durch Georges Franju (1962). Die Bücher Van woord naar Nachruf auf Jan Marie Lambert Peters 179 beeld. De vertaling van romans in film (1980) und Verhalen in woord en beeld. Literaire en filmische verteltechniek (1998) konzentrieren sich nach Überlegungen zu filmischen Elementen im Roman noch stärker auf den Film als mediales Kunstwerk, auf Mise-en-scène, Kamerablick, Montage oder Musik. Beispiele sind unter anderem Wolfgang Staud- tes Der Untertan (D 1951) oder Robert Montgomerys Lady in the Lake (USA 1947) mit ihren extremen Kamerapositionen, mit denen er sich 1983 in einem Aufsatz «De ik-vertelling in de film» bereits aus- drücklich beschäftigt hatte. Der Montage schließlich gilt 2003 Peters’ letzte große Arbeit Het bezielde beeld. Inleiding in de filmmontage, die er im Alter von 85 Jahren auf sich nimmt. Ihr vorangegangen ist 1993 eine kurze Geschichte der Montage unter dem Titel «Theorie und Praxis der Filmmontage von Griffith bis heute». Het bezielde beeld reicht von den vor-kinemato- graphischen Anfängen bis zur Gegenwart mit Beispielen aus den ver- schiedenen Filmschulen, darunter der deutsche Expressionismus oder die russische konstruktivistische Montage. Alternativen zur Montage werden am Beispiel von deep focus und Plansequenzen behandelt. Die Kamera als narrative Agentur des Films ist für besondere optische und emotionale Montageeffekte verantwortlich. Peters’ Buch bietet weit mehr als eine Geschichte der Montagepraxis im Film, es ist ein Resu- mée der jahrzehntelangen Auseinandersetzung seines Autors mit dem wichtigsten audiovisuellen Medium der Moderne, dem Film, und es wird zeitgemäß ergänzt von Beispielanalysen auf CD-ROM. Seit wir Jan Marie Peters 1984 aus Anlass unserer Tagung «Me- thodenprobleme der Analyse verfilmter Literatur» in Osnabrück ken- nenlernten, sind meine Frau und ich ihm in Freundschaft und wis- senschaftlicher Hochachtung verbunden geblieben. Als es zehn Jahre später in Konstanz um ‹Strategien der Intermedialität› ging, war er wieder mit von der Partie. Wir werden ihn als einen besonders liebens- würdigen ‹Gelehrten des Films› in bester Erinnerung behalten. Veröffentlichungen von Jan Marie L. Peters (Auswahl) Peters, J.M. (1950) De taal van de film. Een linguistisch-psychologisch onderzoek naar de aard en de betekenis van het expressiemiddel film. Diss. Nijmegen 1950 (De taal van de film. Wezen, werking, schoonheid en belang van het expressiemiddel film. Den Haag: Govers). Peters, J.M. (1954) Inleiding tot de filmesthetiek. Purmerend: J.Muusses. 180 montage AV 17 /2 / 2008 Peters, J.M. (1955) The Necessity of Learning How to See a Film. In: AV Com- munication Review 3,3, S. 197-205. Peters, J.M. (1961) L’éducation cinématographique. Paris :UNESCO. Dt.: Grundla- gen der Filmerziehung. München: Juventa 1963. Peters, J.M. (1962) Die Struktur der Filmsprache. In: Publizistik 7, S. 195-204; und in: Witte, Karsten (1973) Theorie des Kinos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 171-186, sowie in: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Reclam. 3.Aufl., S. 371-388. Peters, J.M. (1967) Ansätze zu einer Phänomenologie des mechanischen Bil- des. In: Hamburger Filmgespräche III. Hamburg: Hamburger Gesellschaft für Filmkunst e.V., S. 66-72. Peters, J.M. (1968) Fotografie, film, televisie. Logica, magie en esthetiek van het mecha- nische beeld. Antwerpen/Assen: De Nederlandsche Boekhandel. Peters, J.M. (1970) Der Blick der Kamera. In: Silbermann, Alphons (Hg.): Die Massenmedien und ihre Folgen. Kommunikationssoziologische Studien. Mün- chen, Basel: Ernst Reinhardt, S. 21-32. Peters, J.M. (1974) Roman en film. Groningen: Willink. Peters, J.M. (1977) Pictorial Communication. Claremont: David Philip. Peters, J.M. (1980) Van woord naar beeld. De vertaling van romans in film. Muider- berg: Coutinho. Peters, J.M. (1971) Bild und Bedeutung – Zur Semiologie des Films. In: Knil- li, Friedrich (Hg.) Semiotik des Films. Mit Analysen kommerzieller Pornos und revolutionärer Agitationsfilme. München: Carl Hanser, S. 56-69; und in: Brauneck, Manfred (Hg.) Film und Fernsehen. Materialien zur Theorie, So- ziologie und Analyse der audio-visuellen Massenmedien. Bamberg: Buchner, S. 178-188. Peters, J.M. (1981) Pictorial Signs and the Language of Film. Amsterdam: Rodopi. Peters, J.M. (1983) De ik-vertelling in de film. In: Communicatie (Leuven) 13,3, S. 2-8. Peters, J.M. (1984) Sprechakttheoretische Ansätze zum Vergleich Roman – Film. In: Paech, Joachim (Hg): Methodenprobleme der Analyse verfilmter Litera- tur. Münster: Nodus, S. 53-71. Hesling, Willem / Peters, Jan Marie (1985) Audiovisuele retoriek. Leuven: Cen- trum voor Communicatiewetenschappen. Peters, J.M. (1989) The Novelist and the Camera Eye. In: Dethier, Hubert / Willems, Eldert (Hg.): Cultural Hermeneutics of Modern Art. Essays in Honor of Jan Aler. Amsterdam: Rodopi, S. 195-204. Peters, J.M. (1989) Het filmische denken. Of de binnenkant van de beeldcultuur. Leu- ven, Amersfoord: Acco. Nachruf auf Jan Marie Lambert Peters 181 Peters, J.M. (1989) Chandler, Montgomery: The Lady in the Lake und das Problem der Ich-Erzählung in der Filmkunst. In: Albersmeier, Franz-Josef / Roloff, Volker (Hg.): Literaturverfilmungen. Frankfurt: Suhrkamp, S. 245- 258. Peters, J.M. (1993) Over beeldcultuur. Fotografie, film, televisie, video. Amsterdam/ Atlanta: Rodopi. Peters, J.M. (1993) Theorie und Praxis der Filmmontage von Griffith bis heute. In: Beller, Hans (Hg.): Handbuch der Filmmontage. Praxis und Prinzipien des Filmschnitts. München: TR Verlagsunion, S. 33-48. Peters, J.M. (1994) Die malerische und die erzählerische Komponente in der bildlichen Formgebung der Fotografie und des Films. In: Paech, Joach- im (Hg.): Film, Fernsehen, Video und die Künste. Strategien der Intermedialität. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 40-49. Peters, J.M. (1998) Verhalen in woord en beeld. Literaire en filmische verteltechniek. Leuven: Universitaire Pers. Peters, J.M. (1998) Kleine filosofie van het beeld. Antwerpen: Eigenverlag. Peters, J.M. (2003) Het bezielde beeld. Inleiding in de filmmontage. Amsterdam: Amsterdam University Press (mit CD-ROM). Festschrift für J.M.L. Peters zum 65.Geburtstag: Hesling, Willem / van Poecken, Luc Leonard (Hg.) (1985) Communicatie: van teken tot medium. Liber amicorum Professor J.M. Peters. Leuven: Presse Univer- sitaire (mit Levensbeschrijving, Bibliografie). 182 montage AV 17 /2 / 2008 Zu den Autoren Robin Curtis ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 447 «Kulturen des Performativen» an der Freien Universität Berlin (mit dem Projekt «Synästhesie-Effekte: Montage als Synchronisierung») und Feodor-Ly- nen Stipendiatin der Alexander von Humboldt Stiftung (2008-2010). Zu ihren jüngsten Herausgeberschaften gehören Einfühlung – Zu Ge- schichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts (mit Gertrud Koch. München: Fink 2009) und Synästhesie-Effekte: zur Intermodalität der äs- thetischen Wahrnehmung (mit Marc Glöde & Gertrud Koch. München: Fink 2009). Raymond Fielding ist Professor emeritus und Dekan am Florida State University College of Motion Picture, Television and Recording Arts. Er ist als Professor an mehreren amerikanischen Universitäten tätig gewesen, darunter der UCLA, USC und der University of Iowa, und seit mehr als 50 Jahren als Drehbuchautor, Produzent, Regisseur und als Berater für die Film- und Fernsehindustrie aktiv. Fielding ist Fel- low der Society of Motion Picture and Television Engineers (SMPTE), von der er die Eastman Kodak Gold Medal erhielt, und Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences. Zahlreiche Veröffentli- chungen zur Filmgeschichte. Matthias Hofer, lic. phil., Studium der Publizistik- und Kommunika- tionswissenschaften, der Computerlinguistik und der germanistischen Sprachwissenschaft an der Universität Zürich (2002-2008). Assistent und Promovend am Institut für Publizistikwissenschaft und Medien- forschung der Universität Zürich. Arbeitsschwerpunkte: Rezeptions- forschung, Medienemotionen. Ute Holl ist Professorin an der Bauhaus Universität Weimar, forscht zur Wahrnehmungs- und Wissensgeschichte des Kinos und zum experi- mentellen Film. Zu ihren Buchpublikationen gehört Kino Trance und Kybernetik (Berlin: Brinkmann und Bose 2002). Erkki Huhtamo ist Professor für Mediengeschichte und -theorie im Department of Design/Media Arts der University of California (Los Angeles). Er promovierte im Fach Cultural History und hat zahlreiche Zu den Autoren 183 Veröffentlichungen zu Medienarchäologie und Medienkunst vorge- legt. Huhtamo arbeitet zugleich als Regisseur und Kurator über The- men der Medienkunst. Sein neuestes Buch Illusions in Motion: An Ar- chaeology of the Moving Panorama erscheint 2009 in der University of California Press. Momentan bereitet er eine Sammlung seiner Aufsätze zur Medienarchäologie vor. Ann-Sophie Lehmann ist Assistant Professor am Institute of Media and Re/presentation der Universität Utrecht. Sie publiziert zu Herstel- lungsprozessen von Bildern und zur Repräsentation des Körpers in alten und neuen Medien. Derzeit arbeitet sie in einem Forschungspro- jekt zur Geschichte der Computergrafik. Britta Neitzel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Medien- geschichte/Visuelle Kultur an der Universität Siegen. Forschungs- schwerpunkte: Computerspiele, Mediengeschichte, Räumlichkeiten des Medialen. Neuere Publikationen: Mediale Selbstreferenz. Grundla- gen und Fallstudien zu Werbung, Computerspiel und Comics. Hg. mit Nina Bishara & Winfried Nöth. Köln: Halem 2008), Das Spiel mit dem Me- dium. Partizipation - Immersion – Interaktion (mit Rolf F. Nohr. Marburg 2006). Joachim Paech ist Professor emeritus für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz. Zu seinen jüngeren Veröffentlichungen zählen Menschen im Kino. Film und Literatur erzählen (mit Anne Paech. Stutt- gart: Metzler 2000), Der Bewegung einer Linie folgen ... Schriften zum Film (Berlin: Vorwerk 8 2002), Warum Medien? (Konstanz: UvK 2008) so- wie als Herausgeber Intermedialität. Analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen (mit Jens Schröter. München: Fink 2008). Christiane Voss ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 626 «Äs- thetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste» an der Freien Universität Berlin und Lehrbeauftragte an der philosophischen Fakultät der Universität Potsdam. Sie arbeitet zu Themen der theore- tischen Philosophie, Philosophie des Films und philosophischen Äs- thetik, aktuell an der Monografie «Ästhetik der Illusion». Veröffent- lichungen: Narrative Emotionen (Berlin: De Gruyter 2004), sowie als Herausgeberin Zwischen Ding und Zeichen (München: Fink 2005), ...kraft der Illusion (München: Fink 2006) und Es ist, als ob (München: Fink 2009), jeweils gemeinsam mit Gertrud Koch. Überdies ist sie Re- gisseurin von zwei Dokumentarfilmen. 184 montage AV 17 /2 / 2008 Werner Wirth ist seit September 2003 Ordinarius für Empirische Kommunikations- und Medienforschung (IPMZ) am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Zu seinen Hauptarbeitsgebieten gehören Rezeptions- und Wirkungs- forschung, interaktive und mobile Medien, empirische Methoden. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen als Herausgeber gehören Unterhal- tung durch Medien. Empirische Befunde (mit H. Schramm & H. Bilandzic. Köln: Halem, in Vorb.), Unterhaltung durch Medien. Theorie und Messung (mit H. Schramm & V. Gehrau. Köln: Halem, in Vorb.), Forschungslogik und -design in der empirischen Kommunikationswissenschaft. Band 2: An- wendungsfelder in der Kommunikationswissenschaft (mit A. Fahr & E. Lauf. Köln: Halem, in Vorb.).