Hörfunk und Fernsehen 297 Hörfunk und Fernsehen Dass die negative Zukunft filmisch deutlich ergiebiger ist als positive Uto- pien, ist keine neue Erkenntnis. Im Kino dominieren seit jeher dystopische Filme, und am heimischen Bildschirm ist das nicht anders. Allerdings hat die Zahl dystopischer Fernsehserien in jün- gerer Zeit stark zugenommen. Umfas- send bearbeitet wurden dystopische Serien bisher aber nicht. Franz Kröbers Studie kommt somit also zum richtigen Zeitpunkt. In der Utopie- und Dystopiefor- schung dominiert insgesamt eine auf den Inhalt ausgerichtete Perspektive. Dystopien werden meist als Reakti- onen auf politische und soziale Ent- wicklungen gelesen, formale Aspekte rücken dagegen oft in den Hintergrund. Kröber fragt nun danach, „wie Serien im Gegensatz zu abgeschlossenen Tex- ten bzw. Werken mit fiktiven Räumen umgehen“ (S.78). Dass die Kategorie des Raums für Dystopien von besonde- rer Bedeutung ist, liegt auf der Hand, denn in praktisch allen dystopischen Franz Kröber: Räume serieller Dystopien: Expandierende Albträume im Post-TV Bielefeld: transcript 2023 (Serien- und Fernsehforschung, Bd.3), 432 S., ISBN 9783837665550, EUR 49,- (Zugl. Dissertation am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin, 2021) Erzählungen gibt es jenseits des vom unmenschlichen Regime beherrschten Gebiets einen Außenbereich. Die Geo- grafie der fiktionalen Welt strukturiert die Handlung somit maßgeblich. Ungewöhnlich ist nicht nur das Erkenntnisinteresse der Studie, son- dern auch das untersuchte Korpus. Statt den üblichen Verdächtigen untersucht Kröber mit Alpha 0.7 – Der Feind in dir (2010), Wayward Pines (2015-2016), The Man in the High Castle (2015- 2019), Trepalium (2016) und 3% (2016- 2020) schwerpunktmäßig fünf weniger bekannte Serien, von denen nur zwei US-amerikanische Produktionen sind; die drei übrigen stammen aus Deutsch- land, Frankreich und Brasilien. So sehr diese geografische Breite im Sinne einer Erweiterung und Diver- sifizierung des Kanons zu begrüßen ist, bleibt dennoch nicht recht nach- vollziehbar, warum die zweifellos prägendsten dystopischen Serien der vergangenen Jahre, die auf Margaret Atwoods gleichnamigen Roman basie- 298 MEDIENwissenschaft 02/2025 rende Hulu-Produktion The Handmaid’s Tale (2017-) sowie die ursprünglich vom britischen Channel 4 und mittlerweile von Netflix produzierte Anthologie- Serie Black Mirror (2011-), nur am Rande respektive so gut wie gar nicht erwähnt werden. Im Falle von Black Mirror liegt das wohl daran, dass sich diese aus abgeschlossenen Episoden zusammensetzt und keine fortlaufende Handlung erzählt. Kröbers Interesse gilt aber gerade der potenziell endlosen Fortsetzbarkeit seriellen Erzählens. Großen Wert legt der Autor auf das Konzept des ,Post-TV‘, womit die „Loslösung von Film bzw. Video und Serie von Fernsehsendern, ihre Migra- tion über legale und illegale Streaming- Plattformen sowie Internetseiten“ (S.38) und damit verbundene Phänomene wie komplexe Erzählformen, crossmediale Vermarktung und ein stärkerer Einbe- zug des Publikums gemeint sind. Aber obwohl der Begriff für Kröber zentral ist, behandelt er Dinge wie Franchi- sing, nicht-filmische Tie-ins sowie die Rezeption kaum – also praktisch alles, was jenseits des Serien-Texts liegt. Um was es Kröber geht, ist „das Verstehen der Raumsemantiken und der Regeln seriellen Raumerzählens“ (S.23). Detailliert analysiert er, wie in den Titelsequenzen der jeweiligen Serien Schauplätze inszeniert wer- den, welche Funktionen dabei insbe- sondere Landkarten zukommt und wie die verschiedenen Serien mit der Herausforderung umgehen, dass mit dem Fortschreiten der Handlung fast zwangsläufig neue Lokalitäten hinzu- kommen, die bei der Konzeption der ersten Staffel noch nicht vorgesehen waren. Kröbers Ausführungen sind meist schlüssig; was aber nur selten deutlich wird, ist, inwiefern das Dar- gelegte eine Eigenheit von Dystopien respektive des Post-TV darstellt. Die Feststellung, dass der Serienraum „pre- kär [sei], weil er sich stets in Planung befindet“ (S.394), ist in keiner Weise eine Besonderheit der untersuchten Beispiele. Was weitgehend fehlt, ist eine Einbettung in einen größeren filmge- schichtlichen Zusammenhang. Spä- testens seit den 1970er Jahren sind Dystopien ein fest etabliertes Genre innerhalb der Science Fiction, das eine Vielzahl von Konventionen herausge- bildet hat, die sich auch in den unter- suchten Serien wiederfinden. Diese Genealogie wird nie adäquat aufge- arbeitet, und auch das Konzept des Genres selbst bleibt untertheoretisiert. Dies mag erklären, warum Kröber erst zum Schluss darauf eingeht, dass der typische Dystopie-Plot, in dessen Zen- trum eine Rebellion gegen das Regime steht, im Grunde nur begrenzt seri- entauglich ist. Dystopien sind immer auf Konfrontation und somit auf closure angelegt, während „sich Serien und Enden gegenseitig ausschließen“ (S.354). Exemplarisch zeigt sich dies an The Handmaid’s Tale: Sobald die Protagonistin June das christofaschis- tische Gilead verlässt, löst sich auch der zentrale Konflikt auf, weshalb die Serie stets neue Gründe finden muss, warum June doch in Gilead bleiben muss bezie- Hörfunk und Fernsehen 299 hungsweise wieder dorthin zurück- kehrt. Just diese Art von Verknüpfung von Raum und Handlung, die für seine Studie eigentlich zentral sein müsste, behandelt Kröber aber kaum. So bleibt nach der Lektüre Räume serieller Dys- topien der Eindruck, dass das Potenzial der Ausgangsfragen nicht ausgeschöpft wurde und zu viele Fragen unbeantwor- tet bleiben. Simon Spiegel (Zürich)