Facebook, Twitter und Co.: Netze in der Datenflut? Veronika Gründhammer Zusammenfassung Die Ausdifferenzierung des Mediensystems ist vor dem Hintergrund einer rasanten Medienevolu- tion zu sehen, die mit der Erfindung der Schrift beginnt und in engem Zusammenhang mit der ge- sellschaftlichen Entwicklung zu sehen ist. Im Beitrag soll vor dem Hintergrund eines systemtheo- retischen Kommunikationsbegriffs überlegt werden, inwieweit verschiedene Social-Web- Angebote, die selbst Teil der „Datenflut“ sind, bei der Bewältigung ebendieser helfen können. Sind Facebook, Twitter und Co. sogar als Metamedien zu beschreiben, denen eine wichtige Funk- tion bei der Reduktion von Komplexität zukommt? Theoretische Perspektive: Systemtheoretischer Kommunikationsbegriff Elementare soziale Interaktion, damit meint Luhmann (1972) die flüchtige Begegnung ebenso wie die gemeinsame Fahrt im Eisenbahnabteil, ist durch die Anwesenheit der Beteiligten defi- niert. Zwei Personen nehmen einander wechselseitig wahr, sie geraten, so Luhmann, einander in das Feld wechselseitiger Wahrnehmung (vgl. Luhmann 1972, S 53). Anwesenheit, so Luhmann in Rückgriff auf Watzlawick, Beavon und Jackson weiter, ist im reziproken Wahrnehmungsfeld immer schon Kommunikation. Auch in der non-verbalen Wahrnehmung findet Informationsaustausch statt (vgl. Luhmann 1972, S. 53f.): „Man schätzt sich mit Blicken ab, nuanciert Auftreten und Verhalten im Hinblick auf die Wahrnehmung durch andere […].“ (Luhmann 1972, S. 54) Das Wahrnehmen wird wiederum zum Gegenstand von Wahrnehmungen, Reflexivität bildet sich aus, weil Ego wahrnimmt, dass er von Alter wahrgenommen wird und so sein Verhalten entsprechend steuern kann und wird (vgl. Luh- mann 1972, S. 53f.). Informelle Kommunikation wird oft auch als unvermittelte Kommunikation, Face-to-face- Kommunikation oder dyadische Kommunikation bezeichnet. Merkmal der informellen Kom- munikation ist die wechselseitige Wahrnehmbarkeit der Kommunikanten (vgl. Merten 2007, S. 119). Über das Kriterium der Anwesenheit der Kommunikanten wird informelle Kommunika- tion nicht nur bei Luhmann und Merten definiert. Beißwenger nennt die Kopräsenz der Partei- en, die wechselseitige sinnliche Wahrnehmung und die daraus folgende Multimodalität der Kommunikation neben der wechselseitigen Beeinflussung der Kommunikationspartner, der materialen Flüchtigkeit und zeitlichen Sukzession als Kennzeichen zwischenmenschlicher Kommunikation (vgl. Beißwenger 2007, S. 14). Höflich betont ebenfalls die physische Präsenz des Gegenübers bei der informellen Kommuni- kation. Es herrscht eine Kommunikationssituation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sämtli- 72 Veronika Gründhammer che verbale und non-verbale kommunikative Ausdrucksmöglichkeiten zum Tragen kommen. Die unmittelbare Reaktionsmöglichkeit der Partner ist gegeben (vgl. Höflich 1996, S. 19). Luhmann spricht in „Die Realität der Massenmedien“ nicht von Massenkommunikation, son- dern vom System der Massenmedien, dessen Eigenschaften, Funktionen und Operationsweisen er beschreibt (vgl. Merten 2007, S. 176). Er definiert Massenmedien als alle jene Einrichtungen der Gesellschaft, die bei der Verbreitung von Kommunikation eben jene Interaktion, die für die informelle Kommunikation als konstitutiv beschrieben wurde, durch die Zwischenschaltung von Technik ausschließen. Während in der informellen Kommunikation die gegenseitige Wahrnehmbarkeit der Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer gegeben ist, muss in der Massenkommunikation eindeutige Präsenz durch Unterstellung, durch eine „Struktur des Wis- sens und Meinens“ (Merten 2007, S. 111) ersetzt werden. Gerade deshalb können die Massen- medien aber auch die wichtige Rolle der Realitätskonstruktion übernehmen. Der Einzelne kann nur gewisse Dinge direkt erleben und wahrnehmen. So erfahren wir über Konflikte aus fernen Teilen der Welt, aber auch über die aktuellen Geschehnisse aus der Nachbarschaft großteils aus den Medien. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte, sondern auch für unsere Erkenntnis der Natur. Was wir über die Stratosphäre wissen, gleicht dem, was Platon über Atlantis weiß: Man hat davon gehört.“ (Luhmann 1996, S. 9) Beide, informelle Kommunikation und Massenkommunikation, eint das Merkmal der Reflexi- vität. Sobald ein Kommunikant die Wahrnehmung übernimmt, dass er selbst wahrgenommen wird und diese Wahrnehmung auch beim anderen Kommunikanten eintritt, liegt doppelte Kon- tingenz vor. Es entsteht ein System, das seine eigene Struktur selektiv erzeugt. Kommunikation ist im Gang. Obwohl in der beschriebenen Situation ein sehr einfaches Kommunikationssystem vorliegt, sind reflexive Strukturen auf drei verschiedenen Ebenen zu beobachten. Zunächst ergibt sich Reflexivität in der Sachdimension, das heißt, es werden nicht nur Aussagen, son- dern auch Metaaussagen erzeugt (z.B. Information vs. Meinung). Außerdem liegt Reflexivität in der Sozialdimension vor, welche die starke soziale Bindewirkung von Wahrnehmung zeigt. Drittens trifft man auf Reflexivität in zeitlicher Dimension, womit die Rückwirkung von Kommunikationsprozessen auf sich selbst gemeint ist (vgl. Merten 2007, S. 104ff.). Wie im Falle der Face-to-face-Kommunikation lässt sich auch Massenkommunikation über das konstitutive Merkmal der Reflexivität definieren. Diesmal nehmen sich die an der Kommuni- kation Beteiligten nicht unmittelbar wahr. Direkte Anwesenheit wird durch eine Struktur des Wissens und Meinens ersetzt. Ein Rezipient A, der ein Medium M rezipiert, nimmt an, dass auch andere Rezipientinnen und Rezipienten das Medium M rezipieren und zugleich davon ausgehen, dass auch er, Rezipient A, das Medium rezipiert. Auch wenn Wahrnehmung durch die Unterstellbarkeit wechselseitiger Wahrnehmung ersetzt wird, bildet sich ein zwar diffuses, aber dennoch bindendes Kommunikationssystem zwischen den Rezipientinnen und Rezipien- ten aus. Systemtheoretisch betrachtet liegt also analog zur informellen Kommunikation auch im Falle der Massenkommunikation sowohl Reflexivität in der Sachdimension als auch Refle- Facebook, Twitter und Co.: Netze in der Datenflut? 73 xivität in der Sozialdimension und der zeitlichen Dimension1 vor. Reflexivität in der Sachdi- mension ist durch die Entwicklung von Meinungen zu Themen der Massenmedien gewährleis- tet. Erwartungshaltungen, die entstehen, weil der Rezipient des Mediums M erwartet, dass andere ebenso das Medium M rezipieren und dabei wissen, dass andere das erwarten, sind mit sozialer Reflexivität höherer Ordnung zu bezeichnen und lassen sich der Sozialdimension zu- ordnen. In Analogie zur zeitlichen Reflexivität im Fall der informellen Kommunikation lässt sich jeder Akt der Massenkommunikation auf sich selbst zurückbeziehen und weist so Reflexi- vität in der Zeitdimension auf. Wissen und Erwartungen werden so verfestigt und dienen als Referenzpunkt für weitere Massenkommunikation (vgl. Merten 2007, S. 112f.). Medienevolution Für Luhmann ist die Gesellschaft das zentrale Thema. Sie ist „das umfassende System aller aufeinander Bezug nehmenden Kommunikationen“ (Luhmann 1986, S. 24). Daher ist die Ent- wicklung von Gesellschaftsformen untrennbar mit der Entwicklung von Kommunikationsfor- men verknüpft. Während archaische Gesellschaften mit den Mitteln sozialer Interaktionen ein Auslangen fanden, bedienten sich Hochkulturen bereits der Schrift, um so räumliche und zeit- liche Distanzen zu überwinden und ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Das Auf- kommen des Buchdrucks und somit das Aufkommen der Massenmedien war durch die Aufhe- bungen von Beschränkungen durch moderne Techniken im Bereich der Produktion gekenn- zeichnet. Für Luhmann ist die Evolution der Verbreitungsmedien der Kommunikation, wie Schrift, Buchdruck und elektronische Medien, eine evolutionäre Errungenschaft (vgl. Sutter 2010, S. 85). Die Medienevolution hat sich nicht nur in den vergangenen Jahrhunderten, sondern auch in den vergangenen Jahrzehnten rasant beschleunigt. Neue Medientechnologien werden nicht nur in immer kürzeren Abständen entwickelt, sondern auch gesellschaftlich etabliert, was Schmolke als „Beschleunigungsgesetz“ (vgl. Schmolke 1997, S. 29) bezeichnet. Wilbur Schramm (1981) illustriert die Evolution der Menschheit sowie die Meilensteine der Medienentwicklung auf einem Ziffernblatt. 23:52 Uhr zeigt die Entwicklung der Schrift. In den letzten 5 Minuten fol- gen sozusagen alle weiteren Errungenschaften wie Zeitung, Radio, Fernsehen und Computer (vgl. Schramm 1981, S. 203). Klaus Merten stellt für die Entwicklung des Fernsehangebots von ZDF und ARD im Zeitraum zwischen 1960 und 1990 fest, dass sich dieses um 1.250% vergrößert hat. Für das Angebot des Hörfunks lässt sich ein Zuwachs von 250%, für jenes der Tagespresse von 260% und für jenes der Zeitschriften von 1.200% feststellen. Mertens Rechnung ergibt also einen Zuwachs des 1 Sozialdimension, Zeitdimension und Sachdimension werden von Luhmann als Sinndimensionen bezeichnet, an denen sich aller Sinn orientiert. „[…] er orientiert sich innerhalb der Horizonte von Ego und Alter, von früher und später, von innen und außen oder dieses und jenes.“ (Schützeichel 2003, S. 43.) Diese Sinndimensionen werden von Luhmann postuliert, ohne näher begründet zu wer- den (vgl. Schützeichel 2003). 74 Veronika Gründhammer Medienangebots von 4.000% innerhalb einer Generation. Da sich die Rezeptionsfähigkeiten des Menschen nur unwesentlich steigern, spricht Merten von einem „Überlastsyndrom“ (Mer- ten 2007, S. 208). Dieses Überlastsyndrom durch das Mediensystem wird von demselben durch das Angebot von Metamedien zu reduzieren versucht – egal ob als Programmzeitschrift, Kata- log, Datenbank oder aber auch nur als Klebezettel mit einer Notiz (vgl. Merten 2007, S. 208ff.). „Metamedien reduzieren die Komplexität des Mediensystems, obwohl sie das Medienangebot ja selbst noch vergrößern. Dies klingt nur paradox, denn indem Metamedien andere Medien beobachten und eine spezifische Strukturierungsleis- tung erbringen, ermöglichen sie dem Mediennutzer eine Orientierung, indem er in seinem Selektionsprozess eben nicht unzählige Medien begutachten muss, sondern sich an der bereits erbrachten Selektionsleistung orientiert.“ (Kaletka 2003, S. 81) Während der Begriff der Informationsüberflutung ein moderner ist, ist das Phänomen an sich eine natürliche Begleiterscheinung von Kommunikation. Kommunikation erzeugt Kommuni- kation und daher muss der Überfluss an Kommunikation, der heute als Informationsflut be- schrieben wird, bereits mit der Schrift begonnen haben. Bereits in Bezug auf die jüngeren Mas- senmedien ist es der Fall, dass das Informationsangebot nicht voll ausgeschöpft werden kann. Zeitschriften und Zeitungen können nicht mehr in vollem Umfang gelesen werden, das Zappen zwischen einer Vielzahl von Kanälen im Fernsehen geht mit dem Bewusstsein einher, dass viel anderes ungesehen bleibt (vgl. Berghaus 1999, S. 44). Neben der Ausbildung neuer reflexiver Strukturen in Form von Metamedien kommt auch der informellen Kommunikation aufgrund des Überlastsyndroms eine immer wichtigere Rolle zu (vgl. Merten 2007, S. 210). „Alle interaktiv geführte Kommunikation bestärkt das virtuelle Kommunikati- onssystem, alle Leistungen des virtuellen Kommunikationssystems können vom interaktiven Kommunikationssystem bereits vorausgesetzt werden.“ (Merten 1977, S. 153ff.) Informelle Kommunikation als Anker Die Verschränkung der beiden Kommunikationsbereiche – informelle Kommunikation und Massenkommunikation – wird durch die Untersuchung von Lazarsfeld (1944) in der Anfangs- phase der Funkmedien belegt. Informelle Kommunikation wird durch das Auftauchen der Massenmedien nicht überflüssig, im Gegenteil kommt ihr eine wichtige Funktion als Meta- kommunikation zu. Freigestellt von der Funktion, Informationen zu übermitteln, gewinnt die informelle Kommunikation immer mehr an Bedeutung für die Artikulation von Meinungen (vgl. Merten 2007, S. 210). Lazarsfeld untersucht 1944 den Einfluss der Massenmedien auf die politische Wahlentscheidung und stellt fest, dass dieser eher gering ist. Persönlich bekannte, sachkundige und als glaubwürdig befundene Personen, sogenannte Meinungsführer, stellen Facebook, Twitter und Co.: Netze in der Datenflut? 75 einen weit größeren Einfluss dar. Ein wichtiger Hinweis auf die Bedeutsamkeit der informellen Kommunikation ist ferner die technische Entwicklung individual-kommunikativer Mittel. Ra- dio und Fernsehen einerseits, Telegraph, Telefon und Telefax andererseits – nicht nur die Ent- wicklung und Nutzung der Massenmedien, sondern auch jene der technischen Medien der Individualkommunikation boomen. Auch in den Massenmedien lässt sich nach Merten eine „Renaissance der informellen Kom- munikation“ (vgl. Merten 2007, S. 211) beobachten, die zeigt, dass sich informelle und Mas- senkommunikation perfekt ergänzen. In der Ausstrahlung von Talkshows oder Kontaktsendun- gen sieht er einerseits ein mediales Substitut für informelle Kommunikation, das andererseits informelle Kommunikation fördert. Massenmediale Angebote werden durch die informelle Kommunikation vor- und nachbereitend in spezifische Kontexte eingebunden. Der informellen Kommunikation kommt eine wertende, eine kommentierende Funktion zu (vgl. Merten 2007, S. 210ff.). Metakommunikation und personalisierte Nachrichtenströme „Wir können noch anfügen, daß diese Reproduktionstechnik der sogenannten Massenmedien bei der am spätesten entwickelten Kommunikationsweise, der Schrift angesetzt hatte, dann aber gleichsam die Kette der Evolution zurückge- laufen ist und mit Hilfe des Funks auch das gesprochene Wort dann sogar die sprachlose Kommunikation, das volle Bild einbezogen hat.“ (Luhmann 1975, S. 17) Durch die Perfektionierung der technischen Mittel, so erklärt Berghaus Luhmanns Aussage, wird eine immer bessere Realitätssimulation erzielt (vgl. Berghaus 1999, S. 56). Eine Beobach- tung, die auch für viele Kommunikationsprozesse im Sozialen Web zutrifft. Es fallen viele Situationen ins Auge, in denen eine zwar technisch vermittelte, aber dennoch interpersonelle Kommunikation stattfindet. Die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner können sich – sei es über die Verfügbarkeit im Chat, das Kommentieren eines Beitrags oder Blogposts, das Liken eines Posts oder Ähnliches – zumindest teilweise gegenseitig wahrnehmen. Die tatsäch- liche Anwesenheit ist im Gegensatz zu Face-to-face-Interaktionen aber nicht gegeben, die Gemeinschaft ist wie im Falle der Massenkommunikation eine virtuelle. So vereint die Kom- munikation im Netz Merkmale der informellen Kommunikation aber auch der Massenkommu- nikation, die wie eingangs beschrieben über direkte Beobachtung bzw. die Ersetzung der direk- ten Beobachtung durch eine Struktur des Wissens und Meinens charakterisiert sind. „Zwar handelt es sich auch bei den neuen Medien um indirekte, da technisch vermittelte Kommunikationen, bei der Sender und Empfänger räumlich und zeit- lich getrennt sind, doch die technisch bedingte Trennung wird nun technisch re- vidiert, indem Sender und Empfänger über Technik verbunden werden. Die On- line-Medien ermöglichen eine technisch vermittelte Anwesenheit im Netz, es handelt sich um technisch vermittelte Interaktionen, die sowohl Individual- als 76 Veronika Gründhammer auch Gruppenkommunikationen ermöglichen […] [Herv. VG].“ (Thye 2013, S. 81) Die technisch vermittelte Anwesenheit im Netz ermöglicht Kommunikationen auf einer per- sönlichen Ebene, denen eine wichtige Rolle als Metakommunikation zukommen kann. Die Artikulation von Meinungen und Bewertungen lässt sich zum Beispiel beim Teilen von Inhal- ten auf Social-Web-Plattformen wie Facebook oder Twitter beobachten. Maireder und Ausserhofer (2013, S. 1f.) reflektieren die Rolle von Kommentaren und Weiter- leitungen durch Nutzerinnen und Nutzer für die Aushandlung der Bedeutung bestimmter Me- dieninhalte, wobei sich Parallelen zur nicht-medienvermittelten Anschlusskommunikation an massenmediale Inhalte feststellen lassen. Wenn Nutzerinnen und Nutzer Inhalte teilen, hängen diese wie selbstverständlich in irgendei- ner Form mit ihrer Person zusammen. Klassische Medieninhalte werden geteilt, um Interesse und Anteilnahme an bestimmten Themen auszudrücken. Oft geht das Teilen von Inhalten aber auch über einfaches Interesse hinaus. Nutzerinnen und Nutzer wollen ihre Kontakte beispiels- weise über Missstände informieren und aufklären. Die begleitende Kommentierung von Links unterstreicht die Verbindung der Einstellung der Nutzerinnen und Nutzer mit dem Inhalt, auf den verwiesen wird. Geteilte Links werden grundsätzlich als Empfehlung aufgefasst, sich mit dem verlinkten Medieninhalt auseinanderzusetzen, wobei Nutzerinnen und Nutzer vielfach ein spezifischeres Publikum im Kopf haben als die Summe der eigenen Kontakte (vgl. Maireder & Ausserhofer 2013, S. 4 ff.). Die Rolle des persönlichen Netzwerkes für die Informationsbeschaffung ist dabei keineswegs zu unterschätzen. Wie eine Studie von Hermida et al. bereits 2011 zeigte, vertrauen Nutzerin- nen und Nutzer sozialer Medien auf die Filterung von Nachrichten durch Familie, Freunde und Bekannte. “The survey shows how social networking sites are becoming a personalized news stream for Canadians of all ages, with news selected and filtered by family, friends and acquaintances.” (Hermida et al. 2011, S. 1) Die paradoxe Situation, dass Metamedien einerseits für die wachsende Fülle an Informationen verantwortlich sind und andererseits dabei helfen, Komplexität zu reduzieren, wurde bereits angesprochen. Mit 241 Millionen aktiven Nutzerinnen und Nutzern sowie stolzen 500 Millio- nen Tweets pro Tag (vgl. https://about.twitter.com/company ) ist auch der Microbloggingdienst Twitter zweifellos „mitverantwortlich“ für die Datenflut, mit der wir tagtäglich konfrontiert sind. Sobald sich Nutzerinnen und Nutzer auf Twitter einloggen, werden ihnen individuell zusammengestellte, chronologisch strukturierte Mitteilungsströme ihrer Follower in Echtzeit präsentiert. Ausserhofer, Maireder und Kittenberger (2012) sprechen in Rückgriff auf Naaman, Boase und Lai von „Social Awareness Streams“, über die sich der Zugang der Nutzer auf die verschiedenen Diskurse realisiert (vgl. Ausserhofer, Kittenberger & Maireder 2012, S. 6). “These social awareness streams (SAS), as we call them, are typified by three factors distinguishing them from other communication: a) the public (or per- Facebook, Twitter und Co.: Netze in der Datenflut? 77 sonal-public) nature of the communication and conversation; b) the brevity of posted content; and, c) a highly connected social space, where most of the infor- mation consumption is enabled and driven by articulated online contact net- works. [Herv. VG]” (Naaman, Boase & Lai 2010, S. 189) Ähnlich wie im Falle von Facebook prägt ein Netz an Kontakten, welche Inhalte sich auf der persönlichen Startseite befinden. Inhalte werden auf Twitter geteilt, mit einem Kommentar versehen oder von anderen Nutzerinnen und Nutzern aufgegriffen und als Retweet weiterver- breitet. Von Bedeutung für die Strukturierung von Inhalten auf Twitter sind auch die unter- schiedlichen Adressierungen. Der Hashtag # beispielsweise wird vor wichtige Begriffe gestellt, um die Begriffe und die dazugehörigen Tweets auffindbar zu machen. An der Verwendung der Hashtags durch die Nutzerinnen und Nutzer lässt sich beobachten, dass das Teilen von Wissen und Informationen auf Twitter ganz bewusst in Hinblick auf ein wahrgenommenes bzw. perzi- piertes Publikum passiert. “More specific to the news media, Twitter hashtag works along several levels of what Pelaprat and Brown (2012) have identified as necessities for successful (in- direct) reciprocation: an open invitation, a simple and public responsiveness, and a recognition of others. Hashtags allow users to develop and search out interest- specific topics, encountering other users and content organised around such in- terests. They also facilitate multi-dimensional forms of reciprocal sharing as us- ers – even while perhaps responding directly to another user in twitter – relay hashtagged information that may facilitate more generalized communication among a collective set of users following that hashtag [Herv. VG].” (Lewis et al. 2013, S. 7) Sammeln, Ordnen und Speichern ist das zentrale Prinzip von Social-Bookmarking-Diensten wie Delicious oder Mister Wong, das an das Anlegen von Favoriten im Browsermenü erinnert und im Falle des Social Bookmarking lediglich ins Web verlegt wird. Social Bookmarking verfügt dabei auch über eine soziale Komponente. Nutzerinnen und Nutzer vernetzen sich untereinander, teilen ihre jeweiligen Bookmarks, versehen diese mit Anmerkungen und Schlagworten, um sie selbst leichter durchsuch- und auffindbar zu machen, aber auch um sie mit einer Gemeinschaft von Nutzerinnen und Nutzern zu teilen. Marlow et al. betonen, dass Tagging eine soziale Aktivität darstellt. Andere an den eigenen Bookmarks teilhaben zu lassen, sodass diese wiederum vom eigenen Wissen bzw. den zusammengetragenen Informationen profitieren können, fassen Marlow et al. (2006) unter dem Begriff „Contribution and Sharing“ (S. 5) zusammen, den sie gleichzeitig als eine der Hauptmotivationen für die Teilnahme in Social-Bookmarking-Systemen identifizieren: “to add to conceptual clusters for the value of either known or unknown audi- ences. (Examples: tag vacation websites for a partner, contribute concert photos and identifying tags to Flickr for anyone who attended the show)” (Marlow et al. 2006, S. 5) 78 Veronika Gründhammer Im Gegensatz zu journalistischen Nachrichtenplattformen, die von professionell ausgebildeten Redakteuren gestaltet werden, erfolgt die Nachrichtenauswahl sowie die Hierarchisierung der Themen auf Social-News-Plattformen durch die Nutzerinnen und Nutzer (vgl. Schmidt 2009, S. 132). Die Social-News-Plattform Reddit beispielsweise bezeichnet sich selbst als „front page of the Internet“. Nutzerinnen und Nutzer, die über einen Reddit-Account verfügen, kön- nen Links zu neuen oder interessanten Inhalten posten und mit einem Kommentar versehen. Die Gemeinschaft der Nutzerinnen und Nutzer hat dann die Möglichkeit, die Inhalte zu bewer- ten. Links, die die Zustimmung oder das Interesse vieler Nutzerinnen und Nutzer erhalten, wandern dabei auf der Startseite nach oben. Diese ist ständig in Bewegung und wird sozusagen von den Nutzerinnen und Nutzern kuriert. Man findet ein Sammelsurium an Inhalten, von nützlich über kurios bis witzig, das täglich wächst. Auch auf Reddit kann man anderen Nutze- rinnen und Nutzern, den Redditors, folgen und sie zum eigenen Netzwerk hinzufügen. Durch die Einbindung der Netzwerkomponente wird soziales Filtern möglich: Nutzerinnen und Nut- zer werden auf Inhalte aufmerksam, die die Mitglieder des eigenen Sozialen Netzwerks für relevant halten (vgl. Schmidt 2009, S. 132). Das Teilen und Kommentieren von Inhalten mit einem Netzwerk von Freunden, aber auch mit einer breiteren Masse, sei es auf Facebook, Twitter oder Reddit, legt bestimmte Interpretatio- nen, Lesarten oder sogar Bewertungen nahe. Der zentrale Unterschied zwischen interpersonaler Anschlusskommunikation und dem Online- Sharing liegt für Maireder (2012b, S. 8) dabei in der Unabgeschlossenheit des Kommunikati- onsraumes. Welche der Facebook-Kontakte beispielsweise eine Nachricht in ihrem Nachrich- tenstrom zu sehen bekommen, ist von Faktoren wie der Nutzeraktivität sowie systeminternen Algorithmen abhängig. Unter Umständen erreicht eine Mitteilung aber auch mehr Rezipientin- nen und Rezipienten als erwartet, weil sie von einzelnen Kontakten geteilt und so weiter ver- breitet wird etc. Maireder weist außerdem auf die soziale Verhandlung von Inhalten hin. Häu- fig werden Mitteilungen zu Medieninhalten nämlich von anderen Nutzerinnen und Nutzern erweitert. Analog zur Offline Anschlusskommunikation kann von „Social Reality Testing“ (Erbring et al. 1980, S. 41) gesprochen werden (vgl. Maireder 2012b, S. 9). Filter Bubble versus Serendipity Nutzerinnen und Nutzer haben die Möglichkeit, sich Nachrichten aus einem unterschiedlichen Repertoire an Quellen zusammenzustellen. Dabei kann der Weblog eines Freundes genauso gut abonniert werden wie die Ergebnisse einer Suchmaschine. Eine wachsende Rolle kommt aber, wie bereits erwähnt, den Beziehungen zu anderen Nutzerinnen und Nutzern, dem Sozialen Netz an Kontakten zu (vgl. Schmidt 2009, S. 101ff.). Wie Efimova feststellt, wird von so man- chen Beziehungsmanagement zum Zweck eines effizienteren Informationsmanagements be- trieben, sie spricht dabei von „information relationships“ (Efimova 2009, S. 158). Eli Pariser reflektiert über die Personalisierung von Nachrichten und Medieninhalten überhaupt als Gefahr der „Filter bubble“. Er befürchtet, dass nur noch bestimmte Mitteilungen zu uns durchdringen, die aufgrund unseres Onlineverhaltens, unserer Kontakte etc. ermittelt werden Facebook, Twitter und Co.: Netze in der Datenflut? 79 (vgl. Pariser 2011). Maireder weist darauf hin, dass auch Negroponte eine massive Individuali- sierung des Medienkonsums durch die Popularisierung des Internets postuliert (vgl. Maireder 2012a). Demgegenüber stehen optimistischere Einschätzungen. Wie Hermida et al. feststellen: “There are concerns that social networks may limit the breadth of information people receive. However, the surveys findings suggest that social media pro- vide both personalization and serendipity;” (Hermida et al. 2011, S. 2) Um nochmals das Beispiel Twitter zu bemühen: Eine Studie von Maireder (2011) belegt, dass jeder dritte Tweet einen Link zu einem Online-Angebot redaktioneller Medien enthält und somit auf andere Texte verweist. Die wertvollsten Nachrichten auf Twitter, so Maireder, und hier kann durchaus von einem Serendipity-Effekt gesprochen werden, sind Nachrichten zu Themen, von denen die einzelnen Nutzerinnen und Nutzer gar nicht wussten, dass sie sie inte- ressieren könnten (vgl. Maireder 2012a). Unterschiedliche Angebote im Web, wie Facebook, Twitter oder aber Social-Bookmarking- und Social-News-Seiten, die vielfach unter dem Begriff „Social Web“ firmieren, erzeugen einen Strom an Informationen, der nie zu versiegen scheint. Zweifellos erfüllen sie aber gleich- zeitig auch eine metakommunikative Funktion. Sie begünstigen die Ordnung und Strukturie- rung von Medieninhalten durch die Aushandlung ebendieser in Sozialen Netzwerken, die stark an die nicht vermittelte, interpersonale Kommunikation erinnert. Sie unterscheidet sich jedoch durch ihre Unabgeschlossenheit, ihre Persistenz und ihre Durchsuchbarkeit (vgl. 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