Ausgabe 28 vom Juli 2018 Themenheft Ikonische Grenzverläufe Herausgeberin: Martina Sauer Inhalt Martina Sauer ................................................................................... 4 Ikonische Grenzverläufe Szenarien des Eigenen, Anderen und Fremden im Bild: Eine Einführung Kunsthistorische Analysen und künstlerisches Projekt Barbara Margarethe Eggert ............................................................. 7 Das andere Geschlecht im Altarraum – exklusive Textilien als inklusive Medien Studien zum Gösser Ornat (1239-1269) Birke Sturm ..................................................................................... 22 Politik der Schönheit: Zur Konstruktion einer ›wissenschaftlichen‹ Bildästhetik schöner weiblicher Körper um 1900 am Beispiel des Gynäkologen Carl Heinrich Stratz Melis Avkiran .................................................................................. 40 Das rassifizierte Fremde im Bild Zur Genese differenzbildender Konzepte in der Kunst des 15. Jahrhunderts am Beispiel des Malers Hans Memling Leonie Licht .................................................................................... 75 weiß zwischen schwarz zwischen weiß – Geschichten von Identität im Bild Julia Austermann ........................................................................... 91 Queere Interventionen im kommunistischen Polen Krzysztof Jung und sein ›plastisches‹ Theater Sabine Engel .................................................................................. 111 Tizians Porträt der Laura Dianti Aneignung und Transformation zwischen Orient und Okzident Anna Christina Schütz .................................................................. 146 Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene Der Teppich als Verhandlungsort kultureller Identitäten im ausgehenden 19. Jahrhundert Benjamin Häger/Claudia Jürgens ............................................... 175 Ikonische Stadtstrategien Das Fassadenplakat und die Musterfassade als Instrument machtpolitischer Repräsentation Irene Schütze ................................................................................ 204 Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹: aufgeweichte Grenzverläufe zwischen Kunst und Alltag Stefan Römer ................................................................................ 221 Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge Theoriebildungen Viola Nordsieck............................................................................. 239 Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren A. N. Whiteheads Konzept der Wahrnehmung als symbolisierender Tätigkeit und die Art, wie wir Bilder als Bilder sehen David Jöckel ................................................................................. 255 Mythos und Bild Roland Barthes’ Semiologie bildlicher Stereotypisierung Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren .......................... 274 Impressum ................................................................................... .278 [Inhaltsverzeichnis] Martina Sauer Ikonische Grenzverläufe. Szenarien des Eigenen, Anderen und Fremden im Bild. Eine Einführung ›Grenzen‹ auszuloten und zu beschreiben machte sich der Kongress der Deut- schen Gesellschaft für Semiotik (http://www.semiotik.eu) in Passau im Septem- ber 2017 zur Aufgabe. Insgesamt 12 Sektionen der Gesellschaft schrieben dazu eigens einen Call for Paper aus. Mit der vorliegenden Anthologie gilt es deut- lich zu machen, wie konkret gerade auch über Bilder die Grenzen des je Eige- nen, Anderen und Fremden verhandelt werden können. Als grundlegend gilt es für die Funktion des Bildes im Rahmen semiotischer Forschungen herauszustellen, wie es im Ausschreibungstext der Sektion, die gemeinsam von Mark Halawa-Sarholz, Elisabeth Birk und mir organisiert wurde, heißt, dass Medien der Sichtbarmachung, zu denen die Bilder zählen, nie nur ›etwas‹ ansichtig machen. Vielmehr gibt sich das, was auf ihnen zu sehen ist, immerzu im Modus eines eigentümlichen Wie zu erkennen. Aus diesem Grund stiften Bilder mehr als spezifisch- ikonische Sichtwelten – was durch sie zur Erscheinung gelangt, sind immer auch beson- dere Sichtweisen. Diese irreduzible Verflechtung von Inhalt und Form unterliegt stets ge- wissen sozialen, historischen und kulturellen Faktoren. Zugleich ist sie aber auch maß- geblich an der Genese und Reproduktion von Werten und Normen beteiligt. Das bedeutet: Bilder repräsentieren nicht etwa nur vorherrschende Konzepte der Identität, Alterität oder Alienität – vielmehr besitzen sie das Potenzial, kulturelle Wertvorstellungen, soziale Aner- kennungsverhältnisse, politische Machtkonstellationen etc. zu konstituieren. Die Macht des Bildes äußert sich mithin unter anderem darin, Grenzen des Eigenen, Anderen und Fremden ziehen, transformieren oder gar negieren zu können – sie beschränkt sich nicht darauf, all diese Aspekte lediglich abzubilden. Nimmt man diesen Sachverhalt ernst, ergibt sich daraus folgender Befund: Die Praxis der Bildgebung ist – spätestens dann, wenn sie sich im Raum des öffentlichen Diskurses bewegt – von beträchtlicher ethischer Relevanz. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 4 Martina Sauer: Einleitung Vor diesem Hintergrund treffen sich in diesem Sammelband Beiträge der zur Tagung eingeladenen Referent/innen1, die sich diesem Phänomen aus unter- schiedlicher Perspektive annähern. Philosophisch orientierte finden sich darin ebenso wie kunsthistorische und künstlerische. So bringt der Band Positionen aus der Theorie wie die des amerikanischen Prozessphilosophen Alfred N. Whi- tehead (Viola Nordsieck) und des französischen (Post-)Strukturalisten bzw. Se- miologen Roland Barthes (David Jöckel) in Verbindung mit Untersuchungen aus der Kunstgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit (Barbara Margarethe Eggert, Melis Avkiran, Sabine Engel) bis zur Moderne (Birke Sturm, Anna Chris- tina Schütz) und Gegenwart nach 1945 (Julia Austermann, Leonie Licht, Irene Schütze, Claudia Jürgens/Benjamin Häger), die schließlich durch ein aktuelles Projekt eines Künstlers vervollständigt wird (Stefan Römer). Dennoch möchte der nachfolgende Band nicht dieser möglichen chronologi- schen und systematischen Ordnung folgen, sondern stellt als zentrale Gemein- samkeit den Aufweis, wie Bilder auf das Selbstverständnis des Eigenen sowie die Wahrnehmungs- bzw. Sichtweise des Anderen und Fremden Einfluss neh- men, in den Vordergrund. Mit diesem Fokus gewinnt der Verweis auf die Ver- antwortung auch der Bilder bzw. deren ethischen Relevanz in unserer Gemein- schaft an Gewicht, da über sie, für das je individuelle Selbstverständnis rele- vant, Bedeutungen gesetzt bzw. verschoben oder auch abgewiesen werden können. Dem entsprechend rücken sowohl mit den neun kunsthistorischen Analysen und dem künstlerischen Projekt als auch mit den beiden theoreti- schen Beiträgen, Fragen zur Produktion von Sichtweisen in den Blick, die kei- neswegs nur ›etwas‹ ansichtig machen. So sollen im Nachfolgenden, im ersten Themenblock, zunächst die 10 kunst- historischen/künstlerischen Beiträge vorgestellt werden, die verdeutlichen, wie über die unterschiedlichsten Medien der Sichtbarmachung – den Bildern – wirksam Einfluss auf Vorstellungen in der Gesellschaft genommen werden kann: mit Hilfe von Textilien und Altarretabeln seit dem Mittelalter, seit der Neuzeit ergänzend über die Tafelmalerei sowie in jüngerer Zeit, mit der Mo- derne, darüber hinaus über Teppiche, Fotos, Performances und künstlerischen Interventionen aber auch über Fassadenverkleidungen, sogenannten Fassadie- rungen sowie über digitale Techniken. Jedes dieser Medien erwies sich, wie die Beiträge verdeutlichen, nicht nur aus historischer Perspektive betrachtet, sondern z.T. bis heute als sehr einflussreich. Als grundlegend dafür können die Praktiken der ikonischen Sichtbarmachung des jeweiligen Mediums angese- hen werden. Sie betreffen neben der genannten Wahl des Bildträgers, die Dar- stellungsweise (Form), mit der die jeweilige Sichtweise ›formuliert‹ wird 1 Vgl. zum Tagungsprogramm der Sektion Bild / Panel 2, 13.-15.09.2017: http://www.semio- tik.eu/kongressprogramm; und ergänzend zur Podiumsdiskussion mit Eva Schürmann (Philoso- phie, Marburg) und Joachim Knape (Allgemeine Rhetorik, Tübingen), moderiert von Martina Sauer zur Frage der »ethischen Relevanz von Bildern und ihre nicht-sprachlichen (nicht-diskursiven Qua- litäten)«: http://www.semiotik.eu/podiumsdiskussionen [letzter Zugriff: 22.05.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 5 Martina Sauer: Einleitung (Inhalt) und den Ausstellungort bzw. die Inszenierung/Verbreitung. Das heißt, je nachdem womit, wie, was und wo über das Medium ›etwas‹ vermittelt wird, wirkt es auf gesellschaftlich relevante Normen und Wertvorstellungen ein. Wo- bei mit den Beiträgen je unterschiedliche Perspektiven darauf eingenommen bzw. untersucht wurden, sei aus der Sicht derjenigen, die diese verteidigen, fortschreiben und ausbauen oder derjenigen, die diese verneinen oder korri- gieren wollen. Dabei verdeutlichen die Beiträge, dass das Ringen bzw. der ›Streit‹ um die jeweilige Sichtweise bzw. Position grundlegende anthropologi- sche, gesellschaftliche/kulturelle und/oder politische Aspekte betreffen, die die Stellung der je Betroffenen in erheblichen Maße beeinflussen können. Einmal mehr bestätigt sich derart, dass die These mittels Bildern Einfluss auf Grenzen, letztlich von Normen und Werten, über deren Bestätigung, Verneinung oder Verschiebung gegenüber dem Eigenen, Anderen und Fremden nehmen zu kön- nen, das Sein der Bilder mit ausmacht. Wie konkret die Bemühungen der einzelnen Akteur/innen in Religion, Politik, Bildungsbürgertum und den Künsten sind, auf die Vorstellungsbilder mittels sichtbaren Bildern einzuwirken, zeigen die kunsthistorischen Analysen, in de- nen es um Normierungen und Wertesysteme geht, die das Verhältnis von Frau und Mann (Barbara Margarethe Eggert, Birke Sturm), von Schwarz und Weiß (Melis Avkiran, Leonie Lichte), von Homosexualität in Ost und West (Julia Aus- termann), von Orient und Okzident (Sabine Engel, Anna Christina Schütz) so- wie von Bürger/innen und Establishment in Deutschland (Benjamin Hä- ger/Claudia Jürgens) bzw. einfach ›nur‹ von Kunst und Leben (Irene Schütze) oder wie in dem künstlerischen Projektvorschlag von Migrant/innen in Europa (Stefan Römer) betreffen. Kern dieses Bandes ist es insofern aufzuzeigen, wie mit dem jeweiligen ge- wählten Medium der Sichtbarmachtung – dem Bild – über die jeweilige Wahl des Trägers sowie über die formalen und inhaltlichen und inszenierungs- und verbreitungstechnischen Entscheidungen der Akteur/innen, subtil Einfluss auf eine Bestätigung, Verneinung und/oder Verschiebung des jeweiligen Vorstel- lungsbildes von ›etwas‹ ausgeübt werden kann. Grundzüge und Grundlagen der diesen Prozessen zugrunde liegenden Voraussetzungen in der Wahrneh- mung und in den Mechanismen der ›Naturalisierung‹ der Sichtweisen aufzu- zeigen, eröffnen abschließend die beiden Arbeiten zu Whitehead (Viola Nord- sieck) und Barthes (David Jöckel). Martina Sauer Mai 2018, die Herausgeberin IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 6 [Inhaltsverzeichnis] Barbara Margarethe Eggert Das andere Geschlecht im Altarraum – exklusive Textilien als inklusive Medien. Studien zum Gösser Ornat Der Beitrag ist der viel zu früh verstorbenen Mediävistin und Grenzverschieberin Silke Tammen (1964-2018) gewidmet. Abstract The paper shows how vestments and paraments of the altar could be function- alized in order to crack the frame of common social patterns and margins by deviating from iconographical norms and standards and modifying those openly or subversively. This aesthetic strategy will be discussed with a focus on a textile ensemble from the 13th century: the Göss Vestments (Gösser Or- nat, Museum for Applied Arts, Vienna). Der Beitrag zeigt wie ikonographische Programme auf Kirchengewändern und Paramenten des Altares funktionalisiert werden konnten, um Gegenentwürfe zu gängigen sozialen Anerkennungsverhältnissen und Hierarchien zu visuali- sieren. Eine ästhetische Strategie hierfür, das Abwandeln gängiger Bildformeln, wird anhand des sogenannten Gösser Ornats (zwischen 1239 und 1269, Museum für Angewandte Kunst, Wien) erläutert. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 7 Barbara Margarethe Eggert: Das andere Geschlecht im Altarraum Einleitung Textilien sind auch in der heutigen mediävistischen Forschungslandschaft ein im Vergleich zu Skulptur, Tafel- und Buchmalerei noch immer unterrepräsen- tiertes Medium. Es hat sich aber seit den 1970er-Jahren viel getan, als Pionie- rinnen der Textilforschung wie etwa die 2015 verstorbene Renate Kroos sich herablassende Bemerkungen über ihre umfassenden, anspruchsvollen und in- novativen Forschungsprojekte anhören mussten, so auch vom eigenen Doktor- vater, der vom »Fräulein« wissen wollte, wie es mit ihrer »Tüchleinforschung« vorangehe.1 In den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts waren promovie- rende Frauen auch in der Kunstgeschichte noch unterrepräsentiert und manch Wissenschaftler tat sich mit der Adressierung der Kolleginnen schwer – aber dann wählte Renate Kroos auch noch ein befremdendes, grenzwertiges Thema für ihre kunsthistorische Dissertation, das nicht zum Medien-Kanon gehörte. Hierdurch war sie gleich in zweifacher Hinsicht in der Grenzverschiebung in Sachen Eigenes, Anderes und Fremdes aktiv. Dass und wie Grenzverschiebung durch Texte und Textilien in anderer und doch auch wieder vergleichbarer Art auch in Frauenkommunitäten des Hochmittelalters praktiziert wurde, soll im Folgenden anhand der Paramente aus Göss zeigen, eines Textilensembles, das Mitte des 13. Jahrhunderts konzi- piert und angefertigt wurde. Um dieses Beispiel in seiner Brisanz richtig einschätzen zu können, muss man sich zunächst vor Augen halten, welche Wertschätzung liturgische Textilien damals genossen: In der Schrift De sacro altaris mysterio Lothars von Segni, dem späteren Papst Innozenz III. (1198-1216), bilden die Paramente, hier bezeichnet als indumenta, gleichwertig mit der Altarausstattung, also Kreuz, Kerzen, Messbuch und Kanontafeln und Altargeschirr (instrumentes) und den elementia – Wasser, Wein und Brot – die Gruppe der res (vgl. MIGNE 1855: Sp. 763-920). Sie alle sind essentiell für die Messfeier. Die Herstellung der indumenta, also der Bekleidung des Altares und des liturgischen Personals, fand im 13. Jahrhundert oft in Frauenkommunitäten statt. So auch der Gösser Ornat: Das Textilensemble, heute bestehend aus einem Antependium, einem Pluviale, einer Kasel, einer Dalmatik und einer Tunika2 wurde während des Ab- batiats von Kunegunde II. (1239-1269) im Chorfrauenstift Göss in der Steier- mark entworfen und angefertigt. Bedauerlicherweise ist die Bilddokumentation der Paramente stark verbesserungswürdig, was als Beleg dafür gesehen wer- den kann, dass das Bewusstsein für ihre Exzeptionalität noch optimierbar ist. Allerdings war das Textilensemble bis in das Jahr 2014 über einen Zeit- raum von konservatorisch bedenklichen 30 Jahren Bestandteil der Daueraus- stellung des Museums für Angewandte Kunst in Wien. Dann wurden die vier 1 Öffentlicher Abendvortrag Frau und Kunstgeschichte. Frauen und Kunst im Ruhrlandmuseum Essen am 13. Mai 2005 von Dr. Renate Kroos im Rahmen der Tagung Frauen – Kloster – Kunst. Neue Forschungen zur Kulturgeschichte des Mittelalters. 2 Museum für angewandte Kunst Wien, Inv.nr. T. 6902 - T. 6906 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 8 Barbara Margarethe Eggert: Das andere Geschlecht im Altarraum liturgischen Obergewänder und das Antependium eingelagert, da sich ihr Zu- stand erheblich verschlechtert hatte.3 Auch wenn die Erhaltung des Ensembles unzweifelhaft vorrangig ist, ist es bedauerlich, dass die Textilien die Grenze zur Unsichtbarkeit überschritten haben und hierdurch die Botschaften ihrer Con- cepteuse, der Äbtissin Kunegunde II., die von ihr gesetzten Zeichen, den Bli- cken der professionell und/oder aus privater Leidenschaft Kunstinteressierten entzogen sind. Aber selbst anhand der beanstandeten Fotografien lässt sich zeigen, dass und wie die Äbtissin sich mittels des textilen Bildprogramms über konventionelle Praktiken der zeitlichen, räumlichen und liturgischen Ausgren- zung ihrer selbst und ihrer Mit-Kanonissen hinwegsetzte und darüber hinaus die kirchliche Hierarchie in Frage stellte. Ehe die Ausgrenzungspraxen erläutert werden, gegen die sich Kunegunde mit dem Textilensemble wendet, soll zu- nächst kurz auf die Geschichte des Kanonissenstifts Göss eingegangen wer- den. Geschichte des Kanonissenstifts Göss Gegründet wurde das Kanonissenstift Göss im Jahr 1004 von der Pfalzgräfin Adala (960 - September 7, 1021), die sowohl eine Verwandte Kaiser Arnulfs von Kärnten (850-899) als auch eine Cousine des Heiligen Römischen Kaisers Hein- richs II. (973/78-1024) war. Ihre Mitgründer waren ihre beiden Kinder: Kune- gunde (gest. 1027), die erste Äbtissin des Stifts, und deren Bruder Aribo II. (gest. 1031), der im Jahr 1021 als Mainzer Erzbischof berufen wurde. Im Jahr 1020 erhielt Göss durch Heinrich II- den Status einer reichsunmittelbaren Abtei, doch wurde das Stift im Jahr 1188 dem Erzbistum Salzburg unterstellt. Von seiner Gründung an bis Mitte des 15. Jahrhunderts war Göss ein Stift, kein Kloster, und die adligen Chorfrauen folgten der regula canonicorum: Diese ver- bot weder die Heirat und noch umfasste sie das Armutsgelübde. Die Frauen lebten in einer religiösen Kommunität, doch waren ihnen Dienerschaft, Wein und Gewänder aus Leinen gestattet (JONTES 2003/2004). Dieser Privilegien un- geachtet waren die Chorfrauen geschlechtsspezifischen Ausgrenzungsprakti- ken unterworfen. Wie zu zeigen ist, diente das Bildprogramm des Gösser Ornats zur par- tiellen Aushebelung der architektonischen und liturgisch-hierarchischen Aus- grenzung des ›anderen Geschlechts‹. Diese beiden Ausgrenzungsformen spie- geln die doppelte Bedeutung des Begriffs ecclesia wider, der einerseits für das Kirchengebäude selbst, andererseits für die (hierarchisch strukturierte) Ge- meinschaft der Gläubigen Anwendung findet (vgl. SCHNITZER 1997; LOW 2006; WOODFIN 2001). 3 Auskunft per Mail an die Autorin seitens Johannes Wieninger, Kustode MAK-Sammlung Asien, vom 01.08.2017 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 9 Barbara Margarethe Eggert: Das andere Geschlecht im Altarraum Architektonische Ausgrenzung Ausgrenzung geschieht immer in Bezug auf etwas – und architektonische Aus- grenzung bedeutet für den Sakralraum Kirche die Nicht-Präsenz im Zentrum: dem Altar. Dort findet die kontinuierliche Wiederholung des Opfers Christi durch die Zelebranten statt, der die Gemeindemitglieder beiwohnen. Diese werden in liturgischen Texten häufig als circumstantes bezeichnet, die ›Umste- henden‹, verkürzt für die ›den Altar Umstehenden‹. Wie Texte aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert belegen, war schon im frühen Christentum das Kirchengebäude ein genderspezifisch geprägter Ort, an dem Frauen und Män- nern unterschiedliche Plätze zugewiesen wurden.4 Ein frühes Zeugnis hierfür findet sich im 12. Kapitel der aus Syrien stammenden Didascalia Apostolorum, in welchem den weiblichen Laien der westliche Teil des Kirchenraumes zuge- wiesen wird – hinter den männliche Laien und weit entfernt von Altar und Bi- schofssitz (STEWART-SYKES 2009: 105).5 Auch Stiftskirchen waren genderspezi- fisch unterschiedlich gehandhabte Räume, da für männliche und weibliche Stiftsmitglieder eigene Vorschriften galten: Chorherren nahmen ihren Platz im- mer im Hochchor ein – auch dann, wenn ihre Kirche eine Doppelfunktion hatte und gleichzeitig als Gemeindekirche diente. Chorfrauen hingegen wurden in letzterem Fall architektonisch ausgegrenzt und durften im Falle der Anwesen- heit der Gemeinde lediglich unsichtbar und unhörbar am Gottesdienst teilneh- men – z.B. von einer Empore aus. Forscherinnen wie Gisela Muschiol und Carola Jäggi haben in ihrer Forschung immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Ausgrenzung zumindest partiell zur visuellen und auditiven Einschrän- kung der Frauenkommunitäten führte, da architektonische Elemente den Blick auf die Liturgie versperrten und auch den Schall dämmten (vgl. MUSCHIOL 2001: 133-135; JÄGGI 2006: 185-254). Während des Abbatiats Kunegundes II. gestaltete sich die architektoni- sche Situation in Göss folgendermaßen: Für die täglichen Messfeiern fanden sich die Kanonissen im Chor der Marienkirche ein, der durch einen zugemau- erten Lettner vom Kirchenschiff abgetrennt war.6 Obgleich Göss bereits seit 4 Die vorderen Plätze waren üblicherweise für (verdienstvolle) Personen von Rang oder zumindest Vermögen vorbehalten, so es sich um Männer handelte. Dass diese Plätze – auch metaphorisch gesprochen – Frauen nicht zustanden, legt Chrysostomus in folgendem Textabschnitt aus Laus Maximi e quales uxores ducendae 4 dar: »if the more important duties were turned over to the woman, she would go quite mad. Therefor God did not apportion both duties on one sex … nor did God assign both to be equal in every way, for women in their contentiousness would deem themselves deserving the front-row seats rather than the man«, in: MIGNE 1862: Sp. 330f.; englische Übersetzung COX MILLER 2005: 271f. Einen Über- blick über die Forschung zu Raum-Gender-Relationen bietet MÜLLER 2015: 299-325. 5 Die aus dem 4. oder 5. Jahrhundert stammende Schrift Testamentum Domini, die wahrscheinlich ebenfalls – wie die Didascalia Apostolorum – in Syrien entstand, nennt hier jedoch Ausnahmen für die kanonischen Witwen. Diese werden nicht ordiniert, doch ist bei liturgischen Zusammenkünften ihr Platz in unmittelbarer Nähe des Bischofs. Selbst bei der Eucharistiefeier standen sie gemeinsam mit dem Bischof, den Priestern und den Ministranten innerhalb des Schleiers vgl. BRADSHAW; JOHN- SON; PHILLIPS 2000: 100; BERGER 2011: 55, 139. 6 Dass Chorschranken hingegen durch ihre Architektur und ihre skulpturale Ausstattung nicht (nur) als Barrikaden oder Hindernisse interpretiert werden dürfen, sondern vielmehr als Bindeglied der ecclesia im korporalen wie im architektonischen Sinne fungierten, zeigt YOUNG 2013. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 10 Barbara Margarethe Eggert: Das andere Geschlecht im Altarraum 1177/78 mit St. Andreas eine eigene Pfarrkirche besaß, wurden die Hochfeste weiterhin in der Marienkirche gefeiert (BRACHER 1966: 34, 41). So auch der Ge- denktag der Stiftsgründerin, der vorerwähnten Pfalzgräfin Adala. Das liturgi- sche Zentrum an diesem Tag, dem 7. September, war der Katharinenaltar. Die- ser Altar, der in der Mitte des Mittelschiffs, jenseits des Lettnerwalls platziert war, diente gleichzeitig als Grabstätte Adalas und ihrer Tochter Kunegunde, der ersten Äbtissin dieses Namens (BRACHER 1948: 195-205, insbes. 196, 200; sowie DREGER 1908: 613-53, insbes. 614). Obwohl aufgrund der Quellenlage bis- lang nicht geklärt ist, ob die Kanonissen an diesem für die Frauenkommunität so wichtigen Tag dem Memorialgottesdienst im Hochchor oder von der Em- pore7 aus beiwohnten, ist ihre architektonische Ausgrenzung in beiden Fällen unstrittig, da sie in beiden Versionen räumlich vom Katharinenaltar abgeschie- den waren. Dies bringt uns zum Aspekt der liturgischen Ausgrenzung. Liturgische Abgrenzung Weder die Äbtissin noch die anderen Chorfrauen wurden liturgisch für die Feier am Altar benötigt oder waren überhaupt am Altar zugelassen. Zwar wurden noch bis ins 12. Jahrhundert hinein auch Frauen ordiniert und versahen litur- gische Ämter (vgl. u.a. TORJESEN 1993; EISEN 2000; MACY 2008). Vom 13. Jahr- hundert an aber wurde der Umstand, weiblich zu sein, zu einer »liturgischen Behinderung«, um die Liturgiewissenschaftlerin Teresa Berger zu zitieren (BER- GER 2011: 48f.; vgl. BOWES 2008: 139). Papst Innozenz III. (1198-1216) verbot im Jahr 1210, mithin 20 Jahre vor Beginn des Abbatiats Kunegundes II, dass die weiblichen Oberhäupter von religiösen Gemeinschaften den Segen erteilten, die Beichte abnahmen, aus den Evangelien vorlasen oder gar predigten (SCHLOTHEUBER 2014: 127f.). So übten im 13. Jahrhundert zwar Frauen als Grün- derinnen, Stifterinnen, Mäzeninnen, Künstlerinnen und Äbtissinnen in unter- schiedlichem Ausmaß politischen und wirtschaftlichen Einfluss zum Wohle ih- rer Institution aus – Kunegunde II. beispielsweise war sehr erfolgreich darin, den Grundbesitz von Göss zu mehren (JONTES 2003/2004: 15-17) – doch unge- achtet dieses Einflusses hatten sie ihren Platz am Altar und auf der Kanzel ein- gebüßt. Auf Paramenten des Mittelalters bis in die frühe Neuzeit sind Darstel- lungen weiblicher Heiliger in Ausübung liturgischer Dienste eine Ausnahmeer- scheinung: Das gestickte Bildnis einer predigenden Maria Magdalena auf den Chormantelstäben eines Pluviales aus dem 15. Jahrhundert, das ursprünglich zum Kirchenschatz der Danziger Marienkirche gehörte, ist eines dieser seltenen Beispiele (EGGERT 2015: 60-63). Generell aber boten bebilderte Paramente, die oft von den Frauenge- meinschaften selbst hergestellt wurden, dem ›anderen Geschlecht‹ die 7 Vom 13. bis 15. Jahrhundert war die Westempore ein übliches Ausstattungsmerkmal in Kirchen unterschiedlicher weiblicher Orden, doch ist die frühe Geschichte dieses architektonischen Ele- ments noch unerforscht, vgl. UNTERMANN 2015. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 11 Barbara Margarethe Eggert: Das andere Geschlecht im Altarraum Möglichkeit, subtil bis plakativ Ausgrenzungen unterschiedlicher Art zu thema- tisieren, Grenzen zu überschreiten und durch die Textilien als ikonisches Sub- stitut Sichtbarkeit und Präsenz an ›verbotenen‹ Orten zu erlangen. Dies ge- schah zum Beispiel durch die Integrierung heraldischer Elemente oder von In- schriften, die die korporative, dynastische und individuelle Visibilität und me- moria ermöglichten.8 Forscherinnen wie Stefanie Seeberg (vgl. SEEBERG 2014a und 2014b) und Tanja Kohwagner-Nikolai (2006) haben sich in vielen ihrer Pub- likationen mit Repräsentationen von Frauenkommunitäten auf Textilien des 13. bis 15. Jahrhunderts befasst – und auch ich kehre nun seit mehr als 10 Jahren immer wieder zu diesem Thema zurück. Viele textile Visibilisierungen sind eher subtil (vgl. SEEBERG 2014a: insbes. 235-245) und die Grenzüberschreitungen müssen erst als solche dechiffriert werden. Von Subtilität kann man beim Gösser Ornat eher nicht sprechen. Be- trachtet man sein Bildprogramm, so lässt sich dieses als offene Kritik an der architektonischen und liturgischen Ausgrenzung von Frauen interpretieren – sowie an der generellen Stellung der Frau in der Kirchenhierarchie. Die Miss- billigung der Ausgrenzungskonventionen wird durch die Ikonographie der Tex- tilien visualisiert – und zwar im Rahmen eines Hochfestes, während des Herz- stücks einer essentiellen Zeremonie: Die Textilien waren für die Feier des Memorialgottesdienstes der Stifts- gründerin konzipiert, der am Katharinenaltar, mithin im pfarrkirchlich genutz- ten Teil von St. Marien stattfand. Durch die Kasel des Gösser Ornats funktiona- lisierte Kungegunde II. gar den Hauptzelebranten als Sandwichmann avant la lettre9, der ihre Anti-Ausgrenzungs-Propaganda proklamierte. Dies mag nun wie eine nachträgliche post-post-feministische Interpretation eines hochmittel- alterlichen Artefakts wirken – und das ist es auch. Aber: Diese Interpretation ist nur ein schwaches Echo dessen, wie das Bildprogramm für zeitgenössische Augen gewirkt haben muss – insbesondere für Personen, welche über Kennt- nisse des kanonischen Textes verfügten, den Kunegunde auf der Kasel gut sichtbar feministisch uminterpretierte. Der Gösser Ornat als textile Grenzüberwindungsstrategie Das Textilensemble, das in der Forschungsliteratur als Gösser Ornat bezeich- net wird, besteht heute aus einem Antependium, einem Pluviale, einer Kasel, 8 Vgl. auch MECHAM 2014: 67. Zu Textilien als Medium kirchlicher und weltlicher Botschaften vgl. u.a. EGGERT 2010: 255-299 und zuletzt die Beiträge in DIMITROVA; GOEHRING 2014. 9 Als Sandwichmann werden seit dem 19. Jahrhundert menschliche Werbeträger bezeichnet, die mittels (verstärkter) Kartontafeln (engl.: sandwich board) auf Brust und Rücken auf Produkte, Events und Veranstaltungen (wie z.B. Wahlen) hinweisen oder ihre Gesinnung oder die dritter Per- sonen kundtun (z.B. bei Demonstrationen). Frühe Darstellungen dieser Form der mobilen Außen- werbung finden sich beispielsweise im Werk des u.a. in London tätigen Lithografen Johann Georg Scharf (1788-1860). Kunegunde II. war mit der Funktionalisierung der Textilien als mobile, beidsei- tige Informationsmedien der Zeit um gut 600 Jahre voraus. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 12 Barbara Margarethe Eggert: Das andere Geschlecht im Altarraum einer Dalmatik und einer Tunika. Sie alle wurden nur einmal im Jahr eingesetzt – am Gedenktag der Stiftsgründerin (BRACHER 1948: insbes. 200). Bis zur Auflö- sung des Stifts durch Joseph II. im Jahr 1782 waren die Textilien folglich ins- ges. max. 540 Mal in Verwendung, was den immer noch vergleichsweise gut erhaltenen Zustand der Textilien erklärt. Allein die Quantität der Verweise auf die Donatrix Kunegunde II. ist frappierend und – nicht nur für Textilien – einzig- artig10: Ursprünglich verwies der Gösser Ornat sieben Mal auf die Äbtissin. Er war Trägerfläche für drei bildliche Darstellungen und insgesamt vier namentli- che Erwähnungen. Die Frauenkommunität wird in drei Inschriften genannt und die Namen zweier Kanonissen werden eigens angeführt.11 Was war der Zweck dieser Referenzen und wann und in welcher Reihenfolge wurden sie für wen sichtbar? Im Rahmen dieses Beitrags werde ich mich auf die Analyse der zwei effektivsten und grenzüberschreitendsten Textilien beschränken: auf das Ante- pendium und die Kasel. Abb. 1: Antependium des Gösser Ornats, zwischen 1239 und 1269, Seidenstickerei auf Leinen, 106 x 298 cm Quelle: MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, T 6902, © MAK/Katrin Wisskirchen Das Antependium Als textiles Ausstattungselement für den Katharinenaltar war das Antepen- dium (Abb. 1) bereits vor dem Betreten des Kirchenraumes durch Zelebranten und Gemeinde an der Vorderseite der Altarmensa angebracht und erwartete diese. Die drei Medaillons auf dem Textil zeigen (von links nach rechts): Die 10 1995 betitelte Arno Rettner einen Forschungsbeitrag zur Theodotus-Kapelle von Santa Maria Antiqua in Rom mit der Frage Dreimal Theodotus? (RETTNER 1995). Allein die Quantität der Stifterbildnisse macht den frühmittelalterlichen Fundator in den Augen Rettners der Hybris verdächtig. Tatsächlich erweist sich nur eines der drei Bildnisse aus dem 8. Jahrhundert als Stifterbildnis – und Theodotus wurde von Rettner von jeglichem Verdacht der Anmaßung freigesprochen. 11 Und dennoch ist dieses einzigartige Beispiel nicht in HEGENER 2013 erwähnt. Generell fehlen im Beitrag über das Mittelalter von Horst Bredekamp die Signaturen von Künstlerinnen. Einen um- fangreichen Beitrag zu Künstlerinnensignaturen in Buchmalerei und Architektur bietet hingegen MARIAUX 2012. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 13 Barbara Margarethe Eggert: Das andere Geschlecht im Altarraum Verkündigung (linkes Medaillon) und die sich über zwei Medaillons erstre- ckende Epiphanie: Maria, als Himmelskönigin thront gemeinsam mit dem Je- suskind im Zentrum, während die drei magi, hier dargestellt als Könige, ein eigenes, davon separiertes Medaillon, erhalten. Obgleich sich Maria und das Jesuskind auf der gleichen Zeitebene befinden wie die drei Könige, und sich diesen mit Blickkontakt und Segensgestus zuwenden, sind die zwei zusammen- gehörigen Figurenkonstellationen doch voneinander getrennt – und es gibt kei- nen physischen Kontakt zwischen ihren Bildräumen. Unterhalb von Medaillon 1 und 2 findet sich das erste Kunegundenbild- nis, das eine Vielzahl von Parallelen zur Darstellung Mariens in der Verkündi- gungsszene aufweist. Zwischen Medaillon 2 und 3 und ebenfalls unterhalb von diesen findet sich die Imago Adalas, die durch ihr Attribut, eine Kirchenminia- tur, als Stifterin von St. Marien gekennzeichnet ist. Die Inschrift des ersten Me- daillons führt Kunegunde als Autorin des Antependiums ein12, während die Umschrift des dritten Medaillons Adalas Namen mit denen der drei Könige ver- schränkt13. Während die Buchstaben ca. 6 cm messen und durch die rote Schrift auf weißem Grund (auch heute noch) gut lesbar sind, messen die beiden knien- den Frauenfiguren ca. 33 cm und sind in dieser Haltung nur unwesentlich klei- ner als die stehend dargestellten Könige. Somit waren sie groß genug um auch aus einem Abstand von mehreren Metern noch von der Gemeinde wahrge- nommen werden zu können. Anders als das durch Kontakt stark abgeriebene Mittelmedaillon wurden sie während der Feier durch den am Altar agierenden Priester nicht verdeckt, sondern knieten als textile Repräsentationen an dessen Seite. Aufgrund ihrer Gewandung waren ihre soziale Stellung auch für ein il- literates Publikum identifizierbar: Eine Äbtissin im Falle Kunegundes II. und im Falle Adalas eine Heilige, denn als solche wurde die Stiftsgründerin im lokalen Kult adressiert.14 Eine weitere ikonische Grenzüberschreitung, denn Adala war keine kanonische Heilige. 12 Inschrift Medaillon 1: AVE • MARIA • GRACIA • PLENA • DOMINVS TECVM • BENEDICTA • TV CHVNEGVNDIS • ABBATISSA • ME • FECIT 13 Inschrift Medaillon 3: CASPAR + + BALTHASAR + + MELCHIOR+ ADALA • FVNDATRIX. 14 In den Gösser Stiftsurkunden des späten 14. Jahrhunderts erscheint die pfalzgräfliche Fundatrix als »sand Adeln« (DREGER 1908: 614) – hierin ist auf schriftsprachlicher Ebene eine Parallele zur nimbierten Darstellung auf dem Antependium gegeben. Im Text wie auch im textilen Medium wird Adala ungeachtet der nicht vorliegenden Kanonisierung als Heilige dargestellt – im Schriftmedium durch die volkssprachliche Bezeichnung für das lateinische Wort »sancta« (heilige), auf dem Tep- pich durch den nur Heiligen zustehenden Heiligenschein. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 14 Barbara Margarethe Eggert: Das andere Geschlecht im Altarraum Die Kasel Viel weiter in Bezug auf Entgrenzung des Eigenen – und, wie später zu zeigen sein wird, auch auf Ausgrenzung des Anderen – geht das Bildprogramm der Kasel. Die Rückseite des Messgewandes, war für die Gemeinde während der Wandlung sichtbar – auch während des zentralen Moments: der Elevation der transsubstantierten Hostie. Allgemeingebräuchlich wurde diese nach dem Vierten Laterankonzil (1215), eben dem Konzil, das die Transsubstantiation zum Dogma erklärte.15 Von Ausnahmen abgesehen,16 fand die Wandlung ad alta- rem, also zum Altar gewandt, und in modo discrete statt – die Wandlungsworte waren folglich unhörbar für die Gemeinde, die ohnehin des Lateinischen nur in Ausnahmefällen mächtig war.17 Durch die Absenz eines (verständlichen) au- ditiven Elements gewannen die performativ-visuellen Elemente der Messe an Bedeutung (u.a. BROWN 1985: 116). Im Moment der Hostienelevation, dem Höhepunkt der Messe, wurde die Rückseite der Kasel Bestandteil des »stream of grace«: Dieser Ausdruck wurde von Bernhard Lang (LANG 1997: 339) geprägt und bezeichnet die verti- kale Achse bestehend aus der elevierten Hostie und dem Körper des Priesters – und, hier ergänze ich: der bebilderten Kasel – sowie dem Diakon, der den Saum der Kasel ergreift. Diese Achse befand sich im Zentrum der »ritualisier- ten Aufmerksamkeit« (SINDING-LARSEN 1984: insbes. 100) die dadurch geschürt wurde, dass vom Ende des 13. Jahrhunderts an auf den Anblick der transsub- stantiierten Hostie Indulgenzen erteilt wurden (vgl. u.a. WILHELMY 1993: 206 und SEIBOLD 2001: 280). Meist integrierte das Bildprogramm den Cruzifixus in den besagten »stream of grace«. Kunegunde II. wich jedoch bei ihrer Kasel von die- sem Standardprogramm ab. Leider wurde das Messgewand im 18. Jahrhun- dert dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend stark beschnitten – und Teile der Kasel wurden verwendet, um den Chormantel auszubessern. Diese Inter- ventionen zerstörten das ursprüngliche Bildprogramm. Schon im Jahr 1908 legt Moriz Dreger eine Rekonstruktion der Kasel vor (DREGER 1908), doch recher- chierte er nicht die Schriftquelle, auf der die Ikonographie basiert und übersah hierdurch die revolutionäre textile Botschaft. 15 »Praecipitur presbyteris ut, cum in canone misse inceperint ›qui pridie‹, tenentes hostiam, ne elevent eam statim nimis alte, ita quod videri possit a populo, sed quasi ante pectus detineant donec dixerint ›Hoc est corpus meum‹ et tunc elevent eam ita quod possit ab omnibus videri«. (PONTAL 1971: 82). (Übersetzung der Autorin: Es ist den Priestern vorgeschrieben, dass sie, wenn sie mit dem Messkanon beginnen, und die Hostie halten, diese nicht gleich so hoch emporheben, sodass sie vom Volk gesehen werden kann. Vielmehr mögen sie diese gewissermaßen vor der Brust verbergen, bis sie gesprochen haben »Dies ist mein Leib«. Dann mögen sie sie so emporheben, dass sie von allen gesehen werden kann). 16 Zur Vereinheitlichung des Messrituals vgl. u.a. RUBIN 1991: 51-63. 17 Das gedämpfte Äußern der Wandlungsworte wurde bis zur Reformationszeit praktiziert – und hielt sich in der katholischen Kirche noch länger, vgl. u.a. MEYER 2000: 16. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 15 Barbara Margarethe Eggert: Das andere Geschlecht im Altarraum Abb. 2: Dorsale Ansicht der Kasel des Gösser Ornats, zwischen 1239 and 1269, Seidenstickerei auf Leinen, 106 x 298 cm Quelle: MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, T 6904, © MAK/Ingrid Schindler Zunächst einmal entschied sich Kunegunde gegen den allgemeinen ikonogra- phischen Standard und platzierte den Cruzifixus auf der Vorderseite des Mess- gewandes. Für die Schauseite der Kasel, die im Zentrum der »ritualisierten Auf- merksamkeit« stand, wählte sie eine Christus Salvator Darstellung. Der thro- nende Christus ist mit den Symbolen der Evangelisten kombiniert – und mit neun Engeln, die in drei dreibogigen Arkaden angeordnet sind (siehe Abb. 2). Dieses Bildprogramm war keine Erfindung der Äbtissin. Vielmehr zitiert und re- interpretiert es einen Text aus dem sechsten Jahrhundert: die pseudo-dionysi- sche Angelogie De Coelesti Hierarchia. Nach (Pseudo)Dionysius sind die himmlischen Engelsscharen zu neun Chören und in drei Hierarchien, den so- genannten Triaden, angeordnet, die gemäß ihrer Nähe zur göttlichen Sphäre IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 16 Barbara Margarethe Eggert: Das andere Geschlecht im Altarraum unterschieden werden.18 Während die oberste Triade in direktem göttlichen Kontakt steht, ist die unterste mit Gottes irdischem Vertreter, dem Hierarchen oder auch Bischof in Verbindung. Kunegunde nahm sich die Freiheit, den Bi- schof durch eine Repräsentation ihrer selbst zu ersetzen und sich sowie ihre Mitkanonissen Wilbirgis und Gertrudis unterhalb der untersten Engeltirade darzustellen. Dieses Kunegundenbildnis wurde zu einem späteren Zeitpunkt dazu verwendet, den Chormantel auszubessern (siehe Abb. 3), doch sind bei diesem Fragment noch die Engelsfüße vor blauem Hintergrund zu Häupten Kunegun- des sichtbar, die über die ursprüngliche Platzierung des Bildnisses Aufschluss geben. Abb. 3: Pluviale des Gösser Ornats, zwischen 1239 and 1269, Seidenstickerei auf Leinen, 106 x 298 cm Quelle: MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, T 6903, © MAK/Ingrid Schindler Konklusion Zusammen mit den anderen textilen Repräsentationen fungierte Kunegundes Uminterpretation des kanonischen Textes als ikonisches Substitut für die ar- chitektonisch und liturgisch ausgegrenzten Chorfrauen am Gedächtnistag der Stifterin. Die textile Ikonographie schuf zudem einen gemeinsamen Rahmen für eine weiblich akzentuierte Heils- und Stiftgeschichte, da jeweils heilige und irdische Protagonistinnen fokussiert werden: Das Antependium mit Maria als Regina coeli und auch das Pluviale mit einer Maria lactans im dorsalen Medail- lon weisen ein mariologisches Bildprogramm auf, das auf das Patrozinium der Marienkirche rekurriert. Kunegunde II. trug für eine Verknüpfung desselben mit 18 Pseudo-Dionysius Areopagita: Über die himmlische Hierarchie, Über die kirchliche Hierarchie. Caput VI, 2. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 17 Barbara Margarethe Eggert: Das andere Geschlecht im Altarraum der Stiftsgeschichte und ihrer eigenen Vita bei. Nicht ohne selbst Exklusion zu betreiben: So ist der Bischof nicht die einzige männliche Figur, die auf den Tex- tilien durch eine Frau ersetzt wird bzw. keinen Platz im Bildprogramm zugewie- sen bekommt: Weder Heinrich II. noch Aribo, allesamt wichtige Figuren für die Stiftsgeschichte, wurden in die Ikonographie integriert, die sich ganz auf die weiblichen Protagonistinnen konzentriert. Verhüllende Textilien, sonst Objekte, die dazu dienen, um Frauen un- sichtbar zu machen (LAMBIN 1999), wurden im Falle des Gösser Ornats als ef- fektives und effizientes Mittel eingesetzt, um Grenzen des Eigen und Anderen in Frage zu stellen und Kunegunde II. und ihren Chorfrauen zumindest in Form ihrer textilen Repräsentationen zu dem ihnen zustehenden Platz am Altar zu verhelfen. Literatur BERGER, TERESA: Gender Differences and the Making of Liturgical History. Farnham [Ashgate Press] 2011 BOWES, KIM: Private Worship, Public Values, and Religious Change in Late Antiquity. 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Fi- nally, his approach of combining an anthropometrical procedure with photog- raphy, a medium promising evidence, will be looked upon. All in all, it should be conveyed that Stratz constructs otherness with recourse to normalized con- ceptions of female beauty that cannot simply be grasped by beautiful and not- beautiful bodies on a superficial level. In fact, the othering of bodies, which are described as not beautiful, can be regarded as reinforcement of a heteronor- mative, bourgeois, Eurocentric and German-nationalist worldview. In diesem Beitrag wird am Beispiel ausgewählter Schriften des Gynäkologen Carl Heinrich Stratz analysiert, wie dieser anhand von Fotografien politische, IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 22 Birke Sturm: Politik der Schönheit kulturelle und gesellschaftliche Grenzen in Darstellungen des Schönen respek- tive des Nicht-Schönen übersetzt. Zunächst wird ein Einblick in die Verflech- tung des Stratz’schen Schönheitsideals mit Werten des deutschen Bildungs- bürgertums um 1900 gegeben. Im Anschluss daran werden verschiedene Merkmale betrachtet, die Stratz beschreibt, um äußere Anzeichen des Nicht- Schönen mit Wertigkeiten zu versehen, die bildungsbürgerlichen Werten wi- dersprechen. Abschließend wird seine Vorgehensweise, die ein anthropomet- risches Verfahren mit dem Evidenz versprechenden Medium der Fotografie kombiniert, genauer untersucht. Dabei soll deutlich werden, dass Stratz unter Rückgriff auf Bilder von normierten Vorstellungen weiblicher Schönheit Alteri- täten konstruiert, bei denen es keineswegs schlichtweg um oberflächlich schöne vs. nicht-schöne Körper geht. Vielmehr ist diese ›Veranderung‹ von als nicht-schön bezeichneten Körpern in politisiertem Sinne als Stärkung eines he- teronormativen, bürgerlichen, eurozentrischen und deutsch-nationalen Welt- bildes zu verstehen. Einleitung Die diskursive Verknüpfung von Weiblichkeit und Schönheit war in Deutsch- land um 1900 ein zentrales Vorhaben verschiedener Disziplinen.1 Die großteils männlichen Protagonisten dieses Unterfangens waren neben einer ganzen Reihe von Kulturkritikern und Reformern insbesondere Frauenärzte, die als Ideal den nackten griechischen Körper der Antike anriefen. Ein bedeutsamer Vertreter dieser Szene war der Gynäkologe und Reformer Carl Heinrich Stratz (1858–1924). In diesem Beitrag analysiere ich drei seiner Werke, die allesamt um 1900 erschienen sind, exemplarisch: Die Schönheit des weiblichen Körpers (1898), Die Frauenkleidung (1900) und Die Rassenschönheit des Weibes (1901). Zum Teil spiegeln bereits die Buchtitel die rassifizierende Vorgehensweise so- wie die sexistische Ideologie von Stratz wider. Stratz war anerkannter Experte für Körperästhetik und gehörte überdies zu den wichtigsten Popularisatoren der Rassentheorie seiner Zeit. Der namhafte Ferdinand Enke Verlag, der bis heute medizinische Fachliteratur vermarktet und schon damals einer der füh- renden Verlage in diesem Bereich war, übernahm den Vertrieb seiner Bücher, die in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften besprochen wurden (vgl. HAU 2003: 86). Die große Beliebtheit von Stratz’ Veröffentlichungen zeigt sich auch an der hohen Auflagenzahl: Die Schönheit des weiblichen Körpers zählte 1908, also zehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, bereits 19 Auflagen und wurde 1941 zum 45. Mal aufgelegt. Die Rassenschönheit des Weibes erschien 1941 in der 22. Auflage. In seinem Bestreben, zu rassifizierender und sexisti- scher Haltung zu erziehen und zu bilden, ähnelte Stratz dem Gros seiner 1 Der vorliegende Beitrag stützt sich in weiten Teilen auf Forschungsergebnisse eines Teilkapitels meiner Dissertation Schöne Körper. Eine wissenshistorische Untersuchung symbolischer Über- schüsse (1860-1900). Vgl STURM 2016. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 23 Birke Sturm: Politik der Schönheit Fachkollegen. Werke anderer Mediziner, die sich ideale Weiblichkeit zum Thema machten, wie jene von Enoch Heinrich Kisch, Iwan Bloch, Hugo Sell- heim oder Heinrich Ploss sind jedoch weitestgehend nicht mit Bildmaterial ver- sehen (vgl. FRIEDRICH 1997: 204).2 Was Stratz’ Arbeiten bezüglich der Festschrei- bung weiblicher Schönheit im Verhältnis zu jenen seiner Kollegen besonders kennzeichnet, ist eine Mischung von Nackt-, Akt-, Folkore- sowie medizinischen und ethnographischen Fotografien, die seine Theorie stützen und vor allem veranschaulichen sollen. Die Fotografien produzierte er teils selbst, teils sam- melte er sie in den unterschiedlichsten Kontexten. Der Entstehungszusammen- hang bleibt in aller Regel unklar. Eindeutig ist dagegen der durchweg porno- grafische Charakter des Bildmaterials, der nicht zuletzt ein Grund für die jahr- zehntelang anhaltend-hohen Absatzzahlen sein mag.3 Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, wie Stratz insbesondere unter Zu- hilfenahme des heterogenen Bildmaterials kulturelle Wertevorstellungen so- wie Grenzen des Eigenen und des Anderen konstruiert. Darüber hinaus soll deutlich werden, dass Stratz’ Schriften auch als Reaktion auf das in die Krise geratene Bildungsbürgertum gelesen werden können: Einzelne Werte, wie die klare Sphärentrennung der Geschlechter oder die Auseinandersetzung mit bil- dender Kunst werden von ihm legitimiert. In Stratz’ Konstruktion körperlicher Schönheit spielen neben dem Versuch der Aufwertung des Bürgertums auch der dato prosperierende deutsche Kolonialismus eine Rolle sowie ein ideolo- gisches Gedankengut, welches letztlich, wenn auch unbewusst, als Vorberei- tung auf den ersten Weltkrieg angesehen werden kann. Seine Schriften bedie- nen durchweg einen hochpolitisierten, imperialistischen Kulturbegriff. Das mit- gelieferte Bildmaterial unterstützt Stratz’ erklärtes Ziel, den Blick für das Erken- nen solcher Körper zu schulen, die er selbst als wahrlich schön erachtet: Die Schönheit des weiblichen Körpers widmete er »den Ärzten, Künstlern und Müt- tern« (STRATZ 1898: Titelblatt). Ersteren wohl aufgrund seiner Annahme, Schön- heit und Gesundheit gingen miteinander einher: Sein Manual lieferte nicht zu- letzt Vorlagen, um biopolitische Maßnahmen zur (vermeintlichen) Verbesse- rung von weiblichen Körpern anzuleiten. Künstler sollten seine normierten Kör- pervorstellungen bei der Auswahl ›gut gebauter‹ Modelle helfen (vgl. STRATZ 1898: 171). Mütter wurden schließlich aufgrund der ihnen zugeordneten erzie- herischen Tätigkeiten in die Widmung mit aufgenommen (vgl. STRATZ 1898: 2 Einschlägige Schriften der genannten Autoren sind beispielsweise: Enoch Heinrich Kisch, Das Geschlechtsleben des Weibes in physiologischer, pathologischer und hygienischer Beziehung (1907); Iwan Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit: in seinen Beziehungen zur modernen Kultur (1908); Hugo Sellheim, Die Reize der Frau und ihre Bedeutung für den Kulturfortschritt (1909); Heinrich Ploss, Das Weib in der Natur- und Völkerkunde: Anthropologische Studien (1885); Letzteres Werk galt lange als die Autorität für alles mit der ›Frauenfrage‹ in Verbindung stehende und wurde 1935 auf Englisch publiziert (vgl. FRIEDRICH 1997b: 171). Auch in diesen Büchern findet sich bereits eine nationalistische und rassifizierende Erfassung weiblicher Schönheit unterschiedlicher Herkunft. Im Vergleich geht Stratz jedoch weitaus systematischer vor und versucht ein einziges Ideal festzuschreiben, während Ploss Schönheit viel zurückhaltender an unterschiedliche Geschmäcker bindet. 3 Annegret Friedrich macht den wissenschaftlichen Anspruch der Werke dafür verantwortlich, dass »sie, trotz ihres ›pornographischen‹ Charakters, niemals von einer ›sittlichen‹ Zensur gefährdet« waren (FRIEDRICH 1997a: 153). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 24 Birke Sturm: Politik der Schönheit 171). Schließlich war der bürgerlichen Frau die Erziehung gesunder, reproduk- tionsfähiger und damit im bürgerlichen Sinne schöner Töchter zugedacht. Stratz’ Buch erweist sich insofern auch als normierend im Hinblick auf einen einheitlichen Sozialisierungsprozess: Es bietet eine Anleitung zur Führung ei- nes spezifisch-bürgerlichen Lebensstils ebenso wie zum Erlernen des ›richtigen Blicks‹, der zum Erkennen der von Stratz als wahrhaft schön deklarierten Kör- per verbreitet werden sollte.4 Bevor ich mit meiner Analyse beginne, möchte ich auf die Herausforde- rung hinweisen, die die wissenschaftliche Handhabung dieses rassifizieren- den, klassifizierenden und sexistischen Materials mit sich bringt, welches mich während der Analysen in seiner Menschenverachtung in weiten Teilen schlichtweg schockierte und fassungslos zurückließ. Um der Gefahr entgegen- zuwirken, Stratz’ Ausarbeitungen zu reproduzieren, möchte ich daher einer- seits die exemplarisch analysierten Bilder aus dem Zusammenhang des Fließ- textes herausgelöst am Ende dieses Aufsatzes platzieren. So kann der/die Le- ser/in selbst entscheiden, ob er/sie die Bilder anschauen möchte oder nicht. Andererseits hoffe ich, gerade über die den Lesefluss störende Notwendigkeit zwischen Text und Bild Hin- und Herblättern zu müssen, die Irritation widerzu- spiegeln, die ich es selbst bei der Bearbeitung von Stratz’ Beschreibungen und den Darstellungen empfunden habe. Darüber hinaus ist es mein Vorhaben, die epistemisch gewaltsame Funktion, die mit einer solchen Konstruktion von Schönheit einhergeht, in den Vordergrund zu stellen. Zudem erscheint es mir geboten, die proklamierte Wissenschaftlichkeit von Stratz zu hinterfragen und die Zirkelschlüssigkeit seiner Argumentation offenzulegen. Ich stelle nun zunächst (1.) Stratz’ Vorstellung idealer weiblicher Schön- heit in ihrer Verflechtung mit der Rechtfertigung eines bürgerlichen deutschen Lebensstils dar. Anschließend analysiere ich (2.), mit welchen rassifizierenden Ausschlussmechanismen diese Verflechtung einhergeht. Schließlich untersu- che ich (3.) Stratz’ pseudowissenschaftliche Vorgehensweise epistemischer Evidenzerzeugung, um die Haltlosigkeit seines Objektivitätsanspruchs zu nach- zuweisen. 1. Weibliche Schönheit und das Bildungsbürgertum um 1900: eine Verflechtungsgeschichte Um den Bedeutungsumfang des Stratz’schen Schönheitsbegriffs nachvollzie- hen zu können, ist es nötig, seine Forschung in Verflechtung mit zentralen An- liegen des Bildungsbürgertums seiner Zeit zu lesen. Georg Bollenbeck be- schreibt in Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Bildungsmus- ters das Ende des 19. Jahrhunderts als jenen Zeitraum, in dem das 4 Mario Rainer Lepsius beschreibt insbesondere die Bedeutung institutionalisierter Bildungsein- richtungen als ausschlaggebend für den Sozialisierungsprozess von Bürger/innen (vgl. LEPSIUS 1987: 93f.). Carl Heinrich Stratz klinkt sich als Mediziner über das Verfassen von Manualen in die Debatten zu Sozialisierungsprozessen um 1900 ein. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 25 Birke Sturm: Politik der Schönheit Bildungsbürgertum, das sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als »all- gemeiner Stand« etabliert hatte, »seine hegemoniale Weltdeutungs- und Sinn- stiftungsmächtigkeit« verlor (BOLLENBECK 1994: 246). Das von Bollenbeck als se- mantisches Deutungsmuster bezeichnete Duo aus ›Bildung‹ und ›Kultur‹, das für die Identitätsstiftung des Bildungsbürgertums äußerst bedeutsam war, war in die Krise geraten (vgl. BOLLENBECK 2000: 246). Zusammenfassend hält Bollen- beck fest, dass innerhalb einer »wechselseitigen dynamischen Beeinflussung von Wissenschaft, Gesellschaft und kapitalistischer Ökonomie« neue Wirklich- keiten entstanden, welche mit den Begriffen von ›Bildung‹ und ›Kultur‹ nicht mehr einzufangen waren (BOLLENBECK 2000: 255). Letzten Endes fand die Frage danach, inwieweit »Individualität, ›Bildung‹ und ›Kultur‹ in einer Welt der Spe- zialisierung und Kommerzialisierung noch möglich« sein konnten, unterschied- liche Antworten: »Das Spektrum reicht von konservativen, reaktionären oder rassistischen Positionen über die Lebensreformbewegungen bis hin zu Versu- chen, die deutsche Gesellschaft moderat zu modernisieren«, wie Bollenbeck konstatiert (BOLLENBECK 2000: 279). Der selbst aus bildungsbürgerlichen Ver- hältnissen stammende Carl Heinrich Stratz integriert in seinen Ausarbeitungen das gesamte Konglomerat der genannten Positionen und setzt konservative, reaktionäre sowie rassistische mit reformerischen Anschauungen in Verbin- dung.5 All diese Anschauungen manifestieren sich in seiner Forderung nach einem in seinem Sinne schönen, das heißt einem nackten, gesunden, gebärfä- higen weiblichen Körper, der als mitteleuropäisch und ständisch rassifizierter dem Idealkörper der griechischen Antike gleichkommen soll. Stratz befand sich als angesehener Gynäkologe um 1900 in jenem Umfeld an Reformern, das sich das antike Form-Ideal im Rahmen eines antikisierenden Kulturbegriffs aneig- nete. Die nackte vatikanische Venus etwa entsprach Stratz’ an Stücken der an- tiken Kunst geschultem Schönheitsideal, das von ihm gleichzeitig als ›Normal- gestalt‹ universalisiert wurde. Diese zur Norm erklärte Gestalt diente ihm als Vorlage, um an Fotografien von Frauenkörpern aus Fleisch und Blut Kritik zu üben. Die Wertigkeiten, die Stratz körperlicher Schönheit einschreibt, sind also insbesondere in Wechselwirkung mit dem Wunsch nach einer erneuten Stär- kung des Deutungsmusters ›Bildung‹ und ›Kultur‹ zu lesen. Normierte körperli- che Schönheit wird zum Sinnbild bürgerlicher Kultur und gleichzeitig zu einer naturalisierten Forderung, die alles, was nicht unter diese Norm fällt, als an- dersartig und degradiert klassifiziert und damit ausgrenzt. Stratz schrieb zu einer Zeit, in der Frauen prononciert für den Zugang zu traditionell als männlich kodierten Berufen kämpften und mögliche gesell- schaftliche Funktionen bürgerlicher Frauen im Zuge der sogenannten 5 Die Reformbewegungen in Deutschland waren um 1900 sehr vielseitig. Das von Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke herausgegebene Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933 (1998) gibt einen ausführlichen Überblick zu den verschiedenen Reformen. Die in diesem Kapitel behandelte Thematik ist insbesondere Teil der Kleidungsreform und der Freikörperkultur, welche beide auch als Lebensreform oder Selbstreform beschrieben werden. Es gilt zu beachten, dass die unterschiedlichen Reformbewegungen kaum strikt voneinander zu trennen waren und oft fließend ineinander übergingen. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 26 Birke Sturm: Politik der Schönheit ›Frauenfrage‹ breit diskutiert wurden; ab 1908 beispielsweise wurden Frauen in Preußen regulär zum Universitätsstudium zugelassen. Er war sich der femi- nistischen Bestrebungen seiner Zeit offensichtlich bewusst, wenn er auf eine veränderte Stellung der Frauen im öffentlichen Leben verweist (vgl. STRATZ 1900: 170). Seine medizinische Konstruktion der schönen Frau richtet sich in seinen Texten gegen eine solche Entwicklung, indem sie schöne Frauen mit den synonym gesetzten Begriffen gesund = normal = gebärfähig beschreibt. Stratz setzt sich für eine klare Abgrenzung männlicher und weiblicher Sphären ein, was sich auch an seinem Körperideal zeigen lässt. Ausschließlich in ihrer Rolle als Gattin, Mutter und Erzieherin der Kinder wird die Frau als schön und gleichzeitig als für die bürgerliche Gesellschaft gut konstruiert. Die normative Implikation lautet: Anspruch auf andere gesellschaftliche Aufgaben sollten Frauen besser nicht erheben. Die genannte Anrufung eines griechischen Formideals durch den Gynä- kologen zeugt von einer weiteren Grenzziehung. Vom ausgehenden 19. Jahr- hundert an war die bürgerliche Ästhetik in Deutschland bis zum Ersten Welt- krieg vom altgriechischen Vorbild geprägt (vgl. STIEWE 2011: 108f.). Der Bezug auf die Formensprache der römischen und auch griechischen Antike im Rah- men von Klassizismus und Historismus war zwar keine exklusiv deutsche An- gelegenheit. Barbara Stiewe stellt jedoch um 1900 eine »vitalistisch ge- dachte... Revision« des griechischen Altertums heraus, die mit einem zeitge- nössischen Lebensbegriff sowie nationalem, »aufs ›Deutsche‹ ausgerichtete Denken amalgamiert« wurde (STIEWE 2011: 2). Diese von Stiewe beschriebene identifikatorische Aneignung der griechischen Antike zur Gestaltung der Ge- genwart ist auch für Stratz relevant und bildet einen prononcierten national- kulturellen Abgrenzungsmechanismus von anderen europäischen Staaten. ›Le- ben‹ per se wurde von Stratz und anderen Gynäkologen und Lebensreformern zum umfassenden »Grundprinzip jeglichen Denkens und Handelns«, zum »Richtwert ihrer ethisch-pädagogischen Zielsetzungen« (STIEWE 2011: 109) er- klärt. Das Leben des antiken Griechentums wurde als die höchste Form menschlicher Kultur und als von einer besonderen Vitalität geprägt angesehen. Über eine humanistische Bildung sollte beides auch in der deutschen Kultur wiedererlangt und internalisiert werden, wobei eine deutsch-griechische We- sensverwandtschaft imaginiert wurde, die die Rezeption der griechischen An- tike bei gleichzeitiger Kulturkritik rechtfertigen sollte (vgl. STIEWE 2011: 109, 159). In dieser Tradition ist auch Stratz zu sehen, wenn er die antike Bildhauer- kunst als die höchste Stufe der Darstellung idealer menschlicher Körper be- greift, die jemals erreicht worden ist, und an sie, sowohl was das Kunstideal als auch was die Vorstellung vom ›echten‹ Menschen angeht, wieder anknüp- fen möchte. Seiner Ansicht nach haben die künstlerischen Darstellungen in en- ger Wechselwirkung mit der angeblich besonders schön entwickelten griechi- schen Bevölkerung gestanden. Durchaus räumt er ein, dass aufgrund der Sta- tuen kein unmittelbarer Rückschluss auf die Modelle zugelassen werden könne. Der Endzweck griechischer Kunst sei also nicht die »Wiedergabe der menschlichen Gestalt«, sondern vielmehr eine göttliche Darstellung gewesen, IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 27 Birke Sturm: Politik der Schönheit und Körperformen seien aufgrund von Idealisierungen oder Standortbedin- gungen zudem verändert worden (STRATZ 1898: 15). Allerdings beharrt er da- rauf, dass die altgriechische Kunst ihre Motive »unmittelbar aus dem Leben« habe schöpfen können, weshalb ihre Abbildungen aus seiner Sicht auch eine besondere »Naturtreue« aufweisen würden (STRATZ 1898: 13, 14). »Die Grie- chen« konnten, so Stratz, »ihre Körper entkleidet sehen lassen, weil sie schön waren, und sie thaten es, weil sie sich ihrer Schönheit bewusst waren« (STRATZ 1900: 62f.). Diese strengen Normierungen, die sich der Mediziner für die Darstel- lung von Körpern in der bildenden Kunst anmaßte, sind auch im Zuge einer bildungsbürgerlichen Reklamation der Vorherrschaft über die Ausformulie- rung eines Kunstbegriffs zu lesen und machen eine zusätzliche Grenzziehung deutlich. Bollenbeck hat gezeigt, dass Kunst einen gewichtigen Anteil des bür- gerlichen Deutungsmusters von ›Bildung‹ und ›Kultur‹ ausmachte. »Indem das Bildungsbürgertum die Künstler verehrt und die Künste pflegt, kann es auch bestimmen, was als Kunst gelten darf und was nicht«, so Bollenbeck (BOLLEN- BECK 1994: 262). Ein ästhetisches Einverständnis gegenüber so genannter ›hochkultureller‹ Kunst bildete nicht zuletzt einen gewichtigen Anteil des bür- gerlichen Lebensstils (KOCKA 1988: 27). Zusammengefasst nahm sich das von Stratz angerufene Schönheits- ideal Körper der Antike zum Vorbild. Schönheit wurde bei ihm zum Synonym für Gesundheit, Normalität und Gebärfähigkeit. Mit der Wiederanrufung der Ästhetik der griechischen Antike ging eine Abgrenzung von anderen Ländern einher, die sich dieser Ästhetik nicht, wie in der Renaissance, in einem breiten Ausmaß ermächtigten. Gleichzeitig zeigt sich eine für das Bildungsbürgertum typische Auseinandersetzung mit bildender Kunst. Das von Stratz angerufene Schönheitsideal war somit eingebettet in einen bürgerlichen Sozialisierungs- prozess, der gerade aufgrund der Krise, in der sich das Bürgertum befand, von neuer Bedeutung für die eigene Legitimation war. Vor diesem Hintergrund möchte ich nun zu den Abbildungen kommen, und zeigen, wie Stratz über die Darstellung von Schönheit gleichzeitig das Andere, Nicht-Schöne sowohl visu- ell als auch gesellschaftlich ausgrenzt. 2. Rassifizierte Schönheiten In der Studie Die Rassenschönheit des Weibes konstruiert Stratz anhand von Bildern eine progressiv gedachte evolutionäre Entwicklung des Menschen und stellt an deren Spitze den nordischen Typus als den schönsten und seinem griechischen Ideal am nächsten kommenden. Es wird deutlich, dass jene abge- bildeten Körper, die als verhältnismäßig schöner deklariert werden, häufig auch bezüglich ihrer Pose gefälliger erscheinen; zumindest von einem Betrach- ter/innenstandpunkt aus besehen, der durch die europäische Kunstgeschichte geschult wurde (vgl. FRIEDRICH 1997b: 177). Dahingegen werden von Stratz als in der Entwicklung rückständig konstruierte ›Rassen‹ häufig in ungestellten IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 28 Birke Sturm: Politik der Schönheit Posen gezeigt, wie sich beim Durchblättern seiner Schriften zeigt. Grundsätz- lich findet Rassifizierung über eine klare Festschreibung des Anderen, des Nicht-Schönen statt und ist von erheblicher Bedeutung, um das vermeintlich Schöne zu konstituieren und abzugrenzen. Über die als weniger schön konstru- ierten Körper werden Eigenschaften bestimmt, die innerhalb der bildungsbür- gerlichen Kultur um 1900 als nicht akzeptabel gelten sollten. Die epistemische Gewalt, also die Gewalt, die dem ›Wissen‹, welches von Stratz vermittelt wird anhaftet, bezieht sich auf die Negativdarstellung nicht-bürgerlicher Klassen Deutschlands, auf in Kolonien lebende Menschen, wie auch auf die kulturelle Konkurrenz Frankreichs. In seinen Ausarbeitungen finden sich stetig Vorstel- lungen einer von Henning Melber so genannten »Verzeitlichung eines räumli- chen Nebeneinander« (MELBER 2000: 137), also einer Vorstellung, der zufolge Menschen, die nicht nach den Standards der westlichen Vergesellschaftung le- ben, als rückständig betrachtet und darüber hinaus zu entwicklungsgeschicht- lichen Vorstufen erklärt werden. Vier Momente der Konstruktion von Anders- artigkeit, die allesamt der Abgrenzung vom ästhetischen und gleichsam kultu- rell-moralischen Ideal dienen, kehren stetig in abgewandelter Form wieder. Klassische Schönheit wird insofern von ihm infrage gestellt, (1.) wenn sich männliche Geschlechtscharakteristika zuschreiben lassen, (2.) wenn Schönheit mit sinnlichen Reizen verbunden wird, (3.) die Schönheit vergänglich ist und (4.) wenn die Schönheit durch »überfeinerte« Kleidung entstellt wird. Diese vier Zuschreibungen möchte ich im Folgenden näher betrachten, um damit zu zei- gen, dass über körperliche Schönheit Klassen- und ›Rassen‹-Ungleichheiten konstruiert und gleichzeitig naturalisiert werden. Das erste Moment bildet die Zuschreibung von Anzeichen männlicher Geschlechtscharakteristika. Diese Zuschreibung erscheint besonders ausge- prägt in der Konstruktion von ›Rassen‹, die Stratz entwicklungsgeschichtlich hinten ansiedelt und die er insbesondere außerhalb Europas verortet. Generell erachtet er die Körperbildung solcher Frauen als minderwertig, die beispiels- weise aufgrund breiter Schultern stark an männliche Anatomie erinnert (vgl. STRATZ 1901: 17). So zumindest will er es in der Fotografie eines Mädchens se- hen, welches am Ende dieses Aufsatzes unter Abbildung 1 gezeigt wird, und von ihm selbst örtlich kategorisierend mit »Junge Frau aus Saigon (Cochin- china)« untertitelt wurde. Eine genauere Auskunft über den Entstehungshinter- grund der Fotografie bleibt er schuldig. Wie scharf eine ganz eindeutige Unter- scheidung weiblicher und männlicher Charakteristika in Deutschland just zu diesem Zeitpunkt geahndet wurde, zeigt sich in einer Änderung, die im Jahr 1900 im preußischen Bürgerlichen Gesetzbuch vorgenommen wurde: Zuvor konnten Intersexuelle im Alter von 18 Jahren ihr Geschlecht selbst bestimmen oder aber die Änderung der vorhandenen Angaben initiieren. Von nun an wur- den sie schlichtweg als geschlechtlich missgebildete Frauen oder Männer be- trachtet und die Bestimmung des Geschlechts wurde ausschließlich zur Auf- gabe der Ärzte (vgl. REGNER 1996: 201). Das zweite Moment steht eng mit Stratz’ Begriffsbestimmung in Verbin- dung, dass Schönheit nicht mit sinnlichen, sprich sexualisierten Reizen zu IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 29 Birke Sturm: Politik der Schönheit verwechseln sei (vgl. STRATZ 1901: 32). Ein Paradebeispiel hierfür bildet die Fo- tografie eines Mädchens aus Samoa, welche er laut Bildunterschrift Emil Se- lenkas Buch Der Schmuck des Menschen entnommen hatte – der genaue Ent- stehungshintergrund bleibt auch hier im Dunkeln.6 Das Bild befindet sich unter Abbildung 2 am Ende dieses Aufsatzes. Den Liebreiz des Mädchens beschreibt Stratz fernab jeglichen klinischen Umgangstons und dafür vielmehr erotisie- rend folgendermaßen: Allein in den malerischen Schmuck der Blumenranken gehüllt, liegt ein junges Mädchen, eben erblüht, lässig dahingestreckt, eine halbnackte Menschenblume zwischen ihren Schwestern aus dem Pflanzenreiche .... Die Haltung des Körpers ist natürlich und unge- zwungen, Hände und Füsse sind klein und wohlgebildet, über dem Gesicht liegt ein Aus- druck glücklicher Zufriedenheit, sanftträumender Jugendlust (STRATZ 1901: 194). Stratz verweist in diesem Zitat auf die Geschlechtsreife des Mädchens und un- terstellt ihm gleichzeitig Lust. Mit Edward Saïd gesprochen werden hier deut- lich sexuelle Reize im Sinne der westlichen Konstruktion einer exotisierten Frau beschrieben. Saïd hat anhand von Texten des Schriftstellers Gustave Flaubert eine Verbindung zwischen Orient und Sexualität herausgearbeitet, die er als anhaltendes Motiv in der westlichen Darstellung des Orients beschreibt (vgl. SAÏD 2003: 188). Gerade so steht auch bei Stratz’ Beschreibung des jungen Mäd- chens dessen sexuelle Zurschaustellung mit im Vordergrund. Rassifizierung schlägt in diesem Beispiel in Exotisierung um. Schönheit im strengen Sinne spricht Stratz dem Mädchen letztlich ab. Es handele sich wohl um »ein reizen- des ... Bild, aber als unbarmherzige Richter müssen wir den Zauber zerstören« (STRATZ 1901: 194). Stratz hängt – nun wiederum in medizinischem Jargon – eine niederschmetternde Analyse gerade dieses Körpers an und bemängelt eine Mongolenfalte am Auge, eine zu breite Nase, zu breite Lippen, fehlende Muskulatur, zu viel Fett, zu kurze und stark gekrümmte Unterschenkel. Der »halb kindliche Reiz des werdenden Körpers«, der in Stratz’ Logik eben nicht mit Schönheit zu verwechseln ist, ließe vieles übersehen (STRATZ 1901: 196). Diese Verlagerung eines sinnlichen Reizes auf die Jugend verweist di- rekt auf das dritte Moment der Konstruktion von Andersartigkeit. Stratz attes- tiert seinem nordischen Ideal einen späten und langandauernden Höhepunkt der Schönheit, was für ihn mit langandauernder Gebärfähigkeit einhergeht. Die Reize der Samoanerinnen hielten dagegen nur kurz an (vgl. STRATZ 1901: 199). Ähnliches attestiert er den Japanerinnen, wenn er auf die gering ausgebildete Brustmuskulatur verweist, die unter anderem zur Folge haben soll, dass die weibliche Brust ihre Form schnell verliert, wie er in dem Bildbeispiel, welches am Ende dieses Aufsatzes unter Abbildung 3 zu finden ist, vorbei an jeglicher Bildevidenz dingfest machen will (vgl. STRATZ 1901: 101). Selbiges schreibt Stratz auch Italienerinnen zu (STRATZ 1901: 261). Sein Argument der kurzen Schönheitsdauer zeugt jedoch nicht nur von Rassifizierung, sondern auch von Klassifizierung innerhalb der deutschen Gesellschaft. Sein Ideal findet er aus- schließlich in höheren Ständen; in den niederen Ständen sei »weibliche 6 Weitere bibliographische Angaben fehlen in Stratz’ Ausführungen. Selenkas Der Schmuck des Menschen ist 1900 bei Vita in Berlin erschienen. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 30 Birke Sturm: Politik der Schönheit Schönheit eine große Seltenheit« (STRATZ 1901: 327). Besonders schöne Men- schen fände man unter dem Adel, dem »unverfälschten Bauernstande und in alten Bürgerfamilien« (STRATZ 1898: 49). Deren Schönheit sollte vergleichs- weise von deutlich längerer Dauer sein als die Schönheit der niederen Stände (vgl. STRATZ 1898: 48). Das vierte Moment bezieht sich insbesondere auf materielle Kulturgü- ter, die auf verschiedene Art und Weise von Stratz’ deutsch-bürgerlicher Norm abweichen. Dieses Moment wird geradewegs über Frauenkleidung verhandelt, die bei Stratz zum Anzeichen einer evolutionären Entwicklung avanciert. Mo- detheorien um 1900 »entwickeln, übersetzen und popularisieren« Elke Gaugele zufolge »Wissens(ordnungen)« in Kategorien wie »Nation, Klasse, Geschlecht, Körper und Schönheit« (GAUGELE 2012: 85). Auch Stratz zeichnet anhand von Mode Episteme in diesen Bereichen nach, um in seinem Buch Die Frauenklei- dung ›Wissen‹ zu verbreiten. Er konstruiert Kleidung als »natürlichen, unabän- derlichen Gesetzen unterworfen« (STRATZ 1900: 2). Die »moderne europäische Frauenkleidung« wird zum »Endresultat eines Entwicklungsganges« emporge- hoben, an dessen Anfang Stratz die Nacktheit der von ihm als entwicklungsge- schichtlich niedrig konstruierten ›Rassen‹ betrachtet (STRATZ 1900: 4). Diese Nacktheit ist nicht mit jener von Stratz’ idealisierten antiken Griechinnen und Griechen zu verwechseln. Nach dem prinzipiellen Lob der Kleidung im antiken Griechenland wird erklärt, erst im Laufe der Zeit hätten die Griechinnen und Griechen ihre Kleidung abgelegt, »weil sie sich ihrer Schönheit bewusst wa- ren« (STRATZ 1900: 62). Der Entwicklungsgang wird in diesem Fall also gerade umgekehrt beschrieben. Das kleidungstechnisch ideale ›Endresultat‹, welches er zu seiner Zeit in Europa finden will, kann in Stratz’ Logik auch überschritten werden, wie er am Beispiel Frankreichs deutlich macht. Klar erscheint hinge- gen, dass Frankreich dieses ›Endresultat‹ in Stratz’ Argumentation längst über- schritten habe. Deutsche Kultur wurde als Gegenpol französischer überfeiner- ter Zivilisation gedacht. Die modische Parisienne war um 1900 Sinnbild der Weltausstellung in Paris und sowohl als Statue als auch in dem die Ausstellung begleitendem Bildmaterial allgegenwärtig. Zwar erkennt Stratz Frankreich die »Weltherrschaft in der Mode« zu und lobt den Kleidergeschmack der Franzö- sinnen (STRATZ 1900: 132). Doch die Mode in Frankreich wird von ihm letztlich als Maskerade verhandelt, welche die fehlerhaften Körper verhülle und über ihre Opulenz nur sinnliche Reize erwecken wolle. Als Beispiel dient ihm eine Modeabbildung aus der französischen Zeitschrift Nouvelle Revue, die am Ende dieses Aufsatzes unter Abbildung 4 zu finden ist. Obgleich Stratz die Wieder- aufnahme des darauf abgebildeten Empirekleides generell lobt, kritisiert er den darin verborgenen Körper aufs Heftigste: Wenn wir ... versuchen ..., den dazu gehörigen Körper herauszuschälen, ... steht vor uns ein Wesen, wie es die überreizte Kultur der letzten Jahrzehnte oft gezeitigt hat, eines jener nervösen und ungesunden, ... asexuellen Zwitterwesen mit knabenhaftem, bei- nahe kindlichem Körper und mit verdorbener Seele, der Typus der demi-vierge, und demi-vierge nicht nur im moralischen, sondern auch in körperlichem Sinn. Ein normal gebautes Mädchen, das Hüften und Brüste hat, kann in ein solches Costüm nicht hinein, es sei denn, dass es die letzte Errungenschaft der Mode, das Corset sylphide benutzt, IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 31 Birke Sturm: Politik der Schönheit welches nicht nur Brust und Bauch, sondern auch die Hüften durch künstliche, elastische Schenkelbänder so viel als möglich wegdrückt (STRATZ 1900: 139f.). Diese Degradierung des französischen Körpers über die Mode ist Teil einer Ab- lehnung alles Französischen als unsittlich oder pathologisch. Es kann dies als ideologische Vorbereitung auf den Ersten Weltkrieg angesehen werden, der auch als ›Kulturkrieg‹ bezeichnet wird (vgl. FRIEDRICH 1997a: 128). Statt des als krankhaft-überfeinert geltenden französischen Körpers sollte in Deutschland die gesunde Nacktheit der Antike zum Ideal des Volkskörpers avancieren. 3. Objektive Messmethoden und objektive Urteilskraft? Ich möchte nun auf die fragwürdige Vorgehensweise eingehen, durch die Stratz versuchte, weibliche Schönheit dingfest zu machen. Vermeintliche Evi- denz und wissenschaftliche Objektivität wurde über drei Ebenen geschaffen, die ich im Folgenden genauer beschreiben werde: Es handelt sich dabei um die (1.) Anwendung eines Vermessungsverfahrens, (2.) um den Einsatz von Foto- grafie und (3.) um die Konstruktion eines ›Kennerblicks‹. Um die Häufigkeit weiblicher Schönheit statistisch festzustellen, ver- wendete er eine auf den deutschen Anatomen Gustav Fritsch zurückgehende »graphische Methode zur Bestimmung der menschlichen Proportionen« (STRATZ 1898: 35), ein anthropometrisches Verfahren, welches er an fotografi- schen Abbildungen von Frauen anwandte. Über ein Achsensystem werden be- stimmte Körperpunkte linear verbunden, um die daraus resultierenden Linien in ein Verhältnis zu setzen und dann mit einem idealen Maßstab zu vergleichen. Stratz ordnete damit Unmengen an Fotografien bezüglich Schönheit oder Nicht-Schönheit. In dem Kapitel zu »Proportionslehre und Canon« in der Schönheit des weiblichen Körpers verweist Stratz auf die Geschichte des ver- messenen Körpers (vgl. STRATZ 1898: 32-43). Als »erste rein wissenschaftliche Arbeit über Proportionen« nennt er die des belgischen Statistikers und Astro- nomen Lambert Adolphe Jacques Quételet (STRATZ 1898: 34). Quételet unter- nahm 1835 in seiner Abhandlung Sur l’homme et le développement de ses fa- cultés, ou essai de physique sociale den Versuch, über die Ansammlung anth- ropometrischer Daten zu einer Mathematisierung der ganzen Gesellschaft zu gelangen.7 Quételet ging es jedoch weniger um eine physische Rassenanthro- pologie als dies bei Stratz der Fall ist. Sein Hauptinteresse galt dem Auffinden körperlicher Abweichungen von einer Normalität innerhalb der europäischen Gesellschaft. Er versuchte, Körper in quantifizierenden, geometrischen Sche- mata zu systematisieren, um die Gesellschaft ordnen zu können (vgl. SEKULA 2003: 294). Die statistische Wissenschaft, der sich Quételet bediente, war kei- neswegs neu. Vielmehr kann sie zumindest in Europa bis ins 17./18. 7 Quételets Buch ist 1838 unter dem Titel Ueber den Menschen und die Entwicklung seiner Fähig- keit oder der Versuch einer Physik der Gesellschaft in deutscher Übersetzung erschienen. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 32 Birke Sturm: Politik der Schönheit Jahrhundert zurückverfolgt werden, wo sie eng mit dem Aufbau des Staatswe- sens sowie seiner Vereinheitlichung und Verwaltung in Verbindung steht, wie bereits die Herkunft des Wortes vom neulateinischen statisticus (= ›den Staat betreffend‹, ›staatswissenschaftlich‹) deutlich macht (vgl. DESROSIÈRE 2005: 9; DÖRING 2012: 112). Dementsprechend ist statistisches Datenmaterial ein »Orga- nisationsrahmen, in dem administrative, ökonomische und militärische Tätig- keiten verortet und kontrolliert werden« und »Zahlen über Militär, Landwirt- schaft und Polizei sowie Sterblichkeits-, Geburts- und Heiratsraten ... zum po- litischen und repräsentativen Machtinstrument« werden (DÖRING 2012: 112). Für Stratz erscheint die Wissenschaftlichkeit in Jacques Quételets Arbeit insbe- sondere in dessen anthropometrischer Vorgehensweise verankert zu sein. Was diese Vorgehensweise auszeichnet, ist das statistische Messbarmachen von Gesellschaft. Stratz selbst sieht zwar in den von mir analysierten Schriften von ein- deutigen Statistiken ab, zugleich verschafft er sich jedoch mit diesem Verweis den Status eines Experten in der Geschichte wissenschaftlicher Vorgehenswei- sen und setzt sich selbst in eine ›Tradition‹ damals anerkannter wissenschaftli- cher Vermessungstechnik. Darüber hinaus schafft er damit eine angebliche Evi- denz der Möglichkeit, über Statistik und Anthropometrie Gesellschaft mit wis- senschaftlicher Genauigkeit ordnen zu können, die bis zur Konstruktion einer sozialen Physik führt. Gesellschaft erscheint dabei als allein durch wissen- schaftliche Methoden vollständig erklärbar. Zusätzlich sollte das fotografische Bildmaterial selbst seinen Ausarbei- tungen scheinbare Objektivität verleihen. Stratz beschreibt die »Photographie und die Verbesserung der Technik der anderen vervielfältigenden Künste« als Grundlage dafür, »die äusseren Formen lebender Schönheit mit wissenschaft- licher Genauigkeit« festhalten zu können (STRATZ 1898: 2). Er ist zudem davon überzeugt, »auf die Vergleichung photographischer Reproductionen angewie- sen« zu sein, »[u]m das natürliche Rassenideal in Fleisch und Blut zu bestim- men« (STRATZ 1901: 43). Exaktheit wurde der Fotografie bereits von ihrer Ge- burtsstunde weg zugeschrieben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Foto- grafien schnell zu »virtuellen Zeugen« und zu einem idealen Hilfswerkzeug wissenschaftlicher Beobachtung wurden (EDWARDS 2003: 337). Zum Zeitpunkt der Stratz’schen Veröffentlichungen waren sowohl die Fotografie als auch die Anthropologie bereits in den Dienst nationaler, kolonialer und wissenschaftli- cher Verflechtungen gestellt und beide stützten sich teils gegenseitig, ein Fak- tum, welches in der Wissenschafts- und der Fotografiegeschichte bereits ein- gehend behandelt wurde (vgl. EDWARDS 2003: 335).8 Für Stratz genügte indes- sen die Fotografie allein nicht für eine wissenschaftlich korrekte Darstellung. Morris-Reich geht sogar soweit festzustellen, dass Stratz der 8 Elizabeth Edwards verweist insbesondere auf folgenden Aufsatz: PINNEY 1992. Pinney streicht in seinem Aufsatz den Zusammenhang aus Fotografie, Blick, westlichem Wissen und Macht heraus (vgl. PINNEY 1992: 81). Ihm zufolge sind Studien zu Anthropologie und Kamera, die sich mit den bedeutungsgenerierenden Rahmenwerken von Fotografien auseinandersetzen, wiederum solchen Studien dienlich, die die Determination von vermeintlichem Wissen untersuchen (vgl. PINNEY 1992: 90). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 33 Birke Sturm: Politik der Schönheit Beobachtungsmöglichkeit von Fotografie Misstrauen entgegenbrachte, denn, so schreibt er, »what you see, so to speak, is not what you get« (MORRIS-REICH 2017: 64). Meiner Analyse von Stratz folgend ist es jedoch weniger ein Miss- trauen gegenüber der Fotografie, als vielmehr gegenüber der Fähigkeit zur Be- urteilung von Schönheit durch potentielle Betrachter/innen, von der Stratz ge- trieben wird. Deswegen konstruierte Stratz letztlich zusätzlich über seinen spezifi- schen Blick hinaus wissenschaftliche Objektivität, was die Beurteilung von Schönheit angeht. Anthropologische, medizinische und ästhetisch-künstleri- sche Blickformationen werden von ihm zu einem alles klassifizierenden Blick verschränkt.9 Der medizinische und der anthropologische Blick stützt sich auf seine berufliche Qualifikation: So kann Stratz neben einer erfolgreichen Ausbil- dung zum Gynäkologen zum Zeitpunkt der Herausgabe der analysierten Schrif- ten auch auf einen längeren Aufenthalt als Sanitätsoffizier auf Java zurückbli- cken, wo er von der Königlich Niederländisch-Indischen Armee eingesetzt wurde (vgl. FISCHER 1933, 518). Seinen ästhetischen Blick, den er selbst als »künstlerischen« (STRATZ 1898: 24) deklariert, rechtfertigt er als Mediziner schließlich, indem er seine Kenntnisse der Kunstgeschichte evident macht und ein breites Spektrum an Darstellungen behandelt, die als schön empfunden wurden. Andererseits versäumt er es nicht darzulegen, dass dieser Blick alleine für eine zuverlässige Beurteilung kaum ausreichend sein kann. Dafür benötigt es wiederum zusätzliches medizinisches Wissen, wie er anhand der florentini- schen Venus von Sandro Botticelli deutlich macht. Botticelli habe sich, so heißt es »ohne es zu wissen, den Typus einer schönen Schwindsüchtigen zum Ideal gemacht« (STRATZ 1898: 24). Stratz selbst weist sich darüber einmal mehr als ›Experte‹ aus, wenn es darum geht, die verschiedenen Blickformationen erlern- bar zu machen und seine Leser/innen in einem »visuellen Empirismus« (SEKULA 2003: 295) zum Zweck einer national-normierenden Erziehung zu schulen und Ärzte, Künstler und Mütter, wie bereits zu Beginn dieses Aufsatzes erwähnt, im ›richtigen‹ Sehen von Schönheit zu unterweisen. Zwar verspricht das Ensemble aus Zahlen, Fotografie und geschultem Blick Evidenz, die letztliche Antwort auf die Frage, warum nun genau ein ge- wisser Maßstab als ideal gilt, fällt jedoch äußerst unbefriedigend aus: »Obwohl wir [...] nicht in der Lage sind, feststehende Normalproportionen für den menschlichen Körper zu geben, ... können wir ... feststellen, dass ... trotz der verschiedenen Wege die Endresultate gewissenhafter Beobachter sich de- cken« (STRATZ 1898: 35). Der Schlüssel zur Bestimmung von Normalproportio- nen beruht also auf einer reinen Geschmacksfrage. Die einzige Beweiskraft, die Stratz für die schöne, normale Proportionstypologie aufbringt, erschöpft sich 9 Annegret Friedrich beschreibt »eine Verschränkung und Überlagerung des künstlerischen mit dem ärztlichen und anthropologischen Blick, der sich die Methoden der Anthropometrie, der Sta- tistik und der Fotografie zunutze machte« (FRIEDRICH 1997a: 24). In dem Kapitel »Zuchtwahl oder: Der ärztliche Blick« beschreibt sie vor allem den ärztlichen Blick anhand vielseitigen Quellenmate- rials (vgl. FRIEDRICH 1997a: 189-218). Mir geht es verstärkt darum, zu entlarven, wie Carl Heinrich Stratz sich selbst als vermeintlichen Beobachter mit Expertise auszeichnet und dies in sein Werk einarbeitet. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 34 Birke Sturm: Politik der Schönheit in der Einheitlichkeit der geschmacklichen Urteilskraft weniger angeblich ›ge- wissenhafter Beobachter‹. 4. Abschließendes: Stratz’ Bildikonographie als kulturelle Sedimentierung Es wurde gezeigt, wie eng die Vorstellungen weiblicher Schönheit des Gynä- kologen Carl Heinrich Stratz mit Vorstellungen eines bürgerlichen Lebensstils in Verbindung standen, welcher sich die griechische Antike zum Ideal nahm. Darüber hinaus wurden vier Momente genauer analysiert, die der Gynäkologe anhand von Abbildungen festmacht, um das Nicht-Schöne und damit Andere unterscheidbar zu machen und festzuschreiben. Dabei wurde deutlich, dass Stratz einerseits eine eurozentrische Vorstellung von idealer Schönheit hat, die zudem innereuropäisch deutsch-national motiviert erscheint. Keineswegs bleibt es hier bei einer reinen Oberflächenbeschreibung. Vielmehr werden an die äußeren Merkmale des je Anderen immer auch Wertigkeiten geknüpft, die den bildungsbürgerlichen Idealen von Stratz widersprechen. Abschließend wurde seine Vorgehensweise genauer betrachtet, die sich trotz aller Verspre- chen von Wissenschaftlichkeit, wie einem anthropometrischen Verfahren, der Evidenz verheißenden Fotografie und der Verschränkung anthropologischer, medizinischer und ästhetisch-künstlerischer Blickformationen, in letzter Konse- quenz doch als Geschmacksfrage erweist. Stratz’ Schriften zu weiblicher Schönheit können in Summe insbeson- dere aufgrund des gezielten Einsatzes von Bildern und der gleichzeitigen Be- schreibung, wie diese zu lesen seien, als Propagandamaterial angesehen wer- den. Geschlechtliche wie soziale und rassifizierte Ungleichheit wird über Schönheit angeblich wissenschaftlich belegt. Zudem wurde eine biologisti- sche, progressiv gedachte Entwicklung des Menschen populärwissenschaftlich in Umlauf gebracht. Der nordische Idealkörper kann im Zuge dessen als Sym- bolträger und Norm eines bürgerlich geordneten Gesellschaftskörpers gelesen werden, von dem andere Körper abweichen. Was Butler in Das Unbehagen der Geschlechter zur Sprache der Biologie schreibt, lässt sich am Fallbeispiel Stratz auf die Medizin übertragen: Er produziert aufgrund seiner Vorgehensweise »gerade in den Objekten, die er angeblich entdeckt und neutral beschreibt, kulturelle Sedimentierung« (BUTLER 1991: 163). Rassifizierung und Exotisierung avancieren bei ihm gerade über den gezielten Einsatz von Bildmaterial zum biopolitischen Instrumentarium, um über eine epistemisch gewaltsame Kon- struktion von Schönheit nationale deutsche Kultur und Kolonialisierung zu rechtfertigen. Politische sowie gesellschaftliche Grenzen wurden über Bilder der Schönheit sichtbar gemacht. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 35 Birke Sturm: Politik der Schönheit Abbildungen Abb. 1: Quelle: STRATZ 1901: 166 Abb. 2: Quelle: STRATZ 1901: 195 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 36 Birke Sturm: Politik der Schönheit Abb. 3: Quelle: STRATZ 1901: 47 Abb. 4: Quelle: STRATZ 1900: 140 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 37 Birke Sturm: Politik der Schönheit Literatur BOLLENBECK, GEORG: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Bildungsmusters. Frankfurt/M. Insel 1994 BUTLER, JUDITH: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M. Suhrkamp 1991 DESROSIÈRE, ALAIN: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise. Berlin Springer 2005 DÖRING, DANIELA: Zeugende Zahlen. Mittelmaß und Durchschnittstypen in Proportion, Statistik und Konfektion. Berlin Kadmos 2012 EDWARDS, ELIZABETH: Andere ordnen. In: WOLF, HERTA (Hrsg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Band II. Frankfurt/M. Suhrkamp 2003, S. 335-355 FRIEDRICH, ANNEGRET: Das Urteil des Paris. Ein Bild im Kontext um die Jahrhundertwende. Marburg Jonas Verlag 1997a FRIEDRICH, ANNEGRET: Kritik der Urteilskraft oder: die Wissenschaft von der weiblichen Schönheit in Kunst, Medizin und Anthropologie der Jahrhundertwende. In: FRIEDRICH, ANNEGRET; BIRGIT HAEHNEL; VIKTORIA SCHMIDT-LINSENHOFF; CHRISTINA THREUTER (Hrsg.): Projektionen. Rassismus und Sexismus in der Visuellen Kultur. Marburg Jonas Verlag 1997b, S. 164-182 FISCHER, ISIDOR (Hrsg.): Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre. Band II München Urban & Schwarzenberg 1933 GAUGELE, ELKE: Fashioning life – Modetheorien um 1900 als Wissensordnungen. In FILTER, DAGMAR; JANA REICH (Hrsg.): »Bei mir bist du schön ...«: kritische Reflexionen über Konzepte von Schönheit und Körperlichkeit. Freiburg Centaurus 2012, S. 79-93 HAU, MICHAEL: The Cult of Health and Beauty in Germany. A Social History 1890-1930. Chicago U of Chicago P 2003 KERBS, DIETHART; JÜRGEN REULECKE (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933. Wuppertal Hammer 1998 KOCKA, JÜRGEN: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenheiten. In: KOCKA, JÜRGEN: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 1. München dtv 1988, S. 11-76 LEPSIUS, MARIO RAINER: Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit. 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Jahrhunderts am Beispiel des Malers Hans Memling »Er hat darauf bestanden alle Gegenstände so nah anzusehen, bis sie fremd wurden und ihr Geheimnis als fremde hergaben« (ADORNO 1986: 169) Abstract Hans Memling’s triptych with the adoration of the three magi (c. 1470, Museo del Prado, Madrid) holds a remarkable historical significance in terms of con- cepts of alterity and racialized otherness. The subject of discussion is the rep- resentation of the so-called ›black king‹ in the iconography of the Three Kings in Christian art. My paper focuses on concepts of human difference in medieval Europe once skin color had changed from an individual characteristic to a col- lective category. This category became ethnicized and part of a cultural con- struction of the other. The painting generates visual tangible differences and articulates qua a designed figure of contrast a specific relationship to the other/the own. In order to create alterity/otherness, the ›black king‹ is shown in contrast to the other figures, which is determined by the figure’s dark appear- ance. Memling reverts to current social and cultural difference marking con- cepts to charge the painting (beyond any message of salvation) with political and social implications. Hereby the painting causes the dissociation and exclu- sion of a social group and confirms the hierarchical Christian world order. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 40 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild Hans Memlings Triptychon mit der Anbetung der Heiligen Drei Könige (ca. 1470, Museo del Prado, Madrid) besitzt aus soziologisch-kulturwissenschaftli- cher Perspektive eine historische Bedeutung für vormoderne Alteritäts- und Fremdheitskonzepte. Im Zentrum der Diskussion steht die Darstellungsweise des ›schwarzen Königs‹ innerhalb der christlichen Ikonographie der Drei Kö- nige. Der Beitrag fokussiert differenzbildende Konzepte menschlicher Kultur im (spät)mittelalterlichen Europa zu einem Zeitpunkt, als sich Körperfarbe von ei- nem individuellen Merkmal zu einer kollektiven Kategorie wandelte. Im Zuge dieser Entwicklung wurde diese Vorstellung ethnisiert und Teil einer kulturel- len Fremdheitskonstruktion. Vor diesem Hintergrund erzeugt das Gemälde vi- suell erfahrbare Differenzen und artikuliert qua entworfener Kontrastfigur ein spezifisches Verhältnis von Fremdem/Eigenem. So wird der ›schwarze König‹ als Anderer innerbildlich markiert und konstruiert. Memling greift hier auf ak- tuelle soziale und kulturelle Differenz markierende Konzepte zurück, um das Gemälde (über die Heilsbotschaft hinaus) mit politischen und sozialen Implika- tionen aufzuladen. Auf diese Weise wird im und mit dem Gemälde die Ab-/Aus- grenzung einer sozialen Gruppe betrieben und die hierarchische Ordnung der christlichen Welt bestätigt.1 Einleitung Welche Rolle spielt die visuelle Wahrnehmung in der Zuschreibung von Fremd- heiten2? Theodor W. Adornos Zitat über Walter Benjamin illustriert, dass das Fremde nicht einfach bloß ist, sondern konstruiert wird und der optische Sin- neseindruck dabei von zentraler Bedeutung ist. Der Verweis auf den Vorgang des Sehens verdeutlicht, dass das Fremde erkannt werden muss, um als 1 Den Leser*innen dieses Beitrags wird auffallen, dass einige Bezeichnungen/Begriffe zum Teil ge- kennzeichnet sind und andere wiederum nicht. Dies hat auch seinen Grund: Im Rahmen einer Ar- beit, die sich insbesondere mit Körper, Farben, Bildern und Rassismen beschäftigt, ist es sinnvoll, die hier verwendeten Termini zu reflektieren und auf ihren politischen Gehalt sowie den damit verbundenen Konstruktionscharakter zu verweisen. Aus diesem Grund werden Ausdrücke wie ›schwarzer/afrikanischer König‹ in Anführungszeichen gesetzt, um zu verdeutlichen, dass es sich hier um eine motivische Idee handelt und bspw. nicht um die bildliche, naturalistische Darstellung einer historischen Person. Auch ›Afrika‹ wird hier nicht mit dem geografischen Kontinent gleichge- setzt, sondern mit einer zeitgenössischen gesellschaftlich geprägten Vorstellung über Land und Bevölkerung. Insbesondere werden die politisch problematischen und aufgeladenen Begriffe ›Hautfarben‹ und ›Rasse‹, die im allgemeinen Sprachgebrauch fast schon synonym verwendet wer- den, in Anführungszeichen gesetzt, um zu zeigen, dass es sich bei ihnen keinesfalls um natürliche Tatsachen, sondern um gesellschaftliche Konstruktionen handelt. Schwarz in Bezug auf Menschen erfordert in diesem Kontext nochmals einer besonderen Umgangsform: Auch als Adjektiv wird Schwarz hier bewusst in Großschreibung verwendet, weil es einerseits seine politische und soziale Konstruktion ausdrückt. Darüber hinaus aber handelt es sich mit der Großschreibung um eine po- litische Selbstbezeichnung, die sich in Deutschland besonders seit den Kämpfen der Bewegung afro-deutscher Frauen in den 1980er Jahren etablierte, vgl. OGUNTOYE/OPITZ/SCHULTZ 1986. Die Großschreibung stammt ursprünglich aus der us-amerikanischen Black-Power-Bewegung und drückt ein Widerstandspotenzial aus. Dies hat sich mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum durchgesetzt. 2 Bewusst wird hier von Fremdheiten gesprochen. Wie Bernhard Waldenfels beschreibt, gibt es verschiedene Formen des Fremden und des Erlebens von Fremdem. Daher lässt sich, so Walden- fels, Fremdheit nur im Plural denken (vgl. WALDENFELS 2007). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 41 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild solches zu gelten. Da wir also zunächst wissen müssen, wer oder was fremd ist, um es erkennen zu können, könnten wir sie ebenso gut als »some-body, whom we have already recognised« (AHMED 2000: 19) bezeichnen.3 Die Heterogenität der Kategorie Fremdheit sowie die Abstufungen der Fremdheitserfahrung gelten nicht minder auch für die wissenschaftliche Bear- beitung des Themas auf dem Feld der Vormoderne. Es erfordert eine differen- zierte Analyse, denn »nicht alles, was fremd ist, ist gleichermaßen fremd«, wie Marina Münkler und Werner Röcke in ihrem grundlegenden Beitrag zur Be- schreibung des Fremden im Mittelalter anhand der Darstellungen monströser Völker ausführten (MÜNKLER/RÖCKE 1998: 712). So wurde auch in der Fremd- heitsforschung vielfach eine Differenzierung in unterschiedliche ›Grade‹ vorge- schlagen.4 Wird etwas als fremd eingestuft, ist es eine Zuschreibung. Entschei- dend ist dabei nicht die Ebene der Wirklichkeit, sondern die des Diskurses, d.h. die diskursive Bearbeitung des Fremden, bei der Menschen beispielsweise als ›Barbaren‹, ›Wilde‹ o.Ä. begriffen werden (vgl. MÜNKLER/RÖCKE 1998: 707f.). Folg- lich handelt es sich bei der Zuschreibung und Wahrnehmung des Fremden um einen Kommunikationsprozess (vgl. REUTER 2002). Es bedeutet, dass der Pro- zess zum einen Wissen voraussetzt und bestätigt, zum anderen kann der Pro- zess auch neues Wissen generieren. Das auf diese Weise (re)produzierte Wis- sen über Fremdes kann sprachlich wie auch bildlich kommuniziert werden. Das Erzeugen von Alterität ist dabei struktureller Bestandteil. Die für die visuelle Konstruktion von Fremdheit charakteristische Alterität wird insbesondere über Gegensatzpaare bzw. Kontraste vermittelt. Das binäre Modell eigen und fremd wirkt damit konstitutiv, wenn wir etwas als fremd markieren und wahrnehmen (wollen). Das Eigene fungiert dabei stets als Referenzrahmen, um durch Ab- und Ausgrenzung sowohl das Eigene als auch das Fremde zu definieren. Ent- sprechend ist das, was wir als fremd wahrnehmen und was nicht, eine subjek- tive Einschätzung. Damit einhergehen können so auch starre Auffassungen von Kultur und Geschlecht sowie politisch und ideologisch aufgeladene Stere- otypisierungen Anderer. Als komplexe Wissenssysteme verstanden, können Bilder den theoreti- schen Konstrukten von Fremdheit visuelle Erscheinungsformen bieten. Auf diese Weise produzieren und reproduzieren sie aktuelle kulturelle Fremdheits- konzepte. Insbesondere ihre Verknüpfung mit Repräsentationen von Haut kann 3 Ahmeds Überlegungen entwickeln den Körper als ein Gesamtgebilde verkörperlichter Sprach- form. So werden Körperhaltung und Körperbewegung auch als lesbare Charakteristika zur visuel- len und geistigen Kategorisierung von Differenz verstanden; erkannt mit und vor allem durch den Vergleich von Körpern. 4 Bernhard Waldenfels (1995; 1997) unterscheidet zwischen alltäglicher, struktureller und radikaler Fremdheit, dem folgt auch Justin Stagl (1997) mit seinem dreigliedrigen Schema nach und diffe- renziert zwischen kleinen, mittleren und großen Transzendenzen. Dagegen führen Münkler/Röcke (1998: 712-715) an, dass beide Modelle vielmehr Abstufungen der Fremderfahrung als Grade der Fremdheit beschreiben, sich aber beide Aspekte in den jeweiligen Erläuterung vermischen, »so daß eine eindeutige Unterscheidung von Graden der Fremdheit und Graden der Fremderfahrung nicht möglich ist« (MÜNKLER/RÖCKE 1998: 714). Aus diesem Grund schlagen sie konkret zunächst die Unterscheidung zwischen interpersonaler, innerkultureller und interkultureller Fremdheit vor, auf deren Ebenen Fremdheitserfahrungen kleiner, mittlerer und großer Transzendenzen gemacht wer- den können. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 42 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild in der bildenden Kunst einen spezifischen Bedeutungszusammenhang zwi- schen Fremd-Sein und dem dargestellten Subjekt artikulieren. Das 15. Jahr- hundert ist politisch wie sozial durch wesentliche Rahmenfaktoren in Perzep- tion und Sinnzuschreibung von Körpern gekennzeichnet. Zu den primären Fak- toren zählt der expandierende Sklavenhandel von Menschen afrikanischen Ur- sprungs in Europa (vgl. SWEET 1997). Wurde dunkle Körperfarbe zuvor noch als individuelles Merkmal im Sinne der Komplexionenlehre5 aufgefasst, wandelte sie sich zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert zunehmend zu einer eth- nisch definierten Kollektivkategorie (vgl. GROEBNER 2003). Der damit einherge- hende historische Prozess der Rassifizierung6 der Farbe Schwarz stabilisierte 5 Die mittelalterliche Vorstellung von dem, wie der Körper funktionierte und zusammengesetzt war, beruhte auf einer ursprünglich aus der Antike stammenden, weiterentwickelten Lehre der vier menschlichen Körpersäfte (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) und ihrer Verbindung zu den vier Erdelementen (Feuer, Wasser, Erde, Luft). Dieses Modell, auch Humoralpathologie genannt, ordnete den Verbindungen bestimmte Qualitäten zu (feucht, heiß, trocken, kalt). Aus diesem Sys- tem erklärte man sich die Zusammensetzung des menschlichen Leibes, wobei Krankheiten aus einer Unausgewogenheit der Körpersäfte und den Primärqualitäten entstanden. In Anknüpfung an diese Vorstellung wurde eine Komplexionen- oder Temperamentenlehre entwickelt, als deren Be- gründer der spätantike Gelehrte Galenos von Pergamon galt. So glaubte man, dass die Körpersäfte auch Auswirkungen auf das äußere Erscheinungsbild sowie den Charakter hätten. Ausgedrückt wurde dies u.a. mit (Körper)Farben und Komplexionen/Temperamenten (sanguinicus, cholericus, melancholicus, phlegmaticus) (Vgl. auch KEIL 2007: 641f.). Dieser Zusammenhang wird aufgrund seiner Bedeutung für die These später eigens nochmals aufgegriffen. 6 Zur Begrifflichkeit: Mit Rassifizierung ist der soziale Vorgang der Rassenbildung gemeint (vgl. GREVE 2013: Kapitel: Terminologie). Ferner wird von mir zwischen Rasse als soziale Kategorie und ›Rasse‹ als biologische, fiktive Kategorie unterschieden. Zur Begriffsgeschichte siehe besonders CONZE/SOMMER 1984: 135-178. Der Begriff Rasse ist bereits im 13. Jahrhundert in romanischen Spra- chen als razza (italienisch), raza (spanisch), raça (portugiesisch) und race (französisch) belegt. Die soziale Kategorie beschrieb die Zugehörigkeit und Abstammung von Adelsfamilien und herrschaft- licher Dynastien. Parallel wurde der Begriff auch in der Pferdezucht gebraucht. Damit verbunden waren so noch Eigenschaften wie Nobilität, Größe und edle Abkunft eines Hauses oder eines be- stimmten Gestüts (vgl. GEULEN 2007: 14). Mit dem spanischen Zwangsbekehrungsedikt von 1492 wurde der Begriff erstmals in Bezug auf Juden angewandt (vgl. CONZE/SOMMER 1984: 140). Wesent- lich zu dieser Entwicklung beigetragen haben Rechtsordnungen wie die »Estatutos de limpieza de sangre« (Statuten von der »Reinheit des Blutes«), die bereits 1449 in Toledo erlassen wurden (vgl. HERING/SEBASTIÁN 2006). François Bernier übertrug den biologischen Begriff, der zur Unterschei- dung von Pflanzen- und Tierarten diente, 1684 auf die Menschheit. 1735 erfolgte eine Kategorisie- rung nach ›Hautfarben‹ durch Carl von Linné, mit Immanuel Kant dann 1785 eine Einteilung in vier menschliche ›Rassen‹ (vgl. GREVE 2013: 32). Da die Grundlage der Differenzbildung hier auf der Annahme von ›Hautfarben‹ als ›natürliches‹ kollektives Merkmal einer Menschengruppe beruht, trifft dies auf jene Idee zu, mit der die theore- tische Pseudo-Kategorie ›Rasse‹ verbunden wird. Das soziale System Rassismus fußt auf der Vor- stellung einer weißen und christlichen Überlegenheitsideologie. Sie bildet den Legitimationsrah- men für die Herstellung ihrer normierten Ordnung (vgl. FREDRICKSON 2004). Grundlegende Texte zur wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas wurden von Les Back und John Salomon zusam- mengestellt: BACK/SALOMOS 2000. Zur Einführung siehe auch: HUND 2007. Worauf rekurriert wird, ist ein biologistisches Konzept, demnach Menschengruppen invariable, kollektive Eigenschaften evaluativ zugeschrieben werden, die als physische und geistige Eigen- schaften in Erscheinung treten. Es handelt sich um ein Konzept, das durch (unveränderliche) Natur bestimmt wird und an Vererbung gebunden ist. Der Rückgriff auf zeitgenössische wissenschaftli- che Lehren spielt dabei eine durchaus wichtige Rolle, denn es handelt sich um den Versuch Irrati- onales zu rationalisieren. Frühe Formen von Rassismus sind in dieser Hinsicht auch in vormoder- ner Zeit denkbar. Benjamin Isaac prägte den Begriff des Proto-Rassismus, als er der Frage nach- ging, ob es in der Antike Rassismus gab. Dabei ging es weniger um eine Definition des Begriffs ›Rasse‹ als vielmehr um sein biologistisches Konzept. Nach Isaac kann insofern von Proto-Rassis- mus gesprochen werden, als dass er sich zwar vom modernen Rassismus unterscheide, es aber »späteres rassistisches Denken beeinflusst« habe (vgl. ISAAC 2006). Isaac verwendet den Terminus im Sinne von »prototype«: »Thus it is clear that proto-racism, as the prototype of racism, is not IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 43 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild die Idee kollektiver ›Hautfarben‹ und wurde Teil einer kulturellen Fremdheits- konstruktion. Hans Memlings Madrider Dreikönigengemälde (Abb. 1) zeigt vor die- sem Hintergrund die Aufnahme einer Königsfigur mit dunklem Inkarnat7, die als Repräsentant ›Afrikas‹ entworfen wird. Mit dem vorliegenden Beitrag soll aufgezeigt werden, dass Memlings Arbeit mit dem Prozess der Rassifizierung der Farbe Schwarz korreliert und diesen bildlich im Medium der (vormodernen) Malerei realisiert. Die zunehmend als kollektive Körperkategorie aufgefasste ›dunkle Hautfarbe‹ findet ihre bildliche Verdeutlichung in der Erfindung einer Repräsentantenfigur mit dunklem Inkarnat, die im Modus des Visuellen mit Fremdheitskonzepten verschränkt und entsprechend einer ›Rassenlogik‹ ver- haftet wird.8 Abb. 1: Hans Memling: Triptychon mit der Anbetung der Könige, ca. 1470, Museo del Prado, Madrid Quelle: © Museo Nacional del Prado In der christlichen Ikonographie wird der Aspekt des Fremden auf be- sondere Weise im Motiv der Anbetung des Jesuskindes durch die Heiligen Drei Könige thematisiert. Die Bedeutung der Heiligen Drei Könige für das Christen- tum liegt im Kontext der Epiphanie. Die Anbetungserzählung gilt als die Huldi- gung der Heidenwelt und die damit verbundene Entstehung der universia ecclesia gentium (vgl. WAETZOLDT 1955). Durch dieses Verständnis erhält sie ih- ren Sinn. Es wundert also nicht, dass dieses Sujet eine weite Verbreitung in der bildenden Kunst fand, weil sie das Christentum als weltumspannende Religion meant to be just a weakened form of racism. It is racism in the full sense, but it is an early form which precedes Darwin, based on premodern scientific concepts« (ISAAC 2009: 33). 7 Die Darstellung von Körperfarbe wird in der Malerei als Inkarnat bezeichnet. In der Verwendung dieses Begriffs schließe ich mich den Ausführungen von Daniela Bohde und Mechthild Fend an. Demzufolge meint Inkarnat die mediale Repräsentation von Haut und verweist auf eine kritische Unterscheidung zwischen dem Gegenstand und ihrer bildlichen Repräsentation. So wird bei der Untersuchung des Werkes das subjektive Konzept des Künstlers im Prozess des Farbauftrags ex- plizit miteinbezogen; vgl. dazu BOHDE/FEND 2007. 8 Die jüngst erschienene Publikation von Geraldine Heng The invention of Race in the European Middle Ages (2018) konnte zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes leider noch nicht berück- sichtigt werden. Heng bezieht für ihre Studie religiöse, politische sowie ökonomische Faktoren mit ein und schlägt für eine differenzierte Betrachtung ein kritisches Vokabular vor, das verschiedene Formen von race unterscheidet: religious race, epidermal race, colonial race und cartographic race. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 44 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild definiert. Das Motiv wird vor allem im Rheinland und in Norddeutschland des 14. Jahrhunderts beliebt (vgl. FLÜHLER-KREIS 1999: 157). Am Ende des 14. Jahr- hunderts tritt allerdings eine Besonderheit in der Ikonographie der Heiligen Drei Könige hinzu: Die Aufnahme einer Königsfigur mit dunklem Inkarnat. Wie das etwa zwanzig Jahre jünger datierte Vorbild des Rogier van der Weyden veranschaulicht (Abb. 2), war diese Figur bis dahin kein fester Bestandteil der Ikonographie der Heiligen Drei Könige. Der vorliegende Aufsatz wird darlegen, dass die Bilderfindung des ›schwarzen Königs‹ die Funktion und den Stellenwert der dritten Königsfigur innerhalb der Ikonographie veränderte und eng mit der Entwicklung der Idee ›Hautfarben‹ sowie der Rassifizierung der Farbe Schwarz in Verbindung steht. Zu diesem Zweck wird hier die exemplarische Analyse von Hans Memlings Madrider Dreikönigengemälde vorgestellt, dessen Konzeption den ›schwarzen König‹ innerbildlich als fremden Anderen markiert und konstruiert. Abb. 2: Rogier van der Weyden: Triptychon mit der Anbetung der Heiligen Drei Könige aus St. Co- lumba/Köln, ca. 1455 Quelle: © Web Gallery of Art Das Motiv der Heiligen Drei Könige in der Literatur und bildenden Kunst von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit Weder in de Literatur- noch in der Bildtradition der Drei Könige kann von einer kontinuierlichen Entwicklung des Motivs/den Figuren gesprochen werden. Vielmehr müssen beide Vorgänge als parallele Entwicklungsprozesse begriffen werden. Es ist aber wahrscheinlich anzunehmen, dass Literatur und bildende Kunst in wechselseitigem Zugriff zueinanderstanden. Entsprechend fällt also auf, dass mit der literarischen Einführung der Idee eines Schwarzen Königs als Repräsentant ›Afrikas‹ zum Ende des 14. Jahrhunderts, fast zur selben Zeit die IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 45 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild Aufnahme einer Königsfigur mit dunklem Inkarnat in die Malerei zu beobach- ten war. Bei den Heiligen Drei Königen handelt es sich in erster Linie um litera- rische Figuren. Erstmals erwähnt werden diese im Matthäusevangelium des Neuen Testaments. So lesen wir in Matthäus 2, 1-12: Da Jesus geboren war zu Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da ka- men Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, ihn an- zubeten. Als das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem, und er ließ zusammenkommen alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und er- forschte von ihnen, wo der Christus geboren werden sollte. Und sie sagten ihm: In Beth- lehem in Judäa; denn so steht geschrieben durch den Propheten (Micha 5,1): »Und du, Bethlehem im Lande Juda, bist mitnichten die kleinste unter den Fürsten Judas; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.« Da rief Herodes die Weisen heimlich zu sich und erkundete genau von ihnen, wann der Stern erschienen wäre, und schickte sie nach Bethlehem und sprach: Zieht hin und forscht fleißig nach dem Kindlein; und wenn ihr's findet, so sagt mir's wieder, dass auch ich komme und es anbete. Als sie nun den König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war. Da sie den Stern sahen, wurden sie hocherfreut und gingen in das Haus und sahen das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und da ihnen im Traum befohlen wurde, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem andern [sic!] Weg wieder in ihr Land (LUTHER 2017: Mt. 2, 1-12) Es fällt auf, dass der lateinische Vulgata-Text uns nichts über die Figu- ren verrät, was wir heute meinen über sie zu wissen.9 Er enthält keinerlei Infor- mationen darüber, welches Alter oder welche Namen sie besitzen, woher sie genau stammen, wie viele sie sind oder dass es sich bei ihnen um Könige han- delt. Sicher können wir nur sagen, dass sie als Weisen (magi) bezeichnet wer- den, aus einem anderen Land stammen und drei Gaben brachten. Daraus wird deutlich, dass die Textstelle im Neuen Testament für bildende Künstler zu- nächst also keine attraktive Orientierung bieten konnte, da sie nur wenig Infor- mationen für eine adäquate Umsetzung zu Bildfiguren liefert. Die nachfolgende Kirchenliteratur suchte die Anbetungsszene mit den Figuren der Könige zu deu- ten und sie genaustens zu beschreiben. Tertullian war der Erste, der die Weisen als Könige interpretierte (vgl. KAPLAN 1985: 21). Im 4. Jahrhundert dann wurde angenommen, dass jeder dieser Könige aus einem anderen Land stamme. Nach Augustinus von Hippo seien sie die ersten aller heidnischen Völker 9 »Cum ergo natus esset Iesus in Bethlehem Iudaeae in diebus Herodis regis ecce magi ab oriente venerunt Hierosolymam dicentes ubi est qui natus est rex Iudaeorum vidimus enim stellam eius in oriente et venimus adorare eum audiens autem Herodes rex turbatus est et omnis Hierosolyma cum illo et congregans omnes principes sacerdotum et scribas populi, sciscitabatur ab eis ubi Christus nasceretur; At illi dixerunt ei in Bethleem Iudaeae sic enim scriptum est per prophetam et tu Bethleem terra Iuda, nequaquam minima es in principibus Iuda ex te enim exiet dux qui regat populum meum Israhel; Tunc Herodes clam vocatis magis diligenter didicit ab eis tempus stellae, quae apparuit eis et mittens illos in Bethleem dixit ite et interrogate diligenter de puero et cum inveneritis renuntiate mihi ut et ego veniens adorem eum qui cum audissent regem abierunt et ecce stella quam viderant in oriente antecedebat eos usque dum veniens staret supra ubi erat puer videntes autem stellam gavisi sunt gaudio magno valde et intrantes domum invenerunt puerum cum Maria matre eius et procidentes adoraverunt eum et apertis thesauris suis obtulerunt ei munera aurum tus et murram et responso accepto in somnis ne redirent ad Herodem per aliam viam reverse sunt in regionem suam« (WEBER 1994: 1527-1528). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 46 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild (vgl. KAPLAN 1985: 22). So präsentieren sie nach christlicher Auffassung die ge- samte menschliche Bevölkerung, die es zu christianisieren galt: aus Europa, Asien und Afrika. Im frühen 3. Jahrhundert finden wir bei Origenes auch eine Angabe zur Anzahl der Könige (vgl. KAPLAN 1985: 21). Es war eine einfache Ableitung der drei Gaben, die natürlich darauf schließen ließ, dass es sich auch um drei Kö- nige handeln musste. Nach Paul H. D. Kaplan spielte insbesondere Irland in der Verbreitung der Heiligen Drei Könige eine immense Bedeutung. Die Verbrei- tung der Excerpta Latina Barbari berichtet von den Namen Bithisarea, Melichor und Gathaspar (vgl. KAPLAN 1985: 21). Offenkundig lassen sich hier die noch heutigen geläufigen Namen Balthasar, Melchior und Caspar ableiten. Dieses Namensset etablierte sich so ab dem 12. Jahrhundert. Im frühen 8. Jahrhundert tritt bereits die Zuweisung von verschiedenen Altersstufen hinzu: Ein Jüngling, ein Mann mittleren Alters sowie ein Greis (vgl. KAPLAN 1985: 21). Die Verknüp- fung zwischen Name und Alter folgte jedoch erst später. In den Collectanea et Flores wird der alte magus als Melchior, gefolgt von dem jungen Caspar und dem mittelalten Balthasar beschrieben (vgl. KAPLAN 1985: 21). Der Text weist den Königen nicht nur Alter und Namen zu, sondern gibt eine sehr detaillierte Beschreibung ihres Aussehens wieder. Geschildert werden die Farbe und die Länge des Bartes, die Kleidung sowie die Verteilung der einzelnen Gaben mit samt ihrer Deutung: Magi sunt, qui munera Domino dederunt: primus fuisse dicitur Melchior, senex et canus, barba prolixa et capillis, tunica hyacinthine, saboque mileno, et calceamentis hyacinthine et albo mixto opere, pro mitrario variae compositionis indutus: aurum obtulit regi Do- mino. Secundus, nomine Caspar, juvenis imberbis, rubicundus, mylenica tunica, sago ru- beo, calceamentis hyacinthinis vestitus: thure quasi Deo oblatione Digna, Deum honora- bat. Tertius, fuscus, integer barbatus, Balthasar nomine, habens tunicam rubeam, albo vario, calceamentis milenicis amictus:per myrrham Filium hominis moriturum professus est. Omnia autem vestimenta eorum syriaca sunt (VENERABILIS 1968: Sp. 541D).10 Während Kleidung, Barttracht, Alter, Namen und Attribute recht präzise beschrieben werden, gibt es jedoch zunächst keine Information zur Körper- farbe.11 Erst am Ende des 10. und zu Beginn des 11. Jahrhunderts lässt sich in der Catechesis Celtica eine Aussage zur Körperfarbe eines der Könige feststel- len.12 Die bisher erste schriftliche Erwähnung eines Schwarzen Königs im nord- alpinen Raum stammt aus einer Schrift des frühen 13. Jahrhunderts des 10 (Übersetzung von der Verfasserin): Das sind die magi, welche dem Herrn Gaben brachten: Der Erste, sagt man, war Melchior, alt und grau, mit langem Haar und Bart, mit violetter Tunika und einem grünen, kurzen Mantel und mit weiß und violett gefertigtem Schuhwerk, er trägt einen mit- hraischen Hut aus verschiedenen Materialien: Er brachte Gott dem Herren Gold. Der Zweite, Caspar genannt, ein bartloser Jüngling, rötlich, ist gekleidet in einer grünen Tunika, einem kurzen roten Mantel und violettem Schuhwerk: mit Weihrauch, eine Gabe beinahe Gott würdig, ehrte er Gott. Der Dritte, dunkel, vollbärtig, genannt Balthasar, gekleidet in einer roten Tunika und einem kurzen, weißen Mantel und ausgestattet mit grünem Schuhwerk: Mit Myrrhe prophezeit er den Tod des Sohnes der Menschheit. Alle ihre Kleider sind wahrhaftig syrisch. 11 Anders als in der Forschungsliteratur zum Teil angenommen, bezieht sich fuscus hier nicht auf die körperliche Erscheinung des dritten Königs, sondern auf die Farbe des Bartes (vgl. KAPLAN 1985: 27). 12»Tertius, Patizara nomine, fuscus, niger, intig[er] barbatus, tonicam rubeam et sagum album ha- bens, et calceamentis millenicis indutus.« Es scheint unwahrscheinlich, dass fuscus und niger hier beide den Bart des dritten Königs meinen; Vgl. KAPLAN 1985: 28. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 47 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild Nonnenklosters Schönau.13 Zum Ende des 14. Jahrhunderts war die Idee eines Schwarzen Königs eine weitestgehend vertraute Vorstellung. In der Historia Trium Regum des Johannes von Hildesheim (zwischen 1364 und 1379) wird der König Caspar recht eindeutig als »ethiops niger« beschrieben.14 Etwa zeit- gleich in den 1360er Jahren finden auch die fiktiven Berichte des Sir John Man- deville eine weite Verbreitung (vgl. KAPLAN 1985: 19). Hier wird einer der Könige eindeutig als aus Afrika stammend erklärt: »In this land of Ethiopia is the city of Saba, of which one of the three kings that offered til our Lord was king« (LETTS 1953: 113.; vgl. hierzu außerdem KAPLAN 1985: 68ff.). Das Motiv der Anbetung der Könige erfreut sich ab dem 14. Jahrhundert im nordalpinen Raum großer Beliebtheit. Ähnliches lässt sich auch in Italien be- obachten, allerdings unterscheiden sich die südalpinen Darstellungen darin, dass die Anbetungsszene meist mit einem großen Gefolgezug dargestellt wird. Im nordalpinen Raum wird die Szene weitgehend auf die Hauptfiguren redu- ziert, jedoch mit stärkerer Betonung individueller Charakteristika hinsichtlich ihres Alters und dem Verweis ihrer fernen (anderen) Herkunft. Die Individuali- sierung der Figuren wird mittels Haar- und Barttracht sowie über ihre Beklei- dung zum Ausdruck gebracht. Um 1400 fällt auf, dass zwischen den beiden jüngeren Königen eine stärkere Differenzierung durch hellere und dunklere Haar- und Gesichtsfarbe hervortritt. So zum Beispiel zu beobachten am Wil- dunger-Altar des Conrad von Soest und am Buxtehuder-Altarretabel des Meis- ter Bertram von Minden. Die Veränderung in der Darstellungsweise dieser Fi- gur muss im Kontext einer sich wandelnden Auffassung in der Vorstellung und Wahrnehmung von ›schwarzer Haut‹ als kollektives Merkmal einer vermeintlich homogenen und als ›afrikanisch‹ gedachten Menschengruppe verstanden wer- den, für deren Stellvertreter die Königsfigur steht. Anna Greve weist hier zu- recht daraufhin, dass diese Veränderung auf den Prozess der Rassifizierung von Schwarz hinweist: »Die komplexe Farbsymbolik wird auf Schwarz als ras- sifizierte Kategorie reduziert und gleichzeitig das Konzept unveränderlicher kol- lektiver ›Hautfarben‹ etabliert« (GREVE 2013: 141).15 Spätantike Darstellungen der magi zeigen sie noch als nahezu drei iden- tische Figuren als sog. ›Orientalen‹ in Barbarentracht mit Ärmelchiton, Chlamys und mit phrygischen Mützen, welche sie als Fremde kennzeichnen. Die Ikono- graphie der Anbetung der magi wurde aus den Darstellungen huldigender Bar- baren in der römischen Triumphalkunst entwickelt. Meist werden sie als drei heraneilende Figuren charakterisiert, während die seitlich dargestellte 13 »Rex Balthasar, qui niger et rubea tunica indutus et calciamentorum varietate….te rogo pro peccatis et negligentiis meis« ; X. Gebet zu den hl. drei Königen, den Patronen der Capelle des Nonnenklosters Schönau, in: (ROTH 1884). 14 »Jaspar maior in persona, et ethiops niger, de quo nulli [dubium]« HORSTMANN 1886: 237; hier übersetzt auf S. 73: »Jasper was the greatest person, and a black Ethiopian, of which there is no doubt« (Vgl. auch KAPLAN 1985: 19). 15 Anna Greve benennt mit ihrer Habilitationsschrift deutlich das Desiderat der kunstgeschichtli- chen Forschung zu erklären, inwiefern die Traditionen der bildenden Kunst rassistische Diskurse vorbereitet haben und öffnete das Fach für die Analyse bildlicher ›Rassendifferenz‹ für die Zeit zwischen dem 12. und dem 17. Jahrhundert. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 48 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild thronende Gottesmutter das Jesuskind auf dem Schoß hält.16 In vorromani- scher Zeit liegt der Akzent auf ottonischen Darstellungen weniger in der An- kunft der magi als vielmehr auf dem Darbringen der Gaben. So eilen sie folglich nicht mehr heran, sondern verharren im Kommen in tiefer Verehrung. Die ot- tonischen Darstellungen werden jedoch noch inhaltlich erweitert, denn sie zei- gen durch Gebärden auch die Annahme der Anbetung. Im Beispiel des Periko- penbuches Heinrichs II. hebt das Jesuskind seine segnende Hand den drei an- kommenden magi entgegen. Auf diese Weise wird die narrative Darstellungs- weise durch antwortende Kommunikationsgesten erweitert. Im Egbert-Codex (10. Jahrhundert) werden die Figuren erstmals als Kö- nige dargestellt. Sie tragen zum Zeichen ihrer Königswürde klar erkennbare Kronen. Zudem werden sie nun mit Namen gekennzeichnet: Pudizar, Melchias und Caspar. Der Codex präsentiert eine deutliche Differenzierung der Drei. Sie verkörpern die drei Lebensalter, die seit karolingischer Zeit zunehmend zum festen Bestandteil der Ikonographie der Heiligen Drei Könige werden. Eine frühe Darstellung der drei Lebensalter ist bereits im 6. Jahrhundert im unteren Register eines Elfenbeinbuchdeckels zu finden. Die Ikonographie der Anbetungsszene wird im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts stetig erweitert. Die Szenen werden in irdische und aus der rea- len Alltagswelt stammende Orte versetzt. Die Schauplätze des Ereignisses wer- den in ein Haus, eine Hütte oder einen Stall verlegt. Manchmal auch in eine Ruine, in Anlehnung an den Davidpalast oder die zerfallene Synagoge (vgl. WEIS 1968: Sp.543). Um 1400 wird einer der Könige mit dunklem Inkarnat dargestellt. Dies geschieht vorrangig im nordalpinen Raum. Die frühe Darstellung einer solchen Königsfigur will Walter S. Cook in einer Miniatur einer Handschrift aus dem 12. Jahrhundert erkannt haben (vgl. COOK 1928: 320f.; diskutiert in KAPLAN 1985: 85ff.). Die Wappen der Könige stellen eines ihrer wichtigsten Attribute dar. Sie unterscheiden nicht nur die einzelnen Königsfiguren voneinander, sondern verweisen auf ihre fiktive geographische Herkunft. Bei den Wappen handelt es sich somit um Phantasiewappen. Vermutet wird, dass sie die Erfindung eines Kölner Wappenmalers sind (vgl. HORSTMANN 1969: 50). Als Anlass wird der Auf- trag für ein Wappenbuch der Kölner Dreikönigsbruderschaft um das Jahr 1369 angenommen (vgl. HORSTMANN 1969: 51). Womöglich waren die Phantasiewap- pen der Neun guten Helden im Hansesaal des Kölner Rathauses und ein Glas- fenster der Sakristei von St. Gereon mit dem Hl. Quirinus plausible Vorbilder (vgl. KASTER 1974: Sp. 98). Stefan Lochners Dreikönigengemälde zu Köln zeigt drei Wappenbanner erstmalig mit den drei im Wappenbuch des Herold Gelre aufgenommenen Vorlagen (Abb. 3; vgl. HORSTMANN 1969: 51). 16 Kehrer bezeichnet diese Form durch seine Bezüge zu antiken Vorbildern auch als den »hellenis- tischen Typus« (KEHRER 1976: 1ff.). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 49 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild Abb. 3: Stefan Lochner: Altarbild der heiligen Stadtpatrone, Mitteltafel, ca. 1440, Kölner Dom Quelle: CHAPUIS 2004: Abb. 21 Bevor die Figur eines Königs mit dunklem Inkarnat in die Malerei einge- führt wurde, wurden zunächst noch Gefolgefiguren der Könige mit dunklem Inkarnat zum Verweis fremdländischer Herkunft dargestellt (vgl. KEHRER 1976: 224). Bestimmte Körpermerkmale wurden mit Menschen dunkler Körperfarbe assoziiert: eine flache und breite Nase, große Nasenlöcher, dicke Lippen und krauses, gelocktes Haar (vgl. MELLINKOFF 1993: 127). In der bildenden Kunst wur- den diese Assoziationen adaptiert und stereotypisiert. Nicht zuletzt, wie es hier zu zeigen gilt, folgte darauf eine funktionalisierende Darstellungspraxis, die zum Zeichen der Herabwürdigung und/oder Abgrenzung herangezogen wurde. Die Einführung von Gefolgefiguren, die mit einer als ›afrikanisch‹ assoziierten Physiognomie dargestellt werden, lässt sich erstmals an der Kanzel des Siene- ser Doms von Niccoló Pisano (1266-68) verorten (vgl. KAPLAN 1985: 7). Zur Neuausrichtung des Begriffs complexio: Dunkles Inkarnat als kollektive Markierungsform Wir möchten unseren Fokus auf die Darstellungsweise des Repräsentanten ›Af- rikas‹ lenken bzw. - auf das, was man für Afrika hielt. Am Ende des 14. Jahr- hunderts geschieht dies in der Malerei insbesondere durch die Verwendung dunklen Inkarnats als markierende Darstellungspraxis. Im Laufe der Jahrhun- derte werden die bildlichen Figuren der Könige vermehrt durch kennzeich- nende Attribute individualisiert. Einem dieser Könige wird obendrein ein dunk- les Inkarnat als Verweis seiner ›afrikanischen‹ Herkunft zugewiesen. Obwohl die Könige also bereits seit dem 4. Jahrhundert als Vertreter der drei Weltteile gelten, beobachten wir das dunkle Inkarnat bei diesem König erst um 1400. Dies hat auch einen Grund, denn »im christlichen Mittelalter stand Afrika IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 50 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild schlechthin nicht von vornherein für Menschen mit schwarzer Haut«, wie Va- lentin Groebner erklärt (GROEBNER 2003: 8). Dies ist erst im Verlauf des 15. Jahr- hunderts der Fall. Die hier ausgewählten Beispiele des 15. Jahrhunderts von Hans Mult- scher (Abb. 4), Martin Schongauer (Abb. 5) und Hieronymus Bosch (Abb. 6) zeigen alle die Aufnahme einer solchen Königsfigur. Trotz ihrer unterschiedli- chen Gestaltungsweisen besitzen sie eine wesentliche Gemeinsamkeit in der kompositionellen Ausführung des Sujets: Sie alle setzen den Repräsentanten ›Afrikas‹ nach außen. Es scheint bemerkenswert, dass mit der Aufnahme einer Königsfigur mit dunklem Inkarnat keine andere Position für diese mehr denk- bar schien, als eine, außerhalb der zentralen Figurengruppe. Dies hat seinen Ursprung nicht zuletzt in den bisherigen Traditionen der bildenden Kunst, in der mit der Farbe Schwarz und den Darstellungsformen ›dunkler/schwarzer‹ Fi- guren spezifische Bedeutungsfelder verknüpft waren. Die Königsfiguren mit dunklem Inkarnat werden bewusst an den Rand der Hauptfigurengruppe positioniert. Mithilfe unterschiedlicher Bildmittel wer- den sie dabei von den restlichen Figuren abgegrenzt, zum Beispiel durch ein Architekturelement oder sie werden durch ihre Verschattung in den Hinter- grund gerückt. Daher erscheint es in diesem Zusammenhang sinnvoll, darüber nachzudenken, welches die privilegierten Orte in der Komposition dieses Su- jets sind. Wenngleich die Beobachtung der an den Rand gerückten Figur in der kunstgeschichtlichen Forschung nicht neu ist, wurde sie jedoch kaum einge- hender bearbeitet (vgl. WEIS 1968: Sp. 544). Abb.4: Abb. 5: Abb. 6: Hans Multscher: Anbetung der Martin Schongauer: Anbetung Hieronymus Bosch: Anbe- Könige. Tafel des Wurzacher Al- der Könige, ca. 1480, Unterlin- tung der Könige, um 1480, tars, 1437, Staatliche Museen, den Museum, Colmar Philadelphia Museum of Berlin Quelle: © Jörgens.mi/Wikipe- Art, Philadelphia Quelle: BORCHERT 2010: 63 dia, https://commons.wikime- Quelle: https://www.phi- dia.org/w/in- lamuseum.org [letzter Zu- dex.php?curid=48733242 [letz- griff: 09.05.2018] ter Zugriff: 09.05.2018] Zu der wohl bisher umfangreichsten Studie zum Motiv des ›schwarzen Königs‹ zählt die von Paul H. D. Kaplan publizierte Arbeit The Rise of the Black IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 51 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild Magus in Western Art aus dem Jahr 1985. Knapp ein Jahrzehnt später veröf- fentlichte Yona Pinson ihren Aufsatz Connotations of Sin and Heresy in the Fi- gure of the Black King in Some Renaissance Adorations (1996). Im Mittelpunkt von Pinsons Ausführungen standen die Dreikönigengemälde von Hieronymus Bosch (1510) und Pieter Brueghel (1564). In ihrer Analyse wies Pinson nach, dass die Figuren des ›schwarzen Königs‹ in beiden Gemälden nicht nur eine divergierende Darstellungsweise zu den anderen Königen aufweisen, sondern dabei deutlich negativ konnotiert werden (vgl. PINSON 1996: 159-175). Erst 2010 griff Joseph Leo Koerner die Beobachtung der an den Rand verwiesenen Figur wieder auf und suchte eine Erklärung für dieses Phänomen zu finden. Er be- gründet diese Auffälligkeit mit der Funktion, die dem ›schwarzen König‹ dabei ganz allgemein zugrunde gelegt werde: Der König verweise auf sich selbst als Interpretationsschlüssel (vgl. KOERNER 2010: 13). Im Gegensatz zum restlichen Personal, präsentiere er sich selbst, während andere »simply are« (KOERNER 2010: 13). Greve bekräftigt, dass die zugewiesene Rolle des Königs die einer Vermittlerfigur sei, die an der Schwelle und vor einem das Bild gliedernden Architekturelement erscheint (vgl. GREVE 2013: 143). Dies erweist sich als ein beträchtlicher Unterschied in der Auffassung der Figur im Vergleich zum Ge- samtensemble. Sie wird zu einer Projektionsfolie und bildlichen Verkörperung des Anderen, welche an der Grenze zwischen dem innerbildlichen Innen und Außen platziert wird. Die Positionierung dieser Figur ist eine konzeptuelle Ent- scheidung des Künstlers. Seine Absetzung der Figur von dem restlichen Figu- renpersonal wirft Fragen auf, die bisher noch kaum zufriedenstellend beant- wortet wurden. So muss seine Abgrenzung von der Gruppe in Relation, d.h. in Bezug auf die innerbildlichen Figurenbeziehungen gesetzt werden. Infolge müssen die Fragen um mögliche künstlerische Ab- und Ausgrenzungspraxen erweitert und präzisiert werden. Die Ausführung dieses Sujets in einer E-Initiale eines Messbuches aus St. Florian zeigt auf unmissverständliche Weise, welches ambivalente Verhält- nis man zu dieser Figur offenbar pflegte (Abb. 7; vgl. dazu auch KOERNER 2010: 24). Der um 1400 datierte Codex zeigt auf Folio 4r eine Anbetungsszene, die in die Initiale E eingebettet wurde. Die Komposition präsentiert uns eine übliche Darstellung der Anbetungsszene. Eine seitlich thronende Madonna mit Kind empfängt die Könige mit ihren Gaben. Der greise König kniet, während der König mittleren Alters hinzutritt. Äußerst bemerkenswert erscheint hier die Darstellungsweise des Königs mit dunklem Inkarnat, der durch den Mittelbal- ken der E-Initiale regelrecht aus der Szene ausgeschlossen wird. Die Ausgren- zung des dritten Königs bzw. die Wahl den König mit dunklem Inkarnat hinter den Balken zu platzieren, scheint weniger zufällige als konzeptionelle Gründe zu haben und mit spezifischen Vorstellungen, die mit dieser Figur assoziiert werden, in Verbindung zu stehen. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 52 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild Abb. 7: Initiale E. Missale secundum usum ecclesiae s. Floriani, ca. 1400, Cod. III.205, fol. 4r, Stiftsbiblio- thek, Sankt Florian (Detail) Quelle: KOERNER 2010: 24 Schon die Literatur der Kreuzzugszeit sowie Reiseberichte und höfische Epen beschreiben immer wieder Menschen dunkler Körperfarbe.17 Insbeson- dere ihre bildlichen Darstellungen waren in ganz verschiedenen Formen prä- sent, so beispielsweise in der Figur des Heiligen Mauritius. Mauritius, ein Mili- tärsheiliger, wird meist als mittelalterlicher Ritter mit dunklem Inkarnat darge- stellt. Er war Christ und militärischer Anführer der Legio Thebaica, die Kaiser Diokletian im Zuge eines Aufstandes in Gallien zusammenstellte, um ihn nie- derzuschlagen. Das Heer war ein römisches Heer – kein christliches. Der dadurch verursachte Gewissenskonflikt, stellte für Mauritius und seine Anhä- nger ein nahezu unüberwindliches Problem dar. Gemäß der Legende Johan- nes des Täufers wurde Nordafrika christianisiert. Die geforderte Verpflichtung von Christen für den römischen Militärdienst verursachte einen Konflikt mit ih- ren Pflichten als Christen und als kaiserliche Untertanen, wie Dione Flühler- Kreis schreibt (vgl. FLÜHLER-KREIS 1999: 170). Die Passio des Bischofs Eucher von Lyon, welche um 450 n. Chr. verfasst wurde, beschreibt wie der Heilige Mauritius den Märtyrertod erlitt. Mauritius führte das Heer aus dem ägypti- schen Theben durch Italien und über die Alpen ins heutige Martigny im Rhônethal. Nachdem sie dort allerdings den Götzendienst verweigerten, flohen sie nach Acaunum (St. Maurice, VS, Schweiz). Als sie dort wiederholt den Göt- zendienst verweigerten, wurden sie schrittweise dezimiert, bis alle einschließ- lich Mauritius enthauptet wurden (vgl. REUSCH 1974: Sp. 610-613). So wurde Mauritius unter den Saliern zum Reichspatron erhoben (vgl. FLÜHLER-KREIS 1999: 150). Die Regensburger Kaiserchronik aus dem 12. Jahrhundert ist das einzige schriftliche Dokument, welches den Heiligen als »Herzoge der More« und seine Anhängerschaft als »Christen von den schwarzen Moren« benennt (vgl. GREVE 2013: 147; Zitate aus FLÜHLER-KREIS 1980: 171). Seit dem 13. Jahrhun- dert wird seine Figur in der bildenden Kunst im Einflussgebiet des Erzbistums Magdeburg sowie in den neugewonnenen östlichen und nördlichen Gebieten 17 Bekannte Beispiele dafür sind u.a. die Figur der Prinzessin Belakâne aus Wolfram von Eschen- bachs Parzival oder die Beschreibung des nubischen Königs in den Berichten Robert de Claris. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 53 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild mit dunklem Inkarnat dargestellt (vgl. FLÜHLER-KREIS 1999: 151). Die älteste er- haltene Darstellung eines solchen Mauritius ist eine ehemals gefasste Sand- steinskulptur im Dom von Magdeburg, deren Entstehungszeit um 1240 datiert wird (Abb.8; vgl. FLÜHLER-KREIS 1999: 151). Die Vorstellung, dass er Schwarz sei, stammt, so Greve, womöglich aus der Namensableitung »Mauritius-Morus« und seiner zugeschriebenen Herkunft aus Theben, welches durch seine Nähe zum Nil mit Äthiopien wohl in Verbindung gebracht wurde (vgl. GREVE 2013: 148). Der in diesem Zuge geknüpfte Zusammenhang zwischen geographischer Verortung und Körperfarbe wird bereits bei diesem Heiligen als Teil seiner fi- gürlichen Erscheinung zum Charakteristikum erklärt. Die daraus erfolgte Stere- otypisierung und als ›afrikanisch‹ determinierte Vorstellung bleibt jedoch nicht nur diesem Heiligen verhaftet, sondern überträgt sich auf die Vorstellung der Eigenschaft einer ganzen Menschengruppe (vgl. GREVE 2013: 149). Der Ver- gleich zum Heiligen Mauritius erscheint in diesem Zusammenhang sinnvoll, weil auch diese Figur ihre zugewiesene Bedeutung durch die Verbindung von Bild, Inkarnat und Fremden im Kontext einer christlichen Weltanschauung be- zieht. Die regional begrenzte Figur des Heiligen Mauritius ist wie die Figur der Heiligen Drei Könige eine Erfindung der bildenden Kunst Nordeuropas (vgl. FLÜHLER-KREIS 1999: 148 u. 160). Der Fokus liegt hier auf der dezidierten Funkti- onalisierung dunklen Inkarnats in der bildenden Kunst der Vormoderne. Im Ge- gensatz zur Darstellung ›weißer Haut‹ ist die Vorstellung dunkler Körperfarbe und ihre malerische Umsetzung im dunklen Inkarnat mit spezifischen Assozia- tions- und Konnotationsfeldern aufgeladen und wird entsprechend für be- stimmte Zwecke funktionalisiert. Mit anderen Worten: Sie wird intentional und bewusst eingesetzt und dient damit nicht einer ›bloßen‹ naturalistischen Dar- stellung eines Menschen dunkler Körperfarbe. So verweist Greve auf die be- merkenswerte Beobachtung, dass der Heilige Mauritius offenbar nur dann mit dunklem Inkarnat dargestellt werde, wenn er nicht als historische Person prä- sentiert wird (vgl. GREVE 2013: 150; vgl. REUSCH 1974: Sp. 613). Auf diese Weise zeigt ihn beispielsweise ein Folio in einem Lektionar des 12. Jahrhunderts aus Siegburg, welches in der British Library aufbewahrt wird (Abb. 9; vgl. GREVE 2013: 150). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 54 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild Abb. 8: Abb. 9: Heilige Mauritius, ca 1240, Magdebur- Heilige Mauritius, Lektionar aus Siegburg, ger Dom 1140-1150, Ms. Harley 2889, fol. 66v, Bri- Quelle: SCHUBERT 1975: Abb. 2 tish Library, LondonQuelle: LEGNER 1999: Abb. 470 Die Darstellung seiner Figur mit dunklem Inkarnat hingegen fand insbe- sondere in politisch und militärisch motivierten Vorhaben seine Funktion. Die Expansionspolitik Karl IV. in den Ostseeraum und Handelsverbände wie die Schwarzhäupterkompanie trugen wesentlich dazu bei (vgl. GREVE 2013: 150). Daran anknüpfend führt Greve weiter aus, dass der Heilige in exotisierter Dar- stellungsweise besonders als Leitfigur geeignet schien, weil er für ihre koloni- alen Bestrebungen sowie missionarischen Tätigkeiten die perfekten Eigen- schaften verkörpere: militärische Tapferkeit und religiöse Geradlinigkeit (vgl. GREVE 2013: 150f.). Der Vergleich zur Figur der Heiligen Drei Könige liegt des- halb nahe, weil beiden Darstellungen ihre bedeutungstragende Funktion im re- gionalpolitischem Kontext gemein ist. Die Koppelung von politischem Inhalt und christlich-religiösem Sinngehalt ist der Konzeption beider Figuren inhä- rent. Durchaus sind die Figuren des Heiligen Mauritius und Königs hier positiv konnotiert, jedoch nur, weil sie im Dienst des eigenen christlichen Zwecks ste- hen. Wenn Flühler-Kreis schreibt, dass die Figur des Heiligen Mauritius eine »Propagandafigur« des christlichen Glaubens und der katholischen Kirche dar- stelle, die der jeweiligen politischen Notwendigkeit angepasst wurde, dann gilt dieser missionarische Gedanke nicht weniger für die Figur des Königs (FLÜHLER- KREIS 1999: 152). Auch in ihm ist die Überzeugung verankert, dass die Kirche auch diejenigen erreiche, die am weitesten entfernt und am »fremdesten« seien (vgl. HULL 1981: 111). Dunkles Inkarnat stellt gleichzeitig eine Markierungspraxis in herabwür- digenden Bildformen dar. Ein Pariser Codex des 13. Jahrhunderts zeigt Minia- turen mit Henkerfiguren, die die Heiligen peinigen, und mit dunklem Inkarnat (sowie mit weiteren stereotypen Merkmalen) dargestellt werden (Abb. 10). Dies spiegele zugleich eine Alltagsrealität wieder, wie Ruth Mellinkoff erklärt (vgl. MELLINKOFF 1993: 127). Aufgrund ihrer sozialen Stellung waren Schwarze nicht IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 55 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild zuletzt dazu gezwungen, diese Berufe ausüben zu müssen (vgl. MELLINKOFF 1993: 127; mit Verweis auf EDGERTON 1972: 90). Abb. 10: Das Leben von Jesus Christus und den Heiligen, 1268-1298, Ms. Nouv. Acq. Fr. 16251, fol. 97v, Bibliothèque Nationale, Paris Quelle: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b72000827 [letzter Zugriff: 13.03.2016] Die Bedeutung von Haut-Farben im Mittelalter Das dunkle Inkarnat kann in der Malerei auf unterschiedliche und miteinander verflochtene Konnotationen und Assoziationsfelder verweisen. Diese werden in der konzeptuellen Umsetzung der Idee eines ›schwarzen Königs‹ mitgedacht und fließen in die Rezeption dieser Figur mit ein. Um diese Verweise für die Analyse ›sichtbar‹ zu machen, ist es sinnvoll, zunächst einen Blick auf das Ver- hältnis von Farbe und Haut in der Vormoderne zuwerfen. Valentin Groebner erklärt in seinem Essay Haben Hautfarben eine Ge- schichte? (2003), dass Hautfarben bis ans Ende des Mittelalters nicht für klar voneinander abgrenzbare essentielle Kategorien standen. Vielmehr waren sie relational zu begreifen (vgl. GROEBNER 2003: 11). Menschliche Natur wurde in ihrer Diversität zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert mit dem Begriff complexio erklärt (vgl. GROEBNER 2003: 11). Der Begriff geht auf die spätantike Säftelehre des Galenos von Pergamon zurück (vgl. GROEBNER 2003: 3). Gemäß dieser Lehre ist der menschliche Körper eine Zusammensetzung verschiedener Flüssigkeiten. So wurde der Begriff dazu gebraucht das Mischungsverhältnis der Körpersäfte und/oder ein Temperament zu beschreiben (vgl. GROEBNER 2003: 3). Die Idee der Komplexionenlehre erfuhr jedoch über die Jahrhunderte Veränderungen. Im ausgehenden 13. Jahrhundert wurden auch Planeten in dieses System miteinbezogen (vgl. GROEBNER 2003: 4). Maßgeblich war aber die Zusammenführung des complexio-Wissens mit physiognomischen Schriften IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 56 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild (vgl. GROEBNER 2003: 4). Medizinische, astrologische sowie physiognomische Kriterien wurden zu complexiones als Typenlehre im 15. Jahrhundert in volks- sprachlich medizinischen Kompilationen verbreitet (vgl. GROEBNER 2003: 7). Far- ben waren in diesen Lehren zwar wichtig, jedoch wurden sie eher als (indivi- duelle) Körper-Farben und weniger als (kollektive) Haut-Farben verstanden. Sie waren Anzeiger eines Mischungsverhältnisses der Körpersäfte, welche in indi- viduellen Körpereigenschaften resultieren (vgl. GROEBNER 2003: 8). Nach Gale- nischem Prinzip lag der ideale Zustand dabei zwischen den complexiones weiß und schwarz (vgl. GROEBNER 2003: 8). Die Verbindung zwischen dem Erschei- nungsbild des Körpers und einer geographischen Herkunft war in diesem Farb- system noch kein dezidierter Bestandteil. Die Vorstellung von Körperfarbe als Idee ›Hautfarbe‹ für den Verweis einer bestimmten Herkunft etablierte sich erst allmählich, als sich mit dem Er- starken des europäischen Sklavenhandels die Konzepte kollektiver ›Hautfar- ben‹ zu festigen begannen (vgl. GREVE 2013: 190; GROEBNER 2003: 10ff.). Eine Reihe päpstlicher Bullen gestatteten dem Königreich Portugal »die Feinde der Christenheit in Westafrika zu unterwerfen und zu versklaven« (vgl. GROEBNER 2003: 12).18 In der Bulle Inter cetera aus dem Jahr 1456 rechtfertigte Calixtus III. den Sklavenhandel mit der Bekehrung der Sklaven zum Christentum. Am Han- del beteiligt waren neben Portugal auch Frankreich, Flandern, Italien und Spa- nien (vgl. GROEBNER 2003: 12). Die Zunahme des Sklavenhandels führte auch eine Veränderung des Gesellschaftskorpus herbei und ließ eine soziale Gruppe von Menschen zunehmend präsent werden, Schwarze Sklaven. Visualität spielt in der Wahrnehmung von Gruppen (in welcher Form auch immer) eine zentrale Rolle. So wird die Bildung und Zuweisung kollektiver Merkmale generiert, um menschliche Gruppen für die soziale Behandlung kategorisierbar zu machen. Die Idee von ›Hautfarben‹ fußt auf dieser Art kollektiver Markierungspraxis, die dort, wo es notwendig erscheint, herangezogen und mit (politischer und/oder religiöser) Bedeutung aufgeladen wird. Groebner erläutert, dass sich der Begriff complexio zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert verschoben hat (vgl. GROEBNER 2003: 13; CONZE/SOM- MER 1984). Es war nun keine veränderliche, flexible und individuelle Eigen- schaft mehr, sondern eine angeborene und demnach ›natürliche‹ Kategorie. Complexio beschrieb damit nicht mehr einen flexiblen individuellen Zustand, sondern eine essentielle Kategorie menschlicher Kollektive (vgl. GROEBNER 2003: 13f.). Die Tendenz dieser Entwicklung lässt sich auch aus Reiseberichten entnehmen, die die Bevölkerung anderer Länder beschreiben. Groebner ver- weist beispielsweise auf den Bericht des aus Bologna stammenden Ludovico da Varthema, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts Ägypten, Syrien, die arabi- sche Halbinsel und Indien bereiste und dessen Text 1515 bereits ins Deutsche übersetzt wurde (vgl. GROEBNER 2003: 12). So schreibt und unterscheidet er die einzelnen Bewohnergruppen im bekannten Farbsystem: Die Bewohner der 18 Weitere Bullen zum Sklavenhandel sind die Illius qui von 1442, Dum diversas und Divino amore communiti von 1452 und Romanus Pontifex von 1455. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 57 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild Stadt Al-Makrana (Westarabien) seien »eher weiß als andersfarbig« und die Bewohner in Malaysia eher dunkelhäutig (vgl. GROEBNER 2003: 12). Der Begriff raza wurde im Spätmittelalter zunehmend auf Menschen übertragen (vgl. GROEBNER 2003: 12). Eine konzeptuelle Nähe zwischen den Be- griffen ›Rasse‹ und dem veränderten Begriff complexio des 16. Jahrhunderts im Sinne einer an den ›natürlichen‹ Körper gebundenen Kollektivkategorie las- sen sich hier erahnen. So legt Groebner den Gedanken nahe, dass sie hier beide eine abstrakte visuelle Kategorie meinen, die menschliche Eigenschaften kollektiv ›natürlich‹ anhand eines körperlichen Erscheinungsbildes begründen (vgl. GROEBNER 2003: 12f.). Gemein sei beiden die Idee, eine angeborene und am Körper der Person sichtbare Kategorie zu markieren, die keinerlei individu- elle Fähigkeiten der Selbstbenennung und Selbstveränderung mehr zulasse (vgl. GROEBNER 2003: 12). Zu überprüfen bleibt hier, welche Bezugnahmen sich in der Darstel- lungspraxis der Malerei des 15. Jahrhunderts herstellen lassen und auf welche Weise diese visuell umgesetzt und impliziert werden. Das kontrastierende Figurenkonzept in Hans Memlings Madrider Dreikönigengemälde Die hier vertretenen Thesen sind zum einen, dass (in Anlehnung an Groebner) das 15. Jahrhundert eine Phase in der Entwicklung von Körperfarbe von einem individuellen Merkmal zu einer kollektiven Kategorie ethnisierter ›Hautfarben‹ kennzeichnet. Und zum anderen wird angenommen, dass dieser Ethnisie- rungsprozess zugleich Teil einer kulturellen Fremdheitskonstruktion wurde, die Eingang in die Konzepte der Dreikönige-Darstellungen fand. Es scheint bemerkenswert, dass kaum eine Darstellung des Repräsen- tanten ›Afrikas‹ im 15. Jahrhundert ihn in das Hauptgeschehen involviert. Er wird niemals im Akt der Devotion gezeigt. So steht er immer etwas teilnahms- los und abseits von der restlichen Figurengruppe. Die zentralen Fragen sind: Wieso ist dem so und wie wird uns dieser König also dann präsentiert? Die Mitteltafel eines Triptychons des Brügger Malers Hans Memling zeigt eine Anbetungsszene der Heiligen Drei Könige (Abb. 1). Das Werk wird um das Jahr 1470 datiert und befindet sich heute im Museo del Prado in Mad- rid. Das Gemälde besitzt in seiner Konzeption spezifische Implikationen kultu- reller Alteritäts- und Fremdheitskonzepte. Memling präsentiert den ›schwarzen König‹ als Stellvertreter ›Afrikas‹ und entwirft ihn mittels visuell erfahrbarer Dif- ferenzen als Kontrastfigur, wodurch ein spezifisches Verhältnis von Fremden und Eigenem formuliert wird. Wie in den Beispielen von Multscher oder Bosch zu sehen ist, wird auch hier der König in der Gesamtanlage außerhalb der zentralen Figurengruppe positioniert. Sprechen wir von Ab- oder Ausgrenzung muss also geklärt wer- den, wer hier eigentlich die Gruppe darstellt und wer der Ausgeschlossene ist. Die Beobachtung, der ›schwarze König‹ stehe außerhalb einer Gruppe, IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 58 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild bedeutet, dass es zunächst eine Gruppe gibt, die gemeinsame Kriterien besitzt, die im Bild zu sehen sein sollten. Der zentrale Bezugspunkt des Bildes ist die Madonna mit Kind. Je näher das übrige Figurenpersonal um die beiden Haupt- figuren angeordnet ist, desto eher sehen und empfinden wir sie als eine zu- sammengehörige Gruppe. Die Regeln der Gruppenbildung besagen, dass Dinge in einem Bild u. a. durch Ähnlichkeiten zusammengehalten werden (vgl. ARNHEIM 1978: 86). Der Brügger Maler erreicht dies im Gemälde über die durch- dachte Verwendung roter Farbflächen in den Kleidungsstücken der Figuren. Diese rahmen die Madonna mit Kind förmlich ein. Wer diese Farbgebung nicht teilt, ist der Repräsentant ›Afrikas‹, dessen aufwendig im zeitgenössischen Trend entworfener Guibbone den Rotflächen kontrastierend gegenübersteht.19 Die Erzeugung von Kontrast ist eine bewusst gewählte Bildstrategie Memlings, die zur Differenzbildung beiträgt und Methoden zur Ab- und Ausgrenzung in Betracht ziehen lässt. Vorbild für Memlings Komposition ist das Gemälde des Rogier van der Weyden (Abb. 2). So wird auch angenommen, dass Memling in der Werkstatt van der Weydens gearbeitet habe.20 Ein Vergleich beider Gemälde lässt deutli- che Parallelen in der Komposition sichtbar werden. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass insbesondere eine Neupositionierung der Joseffigur eine ästhe- tische Barriere zwischen der jungen Königsfigur und der Madonna mit Kind schafft. Die Staffelung der Bildelemente (kniender König, Tisch mit dessen Gabe und Joseffigur) wirkt perspektivisch so dicht, dass nicht viel Raum zwi- schen ihnen zu sein scheint. Sie bilden eine ästhetische Barriere, die den jun- gen König von den zentralen Hauptfiguren, der Madonna mit Kind, abschirmt und seine äußere Position betont. Gleichzeitig schafft Memling zwischen dem in weißem Gewand geklei- deten Gefolgsmann in der linken Bildhälfte und dem jungen König eine auffal- lend hohe Ähnlichkeit in Körper- und Beinhaltung. Beide Figuren begrenzen die Hauptszene zu den Seiten und befinden sich auf der gleichen Höhenebene im Bild. Sie sind einander zugewendet, besitzen beide ein vorangestelltes Bein 19 Das gold-schwarze Granatapfelmuster des Guibbone könnte aus den Darstellungen der jungen Königsfigur von Stefan Lochner inspiriert worden sein. Ein Kölner Gebetbuch (Hs. 70, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, 1451), welches der Werkstatt Stefan Lochners zugeschrieben wird (sog. Lochner-Gebetbuch), zeigt auf fol. 52v eine kleine Anbetungsszene, die in die Initiale D eingefügt worden ist. Die Darstellung präsentiert, ganz im Gegensatz zu Lochners ›Dombild‹ von 1440, einen jungen König mit deutlich dunklem Inkarnat. Die Oberbekleidung der Figur weist ein ähnliches gold-schwarzes Muster auf. Ferner erinnert der Guibbone stark an das schwarze Stun- denbuch Karls des Kühnen, welches vermutlich in Brügge hergestellt worden war. Das Herzogtum Burgund unter der Regierung Karl des Kühnen (1467-1477) wird mit einer Vielzahl schwarzer Stun- denbücher in Verbindung gebracht (vgl. HATHAN 1989: 108f.), die hauptsächlich goldenen und sil- bernen Verzierungen des Gebetbuches heben sich deutlich vom schwarzen Grund der Pergament- blätter ab und erinnern an das Granatapfelmuster des Guibbone der Königsfigur. So ist anzuneh- men, dass der König hier in einem äußerst prachtvollen zeitgenössischen Trend des burgundi- schen Hofes präsentiert wird, der Allusionen von Luxus, Reichtum und Überfluss zulässt. 20 Die Ähnlichkeiten zwischen diesen Werken ließen Hulin de Loo bereits 1928 annehmen, dass Memling in van der Weydens Werkstatt während des Entstehungsprozesses des Columba-Altar- bildes gearbeitet habe. Auch Friedländer betont, dass Memling bereits vor seiner Niederlassung in Brügge Schüler von van der Weyden gewesen war. Panofsky teilte diese Annahme und sprach sich dafür aus, dass Memling spätestens 1459/60 in die Werkstatt van der Weydens eingetreten war (vgl. DE LOO 1928; FRIEDLÄNDER 1934: 16ff.; PANOFSKY 2001: 351). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 59 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild und einen angewinkelten Arm. Der Gefolgsmann und der ›schwarze König‹ ste- hen sich in ihrer spiegelbildlichen Anordnung näher als der König zu den an- deren Königen. Insofern steht der König in der visuellen Wahrnehmung einer Figur näher, die ihm in der sozialen Rangfolge untergeordnet ist. Die Körper- haltung der beiden stellt den Faktor dar, der sie visuell als stärker zueinander gehörend zu sehen hilft. Auch hier geht es Memling offenbar um eine Betonung des Königs mit dunklem Inkarnat, den er durch den Kontrast über das weiße Gewand der Ge- folgefigur zu betonen sucht. Der Repräsentant ›Europas‹ hingegen wird in sei- ner räumlichen Nähe zur Madonna mit Kind betont. Er befindet sich unmittel- bar zu ihrer Rechten. Auf diese Weise erfährt er eine Hervorhebung. In Thron- darstellungen der bildenden Kunst gilt die rechte Seite als die gemeinhin be- vorzugte (vgl. LURKER 1980). Besonders deutlich ist dies in der Darstellungstra- dition des Jüngsten Gerichtes sichtbar, wie ein Beispiel am Bamberger Dom zeigt (Abb. 11): Die Gerechten stehen zur Rechten Jesu Christi, während die Verdammten zu seiner Linken angeordnet werden. Abb. 11: Jüngstes Gericht, Fürstenportal, 1230, Bamberger Dom Quelle: BOECK 1960: 105 Memling entwickelt den Repräsentanten ›Afrikas‹ als Kontrast/Diffe- renzfigur, dessen anderer oder gegensätzlicher Charakter vor allem an ihr selbst sichtbar wird. Kontrast und Differenz werden dabei insbesondere über den Körper der Figur hervorgerufen. Die so an die Kategorie Körper gebundene Alterität und die damit entworfenen Differenzmerkmale werden auf diese Weise naturalisiert. Im gesamten Figurenensemble ist der Repräsentant ›Afrikas‹ der Ein- zige, der in Bewegung gezeigt wird. Die Markierung des fremden Anderen ›am Bild des Körpers‹ beinhaltet weitaus mehr als das bloße Differenzieren von ›Hautfarben‹. Ebenso werden Körperhaltung und Körperbewegung als Merk- male zur visuellen und geistigen Kategorisierung von Differenz verstanden. Memling erzeugt dies in seinem Gemälde durch die suggerierte körperliche Bewegungslosigkeit des restlichen Bildpersonals. Ihre Körperhaltungen wer- den in solchen dargestellt, die keinen bewegten Körper implizieren. Sie IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 60 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild erscheinen entweder still-stehend oder -kniend. Das Unterscheidungsmerkmal für das Betrachter*innenauge wird der bewegte König. Die Idee einer zentralisierten Epiphanie übernahm Memling von Stefan Lochners Kölner Dreikönigengemälde (Abb. 3). Memlings Anlehnung an Loch- ner in der Zentralisierung der Epiphanie und die Verbindung von Raum schaf- fender Kompositionsleistung vermittelt eine Unbewegtheit, die eine das An- dachtsmoment evozierende Ruhe und Zeitlosigkeit ausdrückt (vgl. HULL 1981: 112f.). Diese erzeugte Atmosphäre zeichnet die Szene nicht nur als Ereignis des Göttlichen aus, sondern verweist auf den von Vida Hull angeführten Gedanken der Manifestation einer Ewigkeitsvorstellung in der Anbetung der Kirche Christi (vgl. HULL 1981: 113f.). Dieser Verweis ist auch in Memlings Gemälde angelegt. Die recht statisch wirkenden Könige teilen visuell die unbewegte Dar- stellungsform von Gottesmutter und Jesuskind und werden so in ihrer Grup- penwahrnehmung näher zusammengerückt. Der junge König hingegen teilt diese Gemeinsamkeit nicht, denn er ist die einzige sich bewegende Figur. Dadurch wird er zur dynamischen Kontrastfolie funktionalisiert, der die Unbe- wegtheit des Zentrums durch seine Bewegtheit betont. Das Hereintreten des Königs ist folglich Teil seiner Funktionalisierung im kontrastierenden Figuren- konzept des Bildes. Sein Hereintreten signalisiert auch, dass der König derje- nige ist, der den Akt der Anbetung noch nicht vollzogen hat. Er befindet sich noch auf dem Weg dorthin. Wird die Figur auf diese Weise gelesen, trägt es zu ihrer Definition als Pilgerfigur bei. Die Heiligen Drei Könige gelten aufgrund ihrer Reise zur Anbetung als Patrone der Reisenden und Pilger (vgl. WAETZOLDT 1955). Die Verkörperung des Königs als Pilgerfigur rückt ihn in die Nähe mittelalterlicher Fremdheitskon- struktionen. Hans-Henning Kortüms Beitrag zu den unterschiedlichen Fremd- heitsauffassungen des Mittelalters liefert wertvolle Hinweise für die Wahrneh- mung und Verarbeitung kultureller Konzepte im sozialen Raum. So gibt es im Mittelalter unterschiedliche Typen des Fremden, die ausschlaggebend für die soziale Behandlung sind (vgl. KORTÜM 2000). Dem Pilger stand die Gesellschaft grundsätzlich positiv gegenüber. Dabei handele es sich nämlich um einige, we- nige Fremde, die keine Bedrohung darstellen. Die Gesellschaft muss sich dadurch nicht mit hypothetischen Ängsten einer ›Überfremdung‹ konfrontiert sehen (vgl. KORTÜM 2000: 121). Einen wesentlichen Unterschied sah man jedoch zwischen dem sogenannten ›normalen Fremden‹, advena, und dem Pilger, peregrinus (vgl. KORTÜM 2000: 118ff.). Der Pilger sei höher zu bewerten, weil er nur auf der Durchreise war. Er ist der Fremde, der zwar kommt, aber auch wie- der geht (vgl. KORTÜM 2000: 121f.). Pilger waren mit einem positiven Nutzen verbunden. Sie stellten für viele Städte eine wichtige Einnahmequelle dar. Der Pilger ist daher positiv konnotiert, weil er in Bewegung erscheint. Der normale Fremde hingegen, der unbewegliche, bleibende, wird zur unbequemen Vari- ante des Fremden, weil sie eine Auseinandersetzung mit ihm notwendig macht. Der junge König mit dunklem Inkarnat wird von Memling als visuelle Verkörperung des Pilgers figuriert. Es ist der zeitlich begrenzte Rahmen, der eine Duldung dieses Fremdheitstypus innerhalb der Gemeinschaft zulässt IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 61 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild (vgl. KORTÜM 2000: 122). Das Dulden und Ertragen des Anderen/Fremden ist Teil des mittelalterlichen Toleranzbegriffes (vgl FLÜHLER-KREIS 1999: 149; vgl. auch WITTKOWER 1984: 127). Denn das Andere ist stets Teil von Gottes unerklärlichem Heilsplan. Das christliche Mittelalter fasste die Welt als ordo auf, als die von Gott eingerichtete Ordnung (vgl. MÜNKLER/RÖCKE 1998: 716). Ordo war mit Schöpfung identisch, weil »Gott die Welt ex nihilo geschaffen und sie zugleich als Ordnung eingerichtet habe« (MÜNKLER/RÖCKE 1998: 716). So argumentiert auch Augustinus von Hippo im 13. Kapitel der Confessiones, dass die ›Ande- ren‹ zum Gesamtplan der göttlichen Ordnung dazu gehören (AUGUSTINUS 1965: Sp. 659-863). Sie können Anteil an Gottes Heilsplan haben, wenn sie ihr Hei- dentum ablegen und sich durch die Mittel der Bekehrung sowie der Taufe be- kennen (vgl FLÜHLER-KREIS 1999: 148). Auch Isidorus bekräftigt in seinem enzyk- lopädischem Werk, den Etymologiae, dass sie als Teil der Schöpfung zu be- trachten sind und nicht contra naturam seien: »Portenta esse ait Varro, quae contra naturam nata videntur; sed non sunt contra naturam, quia divina volun- tate fiunt, […]« (SEVILLA 1878: Sp. 419).21 Auf diese Weise wird die als Wissen bestimmte Differenz nicht nur festgelegt, sondern ebenso verabsolutiert und zum Allgemeinwissen erhoben (vgl. EGGERS 2009: 57). Vor dem Hintergrund christlicher Heilslehre, dass alle Natur und alle Existenz von Gott geschaffen sei, versteht sich hier die Anbetungsszene mit der Aufnahme des Fremden in den christlichen Kanon als eine Form des Naturalisierens. Insbesondere die konstruierten Differenzmerkmale werden dadurch naturalisiert. Zwar werden sie als Teil von Gottes Plan verstanden, jedoch als ›andersartiger‹ Teil markiert. Sie gelten als unüberwindbarer Teil des rassistisch markierten Anderen (vgl. EGGERS 2009: 57). Der autoritäre Legitimationsrahmen des Christentums, der sich der Ma- lerei als Wissensvermittlerin der heilsgeschichtlichen Themen bedient, fertigt so abgesicherte Wissenskomplexe, auf die er immer wieder zurückgreifen kann (vgl. EGGERS 2009: 57). So dient auch der bewegte König selbst als Vermittlerfi- gur des heilsgeschichtlichen Themas: Er versinnbildlicht die Reise der Könige. Der breit angelegte architektonische Raum erlaubt es dem Künstler hier nur schwer auf die lange Reise, z.B. durch einen langen Gefolgezug, zu verweisen. Stattdessen wird der hereintretende König stellvertretend selbst als Ankömm- ling charakterisiert, um ihre Herkunft aus allen Teilen der Welt zu thematisie- ren. Auf diese Weise verweist der Künstler auf das sich als weltumspannend definierende Christentum. Den Kontrast zwischen Bewegtem und Unbewegtem zur Charakterisie- rung menschlicher Kollektive verwendet Memling auch in einer Darstellung des Jüngsten Gerichts (Abb. 12), dass er nur wenige Jahre vor dem Dreikönigs- gemälde begann. Gezielt teilt der Künstler der Bildtradition entsprechend die Menschengruppen in Selige und Verdammte ein. Beide Gruppen charakteri- siert er mittels ihrer Bewegung als Kollektive. Auf diese Weise grenzt er Gut 21 »Missgeburten sind das, sagt Varro, was gegen die Natur geboren zu sein scheint. Sie sind aber nicht gegen die Natur, weil sie nach göttlichem Willen entstehen, [...]« Dt. Übersetzung nach SEVILLA 2008: 441. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 62 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild und Böse voneinander ab. Die Seligen erscheinen als eine überschaubare Gruppe, die sich wohl geordnet auf dem Weg ins Paradies befinden. Sie wer- den vom Künstler nicht als bewegte Masse dargestellt – ganz im Gegensatz zu den Verdammten aufseiten der Hölle. Diese werden durch eine Reihe Körper- bewegungen, Gesten und verzerrter Gesichter präsentiert, d.h. mit Affektdar- stellungen verschiedenster Art. Auf diese Weise bekommt diese Gruppe eine effektvolle, dynamische Wirkung. Abb. 12: Hans Memling: Jüngstes Gericht, 1467-71, Muzeum Narodowe, Danzig Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1455943 [letzter Zugriff: 08.05.2018] In beiden Gruppen ist jeweils eine Figur mit dunklem Inkarnat zu sehen (Abb. 13-14). Bei den Seligen bildet der Kopf einer Figur mit dunklem Inkarnat den Abschluss der Folge auf dem Weg ins Paradies. Aufseiten der Hölle plat- ziert Memling eine Figur mit dunklem Inkarnat direkt in das Zentrum der Ver- dammten. Sie blickt über die Schulter zurück und fixiert einen der apokalypti- schen Engel mit Posaune. Überhaupt ist es die einzige Figur in dieser Gruppe, die mit einem fokussierten und zielgerichteten Blick präsentiert wird. Aufgrund der Tatsache, dass sich Figuren dunklen Inkarnats jeweils in beiden Gruppen befindet, folgert Dirk De Vos, dass Memling keinerlei »Rassenunterschiede« (DE VOS 1994: 82) mache. Auch Robert Bartlett kommentiert dazu: »The implication must be that God is colour-blind: even a kind of humanity as alien to Bruges, where Memling worked, as the black African, could be saved – or could be damned« (BARTLETT 2009: 137). Sollten diese Gedanken in dem Gemälde Mem- lings intendiert sein oder nicht, so macht es zumindest zwei Dinge deutlich: Zum einen, dass der Künstler hier für seine Bildkonzeption Menschen unter- schiedlicher Körperfarbe wahrnimmt und zum anderen, dass er die Figuren mit IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 63 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild dunklem Inkarnat hier je als Stellvertreter für eine Menschengruppe entwirft, die sich visuell durch ihre Körperfarbe unterscheiden lassen. Dabei schwingt die Idee kollektiver ›Hautfarben‹ bereits mit. Die ›wohlwollende‹ Einschätzun- gen der beiden Autoren, so einleuchtend sie für den einen oder anderen zu- nächst scheinen mögen, lassen jedoch einen wichtigen Aspekt unberücksich- tigt, nämlich auf welche Weise der Künstler die beiden Figuren darstellt und welche Relation zum Ganzen sie innerhalb des christlichen Kontexts besitzen.22 In den Texten des 14. Jahrhunderts ist die Auffassung zu lesen, so wie es bei- spielsweise der französische Benediktinermönch Petrus Berchorius formuliert, dass das Weiß das Natürliche und Ursprüngliche im Aussehen der Menschen sei und in ihrem Bedeutungsgehalt durch die erleuchtete Erkenntnis im Glau- ben Gott näherstünde.23 Die Figur, dessen Kopf am Ende der Seligengruppe erscheint, zeigt diese Vorstellung gerade nicht! Sie steht Gott zwar nahe, und ihr wird deshalb auch ein Platz unter den Seligen zugebilligt, allerdings wird sie gleichermaßen dadurch, dass sie den Schluss der Seligenreihe bildet, als Nachzügler charakterisiert. Die Figur bekommt einen Platz am Ende einer hie- rarchischen Ordnung zugewiesen. Auch mit Hinweis auf die christliche ordo-Konzeption scheint es hier sinnvoll zu sein, über Kategorien wie Nähe und Ferne nachzudenken (die sich ja gleichfalls in der Idee des Fremden wiederfin- den lassen). Die Dinge folgen einer hierarchischen Einfügung in die göttliche Ordnung. So schreiben Münkler/Röcke entsprechend: »Da Gott den Dingen nicht gab, absolut zu sein wie er selbst, ließ er sie partiell an seinem Sein teil- haben. Das Maß der Teilhabe war aber nicht bei allen Geschöpfen gleich, son- dern bestimmte sich durch ein Näher oder Ferner zu Gott« (MÜNKLER/RÖCKE 1998: 717). Abb. 13: Hans Memling: Jüngstes Gericht, 1467-71, Muzeum Narodowe, Danzig (Detail) Quelle: ABLAKOK, CC BY SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=41606483 [letzter Zugriff: 11.06.2018] 22 Besonders sei hier auf den Artikel zu ›niger‹ im Lexikon zur Farbendeutungen im Mittelalter von Christel Meier-Staubach und Rudolf Suntrup verwiesen, die eine Vielzahl lateinischer Texte von christlichen Gelehrten dazu zusammengetragen haben und entscheidende Hinweise für diesen Zu- sammenhang liefern (vgl. MEIER/SUNTRUP 2011). 23 PETRUS BERCHORIUS PICTAVIENSIS: Reductorium morale. Opera omnia. Bd. 2. Köln 1731, Buch XIII 1,12, S. 541a; vgl. MEIER/SUNTRUP 2011: 530f. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 64 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild Abb. 14: Hans Memling: Jüngstes Gericht, 1467-71, Muzeum Narodowe, Danzig (Detail) Quelle: DE VOS 1994: 86 Vor dem Hintergrund christlicher Gelehrtentexte, werden die Assoziati- onen, die mit der Vorstellung von Schwarzen verknüpft waren, deutlich. So legt Berchorius das Schwarz der aethiopii in moralischer Deutung aus: In der Wand- lung des Weiß der innocentia zum Schwarz, pflanze sich die Sünde Adams fort: »nigredo malae conversationis et vitiorum«24. Auch bei Hieronymus lesen wir, dass das dunkle Erscheinungsbild des ›Äthiopiers‹ Aufschluss über sein See- lenzustand gibt: »Chus lingua hebraea interpretatur Aethiops, hoc est niger et tenebrosus, qui talem habet animam quale et corpus« (HIERONYMUS 1858: 22 zu ler 13, 23; vgl MEIER/SUNTRUP 2011: 530). So sehen wir aufseiten der Hölle, dass die Figur mit dunklem Inkarnat das Zentrum der Verdammtengruppe bildet. Im Gegensatz zur Seligengruppe lassen sich keinerlei Hierarchisierungstendenzen in der Figurenorganisation erkennen. Die Verdammten bilden hier eine verwor- rene Masse, weil es an und für sich keinen Grund gibt, sie hierarchisch 24 PETRUS BERCHORIUS PICTAVIENSIS: Reductorium morale. Opera omnia. Bd. 2. Köln 1731, Buch XIII 1,12, S. 541a; vgl. MEIER/SUNTRUP 2011: 530f. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 65 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild anzuordnen. Unter ihnen existieren keine ›Besseren‹ oder ›Schlechteren‹ – sie sind alle Sünder gleichermaßen. Bestimmte Charakteristika zur Beschreibung rassistisch markierter An- derer/Fremder lassen sich wiederholt in verschiedenen Zeitphasen ausma- chen. So zeigte Katja Wolf beispielsweise, dass die Darstellungen Schwarzer Bediensteter in barocken Bildnissen weißer Aristokrat*Innen zu deren Charak- terisierung nicht nur in Bezug auf die malerische Darstellung von Haut einge- setzt werden, sondern in gleichem Maße für deren geistige Charakterisierung. Der »beflissen eilende Page« stelle in dynamischer Körpersprache den Kon- trast zur »würdevollen ruhigen Dame« dar und betone damit ihr erhabenes Er- scheinungsbild (WOLF 2004: 139). Es fällt auf, dass die Charakterisierung rassis- tisch markierter Anderer/Fremder ähnlich wie in Memlings Gemälde mittels der Kontrastierung von Bewegtem und Unbewegtem erreicht wird. Ähnlich wie in der Konzeption von Memlings Dreikönigengemälde wird die Figur mit dunklem Inkarnat dann als Außenseiter oder Nachzügler entwor- fen, sobald sie im direkten Vergleich mit anderen guten, weißen Christen steht. Dies impliziert eine Tendenz zur Hierarchiebildung, deren Ausgangspunkt of- fenbar im Zusammenhang mit dem Inkarnat steht, welches als Eigenschaft ei- ner ganzen, als ›afrikanisch‹ imaginierten Bevölkerung interpretiert wird. So schien in den Augen nordalpiner Künstler des 15. Jahrhunderts eine Notwen- digkeit mit der Aufnahme eines ›schwarzen Königs‹ entstanden zu sein, das Beziehungsverhältnis der Könige untereinander zu spezifizieren. Als Stellver- treter der jeweiligen Kontinente, wird die Konzeption ihrer Bildfiguren gemäß einer komplementären Darstellungspraxis zwischen den Erdteilen Europa und Afrika umgesetzt. Eine solche visuelle Praxis lässt sich auch mittelalterlichen Weltkarten entnehmen (Abb. 15). Abb. 15: Weltkarte vom Typus einer T-Karte mit aufgesetztem Erlöserchristus. Isidor-Codex, 9. Jh., Ms. 237, Stiftsbibliothek St. Gallen, Umzeichnung von Daniel Lienhard, Zürich Quelle: FLÜHLER-KREIS 1999: 163 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 66 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild Die Miniatur einer bayerischen Handschrift25 um 1440 zeigt im unteren Register ebenfalls einen König mit dunklem Inkarnat (Abb. 16). Auch sie prä- sentiert ein Anbetungsmotiv mit drei fremdländischen Königen, die durch ihre jeweiligen Wappenbanner charakterisiert werden. Die Szene ist deutlich an die Ikonographie der Drei Könige angelehnt, zeigt aber, dass nicht Jesus im Zent- rum der Verehrung steht, sondern der Antichrist. Dieser befindet sich thronend auf der rechten Bildhälfte und empfängt die in Ehrerbietung erscheinenden An- kömmlinge. Die Königsfiguren werden als ›Äthiopier‹, ›Sarazene‹ und ›Juden‹ charakterisiert (vgl. STRICKLAND 2003: 228). Auch hier stehen die Könige jeweils für eine Gruppe von Menschen, allerdings werden sie durch ihre Anhänger- schaft zum Antichristen deutlich pejorativ konnotiert. Die Darstellung greift auf die Anbetungsikonographie der Drei Könige und insbesondere auf die Darstel- lungsweise des ›schwarzen Königs‹ zurück. Sie zeigt die Figur des ›Äthiopiers‹ in dem Set dreier huldigender Könige außenstehend. Insgesamt wird die Figur hier in einem Set von ›Negativfiguren‹ präsentiert. Die ikonographische Nähe zum Repräsentanten ›Afrikas‹ unter den Drei Königen wird besonders durch das Gefolge evident. Dem König ist eine Gefolgefigur mit dunklem Inkarnat und Wappenbanner zugewiesen. Das Banner zeigt einen Kopf mit ebenfalls dunklem Inkarnat. Offenkundig wird hier auf die Wappenbanner der Heiligen Drei Könige zurückgegriffen, wie der Vergleich mit Wappenbüchern verdeut- licht. Insbesondere die Darstellung auf gelbem Grund verstärkt diesen Ein- druck. Abb. 16: Anbetung der Könige vor dem Antichrist, um 1440, Ms. Germ. fol. 733, fol. 4r, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin – PK. http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkan- sicht?PPN=PPN726683248&PHYSID=PHYS_0015&DMDID=DMDLOG_0001 [letzter Zugriff: 12.04.2018] Mit welchem Assoziationsfeld die Bildfigur eines ›Äthiopiers‹ noch ver- bunden wird, verdeutlicht die bereits erwähnte Weltkarte. Afrika wird hier in Bezug zu Noahs Sohn Ham gesetzt. Die Zeilen der Genesis besagen: »Das sind 25 Ms. Germ. fol. 733, fol. 4r, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 67 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild die drei Söhne Noahs; von denen ist alles Land besetzt« (LUTHER 2017: Gen. 9, 19). Die Könige gelten als die Nachfahren der Söhne Noahs. Infolge der Sintflut haben sie sich nach alttestamentlicher Vorstellung auf die drei Weltteile ver- teilt. Während Sem Asien und sein Bruder Japhet Europa besetzten, wurde Ham Afrika zugeteilt. Die Geschichte Hams steht teilweise im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Menschen Schwarzer Körperfarbe (vgl. GOLDENBERG 2005). Das Alte Testament berichtet im 1. Buch Mose 9, 20-27 von der Verspot- tung Noahs. Der vom Wein berauschte Noah liegt schlafend und mit aufge- deckter Blöße dar und wird von Ham entdeckt. Statt ihn zu bedecken, ruft Ham seine beiden Brüder herbei und verspottet seinen Vater. Zugedeckt wird Noah von seinen Söhnen Sem und Japhet. Als Noah von dem unangemessenen Ver- halten seines dritten Sohnes erfährt, verflucht er Hams Sohn Kanaan für die Sünde, die sein Vater beging, und segnet gleichzeitig Sem und Japhet. Die Ver- spottung Noahs wird in der Kirchenliteratur ausgedeutet und dient der Steige- rung des Sündengeschehnisses. Ham wird in unterschiedlichen Textinterpre- tationen zum Urbild des Ketzers schlechthin erklärt – ein Gedanke, der über Jahrhunderte überlebt (vgl. VON ERFFA 1989: 497). So ist 1570 bei dem flämi- schen Theologen Johannes Molanus zu lesen: »jene fanatische Blasphemie ge- gen den Rechtgläubigen bedeutet, dass sie Brüder sind von Ham, der seinen Brüdern mitteilte, ihr Vater läge mit aufgedeckter Scham« (zitiert nach VON ER- FFA 1989: 497). Der Fluch, den Noah gegen seinen Enkel Kanaan aussprach, besagte, dass Hams Nachkommen den Nachkommen seiner Brüder untertan sein sollen. Kirchenschriftsteller konstruierten dazu, dass die Sonne seine Haut zum sichtbaren Zeichen der Sünde verbrannt haben soll. Interessant ist hier die Verbindung, die zwischen Ham und dem ›schwarzen König‹ hergestellt wird. So wird Ham als sein Vorfahre und zum Stammhalter Afrikas erklärt, nachdem sich eine europäische Vorstellung von ›dunkler Haut‹ als kollektives Merkmal etabliert hatte.26 Im 15. Jahrhundert verfestigt sich also auch diese Idee, denn in den Berichten des Sir John Mandeville (zweite Hälfte 14. Jahrhundert) wird Ham noch mit dem Kontinent Asien in Verbindung gebracht (vgl. BRAUDE 1997: 116). Fazit Die schon früh einsetzende religiös begründete Ungleichbehandlung und De- gradierung Schwarzer, wie die Texte mancher christlicher Gelehrter formulie- ren, stellten die Weichen für eine fortan in päpstlichen Bullen als Legitimation herangezogene Rechtfertigung zum europäischen Sklavenhandel. Das körper- liche Erscheinungsbild, als deren äußerste Schicht die Haut zum Erkennungs- und Markierungsmerkmal stilisiert werden konnte, schien dabei als Differenz- kategorie zunehmend geeignet. Wurde Haut somit als phänotypische Differenz 26 Greve formuliert es als eine »biblisch begründete Ungleichheit, lange vor der europäischen Ex- pansion im 16. Jahrhundert« (GREVE 2013: 125). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 68 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild zwischen Menschen aufgefasst, konnte sie, dort wo es notwendig erschien, durch Sklavenhandel und koloniale Expansion mit spezifischen Bedeutungen aufgeladen werden (vgl. GROEBNER 2003: 17). Die angenommene Diversität der aethiopii wurde fortan nicht mehr allein religiös begründet, sondern zuneh- mend durch angeborene (körperliche) ›Natur‹ erklärt, wodurch ›Hautfarbe‹ als ihr vermeintlich sichtbares Zeichen entwickelt werden konnte. Wuchs die Be- teiligung am europäischen Sklavenhandel, umso stärker wurden die veränder- ten Konzepte kollektiver ›Hautfarben‹ in schriftlichen Quellen deutlich, wie Gro- ebner erklärt (vgl. GROEBNER 2003: 17). Vor diesem Hintergrund verschärfte der europäische Sklavenhandel das Denken, menschliche Kollektive gegeneinan- der abzugrenzen. So zeichneten sich bereits im Verlauf des 15. Jahrhunderts eine Reihe von Veränderungen ab, bei denen es sich lohnt darüber nachzuden- ken, auf welche Weise sie sich gleichfalls in der bildenden Kunst niederschlu- gen. Menschen afrikanischen Ursprungs wurden nicht in erster Linie ver- sklavt, weil sie eine bestimmte Körperfarbe besaßen. Die kapitalistische Aus- beutung ›Anderer‹ und die damit einhergehende soziale Behandlung gilt es auch in ihrem Zusammenhang zu beleuchten. Bereits 1948 setzte sich Oliver C. Cox mit diesem Verhältnis auseinander (COX 2000: 72). In seinen Ausführungen zu »race relations« gibt er zu bedenken, dass es verfehlt wäre »to think of racial antagonism as having its genesis in some ›social instinct‹ of antipathy between peoples« (COX 2000: 72) und verbindet die Anfänge von Rassismus mit dem Aufstieg und der Entwicklung des Kapitalismus.27 Zweifelsohne steckt diese Tendenz am Ende des 15. Jahrhunderts noch in den ›Kinderschuhen‹, markiert nach Cox jedoch den Anfang moderner »race relations«: If we had to put our finger upon the year which marked the beginning of modern race relations we should select 1493-94. This is the time when total disregard for the human rights and physical power of the non-Christian peoples of the world, the colored people, was officially assumed by the first two great colonizing European nations.[…] It was not an abstract, natural, immemorial feeling of mutual antipathy between groups, but rather a practical exploitative relationship with its socio-attitudinal facilitation – at that time only nascent race prejudice. Although this peculiar kind of exploitation was then in its incipi- ence, it had already achieved its significant characteristics (COX 2000: 72). Die frühen christlich-religiösen Auffassungen bereiteten Formen der so- zialen Behandlungsweise Schwarzer gewissermaßen soziokulturell vor, an die problemlos angeknüpft werden konnte. Sie begleiteten den Prozess von Be- ginn an mit. Nach Cox dominierte zunächst noch der »crusading spirit« die Rechtfertigung zum Sklavenhandel (COX 2000: 74). Dies weichte mit dem aus- gehenden 15. und dem Beginn des 16. Jahrhunderts zunehmend den durch Abstammungslehre und angeborene Kategorien gefärbten Erklärungsmus- tern, in die sich das veränderte complexio-Verständnis ungehindert eingliedern und den Aufstieg des Konzepts ›Rasse‹ ebnen konnte. Die Konsequenz dieser 27 Cox’ konkrete These: »Our hypothesis is that racial exploitation and race prejudice developed among Europeans with the rise of capitalism and nationalism, and that because of the world-wide ramifications of capitalism, all racial antagonism can be traced to the policies and attitudes of the leading capitalist people, the white people of Europe and North America« (COX 2000: 72). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 69 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild Verschiebung resultierte darin, dass es in einen Rassifizierungsprozess der Farbe Schwarz umschlug, mit der evaluative Urteile über Schwarze (ganz gleich ob geistige und/oder körperliche Eigenschaften betreffend) gefällt und Machtkonstellationen sowie soziale Hierarchien gefestigt werden konnten. So wurde es möglich, dieses ›Wissen‹ auch bildlich vermittelbar zu machen. In der bildenden Kunst wird diese Entwicklung gewissermaßen in die Malerei des 15. Jahrhunderts übersetzt. In dieser Weise überträgt Memling sie in eine visuell rezipierbare Form. In Anlehnung an literarische und bildliche Traditionen wird diese Form mit spezifischen Bedeutungsfeldern aufgeladen. Der ›afrikanische‹ König wird so vor der Folie rassifizierter Fremdheit figuriert. Das dunkle Inkarnat wird dabei als eine signalisierende Markierungspraxis ent- worfen, die durch vorgefertigte, kulturelle Wissenszusammenhänge geprägt ist und dadurch spezifisches ›Wissen‹ über Anderes/Fremdes formuliert. In der Genese des ›schwarzen Königs‹ fällt die ehemals religiöse Vorverurteilung von aethiopii mit der Idee kollektiver ›Hautfarben‹ zusammen. Wie gezeigt werden konnte, entwirft Memling den Repräsentanten ›Afrikas‹ als eine Kontrastfigur und verbindet seine Konzeption mit Charakteristika fremdheitstheoretischer Überlegungen. Auf diese Modelle rekurrierend, erzeugt der Maler im Modus des Visuellen soziale Differenz. Durch die kunsthistorische Analyse des Gemäldes ist es zum einen möglich zu verstehen, dass Gemälde differenzbildende Konzepte transportie- ren. Zum anderen manifestieren sie diese als visuelle Evidenzen, auf die als vermeintliches ›Wissen‹ immer wieder, bewusst und unbewusst, zurückgegrif- fen werden kann. Die bildenden Künstler des 15. Jahrhunderts sind in dieser Hinsicht als Beteiligte zu verstehen, die durch ihre künstlerischen Leistungen aktiv an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen, weil ihre Werke jeweiliges ›Wissen‹ (re)produzieren. In Anbetracht der Analyse dokumentiert das Gemälde, wie sich die Kon- zepte unveränderlicher, kollektiver ›Hautfarben‹ etablieren (vgl. GREVE 2013: 140). Es verweist uns auf den historischen Prozess der Rassifizierung von Schwarz, d.h. auf jene Zeitspanne, in welcher die Farbe Schwarz als rassifizierte Körperkategorie entwickelt wird. Die Einführung eines ›schwarzen afrikani- schen Königs‹ in das Dreikönigssujet lässt sich mit ihren spezifischen Gestal- tungsweisen durchaus in die Anfänge einer westeuropäischen Tradition ras- sistischer Wissensbildung einfügen. Entsprechend reflektiert, beansprucht die- ser Sachverhalt den Reflexionsgrad zukünftiger Forschungsarbeiten einer kunsthistorischen Fachdisziplin, die sich zum einen selbst als Teil aktueller Wis- sensproduktion versteht und sich zum anderen der Teilhabe künstlerischer Werke an sozialen Prozessen bewusst sein will. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 70 Melis Avkiran: Das rassifizierte Fremde im Bild Quellen AUGUSTINUS, AURELIUS: Confessiones. Lib. VII. Cap. 13. In: PAUL MIGNE, JACQUES (Hrsg.): Patrologiae cursus completus. Series Latina. Bd. 32. Turnhout [Brepols] 1965 HIERONYMUS: Tractatus in Psalmos. Hrsg. von D. Germanus Morin. Corpus Christianorum. Series Latina. Bd. 78. Turnhout [Brepols] 1958 LETTS, MALCOM (Hrsg.): Mandeville’s Travels. Bd. 1. London [The Hakluyt Society] 1953 LUTHER, MARTIN: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel revidiert 2017: mit Apokryphen. 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Künstlerische Bildproduktionen sind eine Form kulturellen Ausdrucks und als solche stehen sie immer wieder für Identität. In lokal und sozial verorteten Be- reichen erlangen sie eine bestimmte Ausdrucksform und folgen einer Ästhetik, die sich in ein kollektives Gedächtnis einschreibt. Dabei konkretisieren sie die Vorstellung des Eigenen und des Fremden. Treffen diese beiden innerhalb ei- nes Bildes aufeinander, geraten Rezeption und Interpretation ins Wanken: Die Konstruktion einer Identität in dem und über das Bild wird zweifelhaft. Als Kon- sequenz daraus verändert sich die Rolle des Bildes. Es zeigt in seiner Unein- deutigkeit nicht mehr nur eine Maske als Metapher zur Welt, sondern auch ein Dahinter. Es ist eine Äußerung, die über sich hinaus zeigt. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 75 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß 1. Vom Selbstbild in einer fragmentierten Sozialwelt Geschichten von Identität werden durch Reisen, Netzwerke, Finanzsysteme, Technologien sowie Bilder vermittelt und gleichzeitig deterritorialisiert (vgl. AP- PADURAI 1990: 296-300). Im Globalisierungsbestreben werden die vormals ter- ritorial und vielleicht auch national fixierten Erzählungen und auch Erzählwei- sen plural und transnational. In diesem Prozess der ständigen Neu-Artikulation bleibt zu fragen, worin die Geschichten Ausdruck finden, sofern sie tatsächlich vermittelt und gleichzeitig von ihrem fixen Erzähl-Ort abgelöst werden. Am Beispiel künstlerischer Bildproduktion, die ich als Äußerungsraum für Identität betrachte, zeigt sich die multidimensionale Erzählbarkeit von die- ser, in der sich die Betrachter*innen verlieren können. Und so ergibt sich gleichzeitig die Frage, ob Bilder überhaupt in der Lage sind, Identitäten zu tra- gen, zu konstruieren und zu bestätigen. Ist die künstlerische Arbeit überhaupt ein Ort, an dem nach Selbstbebilderung oder Identifizierung gesucht werden kann – ein Ort, an dem eine Geschichte von Identität gefunden wird? Zunächst scheinen Bilder aller Art Vermittler-Qualitäten zu haben: So- fern sie als überschaubare und scheinbar geschlossene Zeichen- oder Formflä- che betrachtet werden – haben sie die Modalitäten vereinheitlichender und ver- absolutierender Aussagekraft inne, die eine manifeste Identitäts-Artikulation ermöglichen könnte. Sie sind in der Lage, Informationen zu sammeln, sie neu zu verorten und damit andernorts zu vermitteln und auf diese Weise zu zer- streuen. Bilder bringen das Ferne nah und das Eigene fort. In einer »fragmen- tierten Sozialwelt« (EICKELPASCH/RADEMACHER 2004: 14) aber bieten diese Eigen- schaften die willkommene Möglichkeit, eine geschlossene Erzählung von Iden- tität zu sehen und herzustellen. Dann deterritorialisieren und pluralisieren sie eine Erzählung nicht, sondern fixieren sie. Sie geben Identitäten vor oder zei- gen sie auf. Sie erwecken die Erinnerung an eine Tradition, die aufrechterhal- ten werden soll. Besonders in der Kunst – als Hervorbringungsort von Bildern in vielfa- cher Bedeutung und damit kulturelle Ausdrucksform – schreiben sich Erzählun- gen und Tradition als Kultur ein, sobald die jeweilige Avantgarde gesellschaft- lich assimiliert wurde. Hier werden dominante Bildsysteme entwickelt, die sich als Ikonografien durchsetzten und Formen des Sehens beeinflussen. Zu denken ist hierbei an ein System formelhafter Darstellung, welches sich kulturgeogra- fisch zum jeweiligen Stil erhebt, wie es Aby Warburg in seinem umfangreichen Bildkatalog darlegt (vgl. WARBURG 2000). Dieses Beispiel zeigt, woraus sich der große Kanon des christlichen Bildaufbaus speist, der sich als Darstellungsfolie in den eurozentrischen Blick einprägt hat. Für den europäischen Raum bedeu- tet das, dass Europäer*innen diese Darstellungsmittel meistens wiedererken- nen und um die bestimmte Bedeutung der Formen wissen, die wiederum un- auffällig den Aussagegehalt des Gesehenen generieren. Im Moment der Bestätigung der Sehgewohnheit zeigt sich die domi- nante visuelle Bezugskraft, oder anders gesagt: kulturelle Identität. Das Eigene wird erkannt, von dem das Andere abgegrenzt werden kann. So genannte IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 76 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß kulturelle Codes bestätigen sich im dargebotenen künstlerischen Ausdruck, wie auf einem blendenden weißen Bildschirm, der das Dahinterliegende über- deckt. Doch in ihm liegt auch eine subversive Kraft, die der Gewohnheit gegen- steuern kann: Passt die imaginierte Aussage über das angeblich Eigene nicht zum Wahrgenommenen, wird ein Selbstbild und das der kulturellen Identität brüchig. Der Schein des Bildwerks bekommt Risse und seine Referenzialität löst sich in Mehrdeutigkeit auf. Dieses Phänomen soll im Folgenden in den Blick genommen werden. Im Fokus stehen dabei Arbeiten von Künstler*innen, die eine dominante christ- liche Darstellungsform verwenden und gleichzeitig aufbrechen, sodass die Be- trachter*innen-Perspektive verschoben wird und die signifikante Uneindeutig- keit der Bilder deutlich wird. Die helle Projektion wird vom Dahinter durchbro- chen und die Binarität von schwarz und weiß als zwei signifikante Strukturebe- nen wird offensichtlich. 2. Vom ›Lesen‹ der Bilder Der öffentlich viel diskutierte Obelisk von Olu Oguibe auf dem Königsplatz in Kassel bei der Documenta 2017 ist ein Beispiel, das Bildcodes miteinander mischt: Auf dem altägyptischen Monolith stehen Worte des Matthäusevange- liums.1 Die Arbeit will auf historische Migrationsbewegungen und einen Aus- tausch der Kulturen verweisen, indem sie religiöse Sinnmuster (vgl. RECKWITZ 2006: 638) bildhaft in die Gegenwart hineinkopiert. Zu sehen ist ein Machtsymbol theokratischer Herrscherdynastien Ägyp- tens und darauf ein Bibelzitat in mehrsprachiger Übersetzung. Bemerkenswert ist, dass dieses Zitat aus dem neutestamentarischen Gleichnis Vom Weltge- richt stammt, das ebenfalls von Gottesherrschaft handelt, allerdings von der eines christlichen. Die Mischung beider Formsprachen – sowohl der altägypti- schen Skulptur als auch der christlichen Schriftform – verbindet konträre Auf- fassungen von Staat, Nation und Kultur miteinander. Sie kann zwiespältig ge- lesen werden, da sie ein gegenwärtiges Bild von einer pluralen oder der homo- genen Kultur bestätigt oder in Frage stellt. So erläutert Heiner Georgsdorf, Vor- sitzender des Kuratoriums der Arnold-Bode-Stiftung, dass die Arbeit »subver- siv jeglichen absolutistischen Machtanspruch«2 konterkariert, während der Kassler AfD-Stadtverordnete Thomas Materner von »entstellter Kunst«3 spricht. In den Diskrepanzen der Betrachtungsweisen der künstlerischen Arbeit zeigt sich, dass im Bild, welches ein Gegenstand von sich gibt, kein fixiertes Identisch-Sein existiert. Das Bild ist sowohl in seiner medialen Form, d.h. der erfahrbaren Erscheinung, als auch in seinem bildimmanenten 1 »Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt.« Mt 25,35 2 http://stadt-kassel.de/aktuelles/meldungen/23795/ [letzter Zugriff: 23.10.2017] 3 https://www.hna.de/kultur/documenta/documenta-kunstwerk-obelisk-afd-spricht-von-entstellter- kunst-8601756.html [letzter Zugriff: 23.10.2017] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 77 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß Ausdruckspotenzial zu vielen geworden. Gleichzeitig wird es weiterhin als mar- kierte Fläche oder Gestalt betrachtet, die eine gerichtete Aussage über etwas treffen kann, sodass ihm eine Vermittlerfunktion zugesprochen wird. Diese Rolle kann es ausreichend gut oder eben nicht hinreichend ausfüllen, wie das Beispiel oben zeigt. Ein Urteil über das Gelingen wird jedoch meist durch eine Vergleichsstruktur gefällt: Sobald mein Gedächtnis – folglich das mir Bekannte – mit der Aussage über Welt, die das Bild trifft, korreliert, erkenne ich es als meines oder als eigenes an. Das Bild wird scheinbar zum Zeichen für meine Identität, indem es ein gewisses Zeichenrepertoire zu meiner Zufriedenstellung und Bestätigung bedient. Abb. 1: Khia Poitier: Altars, 2014, drei Monitore, GIF Quelle: http://khiapoitier.tumblr.com/ (Alle Rechte liegen bei der Künstlerin) [letzter Zugriff: 18.01.2018] Betrachte ich die Arbeit Altars von Khia Poitier aus dem Jahr 2014, so sehe ich drei blinkende Bildschirme, hochkant gehängt, aus denen zwei Men- schen blicken, die ich als weiblich assoziiere. Jedes Bild ist partiell flüchtig. Es handelt sich um eine Arbeit im Graphics Interchange Format (GIF). Die äu- ßerste Gestalt ist durch einen gelben Kreis an der Stelle des Gesichtes anony- misiert, wobei zu bemerken ist, dass, mir zumindest, die anderen beiden auch unbekannt sind. Sie erinnern aber an die Bildmotive der Maria Lactans oder einer Nikopoia. In diesem Moment falle ich einem ›Ikonografie- und Titeltrick‹ anheim: Ein Triptychon, das sich selbst als Altar bezeichnet, lese ich als sol- chen. Aufgrund christlicher Sozialisation erkenne ich Maria, die Mutter Jesu. Sogleich fallen die Stoffmuster4 der Kleidung auf. Sie sind teilweise fremd oder stören in diesem Kontext. Mein Marienbild ist gebrochen. In diesem Moment erinnere ich mich aufgrund der Pose, der leichten Unschärfe und des gelblich- bräunlichen Sepia-Charakters der blinkenden Bilder an frühe Daguerreoty- pien.5 Jetzt erst will ich sehen, dass zwischen dem Blinken in den Collagen aus 4 Vgl. RAINSBOROUGH 2016: 80: Hybridität wird als Konzept im Schaffen der Künstler*innen gesehen, das sich über Materialien äußert. 5 Vgl. BRANDES 2010: 59-68: Die Daguerreotypie ist eine Fotografie auf einer spiegelglatt polierten Metalloberfläche. Sie wurde zu Beginn des 19. Jhd. bekannt. Das einfache portable Verfahren IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 78 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß alten Schwarz-Weiß-Fotografien Ungeziefer erscheint. Ein kolonialer Kontext drängt sich auf, der zwar jenseits meiner eigenen Erfahrung, aber innerhalb eines erlernten Gedächtnisses liegt und daher durch fragwürdige Assoziations- ketten aufgerufen wird. Ein westeuropäischer Blick ist durch »religiöse Deutungsmuster ge- prägt« (BELTING 2005: 30), die plötzlich gesprengt werden. Das über Generatio- nen eingeübte Betrachten, das zum Ritus herangewachsen ist, wird kurz unter- brochen. Eine »klassische Bildsprache [gerät in] Konfrontation mit neuen In- halten« (RAINSBOROUGH 2016: 89) und wird zum Hybrid. Assoziationsketten ver- knoten sich auf unangenehme Art und Weise miteinander. Sie lassen direkt auf die enge Verwobenheit von der Vorstellung mit dem Blick auf die Umwelt sto- ßen. Ich befrage ein ikonografisches Gedächtnis, das, bestehend aus einer schier endlosen Verweis- und Zitatkette, etwas wiedererkennt und an unpas- sender Stelle einordnet oder es dort fixiert. Im Fall der Malerei Namaku Isa (Deutsch: Mein Name ist Isa) von F. Sigit Santoso aus dem Jahr 2005 liege ich mit meiner christlich-dominanten Deu- tung scheinbar näher. ›Isa‹ ist der indonesische Name für Jesus: sowohl im Islam als auch im Christentum (vgl. KÜSTER 2016: 215). Hier passen Titel und Erwartung zur Ikonografie. Zu sehen ist ein Mittelformat, das eine Figur in Fron- talposition zeigt. Die Person ist in naturalistischem Stil in schwarz-weiß darge- stellt. Vor ihr befindet sich ein Tisch mit Teller, darauf ein zerteilter Fisch. Dieser ist im Kontrast zum übrigen Bild in kräftigem Rot-Orange gemalt. Seine Farbe erinnert an Blut, das sich als Spur auch auf dem Gewand und bei genauerem Hinsehen auch an den Wundmalen beider Hände der Person zeigt. wurde u.a. in anthropologischer Forschung als Dokumentation benutzt. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 79 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß Abb. 2: F. Sigit Santoso: Namaku Isa, 2005, Öl auf Leinwand Quelle: KÜSTER 2016 Formal erinnert die Arbeit an eine Christusikone oder ein Marienbildnis. Mit Bestätigung durch den Bildtitel blickt folglich ein Jesus aus der Bildfläche. Dieser scheint jedoch weiblich konnotierte Züge zu haben. Bei der Betrachtung der Hände wird eine feinere auf der Brust und eine muskulöse, mit den Fingern nach unten gerichtete sowie geöffnete Hand kenntlich. Eine typische Wunsch- gewährungsgeste – allerdings Buddhas (vgl. KÜSTER 2016: 216). Missionswissenschaftler*innen würden an dieser Stelle wohl von einer gelungenen Hybridisierung sprechen, bei der sich, im Gegensatz zum Akkomo- dations- oder Kontextualisierungsmodell, der ›innere Kern‹ der Botschaft in das äußere Umfeld aufgelöst hat, sodass sich eine neue Erzählung ergibt (vgl. KÜS- TER 2016: 87f). Hier verschränken sich Ausdrucksmittel dreier Weltreligionen in einem Bild, wobei dessen Aussage uneindeutiger wird. Ein Kontext vermischt sich produktiv mit anderen, wobei alle gleichberechtigt bleiben und etwas Neues entsteht, folglich – im Sinne von Édouard Glissant – eine Kreolisierung stattfindet (vgl. GLISSANT 2013: 7-22). Das neu Entstandene ist unvorhersehbar und schwer zu fassen. Es zeigt nur noch und sagt nichts mehr, indem es einer IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 80 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß Konvention seine Konnotation wegnimmt. Es ist eine Äußerung, ohne sich zu erklären. 2.1 Konvention und Konnotation visueller Dominanz Die Kunst zeigt mir die »Grenze meines sprachlichen Kategorisierens« (FITZNER 2016: 9) auf. In den drei Beispielen werden mehrere ›Codes‹ miteinander ver- bunden, die eine Umgebung verschlüsseln, um sie anschließend wieder ›ent- schlüsselbar‹ zu machen. Das Werk setzt seine Umwelt auf eine bestimmte Art und Weise ins Bild und macht sie durch ein Konnotationssystem hindurch er- neut anschaubar. Dieser Vorgang beschreibt eine Kulturproduktion, in der Bil- der zu Kunst und damit zu einem Gut werden. Sie sind in der Lage, die Umge- bung ein zweites Mal zu veräußern, indem sie als Stellvertreterinnen in medi- aler Form auftreten. Kunstwerke werden zu Ausdrucksobjekten. An dieser Stelle entsteht ihr Fetischcharakter, durch den zwischen Realwelt und einer Me- taebene vermittelt werden soll (vgl. BÖHME 2006: 155-282). Mittels Kontingenz- schließung und -öffnung knüpfen sie an Codes der Welt an und generieren in diesem Verbund neue Muster (vgl. RECKWITZ 2006: 76f.). An bestimmten Orten entstehen sich wiederholende signifikante Strukturen, die genealogisch als Tradition gelesen werden können. So formiert sich die Vorstellung einer histo- risch-lokal eingesetzten Kultur, in der sich Subjekte situiert finden und deren Zeichen sie lesen können, da sie ein Produkt von Konventionen geworden sind (vgl. HALL 2016: 72; vgl. LEMME 2016: 239f; vgl. LINDEMANN 2016: 21). Im globalen Machtgefüge erkämpften sich bestimmte Positionen eine vorherrschende Stellung, die ihre Kulturproduktion über weitere stellten und immer noch stellen. Anzumerken ist, dass Interpretations- und Beurteilungs- prozesse bislang von der Folie europäischer Kunst ausgehen, sodass beispiels- weise »die Kannibalisierung afrikanischer Skulpturen als progressives Experi- ment der europäischen Avantgarde betrachtet werde, während man die Werke afrikanischer Modernisten, die das selbe [sic!] mit der westlichen Kunst tun, als unauthentisch und derivativ abwerte« (GILL 2010: 49). Pablo Picasso oder Emil Nolde eignen sich in diesem Kontext afrikanische Masken an und veräußerli- chen sowie veräußern sie als europäische Moderne, während außereuropäi- sche Künstler*innen zur gleichen Zeit keine Anerkennung erfahren, vielmehr noch als Imitator*innen gelten. ›Innovation‹ findet demnach angeblich nur auf Seiten der dominanten eurozentrischen Kultur statt. Sie ist der Ort, an dem festgelegt wird, was sehenswert ist und dass überhaupt das Visuelle maßgeb- lich für das Urteilen ist. In der Folge werden duale Interpretationssysteme von Wahrheit und Falschheit, Schönheit und Hässlichkeit oder Güte und ihrem Gegenteil von vi- suellen Eindrücken abhängig gemacht. Hier entsteht – im Dispositiv der Kunst – das rituelle Schauen als das eingewöhnte Betrachten, aus dessen Perspektive auch ich schaue. Die Auswertung visueller Zeichen wird dabei durch die meta- phorische Struktur christlichen Denkens geprägt (vgl. HALL 1999: 87). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 81 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß In entgegengesetzter Richtung, auf Seiten der Produktion, schlägt sich dies ebenfalls in den Darstellungsfolien der Ikonografie nieder, sodass in Bild- rezeption und -herstellung ein entsprechendes Konnotationskonstrukt Aus- druck gefunden hat. Ein banales Beispiel dafür: Schwarz ist das Dunkel, die Nacht und das Böse (vgl. FANON 2016: 158), dem das Licht, das helle, erlösende und reine Weiß gegenübersteht (vgl. DYER 1997: 108f.). Diese Schwarz/Weiß- Dichotomie hat historische Kontingenz und ethisch-politisches Ausmaß, weil sie deterministische Antagonismen aufgrund von einfacher Veräußerlichung erschafft, zum Beispiel in Bezug auf Hautfarbe (vgl. EICKELPASCH/RADEMACHER 2004: 85f.). Gerade in der Funktion als ›Kulturgut‹ und Fetischobjekt, das im Zeigen ein Sich-Zeigen provoziert und durch ein Ins-Bild-Setzen selbst ins Bild gesetzt wird, formt das Bild in oszillierender Anbindung an die dominanten Denkmus- ter eine kollektive Identität mit, die das Bewusstsein und ein Selbst der Einzel- nen im Ritual des Betrachtens stabilisiert (vgl. HALL 1999: 88). Eben auf diese Art und Weise werden Bilder zu Identitätsträgern und vermeintlichen Selbst- aussagen, aber auch Zuschreibungen. Das Bild bringt Subjekte dazu, von sich ein Bild zu imaginieren und dieses – sei es im Machen, Betrachten, Imaginieren oder Ausstellen – zu reproduzieren: Und zwar in der Art, in der es vom kultu- rellen Kollektivblick wahrgenommen werden sollte. Hierin steckt eine doppelte Signifikanz, nämlich eine gesellschaftliche Erwartung und die daraus entsprin- gende Selbsterwartung des schauenden Subjektes, das auch erblicktes ist. Daraus erklärt sich, warum ein Subjekt auf oder im Bild nicht personal abgebildet sein muss, um sich mit diesem zu identifizieren. Vielmehr liegt das Potenzial darin, dass es sich im Bild wiederfindet, seiner Ausdrucksform folgen kann, sodass es sich von ihm vertreten fühlt: In dem Sinne, dass das Bild in seiner Abwesenheit für ein konstruiertes ›Ich‹ steht, das sich in Relation zu ei- nem Identitätskollektiv befindet. An diesem Punkt geschieht eine unbewusste Passung und Prägung der Rezipient*innen-Körper (vgl. SILVERMAN 1996: 19; vgl. SILVERMAN 1997: 50). 2.2 Bildreferenten und Masken Diese fragwürdige Stellvertreterfunktion leitet sich vom Abbildcharakter des Bildes ab, der es ermöglicht, über Ähnlichkeit eine Verbindung zum Abgebil- deten herzustellen. Am eindeutigsten zeigt sich dies in personalen Darstellun- gen, die kulturhistorisch seit dem Altertum eine tragende Rolle spielen. So wur- den Bilder von Verstorbenen als Masken angefertigt. Diese ›imagines‹ wurden von Schauspieler*innen getragen, um die Toten lebendig erscheinen zu lassen, sie darzustellen und sie zu vertreten (vgl. FUHRMANN 1996: 85). Das Konzept von Referenz erklärt sich hier in besonderem Maße, da es sich tatsächlich um ein Zurückführen außerbildlicher Einheiten ins Bild handelt. Nach dem Schauspiel verblieben sie als Erinnerungsstücke und Machtsymbole, folglich als Fetische, in der Hinterbliebenenwelt. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 82 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß Wenn ich nun kurz in diesem Kontext verweile und das Wort ›Maske‹ kulturgeschichtlich zurückverfolge, taucht neben den ›imagines‹ der lateinische Begriff ›persona‹ auf, von dem sich der gegenwärtige Begriff ›Person‹ ableiten lässt (vgl. CANICK 2008: Sp. 1120). Zunächst im Bereich des römisch-antiken Schauspiels angewandt, gewann das Wort in christlicher Semantik das Ge- wicht des Moralischen hinzu. Indem Augustinus beispielsweise Christus in De Trinitate 7,7-7,11 als eine der drei göttlichen personae beschreibt, somit als In- haber einer der drei Masken Gottes, wird der Begriff mit einem Konstrukt von Wertigkeit angefüllt.6 Um ›persona‹ zu sein, bedarf es von nun an eines gewis- sen Grades an Würdigkeit. Innerhalb dieses Deutungshorizontes wurde das Wort im Kontext des deutschen Idealismus zur Bezeichnung der Individuation des menschlichen Vernunftwesens gebraucht (vgl. EICKELPASCH/RADEMACHER 2004: 10). Dieser Zuwachs an ›Subjektivierung‹ führte zu dem bedeutungsschweren Zusammenhang von Freiheit und Würde des Einzelnen als gesellschaftliches Konstrukt und bündelte sich hin zum sozialen sowie moralischen ›Status der Person‹ (vgl. LINDEMANN 2016: 11). Beschrieben ist hiermit ein Wandel vom rein Äußerlichen hin zu einem komplettierten Seins-Modus des einzelnen Menschen als sein Status. An dieser Stelle kommt eine »personologische Totalisierung« (GUATTARI 2014: 43) der Moderne zutage, die eine Schließung zur persönlichen Ganzheit vornimmt. 2.3 Gebrochene Ganzheit Bei aller personellen Ganzheitlichkeit wurde durch das Wort dennoch der As- pekt der äußerlichen Anschauung mitgetragen, sodass in dieser Begriffsge- schichte bereits eine Teilung des Subjektes angedeutet ist. Diese Teilung wird in postmoderner und poststrukturalistischer Interpretation wieder aufgenom- men. Roland Barthes nennt es »[d]ie Unhöflichkeit des Westens, [die] auf einer bestimmten Mythologie der ›Person‹ beruht« (BARTHES 2014: 87). So geht es beim Person-Sein, aus einer eurozentrischen Perspektive be- trachtet, doch wieder um die Aufrechterhaltung einer äußeren Maske (vgl. MBEMBE 2016: 13) und des angeblich echten, inneren Wesens. Beide bilden – im Gegensatz zum Idealismus – in psychoanalytischer Lesart, keine Einheit mehr (vgl. LACAN, 1978: 77; vgl. SILVERMAN 1996, 15f.). Um dies zu verschleiern, wird die Maske in einer ›visuellen Kultur‹ als Bildreferent nach außen getragen, wäh- rend ein Inneres – in Abhängigkeit von diesem Bild – zunehmend instabil wird. An dieser Stelle agiert die Maske als Metapher, die Bedeutungskontexte verschiebt. Durch sie wird deutlich, inwiefern Bildproduktionen Identitäten 6 Vgl. BAADER 1999: 239-246: Christus hat durch seinen Tod, nach dieser Auffassung, die Würde erlangt, göttliche Person zu sein und somit ein veräußerlichter Teil Gottes. Person, als Rolle begrif- fen, ist oberflächlich genug, um in keinen Konflikt mit einem Wesensbegriff zu geraten. Mit der Personalität Gottes, bzw. Gottes menschlicher Maske, gewann die Theologie einen Kommunikati- onsgrund, der Mensch und Gott verbindet. Gott als Person ist identifizierbar und ansprechbar. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 83 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß tragen und verdecken können: denn Bilder, in der Funktion metaphorischer Masken, fügen sich unauffällig in die kulturelle Produktion ein und simulieren Relationen zwischen Subjekt und Welt, die sie zu Orten der Identifizierung ma- chen. In der Folge konstituiert sich ein Mensch in einer Seins-Behauptung, die bildlich ist (vgl. BHABHA 1983: 29; vgl. BRANDES 2010: 191). Das vermeintliche Innere wird verdeckt und verschoben. In der Differenz zum äußeren Bild, tritt es als unausweichlicher Mangel auf. Es ist somit das Fehlerhafte, das in Rich- tung der Metapher korrigiert werden soll. Das Potenzial der Unhöflichkeit, von dem Barthes sprach, wirkt an die- ser Stelle erst im Rückschluss: wenn einem bestimmten Äußeren ein Inneres eingeschrieben und dort fixiert wird. Eine Selbstbeschreibung oder Identifizie- rung im Bild wird zu einer Zuschreibung. Im postkolonialen Diskurs wird dieser Mechanismus unter anderem mit dem Begriff »Stereotypisierung« (BHABHA 1983: 19) nach Homi K. Bhabha diskutiert. Gleichzeitig ermöglichen Masken eine Neu-Bebilderung. Sie realisieren einen bildlichen Identitätstausch oder eine Täuschung, indem sie dem aussa- genden Subjekt ein weiteres Bezeichnendes hinzufügen. So verbirgt Mimikry einerseits die oszillierende Verbindung von Maskenträger*innen und Rezipi- ent*innen als Tausch- und Verwechslungspiel. Im Kontext einer dichotomen epidermalen Vereinfachung, liegt andererseits der Zwang, sich mit den domi- nanten Bildvorlagen zu maskieren oder zu bebildern, um überhaupt eine Inner- lichkeit zugesprochen zu bekommen (vgl. FANON 2016). Nach Fanon muss sich schwarze Haut eine weiße Maske anlegen, um Bedeutung zu erfahren. Das Bild wird zum signifikanten Stellvertreter für etwas, das von außerhalb erwartet und verlangt wird, aber noch abwesend ist. Indem Fanon in seinen Beobachtungen die Schwarz/Weiß-Dichotomie gebraucht, die in einer dominanten ›westlichen‹ ikonografischen Tradition steht, eröffnet er gerade damit die Möglichkeit einer systemischen Lesart. Als absolute Helligkeitswerte sind Schwarz und Weiß keine Beschreibung für Farb- töne, sodass sie in der Abstraktion vielmehr Ausdruck zweier Strukturebenen oder Sinnordnungen sind. In Schwarze Haut, weiße Masken zeigt sich dies, wenn er zunächst den Begriff ›Schwarz‹ und später dann ›Farbig‹ verwendet. Damit markiert Fanon den Unterschied von gesellschaftlichem Status, der für das Subjekt zu einer tatsächlichen Zustandsweise wird, und einem beschrei- benden sowie gleichzeitig zugeschriebenen Attribut. Es geht in Verwendung der Dichotomie folglich um das System bestimmter Seins-Statūs,7 innerhalb dessen Masken sich zum Bild einer Identität mystifizieren und zu Deutungs- macht gelangen (vgl. GRILL 2010: 54). Im Anschluss an Fanons Bemerkung und die kulturgeschichtliche Be- trachtung der Maske erschließt sich der Zusammenhang von Bild und Identität in der engen Verkettung kultureller Äußerung mit personalem Status. Das Bild ist eine Bewegung nach außen, die von einem Inneren ablenkt oder dies erst 7 Vgl. MBEMBE 2016: 11-56 und 316-320: ›Schwarz‹ wird einerseits als ökonomischer Status im Ka- pitalismus beurteilt und andererseits als ästhetisches Potential. ›Schwarz‹ ist symbolische Folie. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 84 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß konstruiert. Jacques Lacan deutet diese Macht treffend, indem er schreibt: »Das Bild rivalisiert nicht mit dem Schein, es rivalisiert mit dem, was Platon jenseits des Scheins uns als Idee vorstellt« (LACAN 1978: 119). So tragen Bilder zu einer metaphorischen Seins-Ordnung bei, die innerhalb einer Kulturproduk- tion dominant für gesellschaftliche Zugehörigkeit wird. Sie sind vermeintlich strahlende Projektionsflächen, wie Bildschirme, die das unendliche Tiefe – die Idee dahinter – verbergen, sich aber als solche ausgeben. Dem Bild wird aufgrund des Konzepts einer tiefgreifenden Referenzbeziehung zwischen Subjekt und Kultur, deren Produkt es ist, Glauben geschenkt. Das Subjekt lässt sich von ihm verleiten, bis es sich ihm anpassen muss. So sorgen immer wieder visuelle und sensorische Impulsgeber für neue Subjektcodes, indem sie »Ideal-Iche« (RECKWITZ 2006: 26) vorstellen. In derselben Zeit reproduzieren sie sich selbst immer wieder und bestätigen eine Tradition von Konnotation. 2.4 Bilder rekonfiguriert/rekonfigurierend Ästhetische Strömungen – als Produzentinnen neuer Bilder – sind für eine Re- konfigurierung des Subjektes verantwortlich (vgl. RECKWITZ 2006: 17 und 93-95). Bilder verwickeln als Bildschirm Betrachter*innen, Produzent*innen und Iden- tität in eine Liaison miteinander (vgl. SILVERMAN 1996; 221f.; vgl. SILVERMAN 1997: 58). Sie legen als Metapher einen Schleier über der Welt, während sie behaupten, diese Welt zu sein. Sie fungieren maskenartig und eingebunden in Konnotationsketten, die sie jedoch verschweigen. »Das denotierte Bild natura- lisiert die symbolische Botschaft, es läßt den […] sehr differenzierten semanti- schen Trick der Konnotation unschuldig erscheinen« (BARTHES 1964: 106). Ein Bild – in jeglicher Form – wirkt auf die Rezipient*innen wie ein Schirm, der sie sowohl abschirmt als auch anzieht und sich zum Tausch anbie- tet. Solange auf der Bildfläche das Identifikationsangebot als Erwartetes er- scheint, wird der von ihm ausgehende Signifizierungsprozess anerkennend hingenommen und in der gewohnten Darstellungsweise reproduziert. Wenn der Bildschirm in ihre Richtung strahlt, ist alles herum scheinbar unsichtbar und vergessen. Das Bild kehrt die Verhältnisse um, indem ein Selbst in ihm erscheint, das sein Subjekt verlassen hat. In dieser Vertauschung liegt der Um- raum – als eigentlicher Rest des Realen – wie auch das Betrachter*innen-Sub- jekt selbst im Bereich der Imagination und Fabulation. Die Bildfläche ist nicht nur zur Stellvertreterin geworden: Sie wird zu dem, das sie vertreten sollte. Die Betrachter*innen werden in diesem Moment zum Bezeichnenden umgekehrt. Nur so kann das Bild Rivale der Idee sein. Dies ist der blendende Aspekt der Bilder, seien sie künstlerisch oder nicht. Gehen vom Schirm allerdings unerwartete Sehangebote aus, so be- kommt er Risse, die ein ›Dahinter‹ erahnen lassen und das Vor-Gestellte spren- gen. Hierin liegt nun das rekonfigurierende Moment der Bilder, das Subjekt- codes um-schreiben kann. Es ist der blinde Fleck im Bild, der sonst von den IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 85 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß Zeichen überstrahlt wurde, nun aber auffällig wird. Er ist das Störmoment im Gewohnten, das die Perspektive verschlingt und neu ordnen kann, sodass die Rezipient*innen wieder in ihre Subjektrolle, die sie zuvor an das Bild abgege- ben haben, zurückfallen. Die Maskenfunktion ist durch die Uneindeutigkeit der Zeichenfläche erschüttert. Für das Bild wird in dieser Störung Identität untrag- bar. Als ich zu Beginn versucht habe, meine kulturelle und soziologische Verortung in die Bilder hineinzulegen, hat der Vertauschungsprozess begon- nen. Der Bilderscheinung wurde eine spekulative Subjekteigenschaft angedie- hen, die im Bild ihre Fixierung als Identität gewinnen sollte. In der Interpretati- onsgrenze zeigten sich jedoch die Risse im Schirm und damit auch die Instabi- lität eines extern bestimmten Identitätsbegriffs. Ein Deutungswissen reibt sich an dem Gegenüber-Bild, das sich zu einem »Anti-Subjekt« (RECKWITZ 2006: 43 und 85) aktualisiert und jenseits des darin oder darauf Abgebildeten agiert. 3. Bilder als ›Darüber-Hinaus-Enunziation‹ Als dieses »Anti-Subjekt« (RECKWITZ 2006: 43 und 85) ist das Bild gerade kein Spiegel-Selbst, Fenster oder opaker Bildschirm, sondern eine ›Darüber-Hinaus- Enunziation‹. Es äußert sich, aber nicht als Zuruf der Bestätigung, sondern viel- mehr als Hinweis auf Uneindeutigkeit und Inkonsistenz seines Zeichens. Das Bild überschreitet die symbolische Determinierung, indem es eine reine Aus- sage oder Behauptung ist, die ihren Sinn oder Vor-Sinn, ihre Referenz durch die Referentenvertauschung verloren hat: Das, was ich dachte, dass ich es bin, es aber nicht bin und auch nicht sein könnte. Es gibt keine Verbindung von mir zu ihm. Es zeigt mir im Riss ein unerträglich leeres Reales ohne mich (vgl. ŽIŽEK 2002: 20). Bilder sind keine Referenten der Subjekte, werden aber in der Identitäts- frage zu solchen gemacht. Diese Umkehrung der Repräsentation, in der aus einer kulturellen Selbstbebilderung die signifikante Bezugsgröße für Identität erwächst, hat zur Folge, dass Subjekte ihr Sein in die Metapher, respektive Transzendenz des Bildes legen und darin verschwinden. Sie geben ihre eigene Referentenkraft an das Bild ab, das auf diese Weise die ›Idee‹ vorgaukelt und so in Konkurrenz mit einem ›Dahinter‹ tritt. Seine Stärke liegt darin, als deno- tiert zu erscheinen, obschon es immer konnotiert ist. Allein die Konnotation ist seine Bedeutung, sonst ist es als Referent leer. Es gibt keine Referenz zwischen Bild und Außerbildlichem. Diese ist entweder durch den Eindruck von Ähnlich- keit oder durch den Verdacht auf Konkretheit vom rezipierenden Subjekten ein- gebildet. Das zeigt sich, wenn Gedächtnis und auf oder in dem Bild Gesehenes nicht übereinstimmen oder zusammenpassen. Die Ähnlichkeit, die zuvor Iden- tifizierung ermöglicht und Identität gefestigt hat, ist verschwunden. In diesem Moment ist die Suche nach einer Repräsentation von Identität vergeblich. Die angenommene Signifikanten-Kette als lineare Verlaufsgröße ist zerstört. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 86 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß Mit Félix Guattari können Bilder, sobald sie rissig geworden sind, als »leere Referenten, die die Leere herstellen, die in den Repräsentationsbezie- hungen Transzendenz errichten« (GUATTARI 2014: 42), gedacht werden. Dies be- deutet, dass Bilder, die vormals bedeutungsvolle Referenten für das Subjekt waren, im schockierenden Moment des Risses leer – im Sinne von bedeutungs- los als Identitätsbehauptung – werden. Ihre Repräsentationsbeziehung haben sie lediglich auf einer Metaebene als Transzendenz hergestellt. Sie galten als Metapher und Maske, waren jedoch immer Leere, die Fülle vorspielt. An sich haben sie weder realen Bezugspunkt noch stellen sie selbst einen realen Be- zugspunkt dar. Vielmehr verweisen sie in ihrer Uneindeutigkeit auf ihre Künst- lichkeit. Der Durchbruch des ›Dahinter‹ ist der Einbruch des ›Davor‹: Wird die signifikante Leere des Bildes bekannt, indem seine Oberfläche sich selbst in- frage stellt und sie darüber aufreißt, so vergehen Schein und Metaphorisches. Das Bild bricht sich und die Rezipient*innen mit dem Unerwarteten in viele Teile auf. In der Lacan’schen Spaltung verbirgt sich eine transversale Splitte- rung in a-signifikante Herde (vgl. GUATTARI 2014: 88), die in der ›Darüber-Hin- aus-Äußerung‹ der Bilder, in der Schockwirkung des Risses, deutlich werden. An dieser Stelle wird Repräsentation zur Dysfunktion und ich falle auf eine ästhetische Verflachung herein, in der es keine Verknüpfungen von Dar- stellungen und Innerlichkeit – keine Referenz – mehr gibt (vgl. RECKWITZ 2008: 128). Es beginnt eine Auflösung, die das Welt-Ganze als strategisches Unmaß in mediale Unendlichkeiten verwickelt (vgl. GLISSANT 2013: 65f.). In der Deterritotialisierung von Kulturartikulationen wird Kultur nun mehr durch plurale Beziehungen und Austausch hergestellt. Mit dem schwim- menden Kulturbegriff löst sich der Ort der Selbstbebilderung auf und damit verschwindet auch der Äußerungsraum für Identität. Dieser Prozess ist Öl im Feuer der Subjekte, die sich nach gefestigten Identitäten sehnen, die im Sinne des Wortes ansehnlich sind. Sie verwerfen eine künstlerische Äußerung, die ein ›Dahinter‹ zeigt als entstellt oder abartig. Sie suchen nach Trägern für sich und ihre Vorstellung von Identität, da die Leere zu erschütternd ist. Dabei be- deutet Leere keineswegs ein beängstigendes Nichts, sondern beschreibt viel- mehr den Rest, der hinter dem Bildschirm übrig ist – alles Übrige, folglich das Reale. Die hybride Sprache, die ein deterministisches Zeichensystem sprengt und das Reale beschreibt, ist das Bild an sich, gelesen als sprachlose Spur über die Zeichen hinaus – als entgrenzte Markierung in der Welt: als Anti-Subjekt und Post-Identität, weshalb es mit seinem »quasi-animistische[n] Wortergrei- fen […] einen Umbau der Subjektivität des Künstlers wie seines ›Konsumenten‹ zur Folge« (GUATTARI 2014: 165) hat, die nicht länger Identifizierung sein kann. Das Bild ist schwammig und uneindeutig. Es hat in einer »Aufhebung des Sinns« (GUATTARI 2014: 165) jegliche Sprachbeziehung, wie eine Referenz ver- lassen und ist gar kein Zeichen mehr. Weiß zwischen schwarz zwischen weiß als endlose rissige Fläche, auf und in der jedes Identifizieren zu einer Fabel wird – zu einer tautologischen Geschichte von Identität. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 87 Leonie Licht: weiß zwischen schwarz zwischen weiß Literatur APPADURAI, AJRUN: Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy. In: Theory, Culture & Society, 7, 1990, S. 295-310 BAADER, HANNAH: Anonym: ›Sua cuique Persona‹. Maske, Rolle, Porträt (ca. 1520). In: PREIMESBERGER, RUDOLF; HANNAH BAADER; NICOLA SUTHOR (Hrsg.): Porträt. Berlin [Reimer] 1999, S. 239-246 BARTHES, ROLAND: Mythen des Alltags. 1. Auflage, vollständige Ausgabe, aus dem Französischen von Horst Brühmann. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2010 BARTHES, ROLAND: Im Reich der Zeichen. 18. Auflage. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2014 BARTHES, ROLAND: Rhetorik des Bildes. In: STIEGLER, BERND; PETER GEIMER (Hrsg.): Auge in Auge. Kleine Schriften zur Photographie. Frankfurt/M. 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Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2002 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 90 [Inhaltsverzeichnis] Julia Austermann Queere Interventionen im kommunistischen Polen – Krzysztof Jung und sein ›plastisches Theater‹ »I shall not be an artist who has a style – I am just trying to be honest, without honesty art is practically impossible« (Krzysztof Jung, 1989) Abstract This essay contributes to the meaning of Polish art as queer intervention in communist Poland by researching the (semi-) public performances of Krzysztof Jung (1951-1998). It focuses on the specific queer performativity by analyzing photographs of the actions. Furthermore, it concentrates on the queer affective elements and includes interviews with participants and actors of the perfor- mances. The tensioning of black or white threads around naked bodies, the building of a narrowing netting or the ›sewing‹ of a human network were typi- cal elements in Jung’s ›plastic theatre‹. I argue that, in reference to BUTLER (2016), vulnerability and the construction of an infrastructure of support were essential aspects of Jung’s aesthetic protest. With his semi-public perfor- mances in the late 1970s and 1980s Jung represented homosexual exclusion and desire in communist Poland and established a counter-public (cf. FRASER 1990). He embedded homosexuality into a wider discourse and therefore sup- ported the gay movement. Following a humanistic ideal, it will be shown that his ›plastic theatre‹ can be seen as a bodily and symbolic protest against total- itarianism and a conformist system. Der Beitrag rekonstruiert die Bedeutung der polnischen Kunst als queere Inter- vention im kommunistischen Polen anhand des ›plastischen Theaters‹ von IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 91 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen Krzysztof Jung (1951-1998). Dabei gilt es zunächst die spezifisch queere Ikono- grafie der Performances anhand ausgewählter Fotografien zu analysieren. Wie genau werden Konzepte homosexueller Identität vor der Kontrastfolie der He- teronormativität in den Fotografien verhandelt? Inwiefern werden Grenzen zwi- schen dem Eigenen und Anderen, zwischen Homo- und Heterosexualität sowie ›Ost‹ und ›West‹ in den Fotografien konstituiert bzw. transformiert? Darüber hinaus liegt ein Schwerpunkt auf den affektiven Elementen, die durch Inter- view-Auszüge ermittelt werden. In Anlehnung an BUTLER (2016) waren Vulnera- bilität und die Konstruktion einer Infrastruktur der Solidarität, so die These, we- sentliche Elemente für Jungs ästhetischen Protest und die Konstitution einer Gegen-Öffentlichkeit (vgl. FRASER 1990). Krzysztof Jung leistete mit seinen (semi-) öffentlichen Aktionen einen wichtigen Beitrag, um homosexuelle Ex- klusion und Begehrensformen im kommunistischen Polen performativ zu the- matisieren und unterstützte damit die sich allmählich etablierende Homosexu- ellenbewegung. Einem humanistischen Ideal folgend können seine Aktionen als körperlicher und symbolischer Protest gegen ein totalitäres und konformis- tisches System verstanden werden. Einleitung Hinsichtlich queerer Interventionen im kommunistischen Polen ist die Bedeu- tung der Kunst hervorzuheben, die einen wesentlichen Beitrag zur homosexu- ellen Emanzipationsbewegung beigetragen hat und noch immer beiträgt (vgl. LESZKOWICZ 2006/2010/2011a/2011b; RADZISZEWSKI 2009/2016). Beispielhaft soll im Folgenden auf die Aktionen des polnischen Künstlers Krzysztof Jung (1951- 1998)1 eingegangen werden, den Raimund Wolfert als »Pionier der polnischen Gay Art« bezeichnet (WOLFERT 2010: 30). So gewähren Jungs Performances ei- nen Einblick in seine Faszination für den männlichen Körper und die »wechsel- seitigen Beziehungen zwischen Männern, [...] die einander begehren, sich ge- gen die soziale Unterdrückung auflehnen und die gar nicht so utopische Mög- lichkeit einer selbstbestimmten sexuellen Identität aufzeigen« (WOLFERT 2010: 30). Dabei lotete Jung in seinen Aktionen nicht nur die Grenzen zwischen- menschlicher Beziehungen, sondern auch »zeiträumlich[e]/raumzeitlich[e]« (KEINZ 2010: 64) Grenzen zwischen ›Ost‹ und ›West‹ immer wieder aus (vgl. KRAFT 2015: 166ff.). Auskunft über diese ikonischen Grenzverhandlungen geben dabei Fotografien der Performances. Wie genau werden aber Konzepte homo- sexueller Identität(en) in den Fotografien verhandelt? Inwiefern wird die Grenze zwischen Homo- und Heterosexualität ikonografisch in Frage gestellt? Wie werden zeiträumliche/raumzeitliche Grenzen des Eigenen und Anderen, zwischen ›Ost‹ und ›West‹, in den Fotografien konstituiert bzw. transformiert? Jung, der selbst homosexuell war, hatte sich nie öffentlich geoutet, sein 1 Vgl. http://www.krzysztofjung.com [letzter Zugriff: 31.01.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 92 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen Sprachrohr war die Kunst. In diesem Kontext führte Dorota Krawczyk-Janisch, eine enge Freundin von Jung und Nachlassverwalterin, im Interview mit mir aus: In der Zeit gab es kein Kämpfen um Homosexualismus [...] es gab unterschwellig, wie heute auch schon viel Homophobie [...]. Er hat es nicht an die große Glocke gehängt, aber er war ein sehr freier Mensch [...]. Im Prinzip war es klar, aber es wurde nie so richtig ausgesprochen (KRAWCZYK-JANISCH 2017: o.S.).2 Das Zitat gibt Auskunft über das homophobe Klima im kommunistischen Polen und die Tabuisierung der Homosexualität in der Öffentlichkeit, mit der sich auch Jung konfrontiert sah. Ab Mitte der 1970er Jahre konzentrierte sich der Künstler auf seine Performances bzw. sein ›plastisches Theater‹, wie er es selbst nannte (vgl. KOWALKSKI 2001: 31). Dabei wurde er von dem polnischen Bildhauer und Warschauer Kunstprofessor Grzegorz Kowalski gefördert, der seine Aktionen immer wieder mit der Kamera dokumentierte. Jung führte die Performances überwiegend in der Galerie Repassage vor ausgewähltem Pub- likum auf, die er 1978 übernahm und in Repassage 2 umbenannte. Die Galerie befand sich direkt neben der Warschauer Universität im Zentrum der Altstadt und bestand, bis 1981 in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde (vgl. KAR- PINSKI 2001: 20; SITKOWSKA 1993: 3; SITKOWSKA 2016: 31-43). Homosexuelles Begehren Zentrale Elemente in Jungs Aktionen waren das ›Spinnen‹ von schwarzen oder weißen Baumwollfäden im Kontrast zum meist roten Hintergrund sowie das Arrangement eines Geflechts, das dem darin Eingebundenen kaum Bewe- gungsspielraum ließ oder durch das ›Nähen‹ eines Netzes zwischen zwei Per- sonen eine Beziehung zwischen ihnen herstellte (vgl. WOLFERT 2010: 31). Eine der zentralen Aktionen, die Nähe und Verbundenheit zwischen zwei Männern thematisierte, war Rozmowa (Unterhaltung). Die Performance führte Jung zu- sammen mit seinem damaligen Freund Wojciech Piotrowski und Dorota Krawczyk (heute Krawczyk-Janisch) im Dezember 1980 in seiner Warschauer Galerie auf (vgl. LESZKOWICZ 2016: 48; SITKOWSKA 2001: 94-95; WOLFERT 2010: 31). Die Zuschauer/innen saßen am anderen Ende des abgedunkelten Raumes und blickten frontal auf die Akteure. Während Jung und Piotrowski, beide in schwarz gekleidet, dabei waren ihre Kleidungsstücke zusammenzunähen, be- fand sich Krawczyk in einem mit Stoff verhangenen und von innen beleuchte- ten Gerüst neben ihnen. Sie schlitzte Stück für Stück mit einer Rasierklinge Risse in den Stoff, sodass der Raum allmählich erhellt wurde. Dabei offenbarte Dorota Krawczyk sich schließlich in ihrer Nacktheit dem Publikum. Im An- schluss warf Krzysztof Jung Dorota Krawczyk eine Garnspule zu, die er zuvor für das Zusammennähen der Kleidung verwendet hatte. Doch Krawczyk wollte nicht mit den beiden Männern in Kontakt treten, sodass sich die beiden eine 2 Der folgende Auszug basiert auf einem Interview mit Dorota Krawczyk-Janisch, das im März 2017 in Berlin stattfand. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 93 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen Weile die Spule hin und her warfen, bis diese schließlich auf den Boden fiel. Am Ende der Performance zogen sich die beiden Männer nackt aus und verlie- ßen den Raum. Abb. 1: Rozmowa, 1980 Hinsichtlich der Interpretation der Aktion betonte Krawczyk-Janisch die affek- tive Komponente: Ich denke, es gab mehrere Ebenen der Bedeutung: die persönliche, das heißt die Emotio- nen der beiden Männer und die Gefühle von uns allen drei, das gegenseitige Verstehen und das Missverstehen, das Getrenntsein, das Ausgeschlossensein, wenn man schwul ist, und das sich Öffnen dem Anderen gegenüber sowie die symbolische Vereinigung, nicht nur in erotischer, sondern auch in kreativer Hinsicht (KRAWCZYK-JANISCH in WOLFERT 2010: 33). Jungs Aktionen ermöglichten demnach eine emotionale Identifikation und ein gemeinsames theatrales Auftreten, bei dem immer wieder die Grenzen des Ei- genen und Anderen, hier des homo- und heterosexuellen Begehrens, ausgelo- tet wurden. Die Performance wspólny (Gemeinsame Performance) ging der Ak- tion Rozmowa voraus, die Jung im November 1980 bei einem Kunstfestival in Łódz aufführte (vgl. SITKOWSKA 2001: 92). Während Jung und Piotrowski dabei waren, ihre Kleidungsstücke zu einem zusammenzunähen, saß Krawczyk, von Baumwollfäden umsponnen, separiert neben ihnen auf einer Bank. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 94 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen Abb. 2/3: Performance wspólny, 1980 Wesentlich für Jungs Aktionen war demnach die performative Sichtbarma- chung der Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen, das ›Verbunden- Sein‹ zwischen den Menschen und das Gefühl der Vergemeinschaftung, aber auch der Exklusion, insbesondere vor der Kontrastfolie der Heteronormativität. Als ikonische Grenzüberschreitungen manifestieren sich die Performances schließlich in den Fotografien. Dass seine Aktionen dabei auch queere Effekte auf die Teilnehmer/innen ausübten, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Krawczyk-Janisch im Interview mit mir ausführte, dass sie v.a. durch Jung ei- nen Einblick in die »Gay-Kultur« erhielt, die ihr zuvor nicht vertraut war. In die- sem Kontext betont ebenfalls Kowalski das Interventionistische seiner Aktio- nen und bezeichnet Jung daher als »one of the pioneers of body art in Poland« (KOWALSKI in JANISCH 2017: o.S.). Mit diesen Aktionen hat Jung einen wesentli- chen Beitrag dazu geleistet, homosexuelles Begehren in der Volksrepublik Po- len performativ zu thematisieren. Zentrale Elemente seiner Performances wa- ren dabei Nacktheit, Körperlichkeit und ein Raum mit einer weitgehend semi- öffentlichen Struktur. Dabei entwickelte sich immer wieder eine spezifische, ich würde argumentieren, queere Dynamik zwischen den Akteuren/innen und Teil- nehmern/innen seines ›plastischen Theaters‹. Homoerotische Ikonografien fin- den sich in Jungs künstlerischem Archiv überdies in Form von fotografischen Selbststudien als Hl. Sebastian, der schwulen »Ikone als Kultbild per se« (HÄRLE 1997: 21) oder in Selbstdarstellungen als antiker Narziss (vgl. LESZKOWICZ 2016: 43-68; SITKOWSKA 2001: 189/196). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 95 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen Über die genderspezifische Thematik hinaus lassen sich Jungs Aktionen zudem als ein systemkritischer Protest verstehen. Wesentlich dafür war einerseits die Studentenbewegung, die sich nach 1977 und in Folge der März-Aufstände von 1968 erneut etablierte sowie die Streikbewegung der Arbeiter und die Konsti- tution von Solidarność als Gewerkschaft im September 1981. Die Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 verbot schließlich jegliche Form des öf- fentlichen Protestes und führte ein umfassendes Zensursystem ein, das bis Ap- ril 1990 bestand (vgl. JUNES 2015: 123 ff.; SZYMANSKI 2012: 259 ff.). Im Nachfol- genden gilt es diesem Aspekt vertiefend nachzugehen. Systemkritik Dass Jung in seinen Aktionen immer wieder Bezug nahm auf das bestehende kommunistische Gesellschaftssystem und die staatlichen Repressionen, veran- schaulicht die Performance Przemiana (Metamorphose), die er Wojtek Kar- piński, einem guten Freund, widmete und im März 1978 zur Aufführung brachte (vgl. KUZMICZ 2016: 69-83; SITKOWSKA 2001: 60-61). 15 Personen, die Jung per- sönlich in seine Galerie einlud, bildeten einen Stuhlkreis in einem abgedunkel- ten Raum. In der Mitte vor ihnen lag ein nackter Mann (Ryszard Nowicki). Jung trat hinzu und begann allmählich seinen ›Kokon‹ aus Baumwollfäden um die Betrachter/innen und den im Zentrum Liegenden – sein »human insect« (KO- WALSKI in JANISCH 2017: o.S.) – zu weben. Kowalski weist in diesem Kontext auf Kafkas Verwandlung (1916) als literarische Referenz hin (vgl. KOWALSKI in JA- NISCH 2017: o.S.). Schließlich verschwand Jung aus dem Raum und sein ›Ob- jekt‹ versuchte sich langsam zu bewegen und sich aus dem einengenden Netz zu befreien. Als der Mann es schließlich geschafft hatte, ging er aus dem Stuhl- kreis heraus. Daraufhin standen die Teilnehmer/innen ebenfalls auf und verlie- ßen den Raum. Zur Rolle des Publikums gibt Kowalski Folgendes zu bedenken: It was the author’s intention to call us as witnesses having a certain status – we were passive spectators but from a moral viewpoint we bore responsibility since we were aware of what we saw. We became part of a painful process in which a person unknown to us struggled for freedom ›from himself and from the people‹ (KOWALSKI 2001: 60). Kowalskis Zitat verdeutlicht die mehrdimensionale Bedeutung des Publikums: Zum einen waren die Teilnehmer/innen ›passive Beobachter‹, aber auch ›Kom- plizen‹ dieser Aktion. So spann Jung seine ›inkludierenden‹ Baumwollfäden ebenfalls um die Zuschauer/innen und ihre Stühle, sodass sie nicht nur Zeu- gen, sondern ebenso Betroffene des (schmerzvollen) Befreiungsprozesses wurden, in dem Jungs human insect um Freiheit rang. »Ein theatrales Ereignis ist ohne Zuschauer nicht vorstellbar, denn eine exponierte Handlung wird erst [...] durch die Anwesenheit eines Zuschauers zu einer theatralen« (SZYMANSKI 2012: 77). Auch Dorota Krawczyk-Janisch, die hier zum ersten Mal an einer Per- formance von Jung teilnahm, erinnerte sich vor allem an das körperliche Ein- gebunden-Sein, sodass jede Bewegung des Gegenübers am eigenen Körper spürbar wurde: IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 96 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen Abb. 4/5: Przemiana (Wojtek Karpińskiemu), 1978 I wanted to let it go, because I felt this tension, that he’s hurting. You could see that the threads went straight into the body. This person is uncovered, in a way you touch him much deeper. Deprived of his skin – so to speak, from civilized skin. No longer protected by anything and this certainly was loaded with erotic content (KRAWCZYK-JANISCH in JANISCH 2017: o.S.). Das Zitat hebt zum einen die ›Hilflosigkeit‹ und das ›Ausgeliefert-Sein‹ von Jungs nacktem ›Objekt‹ hervor und betont überdies das ›Voyeuristische‹ bzw. das ›Involviert-Sein‹ aller Beteiligten. Diese Spannung zwischen ›Objekt‹ und ›Publikum‹ empfand Krawczyk-Janisch einerseits als unangenehm, betont aber auch die erotische Dimension der Performance.3 Demnach verstehe ich Jungs Aktionen, in Anlehnung an die Ethnohistorikerin Monique Scheer, als »mobilisierende emotionale Praktiken« (SCHEER 2012 nach PLAMPER 2012: 314). Emotionale Praktiken begreift Scheer dabei als die »Manipulationen von 3 In diesem Kontext beschreibt die polnische Kunsthistorikerin Natalia Kalis zudem masochistische Elemente in Jungs Aktionen und bringt diese zusammen mit dem »nationalen Leidenskult der Po- len« (vgl. KALIS 2016: 83-95). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 97 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen Körper und Geist mit dem Ziel, Gefühle dort hervorzurufen, wo keine sind, oder diffuse Erregung zu fokussieren und ihr eine verständliche Form zu geben, oder schon entstandene Emotionen zu verändern bzw. wegzubekommen« (SCHEER 2012 nach PLAMPER 2012: 314). Abbildung 3 verdeutlicht die Blickkonstellationen der Zuschauer/innen auf den im Zentrum liegenden nackten Männerkörper. Auf einer symbolischen Ebene kann das Publikum demnach als Äquivalent für die (polnische) Gesellschaft gelesen werden, die Jung dazu aufforderte, die Freiheit und Individualität aller Menschen anzuerkennen. Am Ende der Aktion verließen die Beteiligten den Raum. Im Nachhinein wurde nicht mehr über die Performance gesprochen. Krawczyk-Janisch bezeichnete die Aktionen, die in Repassage 2, stattfanden, daher auch als »dialogue without words« (KRAWCZYK-JANISCH in JANISCH 2017: o.S.). So traten Jung und seine Akteure/innen immer wieder in einen direkten Dialog mit den Zuschauern. Dabei thematisierte er durch seine Aktionen nicht zuletzt den Kampf um die Freiheit des Menschen in einem System politischer Unterdrückung, von dem er selbst betroffen war. Jung führte diese Aktion zur Zeit der Studenten- und Arbeiterbewegung in Polen auf, und in ihrer Analyse der Solidarność-Proteste betont auch die Theaterwissenschaftlerin Berenika Szymanski ihren »theatralen Charakter« (SZYMANSKI 2012: 29) und hebt überdies die Bedeutung alternativer Kunstperformances zur Artikulation von Protest in dieser Zeit hervor (vgl. SZYMANSKI 2012: 31). Demnach kann die lineare Zeitstruktur der Performance, symbolisiert durch das Spinnen der Baumwollfäden und der Befreiung des im Zentrum liegenden Nackten am Schluss, auch in Analogie gesetzt werden mit der sich formierenden Homosexuellenbewegung in den 1980er Jahren und erscheint somit als ›Zukunftsvision‹ (vgl. SZULC 2017). Die Befreiung aus dem einengenden Geflecht am Ende der Performance stand demnach »symbolisch für den Kampf und Widerstand des Einzelnen gegen ein erstarrtes Männlichkeitsbild, das die patriarchalische und sozialistische Gesellschaft ihm wider Willen aufgezwungen hat[te]« (WOLFERT 2010: 31). Mit seinem ›inkludierenden Fädeln‹ überschritt Jung performativ zwischenmenschliche sowie zeiträumliche/raumzeitliche Grenzen. Demnach können die Fotografien dieser Aktion nicht zuletzt als ikonische Grenzüberschreitungen zwischen Homo- und Heterosexualität bzw. ›Ost‹ und ›West‹ gelesen werden. Nacktheit war ein wesentliches Element in Jungs ›plastischem Theater‹ und grenzte die (angezogenen) Zuschauer/innen deutlich von den nackten Akteuren, Jungs ›Subjekten‹, ab, denn: »Naked body implies denudation, opening up, a direct drama, without a costume or a mask« (JUNG nach KOWALSKI 2001: 32). Nacktheit in Jungs Aktionen bedeutete demnach zwar Entblößung, aber auch Empfindsamkeit und Offenheit, die wesentlich war für diese Form der ästhetischen Affizierung. So spürte der Nackte in Jungs ›plastischem Theater‹ (vgl. Abb. 4/5) unmittelbar am eigenen Körper, wenn sich die Baumwollfäden in das nackte Fleisch einschrieben. Dennoch war es gerade seine Nacktheit, die ihm seine Identität bestätigte, ihn auf sein menschliches ›So-Sein‹ zurückwarf: »It seemed […] that being naked in front of dressed IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 98 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen people confirmed their identity, gave them more satisfaction than shame. Nakedness was a primeval state of being« (KOWALSKI 2001: 32). Für Kowalski bedeutete Nacktheit in Jungs ›plastischem Theater‹ demnach ein sinnliches und kein schamvolles Erleben und die Bestätigung der eigenen (ursprünglichen) Identität. In Bezug auf die Verwundbarkeit des Körpers, fragt Butler, inwieweit Vulnerabilität als eine Form des Aktivismus interpretiert werden kann bzw. als das, was in Aktionen des Widerstands mobilisiert wird. Sie versteht Vulnerabilität jedoch nicht ausschließlich als Verletzlichkeit, sondern vielmehr als eine Art der Empfänglichkeit, eine spezifische Form des Offenseins, die auch für Jungs Aktionen wesentlich war. Dabei hebt Butler auch die Bedeutung des Beziehungsgeflechts zwischen den Körpern hervor: Vulnerabilität kann eine Funktion der Offenheit sein, das heißt des Offenseins gegenüber einer Welt, die nicht vollständig bekannt oder vorhersagbar ist. Zu den Dingen, die ein Körper kann [...] gehört, sich dem Körper eines anderen oder einer Menge von anderen zu öffnen, und folglich sind Körper keine in sich geschlossenen Entitäten. Sie sind gewissermaßen immer außer sich, erforschen oder erkunden ihre Umwelt und werden durch ihre Sinne erweitert, manchmal sogar enteignet (BUTLER 2016: 195). Die Vulnerabilität der (homosexuellen) Körper in Jungs Aktionen, ihre »Prekarität«, verstanden als »ein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Zustand« (BUTLER 2016: 80), sind demnach wesentliches Element des ästhetischen Protestes, die eine queere Affizierung der Akteure/innen evozierte. Darüber hinaus konstituierten sich durch seine Aktionen spezifische »Körperallianzen« (BUTLER 2016: 37), denn: »Es kann keinen Eintritt in die Erscheinungssphäre [...] geben [...] ohne eine kritische Allianz, in der sich die Unberücksichtigten, die Untauglichen – die Gefährdeten – verbünden, um neue Erscheinungsformen zu etablieren« (BUTLER 2016: 70). Die Funktion des Körpers für soziale Bewegungen fokussiert auch Pabst und versteht Proteste demnach als »thinking through the body« (PABST 2016: 191), um die Dichotomie zwischen ›geistigem‹ und ›expressiven‹ Protest zu nivellieren und sie in erster Linie als »bodily practices« (PABST 2016: 191) zu verstehen. Für Pabst ist der protestierende Körper dabei keine statische Entität, sondern eine Entität, die selbst von Diskursen, sozialen Institutionen und Praktiken beeinflusst wird. In einem Bourdieu’schen Sinn, so Papst, reflektiere demnach die Analyse protestierender Körper Prozesse und Veränderungen, die einen spezifischen verkörperten ›Protest Habitus‹ formen, der selbst erst bestimmte körperliche Protestpraktiken ermögliche (vgl. PABST 2016: 191). Doch wirken diese Protestpraktiken eben auch auf den Körper ein und formen denselben. In diesem Kontext können auch Jungs Aktionen als ›bodily practices‹ gelesen werden. Innerhalb der Protestforschung wird immer wieder auf die Analogie zwischen Protest und Ritual hingewiesen, insbesondere hinsichtlich der Wie- derholbarkeit und der Symbolhaftigkeit von Protesten (vgl. SZYMANSKI 2012: 157ff.). Auf Jungs Aktionen übertragen, unterlagen auch sie spezifischen Pro- testritualen, insbesondere hinsichtlich ihrer Dramaturgie, also dem Spinnen der Baumwollfäden und dem ›Akt der Befreiung‹ am Ende der Performances. Jungs Galerie Repassage 2, wo der Künstler immer wieder seine Aktionen vor IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 99 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen und mit ›seiner Community‹ aufführte und damit eine Infrastruktur der Solida- rität (vgl. BUTLER 2016: 175) etablierte, konnte sich so zu einem politischen Ort der Gegen-Öffentlichkeit konstituieren (vgl. FRASER 1990: 123). Nur mittels al- ternativer Öffentlichkeiten können sich ›Outsider‹-Gruppierungen einen politi- schen Ort erstreiten, um kommunikativ zu handeln. Für Fraser ist Öffentlichkeit demnach nicht nur ein Raum, um diskursiv Meinungen zu bilden, sondern auch ein Ort, der die Inszenierung sozialer Identitäten ermöglicht (vgl. FRASER nach SZYMANSKI 2012: 43). Dabei betont Szymanski gerade für die Zeit des politischen Umbruchs in Polen die Bedeutung direkter Aktionen »von körperlich Anwesen- den vor körperlich Anwesenden [...], da sie sich durch ihren theatralen Charak- ter von den anderen Möglichkeiten der Öffentlichkeitsherstellung abheben und über das [...] Potenzial einer politischen Subjektivierung in besonderer Weise verfügen« (SZYMANSKI 2012: 51). Politischer Protest Dass Jung mit seinen Aktionen immer wieder auch in den urbanen Raum in- tervenierte, zeigt die Aktion am Haupteingang der Warschauer Universität im Jahr 1978 (vgl. KALIS 2016: 83-97; SITKOWSKA 2001: 71). Zu Beginn des Winterse- mesters, und während eines studentischen Festivals, spann der Künstler hier rote und weiße Baumwollfäden durch den Haupteingang der Universität, die die Studierenden am Eintreten hinderten. Dabei kann die Aktion als Protestak- tion gegen die staatliche und restriktiv agierende Hochschulpolitik in dieser Zeit interpretiert werden: Abb. 6/7: Działnie na bramie Uniwersytetu Warszawskiego, 1978 Grazyna Schmidt erinnert sich an die Reaktionen der Studierenden: beautiful ... like a Cosmos ... no, like cells seen under a microscope ... we are entangled ... it’s very simple – just look at one side and disregard the others ... it’s a spider’s web! Old places, lacking dynamics, are overgrown with spider’s web. Is this our future at the Uni- versity? ... This is a political sculpture ... this sculpture shows what is usually invisible ... no, you have a choice: either the white or red ... how sharp these threads are, how strong when woven together ... there is no clear way – one is conditioned everywhere, even here, how terrible! (SCHMIDT 1978 in SITKOWSKA 2001: 70) IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 100 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen Die Zitate offenbaren dabei ein zentrales Motiv von Jungs Aktionen, nämlich die performative Sichtbarmachung des Beziehungsnetzes zwischen den Men- schen sowie zwischen Mensch und Umwelt und weisen auf den Kontrast von Freiheit (»cosmos«) und Gefangen-Sein (»cell«, »spider’s web«) im kommunis- tischen Polen hin. Historisch betrachtet kann die Aktion demnach als politi- scher Protest interpretiert werden, um gegen die staatliche Kontrolle und ein totalitäres Regime aufzubegehren, und mit den Menschen in einen direkten Di- alog zu treten. Ein Jahr später folgte eine weitere Aktion am Eingang der War- schauer Universität, bei der Jung die beiden Seiteneingänge mit Artikeln der polnischen Wochenmagazine Polityka und Kultura überzog und so den Weg ›versperrte‹ (vgl. SITKOWSKA 2001: 84). Abb. 8/9: Odpowiedzialność, 1979 Kowalski hebt im Interview mit Adam Janisch, der ihn für seinen Film Imago Krzysia (2017)4 interviewte, die politische Dimension der Aktionen hervor: Some of them were political manifests. The ›threading‹ on the university gate or his performance dedicated to Jan Palach. These were crypto-political actions within public space. I say ›crypto‹ because the codes which he used they weren’t understandable for everyone but threading up the university gate was been a political demonstration which a passer-by or a student who needed to get through it, could understand (KOWALSKI in JANISCH 2017: o.S.). Kowalski versteht Jungs Aktionen am Haupteingang der Warschau Universität als krypto-politische Demonstrationen und betont demnach ihre Funktion als ästhetische Protestformen, um auf Missstände innerhalb des kommunistischen (Hochschul-)Systems aufmerksam zu machen. So formierte sich Ende der 1970er Jahre erneut studentischer Protest gegen die staatlichen Repressionen 4 Der Film wurde im Herbst 2016 im Rahmen der Ausstellung Krzysztof Jung – przemiana in der Akademie der bildenden Künste in Warschau gezeigt. Vgl. https://asp.waw.pl/2016/10/12/wystawa- krzysztof-jung-przemiana/ [letzter Zugriff: 31.01.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 101 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen (vgl. JUNES 2015: 165ff.). Denn es waren nach wie vor die marxistischen Lehren obligatorisch und zahlreiche polnische Autoren/innen und Wissenschaftler/innen standen auf dem Index, wie etwa der spätere Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz (vgl. SZYMANSKI 2012: 271). Zudem gab es so gut wie keinen akademischen Austausch mit Universitäten aus dem ›Westen‹. Grundsätzlich wurden die Ausreisemöglichkeiten von den staatlichen Behörden erschwert. Diese zeiträumliche/raumzeitliche Begrenzung zwischen ›Ost‹ und ›West‹ manifestiert sich als Praxis der ikonischen Sichtbarmachung in den Fotografien (vgl. Abb. 6-9). Dabei machte Jung diese Grenzziehung durch sein ›Fädeln‹ zunächst sichtbar und forderte die Studierenden zu einer performativen Grenzüberschreitung auf, wenn sie den Haupteingang der Warschauer Universität überschritten. So verweisen die Fotografien nicht zuletzt auf die ›Brüchigkeit‹ der Grenze (vgl. Abb. 6/7) und ihre ›systemische Bedingtheit‹ (vgl. Abb. 8/9). Jungs Aktionen fanden rund zehn Jahre nach den Studentenprotesten vom März 1968 statt, bei denen zahlreiche Studierende und Professoren der Warschauer Universität beteiligt waren und in Folge der Repressionen ihren Studienplatz oder ihre Stelle verloren hatten und zur Emigration gezwungen wurden (vgl. JUNES 2015: 103ff.). Das gesellschaftliche Klima Ende der 1970er Jahre in der Volksrepublik Polen, also zu dem Zeitpunkt als Jung seine Aktionen aufführte, beschreibt der polnische Publizist Adam Krzeminski wie folgt: Nach 1976 herrschte in Polen eine beklemmende Atmosphäre. Das Land war wirtschaftlich stark angeschlagen [...]. Die Willkür der Repressionen nahm zu, sogar vor als Unfälle getarnten Morden an Oppositionellen schreckte der Sicherheitsdienst nicht mehr zurück [...]. Die mit der Opposition sympathisierenden Professoren an den Hochschulen bekamen keinen Paß für Auslandsreisen, aber ihre Vorlesungen im Rahmen der ›Fliegenden Universitäten‹ waren immer gut besucht. Obwohl Oppositionelle immer wieder für 48 Stunden festgenommen wurden, entstanden laufend neue Gruppen und Organisationen (KRZEMINSKI 1993: 155).5 Aufgrund des wachsenden politischen Drucks übergab Jung die Leitung seiner Galerie Ende 1979 an Roman Woźniak und unternahm in den folgenden Jahren vermehrt Reisen ins europäische Ausland, v.a. nach Stockholm, Berlin oder Pa- ris, wo er viele Freunde/innen hatte. Aus Frankreich, Deutschland oder Italien brachte Jung immer wieder auch Zeitschriften oder pornografisches Videoma- terial mit, das er in seiner Wohnung in Warschau zeigte und mit seinem Netz- werk diskutierte (vgl. RADZISEWSKI 2017: o.S.; SITKOWSKA 2001: 205).6 Im Inter- view mit mir erläuterte Krawczyk-Janisch, dass Jung einen starken Sinn für Gerechtigkeit hatte und viel darüber nachdachte, wie die herrschende Mach- telite die Individualität, Freiheit und Kreativität jedes Einzelnen unterdrückte. Für sie war Jung ein Künstler und Freund mit einem durch und durch huma- nistischen Anspruch, der nicht zuletzt in seinen Performances immer wieder den Kampf um die Freiheit und Eigenständigkeit des Menschen thematisierte. 5 Vgl. JUNES 2015: 179ff.; SZYMANSKI 2012: 59ff. 6 Vgl. RADZISZEWSKI 2017: https://www.instagram.com/p/BYEGYe3BAot/?taken-by=karolradzis- zewski, Eintrag vom 21.08.17 [letzter Zugriff: 15.01.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 102 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen Auch wenn der Künstler zum Zeitpunkt der beschriebenen Aktionen selbst kein Student mehr war, fühlte er sich der studentischen Protestkultur verbunden, die sich nach 1977 etabliert hatte (vgl. JUNES 2015: 165ff.). Demnach können seine Aktionen am Haupteingang der Warschauer Universität als politische Proteste gelesen werden. Seine Aktionen befassten sich dabei immer wieder mit den Menschen und seinen Beziehungen und thematisierten den Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit. In diesem Kontext hatten Jungs Aktionen gesell- schaftspolitische Signifikanz. Sie waren politische Manifestationen des menschlichen Lebens als solches, ein Leben, das von einem Netz zwischen- menschlicher Beziehungen ›umsponnen‹ ist (vgl. ADACH in JANISCH 2017: o.S.; KALIS 2017: 89). Zusammenfassung Krzysztof Jung leistete mit seinen semi-öffentlichen Aktionen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre in Warschau einen wesentlichen Beitrag, um ho- mosexuelle Exklusion und Begehrensweisen im kommunistischen Polen per- formativ hervorzubringen und unterstützte so durch seine Kunst die homose- xuelle Emanzipationsbewegung in Polen. Jungs ›plastisches Theater‹ folgte ei- nem humanistischem Ideal: Immer wieder trat er durch seine Aktionen in einen direkten Dialog mit seinen Mitmenschen und thematisierte den Kampf um die Freiheit des Menschen in einem System politischer Unterdrückung, von dem er selbst betroffen war. Dabei konnte gezeigt werden, dass Vulnerabilität und die Etablierung einer Infrastruktur der Solidarität (vgl. BUTLER 2016: 163ff.), we- sentliche Elemente waren, mit denen Jung seinen ästhetischen Protest artiku- lierte. Dabei forderte Jung in seinen Aktionen nicht nur die Grenzen zwischen- menschlicher Beziehungen, sondern auch zeiträumliche/raumzeitliche Grenzen zwischen ›Ost‹ und ›West‹ immer wieder heraus (vgl. KEINZ 2010: 64ff.; KRAFT 2015: 166ff.). Demnach können die Fotografien der Performances auch als iko- nische Grenzverhandlungen zwischen dem Eigenen und Anderen gelesen wer- den. Mit seiner Galerie Repassage 2 und seinen Aktionen im städtischen Raum etablierte Jung eine Gegen-Öffentlichkeit gegen die Konformität des kommu- nistischen Regimes und die herrschende Machtelite (vgl. FRASER 1990: 123). Da- bei schaffte es Jung durch sein inkludierendes ›Fädeln‹ das Publikum zu invol- vieren und zu affizieren, denn durch seine performativen Interventionen und durch die Teilhabe der Akteure/innen an diesen symbolischen Aushandlungs- prozessen, schlug Jung neue Wege ein und eröffnete neue Visionen. Seine Ak- tionen boten demnach ein neues, künstlerisch-interventionistisches Wissen an, das den Umgang mit vermeintlich ontologischem Wissen zur Disposition stellte. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 103 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen Krzysztof Wojciech Jung: Kurzbiographie7 11.07.1951: Krzysztof Wojciech Jung wird in Warschau als zweiter Sohn von Zygmunt und Wanda Jung geboren 1971-1976: Studium am Institut für Innendesign, Akademie der bildenden Künste in Warschau 1976: Verteidigung der Diplomarbeit Visual and Non-Visual Aspects of Space, Fakultät für Ausstellungsarrangement, Institut für Plastisches Design, Akademie der bildenden Künste Warschau 1978: übernimmt Galerie Repassage 1979: Straßenaktionen in Warschau; wird Mitglied der Union Polnischer Künstler; Leitung der Galerie Repassage 2 übernimmt Roman Woźniak aufgrund von Jungs Reiseplänen 1980: Gemeinsame Performance (mit Dorota Krawczyk und Wojciech Piotrowski), Kunstfestival Young Art – Łódź 80, Performance Rozmowa (Unterhaltung) (mit Dorota Krawczyk und Wojciech Piotrowski), Re’Repassage Galerie, Warschau 1981: Einführung des Kriegsrechts, Re’Repassage Galerie wird geschlossen 1982: Jung wird auf dem Bürgersteig in Warschau von der polnischen Miliz festgehalten; sie mochten seinen Ohrring nicht 1983: Teilnahme an der Messe mit Papst Johannes Paul II., Verhaftung durch die Polizei, kommt auf Kaution frei 1984-1986: Aufenthalte in West-Berlin, Italien und Paris 1986: Rückflug nach Warschau, Flughafenmitarbeiter ziehen Magazine ein, die Jung aus Paris mitbrachte Puls (1986), Aneks (1986), Zeszyty Literackie (1986). Drei Kopien von Adam Zagajewskis Gedichtsammlung To go to Lvov durfte Jung behalten 1987: Reisen nach Berlin und Stockholm; Performance Przemiana (Metamorphose) wird zweimal aufgeführt, Dziekanka Galerie, Warschau 1988-1989: Reisen nach Paris, Spanien und Berlin 1989: Einzelausstellung Paradise. Exhibition of paintings, dedicated to Kasia Markiewicz, Dziekanka Galerie, Warschau; Teilnahme an Gruppenausstellung A Pole, a German, a Russian, Technologiemuseum Warschau 1991: arbeitet als Kunstlehrer in einer Oberschule in Warschau, Reisen nach Berlin und Amsterdam 1992: Einzelausstellung A Landscape with St. Sebastian, Warschau 1993: Repassage-Retrospektive, Zachęta Galerie, Warschau 1995: Einzelausstellung Krzysztof Jung: Painting, drawing, Culture Centre Galerie, Warschau 1995-1998: Tätigkeit als Kunstpädagoge, Reisen nach Berlin 1998: Jung stirbt am 14.10.1998 in Folge eines Asthmaanfalls 7 Vgl. SITKOWSKA 2001: 183-271 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 104 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen Abb. 10: Krzysztof Jung, auf dem jüdischen Friedhof in Warschau, 1984 Literatur ARENDT, HANNAH: VITA ACTIVA oder Vom tätigen Leben. Stuttgart [W. Kohlhammer Verlag] 1960 BELJAN, MAGDALENA: Rosa Zeiten? Eine Geschichte der Subjektivierung männlicher Homosexualität in den 1970er und 1980er Jahren der BRD. Bielefeld [transcript] 2014 BREIMAIER, ANNE: Rysowanie nicią. Międzynaradowe konteksty teatru plastycznego. In: ZGIERSKI, JAKUB; KATARZYNA URBANSKA (Hrsg.): Krzysztof Jung - przemiana. Warschau [Argraf] 2016, S. 135-150 BRUNS, KARIN: Before Teddy*. Lesbische/schwule/queere Selbstentwürfe in politischer Kultur und Kunst nach 1970. In: REGENER, SUSANNE; KATRIN KÖPPERT (Hrsg.): Privat/öffentlich. Mediale Selbstentwürfe von Homosexualität. Wien [Turia + Kant] 2013, S.155-175 BUTLER, JUDITH: Das Unbehagen der Geschlechter. 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Warschau/Berlin 2017 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 109 Julia Austermann: Queere Interventionen im kommunistischen Polen Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Rozmowa (Unterhaltung), 1980 Foto: Grzegorz Kowalski, Archiv Grzegorz Kowalski, Warschau Bibl.: SITKOWSKA 2001: 95 Abb. 2/3: Performance wspólny (Gemeinsame Performance), 1980 Foto: Janusz Prajs, Archiv Krzysztof Jung, Muzeum Akademii Sztuk Pięknych w Warszawie Bibl.: SITKOWSKA 2001: 92-93 Abb. 4/5: Przemiana (Wojtek Karpińskiemu) (Metamorphose, für Wojtek Kar- piński), 1978 Foto: Grzegorz Kowalski, Archiv Krzysztof Jung, Muzeum Akademii Sztuk Pięknych w Warszawie Bibl.: SITKOWSKA 2001: 61 Abb. 6/7: Działnie na bramie Uniwersytetu Warszawskiego (Aktion am Haupt- eingang der Warschauer Universität), 1978 Foto: unbekannt, Archiv Krzysztof Jung, Muzeum Akademii Sztuk Pięknych w Warszawie Bibl.: SITKOWSKA 2001: 71 Abb. 8/9: Odpowiedzialność (Verantwortung), Aktion am Haupteingang der Warschauer Universität, 1979 Foto: unbekannt, Archiv Krzysztof Jung, Muzeum Akademii Sztuk Pięknych w Warszawie Bibl.: SITKOWSKA 2001: 84 Abb. 10: Krzysztof Jung, auf dem jüdischen Friedhof in Warschau, 1984 Foto: unbekannt, Archiv Krzysztof Jung, Muzeum Akademii Sztuk Pięknych w Warszawie Bibl.: SITKOWSKA 2001: 202 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 110 [Inhaltsverzeichnis] Sabine Engel Tizians Porträt der Laura Dianti. Aneignung und Transformation zwischen Orient und Okzident Abstract Oscillating between oriental and occidental elements Laura Dianti with a black page (c. 1523-1529) is one of the most fascinating portraits Titian ever painted. This paper analyses the influences of Ottoman culture and costume on this picture. Commissioned by Alfonso I d’Este, Duke of Ferrara, the portrait of his mistress, perhaps later on his third wife, was given as a present to Rudolph II, Holy Roman Emperor, in 1599. In the earliest inventory, written in Prague at that time, it was labeled as »A Turkish Woman with young Moor«. Numerous references to the oriental world can explain this misunderstanding. The black page himself, the first ever painted in a Renaissance portrait, as well as his clothes and those of Laura Dianti point to the Ottoman Empire. For example, her turban-like headgear with the enormous star can be considered as a clear derivation of Ottoman turbans of the sultans. Thus, in order to extinguish Laura’s humble origin as a milliner’s daughter, Titian created an oriental em- press. In 1980 Cecil Gould argued that Titian had not been interested in depict- ing different near-east ethnos, instead he merely painted the »exotic anthol- ogy«. In contrast, this paper reveals that Titian was an excellent connoisseur of the Ottoman world, knowing perfectly well how to converge oriental elements with better known western ones. Such the »foreignness« of Laura Dianti could be accepted by the members of the Ferrara court. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 111 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Es ist die exotisch anmutende Schönheit Laura Diantis, die orientalische mit okzidentalischen Elementen verbindet und das Porträt von ihr mit dem schwar- zen Pagenkind (um 1523-1529) zu einem der bestechendsten Bildnissen aus dem Œuvre Tizians macht. Ihre Wirkung wird zudem durch den Umstand ge- steigert, dass sie zwar ›nur‹ die Tochter eines ferraresischen Hutmachers war, doch zugleich die Geliebte Alfonsos I. d’Este, nun als orientalische Herrscherin inszeniert. Als Referenzsystem wurde das osmanische Reich gewählt, da der Westen fasziniert war von Reichtum und Luxus der dortigen Herrscher. Tizian glich dabei die osmanischen Versatzstücke dem kulturell Eigenen in dem Maße an, dass glaubhaft gemacht werden konnte, die Schöne käme aus einem fernen Land, ohne dem Betrachter das Gefühl der Alienität zu vermitteln. Auf diese Weise sollte eine Akzeptanz der Dianti in höfischen Kreisen ermöglicht, ihre niedrige Herkunft vergessen gemacht werden. Cecil Gould zufolge nahm Tizian es mit der Darstellung einzelner orien- talischer Ethnien nicht sonderlich genau, sondern malte lediglich eine »exoti- sche Anthologie« (exotic anthology; GOULD 1980). Demgegenüber kann im Nachfolgenden gezeigt werden, dass er sich mit dem Porträt der Laura Dianti als exzellenter Kenner der osmanischen Welt erwies. Einleitung »Eine Türkin, mit einem kleinen Mor, von Titian«, heißt es an einer Stelle des ältesten, 1599 am Prager Hof Rudolfs II. verfassten Inventars (vgl. JUSTI 1908: 175; WETHEY Bd. 2, 1971: 93; zuletzt KOOS 2010: 17).1 Gemeint war das Bildnis der Laura Dianti mit schwarzem Pagen (Abb. 1), das dem Kaiser nur wenige Monate zuvor zusammen mit anderen Gemälden von Cesare d’Este (1552- 1628), dem Enkel der Porträtierten, übersendet worden war. Schon zuvor hatte Lodovico Ariost, der lange Zeit in den Diensten der Este stand, in der Endre- daktion von 1532 seines Orlando Furioso2 auf Laura Dianti als Türkin ange- spielt, indem er sie als Gefährtin (compagna) der Barbara Turca bezeichnet und hinzugefügt hatte, es gäbe zwischen Indien und dem äußersten Maurenstrand (da l’Indo all’estrema onda maura) keine größere Güte (bontà) als in diesen beiden.3 Sollte aber der Name der Dargestellten auf Tizians Gemälde derartig schnell vergessen worden sein? 1 Im Wortlaut derselbe Eintrag findet sich auch in dem späteren Inventar von 1621 (vgl. KOOS 2010: 28, Anm. 19; MASON 1998; McGRATH 2005: 369f., Anm. 30). 2 Zu den drei Ausgaben, die noch zu Lebzeiten Ariosts publiziert wurden, vgl. zuletzt CASADEI 2016. 3 »Ecco la bella, ma più saggia e onesta. / Barbara Turca, e la compagna è Laura: / non vede il sol di più bontà di questa / coppia da l’Indo all’estrema onda maura« (CESERANI 1981: 1799f., Canto XLVI, Stanza 5). — Es bestehen unterschiedliche Ansichten darüber, ob mit Barbara Turca ein Mit- glied der ferraresischen Familie Turchi gemeint war oder die zu dem Zeitpunkt bereits verstorbene Markgräfin von Mantua, Barbara von Brandenburg, deren Gemahl Lodovico Gonzaga den Beina- men »il Turcho« führte (vgl. GOFFEN 1997: 62; KAPLAN 1982b: 10f. (mit der Rezeption des letzten Verses noch zu Lebzeiten der Dianti); KOOS 2010: 34, Anm. 62). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 112 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Laura Dianti (gest. 1573) zeichnete als Tochter eines einfachen Hutma- chers. Sie wurde nach dem Tod der Lucrezia Borgia (1480-1519), der zweiten Ehefrau Alfonsos I. d’Este (1486-1534), Herzog von Ferrara, Modena und Reg- gio, zu dessen Geliebter, einigen Zeitgenossen zufolge auch zu seiner Gemah- lin (vgl. BESTOR 2003: 637ff.; KOOS 2010: 29, Anm. 22). Als ihr Enkel Cesare man- gels legitimen Nachwuchses die Linie der Este fortführen sollte, begannen die Auseinandersetzungen um die vermeintliche Eheschließung zwischen Laura und Alfonso und die Rechtmäßigkeit der Erbfolge. Während Rudolf II. Cesare 1594 als Herzog von Ferrara anerkannte, bestritt Papst Clemens VIII. ihm dieses Recht mit dem Hinweis auf die außereheliche Geburt von Cesares Vater. Kur- zerhand wurde Ferrara 1598 als erledigtes Lehen eingezogen und mit dem Kir- chenstaat vereinigt. Die Este mussten sich nach Modena zurückziehen und blie- ben von diesem Zeitpunkt an lediglich Herren der kaiserlichen Lehen Modena und Reggio. Dennoch versuchte Cesare weiterhin, die nur ungenügend doku- mentierte und deshalb alles andere als zweifelsfreie Eheschließung seiner Großeltern zu legitimieren. Rudolf II. erhielt das Bildnis der Laura Dianti zu einem Zeitpunkt, als der Streit um die Rechtmäßigkeit des ehelichen Bundes gerade erst begonnen hatte. Offensichtlich wollte Cesare mit diesem Geschenk dem Kaiser gegen- über einerseits seine Dankbarkeit für die Zusprechung der Lehen ausdrücken, sich aber andererseits zugleich dessen zukünftigen Wohlwollens versichern, um die Legitimierung seiner Linie weiter zu befördern (vgl. JUSTI 1908: 176f.).4 Bereits Carl Justi argumentierte plausibel, dass in diesem Kontext der Name der Dianti nicht länger mit dem Bildnis Tizians in Verbindung gebracht werden sollte (vgl. dagegen BESTOR 2003: 634, Anm. 21). Denn das Porträt ent- sprach vor allem hinsichtlich der Kleidung nicht den Standards einer europäi- schen Adligen, insbesondere nicht den deutlich strenger gewordenen Mode- und Moralvorstellungen am Ausgang des 16. Jahrhunderts. Erschwerend kam hinzu, dass der Vatikan als ein Argument für die Nicht-Anerkennung der Ehe Alfonsos mit der Dianti sich genau in dieser Hinsicht geäußert hatte; sie sei auf dem Porträt in einem »Gewand einer unzüchtigen Frau« (abito di donna lasciva) gemalt worden (vgl. JUSTI 1908: 171; vgl. auch KOOS 2010: 17 u. Anm. 22; WOODS-MARSDEN 2007: 64) — und gerade die vermeintliche »donna lasciva«5 galt es, für die Nachwelt unter allen Umständen vergessen zu machen (vgl. JUSTI 1908: 177f.). 4 Zur weiteren Entwicklung dieses Streits vgl. BESTOR 2003: 628-633. 5 Zeitgenossen betonten demgegenüber die Tugendhaftigkeit der Dianti (vgl. VASARI 1881: 435, Anm. 2). — Eine außereheliche Beziehung reichte bereits aus, um als »donna lasciva« bezeichnet zu werden. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 113 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Abb. 1: Tizian: Porträt der Laura Dianti, um 1523-1529, Leinwand, 119 x 93 cm, Kreuzlingen, Sammlung Kisters Quelle: TAGLIAFERRO/AIKEMA 2009: 401 Untersucht werden soll im Folgenden, welche Bildelemente konkret dazu beigetragen haben, das Gemälde unter dem Titel »Eine Türkin, mit einem kleinen Mor« zu inventarisieren, welche osmanischen oder allgemein orienta- lischen Merkmale übernommen, welche leicht bis stark transformiert oder der freien Phantasie des Malers geschuldet sind. Übernahmen und Transformatio- nen wurden offensichtlich zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildes, um 1523 bis 1529,6 so gewählt, dass sie auch am Ende des 16. Jahrhunderts noch für westliche Rezipienten wie den Hof Rudolfs II. einfach lesbar waren. Dort war man allein durch die Türkenkriege, insbesondere durch den sogenannten ›Lan- gen Türkenkrieg‹, über das Aussehen der Osmanen bestens informiert (vgl. GA- LAVICS 1986: 162-164; MESSLING 2015). 6 Zur Datierung vgl. WOODS-MARSDEN 2007: 53f. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 114 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Schließlich kann anhand von Kopien des späten 16. und des 17. Jahr- hunderts sowie der Rezeption insgesamt gezeigt werden, wie stark das Bildnis der Dianti in seiner Alterität für die Darstellung von biblischen Figuren oder Heiligen prägend war. Die westliche Inszenierung einer orientalischen Herrscherin Dass es nicht der Intention Tizians, vor allem der seines Auftraggebers Al- fonsos I. d’Este entsprochen haben mochte, Laura Dianti als bloße »Türkin« darzustellen, liegt auf der Hand. Wobei allerdings Cesare Vecellio (c. 1521- 1601) in seinem erstmals 1590 erschienenen Kostümbuch wissen lässt, dass alles, was türkische Frauen täten, so etwas wie Anmut (gratia) und Größe (grandezza) besäße,7 wodurch er Zeugnis davon ablegte, welche (erotische) Faszination Türkinnen auf die westliche Welt ausüben konnten. Eher ist zu vermuten, dass der Herzog von Ferrara seine Mätresse vor allem nobilitieren wollte und sie deshalb als orientalische Herrscherin insze- nieren ließ (vgl. KAPLAN 2010: 109; KOOS 2010: 24; WOODS-MARSDEN 2007: 64). Dabei wurde das Orientalisch-Fremde, hier auf seine osmanische Provenienz untersucht, dem kulturell Eigenen in dem Maße angeglichen, dass glaubhaft gemacht werden konnte, die Schöne käme aus einem fernen, unbestimmten Land, ohne dem Betrachter das Gefühl der Alienität zu vermitteln. Auf diese Weise sollte eine Akzeptanz der Dargestellten in höfischen Kreisen ermöglicht, die niedrige Herkunft der Laura Dianti als Hutmachertochter vergessen werden. »… mit einem kleinen Mor« Die Vielzahl an Kopien, Varianten und Nachstichen zeugt von der enorm gro- ßen Wertschätzung des Gemäldes, die allein durch Vasari belegt ist. »Opera stupenda« nannte er bekanntlich das Werk (VASARI 1881: 435). Majestätisch, in einem voluminösen azuritfarbenen Kleid mit gold-gelbem, semi-transparen- tem Schal zeigt sich Laura diagonal zur Bildfläche stehend dem Betrachter zu- gewandt, den sie mit ihrem leichten, sinnierenden Silberblick jedoch nicht di- rekt anschaut, gerade so, wie es sich für eine tugendhafte Frau geziemte (vgl. ORSI LANDINI 2013: 51 u. Anm. 3).8 Mit der Rechten rafft sie ihr Kleid, die Linke hat sie liebevoll auf die Schulter eines afrikanischen Pagenkindes gelegt. Ver- trauensvoll blickt es zu ihr auf, als würde es Anweisungen erwarten, was mit den Handschuhen geschehen soll, die sich in seiner vorgestreckten Hand be- finden. 7 VECELLIO 1590: 389r: »A me pare, che tutto quello, che si fa dalle Donne Turche, habbi non so che di gratia, e grandezza«. — Nicola Suthor (2004: 58) beschrieb grazia als »Kategorie der unermeßli- chen Schönheit«. 8 Andere Darstellungen zu diesem Blick finden sich in: WOODS-MARSDEN 2007: 61. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 115 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Es wurde bereits angenommen, dass es sich hier um ein Doppelporträt handelt und dass das Kind Mitglied des ferraresischen Hofs war, von dem man weiß, dass eine ganze Familie von Äthiopiern dort lebte (vgl. KAPLAN 1982b: 10). Seine Gesichtszüge sind fein herausgearbeitet im Gegensatz zu den späteren schwarzen Helfern der Judith (um 1570, Detroit, Institute of Arts) und den zeit- gleichen Salomé-Varianten (New York, Sammlung Feigen & Co.; Tokio, The National Museum of Western Art) von ihm und seiner Werkstatt (vgl. KAPLAN 2010: 130; KAPLAN 1982b: 13f.; vgl. auch DONATI 2016: 107-143; NITTI/CAR- RATÙ/COSTANTINI 2006: 216, Kat.Nr.60; TAGLIAFERRO/AIKEMA 2009: 262ff.; WETHEY Bd. 1, 1969: 95, Kat.Nr. 44).9 Vermutlich handelt es sich bei dem Pagenkind um einen Knaben.10 Zwar ist die Vorliebe der Este für schwarze Sklavinnen bekannt (vgl. KAPLAN 2010: 93ff., 102, 107; WOODS-MARSDEN 2007: 60), doch existieren andererseits Zuwendungen der Dianti, die sie an ihrem Lebensende einem äl- teren Afrikaner zukommen ließ. In ihm meint Paul Kaplan das von Tizian ge- malte Kind erkennen zu können (vgl. KAPLAN 2010: 109f.; vgl. auch KOOS 2010, Anm. 29). Wichtiger ist allerdings die Tatsache, dass auf diesem Bild erstmals in der Porträtmalerei ein schwarzer Page auftaucht (vgl. KAPLAN 2010: 107f.). Dies dürfte nicht allein dem Umstand geschuldet sein, dass es sich um eine reale Person im Umfeld Lauras handelte. Vor allem diente er der Nobilitierung der Geliebten Alfonsos. Denn sie wird durch ihn auf eine Stufe mit den beiden ers- ten Ehefrauen Alfonsos sowie seiner Schwester Isabella d’Este, Markgräfin von Mantua, gestellt, die zwar niemals zusammen mit einem schwarzen Sklaven oder Sklavin porträtiert wurden, deren Vorliebe für diese aber belegt ist (vgl. KAPLAN 2010: 109; WOODS-MARSDEN 2007: 60).11 Außerdem war es Kaplan zufolge an italienischen Höfen deshalb Mode, schwarze Leibeigene zu besitzen, weil die Auffassung vorherrschte, diese Hautfarbe zeichne Sklaven der obersten Schichten der osmanischen Gesellschaft aus. Ihr Reichtum und Luxus galten als legendär (vgl. KAPLAN 2011: 52). Zudem ist die große Faszination der Osma- nen auf Isabella und ihren Hof in Mantua gut belegt ebenso wie die Kontakte zur Hohen Pforte (vgl. BOURNE 2011; SOGLIANI 2015: insbes. 67-74). Die Kleidung des Pagen ist bislang nicht genauer untersucht worden.12 Zieht man jedoch Cesare Vecellios späteres Kostümbuch heran, finden sich deutliche Übereinstimmungen mit seiner Beschreibung des Servo Turco, des türkischen Sklaven oder Dieners,13 wobei allerdings Vecellios Text nicht in allen 9 Eine Ausnahme bildet der Kopf des schwarzen Pagen, ebenfalls wohl ein Porträt, in Tizians Bildnis des Fabrizio Salvaresio (1558) in Wien (vgl. DEITERS/GUSTAVSON 2008; KAPLAN 2010: 126-128). Aller- dings ist der Knabe vom rechten Bildrand stark angeschnitten, der Figur des Schwarzen insgesamt kaum Raum gegeben, sodass im Gegensatz zu der gütigen Handhaltung der Dianti die Dominanz des Salvaresio gegenüber dem Pagen noch potenziert wird. 10 Zur Möglichkeit, dass es sich dennoch um ein Mädchen handelt, vgl. BESTOR 2003: 646-652. 11 Zum häufigen Vorkommen von afrikanischen Sklaven in Italien vgl. KAPLAN 1985b: 129-132; WOODS-MARSDEN 2007: 59f. 12 Benannt wurde vor allem die brillante Farbgebung. Kaplan (2010: 109) vermutete aufgrund der Streifen, dass es sich vielleicht um das Kleid eines buffone handeln könne. Vgl. dagegen bereits ENGEL 2015. 13 Für diesen Hinweis danke ich Wencke Deiters. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 116 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Details mit der beigegebenen Illustration übereinstimmt und deshalb jener hier den Vorrang haben soll. Vecellio nennt das Überkleid des Servo Turco »aus grobem Tuch« bestehend, »ähnlich einem weiten, gestreiften Mantel« (di lana grossa simile alle schiavine vergate; VECELLIO 1590: 406v). Eben solch einen Mantel trägt der neben Christus stehende Schwarze mit Turban auf Marco Mar- ziales Mahl zu Emmaus (1506; Abb. 2) aus der Accademia in Venedig (vgl. auch KAPLAN 2010: 99; 1982, Abb. 5; MOSCHINI MARCONI 1955: 143, Kat.Nr. 153). Abb. 2: Marco Marziale: Mahl zu Emmaus, 1506, Holz, 122 x 141 cm, Venedig, Gallerie dell’ Accademia; Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Marco_Marziale#/media/File:Accademia_- _La_Cena_in_Emaus_By_Marco_Maziale_Cat.76.jpg [letzter Zugriff: 06.05.2018] Doch allein die Textur des gestreiften Stoffes auf Tizians Porträt ist deut- lich feiner als die von Vecellio beschriebene und die von Marziale gemalte. Es könnte sich um Seide oder Atlas handeln, woraus auch die darunter hervortre- tenden hellen Ärmel zu bestehen scheinen. Sie erinnern wiederum an Vecellio, wenn er über die türkischen Diener schreibt, dass »sie in Hemdsärmeln herum- gehen« (vanno in maniche di camicia; VECELLIO 1590: 406v). In der Veredelung der Textilien lag eine Möglichkeit, die Kleidung des Pagen den höfischen Sehgewohnheiten in Ferrara anzupassen. Zusätzlich wur- den die Zuschnitte transformiert. Die kragenlose camicia der Türken erhielt eine eng am Hals des Kindes anliegende, in sich gemusterte Borte nach euro- päischem Vorbild.14 Den von Vecellio beschriebenen gestreiften, deckenartigen Mantel, genäht aus geraden Stoffbahnen, formte Tizian zu einem am Körper anliegenden, in der Taille gebundenen Kaftan15 mit kurzen Ärmeln um, jedoch 14 Vgl. etwa Lorenzo Lottos um 1526 entstandenes Porträt eines jungen Mannes, Berlin, Gemälde- galerie (vgl. SCHLEIER 2001). 15 Der Kaftan entwickelte sich »in Kombination mit dem Turban […] zu einem vestimentären Wie- dererkennungszeichen der osmanischen Kultur schlechthin« (VITZTHUM 2008: 132). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 117 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti erneut verwestlicht. Denn man kann erkennen, dass das Gewand am Aus- schnitt gerafft ist, sich die Streifen von dort aus den Körperformen entlang fort- setzen, als sei es mit Raglanärmeln gearbeitet.16 Dies ist für türkische Kaftane vollkommen unbekannt, die aus einfachen geometrischen Stoffstücken, ohne Kräuselung am Hals sowie ohne Aussparung für das Armloch im Vorder- und Rückenteil mit gerade angesetzten Ärmeln genäht sind (vgl. ORSI LANDINI 1998b; VITZTHUM 1998: 132-139). Da osmanische Kaftane des 16. Jahrhunderts zumeist mit großen Mus- tern versehen waren (vgl. ERDUMAN-ÇALIȘ 2008a: 140-159; vgl. auch unten Abb. 3), weisen die hier dargestellten Streifen in mamlukischer Manier auf die afri- kanische Herkunft des Kindes hin.17 Die Osmanen eroberten 1517 das Mamlu- kische Reich, doch die Präsenz von schwarzen Sklaven in Venedig hatte sich bereits seit den 1490er Jahren durch die Entdeckungsfahrten der Portugiesen entlang der westafrikanischen Küste verstärkt (vgl. KAPLAN 2010: 93ff.). Das grüne, golddurchwirkte Tuch, das als Bauchschärpe um die Taille des Kindes geschlungen ist, entspricht wiederum der osmanischen Mode (vgl. VITZTHUM 2008: 136), wobei hier aber der Bereich des Servo Turco endgültig verlassen wird. Denn nur wohlhabende Männer wie Frauen, deren Kleidung sich im Übrigen bis auf die Kopfbedeckung kaum unterschied,18 konnten es sich leisten, solche Stoffe zu tragen. Vecellio schrieb, sie seien, wie von Tizian an- gedeutet, »aus Seide oder feinster Baumwolle, auf maurische Art gewebt« (di seta, ò bombace finissima, tessute alla Moresca; VECELLIO 1590: 407v), »gold- durchwirkt und von wunderbarer Schönheit« (ripiene d’oro, et di maravigliosa vaghezza; VECELLIO 1590: 389r).19 Den 1567 erstmals in Lyon erschienenen Na- vigations et Peregrinations Orientales des im Dienst des französischen Königs Henris II. stehenden Nicolas de Nicolay (1517-1583) ist zudem eine Illustration beigefügt, die eine türkische Frau mit ihrer Tochter und ihrem Sohn zeigt (Abb. 3).20 Beide Kinder sind mit einer ebensolchen Schärpe gegürtet. Eine spezielle Mode für letztere, die sich von der der Erwachsenen substantiell unterschied, existierte nicht (vgl. ORSI LANDINI 2002: 143). 16 Vgl. dagegen etwa die europäische Livree des Pagen in Tizians Porträt des Fabrizio Salvaresio (wie Anm. 9). Andere Beispiele, vor allem von Bonifacio de’ Pitati aus den 1540er Jahren, finden sich in KAPLAN 1982b. Vgl. auch KAPLAN 2010: 126-129. 17 Michel Pastoureau (1995: 77) zufolge sind in der europäischen Malerei schwarze Figuren und gestreifte Stoffe »untrennbar miteinander verbunden«. Zum Thema Streifen in der Kleidung vgl. auch PERI 2006b: 373ff. u. Anm. 29. 18 Dazu bereits VECELLIO 1590: 407v: »[…] le donne Turche vanno vestite ordinariamente come gli huomini, eccetto il capo […]« (gemeinhin sind türkische Frauen wie die Männer gekleidet, ausge- nommen der Kopfbedeckungen, Übersetzung S.E.). Vgl. auch ERDUMAN-ÇALIȘ 2008b: 19; JIROUSEK 1995: 24; VITZTHUM 2008: 132. 19 Zwar sind beide Zitate Vecellios seinen Beschreibungen türkischer Frauen entnommen, doch besitzen sie ebenfalls für die männliche Kleidung Gültigkeit (vgl. Anm. 18). Im Osmanischen Reich war die Frage der Kleidung grundsätzliche durch Gesetze reguliert. Nur die muslimische Ober- schicht durfte reiche teure Stoffe benutzen (vgl. SCHUBERT 1993: 409-424). 20 Zu dem Buch und seinen zahlreichen Übersetzungen vgl. HENSCHEL 2005: 165-237. Zu dessen großem Einfluss vgl. BORN 2015b. Zu den Illustrationen vgl. ILG 2008. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 118 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Abb. 3 Léon Davant: Türkin mit ihren Kindern. Radierung in Nicolas de Nicolay: Les quatre premiers Livres des Navigations et Peregrinations Orientales […]. Lyons 1567. Tafel nach S. 75 Quelle: ILG 2008: 305, Abb. 51 Cecil Gould zufolge nahm Tizian, im Gegensatz zu Carpaccio oder Cima da Conegliano, es mit der Darstellung einzelner Ethnien nicht sonderlich ge- nau: »[…] the oriental element in Titian meant no more to him, and no less, than the outward manifestations of Antiquity and the other constituents of what we may call the exotic anthology« (GOULD 1980: 235). Mit dem Gewand des schwarzen Pagen aber erwies sich Tizian, vielleicht bedingt durch seine Berater oder seinen Auftraggeber,21 als ein genauer Kenner der osmanischen Mode, obgleich er sie nach westlich-höfischem Geschmack »verfremdete«. An dieser Stelle sei ein kurzer Exkurs zu einem weiteren möglichen Bild- nis der Laura Dianti von dem ferraresischen Hofmaler Alfonsos d’Este, Dosso Dossi,22 erlaubt. Die für mamlukische Gewänder so typischen Streifen (vgl. ORSI LANDINI 1998b: Abb. 36),23 auf die Vecellio bei seinem Servo Turco anspielte, begegnen, leicht abgewandelt und weniger bunt als bei Marziale dargestellt, auch in Parmigianinos Schiava Turca (um 1531-1534; Abb. 4) aus der Galleria 21 Zu der Beziehung Tizians und Ariosts, die sich in Ferrara ausgetauscht haben dürften, vgl. zuletzt FALOMIR 2016. 22 Dosso Dossi war einer der Zeugen der Eheschließung zwischen Alfonso und Laura (vgl. zuletzt KOOS 2010: 29, Anm. 22). 23 Dies wurde bereits von Cesare Vecellio und den entsprechenden Illustrationen wiedergegeben: Donna del Cairo (VECELLIO 1590: 482r) sowie Christiano Indiano nel Cairo (VECELLIO 1590: 484r). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 119 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Nazionale di Parma wieder, in der aller Wahrscheinlichkeit nach die Dichterin Veronica Gambara repräsentiert ist (vgl. NG 2014: 40). Abb. 4: Parmigianino: Schiava Turca, um 1531-1534, Holz, 68 x 53 cm, Galleria Nazionale di Parma Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a1/Parmigianino_-_La_schi- ava_turca.jpg [letzter Zugriff: 06.05.2018] Sie trägt einen zweifarbigen, unterschiedlich breite Streifen aufweisenden Blu- seneinsatz über ihrem Dekolleté, der in dieser Art der Musterung in den 1530er Jahren selten gewesen sein dürfte. Vielleicht wurde sie auch deshalb zu Beginn des 18. Jahrhunderts als »Türkische Sklavin« (Schiava Turca) betitelt. Vor allem wird dies aber aufgrund der in ihren rechten Ärmel eingearbeiteten goldenen Ketten geschehen sein24 sowie aufgrund ihres damals modischen Kopfputzes, einem dem Turban ähnlichen balzo (vgl. GNIGNERA 2010: 15-33). Seine Form galt bislang als »äußerst italienisch« (italianissimo). Neuerdings wurde eine Ab- stammung aus dem Fernen Osten vorgeschlagen (vgl. GNIGNERA 2010: 26; LU- RATI 2006: 362). Plausibler bleibt allerdings der Vorschlag von Charlotte Jirousek, dass der balzo, bzw. die unten genannte capigliara oder zazara, letzt- lich von muslimischen Turbanen beeinflusst wurde (vgl. JIROUSEK 1995: 26f.). Eine Titulierung als »Schiava Turca« blieb der Dargestellten auf Dosso Dossis heute in Chantilly aufbewahrtem Portrait de femme (um 1530; Abb. 5; zuletzt: DELDICQUE 2017) erspart, die eine von Isabella d’Este kreierte Weiterent- wicklung des turbanähnlichen balzo,25 eine ausladendere, teilweise aus Haar bestehende capigliara oder zazara (vgl. DELDICQUE 2017; GNIGNERA 2010: 51-55; 24 Aimee Ng (2014: 13) nennt weitere Kleidungsdetails, die 1704 bei der Katalogisierung der Ge- mälde in den Uffizien vermutlich dazu geführt haben, dass das Bild als »Schiava turca« betitelt wurde. 25 Zum balzo in der ferraresischen Kunst vgl. BRIDGEMAN 1998: 189. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 120 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti LEVI PISETZKY 1966: 90f.) trägt und diesmal ein gleichmäßig zweifarbig gestreif- tes Tuch am hinteren Ausschnitt eingesteckt hat. 1846, als man das Bild noch Giulio Romano zuschrieb, wurde sie als »Sibylle« bezeichnet (QUARANTA 1846: 265, Kat.Nr. 52)26, was einmal mehr belegt, dass an den Orient gemahnende oder durch ihn inspirierte Kleidungsstücke und Stoffmuster ebenfalls zur Kenn- zeichnung antiker, mythologischer und biblischer Figuren dienten.27 Abb. 5: Dosso Dossi: Portrait de femme, um 1530, Leinwand, 82 x 67 cm, Musée Condé, Chantilly Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/be/Dosso_Dossi_013.JPG [letzter Zu- griff 06.05.2018] Alessandro Ballarin meinte, aufgrund der Ähnlichkeit der Porträtierten auf Tizians und Dossos Gemälden in diesem ein weiteres Bildnis der Dianti zu erkennen (vgl. BALLARIN 1995: 106f.).28 Wenn das wirklich der Fall sein sollte, gäbe es einen nochmaligen Hinweis darauf, auf welche Art und Weise Alfonso seine Mätresse nobilitiert sehen wollte. Die capigliara und das angekettete Fell eines Wiesels (zibellino da mano), letzteres sowohl modisches Accessoire als auch Zeichen der weiblichen Keuschheit,29 entsprachen den zeitgenössischen Darstellungsnormen von Frauen. Darauf, dass die Geliebte aber aus einem fer- nen östlichen Land stammen sollte, könnte das gestreifte Tuch hingedeutet 26 Freundliche Mitteilung von Mathieu Deldicque am 15.2.2018. 27 Ein ebensolches Tuch findet sich auf einer vielleicht von Nadalino da Murano gemalten Lucrezia- Darstellung aus dem Kunsthistorischen Museum Wien, die in die 1530er Jahre zu datieren sein dürfte. Allerdings müsste das Bild zunächst von seinen Übermalungen befreit und gründlich un- tersucht werden, um das bestätigen zu können (vgl. WETHEY Bd. 3, 1975: 215, Kat.Nr. X-24, Abb. 233). Ein ganz ähnliches Tuch ist auf Tizians Venus mit dem Spiegel (um 1555) in der National Gallery of Art, Washington, zu sehen (vgl. GOFFEN 1997: 133-139; WETHEY Bd. 3, 1975: 200f., Kat.Nr. 51, Abb. 127). 28 Darüber hinaus nannte Vincenzo Farinella (2014: 676-713) mythologische Gemälde, die er mit der Liebschaft Alfonsos und der Dianti in Verbindung brachte. 29 Es handelt sich nicht um ein lebendiges Wiesel, wie bislang in der Forschungsliteratur angenom- men wurde. Dies ist an der Art der Befestigung des Fells mit der Kette deutlich zu erkennen. Zum zibellino da mano vgl. LEVI PISETZKY 1966: 101-105; RIGON 2010: 70-80; VAHLAND 2011: 115ff. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 121 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti haben, das Dosso dergestalt meines Wissens nach allein auf diesem Bildnis wiedergab. »Eine Türkin…« Lassen sich in der Kleidung von Tizians schwarzem Pagen recht genau Aneig- nungen und Transformationen der osmanischen Mode bestimmen, ist dies bei der Gewandung der Dianti deutlich schwieriger. Auch wird das Wissen darum, wie türkische Frauen aus den obersten Schichten tatsächlich aussahen, zum Zeitpunkt der Entstehung des Porträts nur sehr rudimentär gewesen sein. Dass sie sich niemals in der Öffentlichkeit zeigten, dürfte umso mehr die Phantasie der westlichen Welt beflügelt haben (vgl. GUÉRIN DALLE MESE 1998: 99; KURTULUȘ 2008: 195).30 Abb. 6: Gentile Bellini: Sitzende Türkin, 1479-1481, Federzeichnung, 215 x 176 cm, The Britisch Museum, London Quelle: CAMPBELL/CHONG 2005: 103 Das voluminöse blaue Gewand der Dianti, mit den weiten, gebauschten Ärmeln,31 das in seiner Stofffülle, besonders aber durch die aufgesetzten gelb- lichen Diamanten, das Este-Emblem (vgl. WOODS-MARSDEN 2007: 58), von 30 Bereits Luigi Bassano (1545: 17v), der in den 1530er Jahren Istanbul besuchte, ließ wissen: »La Sultana mai non si lascia vedere […] et se va fuori, va di notte in Cocchio serrata, così come so- gliono tutte l’altre moglie de’ grandi in Turchia.« (Die Frau des Sultans lässt sich niemals sehen [...] und wenn sie ausgeht, ist das bei Nacht in einer geschlossenen Kutsche, wie es auch die anderen Frauen der Großen in der Türkei machen, Übersetzung S.E..).Vgl. auch GUÉRIN DALLE MESE 1998: 99. Zu Luigi Bassano vgl. BABINGER 1965. 31 Zum großen Wert von Kleiderärmeln vgl. KOOS 2010: 29, Anm. 24 (mit weiterführender Literatur). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 122 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti extremen Reichtum zeugt, entspricht auf den ersten Blick so gar nicht dem, was unter osmanischen Kostümen zu verstehen ist. Gentile Bellinis während seines Istanbulaufenthalts entstandene Zeichnung einer Sitzenden Türkin (1479-1481, Abb. 6; vgl. CAMPBELL/CHONG 2005: 98-105, Kat.Nr. 26), desgleichen zeitgenössi- sche Miniaturen32 weisen deutlich, vor allem an den Armen, enger anliegende Kleidung auf, es sei denn, die Frauen trügen einen Mantel (vgl. ORSI LANDINI 1998b: 126. vgl. auch BORN 2015a; WILSON 2007: 120, Abb. 14).33 Außerdem wi- derspricht der etwas über der Taille angesetzte, gekräuselte Rock Lauras einem glatt geschnittenen Kaftan. Hingegen geht das in Hüfthöhe zur Schleife gebundene, golddurch- wirkte Tuch, das in seiner Machart der grünen Bauchschärpe des Kindes ähnelt, auf osmanische Tracht zurück (vgl. oben u. Anm. 18 u. 19; vgl. auch McGRATH 2002: 94, Anm. 76). Zudem darf man sicherlich die lediglich halblangen Ärmel — sie reichen nur knapp bis über den Ellenbogen — und die daraus weich und unkontrolliert üppig hervorquellende weiße camicia34 als verwestlichte Deri- vate eines kurzärmeligen Kaftans mit seinem die Arme vollständig bedecken- den Untergewand werten, deutlicher bei dem kleinen Pagen zu erkennen.35 Befördert wird durch die Sichtbarkeit der camicia,36 sowohl an den Ar- men als auch über dem Busen, wo sie zusätzlich noch geöffnet erscheint, ein erotisches Moment (vgl. zuletzt KOOS 2010: 19, 24 u. Anm. 32). Dies ist aber weder ausreichend, die Dargestellte in Zusammenhang mit Türkinnen, noch mit Kurtisanen zu bringen. Allerdings wird durch das Weiß der Bluse die oliv- farbene Haut am Dekolleté der Dianti besonders hervorgehoben, die sich dem damaligen Schönheitsideal der Europäerinnen von Blässe diametral entgegen- stellte (vgl. JUSTI 1908: 178; KOOS 2010: 19). Tizian wusste im Inkarnat genau zu unterscheiden (vgl. dazu auch BOHDE 2002; SUTHOR 2004), wie spätestens die 2013 von Giovanni C. F. Villa kuratierte Ausstellung in den römischen Scuderie deutlich machte. Die hell geschminkte, dadurch beinah porzellanhaft wirkende Bella (um 1536) aus dem Palazzo Pitti 32 Hier sei nur eine Miniatur herausgegriffen: Nakkas Osman, Queen Qaydafe showing Alexander the Great his own Portrait, um 1560-1570, Istanbul, Topkapı Museum, in: CAMPBELL/CHONG 2005: 96f., Abb. 37. 33 Zur Schwierigkeit, weibliche Kleidung im 15. und 16. Jahrhundert im osmanischen Reich zu er- forschen, vgl. FAROQHI 2004b: 81. 34 Die zeitgenössische weibliche Mode war entweder durch kurze Puffärmel oder leicht längere voluminöse Ärmel geprägt, wie sie auf Tizians Amor Sacro e amor profano (um 1514-1515; Rom, Galleria Borghese), entsprechenden Bildern von Palma il Vecchio sowie anderen Malern zu sehen sind (vgl. BRIDGEMAN 1998; CAPELLA 2015: 21, Abb.7; 27, Abb.10; 42, Abb. 30; 43, Abb. 31). Zudem wurden die Ärmel in der Regel eng anliegend mit anderen farbigen Stoffen bis zu den Handgelen- ken fortgeführt, sodass die camicia nicht oder nur kaum zu sehen war. Es existieren allerdings auch Gemälde mit Beispielen der westlichen Frauenkleidung, die Parallelen zu derjenigen der Dianti aufzeigen. Jedoch sind auf diesen die Ärmel der camicia deutlich geordneter und straffer gegeben (vgl. BRIDGEMAN 1998: 180, Abb. 3; 191, Abb. 17; WOODS-MARSDEN 2007: 53 u. Anm. 9). Weich flie- ßende Stoffe, denen eine gewisse Rigidität fehlte und die den Körper im Gegensatz zu westlicher Kleidung nicht einengten, wurden als typisch orientalisch charakterisiert (vgl. ORSI LANDINI 1998a: 15f.). Dadurch wird wiederum der Eindruck bestätigt, dass Tizian ein Kleid für die Dianti wählte, das zwischen Osmanischem und Westlichem oszillierte. 35 Zur Parallelität der osmanischen Kleidung beider Geschlechter sowie die der Kinder vgl. oben und Anm. 18 u. 19. 36 Umfassend zur camicia und ihrer weitreichenden Symbolik vgl. ORSI LANDINI 2013: 52. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 123 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti war dort in unmittelbarer Nähe zur der, im großen Kontrast zu ihr, in ihrem ganz natürlichen Teint belassenen Maddalena (um 1531-1535), ebenfalls aus Florenz, zu sehen (vgl. BINOTTO 2013a; 2013b). Demgegenüber stellte Marianne Koos bei der Dianti eine eigenartige Zweiteilung der Hautfarbe fest. Entspricht das Gesicht durchaus westlichen Standards, hell geschminkt mit nachgezogenen, schmal gezupften Augen- brauen sowie rot gefärbten Lippen und Wangen, zeigen sich Dekolleté und Hände deutlich olivfarben (vgl. KOOS 2010: 18f.). Das partiell dunklere Inkarnat ist auf dem zwischen 1616 und 1629 entstandenen Kupferstich von Aegidius Sadeler (1570-1629) noch verstärkt zu finden,37 wo es nicht nur der Verschat- tung geschuldet zu sein scheint, sondern nun ebenfalls auf das Antlitz der Porträtierten übergegangen ist (Abb. 7). Abb. 7: Aegidius Sadeler: o.T. [Porträt der Laura Dianti], Kupferstich, 355 x 255 mm, Kupferstichkabinett Berlin, Inv.Nr. 729-42 Quelle: © Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin Koos zufolge wurde die Geliebte Alfonsos dadurch »subtil mit dem kleinen schwarzen Pagen an ihrer Seite« (KOOS 2010: 24) verbunden. Darüber hinaus 37 Datiert wurde der Kupferstich von LIMOUZE 1990: 293. Vgl. auch McGRATH 2002: 92; WETHEY Bd. 2, 1971: 94. Sadeler wurde 1597 zum Hofkupferstecher Kaiser Rudolfs II. ernannt. Die Dedikation stammt von Marco Sadeler, der beim Tod des Aegidius 1529 dessen Kupferplatten erbte (vgl. LI- MOUZE 1990: 351ff.). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 124 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti wird sie jedoch wiederum als eine Fremde aus einem fernen Land ausgezeich- net.38 Diese heute kaum mehr nachvollziehbaren Hinweise auf Alterität müs- sen noch in der Mitte des 17. Jahrhunderts deutlich lesbar gewesen sein. So wählte Jan Boeckhorst das Porträt der Dianti, das er vermutlich allein durch Sadelers Nachstich kannte, als Vorlage zu seiner Personifikation der Afrika aus der Serie der vier Kontinente (vgl. McGRATH 2012: 18f. u. Abb. 19; McGRATH 2005: 357, 363-366 u. Abb. 3). Wiedergegeben ist eine schwarze Sklavin, deren Ketten in der rechten Ecke des Bildes zu sehen sind. Wichtiger in diesem Kontext ist aber, dass das um die Hüften gebundene Tuch in einer großen Schleife endet, ähnlich wie auf dem Gemälde Tizians. Desgleichen ist der Kopfschmuck, der auffällige, große Stern, auf den noch zu sprechen kommen sein wird, als exo- tisches Element übernommen worden. Nicht zu vergessen sind die für eine Schwarze typischen Ohrringe, hier Perlenohrringe. Als das Bildnis der Dianti entstand, waren sie noch eine Seltenheit für westliche Frauen und zogen sich den entschiedenen Tadel des venezianischen Chronisten Marin Sanudo zu, sie seien »nach der Art schwarzer Frauen« (al costume di more)39 (vgl. KAPLAN 2010: 109; BRIDGEMAN 1998: 195. Vgl. auch BESTOR 2003: 644f.). Dass aber auch für Zeitgenossen das Gewand Lauras in seiner bloßen Form als vollkommen adäquat für schwarze Sklavinnen oder Dienerinnen er- achtet wurde, legt Lorenzo Lottos nur kurze Zeit später entstandenes Altarbild der Santa Lucia (1532; Abb. 8) aus der Pinacoteca Civica von Jesi nahe.40 38 So gab VECELLIO (1590: 484r) etwa bei seinem Christiano Indiano nel Cairo an: »Sono di carna- gione olivastra; […].« (Sie haben ein olivfarbenes Inkarnat; […], Übersetzung S.E.). 39 Das vollständige Zitat lautet (SANUDO 1970: 425; 6. Dezember 1525): »Et non voio restar da scriver una cosa notanda. Viti a una donna, fo fia di sier Filippo Sanudo moier di sier Zuan Foscari qu. sier Agustin, la qual al costume di more si ha fatto forar le rechie, e con uno aneleto d’oro sotil portava una perla grossa per banda; cossa che lei sola porta, et mi dispiaque assai.« (Auch möchte ich nicht zögern, eine bemerkenswerte Sache zu schreiben. [...], sie ist die Tochter von sier Filippo Sanudo, Ehefrau von sier Zuan Foscari qu. sier Agustin, die sich nach Art der schwarzen Frauen die Ohren hat durchstechen lassen mit einem dünnen goldenen Ring, an dem sie eine große Perle trägt. Sie allein trägt dies, und es missfällt mir sehr, Übersetzung S.E.). — Zur Schwierigkeit einer Definition des Wortes »Moor [deutsch: Dunkelhäutige/r; italienisch: moro, -a; Anm. d. Verf.]« vgl. KAPLAN 2011: 55f.; LOWE 2011: 66. 40 Zu dem Altarwerk insgesamt vgl. CAPRIOTTI 2009: insbes. 96f.; zu der schwarzen Amme vgl. MCGRATH 2011. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 125 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Abb. 8: Lorenzo Lotto: Altarbild der Santa Lucia, 1532, Detail, Holz, 243 x 237 cm, Pinacoteca Civica, Jesi Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Pala_di_Santa_Lucia_(Lotto)#/me- dia/File:Lorenzo_lotto,_pala_di_santa_lucia,_1523-1532,_03_donna_di_colore_con_bambino.jpg [letzter Zugriff 06.05.2018] Auf ihm trägt eine Schwarze ein ganz ähnliches Kleid, nur in schlichterer Aus- führung. Seine Farbe zeigt ein leuchtendes Orange, doch der nicht weit unter dem Busen ansetzende Rock ist wie bei der Dianti nochmals unterhalb der Taille gebunden. Die weißen Ärmel der camicia treten hier weniger auffällig in Erscheinung, da sie hochgekrempelt wurden. Trotz der oben beschriebenen, in der zeitgenössischen höfischen Re- zeption sicherlich für Irritation sorgenden Abweichungen, präsentiert sich Lauras Gewand ebenso als eines von westlicher Herkunft. Dazu trägt in nicht unerheblichem Maße die Farbgebung, das aus Azuritpigmenten (vgl. BESTOR 2003: 644, Anm. 56; KOOS 2010: 29, Anm. 25) bestehende Blau bei, das in der zeitgenössischen osmanischen Kleidung kaum eine Rolle spielte.41 »L’azzurro« wird, gefolgt von dem weniger favorisierten Grün,42 als die venezianische Lieb- lingsfarbe für Kleidung angegeben (vgl. ORSI LANDINI 2013: 55). Ein Synonym für »azzurro« findet sich jedoch in »turchino«, was darin begründet liegt, dass un- ter osmanischer Herrschaft in Mauretanien blauer Marmor abgebaut wurde (PI- ANIGIANI 1937: 1484). Es sei dahingestellt, ob die Etymologie bereits bekannt 41 Zur geringen Relevanz der Farbe Blau für osmanische Kleidung vgl. PEDANI FABRIS 1996-1997: 14f. Vgl. auch FAROQHI 2004a: 25. 42 Interessanterweise weist die Ludovico Carracci zugeschriebene Kopie der Laura Dianti in der Galleria Estense in Modena ein in der Farbgebung dezenter wirkendes grünes Kleid auf (vgl. JUSTI 1908: 172, 174). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 126 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti war43 und bewusst in diesem Sinne für das Bildnis Laura Diantis genutzt wurde, bzw. ob sie bei der Inventarisierung am Prager Hof eine Rolle spielte. Zu konstatieren bleibt, dass das Blau in seiner strahlenden Wirkung durch keinen andersfarbigen eingearbeiteten Stoff gemildert wird, wie es etwa das Kleid der oben genannten Bella aufweist.44 Ein ähnlicher Effekt lässt sich auf Tizians zeitgleich gemaltem, heute im Prado aufbewahrtem Porträt des Fe- derico II. Gonzaga (1529), Herzog von Mantua und Sohn der Isabella d’Este, feststellen. Es zeigt nicht allein formale Ähnlichkeiten mit dem Bildnis der Di- anti (vgl. FALOMIR 2008); vor allem begegnet das auffällige Blau als Farbe der Jacke wieder, das durch die mit Goldstickereien abgesetzten Borten zusätzlich hervorgehoben wird. Mit demselben Ziel, das Azurit in seiner Brillanz noch zu verstärken,45 zieren auch die gelblichen Diamanten die Ärmel der Dianti. Von einer schmalen goldenen Kette wird der im Vordergrund gegebene am unteren Ende zusam- mengehalten.46 Goldfäden finden sich desgleichen in dem halbtransparenten, über den Busen gelegten Tuch wieder und letztlich in demjenigen, das turban- artig um ihr Haar geschlungen ist (vgl. KOOS 2010: 18). Lodovico Dolce setzte in seinem 1565 gedruckten Dialogo dei colori die Farbe turchino mit dem Blau des Himmels gleich (conforme al color del cielo) und gibt neben weiteren Er- klärungen an, dass sie einen hohen Geist (pensiero elevato) veranschauliche (DOLCE 1565: 33v).47 Herausragendstes Merkmal in der Erscheinung Lauras aber bleibt un- bestritten das zu einem voluminösen Turban geknüpfte Tuch, das ein aus gol- denen und weißen Perlenschnüren gebildeter, prominenter Stern ziert, in des- sen Mitte sich ein großes Medaillon befindet. Dieser auffällige und kostbare Kopfputz stellt alle bis dahin dargestellten orientalisch anmutenden, manchmal mit Schmuck verzierten Schalkreationen von Frauen, wie etwa diejenige von Raffaels Fornarina (um 1518/20; zuletzt: FRAU 2018),48 in den Schatten. In der islamischen Welt waren Kopfbedeckungen aus religiösen Grün- den unverzichtbar. Einen Turban jedoch trugen vor allem Männer, wodurch sie sich als zu einer bestimmten Schicht gehörig auswiesen (vgl. ERDUMAN-ÇALIȘ 2008b: 19; KURTULUȘ 2008: 192; SCHUBERT 1993: 412-431; VITZTHUM 2008: 132. Vgl. auch VECELLIO 1590: 407v). Sultane wiederum änderten häufig deren Form als Zeichen ihrer persönlichen Herrschaft (vgl. KURTULUȘ 2008: 193). Dass Tizian diese Art des Kopfschmucks für eine Frau wählte, lässt sich einerseits damit 43 Lodovice Dolce benennt diesen Stein in seinem 1565 erschienenen Dialogo dei colori (S. 33v). 44 Francesco Maria della Rovere, Herzog von Urbino, nannte das Gemälde in einem Brief vom 2. Mai 1536 »quel’ retratto di quella Donna che ha la veste azurra« (jenes Porträt jener Frau, die ein azurblaues Kleid trägt, Übersetzung S.E., zit. nach NAVARRO 2013: 15.) Doch wirkt das Blau auf die- sem Bild deutlich weniger brillant, da andersfarbige Ärmel und zudem mehrmals eingefügter, dunkler Pelzbesatz zu erkennen sind (vgl. ORSI LANDINI 2013: 54). 45 Dass die Kombination von Blau und Gold in der Malerei als sehr effektvoll galt, beschrieb auch Lodovico Dolce (vgl. KOOS 2010: 16 u. Anm. 10). 46 Auf diesem findet sich auch die Signatur Tizians (vgl. JUSTI 1908: 172; WETHEY Bd. 2, 1971: 92. Zuletzt KOOS 2010: 18). 47 Zur Farbe Blau vgl. auch WOODS-MARSDEN 2007: 57. 48 Zur Bestimmung der Rolle der Fornarina zwischen »Modell, (vermeintliche[r]) Geliebte[r] und Muse der Malerei« vgl. PFISTERER 2012. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 127 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti begründen, dass osmanische Turbane49 dem von italienischen Frauen getrage- nen, modischen balzo in ihrer Form stark ähnelten (vgl. oben u. Anm. 25). An- dererseits waren und sind Turbane bis heute der Inbegriff des Orients. Weit wichtiger noch in diesem Kontext ist aber, dass sie zu den Herrschaftsinsignien eines osmanischen Sultans gehörten (vgl. KURTULUȘ 2008: 193), ein nochmali- ger Verweis auf die Inszenierung der Dianti als orientalische Herrscherin. Obgleich ein italienischer balzo mit einem Medaillon, einer Gemme o- der einer Brosche geschmückt sein konnte, wie es auf Tizians um 1534-1536 entstandenem Porträt der Isabella d’Este aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien zu sehen ist (vgl. GOFFEN 1997: 86-95; WETHEY Bd. 2, 1971: 95f., Kat.Nr. 27), entbehrt doch der auffällige Stern über dem Haupt der Dianti aufgrund seiner ausladenden Arme eines eindeutigen westlichen Vorbilds. Osmanische Sultane wiederum trugen als Ausweis ihrer hohen Herkunft, angesteckt an ih- ren Turban, bis zu drei in die Höhe strebende Aigretten, sorguç genannt. Sie bestanden in einer überaus kostbaren Goldschmiedearbeit, reich mit Edelstei- nen verziert, woran ein Federbusch befestigt war.50 Nicht allein ein Turban, son- dern insbesondere ein sorguç gehörte zu den wichtigsten Insignien eines Sul- tans (vgl. KURTULUȘ 2008: 193). Er konnte aber auch von deren Müttern und Frauen sowie von Prinzessinnen getragen werden, wobei er dann ihren Haar- schmuck zierte (vgl. ÇÖTELIOĞLU/GÜNYOL 2008: 213). Ein um 1530 entstandener Entwurf zu einem sorguç mit hohen Strau- ßenfedern, der in Venedig für Süleyman den Prächtigen (reg. 1520-1566) ge- fertigt werden sollte, hat sich im Bayerischen Nationalmuseum erhalten (Abb. 9; vgl. BEUING 2015; RAPP 2003: 117-124), wodurch belegt ist, dass osmanische Aigretten in Italien wohl bekannt waren. So ist es möglich, dass der große sechsarmige Stern über dem Haupt Lauras in einem Zusammenzug von einem sorguç und einer von venezianischen Goldschmieden gefertigten kleineren, sternförmigen Brosche entstand.51 Die hier abgebildete wurde im 2. Viertel des Trecento gefertigt (Abb. 10; vgl. DAVANZO POLI 1999: 148f.; PERI 2006a: 27).52 Sie besitzt, ähnlich wie der Kopfschmuck Lauras, sechs durch Perlen akzentuierte Arme. 49 Im Gegensatz dazu hatten mamlukische Turbane ein viel auffälligeres Aussehen (vgl. RABY 1982: 35-53). 50 In der Regel waren sie mit Federn von Reihern, Paradiesvögeln und Pfauen geschmückt (vgl. BILIRGEN 2008: 223). 51 Interessanterweise porträtierte bereits Bartolommeo Veneto um 1500 bis 1525 ein mögliches Mitglied der Gonzaga-Familie mit einer Enseigne, an der einige schmale weiße und schwarze Fe- dern befestigt sind (vgl. HACKENBROCH 1996: 101-104, Abb. 113). Allgemein zu Tizian und der vene- zianischen Goldschmiedekunst: MARIACHER 1978: 251-253. 52 Für die genauen Maßangaben und die Datierung danke ich Arianna Strazieri und Ettore Nepione aus dem Museo di Castelvecchio, Verona. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 128 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Abb. 9: Abb. 10: Venezianisch (Werkstatt der Caorlini Brüder), Venezianisch, Sternförmige Brosche, 2. Viertel Turbanfederzier mit Straußenfedern, um 14. Jh., Gold, Perlen Smaragd, Amethyst,  1530, Deckfarbenmalerei mit Gold auf 15 cm, Verona, Museo di Castelvecchio (mit Pergament, 534 x 334 mm, München, freundlicher Genehmigung des Museums) Bayerisches Nationalmuseum Quelle: BEUING 2015 Das Medaillon, dessen figürliche Darstellung an ein in Europa fast aus- schließlich von Männern an der Kappe getragenes Hutabzeichen, eine Enseigne (vgl. BESTOR 2003: 646; HACKENBROCH 1996; NG 2014: 16), gemahnt, müsste den eigentlichen Bedeutungsträger des Sterns bilden. Doch entzieht es sich bei Tizian einer klaren Lesbarkeit (vgl. BESTOR 2003: 646; KOOS 2010: 18 u. Anm. 28), wodurch es sich idealerweise Kopisten zur Interpretation anbot. Auf dem Original wollte man bereits einen Hieronymus mit Löwen (vgl. KAPLAN 1982a: 17, Anm. 31) und einen »Mann mit einem Knaben zur Seite« (JUSTI 1908: 174) erkennen, vermutlich in Anlehnung an den Kupferstich Sadelers (Abb. 7). Fest scheint lediglich zu stehen, dass es sich nur um eine einzige Person han- delt. Koos vermutete, dass mit der in Rot und Schwarz gewandeten Figur Al- fonso d’Este selbst gemeint gewesen sein könnte (vgl. KOOS 2010: 18), den Ti- zian bekanntlich in einer solchen Kleidung porträtierte.53 Doch das rote Kleid auf dem Medaillon besitzt nur kurze Ärmel, was auf einen Kaftan, also wiede- rum einen Orientalen, hindeuten könnte und damit auf Lauras fiktive dynasti- sche Abstammung. Die Sternarme wirken zunächst wie kostbares Beiwerk. In ihnen hat sich möglicherweise der vor seiner Mätresse stehende, rot gekleidete Alfonso 53 Das Gemälde ist heute lediglich durch Kopien überliefert (vgl. NITTI/CARRATÙ/COSTANTINI 2006: 122f., Kat.Nr. 21; 206f., Kat.Nr. 55). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 129 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti widergespiegelt gesehen, wie die zahlreichen Reflexe dieser Farbe in den gol- denen Perlen nahelegen. Sicherlich weist der Stern aber nicht auf die Gottes- mutter Maria hin, wie Bestor annahm und wie spätestens das ganz zum Schluss besprochene Gemälde von Georg Vischer hier belegen kann (vgl. BES- TOR 2003: 659-669; KOOS 2010: 22).54 Meine Vermutung ist demgegenüber, dass der sechsarmige Stern wiederum auf das Morgenland zielt, aus dem auch die »magi ab oriente« (Mt 2,1) kamen,55 um Jesus anzubeten, womit nochmals eine Brücke zwischen Orient und christlicher Welt geschlagen wäre. Betrachtet man die vielen Kopien und Varianten zu dem Porträt der Di- anti in ihrer Gesamtheit, so fällt auf, dass gerade in dem extravaganten Kopf- schmuck die häufigsten Veränderungen zu finden sind, insbesondere im Me- daillon. Hier sei ein Gemälde aus dem Besitz der Doria Pamphilj herausgegrif- fen, auf das vor allem Andrea G. De Marchi aufmerksam machte (vgl. BESTOR 2003: 673; DE MARCHI 2004: 93; DE MARCHI 1999: 167f.). Bei gleicher Größe wie das Original wurde der kleine Page auf der Kopie durch ein hohes Holzkreuz ersetzt, eine Krone und ein Heiligenschein über dem Turban hinzugefügt, wo- mit sich Laura, transformiert zur Hl. Helena, gegenüber der Stellungnahme des Vatikans sanktionieren (sic!) ließ (Abb. 11; vgl. DE MARCHI 2016: 377f.). Abb. 11: Kopie nach Tizian: Hl. Helena, Ende 16. Jahrhundert, Leinwand, 117 x 93 cm, Sammlung Doria Pamphili, Rom Quelle: DE MARCHI 2016: 377 54 Woods-Marsden (2007: 58) sah in den Sternarmen Lorbeerblätter als Symbol von Tugend und Keuschheit dargestellt. 55 Kaplan zufolge verweist die Sechsarmigkeit eines Sterns auf die Weisen aus dem Morgenland (vgl. BESTOR 2003: 660, Anm. 110; KAPLAN 1985a: 91f.). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 130 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Diese Kopie muss im Zuge der Bemühungen um die Legitimierung der Ehe Alfonsos mit der Dianti entstanden sein. Es sei dahingestellt, ob, wie De Marchi argumentierte, der letzte legitime Erbe des Herzogtums Ferrara, Al- fonso II., oder, was ebenfalls möglich wäre, der oben erwähnte Enkel Lauras, Cesare, der das Original an den Prager Hof verschenkte, als Auftraggeber zeich- nete (vgl. DE MARCHI 2004: 93). Die Arme des bekrönenden Sterns jedenfalls wurden hier weniger prägnant gestaltet, während man das vergrößerte Me- daillon mit einem Profilbildnis Christi versah. Coda: Salomé, Judith und die Ehebrecherin Die Rezeption von Tizians Laura Dianti geht weit über die von Wethey genann- ten Kopien und Varianten hinaus und dürfte in ihrer Fülle kaum zu fassen sein (WETHEY Bd. 2, 1971: 94).56 Interessieren sollen zum Schluss vor allem die Deri- vationen, die in ihren unterschiedlichen Sujets — und im Gegensatz zur Hl. He- lena aus dem Besitz der Doria Pamphilj — allein den ästhetischen Geschmack des Publikums bedienten. Im Sei- und Settecento lässt sich eine Vorliebe für halb- oder dreiviertelfigurige Frauengestalten aus der antiken Mythologie und Bibel feststellen (vgl. BOREAN 2000: 159), zu denen auch die hier folgenden Dar- stellungen zählen. Vor allem scheint nun die opulente Kleidung der Dianti Ge- fallen gefunden zu haben, wobei das Exotisch-Orientalische des Gewandes dazu diente, biblische Frauenfiguren zu kennzeichnen, zuweilen sogar ohne das herausstechendste Merkmal, den Turban. Wethey listete ein kleines Ölgemälde auf Glas in der Galleria Spada auf, das seitenvertauscht die Dianti samt Pagen durch die Zugabe eines Johannes- kopfes auf einer Schale zu einer Salomé transformierte (vgl. WETHEY Bd. 2, 1971: 94, Nr. 7).57 Linda Borean fügte drei weitere Schiefertafeln dieses Sujets von nordischen Malern aus Privatbesitz hinzu. Auf letzteren wird auf jeweils ganz ähnliche Art das schwarze Pagenkind durch das Haupt des Täufers ersetzt (vgl. BOREAN 2000). Folgen diese Darstellungen in der weiblichen Figur noch recht genau dem Vorbild, wird auf anderen viel freier nunmehr allein auf das Gewand Be- zug genommen. So kleideten etwa Simon Vouet (1590-1649), seine spätere Ehefrau Virginia da Vezzo (1597-1636) und sein gleichfalls in Rom lebender Landsmann Valentin de Boulogne (1591-1632) ihre Judith mit dem Haupt des Holofernes in Anlehnung an die Dianti Tizians. 56 Eine weitere Kopie aus der Sammlung Magrini befindet sich seit 1967 in der Pinacoteca Nazio- nale di Ferrara (vgl. MASON 1998). Vgl. auch GIOVANNUCCI VIGI 1992. 57 21,5 x 29,5 cm, Öl/Glas, vgl. BOREAN 2000. Maria Lucrezia Vicini (1998: 50) datierte das Bild auf das Ende des 17. Jahrhunderts, Wethey (Bd. 2, 1971: 94, Nr. 7) hingegen auf das späte Cinquecento. Bestor (2003: 673) unterlegte dem Gemälde eine Bedeutung, die im Kontext der anderen Kopien schwer nachvollziehbar ist. — Salomé wurde traditionell in »exotischer« oder »fremder« Kleidung dargestellt (BRIDGEMAN 1998: 194). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 131 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Valentins Judith (Abb. 12) aus dem Musée des Augustins in Toulouse, die zwischen 1626 und 1627 datiert wird und als eine der eindrucksvollsten ein- figurigen Darstellungen dieses Sujets gilt (vgl. zuletzt CHRISTIANSEN 2017), weist am stärksten auf das Vorbild Tizians hin. Abb. 12: Valentin de Bologne: Judith, um 1626/27, Leinwand, 97 x 74 cm, Musée des Augustins, Toulouse Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/ed/Valentin_de_Boulogne%2C_Ju- dith.jpg [letzter Zugriff: 06.05.2018] Das »silbrig-blaue Kleid« (UPPENKAMP 2004: 85) ist im Blauton zwar nicht so kräf- tig wie das der Laura Dianti, auch tritt die weiße camicia nur geringfügig aus den Ärmeln hervor, doch erkennt man deutlich den gelben transparenten Schal, der, wenn auch weniger raffiniert gegeben als auf dem Original, doch in derselben Art und Weise um das Dekolleté der Dargestellten gelegt ist. Valen- tin, einer der bedeutendsten französischen Caravaggisten, dürfte nach einer zeitgenössischen Kopie gearbeitet haben, wie die Farben seines Gemäldes na- helegen. Nur kurze Zeit zuvor scheint die Judith Virginia da Vezzos entstanden zu sein (Abb. 13),58 rund ein Jahr nachdem sie 1623 ihren späteren Mann Simon Vouet in Rom kennen gelernt hatte, dessen Einfluss das Gemälde zeigt (vgl. BAUMGÄRTEL 1995: 272; CHAVANNE/JACQUOT/COLLANGE 2008). 58 Es handelt sich um das einzige Werk, das mit Sicherheit als von ihr stammend identifiziert wer- den kann (vgl. COLLANGE-PERUGI 2017; MICHEL 1992: 127ff.). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 132 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Abb. 13: Virginia da Vezzo: Judith, um 1624-26, Leinwand, 98 x 74 cm, Musée des Beaux-Arts, Nantes Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Pain- tings_in_the_Mus%C3%A9e_des_Beaux-Arts_de_Nantes#/media/File:Giuditta_e_Oloferne_- _Vezzi.png [letzter Zugriff: 06.05.2018] Wiederum sind das blaue Kleid, diesmal in einem durchaus kräftigen Ton, mit den weit heraustretenden Ärmeln der camicia zu erkennen. Das in dunklerem Gelb gegebene Tuch fällt ausgehend von einer in das Haar eingeflochtenen Perlenschnur vom Kopf aus über ihre rechte Schulter. Mit ihm wird das Haupt des Holofernes gehalten. Es ist wahrscheinlich, dass Valentin und Virginia da Vezzo von dersel- ben Tizian-Kopie ausgingen. Gleichzeitig aber kannten sie ohne Zweifel auch Simon Vouets früheste Fassung einer Judith von 1617/18 (vgl. BAUMGÄRTEL 1995; LOIRE 2011; UPPENKAMP 2004: 265, Kat.Nr. 130),59 entstanden einige Jahre nach seiner Ankunft in Rom, heute in der Alten Pinakothek in München aufbe- wahrt (Abb. 14).60 59 Loire schreibt das Gemälde allerdings nur dem Umkreis Vouets zu. 60 In den 1620er Jahren befanden sich sowohl Vouet als auch Valentin im Umkreis der Barberini (vgl. SERRES 2011: 154). Dass die Judith Valentins derjenigen Vouets stark verpflichtet ist, wurde schon früh bemerkt (vgl. zuletzt CHRISTIANSEN 2017: 180). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 133 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Abb. 14: Simon Vouet: Judith, um 1617/18, Leinwand, 96 x 72 cm, Alte Pinakothek, München Quelle: SIEFERT 1991: 37 Bislang wurde vermutet, dass sich dieses Gemälde von Domenichinos Cumäi- scher Sibylle (1616/17) in der Galleria Borghese ableite (vgl. UPPENKAMP 2004: 87; SIEFERT 1991). Deren Kleidung weist allerdings vor allem kräftige Orange- und Goldtöne auf, während die Judith Vouets wiederum ein Blau trägt, das in seinem Farbton kräftiger gegeben ist als das bei Valentin, zugleich deutlich dunkler als Virginias da Vezzo. Eine goldene Spange am Oberarm ist bei Vouet in Abwandlung von Tizians schmaler Kette des linken Ärmelrands zu erkennen. Schließlich umschlingt Lauras gelbes Tuch über dem Dekolleté nun als orien- talisierende Schärpe die Taille der alttestamentlichen Heldin.61 Während Valen- tin und Virginia da Vezzo auf einen Turban verzichteten, taucht er bei Vouet wieder auf. Ähnlich wie bei Tizian ziert ihn ein Medaillon, jetzt allerdings mit einem weiblichen Profilbild versehen. Abschließend soll auf eine ganz eigene Rezeption der Laura Dianti aus der Münchner Dürer-Renaissance eingegangen werden, Georg Vischers Chris- tus und die Ehebrecherin (1637; Abb. 15), kurz Adultera genannt. 61 In Abwandlung ist das Kleid der Dianti nochmals an einer Vouet zugeschriebenen Herodias mit dem Haupt des Johannes, um 1625-1626 (unbekannter Aufbewahrungsort) zu sehen, abgebildet in: LOIRE 2011: 208, Abb. 14. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 134 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Abb. 15: Georg Vischer: Christus und die Ehebrecherin, 1637, Holz, 70 x 110 cm, Alte Pinakothek, München Quelle: GREBE 2013: Abb. 220 Die Figuren der Tafel sind Übernahmen aus Gemälden früherer Meister, die mehr oder weniger verändert zu einem anderen Bildinhalt zusammengesetzt wurden. Bislang interessierte die Forschung an diesem Capriccio vor allem der mittig gegebene Christus, der nach Dürers Selbstporträt aus dem Jahr 1500 konzipiert wurde (vgl. GOLDBERG 1986/87: 179; GOLDBERG 1980: 142f.; GOLDBERG /HEIMBERG/SCHAWE 1998: 29, 325-326; GREBE 2013: 252f.; KOERNER 1993: 71). Auch stellte man fest, dass drei der Männergesichter aus dem Hintergrund den gleichfalls 1637 gemalten Kartenspielern von Robert Walker entstammen (GOLDBERG 1980: 143 u. Anm. 161; GOLDBERG 1971: 19). Das Vorbild für den mit Steinen bewehrten Mann auf der linken Seite hingegen stammt aus Tizians Gleichnis vom Zinsgroschen (c. 1568, National Gallery London), das für Philipp II. gemalt und 1568 nach Spanien geschickt wurde (vgl. DONATO 2016: 85-88; GROSSO 2008; WETHEY Bd. 1, 1969: 164f., Kat.Nr. 148), verbreitet durch den Druck von Martino Rota (vgl. GOLDBERG 1980: 143 u. Anm. 162; KOERNER 1993: 71). Nur für die eigentliche Hauptperson, die namenlose Ehebrecherin aus dem Johannesevangelium (8,1-11), konnte bislang kein eindeutiges Vorbild be- nannt werden. Zwar stellte man fest, der »Frauengestalt rechts dürfte ein ve- nezianisches, noch unerkanntes Vorbild zugrunde liegen; den Kopfschmuck verwendete auch Tizian um 1523 für das Porträt der Laura dei Dianti« (GOLD- BERG 1986/87: 179). Doch wurde übersehen, dass die gesamte Kleidung der Adultera, inklusive der dünnen goldenen Kette am Abschluss ihres linken Är- mels, seitenvertauscht dem Porträt Tizians entlehnt ist. Dass hier mit der Sünderin tatsächlich die Person Laura Diantis gemeint war, wie etwa bei ihrer Transformation zur Hl. Helena, ist mit guten Gründen zu bezweifeln. Die zeitgenössischen Prager Inventare geben das Gemälde als »Eine Türkin, mit einem kleinen Mor« an, und auch Sadelers Druck nennt ihren Namen nicht. Auf diesem Wege wurde die Identität der Dargestellten nicht überliefert. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 135 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Vischer arbeitete nach dem Stich von Sadeler, wie die Perlenschnüre belegen, die abseits des großen Sterns eingeflochten im Haar sichtbar werden. Auch ist diesem unterlagert auf der Tafel noch ein zusätzliches Häubchen mit Goldstickerei zu erkennen, das auf eine Weiterentwicklung von Sadelers Stich hindeutet. Dort erscheint es als breites Schmuckband aus Stoff, während Tizian lediglich das verschlungene Turbantuch darstellte. Zudem gab Vischer ebenso wie ein Jahrzehnt später der Künstlerbiograph Carlo Ridolfi — ihm war vermut- lich nur der Druck Sadelers zugänglich (vgl. KOOS 2010: 28, Anm. 20) — keine Goldperlen, sondern gefasste Edelsteine, vielleicht Rubine, als Sternarme wie- der.62 Doch muss Vischer außerdem Informationen über die Farben des Origi- nals besessen, d.h. es gesehen oder eine Kopie gekannt haben, selbst wenn das Blau des Kleides bei ihm deutlich dunkler und der Schal transparenter er- scheint als bei Tizian. An dieser Stelle sei noch einmal an die Stellungnahme des Vatikans er- innert, der als einen Grund für die Nichtanerkennung Cesares d’Este als legiti- men Erben angeführt hatte, seine Großmutter sei von Tizian »in abito di donna lasciva« gemalt worden. Bringt man diese Aussage mit der »Türkin« in den Inventaren zusammen, so wird deutlich, dass das Porträt der Laura Dianti Vi- scher als eine perfekte Vorlage für seine sündige Frau erschienen sein muss. Türkinnen umwehte der Hauch von Erotik und Laszivität. Während dies in Venedig keinen Anstoß fand, Kurtisanen vielmehr davon profitierten und sich in türkische Gewänder kleideten (vgl. ORSI LANDINI 2013: 59; ORSI LANDINI 1998a: 16ff. u. Abb. 17), schlug es in dem Reisebericht des Franzosen Nicolas de Nicolay, der 1576 in deutscher Sprache erschien (vgl. HENSCHEL 2005: 188- 212), ins vollkommene Gegenteil um. Dort heißt es als Fazit, nachdem mangels Männern in türkischen Bädern auf die lesbischen Neigungen von türkischen Frauen hingewiesen wurde: »[…] so vol wollust, unkeuscheit unnd furwitz ste- cken sie« (NICOLAY 1576: 129).63 Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1597-1651), einem strengen Katholi- ken, von dem bekannt ist, dass er eine um 1520 entstandene, heute in Kronach aufbewahrte Ehebrecherin von Cranach im Sinne einer klareren theologischen Belehrung übermalen ließ (vgl. ENGEL 2017: 679f.; GOLDBERG 1992; HENKER 1994), wurde mit der Adultera Georg Vischers ein »säkularisiertes Gemälde« (KOERNER 1993: 72), ein Sammlungsbild mit »gemalte[m] Kommentar zur Kunstge- schichte« (GREBE 2013: 252) präsentiert. Anja Grebe argumentierte sehr plausi- bel, dass sich Vischer mit diesem Werk in Bezug auf Dürer positionieren wollte. Dies wird insbesondere an dem eingefügten Medaillen-Selbstbildnis deutlich, das angeheftet an der zum Steinbehältnis umfunktionierten roten Mütze des Anklägers erscheint (vgl. GREBE 2013: 252f. u. Abb. 218). Doch setzte sich Vi- scher desgleichen in Bezug zu Tizian. Denn sein über Kopf stehendes 62 RIDOLFI 1914: 161: »[…], la qual [Laura Dianti; Anm. S.E.] fece Titiano con rarissimi abbigliamenti in capo, di veli e di gemme, […], che si vede in istampa di rama da Egidio Sadeler, […]« ([...], die [Laura Dianti; Anm. S.E.] Tizian mit äußerst seltenem Kopfputz darstellte, aus Schleiern und Edel- steinen, [...], wie man auf dem Kupferstich von Aegidius Sadeler sieht, [...], Übersetzung S.E.). 63 Nicolays negativen Wertungen der türkischen Gesellschaft und Lebensform sind allerdings be- kannt (vgl. HENSCHEL 2005: 182f.). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 136 Sabine Engel: Tizians Porträt der Laura Dianti Selbstporträt auf der Medaille schaut sowohl in die Richtung des Gottessohns als auch in die der Angeklagten. Nur wurde wohl das Ende der Johannesperikope nicht ausreichend be- dacht, der Moment nämlich, in welchem die Ankläger, einer nach dem ande- ren, aus Scham über ihre eigene Anmaßung den Tempel verlassen (Jo 8,9).64 Übertragen hieße das, dass sich Vischer letztlich nicht allein vor dem vergött- lichten Dürer, sondern ebenfalls vor der »opera stupenda« Tizians zurückzie- hen muss. Mit dem Porträt der Laura Dianti, dessen Alterität zu westlichen Regentinnen- bildnissen seit dem Ende des 16. Jahrhunderts auch schriftlich dokumentiert ist, inszenierte Tizian die Geliebte Alfonsos I. d’Este als orientalische Herrsche- rin. Auf diese Weise sollte ihre niedrige Herkunft als Hutmachertocher verges- sen, eine Akzeptanz der Dargestellten in höfischen Kreisen ermöglicht werden. Da der Westen fasziniert war von Reichtum und Luxus des osmanischen Reichs, wurde dieses als Referenzsystem gewählt. Doch übernahm Tizian nicht einfach das »Fremde«, sondern glich es dem kulturell Eigenen in dem Maße an, dass glaubhaft gemacht werden konnte, die Schöne käme aus einem fernen Land — ohne dem Betrachter dabei das Gefühl der Alienität zu vermitteln. Grenzen des Eigenen, Anderen und Fremden wusste er auf diese Weise aufzu- lösen und eine »opera stupenda« (VASARI) zu schaffen, die noch über hundert Jahre später Künstler zu neuen Transformationen anregte. 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The article aims to establish the ›oriental rug‹ as a re- flexive figure: its representation generates reflections about line and color, sur- face and space, perspective and ornament. After all, the borders between the own and the other are dissolved. Im Zentrum des Aufsatzes steht der sogenannte ›Orientteppich‹, der als Gegen- stand der kunstgeschichtlichen Forschung und als Motiv in der Malerei des 19. Jahrhunderts in den Blick genommen wird. Der Teppich erscheint einerseits als Grund, auf dem nationale Identitäten verhandelt werden, andererseits ist er ein Scharnier, das verschiedene Darstellungsparadigmen miteinander verbindet. Ausgehend von Osman Hamdis Türkischer Straßenszene wird der Teppich als Sammlungsgegenstand eingeführt und seine Position innerhalb des IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 146 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene kunsthistorischen Diskurses untersucht. Anschließend wird der Teppich als Bildmotiv in der französischen und osmanischen Malerei vergleichend in den Blick genommen. Aufgrund seines ornamentalen Musters avanciert der Tep- pich zur Denkfigur bildlichen Darstellens, erzeugt seine Darstellung doch ein Spannungsfeld zwischen Farbe und Linie, Fläche und Raum, Perspektive und Ornament, in dem sich die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen letztlich auflösen. Abneigung Ich presse zu Linien die lästigen Bäche Und denk’ die ent-ölten in ebenen Plan; Ich hasse den Raum, ich vergöttre die Fläche, Die Fläche ist heilig, der Raum ist profan. Ich werde mich listig der Plastik entwinden Und laß euch gebläht im gedunsenen Raum. Ich denke die lieblichsten Schatten zu finden Im gefälligen Teppich, im flächigen Traum. In dem Gedicht Abneigung des Journalisten und Dichters Ferdinand Hardekopf bringt das lyrische Ich selbstbewusst eine kunsttheoretische Haltung zum Aus- druck. An die Stelle des Bildraumes tritt in seiner Vorstellung die Fläche, statt an Ölfarbe denkt es an ›gepresste Linien‹. Das Gedicht erschien 1916 in der Zeitschrift Die Aktion, die seit 1912 in ihrem Untertitel als Wochenschrift für Po- litik, Literatur und Kunst bezeichnet wurde und in der Gedichte, Kurzprosa und Essays sowie Holzschnitte – beispielsweise von Egon Schiele oder Karl Schmidt-Rottluff – publiziert wurden. In diesem Kontext liest sich die erste Stro- phe wie eine Reminiszenz an die druckgraphische Technik, mit der sich die Ex- pressionisten begeistert auseinandersetzen. Tatsächlich folgte auf das Gedicht in der gleichen Spalte der Abdruck eines Holzschnittes von Hans Richter mit dem Porträt des Philosophen Salomo Friedlaender. In der letzten Zeile wird je- doch deutlich, dass das lyrische Ich ein ganz anderes Medium im Blick hat, nämlich den Teppich, also einen dem Kunstgewerbe zugeordneten Gegenstand (vgl. PICHLER 1913/14: 76f.), dem um 1900 sowohl Kunstschaffende als auch Kunsthistoriker ihre Aufmerksamkeit widmeten. In Hardekopfs Gedicht erscheint der Teppich als Reflexionsfigur bildli- chen Darstellens und inspiriert die Fragestellung des vorliegenden Textes.1 Im Folgenden soll es um die Frage gehen, wie der Teppich als Gegenstand der Kunstgeschichtsschreibung des ausgehenden 19. Jahrhunderts und als Motiv und Modus des Bildes selbst zu fassen sein könnte. Die These ist, dass der Tep- pich nicht nur ein Nachdenken über verschiedene Darstellungsparadigmen provozierte, sondern auch im Zusammenhang mit der Konstitution des Eige- nen und des Anderen im kunsthistorischen Diskurs eine folgenreiche Rolle 1 Ich danke Magdalena Nieslony und Martina Sauer für die Lektüre und die Hinweise zur Überar- beitung des Manuskripts. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 147 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene spielte. Denn, wie Vera-Simone Schulz bemerkte, ist die Geschichte des Tep- pichs von Beginn an als eine Beziehungsgeschichte zwischen Europa und dem ›Orient‹ geschrieben worden (vgl. SCHULZ 2017: 33), was bereits in der Be- zeichnung deutlich wird, mit der die ersten Teppichforscher ihren Gegenstand bedachten: Sie sprachen explizit vom ›Orientteppich‹ und markierten damit die Herkunft der Teppiche aus dem westasiatischen Raum, der dem ›Okzident‹ im Sinne einer binären Opposition gegenüberstand.2 Hans-Günther Schwarz be- tonte, dass der ›Orientteppich‹ in der selben Zeit, nämlich in den Jahren zwi- schen 1860 und 1920, zum ästhetischen Paradigma der modernen Kunst und Literatur avancierte (SCHWARZ 1990). Regine Prange hat unter dem Stich- wort ›die Wiederkehr des Teppichparadigmas‹ eindringlich auf die Folgen hin- gewiesen, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Vermischung der Mediengeschichte des Bildes und der des Textilen in der Erforschung und Aus- stellungspraxis der modernen Kunst resultierten: Vergleichendes Sehen könne ein »Dispositiv der Macht« sein, wenn außereuropäische Textilien »allein als abstrakte Formwerte gehandelt werden, abgezogen von allen materiellen sozi- ohistorischen Funktionskontexten« (PRANGE 2014: 374). Da die nachfolgende Untersuchung beide Aspekte zusammenbringen möchte, soll dieser Gefahr methodisch begegnet werden, indem verschiedene Perspektiven auf den Tep- pich um 1900 aufgezeigt werden. Ich möchte den Versuch unternehmen, die verschiedenen Schichtungen von Kunstgeschichte und Kunstproduktion im ausgehenden 19. Jahrhundert zu trennen, indem ich die klassifizierende Methodik der frühen Teppichforschung dem Teppich als Bildmotiv und damit als das Bild strukturierende Modalität ge- genüberstelle. Ich möchte zeigen, dass bei der Etablierung der Differenz zwi- schen ›abend- und morgenländischer‹ Kunst mithilfe des ›Orientteppichs‹ im ausgehenden 19. Jahrhundert ein kunsthistorisches Kalkül ausgespielt wurde. Die Teppiche wurden zum Baustein in einem kunsthistorischen Gebäude, in dem eine strikte Hierarchie der künstlerischen Gattungen und Bildmotive, Epo- chen und Herkunftsländer herrschte. Auf künstlerischer Ebene ging diese Dif- ferenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen um 1900 jedoch nicht so ein- fach auf, war der ›Orientteppich‹ doch längst zu einem beliebten Einrichtungs- gegenstand und Bildmotiv avanciert. Über diese Aspekte hinaus soll der Tep- pich als Denkfigur bildlichen Darstellens beschrieben werden, denn er verhält sich als Bildmotiv aufgrund seines ornamentalen Musters immer auch zur Struktur eines Bildes. Der Teppich ist einerseits der Grund, auf dem ›morgen- ländische‹ und ›abendländische‹ Identitäten konstruiert und verhandelt wer- den, andererseits ist er als Motiv ein Scharnier, das verschiedene Modi der Dar- stellung miteinander verbindet und – wie in dem eingangs zitierten Gedicht 2 Werner Brüggemann äußerte 2007, der Terminus »Orient« in Bezug auf Teppiche aus dem west- asiatischen Raum sei unbedingt weiterzuverwenden, weil er »ein Raumordnungsbegriff von glo- baler Bedeutung« sei (vgl. BRÜGGEMANN 2007: 17). Diese Annahme erscheint paradox, macht sie doch die Unbrauchbarkeit des Terminus »Orient« deutlich, der nur aus eurozentristischer Perspek- tive eine raumordnende Funktion hat. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 148 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene Hardekopfs – das auf Tiefenräumlichkeit ausgerichtete, traditionelle Darstel- lungsparadigma der europäischen Malerei und seine Wirkung hinterfragt. Osman Hamdi und die Königlichen Museen zu Berlin Der Verstrickung von europäischen Vorstellungen über die ›orientalische‹ Kul- tur mit der Praxis des Kunstschaffens um 1900 möchte ich mich nähern, indem ich ein Gemälde ins Zentrum der folgenden Überlegungen stelle, nämlich die Türkische Straßenszene von Osman Hamdi, der in den 1860er Jahren in Paris bei französischen Akademiemalern die Malerei erlernte und der später nach seiner Rückkehr nach Konstantinopel unter anderem als Generalkonservator im Dienst des osmanischen Sultans tätig war. Das Gemälde präsentiert in fein- malerischer und akademischer Manier, wie zwei osmanische Straßenhändler einer europäischen Familie vor der Fassade eines prächtigen Gebäudes ihre Waren anbieten (Abb. 1). Abb. 1: Osman Hamdi: Türkische Straßenszene, 1888, Öl auf Leinwand, 60 x 122 cm, Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin Quelle: Anna Christina Schütz Die Architektur wird geschickt als Präsentationsfläche genutzt: Ein Teppich ist an dem Gitter eines Fensters aufgespannt und verdeckt einen anderen; auf den Stufen darunter wurden ein osmanischer Turbanhelm, ein zusammengescho- bener Teppich, eine blaue Pulverflasche, ein Gewehr und ein wuchtiger Kerzen- ständer aufgereiht. In einer Fensternische stehen eine Öllampe, eine Porzellan- vase und eine Tafel mit arabischer Schrift. Ein weiterer Teppich liegt auf dem erdigen Boden, während ein vierter Teppich gerade von dem gelb gewandeten Händler emporgehoben wird. Die Händler tragen leuchtende Kaftane und ihre Köpfe sind mit Turbanen bedeckt – sie wirken, als seien sie einem der IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 149 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene historischen Genrebilder Hamdis entstiegen.3 Eine europäische Familie, das heißt, ein mit einem Tropenhelm versehener Vater, eine elegant gekleidete Mut- ter und eine schick ausstaffierte kleine Tochter haben gemeinsam mit ihrem os- manischen Begleiter den Stand erreicht und innegehalten. Vergleicht man die Kleidung des Begleiters mit derjenigen der Händler, so fällt auf, dass dieser bloß ein schlichtes Hemd, eine Weste und einen şalvar – eine Pluderhose – trägt. Hamdis Interesse am Zusammenhang von Ethnographie und Kleidung, die bereits in dem Kostümalbum für die Weltausstellung in Wien im Jahr 1873 zum Ausdruck kam, spiegelt sich in den sorgsam charakterisierten Figuren der Straßenszene wieder.4 Auf dem Gemälde stehen sich die verschiedenen Personen ein wenig ratlos gegenüber. Angesichts der ausgreifenden Rede, die der stehende Händ- ler zu führen scheint, zaust sich der einheimische Begleiter skeptisch blickend den Bart, die Mutter stützt sich auf ihren Schirm, der Vater sitzt mit konsternier- tem Blick auf einem Mauervorsprung, und das Mädchen begutachtet beiläufig das zerknautschte Muster des auf dem Boden liegenden Teppichs. Die Gegen- überstellung der Figuren wird durch das breite Querformat der Leinwand un- terstrichen und kulminiert in dem Dreieck, das sich zwischen dem Oberkörper des Verkäufers, dem Kopf des Vaters und dem auf dem Boden liegenden Tep- pich konstruieren lässt. Offensichtlich ist dieser Teppich Gegenstand der Rede des Händlers, der ihn anpreist, seine Herkunft erläutert und vielleicht sogar die Bedeutung des Musters erklärt. Der Teppich wird zur Kontaktstelle zwischen den Reisenden und den Einheimischen, die ihnen im orientalischen Kostüm gegenübertreten.5 Was geht auf dem Gemälde vor, das die europäische Familie auf der einen, die osmanischen Händler auf der anderen Seite der Kulisse zeigt, die die mit Ornamenten verzierte Gebäudefassade bildet? Steht die Darstellung in ei- nem »bewußten Gegensatz zu phantastischen Orientschilderungen«, beispiels- weise der französischen Salonmaler, wie Heike Biedermann behauptete (BIE- DERMANN 1995: 381)? Artikuliert sich in der Verwendung der »westlichen, akade- mischen Kunststile« eine Kritik des Orientalismus wie Viktoria Schmidt-Linsen- hoff vermutete (SCHMIDT-LINSENHOFF 2002: 66)? Offenbar führen die Händler in ihren historisierenden Kleidern ein Stück auf, in dem sie sich den westlichen Reisenden als Orientalen präsentieren. Da das Gemälde den Gegensatz zwi- schen moderner, westlicher Kleidung und historisierenden, osmanischen Ge- wändern regelrecht ausstellt, unterscheidet es sich tatsächlich von den ›phan- tastischen Orientschilderungen‹ eines Jean-Léon Gérômes, die ihre 3 Vgl. beispielsweise das Gemälde Das Grab der Prinzessin in CEZAR Bd. 2, 1995: 751, und zur ›his- toriophile mood‹ im ausgehenden 19. Jahrhundert im osmanischen Reich ERSOY 2010. 4 Das Kostümalbum erschien 1873 in Zusammenarbeit zwischen Osman Hamdi und Marie de Lau- nay unter dem Titel Elbise-i 'Osmaniye / Les costumes populaires de la Turquie.vgl. zum Zusam- menhang von Kleidung und osmanischer Identität NOLAN 2017. 5 Dass es Hamdi hier explizit um eine Gegenüberstellung der Personen geht und diese durch die Kleidung der Figuren forciert, verdeutlicht ein Vergleich mit Gemälden, in denen er Personen aus der Istanbuler Gesellschaft in zeitgenössisch-modischer Kleidung vorstellt, wie zum Beispiel in dem Gemälde, das Frauen beim Verlassen der Sultan-Ahmed-Moschee zeigt (vgl. CEZAR 1995: Bd. 2, 738). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 150 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene Konstruiertheit gänzlich hinter einer realistisch anmutenden Darstellungsweise zu verbergen suchen. Ob sich bei Hamdi eine Kritik des Orientalismus im All- gemeinen artikuliert, ist allerdings in Frage zu stellen. Zwar legen der zwei- felnde Blick des osmanischen Reiseführers und die perplexe Reaktion der Fa- milie nahe, dass sie das Spiel der Händler eher irritiert als begeistert aufneh- men, was man als Kritik Hamdis daran deuten könnte, dass die osmanischen Händler eine Rolle annehmen, um die Erwartungen der Touristen zu erfüllen und einem Bild zu entsprechen, das in Europa von ihnen entworfen und tradiert wurde: Die Gegenüberstellung von in Tropenuniform gekleideten Reisenden und bärtigen Orientalen, die Teppiche zum Verkauf anbieten, entspricht – wie Rima Chahine gezeigt hat – einem stereotypen Darstellungsmuster, das in fran- zösischen Werbeplakaten für Orientteppiche verbreitet wurde (vgl. CHAHINE 2013: 124f.). Ordnet man das Gemälde darüber hinaus in den Kontext von Ham- dis Œuvre ein, so wird die Sonderstellung des Bildthemas deutlich, denn es ist die einzige Darstellung, die europäische und osmanische Figuren einander ge- genüberstellt (vgl. CEZAR Bd. 2, 1995: 656-775). Damit wird die Vermutung einer allgemeinen Kritik des Orientalismus durch Hamdi obsolet. Blättert man durch das von Mustafa Cezar herausgegebene Werkverzeichnis, so fallen neben Port- räts, Stillleben und Landschaften diverse orientalistische Szenen ins Auge – die Rede ist gar von einem »Ottoman Orientalism«, den Hamdi maßgeblich ge- prägt habe (vgl. ELDEM 2010: 169). Hamdis Bilder erfordern also, wie Wendy Shaw betont hat, jeweils eine differenzierte Betrachtung, die sich allerdings nicht auf die Frage nach ihrem orientalistischen Gehalt beschränken sollte, sondern im Zusammenhang mit der Entwicklung der Malerei Hamdis und der Veränderungen seiner Arbeiten vor dem jeweiligen Entstehungshintergrund kontextualisiert werden muss (vgl. SHAW 2011: 67-77). Das Gemälde Türkische Straßenszene entstand 1888 in Konstantinopel und ge- langte über die Vermittlung des mit dem Maler Osman Hamdi befreundeten Archäologen Carl Humann nach Berlin, wo es im selben Jahr durch den preu- ßischen Staat angekauft und der Nationalgalerie übereignet wurde.6 Humann, der Entdecker des Pergamonaltars, war in Smyrna, dem heutigen Izmir, tätig. Er organisierte Ausgrabungen und verhandelte mit dem osmanischen Gene- ralkonservator, um Grabungsgenehmigungen für deutsche Archäologen zu er- wirken. Seit 1881 lag eben dieses Amt in den Händen Osman Hamdis, der 1887 ein Gesetz zum nationalen Schutz antiker Güter durchgesetzt hatte, das den Transport von bei Grabungen freigelegten Objekten ins Ausland verbot. Ein freundschaftliches Verhältnis mit Hamdi konnte deshalb, so vermutete Malte Fuhrmann, durchaus nützlich in Bezug auf die Vergabe von Sondergenehmi- gungen für die Ausfuhr antiker Güter gewesen sein (vgl. FUHRMANN 2015: 50. Tatsächlich berichtete Wilhelm Bode in seiner Autobiographie, dass er im Jahr 1907 als Generaldirektor der Königlichen Museen zu Berlin zunächst nach 6 »Acta betreffend: die Werke des Malers Hamdi Bey«, Staatliche Museen zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Zentralarchiv, SMB-ZA, I/NG 1600. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 151 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene Athen und dann weiter nach Konstantinopel gereist war, um dort »die Bezie- hungen zum allmächtigen Generalkonservator Hamdy Bey, die durch Missver- ständnisse mit der Deutschen Orient-Gesellschaft sehr unerfreulich gewesen waren, durch persönliche Aussprache wieder ins Geleise zu bringen« – was »namentlich mit Hilfe unseres dortigen Museumsvertreters Dr. Wiegang schließlich gelang« (BODE/GAEHTGENS/PAUL Bd. 1, 1997: 336). Die Deutsche Orient-Gesellschaft war 1898 aus dem 1887 gegründeten Orient-Komitee hervorgegangen und stellte finanzielle Mittel zur Verfügung, mithilfe derer Ausgrabungen und Erwerbungen antiker Artefakte gefördert wer- den sollten, natürlich mit dem Ziel, die Sammlungen der Berliner Museen zu vergrößern (BODE/GAEHTGENS/PAUL Bd. 2, 1997: 301). Dass es dabei zu Verwick- lungen rund um den als ›besessenen Bilderjäger‹ geltenden Bode kam (vgl. VERGOOSSEN 2006: 223), zeigt das Beispiel der Erwerbung der sogenannten Mschatta-Fassade (vgl. BRISCH 1996: 40f.). Die Wand einer umayyadischen Resi- denz in der Nähe der jordanischen Hauptstadt Amman ging im Jahr 1903 als Geschenk des osmanischen Sultans Abdulhamid II. an Kaiser Wilhelm II., der sich auf Bodes Drängen hin darum gekümmert hatte, die Fassade zu erwerben. Die Notwendigkeit, die Fassade abzubauen und nach Berlin zu bringen, wurde damit begründet, die aus dem 8. Jahrhundert stammende Architektur vor dem Bau einer in der Nähe der Anlage verlaufenden Eisenbahnstrecke schützen zu wollen, deren Bau von deutschen Ingenieuren geleitet wurde (vgl. BRISCH 1996: 40). Schließlich konnte sie von deutschen Archäologen in ihre Einzelteile zer- legt und nach Berlin verschifft werden, wo sie ins Zentrum einer neueinzurich- tenden Abteilung für islamische Kunst gestellt werden sollte, in der neben der Architektur auch aus Bodes persönlicher Sammlung stammende Teppiche ge- zeigt werden sollten (vgl. ENDERLEIN: 1995: 7; BRISCH: 1996: 41f.). Doch nicht nur Wilhelm Bode, sondern auch Osman Hamdi war im Auf- trag seines Staates im Kulturbetrieb aktiv, ihm kam eine nicht zu unterschät- zende Position in der Museums- und Kunstszene Konstantinopels im ausge- henden 19. Jahrhundert zu (vgl. ALTINOBA 2016: 49-51). 1881 hatte er einen An- trag zur Errichtung einer Kunstschule gestellt, die ein Jahr später als Mekteb-i Sanâyi-i Nefîse-i Şahâne, also als Kaiserliche Akademie der Schönen Künste in Konstantinopel offiziell gegründet wurde. 1891 gründete er dort schließlich das archäologische Museum und leitete es bis zu seinem Tod im Jahre 1910. Die Gründung des Museums und der Kunstschule machen deutlich, dass Hamdi die Reformen im osmanischen Bildungssystem mitgestaltete und den Weg für die Ausbildung junger Kunstschaffender im eigenen Land bereitete (vgl. AL- TINOBA 2016: 50). Zum 25-jährigen Bestehen seines Museums im Jahr 1906 überbrachte auch Wilhelm Bode im Namen der Königlichen Museen in Berlin seine Glückwünsche. In einem prächtigen Sendschreiben rühmte Bode nicht nur den Stellenwert des archäologischen Museums in Konstantinopel, sondern bedankte sich auch für die Unterstützung Hamdis, der die »wissenschaftlichen Bestrebungen« anderer Nationen immer unterstützt habe.7 7 Das Dokument ist abgebildet in CEZAR Bd. 1, 1995: S. 246f. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 152 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene Andererseits partizipierte Hamdi als Künstler auch am europäischen Kunstbetrieb, indem er – darauf wird im Folgenden noch genauer einzugehen sein – in seiner Studienzeit in Paris in den 1860er Jahren auch ausgebildet wor- den war. Der Historiker Edhem Eldem wies ausdrücklich darauf hin, dass Ham- dis Bilder aus den Jahren von 1891 bis 1909 vor allem in Europa und Amerika gezeigt wurden und sich an ein westliches Publikum richteten (vgl. ELDEM 2012: 342). Ich halte es für denkbar, dass die Bilder jedoch nicht nur von europäischen Rezipierenden, sondern auch von der osmanischen Elite geschätzt wurden, die in der Regel in Paris an Militärschulen ausgebildet wurde und die die nationa- listischen Bestrebungen innerhalb des osmanischen Reiches maßgeblich vo- rantrieb. Ein solches Publikum könnte bei Aufenthalten in Paris oder London durchaus an den historisch anmutenden Sujets interessiert gewesen sein, die augenscheinlich eine traditionelle und glorreiche osmanische Kultur präsentie- ren (vgl. SHAW 2011: 67f.; ERSOY 2010). Abb. 2: Osman Hamdi: Der Schildkrötenzieher, 1906, Öl auf Leinwand, 221,5 x 120 cm, Pera Müzesi, Is- tanbul. Quelle: Wikimedia Commons. https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Paintings_by_Os- man_Hamdi_Bey#/media/File:Osman_Hamdi_Bey_001.jpg [letzter Zugriff: 26.04.2018] Dass es sich bei den aufgrund ihrer zahlreichen Details authentisch wirkenden Bildern jedoch zum Teil um äußerst raffinierte Konstrukte handelt, konnte Ed- hem Eldem mit Blick auf den sogenannten Schildkrötenerzieher nachweisen (Abb. 2; vgl. ELDEM 2012: 348-354). Das Gemälde, das 2004 mit einem IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 153 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene Rekordpreis innerhalb der Türkei verkauft wurde, zeigt einen Mann mit rotem Gewand und Turban, der in seinen hinter dem Rücken verschränkten Händen eine lange Flöte hält und sich zu einigen Schildkröten hinab beugt. Eldem ent- deckte in einer Ausgabe der französischen Zeitschrift Le Tour de Monde aus dem Jahr 1869 einen Reisebericht aus Japan, in dem von ›Schildkrötenerzie- hern‹ berichtet wurde, die die Tiere durch das Spiel auf einer Metalltrommel dazu gebracht haben sollen, eine Reihe zu bilden und aufeinander zu klettern. Hamdi erwähnte in einem Brief an seinen Vater aus dem selben Jahr, dass er die Zeitschrift lese; die Vermutung liegt also nahe, dass er den entsprechenden Artikel und die den Text illustrierende Abbildung gesehen hatte und das aus Japan stammende Sujet Jahre später aufgriff, um es in den osmanischen Kon- text zu übersetzten (vgl. ELDEM 2012: 350): Hamdis Schildkrötenerzieher ist ein Derwisch, der neben einer Trommel eine Nay – ein traditionelles Instrument in der islamischen Mystik – hinter seinem Rücken hält. Das Gemälde wurde im Pariser Salon von 1906 ausgestellt. Abb. 3: Osman Hamdi: Der Wunderbrungen oder Lesender Araber, 1904, Öl auf Leinwand, 200 x 151 cm, Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin. Quelle: CEZAR Bd. 2, 1995: 714 Zwei Jahre zuvor wurde in Paris ein weiteres Gemälde Hamdis gezeigt, das einen dem Schildkrötenerzieher nicht unähnlichen Mann in langen Gewändern IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 154 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene und mit Vollbart zeigt8, wie er konzentriert in einem Buch, einer Ausgabe des Korans, liest (Abb. 3). Das leuchtend gelbe Übergewand des Mannes bildet ei- nen wirkungsvollen Kontrast zu der tiefblauen, gekachelten Wand, in die in ei- ner Nische ein Brunnen eingelassen ist. Der marmorne Boden ist mit einem faltigen, alten Teppichfragment bedeckt, das mehrere Risse aufweist. Das als Der Wunderbrunnen oder Der lesende Araber bezeichnete Gemälde hängt seit 2012 im Foyer der Berliner Nationalgalerie (vgl. VOSS 2014: o.S.). Die Erwer- bungs- und Ausstellungsgeschichte des Bildes ist kompliziert. Das Gemälde ge- langte wohl, wie die Türkische Straßenszene, durch die Vermittlung des Kunst- historikers, Archäologen und Teppichsammlers Friedrich Sarre (vgl. KRÖGER 2015a) über die Deutsche Orientgesellschaft nach Berlin (vgl. FUHRMANN 2015: 50) und befand sich scheinbar zunächst im Besitz Wilhelm Bodes. 1914 wurde es von der Gemäldegalerie »zu Dekorationszwecken« an das Auswärtige Amt ausgeliehen, wo es sich auch 1919 noch befand.9 Erst 1934 ging es als Staats- eigentum auf die Nationalgalerie über.10 Mit Blick auf die eingangs formulierte Fragestellung zeigt sich, dass in den Gemälden Hamdis Teppiche als der Grund erscheinen, auf dem sich die orientalistisch gewandeten Figuren präsentieren. Der ›Orientteppich‹ ist der Gegenstand, der auf scheinbar authentische Weise ›den Orient‹ verkörpert und der bis heute als Zeichen gilt, um das der abendländischen Kultur entgegenstehende Morgenland zu kennzeichnen.11 Um 1900 war er in den Wohnungen des europäischen Bürgertums zu einem unverzichtbaren Einrichtungsgegenstand avanciert und zierte exotisch anmu- tende Räume. ›Specialität: Orientalische Teppiche‹ Der Kunsthistoriker und Teppichforscher Kurt Erdmann schrieb 1962 in seinem Buch Europa und der Orientteppich, dass dieser den »Unterschied von abend- ländischer und morgenländischer Lebensform und Wohnkultur« evident ma- che (ERDMANN 1962: 117). Weiter heißt es dort: Trotz seiner weiten Verbreitung ist der Teppich im Abendland niemals wirklich heimisch geworden. Er bleibt zu allen Zeiten eine zusätzliche Bereicherung, die den andersartigen Verhältnissen angepaßt wird. Im Orient dagegen ist er lebensnotwendiges Gerät, ja Grundlage aller Wohnkultur. Wir haben uns, so könnte man sagen, gewöhnt, auf Teppi- chen zu gehen. Der Orientale lebt auf ihnen (ERDMANN 1962: 117). 8 Nicht nur Eldem hat wiederholt darauf verwiesen, dass Hamdi sich in seinen Gemälden immer wieder selbst dargestellt habe. Wie diverse Fotografien zeigen, hatte Hamdi ein Interesse daran, in orientalischen Gewändern zu posieren und sich abbilden zu lassen; eine Fotografie von 1903 zeigt Hamdi in einer Pose, an der er sich im Gemälde mit Derwischen an einem Kindergrab für die Dar- stellung zweier Figuren orientierte (vgl. ELDEM 2012: 366). 9 SMB-ZA, I/GG 222, Bl. 31. Mein Dank geht an Michaela Hussein-Wiedemann vom Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin, die mir die entsprechenden Archivalien zu Hamdi zur Verfügung gestellt hat. 10 SMB-ZA, I/NG 69, Bl. 79f. 11 So zeigte beispielsweise das Cover der Frankfurter Allgemeine Woche der Ausgabe vom 13. April 2017 den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf einem fliegenden Teppich sitzend. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 155 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene Erdmann hatte 1927 bei Erwin Panofsky in Hamburg promoviert und anschlie- ßend ein Volontariat bei den Staatlichen Museen zu Berlin absolviert. Die Zu- sammenarbeit mit Friedrich Sarre, der selbst persische Teppiche sammelte und erforschte (vgl. KRÖGER: 2015b), begründete seine lebenslange wissenschaftli- che Auseinandersetzung mit westasiatischen Teppichen (KRÖGER 2018: o.S.). Erdmann wurde 1958 Direktor der islamischen Abteilung der Museen zu Berlin und stand damit in einer Reihe mit Ernst Kühnel und Friedrich Sarre, Wilhelm Bode und Julius Lessing. Diese Wissenschaftler, die sich intensiv mit islami- schen Kunstgegenständen und vor allem mit dem Teppich beschäftigt hatten, gingen – wie im Folgenden zu zeigen ist – von einer Differenz zwischen euro- päischer und (west-)asiatischer Kunst aus. In Erdmanns Beschreibung der Differenz von Morgen- und Abendland anhand des ›Orientteppichs‹ kommt der Standpunkt der Betrachtenden und mit ihm das Verhältnis von Teppich und Bild ins Spiel: Im Abendland ist die Wand der wichtigste Teil des Raumes. Vor ihr stehen die kunstvoll geschnitzten Schränke und Truhen, an ihr hängen die Bilder. Es ist bezeichnend, daß alle eigentlich europäischen Teppiche für die Wand, also hängend gedacht und darum bildhaft gestaltet sind. Im Morgenland kommt der Wand […] nur untergeordnete Bedeutung zu. Entscheidend ist die Bodenfläche, der hier liegende Teppich bestimmt den Raumeindruck (ERDMANN 1963: 117). Diese Unterscheidung zwischen europäischen Wandteppichen, die dem Na- men einer Familie französischer Teppichwirker folgend als Gobelins bezeichnet werden, und orientalischen Teppichen findet man auch in einem Artikel im Kunstgewerbeblatt von 1913/14. Konrad Astfalck charakterisierte den Gobelin als »Stoff-Bild«, das einer gemalten Vorlage folgt, und stellte diesem explizit den ›orientalischen‹ Teppich gegenüber, der ›in seiner Heimat‹ nicht nur zur Zierde und Strukturierung des Bodens, sondern unter anderem auch als Wand- schmuck und zur Verkleidung von Möbeln eingesetzt werde. Die Teppiche wur- den als »Prunkstücke, wenn nicht gar als Kult-Gegenstände« gebraucht, denn ihre Funktion bestehe unter anderem darin, als Unterlage während des Gebets zu dienen (vgl. ASTFALCK 1913/14: 23). Dieser Aspekt spielt in der Teppichfor- schung bis heute eine Rolle und schlägt sich in der alternativen Bezeich- nung ›islamischer Teppich‹ nieder, auf die man allerdings eher im englischspra- chigen Raum trifft.12 Tatsächlich gibt es nicht nur verschiedene Techniken und Materialien, mit denen unterschiedliche Teppiche hergestellt werden – die einfachste Unter- scheidung ist wohl die zwischen einem gewebten und einem geknüpften Tep- pich –, sondern auch verschiedene Formate mit denen wiederum bestimmte Funktionen verbunden waren (vgl. DENNY 2014: 10). Ein Beispiel ist der nach seinem zentralen Motiv benannte Medaillon-Teppich, dem an osmanischen o- der persischen Höfen aufgrund seiner Größe, seines kostbaren Materials, diffi- ziler Muster und auffälliger Farbigkeit repräsentative Funktionen zukommen konnte (vgl. DENNY 2014: 68f.). Am einfachsten sind wohl Gebetsteppiche, Sa- jjadah, zu identifizieren (DENNY 2014: 54-53): Sie stellen häufig die Mihrab 12 Zum Für und Wider der Begriffe vgl. DENNY 2014: 10 und BRÜGGEMANN 2007: 17f. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 156 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene genannte Mauernische einer Moschee dar, die den Betenden die Richtung nach Mekka anzeigt, wie am Beispiel eines osmanischen Teppichs aus dem 18. Jahr- hundert gut nachzuvollziehen ist (Abb. 4). Abb. 4: Osmanischer Gebetsteppich, 18. Jahrhundert, Wollflorkette und -schuss, 170 x 122,5 cm, The Walters Art Museum, Baltimore Quelle: Wikimedia Commons. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Turkish_-_Prayer_Rug_- _Google_Art_Project.jpg [letzter Zugriff: 26.04.2018] Das Zentrum des Teppichs bildet eine rote, spitz zulaufende Fläche, die von zwei Säulen als architektonische Form im Sinne einer Art Fensternische gekenn- zeichnet wird. In ihrer Spitze erinnert eine floral anmutende Figuration auf- grund ihrer Positionierung und ihres Umrisses an eine Lampe; mehrere Rah- mungen, darunter eine breite auf braungelben Grund und mit vegetabilem Rapport, umschließen das rote Zentrum. Der Gebetsteppich erschafft so einen Raum im Raum im Raum, in dessen Zentrum die Hinwendung der betenden Person zu Gott steht. Trotz der Diversität der Teppiche aus dem (west-)asiatischen Raum kon- statierte Erdmann, wie eng doch ›der Orientteppich‹ mit ›unserer‹, das heißt der europäischen Wohnkultur verbunden sei: »Auch wir empfinden einen Raum ohne Bodenbelag als kahl, und der ›echte Perser‹ ist immer noch das begehr- teste Mittel, ihn freundlich zu gestalten« (ERDMANN 1962: 67). Der ›echte Perser‹ scheint in Europa, so legen Erdmanns Ausführungen nahe, jedoch auf seine Funktion als prächtiger Bodenbelag mit leuchtenden Farben und Formen IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 157 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene reduziert worden zu sein. Vielleicht schwingt in Erdmanns Ausführungen noch ein Echo dessen mit, was Dolf Sternberger in seinen Ansichten vom 19. Jahr- hundert anschaulich vor Augen gestellt hat, nämlich der Wunsch der Menschen nach atmosphärischen Innenräumen, in denen sich Lichtreflexe zwischen Grünpflanzen und Palmen verlieren, in denen »die eigne Farbenglut des einge- brachten Orients, der persischen Teppiche, Polster und Kissen, der irisierende Glanz der Damaste und der Taffetkleider, der matte Schein der Statuen wie der elfenbeinernen oder alabasternen weiblichen Wangen und Glieder sich misch- ten und steigerten« (STERNBERGER 1974: 147). Der Teppich war in solch phantas- tischen Räumen augenscheinlich das Herz des »orientalischen Ensembles« (STERNBERGER 1974: 149) und wurde auf eine dekorative Funktion beschränkt. Sternbergers Ausführungen lassen vermuten, dass die Beliebtheit des ›orien- talischen‹ Teppichs vor allem aus seiner ästhetischen Wirkung resultierte. Der Kulturtheorie des 19. Jahrhunderts zufolge war der Teppich, verstanden als ein kulturgeschichtlich bedeutsames Artefakt, jedoch noch mehr. Für Gottfried Semper, der bei seiner Suche nach dem Stil eine universelle Kulturgeschichte imaginierte, repräsentierte das Textile als eines der ältesten architektonischen Elemente, das sich auf die Form der festen Bauten ausgewirkt haben soll (vgl. SCHNEIDER 2012). Der »Teppichwand« komme Semper zufolge »eine höchst wichtige Bedeutung in der allgemeinen Kunstgeschichte« zu – schließlich habe die Farbigkeit der ›orientalischen‹ Kunstgegenstände später die Malerei und die Bildhauerei hervorgebracht (vgl. SEMPER 1851: 56). Während Semper den Teppich also als Vorläufer und Schmuck der Wandfläche verstand, hatte er für Erdmann seinen Ort am Boden. Erdmann ging von einer Opposition von Teppich und Bild aus, die sich mit der Annahme begründen lässt, dass das Bild, verstanden als Tafel- oder Leinwandbild, als Präsentationsfläche eine Wand benötige, der Teppich hingegen vor allem auf dem Boden liege. Der folgenreichste Unterschied in der Wahrnehmung von Teppich und Bild scheint jedoch aus der Einteilung in künstlerische und kunst- handwerkliche Objekte zu resultieren. Als dekorativer Einrichtungsgegenstand gebührte dem Teppich ein anderer Ort als dem Kunstwerk, was am Beispiel des Kataloges der 60. Kunstausstellung der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin deutlich wird (vgl. [UNBEKANNT] 1888). Hier finden sich in den Werbean- zeigen, die dem Verzeichnis der ausgestellten Bilder vorangestellt sind, zwei Annoncen, in denen Handlungen explizit ›orientalische Teppiche‹ neben Mö- beln und Polsterwaren aller Art anbieten (Abb. 5). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 158 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene Abb. 5: Werbeanzeige Quelle: [UNBEKANNT] 1888 Der ›Orientteppich‹ im Visier deutscher Kunsthistoriker In Europa waren Teppiche bereits in der Frühen Neuzeit begehrte Güter, doch war ihre Erwerbung durchaus kostspielig und blieb den wohlhabenden Perso- nen, wie sehr reichen Kaufleuten und dem Adel, vorbehalten. Durch die Expo- nate auf der ersten Weltausstellung 1851 in London wurde die europäische In- dustrie zur vermehrten Produktion orientalisierender kunsthandwerklicher Ar- beiten angeregt (vgl. HAASE 1995: 352). Ab 1860 überstieg die inländische Pro- duktion die Einfuhr von Teppichen (STERNBERGER 1974: 222), doch die Qualität der Teppiche des westasiatischen Raumes blieb besonders hinsichtlich ihrer Farbigkeit unübertroffen (ERDMANN 1962: 74f.). Hamdis Türkische Straßenszene setzt also eine in dieser Zeit durchaus vorstellbare Situation ins Bild: Eine west- liche Familie, modisch visiert wie die Kleidung zeigt, interessiert sich für ›echte Orientteppiche‹, die sie nicht in einer entsprechend ausgerichteten Handlung im Heimatland (vgl. Abb. 5), sondern auf einer ›Orientreise‹ zu erwerben ge- denkt. Privatpersonen kauften nicht nur einige wenige Teppiche, sondern be- gannen damit, Teppichsammlungen anzulegen, die nicht nur dem eigenen Ver- gnügen, sondern auch als Wertanlage dienen konnten (vgl. ASTFALCK 1913/14: IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 159 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene 26). Das Sammeln von Teppichen erforderte natürlich die Kennerschaft der Sammelnden, es brauchte Kriterien, um Teppiche zu datieren, ihre Herkunft zu lokalisieren und um ihren Wert schätzen zu können. 1913/14 konnte Rudolf Pich- ler in einer Besprechung einer Berliner Teppichausstellung resümieren, dass Forscher wie Wilhelm Bode, Julius Lessing, Alois Riegl und andere »durch her- vorragende wissenschaftliche Forschung den Grundstein gelegt [haben] für unsere heutige Kenntnis orientalischer Teppichknüpfereien und –Webereien« (PICHLER 1913/14: 69) und so die Wissensgrundlage für das an kennerschaftli- chen Fragen interessiere Publikum schufen. Vor allem Julius Lessing, der Direktor des Kunstgewerbemuseums, hatte der asiatischen Kunst schon früh besonderes Interesse entgegenge- bracht. Er sammelte für die Berliner Museen islamische Kunst und gilt als Be- gründer der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem ›Orientteppich‹ (vgl. ENDERLEIN 1995: 13). 1877 veröffentlichte er eine Bildmappe mit ›altorientali- schen Teppichmustern‹, in der er allerdings nur vier tatsächlich existierende Teppiche vorstellte (vgl. LESSING 1877). Die Abbildungen zeigen vorrangig Re- konstruktionen, die Lessing aus der Untersuchung von in Gemälden des 15., 16. und 17. Jahrhunderts dargestellten Teppichen abgeleitet hatte. Er etablierte damit eine Methode, mit der sich Teppichmuster systematisieren und der ter- mius ante quem ihrer Entstehung abgeleitet werden konnte. Allerdings interes- sierte Lessing sich von seinem eurozentristischen Standort aus weniger für die Teppiche selbst als für das Verhältnis, in dem sie zu europäischen Kunstwerken standen. So entgegnete er in der Diskussion mit Bode, der sich ab 1904 für die Errichtung einer eigenen, altarabisch-persischen Abteilung in den Berliner Mu- seen einsetzte: Die Teppiche sind uns keine fremden, dem Islam angehörigen Schaustücke, sondern diese Teppiche, welche mit kaum einer Ausnahme in europäischen Kirchen auf unsere Tage hin gerettet sind, bildeten feste Bestandteile der europäischen Kultur und haben eine so durchgreifende Wirkung auf die europäische Kunst ausgeübt, daß sie für die allgemeine Bildung und Belehrung im Zusammenhang mit der heimischen Kunst unendlich viel wich- tiger sind, als in ihrem Zusammenhang mit dem Islam (Lessing zitiert nach ENDERLEIN 1995: 17). Lessing bezog sich in dieser Stellungnahme auf den Umstand, dass die Kunst- historiker des 19. Jahrhunderts tatsächlich in Kirchen – vor allem in Italien, aber auch in Osteuropa – auf westasiatische Teppiche stießen, wohin sie einst als wertvolle Handelsgüter, aber unter anderem auch als Beute der Kreuzfahrer gelangt waren (vgl. DENNY 2014: 9). Er interessierte sich nicht für ihre ursprüng- liche Herkunft, sondern durchtrennte den Faden ihrer Überlieferungsge- schichte und vereinnahmte sie für die eigene Kulturgeschichtsschreibung. Dass Teppiche in der islamisch geprägten Kultur verschiedene Funktionen hat- ten, dass sie sowohl Kunst- als auch Gebrauchsgegenstände waren und dass sich diverse Exemplare natürlich auch in den osmanischen Sammlungen, bei- spielsweise der des Topkapı-Palastes in Konstantinopel, erhalten hatten, sah Lessing von seinem Blickpunkt aus nicht. Auch Wilhelm Bode interessierte sich für orientalische Teppiche zu- nächst im Zusammenhang mit der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte, IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 160 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene wovon ein Blick in den Ausstellungsraum der Berliner Skulpturensammlung im Alten Museum Zeugnis ablegt. So präsentierte er 1892 die Madonna des Flo- rentiner Bildhauers Benedetto da Maiana vor einem weißgrundigen persischen Teppich von über sechs Metern Länge, den er 1891 in Venedig erworben hatte. Ausgestellt mit den italienischen Kunstwerken wurde der Teppich zur Präsenta- tionsfläche und zum Beiwerk der italienischen Skulptur, die ihrerseits in einen ästhetischen und hierarchischen Aspekten folgenden Ausstellungszusammen- hang eingebunden war (vgl. VERGOOSSEN 2006: 224). Auch wenn Bode die west- asiatischen Teppiche durchaus als Kunstwerke begriff, wie seine späteren Be- mühungen um die Errichtung einer eigenen Abteilung für islamische Kunst suggerieren, zeigt sich an dieser frühen Ausstellungspraxis sein an der euro- päischen Malerei geschultes Auge. Die Positionierung einer Madonnen-Figur vor einem persischen Teppich erinnert an die im Cinquecento gehäuft vorkom- menden Darstellungen der thronenden Gottesmutter auf einem prächtigen Teppich, in denen Almut Goldhahn eine räumlich strukturierende Funktion in- nerhalb der Komposition erkannte. Der Stoffgrund grenzt die Madonna ein- und damit gleichzeitig von anderen Figuren im Bild ab, was nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Analogien zum Motiv des hortus conclusus nahelege (vgl. GOLDHAHN 2010). 1901 veröffentlichte Bode eine Monographie über die Geschichte west- asiatischer Knüpfteppiche, die noch 1985 in einer fünften Auflage erschien. In der Einleitung der Erstausgabe knüpfte Bode an das methodische Vorgehen Lessings an und betonte: »Als eine der zuverlässigsten und ergiebigsten Quel- len für die Kenntnis der vorderasiatischen Kunstteppiche und ihre Entwicklung hat sich bisher das Studium der auf alten Gemälden vorkommenden Teppiche erwiesen« (BODE 1901: 3). Man schlage damit gleichsam zwei Fliegen mit einer Klappe, denn man lerne die Bedeutung kennen, »die die Teppiche neben den orientalischen Geweben für die occidentale Kunst gehabt haben; nicht nur für das Kunstgewerbe, sondern selbst für die grosse Kunst, insbesondere durch den Einfluss auf die Entwicklung der grossen koloristischen Malerschulen, der venezianischen und teilweise auch der holländischen Schule« (BODE 1901: 3). Bode betrachtet also die westasiatischen Teppiche im Zusammenhang mit der Malerei der alten Meister. Schließlich ging er sogar noch einen Schritt weiter und ordnet sie mit hegemonialem Gestus in ein hierarchisches Modell der Kunstgattungen ein: Erst die Kenntnis der farbenprächtigen Teppiche habe die venezianischen Maler dazu verleitet, die Wirkung der Farbe in ihren Gemälden zu erproben – und schließlich hätten Giorgione und Tizian »die venezianische Malerei von dieser Abhängigkeit vom Kunstgewerbe des Ostens« gelöst und sie »malerisch völlig frei« gemacht (BODE 1901: 4). Farbe und Orientalismus Mit der Betonung der Farbe lenkt Bode die Aufmerksamkeit auf die eine Prota- gonistin, die von der Kunsttheorie seit dem 16. Jahrhundert in einen steten IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 161 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene Wettkampf mit ihrem Gegenpart, der Linie, geschickt wurde (vgl. KRIEGER 2006). In seinem Buch über Rembrandt gibt sich Bode als Verehrer des großen Kolo- risten zu erkennen, an dessen Werk sichtbar werde, »welche Bedeutung in der Malerei die Schönheit des Materials und die Kenntnis seiner Bereitung und Be- handlung haben« (BODE 1917: 28f.). Als Kenner der italienischen und niederlän- dischen Malerei war ihm die Konkurrenz zwischen Farbe und Linie natürlich vertraut: »Die Komposition in Rembrandts Werken erscheint nur willkürlich, wenn man sie mit dem Maß der italienischen Klassiker mißt; denn nicht nach den Linien, sondern nach dem Licht baut er sie auf« (BODE 1917: 23). In der Kunst des 19. Jahrhunderts wurde dieser kunsttheoretische Streit allerdings schon lange nicht mehr in Italien und den Niederlanden, sondern in Frankreich ausgetragen (vgl. IMDAHL 1988: 87-98). Während Jean Dominique Ingres Ge- mälde malte, denen ein streng linearer Bildaufbau zugrunde liegt, komponierte Eugène Delacroix seine Bilder ausgehend von der Fläche und setzte bei der Kolorierung auf die sublime Wirkung der Farbe wie anhand seines Gemäldes Tod des Sardanapal eindrücklich deutlich wird (Abb. 6). In der Darstellung des Massakers, das der von seinen Feinden bedrängte assyrische Herrscher unter seinen Ergebenen anrichten ließ, ist kein einziger Tropfen Blut zu sehen. Statt- dessen fließen rote Stoffe diagonal durch das Bild, das jede perspektivische Stabilität verloren hat, und evozieren den Eindruck eines regelrechten Blut- rauschs. Abb. 6: Eugène Delacroix: Der Tod des Sardanapal, 1827/28, Öl auf Leinwand, 395 x 495, Louvre, Paris. Quelle: Wikimedia Commons. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Eug%C3%A8ne_Delacroix_- _La_Mort_de_Sardanapale.jpg#/media/File:Eug%C3%A8ne_Delacroix_-_La_Mort_de_Sardana- pale.jpg [letzter Zugriff: 26.04.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 162 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene Von Delacroix ist die Bemerkung überliefert, die schönsten Bilder, die er je ge- sehen habe, seien Teppiche gewesen (vgl. SHAW 2011: 2). Anhand des Gemäldes Die Frauen von Algier lässt sich ein Zusammenhang zwischen Delacroix’ Be- geisterung für geknüpfte Teppiche und seiner Darstellungsweise herstellen (Abb. 7). Das Gemälde zeigt ein Zimmer, in dem drei Haremsdamen auf dem mit Teppichen ausgekleideten Boden sitzen, während eine Bedienstete im Vor- beigehen zu ihnen herabschaut. Abgesehen von der Haut der Frauen ist kaum ein Gegenstand auszumachen, der nicht mit Mustern überzogen ist. Ralph Ubl hat von der »textilen Einhüllung« (UBL 2007: 299) dieses Raumes gesprochen, von dem weder die steinerne Architektur noch die perspektivische Konstruk- tion erkennbar seien. Der Zusammenhang zwischen dem Raum und seine Be- wohnerinnen ist vielmehr der eines Gewebes, in dem sich feste Konturen auf- lösen und diffuse Farbflächen wirksam werden, was besonders gut an den zwei Köpfen vor der verschatteten Ecke sichtbar wird. Außerdem treten einzelne Farbkleckse in Erscheinung. Das Flirren von Licht und Schatten lässt einzelne Farbtöne vor und zurücktreten und gibt den dargestellten Textilien ihre Materi- alität in Gestalt der opaken Farbe. Die Bilder Delacroix’ lassen sich als in Falten gelegte Teppiche denken: Sie erscheinen als räumliche Gebilde, auf denen we- niger die fest umrissene Form einer Figuration als ihre Farbe und deren flir- rende Wirkung eine Rolle spielt. Abb. 7: Eugène Delacroix: Die Frauen von Algier, 1834, Öl auf Leinwand, 180 x 229 cm, Louvre, Paris Quelle: Wikimedia Commons. https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Les_Fem- mes_d%27Alger_dans_leur_appartement#/media/File:Delacroix_Frauen_von_Algier.jpg [letzter Zugriff: 26.04.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 163 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene In Delacroix’ Gemälde bilden die Teppiche den Grund eines Raumes, der dem französischen Publikum im Salon von 1834, wo das Bild erstmals ausgestellt war, als ein fremder erschienen sein musste. Die wenigsten der Bildbetrachte- rinnen und –betrachter dürften – im Gegensatz zu Delacroix selbst (vgl. UBL 2007: 296) – jemals einen Harem betreten haben. Die Faszination für die fremd anmutenden Sujets und die Einrichtung der heimischen Wohnräume mit Tep- pichen und anderen ›orientalisch‹ erscheinenden Gegenständen bedingte sich wechselseitig. Der Maler A.E. Duranton zeigte auf einem Gemälde ein Interieur im Hause der Pariser Kaufmannsfamilie Goupil (vgl. THORNTON 1994: 11), das maßgeblich von der Form und den Farben diverser Teppiche dominiert wird, die an den Wänden des Zimmers hängen (Abb. 8). Dazwischen befinden sich hölzerne Reliefs mit runden Ornamenten unter denen auf Konsolen verschie- dene Karaffen und Vasen abgestellt sind. Im oberen Teil ist die Wand mit hori- zontal verlaufenden Friesen, Lampenschirmen und Rüstzeug dekoriert. Den Teppichen kommt in der Darstellung eine doppelte Funktion zu. Einerseits auf der innerbildlichen Ebene, wo sie den Raum dekorieren, in dem die Bewohne- rInnen ihren orientalischen Traum verwirklichten. Als großformatige Flächen dominieren sie das Zimmer durch ihre rötlichen Farbtöne. Der Raum ist als ein Ort gekennzeichnet, der den Orient in Gestalt kunsthandwerklicher Gegen- stände regelrecht kultiviert. Andererseits markieren die Teppiche wie kein an- derer Gegenstand im Bild die räumliche Wirkung der Darstellung. Durch die perspektivische Darstellung klappen die Teppiche wie Scharniere in den sich in die Tiefe öffnenden Bildraum, vor allem der den Boden bedeckende Teppich trägt zu diesem Effekt bei. Abb. 8: A. E. Duranton: Bei der Familie Goupil, o.J., Öl auf Leinwand, 64 x 91 cm, Privatsammlung Quelle: THORNTON 1994: 11 Im Paris des 19. Jahrhunderts waren solch ausgestattete Innenräume en vogue und auch in den Ateliers der Orientalisten stapelten sich die Antiquitäten, die die Künstler von ihren Reisen in die heutige Türkei, Syrien und Ägypten mitge- bracht hatten. In einem solchen Umfeld bewegte sich der junge Osman Hamdi, der 1860 von seinem Vater als Student der Rechtswissenschaften gemeinsam mit weiteren osmanischen Studenten nach Paris geschickt worden war. Bereits IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 164 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene kurz nach seiner Ankunft brach er sein Studium ab und widmete sich gemein- sam mit Ahmet Ali in den Ateliers von Jean-Léon Gérôme und Gustave Bou- langer ganz der Malerei, während Süleyman Seyyid als Schüler im Atelier Ale- xandre Cabanels tätig war (vgl. SHAW 2011: 50). Hamdis Vater Ibrahim Ethem war 1829 selbst nach Paris gegangen und hatte dort im Zuge seiner militäri- schen Ausbildung das perspektivische Zeichnen erlernt (vgl. ALTINOBA 2016: 40). Zeichnen war seit Beginn des 19. Jahrhunderts Teil des Lehrplans an den Mili- tärakademien, um die Absolventen dazu zu befähigen, Karten und Gebäudean- sichten anzufertigen, die im Rahmen von militärischen Operationen brauchbar waren. Nach ihrer Ausbildung waren verschiedene Offiziere nicht nur im mili- tärischen Dienst, sondern auch künstlerisch tätig, zum Beispiel als Porträt- oder Landschaftsmaler (vgl. ALTINOBA 2016: 41). Hamdi kam also nach Paris und erlernte das perspektivische Darstel- lungsverfahren in einem Umfeld, in dem antike und ›orientalische‹ Sujets all- gegenwärtig waren. Vor allem die Bilder Gérômes erschufen und zementierten orientalische Phantasien – es verwundert nicht, dass eines seiner Gemälde, der Schlangenbeschwörer, 1978 das Cover der Erstausgabe von Edward Saids Ori- entalism zierte (vgl. NOCHLIN 1983: 35). Gérômes Bilder visualisieren die Erzäh- lungen vom Orient, die der Literaturwissenschaftler mit seinem Buch als Kon- struktion und Machtinstrument des Westens beschrieb. Die Gemälde entfalte- ten ihre durchschlagende Wirkung nicht nur aufgrund der populären Sujets, sondern sicherlich auch, weil sie sich eines Darstellungsmodus bedienten, des- sen Ziel die absolute Transparenz auf den dargestellten Gegenstand hin war. Linda Nochlin bezeichnete seine Malweise deshalb als »language of a would- be transparent naturalism« (NOCHLIN 1983: 35; vgl. außerdem NOCHLIN 1983: 37- 41). Im Zentrum des Gemäldes mit dem kleinen Schlangenbeschwörer steht ein als Rückenfigur ins Bild gesetzter nackter Junge auf einem Teppich und hält den Kopf einer großen Schlange empor, die sich um seinen Oberkörper schlingt (Abb. 9). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 165 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene Abb. 9: Jean-Léon Gérôme: Der Schlangenbeschwörer, 1880, Öl auf Leinwand, 84 x 122 cm, Sterling and Francine Clark Art Institute, Williamstown Quelle: Wikimedia Commons. https://en.wikipedia.org/wiki/File:Jean- L%C3%A9on_G%C3%A9r%C3%B4me_-_Le_charmeur_de_serpents.jpg [letzter Zugriff: 26.04.2018] Rechts von dem Kind sitzt ein Flöte spielender, alter Mann auf dem Boden; im Hintergrund des Raumes lehnen die Zuschauer, eine Gruppe grimmiger Krie- ger, an einer türkisblau gekachelten Wand. Das Dekor der Fliesen zeigt in ein Rahmensystem eingelassene, spitz zulaufende Nischen mit darüber ange- brachten Feldern, in denen arabische Schrift eingelassen ist. Das ornamentale Muster mit verschiedenen Rapporten aus stilisierten Ranken, Tulpen und Blät- tern scheint auf ein sehr genaues Studium von Keramiken aus Iznik oder Kü- tahya zurück zu führen zu sein, die man als Wandschmuck in Moscheen und Privathäusern anbrachte. Der vermeintlich dokumentarische Charakter der de- taillierten Kompositionen Gérômes wurde durch Reproduktion seiner Gemälde als Heliogravüren sogar noch gesteigert – ließ sich doch anhand eines solchen Abzugs manchmal kaum unterscheiden, ob man die Wiederholung eines Ge- mäldes oder eine fotografische Aufnahme vor sich hatte (vgl. FÖRSCHLER 2010: 227f.). Gérômes und Hamdis Malerei verbindet zum einen die feinmalerische Technik, zum anderen die detaillierte Wiedergabe bestimmter Bildgegen- stände, die wie Requisiten in verschiedenen Gemälden erscheinen.13 Allerdings wurden an verschiedenen Stellen die Differenzen markiert, die Hamdis Arbei- ten von einem europäischen Orientalismus trennen. So haben Wendy Shaw und Silke Förschler in ihren Untersuchungen zum Beispiel darauf hingewiesen, 13 So erscheint beispielsweise die Porzellanvase aus der Fensternische in der Türkischen Straßen- szene in einem Stillleben von 1876, vgl. CEZAR Bd. 2, 1995: 662. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 166 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene dass Hamdi Frauen in Interieurdarstellungen als tätige Subjekte und nicht als sexualisierte Objekte zeige (FÖRSCHLER 2010: 237-240; SHAW 2011: 71, 83f.). Ah- met Ersoy liest Hamdis Gemälde als visuellen Beitrag zur Konstruktion einer osmanischen Kulturgeschichte durch die Osmanen selbst, die in einer zuneh- menden Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in Literatur, Theater und Bildern – wie beispielsweise in Kostümalben – stattfand (vgl. ERSOY 2010). Es wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass sich Hamdi des akademischen, westlichen, ›detailrealistischen‹ Stils bediene (vgl. FÖRSCHLER 2010: 237). In Hans Beltings Buch über die Perspektive und ihren Ursprung in der arabischen Optik wird der Künstler als Beispiel angeführt, um den Einzug des europäisch geprägten Darstellungsverfahrens in der orientalischen Welt zu illustrieren (vgl. BELTING 2009: 58). Ich möchte abschließend aber zeigen, dass Hamdi den per- spektivischen Raum und die ornamentale Fläche gleichermaßen zum Thema macht und dass in diesem Zusammenhang dem Teppich als Träger von Orna- menten eine besondere Rolle zukommt. Denn Hamdi bewahrte nicht nur auf motivischer, sondern auch auf einer strukturellen Ebene sehr wohl die Sehwei- sen der osmanischen Kultur, indem er Bildräume erschuf, die an Kompositio- nen aus der Miniaturmalerei erinnern. Bilder wie Ornamente Zurück zur türkischen Straßenszene (Abb. 1). Der innerbildliche Grund ist rela- tiv schmal und wird von der Gebäudewand nach hinten begrenzt. Die orna- mentalen Strukturen, die die Fassade rund um die Fensternische zieren, er- scheinen ebenso wie das Fenstergitter als Fläche, auf der sich die ornamenta- len Figurationen nachvollziehen lassen. Anders als die helle Fassade der Wand sind die bunten Teppiche aber nicht als plane Ebenen ausgestellt: Die am Boden liegenden Teppiche sind zusammengeschoben; der eine, den der Händler prä- sentiert, wird gerade entfaltet. Die Muster mit den mehrfach gerahmten Bordü- ren sind nicht eindeutig zu erkennen, auch der aufgehängte Teppich kommt nicht als Wandbehang zur Geltung. Er kommt mit seinen herabhängenden Fransen, der diagonalverlaufenden Falte und dem sich an die Stufen schmie- genden Stoff als plastischer Gegenstand ins Bild, der Tiefenräumlichkeit an- zeigt. Dennoch lässt sich das Muster der Teppiche erkennen und anhand dessen sogar datieren und lokalisieren. So ist der aufgespannte Teppich in Hamdis Ge- mälde vermutlich ein zeitgenössischer, der aus der Gegend um Thessaloniki stammt.14 Anhand des Teppichs als Bildmotiv wird das Changieren von Ornament und Bild, von Fläche und Raum, von Bildmitteln und Bildgegenstand greifbar. Wie Vera Beyer und Christian Spies in dem von ihnen herausgegebenen Sam- melband zum Ornament verdeutlichen, lassen sich anhand von Ornamenten, gerade weil sie sich der mimetischen Repräsentation entziehen, die Strukturen 14 Diese Information verdanke ich der Recherche von Nurol Baykal aus Istanbul. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 167 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene von Darstellung besprechen (vgl. BEYER/SPIES 2012: 14). Anhand von Hamdis Darstellung einer Haremsszene lässt sich diese These nachvollziehen (Abb. 10). Abb. 10: Osman Hamdi: Im Harem, 1880, Öl auf Leinwand, 56 x 116 cm, Erol Kerim Aksoy Koleksiyonu Quelle: Wikimedia Commons. https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Paintings_by_Os- man_Hamdi_Bey#/media/File:Osman_Hamdi_Bey_005.jpg [letzter Zugriff: 26.04.2018] Das Bild zeigt vier weibliche Figuren vor der Wand eines Innenraumes, der auf- grund der Einrichtung als Waschraum zu identifizieren ist. Die vier Frauen ge- hen allerdings keiner näher zu bestimmenden Tätigkeit nach: Sitzend bezie- hungsweise stehend scheinen sie schweigend in Gedanken versunken zu sein. Sie werden im Bild weniger durch ihr Tun, denn durch ihr bloßes Sein wirksam und zwar als Figurationen innerhalb einer ornamentalen Bildstruktur, die zwi- schen Fläche und Raum changiert.15 Beate Söntgen hat eine ähnliche Kippfigur mit Blick auf Vuillards Großes Interieur beschrieben (Abb. 11). Das Gemälde zeigt ein Zimmer, das von Stoffen beherrscht wird: leuchtend gemusterte Tep- piche bilden den Grund, auf dem die Figuren und die Möbel angeordnet sind, weiß-rot gestreifte Vorhänge verschließen die Fenster und dichten den Raum regelrecht ab. Vor den bunten Stoffen, bei deren Betrachtung vor allem ver- schiedene Rottöne auffallen, zeichnen sich die Figuren in ihren dunklen Klei- dern als Silhouetten ab. Ähnlich wie bei Delacroix’ Frauen von Algier scheint das Textile die Malweise inspiriert zu haben: Die Farben sind als opake Tupfen und Striche aufgetragen worden, die sich wie die Fäden in einem Gewebe zu der Bildfläche verbinden. Laut Söntgens Beschreibung erlaube die breite Lein- wand den Blick in einen Innenraum, in dem die Figuren auf verschiedenen Bild- ebenen aufgereiht und durch verschiedene ornamentale Muster auf Teppichen, Tapeten und Kleidung als umrissene Körper isoliert würden. Söntgen hat auf die verschiedenen Verwendungsweisen des Ornaments hingewiesen, das hier einerseits als Motiv, andererseits als vom Gegenstand abgelöstes Muster und 15 Zum Ornamentalen als vom Motiv gelöster Gestaltungsmodus in der frühen Kunstgeschichts- forschung bei Alois Riegl, Theodor Hetzer und Otto Pächt mit Bezug zur aktuellen Bildwissenschaft vgl. DOBBE 2012. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 168 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene als rhythmisierende Struktur erscheint, und gezeigt, wie dadurch ein Spiel mit der räumlichen Wirkung und dem Betrachtungsstandpunkt entsteht: Aus der Nähe betrachtet wirken die ornamentalen Strukturen in ihrer Flächigkeit, aus der Distanz entsteht eher der Eindruck eines Raumes, der sich wie eine Bühne in die Tiefe öffnet (vgl. SÖNTGEN 2012). Abb. 11: Édouard Vuillard: Großes Interieur mit sechs Personen, 1897, Öl auf Leinwand, 90 x 194 cm, Kunsthaus Zürich Quelle: BEYER/SPIES 2012: 92f. Auch Hamdis Haremsszene durchziehen verschiedene Ornamente als Motiv. Der Boden, die Teppiche, die Kacheln, die Tücher und die Gewänder der Frauen sind gemustert. Diese gemusterten Flächen klappen mal mehr, mal weniger nach vorne an die Bildoberfläche und avancieren zu einer rhythmischen Bild- struktur. Die Betrachtenden sehen somit nicht durch die Bildoberfläche in einen sich in die Tiefe öffnenden Raum hinein, sondern werden mit der Flächigkeit des Bildes konfrontiert. Diese Enträumlichung lässt sich anhand des an der Wand angebrachten Teppichs nachvollziehen: Die Augen der Betrachtenden werden von der linken unteren Bildecke anhand der Bordüre des Teppichs über den Vordergrund zu einer kleinen Stufe geführt. Dort gleiten sie zu dem an der Wand hängenden Teppich. Daneben hängen die auf wenige weiße Formen auf dunkel blauem Grund reduzierten Fliesen, die derart detailliert dargestellt sind, dass man genau den Verlauf der Fugen studieren kann. Dabei werden die Au- gen unweigerlich auf das Material der Darstellung selbst und das verblüffende Schillern von Darstellungsmittel und Darstellung verwiesen, was sich anhand des Gemäldes mit der Darstellung zweier musizierender Mädchen in einem an eine Moschee erinnernden Innenraum verdeutlichen lässt (Abb. 12).16 Der räumlichen Logik des Bildes gemäß müssten sich die Kacheln eigentlich hinter den Figuren und somit weiter von der Bildgrenze entfernt befinden. Tatsächlich wirken sie aber, als seien sie direkt auf die Bildoberfläche aufgesetzt und erin- nern somit an die Stoffe und Kacheln wie sie in osmanischen Miniaturen zu 16 Zur Architektur vgl. das Gemälde In der grünen Moschee in Bursa, in: CEZAR Bd. 2, 1995: 727. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 169 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene entdecken sind. Abb. 12: Osman Hamdi: Zwei Musikerinnen, 1880, Öl auf Leinwand, 58 x 39 cm, Pera Müzesi, Istanbul Quelle: Wikimedia Commons. https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Paintings_by_Os- man_Hamdi_Bey#/media/File:%C4%B0ki_M%C3%BCzisyen_K%C4%B1z.png [letzter Zugriff: 26.04.2018] Hamdis Motive bezeugen und generieren gleichermaßen eine kulturelle und historische Identität des osmanischen Reiches. Seine dreidimensional darge- stellten Teppiche knüpfen als Gegenstand an die Bildtradition der osmanischen Kunst an und erproben als Struktur wie sich die ornamentale Darstellungs- weise im Dialog mit der Bildsprache verhält, die er in seinem Studium in Frank- reich erlernt hatte. An diesem Dialog war das Publikum im Salon durchaus in- teressiert, wie die Ausstellungsorte der Bilder Hamdis in Paris und London na- helegen (vgl. ELDEM 2012: 372). Die zeitgenössische Kunstgeschichte hingegen widmete sich der europäischen Kunst der alten Meister, benutzte die als kunst- handwerkliche Arbeiten verstandenen, historischen Teppiche aus dem westasi- atischen Raum, um eine Hierarchie der Gattungen zu untermauern und schuf ein Ungleichgewicht zwischen der als Kunst verstandenen, europäischen Ma- lerei und dem aus dem (west-)asiatischen Raum stammenden Kunsthandwerk. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 170 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene Zwar ist der frühen Teppichforschung zugute zu halten, dass sie die Kunstwerke anderer Kulturen wahrnahmen, untersuchten, in historische Kontexte einban- den und in einen Dialog mit der europäischen Kunst stellten. Gleichzeitig zogen sie damit auch Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, wie bei- spielsweise an Lessings Äußerung über die Überlieferung der Teppiche ersicht- lich wurde. Vor diesem Hintergrund ist der Teppich ein Verhandlungsort kultu- reller Identitäten im doppelten Sinne: Als Gegenstand der Kunstgeschichts- schreibung wird er zum Zeichen für die andere, für die ›historisch-orientalische‹ Kultur des westasiatischen Raumes, als Bildmotiv in der zeitgenössischen Ma- lerei hingegen wird er zum Bildgrund, auf dem verschiedene Modi der Darstel- lung verhandelt und die konstruierten Gegensätze von morgenländischer Bild- fläche und abendländischem Bildraum unterlaufen werden. Literatur ALTINOBA, BUKET: Die Istanbuler Kunstakademie von ihrer Gründung bis heute. Moderne Kunst, Nationsbildung und Kulturtransfer in der Türkei. Berlin [Gebr. Mann Verlag] 2016 ASTFALCK, KONRAD: Gobelins. In: Kunstgewerbeblatt, 25(2), 1913/14, S. 21-26 BELTING, HANS: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München [C.H. Beck] 2009 BEYER, VERA; CHRISTIAN SPIES: Einleitung. Ornamente und ornamentale Modi des Bildes. 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İstanbul [İlke Basın Yayın] 1995 CHAHINE, RIMA: Das orientalistische Plakat Westeuropas 1880-1914. Dissertation, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 2013, 555 S. http://oops.uni-oldenburg.de/2354/ [letzter Zugriff: 19.02.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 171 Anna Christina Schütz: Osman Hamdi Beys Türkische Straßenszene DENNY, WALTER B.: How to read Islamic carpets. New York [NY, Metropolitan Museum of Art] 2014 DOBBE, MARTINA: Das Ornamentale als bildtheoretisches Konzept? In: BEYER, VERA; CHRISTIAN SPIES (Hrsg.): Ornament. Motiv, Modus, Bild. München [Fink] 2012, S. 317-347 ELDEM, EDHEM: An Ottoman Traveller to the Orient: Osman Hamdi Bey. In: INANKUR, ZEYNEP; REINA LEWIS, MARY ROBERTS (Hrsg.): The Poetics and Politics of Place: Ottoman Istanbul and British Orientalism. Istanbul [WA: U Washington P] 2010, S. 169-181 ELDEM, EDHEM: Making Sense of Osman Hamdi Bey and His Paintings. 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These so-called façades do not only represent what has been done and what is desired by influential actors, they also seem to have the potential to constitute values, spaces of belonging and form constellations of power in public, thus closing or aligning urban dis- courses and strategically influencing political decisions. Facade posters and model facades are of great social relevance and in this sense are being under- stood as iconic instruments and power political representations. Since the 1990s they are used to promote the (re-)construction of buildings in Berlin. Dif- ferent material formations and strategies can be differentiated. Prominent ex- amples are the simulations of the Berliner Schloss between 1993-1994 and the Berliner Bauakademie, which has been set up since 2001. They should there- fore be taken seriously and critically regarded as a focal point of social negoti- ation within the urban space. Fassadenplakate und Musterfassaden erfüllen lange vor der möglichen Reali- sierung des Baukörpers eine hochästhetisierte (Re-)Präsentation, um den öf- fentlichen Diskurs zu beeinflussen, Alternativen zu marginalisieren und die IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 175 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien gewünschte Materialisierung und Bedeutungsaufladung vorzubereiten. Diese sogenannten ›Fassadisierungen‹ repräsentieren nicht nur das Gewesene und das von einflussreichen Akteuren/innen Gewünschte, sie scheinen tatsächlich auch über das Potenzial zu verfügen, Wertvorstellungen, Zugehörigkeiten und Machtkonstellationen in der Öffentlichkeit zu konstituieren, mithin städtische Diskurse auszurichten und etwaige Entscheidungen strategisch zu beeinflus- sen. Fassadenplakate und Musterfassaden in diesem Sinne als ikonische In- strumente und machtpolitische Repräsentation begriffen, sind von großer ge- sellschaftlicher Relevanz. In Berlin kommen seit den 1990er Jahren vermehrt sogenannte Fassadenplakate und Musterfassaden zum Einsatz, um für den (Wiederauf-)Bau von Gebäuden zu werben. Zwischen verschiedenen materiel- len Formen und Strategien kann unterschieden werden. Prominente Simulati- onen sind die des Schlosses von 1993-1994 und die seit 2001 aufgestellte Ber- liner Bauakademie. Sie sollten daher entsprechend ernst genommen und kri- tisch als Kristallisationspunkt sozialen Aushandelns betrachtet werden. Einleitung In Berlin kommen seit den 1990er Jahren vermehrt Fassadenplakate und Mus- terfassaden als bildliche und kubische Nachbildungen von historischen Gebäu- den zum Einsatz, um für deren Rekonstruktion zu werben. Von besonders gro- ßer stadtpolitischer Relevanz sind zwei Beispiele in Berlins historischem Zent- rum, die nicht mehr existierende Bauwerke an historischer Stelle nachbilden: die Schlosssimulation 1993-1994 auf der Spreeinsel und die seit 2001 aufge- stellte Attrappe der Berliner Bauakademie.1 Im Folgenden wollen wir die soge- nannten Fassadisierungen interdisziplinär aus der Perspektive der Stadtpla- nung und Soziologie diskursanalytisch und hinsichtlich ihrer raum- und bild- diskursiven Dispositionen betrachten und somit nach dem ›Wie?‹ sozialen Aus- handelns und Wertzuschreibungen im urbanen Kontext fragen. Fassadenplakate bestehen aus wetterfesten Planen, die vor Gebäude o- der auf Baugerüste gespannt werden. Sie sind mit Mauerwerk, Ornamenten sowie Bauteilen und Öffnungen wie Fenstern und Türen bemalt oder bedruckt.2 Das Simulieren von Schatten und räumlicher Tiefe verleiht dem Fassadenpla- kat den Eindruck von Plastizität und Echtheit. An bewusst gewählter Stelle als geschlossener Baukörper inszeniert, definieren diese plastisch-räumlichen 1 Beide Bauwerke, im Zweiten Weltkrieg stark zerstört, galten als höchst bedeutungsvolle Reprä- sentationen Preußens: das Schloss als Ort weltlicher Macht und höfischer Kunst, die Bauakademie als Ort moderner Bauverwaltung und -technik. Die Gebäude wurden vom DDR-Regime zugunsten moderner, ›sozialistischer‹ Neubauten in den Jahren 1950 (Schloss) und 1962 (Bauakademie) ab- gerissen. 2 Unterschieden wird hier zwischen historisierenden Fassadenplakaten und Fassadenplakaten, wel- che mit Werbeanzeigen bedruckt sind oder, wie Sybille Frank am Beispiel des Potsdamer Platz zeigte, »stärker [an dem] nach unternehmerischen Vorbild [der beworbenen] Stadt« (FRANK 2008: 316-317) ausgerichtet sind. Letztere Fassadenplakate sind nicht Gegenstand unserer Betrachtun- gen. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 176 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Fassadenplakate Bezüge zu anderen Gebäuden und Sichtachsen sowie räum- liche Grenzen im Stadtraum. Gleichzeitig verschließen sie den Blick auf das Dahinterliegende – noch vorhandene bauliche Anlagen, Freiräume sowie das Baugerüst selbst werden verdeckt. Musterfassaden sind Modelle von geplanten Fassaden im Maßstab 1:1, die unter Verwendung der vorgesehenen Baustoffe der Veranschaulichung die- nen. In der Bauwirtschaft werden Musterfassaden – auch als ›Mock-ups‹ be- zeichnet – errichtet, um den Entwurf und die Gestaltung vor Ort final zu über- prüfen sowie um letzte konstruktive Qualitätstests am Objekt durchzuführen. Beide, Fassadenplakat und Musterfassade, sind spezielle Formen von sogenannten Fassadisierungen.3 Unter diesem Begriff beschreibt Stefanie Bürkle in ihrem Buch Szenografien einer Großstadt eine architektonisch-szeno- grafische Praxis, bei der durch das Errichten ›künstlicher‹ Fassaden ausge- wählte Stadträume auf eine bestimmte Weise inszeniert werden. Bürkle stellt fest, dass es bei gegenwärtigen Fassadisierungen um »das Primat der Fassade als Schauseite des Gebäudes anstelle einer möglichen Gleichgewichtung zwi- schen Innen und Außen« (BÜRKLE 2013: 186) ginge. Durch diese Konzentration auf das ›face‹ eines Gebäudes »als Ergebnis bildgebender Verfahren« (BÜRKLE 2013: 243) wird die Fassade losgelöst von der Funktion des Gebäudes und ver- hüllt die Lesbarkeit des dahinter befindlichen Raumes. Mehr noch, »die Hülle an sich […] stellt bereits einen eigenen Wert dar« (BÜRKLE 2013: 189) und bedarf keines zugehörigen Raumprogramms. Das Kredo der Moderne ›form follows function‹,4 wie es Louis Sullivan 1896 schon folgenreich für die moderne Archi- tektur formulierte (vgl. BÜRKLE 2013: 33; vgl. SULLIVAN 1896: 403-409), sei auf den gegenwärtigen Eklektizismus von Fassaden nicht mehr anwendbar. ›Fassadis- mus‹ sei demnach »eine Erscheinung der Postmoderne« (BÜRKLE 2013: 186; vgl. SCHUMACHER 2010: 128), ein ästhetisierendes Moment der Gegenwart. Während Bürkle diesen szenografischen Einsatz für die städtebauliche Ausbildung affirmativ oder sogar fordernd gegenübersteht, betrachten wir den Einsatz von Fassadenplakaten und Musterfassaden kritisch und in Hinblick auf seine gesellschaftsrelevante Dimension.5 Wir vermeiden dabei eine ohne die 3 Fassadisierungen wurden nach Bürkle aus der Theaterarchitektur und der Kunst des Bühnenbil- des in den Stadtraum tradiert. Unter dem Begriff versammelt sie eine Vielzahl unterschiedlicher Ausprägungen und klassifiziert unter anderem verschiedene Arten von Musterfassaden (z.B. ›Mockups‹ als Bauproben) sowie komplett entkernte Gebäude und historische Fassadenreste (vgl. BÜRKLE 2013: 27). Die im vorliegenden Text beschriebenen Fassadisierungen haben mithin histori- sche Vorläufer und verwandte Gattungen. Dies lässt tiefergehende Betrachtungen und weiterfüh- rende Typologisierungen von Fassadisierungen überfällig erscheinen. 4 Louis Sullivan beschreibt in seinem Aufsatz The tall office building artistically considered von 1896 unter diesem viel zitierten Leitsatz das wünschenswerte Gestaltungsprinzip für ein modernes Bürogebäude, dessen äußeres Erscheinungsbild sich aus den praktischen Überlegungen der inne- ren Funktionen auf die natürlichste und einfachste Weise ergeben solle, so wie dies naturbedingt überall der Fall sei: »It is the pervading law of all things […], that form ever follows function. This is the law« (SULLIVAN 1896: 408, Herv. im Original). 5 Bürkles Genealogie des Bühnenbildes und ihre Forderung, die Szenografie zu einem Teil der Ar- chitektenausbildung zu machen, mögen wir teilen. Leider schafft es aber auch Bürkle nicht, dass auf den Stadtraum und ›Fassadismus‹ angewandte Bühnenbild als Akteursraum zu begreifen; sie bleibt daher hinter ihrer eigenen Kritik der Moderne zurück. Nicht mehr Lesbarkeit und klare soziale Verhältnisse und Eindeutigkeiten, wie bei Sullivan, prägen die Fassaden der Gebäude und somit auch die Fassadenplakate – aber das Kredo Sullivans hat in denen über die Stadt geführten Räume IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 177 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Akteure/innen auskommende deterministisch-symptomatische Objektlektüre, bei der es nur »um das Gebäude selbst geht« (STEETS 2015: 20; vgl. WIETSCHORKE 2017: 245), wie es schon Silke Steets bemängelte. Wir möchten unsere Be- schreibungen und teilnehmenden Beobachtungen des Stadtraumes rund um die Fassadenplakate und Musterfassaden mit den Debatten über Fassade, Ar- chitektur und Städtebau verbinden. Wir überprüfen unsere These, die vorge- stellten Beispiele als ikonische Stadtstrategien zu bezeichnen, bei denen die jeweilige Ausbildung der Fassade von den Akteuren/innen bewusst gewählt wird, um einen bestimmten Einfluss auf die Stadtentwicklung und -politik zu nehmen. Nach unserer Auffassung stellen Fassadenplakate und Musterfassa- den strategische Instrumente und machtpolitische Repräsentationen dar, an- hand derer Wertehaltungen, ästhetische Vorstellungen, Identitätskonstruktio- nen, Interessenvertretungen und Handlungsabsichten unterschiedlicher Men- schen sichtbar werden und kritisch untersucht werden können. Gerade im Fall von Rekonstruktionen materiell längst nicht mehr vorhandener Bauten wird deren soziokulturelle Konstruktion und symbolische Aufladung evident. Ein Blick auf die Absichten und Argumente der Rekonstruktionsbefürworter und - gegner erscheint daher besonders aufschlussreich.6 Vor dem Hintergrund unserer These betrachten wir Fassadenplakate und Musterfassaden daher kontextgebunden und als Ausdruck sozialen Han- delns. Diese Perspektive verlangt eine formal-ästhetische Untersuchung der Objekte und zugleich eine Analyse der die Objekte betreffenden Diskurse. Be- vor dies anhand der beiden Fallbeispiele Berliner Bauakademie und Stadt- schloss veranschaulicht wird, ist in aller Kürze ein Rückblick in die jüngere Ber- liner Stadtentwicklung zu skizzieren. Skizze der jüngeren Berliner Stadtentwicklung 1945- 1990 Nach den verheerenden Kriegszerstörungen wird das geteilte Berlin entspre- chend der beiden politischen Systeme sehr unterschiedlich und polyzentrisch neuaufgebaut.7 Neben Instandsetzung und Wiederherstellung alter immer noch diskursiven Charakter. Wir schließen uns dem an, dass das Fassadenplakat ein Aus- druck der Postmoderne darstellt, gleichzeitig ist es jedoch nicht funktionslos oder gar beliebig, sondern Ausdruck und Instrument sozialer Aushandlung und von Inwertsetzungsprozessen. 6 Gabi Dolff-Bonekämper thematisiert in ihrem Aufsatz Denkmalverlust als soziale Konstruktion, dass die »Re-Konstruktion eines Baudenkmals« (DOLFF-BONEKÄMPER 2011: 134) zunächst dessen Verlust voraussetze, ehe es dann im Wunsch der ›Wieder‹-Beschaffung »von anderen für andere unter anderen Zeitumständen mit anderen Mitteln zu einem anderen Zweck« als »neue soziale Bedeutungskonstruktion« (DOLFF-BONEKÄMPER. 2011: 136) errichtet wird. 7 Die DDR war zunächst durch das ›Aufbaugesetz‹ und die ›Grundsätze des Städtebaues‹ von 1950 und ab 1955 durch den ›Baukonferenz-Beschluss zu industriellem Bauen‹ einer eher standardisier- ten Stadtentwicklung nach sowjetischem Vorbild verpflichtet. Wobei in der DDR Schadenskartie- rungen und der Erhalt des Erbes Schinkels zunächst im Vordergrund standen (auch der Wieder- aufbau der Bauakademie war 1951 noch geplant, ehe man sich 1962 für den auf Proteste stoßenden Abriss entschied) (vgl. DEUTSCHE BAUAKADEMIE 1951: 64). In den 1960er und 1970er Jahren schließ- lich wurden moderne Repräsentationsbauten verfolgt, die die »räumliche Inszenierung IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 178 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Stadtstruktur werden neue städtebauliche Konzepte verfolgt und umfassende Infrastrukturmaßnahmen und Flächensanierungen realisiert. Dies geschieht in der Regel mit dem Abriss historischer Bauten und dies nicht überall zur Zufrie- denheit der Öffentlichkeit.8 So nehmen die Widerstände der betroffenen West- Berliner Bevölkerung vor allem während der Sanierungs- und Umsiedlungs- pläne in den 1960er und 1970er Jahren immer mehr zu und befördern »eine ästhetische Wiederentdeckung der Stadtviertel der Kaiserzeit« (FALSER 2008: 177) sowie historischer Repräsentationsbauten und Stadträume. Ab den 1980ern verlagern sich die sozialen und technischen Planungsinhalte hin zu ästhetischen und prestigeorientierten (vgl. BODENSCHATZ 1990: 57). Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der 750-Jahr-Feier (1987) in West- und Ost-Berlin wird die historisierende Architektur- und Städtebaupraxis beflügelt.9 Während im Osten zahlreiche Häuserfassaden ausgebessert werden und im Nikolaiviertel eine ›neue Altstadt‹ in Plattenbauweise wiedererrichtet wird, propagierte im Rah- men der Internationalen Bauausstellung in West-Berlin (IBA 1984-1987) der Di- rektor für die Neubauvorhaben, Josef Paul Kleihues, die ›kritische Rekonstruk- tion‹.10 Mit dieser Idee wird die Hoffnung auf ein ästhetisiertes Stadtbild auf historischem Grundriss sowie eine exklusive, bürgerliche Stadtidentität ver- bunden.11 Obgleich sehr umstritten, wird die kritische Rekonstruktion im wie- dervereinten Berlin zu einem allgemeinen Leitbild erklärt und sukzessiv insti- tutionalisiert. So beeinflusst sie den »Internationalen städtebaulichen Ideen- wettbewerb zur Spreeinsel« von 1993, der zwar die Bedeutung der gebauten Stadtgeschichte beschwört, zugleich aber den Abriss des historisch geworde- nen Palastes der Republik auf der Spreeinsel und des benachbarten DDR-Au- ßenministeriums vorsieht.12 Auch später noch unter dem Berliner sozialistischer Zentralität« (FLIERL 1996: 123) in der historischen Stadtmitte verkörperten. Gleichzei- tig verfolgte man jenseits der Mauer neben dem Konzept einer aufgelockerten Stadtlandschaft mit individuellen Solitärbauten die Entwicklung der City West sowie die schrittweise Modernisierung beziehungsweise Flächensanierung der Gründerzeitviertel (vgl. BODENSCHATZ et al. 2009: 357-381; vgl. FALSER 2008: 177-178). 8 Stellvertretend für die Kritik an der modernen Stadt nach 1945 seien hier die viel beachteten Bü- cher Die gemordete Stadt (SIEDLER/NIGGERMEYER/ANGREß 1964) und Die Unwirtlichkeit unserer Städte (MITSCHERLICH 1965) genannt sowie die Kampagne des Europarats und des Deutschen Nati- onalkomitees für das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 unter dem Motto »Eine Zukunft für un- sere Vergangenheit« (DEUTSCHES NATIONALKOMITEE FÜR DAS EUROPÄISCHE DENKMALSCHUTZJAHR 1975). 9 Beide Seiten versuchen das Stadtjubiläum für ihre politischen Ziele zu nutzen und ihr System als überlegen darzustellen. Durch die Besetzung historisch bedeutender Orte und die Inszenierung repräsentativer Bauten wird der Versuch unternommen, städtische und nationale Identitäten zu konstruieren, Deutungshoheit über historische Zusammenhänge und Werte zu beanspruchen und schließlich das gewünschte Selbstbild von Berlin als allgemeingültiges zu installieren (vgl. THIJS 2008). 10 Neben dem ›IBA-Neubau‹ unter der Leitung von Kleihues beinhaltet das IBA-Programm auch Sanierungen von Bestandsbauten, die sogenannte ›behutsame Stadterneuerung‹ der ›IBA-Altbau‹, deren Planung und Durchführung Hardt-Waltherr Hämer verantwortet. 11 Stefanie Hennecke problematisiert diesen Versuch, mittels gebauter Stadtgeschichte eine ›Stad- tidentität‹ konstruieren zu wollen, als dies ein exklusives Konzept von ›Stadtbürgertum‹ begünstige und Teile der Öffentlichkeit ausschließe oder marginalisiere (vgl. HENNECKE 2010). 12 Bernd Niebuhr, dessen Konzept »sich weitgehend am historischen Stadtgrundriss« orientiert und »einen Neubau am Standort des Stadtschlosses in Form eines geschlossenen Baukörpers in Anlehnung an die historische Schlosskubatur« vorsieht, geht aus dem Wettbewerb als Sieger her- vor. (vgl.: http://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/hauptstadt/dokumentation/de/wettbe- werbe/spreeinsel.shtml [letzter Zugriff: 29.01.2018]) IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 179 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Senatsbaudirektor Hans Stimmann ist das Leitbild der kritischen Rekonstruk- tion prägend für das ›Planwerk Innenstadt‹ (vgl. BODENSCHATZ et al. 2009: 406- 412) und die innerstädtischen Bauleitpläne, die die Produktion von Stadtraum und Stadtbild bis heute stark bestimmen. Unterstützt wird das rekonstruktive Moment und die liberal-konserva- tive Ausrichtung der Stadtentwicklung von einigen Vereinen, die sich in den Nachwendejahren mit dem Ziel gründen, die Berliner Stadtmitte historisierend umzugestalten – meist unter Missachtung baulicher Zeugnisse der DDR und stets unter Betonung bürgerlicher Werte und ästhetischer Normen.13 Sie for- dern die »Besinnung auf eine bürgerlich städtische Kultur«,14 erklären den ›Ur- ban Return‹ als »einzige[n] Weg zur Wiedergewinnung der Stadtidentität« (BER- LINER HISTORISCHE MITTE E.V. 2015: 1) und protestieren gegen »die weitere Zerstö- rung des Stadtbildes« sowie für den »Wiederaufbau […] herausragender Bau- ten«.15 Allerdings votieren nicht nur Bürgervereine und einige politische Reprä- sentanten für eine derartige städtebauliche Transformation. Die Abbruchpläne moderner Bauten, wie dem Außenministerium oder dem Palast der Republik stützen sich anfangs »auf einen breiten Konsens westlich dominierter Fachöf- fentlichkeit« (BODENSCHATZ 1995: 15). So legitimiert der Senatsbaudirektor For- derungen nach ›Stadtreparatur‹ und Rekonstruktion, wenn er die Stadtentwick- lung nach dem Krieg als ›Selbstzerstörung‹ und »Unfall« (STIMMANN 1991: 2093) bezeichnet. Das Ministerialgebäude für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und der Palast der Republik werden mit der deutschen Wiedervereinigung für obsolet erklärt und auf politischen Beschluss hin verriegelt und bald darauf zum Abriss freigegeben.16 Bezeichnenderweise werden die Abrisspläne fast un- mittelbar mit dem Wiederaufbau der preußischen Vorgängerbauten, der Schin- kel’schen Bauakademie von 1835 und dem Stadtschloss, äußerlich zuletzt 1853 barockisierend überformt durch Friedrich August Stüler, in Verbindung ge- bracht. Mit der Beseitigung des DDR-Stadtbildes und in Anschauung der frei gewordenen Fläche erodiert jedoch der vorherige Konsens über den Wieder- aufbau von Bauakademie und Schloss und die Stimmung kippt teilweise ins Gegenteil (vgl. BODENSCHATZ 1995: 18). An beiden Objekten beziehungsweise Leerstellen entfaltet sich eine lebhafte und vielschichtige Debatte, deren Inhalte sich nicht auf die Frage nach einem geeigneten Umgang mit dem baulichen Erbe der DDR oder den Streitpunkt ›Neubau vs. Rekonstruktion‹ beschränken. Mit der Öffnung des ›Eisernen Vorhangs‹ (1989), der deutschen Wiedervereini- gung (1990) und dem Hauptstadtbeschluss (1991) gelangen neue Fragestellun- gen und Handlungserfordernisse ins Blickfeld von Politik, Planung und 13 Während einige Vereine lediglich die Rekonstruktion eines verlorengegangenen Bauwerks for- dern, wünschen sich andere eine sehr weitreichende Umgestaltung der Stadtmitte nach histori- schem (Vor-)Bild. 14 http://www.forum-stadtbild-berlin.de [letzter Zugriff: 31.01.2018] 15 http://www.ghb-online.de/start/ueber-die-ghb.html [letzter Zugriff: 20.10.2017] 16 Insbesondere die Belastungen durch Asbest wurden als Gründe herangeführt, dass der Palast der Republik als ›Gefahr‹ einzustufen sei. Eine Entkernung oder teilweiser Abriss mit anschließen- der Umnutzung wurden ausgeschlossen (vgl. https://www.tagesspiegel.de/berlin/abriss-palast- der-republik-endlich-asbestfrei/1307024.html [letzter Zugriff: 06.03.2018]) IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 180 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Zivilgesellschaft, die nicht zuletzt an derartigen Symbolbauten und repräsenta- tiven Stadtlagen verhandelt werden. Zunehmend erfolgt die Auseinanderset- zung über Werte, Interessen und Selbstverständnisse, wie es die Debatte um die Bauakademie und des Berliner Schlosses zeigen, auch strategisch »mit dem Medium des Bildes« (BODENSCHATZ 1995: 19).17 Fassadisierungen und Debatten zur Berliner Bauakademie Von (ergebnis-) offenen Debatten über die Entwicklung des Areals der ehema- ligen Bauakademie scheinen führende Politiker/innen und Verwaltungslei- ter/innen des Landes Berlin keine Kenntnis nehmen zu wollen. Im Gegenteil vertreten Sie den Standpunkt, dass die Rekonstruktion der historischen Fas- sade alternativlos sei – auch ohne einen Nutzungsplan der künftigen Infrastruk- tur. Wie aus Archivdokumenten der Senatsverwaltungen für Bauen und Woh- nen sowie der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hervorgeht, wird poli- tisch und verwaltungsintern kolportiert, dass der »Aufbau der ehemaligen Bau- akademie […] unumstritten« sei.18 Auch wenn das prominent besetzte ›Kollo- quium Bauakademie‹, das am 19.10.1995 zur Klärung der Zukunft des Grund- stücks tagt, keinesfalls ein einhelliges Meinungsbild abgibt,19 sind sich Bund und Land Berlin bereits kurz darauf bei der gemeinsamen Ausschusssitzung am 31.01.1996 einig, »daß die Bauakademie in historischer Form wiedererrich- tet werden soll«.20 So schlägt auch Oberbürgermeister Eberhard Diepgen sei- nem Senator für Bauen, Wohnen und Verkehr, Jürgen Klemann, vor, »als erste Maßnahme zur Wiedergewinnung des historischen Standgrundrisses für eine rasche Rekonstruktion der Bauakademie nach historischem Vorbild zu sorgen« und »unverzüglich ein Investorenauswahlverfahren (ohne detaillierte Nut- zungsvorgaben) in Gang zu bringen«.21 Zu dem Zeitpunkt führt die Senatsver- waltung für Bauen, Wohnen und Verkehr sogar bereits Vertragsverhandlungen zur Vorbereitung des Investorenauswahlverfahrens.22 Politik und Verwaltung unterstützten daher auch von Beginn an die Ini- tiative einer Bürgergemeinschaft für den Wiederaufbau der Bauakademie, 17 Ein Beispiel für die bildbasierte und offene Auseinandersetzung über die Zukunft des Grundstü- ckes zwischen Kupfergraben und Werderscher Markt liefert der Ideenwettbewerb des ZEIT-maga- zins aus dem Jahr 1995 (vgl. ZEITMAGAZIN 1995). 18 vgl. Verwaltungsdokument »2174 – 5544« vom 18.01.1995, S. 1; einsehbar im Archiv der Senats- verwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Brückenstraße 6 (ARCHIV SENSTADT). 19 Bundesbauminister Klaus Töpfer wird im Protokoll zum ›Kolloquium Bauakademie‹ zitiert: »Es wäre der ein Scharlatan, der nach diesen vier Stunden sagte, jetzt weiß ich, wo ich dran bin, und wir entscheiden jetzt wie folgt« (ARCHIV SENSTADT: 24). Weiterhin vermerkt das Protokoll zahlreiche kritische Meldungen aus dem Publikum, die deutlich machen, dass in der Sache Bauakademie kein Grundkonsens herrscht. 20 Verwaltungsdokument »Beschluß zu TOP 4 (Nutzungskonzept Schloßplatz) der Sitzung des Ge- meinsamen Ausschusses am 31.01.1996; (ARCHIV SENSTADT: 4). 21 DIEPGEN, EBERHARD: Brief vom 22.02.1996 an Senator Jürgen Klemann, (ARCHIV SENSTADT: 1). 22 KLEMANN, JÜRGEN: Brief vom 27.03.1996 an Oberbürgermeister Eberhard Diepgen; (ARCHIV SEN- STADT). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 181 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien wodurch an historischer Stelle »eine originalgetreue Kopie der Nord-Ost-Ecke« (FÖRDERVEREIN BAUAKADEMIE 2009: 6) aufgebaut werden soll (vgl. Abb. 1).23 Der maßstabsgetreue Fassadenausschnitt besetzt sodann ab 2001/2002 den Stadt- raum und reproduziert ein tradiertes Bildregime, welches bereits vor dem Bau der historischen Bauakademie durch Zeichnungen Karl Friedrich Schinkels ein- geführt wurde und bis heute die Bild(re)produktion der Bauakademie domi- niert.24 Schinkels Lithografien und Grafiken wirken bis heute nachhaltig in das kollektive Gedächtnis einer ›Berliner Bevölkerung‹ und werden zusammen mit Zitaten von Schinkel in den zunehmend polarisierten Debatten der Rekonstruk- tionsbefürworter wie -gegner für die jeweils eigenen Absichten relevant ge- macht.25 Die Idee der Errichtung der ›originalen‹ Musterfassade geht auf Horst Draheim zurück, dem es gelingt, öffentlich für die Idee der Rekonstruktion zu werben,26 archivalische Nachforschungen und Planungen anzustellen, eine 23 Tatsächlich legen die Erbauer Wert darauf, die Musterecke später ohne weiteres in die Vollre- konstruktion zu integrieren, d.h. das Objekt weiterbauen zu können (vgl. FÖRDERVEREIN BAUAKADEMIE 2009: 6; vgl. http://www.musterfassade-bauakademie-berlin.de/musterfassade.html [letzter Zugriff: 23.01.2018]). Gleichwohl ist die Installation von der Stadtverwaltung nur temporär und unter Auf- lage der vollständigen Beseitigung aller baulichen Anlagen genehmigt (vgl. JAKUBEIT, BARBARA (Se- natsbaudirektorin); Brief vom 20.07.1999 an den Verein zur Qualifizierung in traditionellen und mo- dernen Bautechniken e.V.; ARCHIV SENSTADT). 24 Die Perspektive von Nord-Osten über die Spree auf die Ecke der Bauakademie greifen zahlreiche Akteure/innen auf. So wählen diesen Blickpunkt nicht nur Horst Draheim für seine Planungsvisua- lisierung und Dokumentation der Musterfassade (vgl. http://www.horst-draheim.de/Bauakade- mie/4_4.pdf; http://www.horst-draheim.de/Bauakademie/4_9.jpg; http://www.musterfassade-bau- akademie-berlin.de) oder der Förderverein Bauakademie e.V. für das Titelbild des Journals Mythos Bauakademie (vgl. FÖRDERVEREIN BAUAKADEMIE 2009: 1) und die eigene Internetpräsenz (vgl. http://www.foerderverein-bauakademie.de/musterfassade.html). Auch die Architekten des Sieger- entwurfs zum 2011 geplanten, aber nicht realisierten ThyssenKrupp-Hauses zwischen Bauakade- mie und Staatsratsgebäude (vgl. http://www.schweger-architects.com/de/architecture/thyssen- krupp-haus) sowie die Beteiligten des Entwurfs STEAL Schinkel am Laboratory of Elementary Ar- chitecture and Studies of Types der EPFL Lausanne (vgl. http://derarchitektbda.de/steal-schinkel) entscheiden sich bewusst für dieses Motiv. Genauso wählt die Bundesstiftung Baukultur diese An- sicht für ihr Logo zum öffentlichen »Dialogverfahren Bauakademie 2017« (vgl. https://www.bun- desstiftung-baukultur.de/projekte/dialogverfahren-bauakademie). Darüber hinaus wird das ›Schin- kel-Panorama‹ bei zahlreichen Berichterstattungen bemüht [je letzter Zugriff: 31.01.2018]. 25 Dabei geht es sowohl Rekonstruktionsbefürworter/innen wie -gegner/innen um die ›Oberflächen- wirkung‹ des Gebäudes und die Frage, wie mit dem städtischen Erbe umzugehen sei (vgl. JENSSEN- KLINGENBERG 2011: 96). Die Bauakademie beherbergte die durch Beuth geführte allgemeine Bau- schule, die Oberbaudeputation Preußens, Ladenflächen sowie die Wohnung Schinkels. Sie ging mit ihrer Formgebung als zukunftsgerichtete Ideenwerkstatt in den Diskurs als Schinkel-Schule ein. Unter anderem entwickelte hier der Architekt Albrecht Meydenbauer das fotografische Verfahren der ›Photogrammetrie‹, »ein Messbildverfahren, das durch eine grafische Konstruktion die Aus- messung von Objekten und deren dreidimensionale Rekonstruktion aus der zweidimensionalen Fotografie ermöglichte« (OSWALT 2011: 63). Seine fotografischen Dokumentationen von Bauakade- mie und Stadtschloss ermöglichen gegenwärtig überhaupt erst die Rekonstruktion der beiden Bau- ten. Auch Studierendenwettbewerbe, wie die Ausstellung STEAL Schinkel in der Architektur Gale- rie Berlin 2017, wagen es weder von dem Diskurs der Ideenwerkstatt noch von dem von Schinkel selbst inszenierten Bildkanon abzuweichen – geschweige denn der Kubatur des Baus. 26 Schinkel selbst dürfte die originalgetreue Rekonstruktion seines Bauwerks von 1836 abgelehnt haben, wie an seiner folgenden Aussage ersichtlich wird: »›Ängstliche Wiederholungen gewisser Anordnungen in der Architectur, die ein einer gewissen Zeit üblich waren, können nie ein besonderes Verdienst neuer Architecturwerke sein. Jede Hauptzeit hat ihren Styl hinterlassen in der Baukunst, warum wollen wir nicht versuchen, ob sich nicht auch für die unsrige ein Styl auffinden läßt? Warum wollen wir immer nur nach dem Styl einer anderen Zeit bauen? Ist das ein Verdienst, die Reinheit jedes Styls aufzufassen – so ist es noch ein größeres, einen reinen Styl im allgemeinen zu erdenken, der dem Besten, was in jedem anderen geleistet wird, nicht widerspricht. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 182 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Baugenehmigung für die Musterecke zu erhalten, Spendengelder zu sammeln und schließlich für die Realisierung einen Bildungsverein Bautechnik e.V. zu gründen (vgl. Abb. 1, Abb. 5).27 Dessen Lehrlinge vollenden 2001/2002 nach zweijähriger Bauzeit als ›Lern- und Lehrobjekt‹ die Musterfassade. Dieser Pro- zess wird durch die Politik und Verwaltung unterstützt und von den Machern medienwirksam inszeniert. Durch die bildnerische und haptisch erfahrbare Qualität und die Inszenierung der »Lehrbaustelle« (FÖRDERVEREIN BAUAKADEMIE 2007: 6) als Event wird die Öffentlichkeit vielschichtig angesprochen.28 Die skulpturale, von allen Seiten umgehbare Musterfassade, die auch aufwendige Kopien der ›originalen‹ Terrakotta-Reliefs enthält, stellt neben die »hohe Qua- lität des bildkünstlerischen Programms« die Konstruktionslehre und das Hand- werk in den Vordergrund.29 Damit formuliert die Musterfassade nicht nur den Anspruch auf eine »authentische Rekonstruktion« (FÖRDERVEREIN BAUAKADEMIE 2007: 6) von Fassade, Kubatur und Grundriss, sondern zielt darüber hinaus auf eine bestimmte innere Programmatik und Funktion des Gebäudes und den Stadtraum.30 Geplant ist die Einrichtung eines ›Schinkelforums‹, eines interdis- ziplinären Zentrums »zur Wissensvermittlung und zum Wissensaustausch«.31 Der Wunsch nach materieller und ideeller Authentizität wird später noch durch die Anbringung einer Informationstafel mit Schinkel-Porträt visuell zum Aus- druck gebracht. Die mit der Musterfassade verknüpften Inhalte – so zum Beispiel die Be- griffe Originalität, Echtheit, Genius, Qualität, Handwerkskunst, etc. – finden sich auch in der Berichterstattung wieder, während alternierende Nur Mangel an Muth und eine Verwirrung der Begriffe und Sitten, eine Scheu vor gewissen Fesseln der Vernunft und eine Vorliebe für dunkles Gefühl und die Einräumung von dessen unbedingter Gewalt über uns ohne einige Rücksicht auf die Verhältnisse im allgemeinen, die uns umgeben, und auf dem Fortschritt, welchen wir auf unserem Standpunkte für die allgemeine Entwicklung des Menschengeschlechts zu machen durch die Vernunft verpflichtet werden, kann von solchem Unternehmen abhalten.‹« (DEUTSCHE BAUAKADEMIE 1951: 30-31) 27 Horst Draheim ist Architekt, Ehrenmitglied des Fördervereins Bauakademie, Aufsichtsrat der Errichtungsstiftung Bauakademie und Mitgründer des Bildungsvereins Bautechnik e.V. Die »entwicklungsrechtliche Genehmigung […] zur Errichtung der Musterfassade« (Verwaltungsdokument »920-5544« der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung; (ARCHIV SENSTADT) erhält Draheim bereits im September 1995 durch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Seitdem werden immer wieder im einfachen Verfahren Verlängerungsgenehmigungen erteilt. 28 Die feierliche Grundsteinlegung übernimmt Oberbürgermeister Diepgen, Senatsbaudirektor Stimmann unterstützt das Projekt durch seine Teilnahme an öffentlichen Maurerarbeiten und die feierliche Eröffnung leitet Oberbürgermeister Klaus Wowereit. 29 Zitiert von der Informationstafel an der Bauakademie-Musterfassade. Die historische Fassade der Bauakademie beinhaltete kunstvolle Terrakotta-Reliefs, die nach Zeichnungen von Schinkel entworfen wurden. Sie zeigen »Momente aus der Entwicklungsgeschichte der Baukunst« (SCHINKEL 1858: o.S.) und damit symbolisch auch das inhaltliche Programm des Gebäudes, nämlich Funktio- nen der beiden darin befindlichen Institutionen Bauakademie und Baudeputation. 30 »Der Bau war mit feinstem Terrakotten bekleidet, sozusagen nach bürgerlicher Tradition mit le- gitimistischem Bildprogramm« und weiter heißt es »So wie die sogenannte Schloßattrappe ge- zeigt hat, daß das Alte Museum und auch der Dom und das Zeughaus das Schloß in stadträumli- cher Beziehung brauchen, ist auch die Bauakademie ein bedeutender Faktor bei der Rückgewin- nung der historischen Mitte Berlins« (AUGUSTIN 1996: 5-6). 31 http://www.foerderverein-bauakademie.de/ziele.html [letzter Zugriff: 01.09.2017]. Der Förderver- ein »will die zentrale Bedeutung in das Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit rücken. Die Bevöl- kerung soll in den Meinungsbildungsprozeß zum Wiederaufbau einbezogen werden« (FÖRDERVER- EIN BAUAKADEMIE: Mythos Bauakademie. Wie und für wen soll die Bauakademie wieder aufgebaut werden? Podiumsdiskussion am 12.10.1995 in der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1996). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 183 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Thematisierungen, die noch kurz zuvor viel Beachtung erfahren haben – etwa Stadt- und Raumplanung, zeitgemäße Architektur, Berlin als Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands in Europa etc. – seltener besprochen werden. Mit dem Bau der Musterfassade wird der öffentliche Diskurs über die Entwick- lung der Spreeinsel und darüber hinaus also durchaus auf die äußere Formge- bung bildbasiert und materialisiert fortgeführt und in einen neuen themati- schen Rahmen verlagert. Abb. 1: Horst Draheim: Musterfassade Nord-Ost, Bauakademie Berlin 2002 Von diesen Entwicklungen inspiriert, wird zeitgleich durch die Initiative des Berliner Senats und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz der Verein Inter- nationale Bauakademie Berlin e.V. (IBB) gegründet, der schon bald darauf mit der Errichtung eines Fassadenplakats Einfluss auf die öffentliche Debatte nimmt. Den Vereinsvorsitz hat zunächst Josef Paul Kleihues inne und anschlie- ßend Hans Kollhoff. Laut Satzung verfolgt der gemeinnützige Verein den Zweck, den Wiederaufbau ideell und materiell zu fördern und entsprechend des Vereinsnamens ein »Kompetenzzentrum zur Erforschung und Verbreitung von [fachbezogenen] Erkenntnissen« (IBB 2010: o.S.) zu errichten sowie Aus- stellungen und wissenschaftliche Konferenzen zu veranstalten.32 Die mit der Musterfassade aufgestellte Forderung eines ›Schinkel-Forums‹ soll noch ver- tieft werden. Tatsächlich konzentriert sich der Verein aber auf die Rekonstruk- tion der Fassade und die dafür notwendige Finanzierung durch Privatisierung und Public Relations.33 Der IBB lässt jedoch die konsequente Verfolgung der 32 vgl. http://www.internationale-bauakademie.com/home/index.php?option=con- tent&task=view&id=18 [letzter Zugriff: 01.03.2017] 33 Es wurde insbesondere zunächst versucht einen Public-Private Investor zu finden, wie den Inves- tor Hans Wall, der allerdings doch nicht das Gelände der Bauakademie zu den vom Berliner Senat genannten Konditionen aufkaufte (vgl. https://www.berliner-zeitung.de/berlin/schinkelsche-bau- akademie-hans-wall-erwaegt-50-millionen-spende-24956436 [letzter Zugriff: 06.03.2018]). Die Idee war, dass Grundstück kostenlos an den Investor abzugeben aber dies an die Bedingungen des Wiederaufbaus zu knüpfen. Auch der Investor Hochtief gab für die Ausschreibung 2010 kein Ange- bot ab. (vgl. https://www.tagesspiegel.de/berlin/rekonstruktion-die-bauakademie-findet-keinen- bauherrn/1677082.html [letzter Zugriff: am 06.03.2018]) IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 184 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien übrigen, wesentlichen Vereinsziele vermissen. Es fällt schwer, der betont bür- gerlichen Institution Verdienste hinsichtlich seiner Gemeinnützigkeit und sei- nes selbst auferlegten öffentlichen Kommunikationsauftrags zuzuschreiben. Das Wirken des IBB ist – zumindest aus gegenwärtiger Perspektive – hochgra- dig intransparent und exklusiv. Die aktive Förderung einer öffentlichen, plura- listischen Debatte und die Bereitstellung von Informationen und Einsichten in wenigstens grundlegende Entscheidungsprozesse fällt dürftig aus.34 Stattdes- sen äußern sich Vorstandsmitglieder elitär und fallen durch normative Setzun- gen und exklusive Interessenvertretung auf: »Wir wollen in der Bauakademie den Laien ein Bild von Architektur vermitteln« (RITZMANN 2004: o.S.), wird Koll- hoff 2004 bei der feierlichen Eröffnung des Fassadenplakats zitiert. Paul Kahl- feldt, Vorstandsmitglied und Schatzmeister des IBB, propagiert bei einer öf- fentlichen Debatte eine reaktionär, hoheitlich-höfisch geführte Bauregelung und Geschmacksnormierung.35 Abb. 2: o.A.: Gesamtansicht 2005, im Vordergrund integrierte Musterfassade Quelle: http://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/1246410 Die Haltung und Politik des IBB spiegelt sich in der Praktik der Fassadi- sierung wider. Im Jahr 2004 entwirft und errichtet der Verein ein 34 Im Vergleich zum Förderverein Bauakademie e.V., der der Öffentlichkeit auf unterschiedlichen Wegen zahlreiche, teilweise sehr gründlich recherchierte und sachlich dargestellte Materialien zur Verfügung stellt (vgl. http://foerderverein-bauakademie.de/aktuelles.html; http://foerderverein- bauakademie.de/Veroeffentlichungen_incl_Video.html [letzter Zugriff: 06.02.2018]), liefert der IBB fast keine Informationen, geschweige denn dokumentiert und veröffentlicht er kritische Äußerun- gen Dritter über seine Absichten und Tätigkeiten, so wie es Manfred Schoele im Namen des För- derverein Bauakademie e.V. augenscheinlich sehr gewissenhaft tut (vgl. http://www.foerderverein- bauakademie.de/gaestebuch.html [letzter Zugriff: 06.02.2018]). Seit Sommer 2017 ist zudem die offizielle Webseite des IBB offline. 35 Kahlfeldt äußert sich zum Beispiel in einem Fachgespräch im Abgeordnetenhaus von Berlin am 18. Juli 2011 anlässlich der wettbewerbsbedingten Unsicherheiten und Verzögerungen im Entscheidungsprozess zur Bauakademie wie folgt: »Zumindest fürs Bauen schaffen wir, […] mal wieder einen König, der sagt: ›Machen wa so!‹ Und dann bilden wir eine Baudeputation und schauen mal, wen wir dafür geeignet halten […] und der entscheidet wie Großherr Karl Friedrich, was gemacht wird. Punkt. […] Ein Architekt ist nur so gut wie die Gesellschaft, für die er baut« (https://www.youtube.com/watch?v=RVG9dQpcT7A [letzter Zugriff: 29.01.2018]). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 185 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien dreidimensionales Fassadenplakat, welches die drei Jahre zuvor fertiggestellte Musterfassade in seiner Kubatur mit einbezieht (vgl. Abb. 2). Das Fassadenpla- kat prägt von diesem Zeitpunkt an die Blick- und Wegeführung.36 Die Betrach- ter/in kann nun um die ›Originalkubatur‹ herumgehen, während das Innere un- zugänglich ist und sich der Einsicht und Imagination entzieht. Betrachtungs- punkte beschränken sich auf wenige Positionen, wie der Totalen vom Schin- kelplatz oder dem ›Schinkel-Panorama‹. Aus dieser Distanz betrachtet, entfaltet das Fassadenplakat seine volle und beabsichtigt illusionistische Wirkung. Abb. 3: Claudia Jürgens: Spiegelung des Fassadenplakats in der Glasfassade des Auswärtigen Amts 2017 Auch in der Spiegelung angrenzender Glasfassaden wird die Plakatinstallation zur doppelten Wahrheitsbehauptung eines nicht mehr existierenden Ortes (vgl. Abb. 3). Das Fassadenplakat weckt mögliche Assoziationen des/der Betrach- ters/in, regt die Vermutung an, dass hinter der Folie ein erhaltenes Bauwerk gegenwärtig restauriert wird oder dass die Rekonstruktion des abgebildeten Gebäudes womöglich bereits realisiert wird. Bei den Beobachtungen des Ha- bitus der Passant/innen im Stadtraum wird deutlich, dass der rote Kubus am Spreekanal nur beiläufig als Attrappe aus Baugerüst und Folie wahrgenommen wird.37 Die illusionistische Architektur hält jedoch dem forschen und forschen- den Blick nur auf einige Distanz stand. Bei näherem Betrachten offenbart die Installation unliebsame Öffnungen, Lücken und Brüche. Es zeigen sich Risse, collagenartige Übergänge und offengelegte Reparaturen. Das Fassadenplakat enthält zudem Druckfehler und gibt Aufschluss über sein digitales Herstel- lungsverfahren. Die gedruckten Schatten fallen in unterschiedliche Richtun- gen, das Mauerwerk offenbart sich als virtuell erstellte Textur und erzeugt 36 Ursprünglich war die Fassadisierung nur für drei Jahre mit einem Hauptsponsor geplant, doch der IBB erhält in den Folgejahren immer wieder neue Genehmigungen von der Stadt, um die Bau- akademie-Simulation im Stadtraum aufrechtzuerhalten und Sponsoren zu gewinnen (vgl. SENATS- VERWALTUNG FÜR BAUEN, WOHNEN UND VERKEHR; Brief vom 20.07.1999 an den Verein zur Qualifizie- rung in traditionellen und modernen Bautechniken e.V.; ARCHIV SENSTADT). 37 Teilnehmende Beobachtungen und Befragungen am 24.06.2017 und 07.09.2017. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 186 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien widersprüchliche Formationen (vgl. Abb. 4). Die abgebildete Fassade erscheint künstlich und völlig austauschbar. Allein der Detaillierungsgrad zielt auf Au- thentisierung. Die haptische Anmutungsqualität des Kunststoffplakats, wel- ches bei Wind in Bewegung gerät, zeigt eine andere kulturelle Wertigkeit ge- genüber dem integrierten Rohziegelbau mit Terrakotta-Relief und Formsteinen. Diese zugesprochene Wertigkeit zeigt sich auch darin, dass das Fassadenplakat an den Stellen, an denen sich die genannten Brüche zeigen, nur notdürftig re- pariert wurde – mit Kabelbinder, durch Überkleben mit der Fassadenfolie oder Verdecken mit großflächigen Werbeplakaten (vgl. Abb. 4, Abb. 7). Auch sub- kulturell ist die Zuschreibung eines Wertigkeitsgefälles von Sprayern vorge- nommen worden, die die Plakate als Grundfläche ihrer Graffitis nutzen, die stei- nerne Musterfassade jedoch nicht. Zwischen Fassadenplakat und Musterfas- sade tun sich Spalten auf, die den Blick auf das zu verbergende Innere freige- ben, auf Gerüst, Bauzaun, Stacheldraht, Unrat und fortgeschrittene Vegetation. Es sind unerwünschte Einsichten in einen vereinnahmten, hoch sanktionierten Raum. Gänzlich entzieht sich dem/der interessierten Betrachter/in ein ›Muster- raum‹ hinter dem Fassadenplakat, den der IBB bereits 2004-2005 zusammen mit dem Bildungsverein Bautechnik e.V. errichtet hat. Bemerkenswert ist, dass dieses als »Schaubaustelle« und »Anschauungsraum« beworbene und durch öffentliche Zugeständnisse und Spendengelder ermöglichte Objekt nur ausge- wählten Kreisen als Veranstaltungs- und Werberaum und durch Bezahlung zu- gänglich ist.38 In Bezug auf das Fassadenplakat lässt sich ein substantialisiertes Raumverständnis im Sinne eines Behälterraums und darüber hinaus eine de- terministische, politisch intendierte Raumpolitik ablesen. Abb. 4: Claudia Jürgens: Dazwischen, Dahinter, Unsichtbares, Unliebsames, Fassadenplakat Bauakademie 2017 38 Zu Beginn war der ›Roter Saal‹ genannte Musterraum bei Veranstaltungen des IBB auch kosten- frei betretbar (vgl. https://www.morgenpost.de/printarchiv/berlin/article103687560/Schinkels-Bau- akademie-als-Schaubaustelle.html [letzter Zugriff: 01.02.2018]). Heute dient er als Eventlocation, buchbar bei der vom IBB beauftragten Global Sunshine Live Communication GmbH (vgl. https://www.gslive.de/bauakademie/ [letzter Zugriff: 01.02.2018]). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 187 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Wie die Musterfassade hat auch das Fassadenplakat einen erheblichen Effekt auf die öffentliche Debatte, die nun allerdings ungleich fixierter ist als noch wenige Jahre zuvor. Argumentieren die Bauherren der gemauerten Mus- terfassade noch um eine Versachlichung der Rekonstruktionsthematik und werben für den originalgetreuen Wiederaufbau der Bauakademie, wandelt und verengt sich der Diskurs seit 2004 immer mehr hin zu Finanzierungs- und Nut- zungsfragen eines Neubaus in ›altem‹ Gewand. Die Frage, ob die Bauakademie wiederaufgebaut wird, richtet sich offenbar allein nach der Finanzierbarkeit. Die Frage, wie das Bauwerk errichtet werden soll, scheint – obgleich viel kom- plexer – längst beantwortet. Wenn die steinerne Musterfassade als öffnende Diskussionsgrundlage mit Anspruch auf historisch-geistige und materielle Ein- heitlichkeit mit räumlichen Öffnungen gelesen werden kann, ist das Fassaden- plakat als schließende Diskussion jedoch mit uneindeutiger historisch-materi- eller Einheitlichkeit und räumlich-diskursiver Deutlichkeit zu lesen. Das Fassa- denplakat unterbindet, wie unsere Diskursanalyse zeigt, das Imaginieren alter- nativer Szenarien, behindert das Entwickeln kreativer Ideen für diesen Standort und erschwert das Abwägen konkurrierender Bewertungs- und Handlungsop- tionen.39 Ein demokratischer, öffentlicher und ergebnisoffener Diskussions- und Entscheidungsprozess findet nicht statt. So dreht sich der bald einschla- fende Diskurs um das Dilemma, wie ein verhältnismäßig kleines, sehr kosten- intensives und optisch stark vordefiniertes Gebäude öffentlich genutzt und zu- gleich privat finanziert werden kann. Immer wieder kommt es zu Verzögerun- gen in den Planungsphasen und sogar offiziellen Kapitulationsankündigun- gen.40 Das Fassadenplakat wird dennoch nicht, wie ursprünglich vereinbart, nach wenigen Jahren wieder abgeräumt. Stattdessen werden sogar immer wieder neue Sponsoren gewonnen und witterungsbedingte Schäden beseitigt. Die Gebäudesimulation behauptet sich als Konstante in der sich stark wandeln- den Berliner Stadtmitte und verteidigt kompromisslos die Forderung nach ei- ner prestigeträchtigen Rekonstruktion der Fassade der Schinkel’schen Bauaka- demie. Im November 2016 beschließt der Bund sich dem Projekt anzunehmen und »über 65 Millionen Euro für den Wiederaufbau der Bauakademie von Karl Friedrich Schinkel« (DEUTSCHER BUNDESTAG 2017: 7) bereitzustellen. Daraufhin werden Anfang 2017 drei Veranstaltungen durchgeführt, um »in einem ergeb- nisoffenen Dialogverfahren mit den zahlreichen an der Bauakademie interes- sierten Institutionen ein Nutzungskonzept [zu] erarbeiten« (BUNDESSTIFTUNG BAUKULTUR 2017a: 1). Letzteres soll als Basis für einen nachfolgenden Planungs- wettbewerb dienen. Ergebnisoffen ist allerdings auch dieses Beteiligungsfor- mat nicht; so setzt es einen Bau in der Kubatur der historischen Bauakademie 39 In der Presse zeigt man sich über jeden interessierten Investor dankbar und bezeichnet die Ge- rüst-Plakat-Installation sogar als »Tourismusattraktion« (vgl. http://www.faz.net/aktuell/feuille- ton/schinkels-bauakademie-eine-attrappe-fuer-berlin-1161811.html [letzter Zugriff: 31.01.2018]). Über Alternativen oder kritische Zugänge zu dem Thema wird jedoch kaum berichtet. 40 Beispielsweise berichtet der Liegenschaftsfonds am 08.02.2010, dass die Schinkel´sche Bauaka- demie nicht wiederaufgebaut wird, nachdem »sich kein privater Investor, der die Bedingungen des Landes erfüllen wollte« (TAZ, 09.02.2010: 24). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 188 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien als Gesprächsbasis voraus und verlangt, ein »tragfähige[s] Nutzungskonzept für die Wiedererrichtung der Bauakademie Berlin durchzuführen« (BUNDESSTIF- TUNG BAUKULTUR 2017b: 3). Abb. 5: Horst Draheim: Digitales Modell der Ausstellungshalle »Mythos Bauakademie« mit der Musterfas- sade Quelle: FÖRDERVEREIN BAUAKADEMIE 1996:4 Die nun 14 Jahre dauernde Fassadisierung der Bauakademie ist gleich- zeitig Symptom dieses politisch-geschlossenen Diskurses und kann hier in sei- ner Temporalität auch deutlich als Instrument machtpolitischer Repräsentation und Manifestation kollektiven Gedächtnisses interpretiert werden – es über- formt die Debatten. Die ständig neu angewandten bildgebenden Verfahren, wie CAD-Werkzeuge und das Plotten von Plakaten werden dabei als Anspruch und Mittel von Rekonstruktionen gleichermaßen betrachtet (vgl. Abb. 5).41 Nun möchten wir das zweite Fallbeispiel, das Fassadenplakat Berliner Schloss vor- stellen. Mit Blick auf die Temporalität der Installation – wie lange diese aufge- stellt war, wann die Rekonstruktionsentscheidung fiel und seit wann das Fas- sadenplakat nicht mehr zu sehen war – verweisen wir auf den gegenwärtigen Legitimationsdruck der Rekonstruktion Berliner Schloss. 41 Im Ausstellungskatalog zur digitalen Bauakademie stellt Fritz Runge die Wichtigkeit virtueller Rekonstruktion fest und benennt somit eine weitere Möglichkeit zu bisher bildgebenden oder ar- chitektonischen Verfahren. Dabei wird immer wieder die räumliche Erlebbarkeit der digitalen Mo- dellierung betont (vgl. FÖRDERVEREIN BAUAKADEMIE 1998: 47-48). Interessant ist dabei die Zeitlichkeit und Reihenfolge der Planung. Zunächst wird von einem Strukturmodell des Baukörpers ausge- hend eine detaillierte Konstruktion der Bauteile vorgenommen, die dann sukzessive zu einem fer- tigen Gebäudeentwurf zusammengesetzt und zum Schluss vom ebenfalls digital erstellten Stadt- raum umschlossen wird. Im bildgebenden und planerischen Rekonstruktionsprozess kommt die Umgebung an zweiter Stelle. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 189 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Fassadisierungen und Debatten zum Berliner Schloss In diesem Abschnitt möchten wir argumentieren, dass deutliche Parallelen zum Fassadenplakat Bauakadamie (vgl. Abb. 6) für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses von 1993-1994 nachgewiesen werden können. Einerseits in der Rekonstruktionsdebatte in Berlin Mitte, andererseits in der Bevorzugung der Fassadisierung als Form der Vermittlung und der Legitimationsstrategie mit- tels Elitarismus durch die Fördervereine und dem Imagemarketing. Dabei ist aufzuzeigen, dass die Fassadisierung zunächst für ein Jahr geplant, dann ein- einhalb Jahre steht und wohl maßgeblich dazu beiträgt, dass der Bund die Fi- nanzierung für den Wiederaufbau des Stadtschlosses beschließt, nämlich schon 2002.42 Zwischen Abriss des Palastes der Republik und der bereits be- schlossenen Wiedererrichtung des Schlosses entfalten sich verschiedene De- batten – Vereine gründen sich gegen den Abriss des Palastes der Republik (2008), der Verein Berlin Postkolonial und andere postkoloniale Initiativen wie NO Humboldt 21 machen sich gegen die ›eurozentrische und restaurative‹ Ar- chitektursprache und die inhaltliche Ausrichtung des Humboldtforums stark.43 Zwischen Abriss und Wiederaufbau – in dem die ›Schlosssimulation‹ nicht zu sehen und nicht räumlich erfahrbar ist – geraten die konservativen Vereine in Erklärungsnot und unter Legitimationsdruck. Abb. 6: 42 »Die Präsenz der Schlossattrappe im Stadtraum führte bei vielen, die noch Sympathien für den Palast der Republik hegten, zu einem Umdenken. Jeder Passant und jede Passantin hatten gerade physisch erfahren können, wie gut der Stadtkörper in die Mitte der Stadt passte und wie er die Bauten der Umgebung zusammenhielt. Für die Rekonstruktion der Barockfassade gab es zwar noch längst keine Mehrheit in der Berliner Bevölkerung, aber mit der Schlossattrappe wurden vie- len klar, dass ein wie auch immer gestalteter Neubau die Abmessungen des Schlosskubus haben müsse. Wie zur Bestätigung dieses Eindrucks kürte die Jury des Spreeinsel-Wettbewerbs im Mai 1994 mit dem jungen Bernd Niebuhr einen Sieger, der anstelle des Palastes der Republik einen solchen monumentalen Kubus vorgeschlagen hatte. In der Jury saß damals auch der italienische Architekt Franco Stella, der 14 Jahre später den Schloss-Wettbewerb gewinnen sollte« (HAUBRICH 2012: 50). 43 vgl. http://www.no-humboldt21.de/ [letzter Zugriff: 30.01.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 190 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Robert Engelhardt Die Schlosssimulation 1993 Quelle: foto.diskurse.net Anfang der 1990er spricht sich der Vorsitzende des Fördervereins Berli- ner Schloss e.V., Wilhelm von Boddien,44 – inspiriert durch Entwürfe Goerd Pe- schkens und Frank Augustins45 – für den Aufbau einer ›Schloss-Simulation‹ aus, da »sich nur wenige Menschen anhand eines Fotos ein dreidimensionales Gebäude in voller Größe und damit auch in seiner stadträumlichen Bedeutung vorstellen können«.46 Hier rekurriert von Boddien auch auf den Moment medi- aler Vermittlung – nach dem Motto: Fotografie sei zu uneindeutig, Fassadisie- rungen vermittelten hingegen Eindeutigkeit. Der bereits konstatierte Elitaris- mus, der auch später den Diskurs um den Wiederaufbau der Bauakademie prä- gen wird, wird hier in den Forderungen nach einer Schlossrekonstruktion er- probt. In diesen Äußerungen ist unseres Erachtens nicht nur ein überhöhtes Selbstbild der Protagonist/innen und deren konservativ-unkritische Vorstel- lung von Gesellschaftsverhältnissen verankert, sondern auch eine Rhetorik zur Erlangung der Deutungshoheit und Interessenvertretung. Dieser behauptete bürgerliche Konsens über die Entwicklung der Berliner Mitte gründet allerdings nicht auf einem pluralistischen Entscheidungsprozess. Stefanie Hennecke kon- statiert in ihrem Buch Die Kritische Rekonstruktion als Leitbild, »dass dieses Leitbild nicht als Ausdruck eines offenen, allgemeingesellschaftlichen, transpa- renten und konsensorientierten Meinungsbildungsprozesses angesehen wer- den kann« (HENNECKE 2010: o. S.). Stattdessen haben »einige wenige Personen die Inhalte des Leitbildes [bestimmt] und ihre persönlichen Überzeugungen und Interessen mit dessen Hilfe strategisch [durchgesetzt]« (HENNECKE 2010: o. S.). Auch Michael Falser spricht von einem »politischen Mythos einer beschwo- renen ›neuen Bürger- und Stadtgesellschaft‹« (FALSER 2008: 188). Weder könne die Rede sein von einem behaupteten Willen einer Öffentlichkeit, die nicht zu- letzt von Politiker/innen immer wieder durch die Rhetorik eines »Kollektiv-Sin- gular« (FALSER 2008: 182) konstruiert wird, noch könne man von einer echten, offenen demokratischen Debatte über die Entwicklung der Berliner Mitte und eine breite zivilgesellschaftliche Trägerschaft etwaiger Rekonstruktionsvorha- ben sprechen. Anstatt aber dem tatsächlichen heterogenen Akteurs- und Mei- nungsfeld im gerade erst wiedervereinten Berlin adäquat Gehör zu verschaffen und einen offenen, pluralistischen Dialog über die zukünftige Entwicklung der Stadtmitte zu fördern, werde – unter Vernachlässigung der Interessen 44 Verweisungscharakter haben nicht nur die Fassaden zueinander, sondern auch die Akteure/innen im Raum. So spricht sich von Boddien als Förderer anderer städtischer Rekonstruktionen aus, zum Beispiel beim Wiederaufbau der historischen Mitte Frankfurts. 45 Anders als von Boddien planten Peschken und Augustin keine Rekonstruktion der Schlossfassade in ihrer vollen Kubatur, sondern lediglich eine partielle, museal inszenierte Anastylose kombiniert mit Neubau. Peschken und Augustin sahen zudem von einem Abriss des Palasts der Republik ab; letzter sollte stattdessen durch einen riesigen Spiegel schlossseitig verdeckt werden, sodass »der Palast der Republik, wo er städtebaulich versagt, keinen Schaden tut« (PESCHKEN 1994: 36). 46 vgl. http://berliner-schloss.de/das-historische-schloss/die-schloss-simulation-1993-1994 [letzter Zugriff: 01.02.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 191 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien insbesondere vieler Ostberliner – ein verbindliches, real aber kaum existentes Idealbild einer Bürgerstadt beschworen und sprachlich wie visuell immer wie- der aufs Neue konstruiert (vgl. FALSER 2008: 179-187). So wie die Vereine im- merzu von ›Bürgerwille‹ und im ›Wir‹ sprechen und damit für sich beanspru- chen, die Mehrheit der Bevölkerung zu vertreten, so soll auch das Fassaden- plakat als Konsens verstanden werden. Unterstützt wird die Behauptung eines Bürgerwillens dadurch, dass das Schloss durch private Spendengelder aus der Mitte der Gesellschaft finanziert werden soll. Die Fassaden dieser Vereine scheinen – angesichts des Diskursverlaufs – tatsächlich auch über das Potenzial zu verfügen, Wertvorstellungen, Zugehörigkeiten und Machtkonstellationen in der Öffentlichkeit zu konstituieren, mithin städtische Diskurse zu schließen o- der auszurichten und etwaige Entscheidungen strategisch zu beeinflussen. Die »Professionalisierung städtischer Imagepolitiken nach Vorbild der Marke- tingstrategien« (FRANK 2008: 317) weist Sybille Frank bereits bei den städtebau- lichen Entwicklungen des Potsdamer Platzes sowie bei der Heritage-Industrie am Checkpoint Charlie nach; sie wird auch im Stadtschloss-Diskurs von den öffentlich-privaten Trägern angewandt (Humboldt-Box, großflächige Werbe- plakate auf den Fassaden, Benefizkonzerte, Tag der offenen Baustelle, etc.). Das von der Pariser Künstlerin Catherine Feff und ihrem Team bemalte Fassadenplakat ›Schlosssimulation‹ steht eineinhalb Jahre in direkter visuell- räumlicher und materieller Konfrontation mit dem Palast der Republik (vgl. Abb. 6). Feff verhüllt in Restaurierung befindliche nationalstaatlich-prestige- trächtige Kubaturen, wie auch beispielsweise den Arc de Triomphe in Paris. Im Falle des Berliner Schlosses bemalt Feff mit ihrem Team die riesigen Plakate von Hand. Technisch war das Plotten solch großer Bahnen zu dieser Zeit noch nicht möglich. Anschließend werden die Bahnen von Bauarbeiter/innen auf die Baugerüste gespannt und befestigt. Die handwerklich-künstlerische Arbeit kon- kurriert einerseits mit angrenzenden Bauten und stellt andererseits historische Sichtachsen wieder her, wodurch sie ihre Legitimation bezieht. Feff gibt sich begeistert von »le monde de trompe-l’œil«47, von der Welt der großformatigen, architektonischen Augentäuschungen. Da die Schlosssi- mulation den/die Betrachter/in aber schon aus einiger Entfernung nicht zu täu- schen vermag, kann diese Selbstzuschreibung der Künstlerin nicht überzeu- gen. Anstatt die Absicht der Fassadisierung in einer tatsächlichen Täuschung zu sehen, sehen wir eher die Motivation, in der Öffentlichkeit eine Begierde nach vermeintlich verloren gegangener Schönheit und Kunstfertigkeit wecken zu wollen. Andere Motive des künstlerischen Schaffens Feffs erinnern an die Architektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, maurische Baukunst, Bau- werke der Antike, Pointilisten und anderer hochkulturellen Kunstepochen. Um die gegenwärtigen Vorstellungen einer verheißungs- und prunkvollen Vergan- genheit aufrechtzuerhalten, bleibt die Plakatgestaltung abstrakt und symbo- lisch, wie es auch Erinnerungen und Erbe-Konstruktionen eigen ist. So wird 47 Catherine Feff Studio; http://catherinefeff-studio.com/index.php/a-propos/ [letzter Zugriff: 26.01.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 192 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien auch die eigentliche ästhetische Legitimation des Fassadenplakats nicht durch den Charakter einer Illusion erzielt, sondern durch die Deklaration der Fassadi- sierung als Kunstwerk und Verweis auf eine geschönte Vergangenheit und ver- heißungsvolle Zukunft. Die Auftraggeber und die Künstlerin appellieren an das kollektive Erinnerungsvermögen und die Verantwortung vor dem historischen Erbe im urbanen Raum.48 Jedoch steht weniger die Kapazität der Erinnerungen der Betrachter/in zur Disposition, als vielmehr ein aktives politisches Eingreifen in den Stadtraum und die Installation eines bestimmten, wenn auch nur sche- matischen Stadt- und Gesellschaftsbildes. Denn die Akteure/innen argumentie- ren und agieren höchst ahistorisch, unkritisch, selektiv und prestigeorientiert. So soll die Schlossrekonstruktion möglichst nah am ›originalen‹ Erscheinungs- bild liegen, was auch durch den Vergleich mit zahlreichen historischen Bilddo- kumenten sicherzustellen versucht wird. Eine kritische Aufarbeitung der Um- stände von Errichtung und Zerstörung des Schlosses fällt aus, infolgedessen sich die Akteure/innen den Vorwurf auf die Tilgung der Geschichte des Koloni- alismus und des Dritten Reiches, den Kriegsschäden und ihren Folgen immer wieder stellen müssen. Daneben blieb auch die Klärung der künftigen Gebäu- denutzung aus.49 Allgemein spielt in den bildreichen Publikationen der Schloss- befürworter/innen die innere Programmatik des ehemaligen beziehungsweise zukünftigen Berliner Schlosses lediglich eine Nebenrolle.50 Wenn es um die Aushandlungen und Betrachtungen der Innenräume des Berliner Schlosses geht, wird hingegen der Stuck, das reiche Ornament und die kostbaren Mate- rialien als Verlust-Diskurs verallgemeinert. 2002 verabschiedet der Bundestag den Abriss des Palasts der Republik und den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses.51 Die Bevölkerung war je- doch nicht ausreichend in den Prozess involviert, ein Zwischennutzungspro- gramm wurde beendet und die Diskussionen um ein Kulturforum endeten mit den Abrissbirnen.52 Der Kunstgriff mit dem Fassadenplakat ist zum 48 vgl. Catherine Feff Studio; http://catherinefeff-studio.com/index.php/a-propos/ [letzter Zugriff: 29.01.2017] 49 vgl. http://berliner-schloss.de/das-historische-schloss/die-schloss-simulation-1993-1994/ [letzter Zugriff: 20.01.2018] 50 Die historischen Innenräume werden zum Beispiel dann angeführt, wenn der hohe Kunstgehalt des Schlosses begründet werden soll, um diesen auch für die zukünftige Gebäudehülle zu garan- tieren. 51 Ein Jahr lang hatte die Bundesregierung und der Berliner Senat eine Expertenkommission »His- torische Mitte Berlin« unter der Leitung von Hannes Swoboda eingesetzt, um 2002 eine Entschei- dung zu treffen. In der Beschlussempfehlung und im Bericht des Ausschusses für Kultur und Me- dien ist zu entnehmen, dass 388 Abgeordnete für die »Wiedererrichtung der barocken Fassaden der Nord-, West- und Südseite sowie den Schlüterhof« (Drucksache 14/9660 vom 02.07.2002) stimmten. Hieraus ließe sich »der architektonische Brückenschlag zur Bebauung der unmittelbaren Umgebung [und] auch eher eine Mobilisierung privaten Kapitals realisieren« (SWOBODA 2002: 172- 173). 133 Abgeordnete stimmten für Alternative B wonach auch die Fassadengestaltung in einem auszulobenden Architekturwettbewerb zu klären sei (vgl. SWOBODA 2002: 172-173). 52 Die wohl bekanntesten Stimmen für eine künstlerische Intervention und Umdeutung des Palasts der Republik kamen vom Regisseur Schlingensief und lokalen Berliner Aktivist/innen (vgl. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/berlin-endgueltig-palast-der-republik-wird-abgeris- sen-1307772-p2.html [letzter Zugriff: 06.03.2018]). Seit dem Wiederaufbau des Berliner Stadt- schlosses gibt es auch künstlerisch-kritische Stimmen, wie die der Künstlerin Marion Pfaus, die die Kohärenz des Stadtraums im Rückbau sieht und für das Event »Große Jubiläums Schloss-Spren- gung 2050« wirbt (vgl. http://www.rueckbau21.de/ [letzter Zugriff: 06.03.2018]). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 193 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien »Wendepunkt in der [öffentlichen] Debatte« (ESCHER 2011: 118) geworden. Nachdem das Ob geklärt war, erhitzt seit 15 Jahren das Wie des Aufbaus und die Funktion und Programmatik die Gemüter. Das Feff’sche Fassadenplakat er- hält im Zuge der Imagekampagne im »Informationspavillon«53 Humboldt-Box – diese dient als Schaubühne künftiger Ausstellungen, Werbebannerträger und Spendenbüro zugleich – sogar noch eine zweite Funktion; Teile des zerschnit- tenen Plakats können hier käuflich erworben werden, um das Simulacrum des Schlosses mitzufinanzieren. Während sich aus der Baugrube das Schloss lang- sam erhebt, werden Ausschnitte des Plakates gegen Spendengelder zur ›Be- rührungsreliquie‹. Signiert ist das Plakat bezeichnenderweise nicht von der Künstlerin Feff, deren Name aus dem Diskurs schon bald verschwunden ist, sondern von dem Vorsitzenden des Fördervereins Wilhelm von Boddien (vgl. Abb. 7). Durch die Einschreibung in die Materialität des Plakats inszeniert sich von Boddien als Popstar des Stadtschlosses.54 Abb. 8: Claudia Jürgens: Stille Auktion. Originalstück Schlossfassade. Gez. Wilhelm von Boddien 2017 Im Gegensatz zum seit 14 Jahren existierenden und sichtbaren Fassa- denplakat der Bauakademie ist die Debatte bei dem nur temporär installierten 53 Im Juni 2011 errichtet, soll die Humboldt-Box über Baufortschritt und künftige Nutzung informie- ren – und Spenden sammeln. Der Inhaber der Humboldt-Box Projekt GmbH & Co. KG, Tobias As- sies ist zugleich auch Geschäftsführer der Bavaria Limes GmbH & Co.KG, welche Riesenwerbepla- kate an der zu wiederhergestellten Schlossfassade und auf den Fassadenplakaten der Bauakade- mie anbringt. Darüber hinaus ist er auch Gesellschafter der Global Sunshine Livecommunication GmbH, welche den Musterraum ›Roter Saal‹ vermietet (vgl. https://aussergewoehnlich-ber- lin.de/humboldt-box-tobias-assies/ [letzter Zugriff: 08.03.2018]). 54 Im Falle des Humboldt-Forum zielt eine 2011-2012 errichtete Musterfassade nicht mehr auf eine Werbung für den zukünftigen Bau, sondern dient lediglich der Architekturvermittlung der bald ste- henden barockisierten Fassade. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 194 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Fassadenplakat zum Berliner Schloss diverser und konfliktvoller. Die Diskurse um das Schloss haben sich seit der Abwesenheit des Fassadenplakats gewan- delt. Zwischen Forderungen nach einem gerechteren Umgang mit postkoloni- alem Erbe der Sammlungsbestände des ethnologischen Museums Dahlem und den Debatten um die äußere Formgebung sowie die umstrittenen Teilre- konstruktionen des Architekten Franco Stella sind die Fördervereine unter Druck geraten. Mittels Öffentlichkeitsarbeit in der Humboldt-Box, wie Informa- tionsausstellungen der beteiligten Partner/innen, der kostenlosen Ausgabe von Broschüren wie dem feuilletonistisch-konservativen Berliner Extrablatt und Spendenkatalogen, sowie Tagen der offenen Tür und Baustellenbegehungen und Benefizkonzerten müht sich der Förderverein Berliner Schloss e.V. gegen- wärtig sichtlich um Anerkennung. Die offensive öffentliche Werbung um Spender – eine versprochene Spendensumme war zwingende Grundlage für die Gegenfinanzierung des Baus durch den Bund – wird auch in dem vom Förderverein Berliner Schloss herausgegebenen Berliner Extrablatt deutlich. Jüngst wurde zudem bekannt, dass nun doch der Bund für das nicht erreichte Spendenziel aufkommen soll.55 Für die eingegangenen Spenden sollen als Teil des Raumkonzeptes künftig die Eigennamen der Stifter an die Decke des Tonnengewölbes projiziert werden, um so eine Identifikation mit dem Bau zu erzielen und auch die Einschreibung als großzügiger Mäzen in die materielle Textur zu betonen: Während die anderen Namen verschwinden, wird der ausgewählte Spender nun ganz allein mit einer großen Projektion geehrt und ihm gedankt […] Sie werden Ihren Namen auch direkt mit einer Tastatur anwählen können – und Ihre persönliche Ehrung erscheint in gleicher Weise, zu Ihrer, Ihrer Familie und Freunde Freude! (FÖRDERVEREIN BERLINER SCHLOSS 2016: 53) Fassadenplakate und Musterfassaden als ikonische Stadtstrategien Stadt wurde immer ikonisch ausgehandelt und debattiert.56 Bilder von Stadt, seien es nun historische oder zeitgenössisch-mentale Bilder, bekommen in den 55 Von dem erwarteten Spendenaufkommen für die Barockfassade von insgesamt 105 Millionen Euro seien laut Medienberichten bisher nur 43,3 Millionen Euro eingegangen. Der Bund und der Sprecher des Fördervereins Berliner Schloss, Bernhard Wolter, dementieren (vgl. SPIEGEL: 8/2018: 33; vgl. DEUTSCHLANDFUNK 2018). 56 So schrieb Hermann Henselmann 1951: »Die Werke Schinkels sind in das Gedächtnis der Berliner als unlöslicher Bestandteil ihres Heimatbildes eingegangen« (HENSELMANN 1951: 6). Jonas Geist schreibt, über die »Vergegenwärtigung in Bildern. Über kaum einen Bau sind wir so genau infor- miert wie über die in den Jahren 1961/62 abgetragene Bauakademie […]. Denn neben der von Schinkel selbst besorgten ›Sammlung architektonischer Entwürfe‹, die er in Lieferungen heraus- gab, existieren von den Malern Fischer, Friedrich Wilhelm Klose und vor allem Eduard Gaertner Skizzen, Aquarelle und Ölbilder, an Hand derer man das Entstehen des in rotem Backstein gemau- erten quadratischen Blocks am Spreekanal in Berlin genau verfolgen kann« (GEIST 1993: 5). Goerd Peschken konstatiert bei der Podiumsdiskussion Bauakademie 1995, »in den Stadtzentren hätte die Architektur nur noch mediale Bedeutung. […] Die Stadtzentren in Europa signalisieren Geschichte, aber die enge Verbindung von Bau und Nutzung ist nicht mehr in allen Stadtzentren zu finden. Deswegen ist es nicht ganz falsch sich vorzustellen, daß die Bauakademie in erster Linie ein ästhe- tisches Problem ist, ein mediales Problem« (FÖRDERVEREIN BAUAKADEMIE 1995: 11). Eva Maria IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 195 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Debatten um Stadtwandel zentrale Gewichtung. In den untersuchten Debatten konnten Argumentationsstrategien insbesondere der konservativen Wortfüh- rer genannt werden, in denen Bilderflut, Kanonisierung von Bildern, Bildtradi- tionen und Bildregime benannt werden, um diese mit historischer Eindeutig- keit zu besetzten. Als Legitimationsstrategie berufen sich die konservativen Vereine auf das historisch-kollektive Stadtbild ›Berliner Mitte‹ vor 1945. Die hier vorgestellten Rekonstruktionen der Bauakademie und des Stadtschlosses wur- den durch unterschiedliche Akteure/innen jeweils mit der Geschichtlichkeit ei- nes visuellen Wertekanons der Stadt verknüpft – Schinkel’sche Bauschule und Preußisches Schloss – deren endgültiger Verlust für die Mitte der Stadt als un- erträglich angesehen wird. Diese Ästhetisierung der Berliner Mitte symbolisiert letztendlich auch eine Zeit, mit der man sich schmücken will. Es lässt sich daran nicht nur eine Hinwendung zur preußischen Kaiserzeit bei gleichzeitiger Unter- schlagung des Nationalsozialismus und der Kriegsschäden konstatieren, son- dern auch das Bemühen zur Tilgung der Architekturgeschichte der DDR. Daher kann man hier nach Klaus von Beyme von einer »politischen Ikonologie« (BEYME 2004: 351) der Architektur sprechen. Diese Bezüge auf ›kollektive Stadtbilder‹ werden von den Protagonisten gleichsam als Dispositive in der Stadt erkannt und bewusst als mächtiges und wirksames Instrument verstanden und in eine neue Materialität überführt. Mit- tels Architekturrenderings, Baustellenplakaten, Musterfassade und Fassaden- plakaten wird eine künftige Rekonstruktion in Berlins Mitte äußerst dicht be- worben. Gleichzeitig zeigen wir anhand der Debatten, dass die zweidimensio- nale Reproduktion der Bilder von Stadt (Fotografien und Bauschilder) als nicht ausreichend eingeschätzt wird, um die öffentliche Meinung auszurichten. Re- konstruktionsbefürworter nutzen die Möglichkeiten von CAD-Verfahren, um nicht mehr existierende Gebäude neu entstehen zu lassen (vgl. Abb. 5). So kön- nen Fassadenplakate geplottet und virtuelle Rekonstruktionen ›räumlich er- fahrbar‹ gemacht werden. Die Steigerung dessen stellt das Fassadenplakat in der aufgespannten Kubatur dar – diese visuelle, wie dreidimensionale Kon- struktion stützt die Legitimationsstrategien materiell-räumlich. Es kann daher als mediale Mischform – Bild und Installation gleichermaßen – betrachtet wer- den. Durch das Fassadenplakat und die Musterfassade als Möglichkeits- oder gar Wahrheitsbehauptung werden der städtische Raum und Sichtbezüge insze- niert sowie Bedeutungen und Meinungen geprägt. Wir bezeichnen die Muster- fassade und das Fassadenplakat daher als ikonische Stadtstrategie. Anhand unserer Befunde möchten wir hier exemplifiziert einen Ansatz zur Typologisie- rung von historisierenden Fassadenplakaten und Musterfassaden anbieten. • Das gemalte Fassadenplakat nimmt eine städteräumliche Schließung vor, da es über weite Distanzen Sichtachsen und Blickregime vorgibt. Froschauer bezeichnet die Humboldt-Box als »Politiken der Sichtbarmachung« (AMMON 2012: 18), als Blickregime und Sehapparat zugleich, welche den Blick lenkt. Und Wilhelm von Boddien fragte anlässlich einer Debatte vom 18.06.1997 »Woran macht sich das Bild von Berlin fest« – für ihn, insbesondere nach der langen Geschichte der Zerstörung, am Wiederaufbau der historischen Mitte. »Das Erscheinungsbild einer Stadt definiert sich aus dem Zentrum heraus« (VON BODDIEN 1998: 74). [Alle Hervorhebungen B.H./C.J.]. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 196 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Diese Formgebung stellt jedoch keine Ansprüche an die innere Funk- tion und Programmatik des Gebäudes. In Abgrenzung zu ›form follows function‹ gilt hier ›Die Hülle ist die Message‹. Die ästhetische Legitima- tion erlangt das Fassadenplakat zudem durch die Deklarierung als Kunstwerk, was als Wert auf die zu rekonstruierende Fassade übertra- gen wird und ein ›So-sollte-es-hier-sein‹ formuliert. • Das geplottete Fassadenplakat nimmt ebenfalls eine städteräumliche Schließung vor, hat es aber ungleich schwerer, sich ästhetisch zu legi- timieren. Das Rendering wirkt aufgrund der kulturell erlernten Sehge- wohnheiten ersetzbar und nicht wahrhaftig. Doch wegen der Konkre- tion diverser Baudetails wirkt es umso mehr wie eine verlässliche Bau- ankündigung. Weder Eventisierung noch ästhetische Legitimation noch Authentizität stehen hier im Vordergrund, sondern die Absicht, die Debatte durch die städteräumliche Besetzung und den Anschein be- reits getroffener Entscheidungen vorzugeben. So utopisch und künst- lich dieser beliebig digital reproduzierbare Typ bei genauerer Betrach- tung ist, behauptet er unumwunden: ›So-kann-es-hier-sein‹. • Die Musterfassade, welche als habituelle, sinnlich erfahrbare Teilrekon- struktion in den Raum gestellt wird, bietet der Öffentlichkeit einen An- stoß zur Debatte, versucht jedoch gleichzeitig, das Ende derselben schon vorwegzunehmen. Durch ihre Schau- und Rückseite zeigt sich in der Musterfassade am deutlichsten die artifizielle Bühnenhaftigkeit im städtischen Raum. Im Gegensatz zum Fassadenplakat verschleiert und verschließt sie nicht den Blick auf das Dahinter und das Unliebsame. Da sie gleichzeitig in ihrer Materialität und historisierend-handwerkli- chen Praxis (als Reenactment) auf die Inszenierung des Echten, Authen- tischen abzielt, behauptet sie nicht nur ein ›So-könnte-es-hier-(wieder)- sein‹, sondern auch ein künftiges ›So-wird-es-hier-sein‹. Wir haben durch die Betrachtung der Fassadisierungen in ihrem jewei- ligen (diskursiven) Kontext – und in Abgrenzung jeweils zueinander – zu zeigen versucht, dass es sich bei diesen konkreten Typologisierungen um Werkzeuge zur Umsetzung politischen Willens handelt. Architektur und Fassadisierungen werden also von den Akteuren/innen immer noch gemäß dem Verständnis der klassischen Moderne als Dualismus von Form und Funktion begriffen, wobei die Frage der inneren Funktion des Gebäudes der der Fassadisierung hintangestellt wird. Es konnte auch gedeutet werden, dass in den Debatten zwischen den Gesichtspunkten funktional-räum- lich (Raumprogramm) und ästhetisch-formgebend (Fassade) getrennt wird. Dass die Fassade als solche mit einer eigenen Funktion gehandelt und aner- kannt wird, die die Debatten vorstrukturiert und den Raum co-konstituiert, ist allerdings selten zu lesen. Dabei ist genau dies der Fall: Die Form der Fassadi- sierung folgt sehr wohl einer Funktion – wenngleich nicht im Sullivan’schen Sinne –, nämlich der Erzielung eines Effekts, dem Wecken einer Sehnsucht nach Rekonstruktion, der Erlangung ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals. Das Fassadenplakat – wie auch ›Fassadismus‹ im Allgemeinen – im IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 197 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Sinne einer symptomatischen Architekturlektüre, die die Stadt als akteurs- und alltagsfreien Raum begreift, unterbindet damit die Vielstimmigkeit einer plura- listischen Gesellschaft. Es wird versucht eine Gleichzeitigkeit verschiedener räumlicher, zeitlicher, sozialer und bildlicher Formatierungen von Stadt zu un- terminieren. Die Simulationen (über-)formen die Dispositive des städtischen Raums, bilden gesellschaftliche, historische und normative Zwänge sowie fa- talistisch-deterministische Zukunftsperspektiven. Sie verwehrt die Beteiligung an der Aushandlung der städtebaulichen Entwicklung und des Selbstbildes der Stadt. Denn mit der Belegung des Stadtraums verengt oder gar beendet die gebaute Behauptung oder quasi-materialisierte Wunschbeschreibung gleich- zeitig den Streit- und Aushandlungsraum der öffentlichen Beteiligung. Die vorgestellten Fassadisierungen von zu rekonstruierenden Bauwer- ken in ihren jeweiligen Kontexten zeigen das Eigene, Gewollte und verdrängen das Fremde, Nicht-Gewollte bestimmter Akteurskonstellationen. Bereits vor dem Planungsentscheid werden hochästhetisierte (Re-)Präsentationen ge- nutzt, um auf die gewünschte Materialisierung und Bedeutungsaufladung vor- zubereiten. Diese Fassadisierungen repräsentieren also nicht nur das Gewe- sene und das von einflussreichen Akteuren/innen Gewünschte, sondern sie scheinen tatsächlich auch über das Potenzial zu verfügen, Wertvorstellungen, Zugehörigkeiten und Machtkonstellationen in der Öffentlichkeit zu konstituie- ren, mithin städtische Diskurse auszurichten und etwaige politische Entschei- dungen strategisch zu beeinflussen. Das Fassadenplakat und dessen Einbin- dung in einflussreiche Diskurse ist nicht selbsterklärend und bedarf daher auch künftig einer genaueren Betrachtung und Analyse. Aufgrund der nachgewiese- nen Funktionsbeschreibung von Fassadenplakat und Musterfassade stellen sich weiterführende Fragen nach der Funktion des Bildes über und im Stadt- raum. Neben der Berücksichtigung der beteiligten Akteure/innen und ihrer un- terschiedlichen Motive sollten dabei vor allem Aspekte der Zeitlichkeit der Fas- sadenplakate (Argumente einer temporären Installation (vgl. Abb. 8)) und Gleichzeitigkeit (Moderne, Historismus, zeitgenössische Architektur) Beach- tung finden. Wie, mittels welcher Medien und Handlungen wird Wissen um und Einfluss über Stadtraum visuell konserviert und im kollektiven Gedächtnis fortgeschrieben? Auch muss danach gefragt werden, wie Sinn kommunikativ mit und über das Bild in der Stadt hergestellt wird und welche Wünsche dieser Sinn birgt. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 198 Benjamin Häger/Claudia Jürgens: Ikonische Stadtstrategien Abb. 8: Claudia Jürgens: Fassadenplakat und Musterecke der Bauakademie 2018 Literatur AKADEMIE DER KÜNSTE (Hrsg.): Mitten in Berlin. Ein Diskussionsforum zur Berliner Stadtmitte. März, April, Mai 2001. Berlin [Akademie der Künste] 2001 AMMON, SABINE; FROSCHAUER, EVA MARIA U.A.: z.B. Humboldt -Box. zwanzig architekturwissenschaftliche Essays über ein Berliner Provisorium. Berlin [transcript] 2012 AUGUSTIN, FRANK: Vorwort. 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Jahrhunderts wurden Grenzverläufe zwischen Kunst und Alltag vielfach ausgehandelt: Sie wurden verschoben, überschritten oder neu justiert. Heutzutage erscheinen diese Grenzen in manchen Fällen ob- solet: Der Querverweis auf die andere Sphäre als ›fremdes‹ Feld entfällt oder wird nur noch durch unvollständige ›Markierungen‹ angedeutet. Dies kann – muss aber nicht notwendigerweise – zu Konstellationen führen, die ethische Fragen aufwerfen. Einleitung Kunst einerseits und Alltagsleben andererseits werden gemeinhin als unter- schiedliche Sphären wahrgenommen, wie beispielsweise Diskurse über Hoch- IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 204 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ und Alltagskultur zeigen (vgl. HÜGEL 2003: 9-11). Dennoch sind die Grenzen zwi- schen diesen Sphären durchlässig – etwa, wenn soziale und politische Aufga- ben von Kunst in der heutigen, post-fordistischen Arbeitswelt zur Debatte ste- hen (vgl. CHUKHROV 2014). Meine These ist, dass die Grenzverläufe zwischen Kunst und Alltag, die in der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert vielfach ver- handelt wurden, indem sie verschoben, überschritten oder neu justiert wurden, heute bei manchen Kunstwerken, die zwischen diesen Sphären vermitteln, ob- solet geworden sind.1 Der Verweischarakter auf das jeweils andere als ›frem- des‹ Feld wird nur noch rudimentär angespielt oder ist gar nicht mehr von Be- lang. Daraus können – aber müssen sich nicht zwangsläufig – Konstellationen ergeben, die ethische Fragen aufwerfen. Bevor ich näher auf ein Werk der Ge- genwartskunst eingehe, das meine These unterfüttert, möchte ich die Funktion der Grenzziehung zwischen Kunst und Alltag in der bildenden Kunst und deren Auslotung als generelles theoretisches Problem ansprechen und, bezogen auf die Kunst des 20. Jahrhunderts, geschichtlich einordnen. Visuelle Phänomene in Kunst und Alltag Lambert Wiesing hatte sich in Artifizielle Differenz phänomenologisch mit der Problematik eines unscharfen Bildbegriffs auseinandergesetzt, der es schwer macht, bildwissenschaftliche Untersuchungen aus unterschiedlichen Diszipli- nen miteinander zu vergleichen (vgl. WIESING 2005: 9-16). Wiesing konstatierte, dass allein in der Philosophie, je nach Blickwinkel, verschiedene Phänomene als Bild bezeichnet werden können, die diverse Erscheinungsformen und Ei- genschaften haben: etwa »Sternenbild, Spiegelbild, Schattenbild, […], der Cy- berspace, die Landkarte oder der Fußabdruck« (WIESING 2005: 14). In seiner Problemanalyse ging er auch auf kunsttheoretische Kategorisierungen im Hin- blick auf visuelle Phänomene in Kunst und Alltag ein: Er warf die Frage auf, warum in einem Fall eine monochrom gestaltete Fläche als Bild betrachtet wird, im anderen Fall aber nicht: Doch kaum jemand will den Begriff des Bildes so erweitern, daß jede monochrome Fläche ein Bild ist. Folglich muß derjenige, welcher monochrome Malereien als Bilder anspre- chen möchte, erklären, warum eine monochrom bemalte Leinwand mit Kunststatus ein Bild ist, während eine genauso aussehende monochrome Fläche ohne Kunststatus kein Bild sein soll. Dies führt zu der Frage, ob für den Bildstatus einer Sache ein bestimmter Kontext entscheidend ist (WIESING 2005: 15). Die Differenz, auf die Wiesing die Zuschreibung der monochromen Leinwand als Bild zurückführt, ist die des – wie er es nennt – ›Kunststatus‹. Er betrachtet den Bildbegriff in diesem Fall in Abhängigkeit vom Kunstbegriff. Damit ver- deutlicht er, dass offensichtlich der Kontext bedeutsam ist, in dem das visuelle Phänomen erscheint, um es als Bild zu bezeichnen. 1 Vgl. zur Grenzverschiebung in den Künsten, die auch als ›Entgrenzung‹ bezeichnet worden ist, GLUDOVATZ et al. 2010. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 205 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ Abb. 1: Marcia Hafif: Roman Painting XVIII, 1986, Öl auf Leinwand, je 177,8 cm x 101,6 cm, © Marcia Hafif Quelle: http://www.marciahafif.com/inventory/rp.html [letzter Zugriff: 31.03.2018] Auf ein konkretes Beispiel bezogen würde dies etwa bedeuten, dass sich Marcia Hafifs beiden monochromen Malereien mit dem Titel Roman Pain- ting XVIII (vgl. Abb. 1), die in zarten, rötlichen Ockertönen gehalten sind und die mit vertikalen, sich mehrfach überlagernden Pinselstrichen ausgeführt wur- den, unzweifelhaft als ›bemalte Leinwand mit Kunststatus‹ identifizieren las- sen.2 Dies, obwohl die beiden monochromen Flächen Ähnlichkeit mit grobver- putzten Wandflächen haben, wie sie in Italien häufig anzutreffen sind. Die Lein- wand als seit der Frühen Neuzeit gebräuchlicher Bildträger ›markiert‹, wie ich es nennen möchte, hier eindeutig den ›Bildstatus‹ bzw. ›Kunststatus‹. Schwieriger wird die Unterscheidung, wenn eine monochrome Malerei nicht mehr auf einer Leinwand oder einem anderen expliziten Bildträger er- scheint, sondern unmittelbar auf eine Wandfläche aufgetragen ist. Dies ist bei- spielsweise bei Hafis Serie der Wallpaintings der Fall. Werden sie im White Cube präsentiert, wie etwa Prussian Blue 1975 in der New Yorker Julian Pretto Gallery (vgl. Abb. 2), dann lassen sie sich als Bilder bzw. als Kunst 2 Marcia Hafif benutzte hierfür Pigmente, die traditionell für die Darstellung von Haut gebräuchlich sind, vgl. http://www.marciahafif.com/inventory/rp.html [letzter Zugriff: 31.03.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 206 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ identifizieren. Der Galerieraum ›markiert‹ in diesem Fall den ›Bildstatus‹ bzw. den ›Kunststatus‹. In einem Wohnraum ausgeführt, würde Hafifs Prussian Blue dagegen vermutlich nicht mehr sofort als Bild wahrgenommen werden, son- dern vielmehr als dekorative, expressiv gestaltete blaue Wandfläche, da die ›Markierung‹ des ›Kunststatus‹ durch den Galeriekontext wegfallen würde. Hier müsste der Verweis auf das Feld der Kunst auf andere Art erfolgen. Abb. 2: Marcia Hafif: Wall Painting: Prussian Blue, 1975, Julian Pretto Gallery, New York, © Marcia Hafif Quelle: http://www.marciahafif.com/inventory/rp.html [letzter Zugriff: 31.03.2018] Das heißt, selbst bei einem relativ eng definierten Gegenstand der Kunst wie einer monochromen Malerei – die freilich im Kontext der Kunst, so zeigt es Wiesing, ebenfalls nicht zwingend als Bild klassifiziert werden muss (vgl. WIESING 2005: 15) – kann die Grenzziehung zwischen alltäglichen Phäno- menen und künstlerischen Bildern so angelegt sein, dass sie nicht allein durch phänomenologische Beobachtung nachvollzogen werden kann. Nur durch kontextuelles Wissen lässt sich erschließen, was zu welchem Feld gehört. Die beiden Felder – das der Kunst und das des alltäglichen Lebens – sind bei den Wallpaintings jedoch aufeinander bezogen. Hafifs Malerei Prussian Blue dringt in den alltäglichen Kontext ein, dadurch dass sie den herkömmlichen Bildträger ›Leinwand‹ hinter sich lässt und die Wand ›bespielt‹. Im Folgenden möchte ich das Phänomen der Grenzüberschreitung aufgreifen und auf ästhetische Phä- nomene bei künstlerischen Plastiken, Installationen und Aktionen ausdehnen, die ich ebenfalls unter dem Gesichtspunkt ihrer Bildlichkeit betrachten möchte. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 207 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ Ziel- und Handlungsrichtungen: Alltag in die Kunst und Kunst in den Alltag Der Wunsch, Kunst aus ihrem vermeintlichen ›Elfenbeinturm‹ zu holen und mit dem alltäglichen Leben zu verbinden, hat viele künstlerische Strömungen im 20. Jahrhundert ausgezeichnet. Dabei lassen sich grob skizziert zwei Ziel- bzw. Handlungsrichtungen unterscheiden: Erstens: Alltagsobjekte und alltägliche Handlungen werden im White Cube präsentiert; durch ihre Dekontextualisie- rung werden sie auf andere Weise betrachtet und können so zu neuen ästheti- schen Erfahrungen führen. Zweitens: die Kunst ihrerseits soll das abgeschirmte Atelier, die Galerie, den Museumsraum verlassen und das alltägliche Leben durchdringen und verändern. Bei der erst genannten Handlungsrichtung ›mar- kiert‹ der White Cube bzw. der Ausstellungskontext den ›Kunststatus‹, bei der zweiten Handlungsrichtung erfolgt die ›Markierung‹ des ›Kunststatus‹ durch öf- fentliche Bekanntmachung, werkbegleitende Texte, die Entwicklung neuer all- tagsbezogener Kunstformen, durch eine andere, vom Alltäglichen abwei- chende Ästhetik etc. Für die erste Ziel- bzw. Handlungsrichtung stehen paradigmatisch die Readymades von Marcel Duchamp, wobei diese nicht sogleich Akzeptanz im Ausstellungskontext fanden. Bekanntlich reichte Duchamp bei der ersten Aus- stellung der New Yorker Society of Independent Artists im April 1917 sein Readymade Fountain (vgl. Abb. 3) anonym ein, das er mit ›R. Mutt‹ in schwar- zen Lettern signiert hatte – und scheiterte am Kunstverständnis seiner Kol- leg/innen (vgl. SCHWARZ 2000: 648). Diese platzierten das um 90 Grad gedrehte Urinal in der Ausstellung so, dass es von den Besucher/innen nicht wahrge- nommen werden konnte. Diese Geste kam einer Zurückweisung gleich. Zur Verteidigung von ›Mr. Mutt‹ druckten die Herausgeber/innen des neu gegrün- deten Magazins The Blind Man, zu denen Duchamp zählte, in der zweiten (und zugleich letzten Ausgabe) einen Leitartikel ab. Dort hieß es unter anderem: »He took an ordinary article of life, placed it so that its useful significance disap- peared under the new title and point of view – created a new thought for that object«.3 In den 1960er Jahren, als Repliken der ersten Version von Fountain Eingang in Museumssammlungen hielten, sprach Duchamp rückblickend von »visueller Indifferenz« (DUCHAMP 1981: 242), die er gegenüber dem alltäglichen Gegenstand in geschmacklicher Hinsicht empfunden habe. Sie habe ihn veran- lasst, das Urinal als Kunstobjekt betrachten zu wollen. 3 Zitiert nach SCHWARZ 2000: 650. Vom Magazin The Blind Man erschienen lediglich zwei Ausgaben. Es wurde herausgegeben vom Schriftsteller Henri-Pierre Roché in Zusammenarbeit mit der Künst- lerin Beatrice Wood und mit Duchamp. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 208 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ Abb. 3: Marcel Duchamp: Fountain, 1917, © Association Marcel Duchamp/ VG Bild-Kunst, Bonn 2018; Foto: Alfred Stieglitz, 1917 Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Duchamp_Fountaine.jpg [letzter Zugriff: 31.03.2018] Die zweite Zielrichtung, Kunst in den Alltag zu überführen, verfolgten viele Avantgarde-Bewegungen der 1910er bis 1930er Jahre wie etwa die italieni- schen Futurist/innen oder aber die Künstler/innen der russischen Avantgarde (vgl. CHYTRAEUS-AUERBACH/MAAG 2016; HORNBOSTEL/KOPANSKI/RUDI 2001). Sie strebten danach, die herkömmlichen Gattungen der bildenden Kunst von Ma- lerei, Plastik und Zeichnung zu überwinden und sich auch in Feldern wie The- ater, Design, Mode, Fotografie oder Kochen zu betätigen, um alle Lebensberei- che künstlerisch zu erfassen und das Alltagsleben auf diese Weise zu reformie- ren bzw. zu modifizieren. Ihre Bemühungen unterstrichen sie durch program- matische Schriften und Manifeste.4 4 Die teils realisierten, teils aber auch utopistisch angelegten Projekte wurden von den politisch- gesellschaftlichen Situationen ›eingeholt‹: Während einige Futurist/innen, allen voran ihr Begrün- der Filippo Tommaso Marinetti, mit dem faschistischen System in Italien sympathisierten, mussten sich die Künstler/innen der russischen Avantgarde dem Diktat des Stalinismus beugen (vgl. HINZ 2000; ALTRICHTER 2016: 38-39). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 209 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ Abb. 4: Hélio Oiticica: NC 3 Núcleo médio no.1, 1960/61, Öl und Harz auf Hartfaserplatte, variable Dimen- sionen, Installationsansicht Rua Engenheiro Alfredo Duarte, Rio de Janeiro Quelle: GAENSHEIMER 2013: 38 Ein erneutes verstärktes Interesse, Kunst und Alltag miteinander in Ein- klang zu bringen, lässt sich ab Ende der 1950er Jahre und in den beiden fol- genden Jahrzehnten erkennen. Hélio Oiticica beispielweise entwickelte Kunst- formen, in denen sich die brasilianische Alltags- und Populärkultur widerspie- gelte (vgl. WEINHART 2013: 20-40). Seine Kunst sprach alle Sinne an und machte die Betrachter/innen zu aktiven Partizipant/innen des Künstlers. Bereits Anfang der 1960er Jahre schuf Oiticica mit Núcleos (Kernen) und Penetráveis (Durch- dringungen) zwei Werkgruppen, die darauf angelegt waren, das Bild von seiner bis dahin üblichen Platzierung an der Wand zu ›befreien‹ (vgl. OITICICA 2013a: 125-131; GAENSHEIMER et al. 2013: 314-15). Bei den Nucléos (vgl. Abb. 4) handelt es sich um Installationen aus monochrom bemalten Hartfaserplatten. Oiticica hängte die Platten so neben- und übereinander an transparenten Schnüren im Raum auf, dass sie labyrinthartige, bewegliche Farbfelder im Raum ausbilde- ten. Diese konnten von den Besucher/innen beschritten werden, so dass sie Teil des Bildes wurden. Für die Penetráveis bespannte Oiticica Keilrahmen mit farbigen Stoffen oder nutzte monochrom gefärbte Sperrholzplatten und baute aus diesen farbenfrohen Flächen begehbare Erfahrungsräume, die er im Nach- hinein auch als ›Evironments‹ bezeichnete. Die Penetráveis sollten an die IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 210 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ Ästhetik der Hütten in den brasilianischen Favelas anknüpfen. Oiticica merkte entsprechend in seinem Essay Position und Programm im Jahr 1966 an: »Die Welt selbst ist das Museum« (OITICICA 2013b: 172). Zeitgleich waren in den USA bzw. in Europa Kunstformen wie Environment, Happening und Fluxus entstan- den, die ebenso die Rezipient/innen aus ihrer passiven Beobachterrolle befrei- ten (vgl. WERKNER 2007: 45-68). Joseph Beuys reflektierte in dieser Zeit über den ›erweiterten Kunstbegriff‹, der es erlaubte, neben materiell existierenden Wer- ken gleichsam Aktionen und soziales Engagement als Kunst zu betrachten (vgl. WERKNER 2007: 227-248). Bei den seit Ende der 1950er Jahre neu entwickelten Kunstformen sind beide der anfänglich von mir erwähnten Ziel- und Handlungsrichtungen ver- treten. Viele Happenings, beispielsweise von Allan Kaprow, fanden jenseits von Galerieräumen statt – wie Fluids, bei dem zahlreiche Menschen, unter ihnen viele Schüler/innen und Student/innen, im Oktober 1967 dem Aufruf des Künstlers gefolgt waren, rechteckige ›Einfassungen‹ aus Eisquadern an öffent- lichen Plätzen im Großraum von Los Angeles zu errichten (vgl. MEYER-HER- MANN/PERCHUK/ROSENTHAL 2008: 189-195).5 In der kalifornischen Wärme verloren die Gebilde schnell ihre ursprüngliche plastische Form und schmolzen. Ander- seits wurden aber auch nicht-gestalterische, alltägliche Handlungen zu muse- aler Kunst erklärt – so geschehen in Kaprows mehrfach realisiertem Happening Yard.6 Wie auf einem Spielplatz durften die Galerie- bzw. Museumsbesucher über Ansammlungen von Autoreifen springen. In der ersten Version des Hap- penings waren die Reifen im Hof der Galeristin Martha Jackson ausgebreitet worden, in dem sonst Skulpturen gezeigt wurden. Und auch im 21. Jahrhundert ist das Bestreben, Kunst und Alltag mitei- nander zu verbinden, nach wie vor ein wichtiges Anliegen. Z.B. gewann Martin Creed 2001 den Turner-Preis mit seiner konzeptuellen Arbeit Work No.127, the lights going on and off (vgl. LAUSON 2014: 46), die er einige Jahre zuvor entwi- ckelt hatte. Das Werk besteht allein darin, dass das Licht in einem der Ausstel- lungsräume in regelmäßigen Abständen an- und ausgeht. Der Raum ist an- sonsten leer (vgl. Abb. 5).7 Diese Arbeit funktioniert strukturell gesehen ähnlich wie Duchamps Readymades: Erst das ausgestellte Zeigen der banalen, alltäg- lichen Handlung im musealen Kontext macht sie als Kunst erfahrbar und lässt sie zum ästhetischen Ereignis werden. Creeds Künstlerkollege Maurizio Cat- telan verglich den kontinuierlichen Wandel zwischen Hell und Dunkel beispiels- weise mit einer Schaukel, die auf minimalistische Weise Stimmungsgegen- sätze als endlosen Kreislauf vorführt.8 Creeds Work No. 127 lebt von der klar 5 Einen guten Eindruck davon gibt die fotografische Dokumentation des Happenings in Passadena, vgl. http://allankaprow.com/about_reinvetion.html [letzter Zugriff 20.04.2018]. 6 Vgl. http://allankaprow.com/about_reinvetion.html [letzter Zugriff: 31.03.2018]. 7 Es gibt mehrere Versionen dieser Arbeit, die unterschiedliche Nummern in Creeds selbst erstell- tem Werkverzeichnis tragen. Sie unterscheiden sich dadurch, dass die Intervalle zwischen Hell und Dunkel in ihrer zeitlichen Dauer variieren (vgl. LAUSON 2014: 46). 8 Vgl. http://www.martincreed.com/site/words/work-no-227-the-lights-going-on-and-off [letzter Zu- griff: 31.03.2018]. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 211 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ erkennbaren Grenze zwischen Kunst und Alltag, die in der Ausstellungssitua- tion überwunden wird und dennoch sichtbar bleibt. Abb. 5: Martin Creed: Work No.127, the lights going on and off, 1995, 30 Sek. an/30 Sek. aus, variable Di- mensionen, Installationsansicht Cubitt Gallery London, 1995; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Quelle: CREED 2010: 127 Fehlender Verweischarakter – rudimentäre ›Markierungen‹ In den vergangenen 20 Jahren sind aber auch vermehrt künstlerische Arbeiten entstanden, in denen Kunst und Alltag derart miteinander verwoben sind, dass die Muster ›Kunst in den Alltag bringen‹ oder ›Alltag in den Kontext der Kunst überführen‹ nicht mehr zu finden sind. Der Verweischarakter auf die Grenze zwischen Kunst und Alltag fällt bei diesen Arbeiten weg, so dass ich hier von einer Perspektive jenseits der Grenze von Kunst und Alltag sprechen möchte. Ein Werk, das für mich in gewisser Weise prototypisch für dieses Phänomen ist, ist Pierre Huyghes Untilled. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 212 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ Pierre Huyghe hatte Untilled für die dOCUMENTA (13) im Jahr 2012 ent- wickelt (vgl. DOCUMENTA/MUSEUM FRIDERICIANUM 2012: 262-263).9 Das Werk erfuhr große Aufmerksamkeit in den Massenmedien sowie in der Kunstkritik bzw. Kunstwissenschaft.10 Untilled erinnert im Schriftbild an den Begriff Untitled, ohne Titel. Es heißt aber so viel wie ›unkultiviert‹. Huyghe wählte für die Um- setzung seiner Arbeit eine Brache am Rande der Kasseler Karlsaue aus, die au- ßerhalb der offiziellen Parkanlage liegt und normalerweise nicht von Parkbe- sucher/innen betreten wird. An diesem Ort lagern die Gärtner Erde, Sand, Steine und andere Materialien und kompostieren die Pflanzenabfälle des Parks (vgl. Abb. 6). Eine unbeachtete Nutzfläche wurde hier also zum Ort der Kunst erklärt und leicht verändert. An einigen Stellen ließ Huyghe Pflanzen mit psy- chotischen Wirkungen anbauen wie Fingerhut, Tollkirsche, Stechapfel, Canna- bis und Roggen, der häufig von dem Pilz namens Mutterkorn besiedelt wird, aus dem wiederum LSD extrahiert werden kann. Außerdem ließ er Weinreben setzen. Abb. 6: Pierre Huyghe: Untilled, 2012, dOCUMENTA 13; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018; Foto: Courtesy Con- temporary Art Daily Quelle: http://www.contemporaryartdaily.com/2012/06/documenta-13-pierre-huyghe/ [letzter Zu- griff: 31.03.2018] Das, was sich in Huyghes Areal nach klassischem Gattungsverständnis unzweifelhaft als Kunstwerk identifizieren ließ, war ein liegender weiblicher 9 Vgl. Fotostrecke in: http://www.contemporaryartdaily.com/2012/06/documenta-13-pierre-huyghe/ [letzter Zugriff: 31.03.2018] 10 Vgl. z.B. den Beitrag unter: http://www.hr-online.de/website/specials/documenta13/in- dex.jsp?rubrik=72974&key=standard_document_46043033 [letzter Zugriff: 31.03.2018]; vgl. zur Kunstkritik/Kunstwissenschaft z.B. JOSELIT 2014; HANTELMANN 2015. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 213 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ Akt, den der Künstler zwischen den Sand-, Kies- und Erdhügeln aufstellen ließ (vgl. Abb. 7). An regnerischen Tagen bildeten sich matschige Pfützen um die Plastik, so dass sie nur schwer zugänglich war. Der Kopf des Aktes war mit Waben ummantelt, die von einem Bienenschwarm bewohnt wurden. Für den Akt hatte Huyghe eine Skulptur des Bildhauers Max Weber aus den 1930er Jah- ren aus Beton nachgießen und im Inneren des Figurenkopfes Heizstäbe instal- lieren lassen, um den Bienen eine warme Heimstatt zu geben. Um das Bienen- volk dort ansiedeln zu können, hatte Huyghe mit einem örtlichen Imker zusam- mengearbeitet. Dieser stellte ihm eines seiner Völker für das Kunstprojekt zur Verfügung. Abb. 7: Pierre Huyghe: Untilled, 2012, dOCUMENTA 13; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018; Foto: Courtesy Con- temporary Art Daily; Quelle: http://www.contemporaryartdaily.com/2012/06/documenta-13-pierre-huyghe/ [letzter Zu- griff: 31.03.2018] Außer der Skulptur mit dem Bienenstock gab es nur einen weiteren Hin- weis auf eine künstlerische Intervention auf dem Areal. Auf Huyghes Untilled lebten während der Ausstellungsdauer ein kleiner brauner Welpe namens ›Señor‹ und seine Mutter, eine weiße Windhündin namens ›Human‹, deren rechter Vorderlauf leuchtend-pink eingefärbt worden war (vgl. Abb. 8). Ansons- ten erinnerte nichts an Kunst. Die am Eingang des Areals umherirrenden Be- sucher, die – vom Ausstellungsplan geleitet – Huyghes Arbeit Untilled suchten, waren, sofern sie sich nicht mit Huyghes Arbeitsweise auskannten, meist rat- los. Einzig der liegende Akt bot ihnen ein Kunstwerk im klassischen Sinne. Irri- tiert durch die pinke Farbe des auf dem Areal umherstreunenden Hundes, ka- men die Besucher/innen miteinander ins Gespräch oder aber sie nahmen das IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 214 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ Gespräch mit dem jungen Mann namens Marlon Middecke auf, der die beiden Hunde betreute und in Huyghes Auftrag tagtäglich Zeichnungen von den Ver- änderungen der Pflanzen und des Erdreichs anfertigte. Abb. 8: Pierre Huyghe: Untilled, 2012, dOCUMENTA 13; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018; Foto: Courtesy Con- temporary Art Daily Quelle: http://www.contemporaryartdaily.com/2012/06/documenta-13-pierre-huyghe/ [letzter Zu- griff: 31.03.2018] Bei Youtube eingespeiste Amateur-Videofilme offenbaren, dass die Ge- spräche der Besucher/innen meist um das Befinden der Hunde kreisten.11 Sie drehten sich aber auch um die Skulptur mit den Bienenwaben oder um die Frage, welche Aufgaben der junge Mann für Huyghe zu erledigen habe. Auch das offizielle Hinweisschild auf Huyghes Arbeit gab Anlass zu Gesprächen. Da- rauf hieß es: »Lebendige Wesen und leblose Dinge, Maße und Dauer varia- bel«.12 Welche lebendigen Wesen waren gemeint: die Hunde, die Bienen oder die Ameisen, die einen Bau in der Nähe der Komposthaufen errichtet hatten? Oder waren auch der Hundebetreuer und die Documenta-Besucher selbst ge- meint? Was zählte zu den leblosen Dingen: die Steinplatten, die liegende ver- witterte Beton-Bank – ein in der Aue übrig gebliebenes Relikt der Documenta11 aus der Installation Ein Fluchtplan von Dominique Gonzalez-Foerster – oder waren die Kieshügel gemeint? Wenn Maße und Dauer variabel sein sollten, wo und wann sollte das Kunstwerk anfangen, wo und wann enden? Huyghe hatte Hundebetreuer Middeke instruiert, nicht die Aufgabe eines Kunstvermittlers 11 Vgl. z.B. https://www.youtube.com/watch?v=vZ0LR20J2MA [letzter Zugriff: 31.03.2018] 12 Vgl. das Foto der Beschilderung: http://www.kunstkritikk.dk/artikler/documenta-13-i-bilder/?d=dk [letzter Zugriff: 31.03.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 215 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ oder Erklärers zu übernehmen, so dass die Besucher/innen ihre Fragen nur selbst beantworten konnten.13 Im Begleitbuch zur Ausstellung ließ Huyghe eine Zeichnung abdrucken, die er zur Vorbereitung von Untilled angefertigt hatte (vgl. DOCUMENTA/MUSEUM FRIDERICIANUM 2012: 263). Die Zeichnung ist eine Kartographie des Ortes, die alle Merkmale und Besonderheiten festhält: etwa die bereits erwähnten Details wie die Statue mit Bienenstock (»Statue with Beehive«), der Hund mit Welpen (»Dye Dog«/ »Puppies«), das Matschfeld (»Mud Field«), die bewusstseinsver- ändernden Pflanzen (»All Psycho Plants«). Sie enthält aber auch Aspekte, die ich bislang noch nicht erwähnt hatte: etwa eine entwurzelte Beuys-Eiche (»Dead Beuys Oak«), tote Bäume (»Dead Trees«) oder ein Wasserbassin (»Pool«). Striche und Pfeile markieren die vielfältigen Beziehungen zwischen den Örtlichkeiten, Dingen und Lebewesen. So findet sich ein Hinweis auf Myrmekochorie: die Tatsache, dass Ameisen bestimmte Pflanzensamen sam- meln, Teile davon verdauen und die Reste so ablegen, dass neue Pflanzen da- raus entstehen können. Des Weiteren vermerkte Huyghe in der Zeichnung, dass Bienen alle ›sexuellen‹ Pflanzen bestäuben, dass die im Wassertrog leben- den Kaulquappen eine Metamorphose zu Fröschen vollziehen und dass die to- ten Bäume durch Zerfallsprozesse wiederum Humus für neue Pflanzen bilden. Neben der Skizze veröffentlichte Huyghe im Begleitbuch einen vom ihm verfassten, erläuternden Text. Darin heißt es u.a.: Im Kompost der Karlsaue haben Artefakte, unbelebte Elemente und lebende Organismen … Pflanzen, Tiere, Menschen, Bakterien alle Kultur abgelegt. Die Transaktionen zwischen ihnen laufen ohne Drehbuch ab. […] Es gibt Wiederholung, chemische Reaktion, Vermehrung, Bildung und Lebendigkeit, aber ob es ein System gibt, ist nicht sicher. Die Rollen sind nicht verteilt, es gibt keine Organisation, keine Repräsen- tation, keine Ausstellung. Es gibt Regeln, aber keine Grundsätze (DOCUMENTA/MUSEUM FRI- DERICIANUM 2012: 262). Der Text endet mit dem Satz: »Es ist endlos, unaufhörlich« (DOCUMENTA/MUSEUM FRIDERICIANUM 2012: 262). Huyghe zufolge ist Untilled demnach zeitlich gesehen grenzenlos. Er charakterisiert Untilled insgesamt als einen unbestimmbaren Ort, an dem Dinge geschehen, die nicht vorhersehbar sind, an dem es Akteure gibt jenseits des Menschlichen. Nicolas Bourriaud hatte Huyghes installative Arbeiten bereits in den 1990er Jahren als paradigmatisch für seine Vorstellungen von ›Art relationelle‹ angesehen. Bourriaud definierte ›Art relationnelle‹ als »an art form where the substrate is formed by inter-subjectivity, and which takes being together as a central theme, the ›encounter‹ between beholder and picture, and the collective elaboration of meaning« (BOURRIAUD 2010: 15). Eine Kunst, für die das Zusam- men-Sein herausragendes Merkmal ist, kann keine materiell greifbare Kunst sein. Außerdem können bei dieser Art von Kunst die Rollen der Künstlerin/des Künstlers und der Öffentlichkeit nicht mehr in hermeneutischer Opposition von Autor/in auf der einen Seite und Rezipient/in auf der anderen Seite aufgefasst werden. Neben die Künstlerin bzw. den Künstler als Urheber/in treten andere 13 Vgl. Interview mit Middeke in: https://www.unicum.de/de/archiv/kunstprojekt-student-trug-tau- sende-bienen-auf-seinem-kopf [letzter Zugriff: 31.03.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 216 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ Urheber wie das Publikum. Im Fall von Untilled wird nicht nur das menschliche Publikum als Partizipant einbezogen, sondern, um Huyghes Formulierung auf- zugreifen, andere ›lebende Organismen‹ wie Tiere, Bakterien, Pflanzen bilden ebenso Relationen aus und werden in diesem Sinne zu Miturheber/innen. Huyghe wendet sich demnach von einem anthropozentrischen Autorschafts- begriff ab hin zu organisch-natürlichen Steuerungsprozessen. Dass Huyghe seinen Kunstbegriff weit fasst, wird auch deutlich, wenn man sich seinen Bildbegriff vor Augen führt. In einem Gespräch mit Marie- France Rafael sagte er: »Ein Bild ist eine Situation. So verstehe ich Bilder, nicht photographisch. Eine Situation ist ein Bild« (RAFAEL 2012: 30). Obgleich die Re- lationen und die sich verändernden Situationen, die an dem ›unkultivierten‹ Ort entstehen, das Bild bzw. das Kunstwerk diesem Verständnis nach konstituie- ren, existieren dennoch ›Markierungen‹, die, um noch einmal Wiesings Begriff aufzugreifen, auf den ›Kunststatus‹ im herkömmlichen Sinne anspielen. Die of- fensichtlichste ›Markierung‹ ist die des Ausstellungskontexts der dOCUMENTA (13). Dort wählt Huyghe mit der Brachfläche am Rande des Parks allerdings einen Ort, der in seiner Gewöhnlichkeit kaum übertroffen werden kann, aber dennoch – folgt man Michel Foucault – als ›Heterotopie‹ zu kategorisieren wäre (vgl. FOUCAULT 1992). Es ist ein ›anderer Ort‹: Von den gewöhnlich besuchten Orten unterscheidet er sich darin, dass er normalerweise eben nicht besucht wird, da er dem eigentlichen Ort – dem Park – als Lager-, Wirtschafts- und Auf- bereitungsstätte dient. An diesem Ort lassen sich, wie gezeigt, zwei Dinge er- kennen, die, wenngleich auch nur rudimentär, auf einen ›Kunststatus‹ verwei- sen: erstens, der liegende Akt, der jedoch seltsam entfremdet ist durch den Bienenstock, und zweitens, die pinke Farbe, die aber nicht auf einem herkömm- lichen Bildträger aufgetragen ist, sondern sich auf dem Vorderlauf eines Hun- des befindet. Beide Dinge sind als ›Markierungen‹ für den Kunstkontext wichtig und haben sich als äußerst wirksam erwiesen. Die beiden Bilder, die damit transportiert worden sind, sind in das kollektive Gedächtnis eingegangen: Sie prägen die Erinnerung an die dOCUMENTA (13).14 Der angemalte Hund und die Bienenstock-Skulptur prangten auf Zeitschriftencovern – so zierte der Hund ›Human‹, beispielsweise das Titelblatt des ZEITMagazins – und standen im Mit- telpunkt von TV-Dokumentationen über die dOCUMENTA (13).15 Die beiden ›Markierungen‹ – der liegende Akt und die Bemalung – stecken jedoch kein klar umrissenes Feld der Kunst ab – wie das der Plastik oder das der Malerei –, 14 Beispielsweise konstatierte Ingo Arend: »Mit Ökologie, Feminismus, Wissenschaft und nicht- menschlichem Leben propagierte Carolyn Christov-Bakargiev auf der Documenta 13 einen final erweiterten Kunstbegriff. Für die sich auf ewig das ikonische Bild des Hundes mit pinkfarbenem Bein in den Köpfen festsetzen wird, der durch Pierre Huyghes wucherndes ›Post-Art‹-Biotop streift« (AREND 2015: 342). 15 Vgl. ZEITmagazin, 24 (6. Juni), 2012. Das Magazin ›spielte‹ mit der ›Markierung‹, indem es diese nicht zeigte. Auf der Vorderseite des Magazins war der Hund ›Human‹ so abgebildet, dass nur des- sen Kopf und Hinterteil hinter Grünpflanzen hervorschauten, seine Bemalung demnach nicht sicht- bar war; auf der Rückseite des Magazins waren gewöhnliche Hunde im Grünen zu sehen. Die Hunde auf beiden Fotografien schienen keine wesentlichen Unterschiede aufzuweisen. Vorne stand: »Kunst. Die Documenta 2012 ist auf den Hund gekommen«, während die umseitige Beschrif- tung lautete: »Keine Kunst«. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 217 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ sondern verweisen durch ihre Entfremdungen zugleich auf Phänomene, die normalerweise nicht im Feld der Kunst liegen: nämlich auf nichtmenschliche (kreative) Prozesse. Damit wird eine Perspektive eingenommen, die keine scharfe Grenze zieht zwischen Kunst und Alltag, sondern eine, die beide Sphä- ren grenzenlos miteinander verknüpft und auf die Umwelt ausdehnt. Es findet kein zielgerichteter Transfer im Sinne der oben beschriebenen Ziel- und Hand- lungsrichtungen statt: Weder werden Alltagsphänomene in den Kunstkontext transferiert, noch steht eine Veränderung des Alltags durch Kunst an.16 Eine solche Perspektive, in der Alltag und Kunst symbiotisch verschmel- zen, kann ethische Fragen aufwerfen. Dies ist dann der Fall, wenn die Unver- sehrtheit der beteiligten Lebewesen berührt wird. In diesem Sinne lösen etwa viele Aktionen von Santiago Sierra Irritationen aus, bei denen ebenfalls – wenngleich auch auf inhaltlich und formal vollkommen andere Art als bei Pierre Huyghe – der Verweischarakter auf Alltag als ›fremdes‹, von der Kunst differentes Feld wegfällt. Die gemeinten Aktionen Sierras verweisen nicht auf den Alltag, sondern sie reproduzieren ihn eins zu eins, indem sie alltägliche ökonomische Marktgesetze reproduzieren. In 160 cm Line Tattooded on 4 pe- ople veranlasste Sierra beispielsweise im Dezember 2000, dass auf die Rücken von vier Prostituierten eine – wie der Titel des Werks bereits besagt – insgesamt 160 cm lange Linie tätowiert wurde (vgl. SCHNEIDER 2004: 94). Für diese entstel- lende, nicht-dekorative Tätowierung, die als ›Bild‹ irritiert, wurden die Prostitu- ierten mit einer Summe in der Höhe eines Schusses Heroin entlohnt. Auch hier könnte man formelhaft zuspitzend festhalten: Kunst ist Alltag und Alltag ist Kunst. Literatur ALTRICHTER, HELMUT: Politik und Kunst im revolutionären Russland. In: PETROVA, EVGENIA; KLAUS ALBRECHT SCHRÖDER (Hrsg.): Chagall bis Malewitsch. Die russischen Avantgarden. Ausst.-Kat. Albertina. Wien [Hirmer Verlag] 2016, S. 25-39 AREND, INGO: Nach den Beaux Arts. Arbeit in der Verhandlungszone. Anmerkungen zur Zukunft der Weltkunstschau Documenta aus Anlass ihres 60. Geburtstages. In: KUNSTFORUM International, 235, 2015, S. 342 BOURRIAU, NICOLAS: Relational Aesthetics. Translated by Simon Pleasance and Fronza Woods wih the participation of Mathieu Copeland. Paris [Les presses du réel] 2010 16 Anders verhält es sich für das wiederholte Präsentieren von Untilled im Centre Pompidou/Musée National d’art moderne, im Museum Ludwig und im Los Angeles County Museum in den Jahren 2013 bis 2015 anlässlich einer Retrospektive des Künstlers. Hier passte Huyghe die Arbeit an die jeweiligen Ausstellungssituationen an: Der Verweischarakter auf ›Alltag im Kunstkontext‹ musste hier durch die Museumsbauten zwangsläufig bedient werden. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 218 Irene Schütze: Fehlende Verweise, rudimentäre ›Markierungen‹ CHUKHROV, KETI: On the False Democracy of Contemporary Art. In: e-flux Journal, 57, 2014. http://www.e-flux.com/journal/57/60430/on-the-false- democracy-of-contemporary-art/ [letzter Zugriff: 31.03.2018] CHYTRAEUS-AUERBACH, IRENE; GEORG MAAG (Hrsg.): Futurismus: Kunst, Technik, Geschwindigkeit und Innovation zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Berlin [Lit.-Verlag] 2016 CREED, MARTIN: Works. London [Thames & Hudson] 2010 DOCUMENTA; MUSEUM FRIDERICIANUM (Hrsg.): Das Begleitbuch/The Guidebook. Ausst.-Kat. Ostfildern [Hatje Cantz] 2012 DUCHAMP, MARCEL: Die Schriften. Bd. 1. Hrsg. von Serge Stauffer. Zürich [Regenbogen-Verlag] 1981 FOUCAULT, MICHEL: Andere Räume. In: BARCK, KARLHEINZ; PETER GENTE; HEIDI PARIS; STEFAN RICHTER (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig [Reclam] 1992, S. 34 – 46 GAENSHEIMER, SUSANNE et al. (Hrsg.): Hélio Oiticica. Das große Labyrinth/The Great Labyrinth. Ausst.-Kat, MMK Frankfurt/M. Ostfildern [Hatje Cantz] 2013 GLUDOVATZ, KARIN; DOROTHEA VON HANTELMANN; MICHAEL LÜTHY; BERNHARD SCHIEDER (Hrsg.): Kunsthandeln. Zürich [diaphanes] 2010 HANTELMANN, DOROTHEA: Denken der Ankunft. Pierre Huyghes Untilled. In: EVERTS, LOTTE; JOHANNES LANG; MICHAEL LÜTHY; BERNHARD SCHIEDER (Hrsg.): Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation. Bielefeld [transcript] 2015, S. 223-240 HINZ, MANFRED: Futurismus und Faschismus. In: ASHOLT, WOLFGANG (Hrsg.): Der Blick vom Wolkenkratzer: Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung. Amsterdam [Rodopi] 2000, S. 449-466 HORNBOSTEL, WILHELM; KARLHEINZ KOPANSKI; THOMAS RUDI (Hrsg): voller kraft: russische Avantgarde 1910 – 1934. Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg. Heidelberg [Ed. Braus] 2001 HÜGEL, HANS-OTTO (Hrsg.): Handbuch populäre Kultur: Begriffe, Theorie und Diskussionen. Stuttgart [Metzler] 2003 JOSELIT, DAVID: Against Representation/Gegen Repräsentation. 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Atelierbesuch. Berlin [Wolff] 2012 SCHNEIDER, ECKHARDT: Santiago Sierra: 300 Tons/300 Tonnen. Ausst.-Kat. Kunsthaus Bregenz. Köln [Walther König] 2004 SCHWARZ, ARTURO (Hrsg.): The complete works of Marcel Duchamp. Revised and Expanded Paperback Edition. New York [Delano Greenidge Ed.] 2000 WEINHART, MARTINA: Die brasilianische Erfahrung. Eine Einführung. In: WEINHART, MARTINA; MAX HOLLEIN (Hrsg.): Brasiliana: Installationen von 1960 bis heute. Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt/M. Köln [Walther König] 2013, S. 12-41 WERKNER, PATRICK: Kunst seit 1940: von Jackson Pollock bis Joseph Beuys. Wien [Böhlau] 2007 WIESING, LAMBERT: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2005 ZEITMAGAZIN, 24 (6. Juni), 2012 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 220 [Inhaltsverzeichnis] Stefan Römer Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge »Wir sehen also, dass die Verschiedenheit der Kul- turen kein statischer Begriff ist« (LÉVI-STRAUSS 1972: 12) Projektskizze statt Abstract With her statement »Wir schaffen das« [We can make it] chancelor Angela Mer- kel greeted the many refugees who arrived in Germany in 2015 and defined a ›Welcoming culture‹. While on the road they had uploaded their pictures on social media in order to document their troublesome journey. This essay presents plans for a digital picture archive of refugees but also of migrants and stateless persons which aim at initiating a discussion process. Because in the current situation which is characterized by huge movements of refugees one decisive aspect is often not considered: Where and how can the experiences of the refugees get documented and archived? First of all such an archive should provide possibilities to upload pictures from the journey with mobile devices, to link them with it and to store them for a longer period of time on the internet. Criteria for the definition of such an archive are culture- theoretical issues of migration, racism and xenophobia as well as the reasons of these people leaving their homes. Moreover, art-critical and photo-theoreti- cal aspects play a constitutive role. The essay states that the persons concerned should play an active role in the building process. The technical aspects are left aside here but will be essential for a following discussion. Mit der Aussage »Wir schaffen das« begrüßte die Bundeskanzlerin Angela Mer- kel im Sommer 2015 die vielen in Deutschland ankommenden Flüchtlinge und definierte damit eine ›Willkommenskultur‹. Um ihre beschwerliche Reise zu IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 221 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge dokumentierten, hatten sie unterwegs ihre Fotografien auf Social Media hoch- geladen. Die hier vorgelegten Pläne für ein digitales Archiv der Bilder von Flüchtlingen sowie Migrant/innen und Staatenlosen zielen darauf ab, einen komplexen Dis- kussionsprozess zu initiieren. Denn in der aktuellen Situation, die durch große Flüchtlingsbewegungen gekennzeichnet ist, bleibt bisher ein entscheidender Aspekt unberücksichtigt: Wo und wie können die Erlebnisse der Flüchtlinge do- kumentiert und archiviert werden? Zunächst sollte das Archiv die Möglichkeit bieten, diese Bilder mit Mobilgeräten hochzuladen, sie mit ihm zu verlinken, öffentlich zugänglich zu machen und auf Dauer im Internet zu archivieren. Bei der Definition der Kriterien eines solchen digitalen Archivs wird nach den kul- turtheoretischen Thematiken von Migration, Rassismus und Fremdenfeindlich- keit ebenso gefragt wie nach den Gründen, die diese Menschen dazu bringen, ihr Zuhause zu verlassen; sowohl kunstkritische als auch fototheoretische As- pekte spielen eine konstitutive Rolle. Der Essay geht davon aus, dass die Be- troffenen selbst die Leitung dieses Projekts übernehmen sollen. Technische As- pekte wurden hier ausgeklammert, erscheinen für eine folgende Diskussion aber essentiell. 1. Die Willkommenskultur 2015 Im Jahr 2015 begann die sogenannte ›Flüchtlingskrise‹ – man müsste jedoch eher sagen, sie kam in Form von medial verbreiteten Bildern in Mittel-Europa an. Plötzlich war in jeder Nachrichtensendung, in den Social Media und auf allen Zeitungstiteln dieser große Flüchtlingstreck zu sehen. Die Bilder hatten eine merkwürdige Kohärenz hinsichtlich ihrer Perspektive, der Abbildung von Konfrontationen zwischen den zu Fuß – teilweise in Flipflops – Reisenden und der jeweilig lokalen, schwer bewaffneten Polizei oder Militärs, die ihnen gegen- über standen, oder Bilder von einsamen, von Wasser umgebenen und überbe- setzten Schlauchbooten. Dagegen wurden die Schleuserboote auf dem Transit Afrika-Europa selten gezeigt, obwohl diese Route zu diesem Zeitpunkt schon seit mehr als zehn Jahren bereist wurde und tausende Menschen das Leben gekostet hatte. Später waren die irgendwo angekommenen Migrant/innen in IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 222 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge Notunterkünften und Lagern zu sehen.1 Analysen bspw. der eigentlichen Be- weggründe, der individuellen Ziele der Betroffenen und der Lebensbedingun- gen an den zuvor verlassenen Orten fanden sich in den populären Darstellun- gen kaum. Pauschale Hinweise auf politische Kontexte dominierten die Be- richte. Den Rahmen dafür bildete Angela Merkels Aussage: »Wir schaffen das«, die sie im Sommer 2015 veröffentlichte und die zum Begriff der ›Willkom- menskultur‹ geführt hat. Wieviel internationale Bedeutung er fand, zeigt sich daran, dass ›Willkommenskultur‹ sogar kurzfristig Eingang in den englischen Sprachgebrauch fand. Dieser performative Satz wurde von der Bundeskanzle- rin vor der Bundestagswahl im Jahr 2017 angesichts einer sich neu formieren- den rechten Partei umformuliert in: »Deutschland bleibt Deutschland«. In die- sem zweiten Slogan formuliert sich das veränderte politische Klima: von einem christlich-humanistisch geprägten, weltoffenen Verständnis zu einem chauvi- nistisch nationalistischen, reaktionären Ausschluss alles Fremden.2 Dazu lagen zum Migrationsdiskurs und zum Thema Abschiebung bereits dezidiert kritische Meinungen vor (Vgl. OULIOS 2015). Auch der Definition, wie sich Flüchtlinge be- handelt wissen wollen (Vgl. ARENDT 1943), und wie sie in den Menschenrechten zu kurz kommen, widmen sich konkrete Diskussionen.3 Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ereignen sich komplexe Migrations- bewegungen. Die Geschichte der Migration hat in Mitteleuropa zumindest fol- gende Stationen: Die Flüchtlingsmigration vor und nach dem 2. Weltkrieg, etwa ab den 1960er Jahren die Gastarbeitermigration, während die Migration in den 1990er Jahren, als zahlreiche Flüchtlinge aus dem Gebiet des ehemali- gen Jugoslawiens kamen, meist kaum Erwähnung findet. Heute ereignen sich gleichzeitig überall auf der Welt Kriege, die große Fluchtbewegungen auslösen. Sie unterliegen einer viel umfangreicheren visu- ellen Berichterstattung als früher, auch weil durch das Internet die technische Übermittlung um ein Vielfaches beschleunigt wurde. Diese neuartige Bericht- erstattung zeitigt offenbar eine schnellere Wirkung. Ob diese allgemein durch ein höheres Affektpotenzial der Bilder erklärbar ist, kann hier aus Platzgründen nicht untersucht werden. Die diversen Praktiken der Flucht mit ihren Ursachen und Folgen werden vor allem medial inszeniert. Dabei sind die Phänomene des 1 »Neu in der heutigen Zeit, und damit eine Bedrohung des Nationalstaats in seinen Grundfesten, ist es hingegen, dass eine größer werdende Zahl Menschen nicht länger in der Nation repräsentiert (und repräsentierbar) ist. Da und insofern dies die alte Dreieinigkeit Staat-Nation-Territorium aus den Angeln hebt, muss der Flüchtling, jene scheinbar marginale Gestalt, als zentrale Figur unserer politischen Geschichte erachtet werden. Man darf nicht vergessen, dass die ersten Lager in Europa errichtet wurden, um Flüchtlingsbewegungen zu kontrollieren. Und es gibt die ganz reale Sequenz Internierungslager-Konzentrationslager-Vernichtungslager. Eine der von den Nazis in Verfolgung der ›Endlösung‹ durchgängig beachteten Regeln war: Vor dem Transport in die Vernichtungslager setzte man die vollständige Denationalisierung der Juden und Sinti (man entzog ihnen also auch jene Staatsbürgerschaft zweiter Klasse, die ihnen nach den so genannten Nürnberger Gesetzen geblieben war). In dem Moment, da die Rechte nicht länger Bürgerrechte sind, wird der Mensch vogelfrei, er wird zum Homo Sacer, wie ihn das antike römische Recht kannte: todgeweiht« (AGAM- BEN 2001: 4). 2 Vgl. auch eine ähnlich nationalistische Rhetorik, die in Großbritannien zuvor die Kampagne um den Brexit begleitet hatte: »England remains England«. 3 Vgl. die präzise auf Arendts Text aufbauende Analyse: AGAMBEN 2001. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 223 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge Zusammenhangs von Flucht und Bildern nicht neu. Fluchtbewegungen sind ein fester Bestandteil der Geschichte. Was somit gegenwärtig euphemistisch eine ›Migrationskrise‹ genannt wird, ist ein konkretes Zeichen historischen Ver- gessens. Schlimmer noch ist es ein Resultat historischen Vergessens, denn Migration ist kein neues Phänomen in Europa. Dieses Vergessen ist besonders symptomatisch für die Gegenwart, denn es kann auch als Zeichen für den ge- genwärtigen Rechtsruck gelesen werden. Er wird auch durch die digital be- schleunigte Kommunikation begünstigt, in der ein reißerischer Slogan oft mehr zu zählen scheint, als eine historische Recherche. So wissen wir heute vom statistischen Bundesamt, dass die Anzahl der im Jahr 2015 in Deutschland Angekommenen nur geringfügig über dem Durchschnitt der vorherigen Jahre lag (Vgl. TERKESSIDIS 2017: 10-12). Mit der einleitenden Referenz auf Claude Lévi-Strauss mache ich den hier zugrunde gelegten Kulturbegriff als einen dynamischen und in permanen- ter Produktion befindlichen deutlich. Mit ihm geht es mir als Künstler und The- oretiker um die Vorüberlegungen zu einem Bildarchiv für Menschen, die unter- wegs sind, weil sie ihr Zuhause verlassen haben. Flüchtlinge, Migrant/innen und Staatenlose produzieren auf ihren Reisen Dokumente, die verloren gehen, wenn diese einzelnen Personen nicht durch irgendeinen Umstand besondere Beachtung erlangen. Haben sie allerdings einen Status als berühmter Flücht- ling wie etwa Albert Einstein oder Hanna Arendt, dann wird ihren Dokumenten eine besondere Bedeutung eingeräumt, und sie werden zum Gegenstand der Forschung. Die Fragestellungen des Panels »Ikonische Grenzverläufe: Szena- rien des Eigenen, Anderen und Fremden im Bild« richten sich etwa auf die vi- suelle Konstruktion ihrer »Grenzen« sowie nach »Konzepten der Identität, Al- terität und Alienität« in Bildern. Sie bedeuten substanzielle Überlegungen und passen zur Frage nach den ästhetischen Produktionen von Migrant/innen, die mittels einfacher Techniken in ein digitales Archiv eingebracht werden können. Mit ihm würde sich nicht nur eine nichthierarchische Dokumentationform, son- dern auch eine einfache digitale Zugänglichkeit erschließen. 2. Ein Bildarchiv zur Migration4 In dieser historischen Situation bleibt bisher ein entscheidender Aspekt unbe- rücksichtigt: Wie können Bilder von der migrantischen Reise/Flucht sichtbar werden? Wo und wie können die multimedialen Dokumente der Migrant/innen, die häufig vor Unterdrückung oder Hunger fliehen, dokumentiert und archiviert werden?5 4 Das hier vorgestellte Archivinteresse geht auf die Diskussion von folgenden Personen zurück, mit denen zusammen das Projekt bisher diskutiert wurde und denen ich für Anregungen danke: An- nette Maechtel, Anna Schaeffler, Dorothee Albrecht und Rafael Cardoso. 5 Das geplante Bildarchiv strebt eine Kooperation mit der von Armin Linke initiierten »Migrant Image Resaerch Group« an, die eine interessante Arbeitsweise zum Thema ›Beweis und Zeugen- schaft‹ entwickelt haben. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 224 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge Da die Migrant/innen ihre mit dem Smartphone – auch »apparatus of life« genannt – aufgezeichneten Dokumente (Fotografien, Videos, Texte) in halb-private Internetarchive und Social Media laden, werden sie zukünftig nicht mehr einfach zugänglich sein, wie unten ausgeführt. Diese Dokumente können jedoch Aufschluss über wichtige politische Bedingungen aus erster Hand ge- ben, weil sie aus der Sicht der Betroffenen berichten.6 In diesem Kontext scheint unser Handlungsbedarf darin zu bestehen, ihnen ein Archiv und ein Forum zu bieten, diese Dokumente einfach öffentlich zugänglich zu machen; erst dann stehen sie umfänglich zur Diskussion. Ein digitales Archiv für Bilder und andere (künstlerische) Dokumente von flüchtenden und vertriebenen Men- schen benötigen wir dringend, weil die Bilddokumente im Internet nicht dau- erhaft zu finden sind, da sprachliche, kulturelle und nationale Barrieren eine Suche behindern. Wie schwer es ist, diese Dokumente zu finden, zeigte eine Recherche, die Studierende anlässlich eines Workshops anstellten7: Ich fragte sie, ob sie in einer Stunde im Internet möglichst viele aktuelle persönliche Dokumente (keine Presseberichte) zu Vertreibung, Flucht und die gefährlichen Reisen su- chen könnten. Die Ergebnisse waren dürftig: Nur wer die jeweilige Sprache und spezifische lokale Kommunikationscodes beherrscht, konkrete Beispiele kennt und bereits über spezifische Hinweise verfügt, kann mit etwas Glück entspre- chende Bilder und Videos in den Social Media finden. In der multilingualen Gegenwart spielen die Kenntnis der Sprachen/Dialekte und kulturelle und lo- kale Erkenntnisse eine immer bedeutendere Rolle. Wer diese spezifischen Codes nicht kennt, kann entsprechende Bilder nicht finden. Hinzu kommt ein medienzeitlicher Aspekt: Weshalb werden die Bilder nicht dauerhaft zu finden sein? Weil sie bspw. in der History bei Facebook schnell von den aktuellen Posts nach unten wandern und nur eine ausdauernde Suche in persönlichen Accounts zu Ergebnissen führen, falls sie nicht mit ei- nem Hashtag versehen sind. Ein Hashtag wiederum, der als Metakommentar zu einer thematischen Zeichenkette fungiert, veröffentlicht die damit gekenn- zeichneten Inhalte, sodass immer auch eine eindeutige Autorschaft mit der Per- son, ihren Bildern und Aussagen identifiziert werden kann. Diese Funktion macht die Grundbedingung von Social Media aus. Genau darin liegt aber auch ihr post-panoptisches Potential der Kontrolle: Im Falle der aus Syrien Geflüch- teten ermöglichte diese Funktion der Recherche in Social Media konkret dem syrischen Geheimdienst, die noch in Syrien lebenden Familien unter Druck zu setzen, die von Geflüchteten von unterwegs benachrichtigt worden waren. Hier setzt das Konzept für ein Bildarchiv von Migrant/innen an, das sich 6 Besondere Erwähnung soll das TV-Feature My Escape / Meine Flucht finden, in dem Flüchtlinge aus Afghanistan und Eritrea ihre Flucht mit dem Handy dokumentiert haben, aus diesen Aufnah- men wurde ein Film montiert (TV-Feature, WDR, 10.2.2016): http://www.ardmediathek.de/tv/WDR/My-Escape-Meine-Flucht/WDR-Fernsehen/Video?bcas- tId=18198186&documentId=33282126 [letzter Zugriff: 19.04.2018] 7 Auf Einladung von Allyson Clay und Sabine Bitter durfte ich im Sept. 2016 einen Workshop zum Thema Künstler-Archive an der Simon Fraser University, Faculty of Communication, Art, and Tech- nology, Visual Art in Vancouver/Kanada veranstalten. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 225 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge aktuell vor allem als Diskurs über die Praktiken einer adäquaten Archivierung und den damit verbundenen Machtstrukturen der Repräsentation versteht. Denn mit diesem Ansatz würde ein Bildarchiv realisiert, das historisch erstma- lig nicht nur von privilegierten Fotografen und etablierten Agenturen erstellt würde, sondern vor allem von den Betroffenen selbst. Angesichts ausformu- lierter akademischer Forschungsprojekte etwa der Bildwissenschaften und der Visual Culture, die sich mit bereits bestehenden Bildarchiven beschäftigen, ist dies eine höchst zeitgemäße Frage zu einem demokratischen Dokumentaris- mus und seiner Archivierung. Gleichzeitig würde das Archiv nicht nur Wissen sichern, sondern sich das Archiv auch als ein zukünftiger Ort der Bildung in der »postmigrantischen« Gesellschaft verstehen (vgl. TERKESSIDIS 2017: 18-20). Das Archiv soll in diesem Sinne sein eigenes Interesse entwickeln. Inte- ressen existieren niemals a priori, sondern sie formulieren sich in konkreten Situationen unter anderem in Relation zum jeweils individuellen Background und dem gesellschaftlichen Kontext. In diesem Fall muss das Interesse an die- sem Archiv nicht nur bei den Migrant/innen, sondern auch bei relevanten Insti- tuten erst geweckt werden, damit ein förderliches Interessenfeld entstehen kann. Dabei geht es semiotisch um die Möglichkeit der Ent-/Unterscheidung: die Unterscheidung von Bildern nach Inhalten und der Entscheidung für eine fotografische Methode, die zu diesem Archiv führen soll. Das Unterscheiden soll jedoch nicht zum Aufschub der Entscheidung darüber führen, was in dem Archiv zu sehen sein wird. Um unterscheiden zu können, muss man eben Inte- ressen entwickeln. Das Interesse der Betrachter/innen entscheidet über die Be- deutung eines Bildes, während das Interesse der Initiator/innen des Archivs sich auf das dauerhafte Zurverfügungstellen der Bilder richtet. Doch kann nur zwischen Bildern entschieden werden, die tatsächlich dazu zur Verfügung ste- hen, die also sichtbar sind. Mein eigenes Interesse an dem Archiv besteht darin, meine praktische Erfahrung und meine theoretischen Kenntnisse über Fotografien und Bilder zur Verfügung zu stellen. Letztlich kann ein solches Archiv aber nur von Instituten gewährleistet werden, die diese praktischen und theoretischen Interessen tei- len.8 Deshalb gilt es zu fragen: Wer und welche Institution hat ein Interesse an einem Archiv mit Bildern von Migrant/innen über ihre Flucht? Was ist das Archiv-Interesse? Ein Ziel ist: Eine Funktion zu entwickeln, die Bilder für Flüchtende und Geflüchtete einfach verlinkbar oder hochladbar und zugänglich zu machen so- wie eine lange währende technische Funktion zu gewährleisten. Die Variablen dieses Satzes sollen möglichst bald zur Realisierung definiert werden. Gegen- wärtig ist ein digitales Archiv kaum als langfristig zu denken, da die techni- schen Bedingungen sich schnell ändern. Eine langfristige Archivierung 8 Vgl. meine Untersuchung zum Interessebegriff: RÖMER 2014: 7–26; und in den folgenden Kapiteln zu den bildtechnischen Implikationen unter post-panoptischen Bedingungen. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 226 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge orientiert sich gegenwärtig noch immer an Papierabzügen oder gar Abbildun- gen in Büchern, denen eine größere Dauer als dem Digitalen zugeschrieben wird, die aber an lokale Bibliotheken gebunden sind.9 Die ersten Entwürfe zu Architekturen des Archivs und seiner Datenbank sollten mit den implizierten organisatorischen, rechtlichen und gestalterischen Fragen mit Spezialist/innen diskutiert werden. Bisher ist dieses Projekt ein per- formatives Rechercheprojekt, das kein abgeschlossenes, konsistentes Archiv hervorzubringen anstrebt, sondern im Sinne einer künstlerisch-wissenschaftli- chen Fiktion und eines diskursiven Prozesses definiert wird. Recherche sollte hier heißen, praktische und theoretische Kollaboration zwischen Migrant/in- nen, Künstler/innen und Wissenschaftler/innen. Die Kernbegriffe, der sich eine solche Recherche widmet, sind: das (in-)dividuelle Interesse, die gesellschaftli- chen Interessen, die Interessantheit des Projektes und Interessenüberschnei- dung mit all denen, die das Archiv gestalten. Diese Herangehensweise erwartet eine genaue Recherche und gleichzeitig eine differenzierte Archivpraxis, die ihre eigene theoretische Fundierung und ihr Archivierungsinteresse perma- nent aktualisieren sollte. Weil wir uns diesbezüglich in der Diskussionsgruppe zu diesem Archiv ganz sicher sind, möchten wir die Realisierung nicht schnell übers Knie brechen, sondern gehen von einer langfristigen Arbeit daran aus. Ein solches Archiv ist längst überfällig, aber seine Realisierung sollte nicht überstürzt werden. 3. Interesse an und in einem spezifischen Archiv Weshalb ist die Idee dieses Archivs abhängig vom Feld der Interessen, die sich performativ in ihm artikulieren und die es auf diese Weise erst erzeugen? Meine schon an anderer Stelle in Relation zum Kunstfeld formulierte These ist, dass in der zeitgenössischen Kultur ›Interesse‹ die institutionelle Standardfor- mel darstellt, die in Pressemitteilungen, Wandtexten in Ausstellungen und Re- views oft darauf hinweist, womit sich Künstler/innen in ihren Projekten be- schäftigen. Der Begriff ist aufgrund seiner häufigen Verwendung sogar zum Legitimationsbegriff der zeitgenössischen Kunst und Kultur schlechthin gewor- den. Ein relevanter Ansatzpunkt dafür sind die Bedingungen des Gebrauchs der Fotografie selbst. Das fotografische Medium steht früh im Zeichen einer speziellen Archivierung: Der Anfang der Fotografie war im 19. Jahrhundert mit ihrer wissenschaftlichen Indienstnahme verbunden: Die morphologische Konzeptualisierung des Körpers im Sinne seiner sichtbaren Struktur bot damit Anschlussmöglichkeiten für andere moralische und kulturelle Taxonomien, die dialektisch auf den Beobachter zurückwirkten. Der fotografischen Kartografierung des Körpers wohnte also eine moralische Dimension inne, die eine doppelte, zu ersterer in Beziehung stehende taxonomische Agenda hatte. Diese Agenda bestand in der Schaffung und Aufrechterhaltung der sozialen, ökonomischen, politischen und ästhetischen 9 Wie stark die Funktion von Social Media kurzfristigen Trends unterliegt, zeigt die aktuelle Krise von Facebook wegen des Datenabflusses an die Wahlmanipulationsfirma Cambridge Analytica. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 227 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge Praktiken, die das komplexe System sozialen Wissens bildete, in dem diese Bilder operie- ren (EDWARDS 2003: 337). Dazu passen die Überlegungen des Künstlers Allan Sekula. In seinem Essay Der Körper und das Archiv hat er die entscheidenden Aspekte aus dem Zusammenspiel von Fotografie und Archivierung herausgearbeitet. Sekula sieht das entstehende Archiv, das mit der Fotografie möglich wurde, in Rela- tion zu den Unterarchiven (vgl. SEKULA 1986: 279ff.). Zwei Dinge kommen im 19. Jahrhundert zusammen: ein »physiognomischer Code der visuellen Inter- pretation« und die »taxonomische Ordnung des Körperbildes« (SEKULA 1986: 285). Was hier systematisch gebildet wurde, ist ein »optischer Empirismus« zur »Entstehung eines Wahrheitsarchivs« (SEKULA 1986: 286). »Die Fähigkeit des Archivs, alle nur denkbaren Ansichten auf einen einzigen Äquivalenzcode zu reduzieren, gründete in der metrischen Genauigkeit der Kamera« (SEKULA 1986: 286f.); dazu kam ein »bürokratischer Apparat, eines Ordnungssystems« (SEKULA 1986: 287). Aber: »Der Einlösung dieses archivarischen Versprechens stand nur die chaotische Kontingenz des Fotos und die schiere Menge der Bil- der im Wege« (SEKULA 1986: 287). Bezeichnenderweise für die Zeit geriet die Fotografie schon früh auch zum Werkzeug der Rasselehre. Sekula resümiert über den Ansatz Francis Gal- tons mit der Kompositfotografie ein Archiv zusammenzustellen: »Die Eugenik war eine utopische Ideologie, aber es war eine Utopie, die von einem Gefühl sozialen Niedergangs und sozialer Auszehrung getragen und gespeist wurde« (SEKULA 1986: 323). Dieses Argument lässt sich wohl auch auf die Umgangs- weise mit Migrant/innen beziehen. Sekula weiter: »Die Phrenologie lieferte also die moralischen und intellektuellen Fakten, die heute in verfeinerter Form von Psychometrie- und Polygraphie-Experten bereitgestellt werden« (SEKULA 1986: 282). Dazu muss gefragt werden, wie sich die Fotografien der Migration vom journalistischen Mainstream unterscheiden, woraus vielfältige Fragestellun- gen abgeleitet werden können: Wie hat die Erfahrung der Migration die Erstel- lung und den Gebrauch von fotografischen Bildern, ihrer Themen und Motive, ihre Ikonografie, ihre Ästhetik, ihren Objektcharakter und ihre Materialität ver- ändert? Wer sind die Handelnden und wer die Agenten in diesem sozio-politi- schen und ästhetischen Migrationsprozess hinsichtlich der Bildproduktion, Re- zeption, Übermittlung, Übersetzung und Distribution? Wie ist die Differenz der Affekte bei der Bildwahrnehmung zwischen dem Fotografieren und in der Re- zeption zu verbegrifflichen? (RÖMER 2015: 57-62) Wie können die Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Fluchtbilder theoretisiert werden? Gibt es in- terkulturelle und historisch beständige nachweisbare Motive, die eine beson- ders affizierende Qualität aufweisen? Wie wird das Affektpotential von Bildern für die politische und gesellschaftliche Meinungsbildung instrumentalisiert? In- wieweit repräsentieren diese Bilder spezifische sozio-kulturelle und historische Affektbegriffe? Welche Rolle spielen die Bilder von der Flucht in Subjektivie- rungsprozessen? Zu klären bleibt auch, inwiefern die folgenden IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 228 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge Fragestellungen vom Erscheinungskontext der Bilder – etwa die Differenz zwi- schen Print-Magazin und Internet – abhängig sind. Das bezieht sich vor allem auf das umfangreiche Thema der Migration. ›Migration‹ wurde u. a. von der postkolonialen Wissenschaft als historisch-em- pirische Realität und als diskursiver Begriff diskutiert. Er betrifft ein Spektrum von relevanten Themen, die voraussetzungsreich für das migrantische Archiv sind und deshalb auf der Website annonciert werden sollten: Alterität/Diversi- tät, Authentizität/Fake, Erzählung, Exil/Diaspora, Gewalt, Flucht, Immigration, post-koloniale Fotografie, Körperdarstellung, Nation/Transnationalität, Politik der Körper, Grenze, Grenzlinie, Grenzziehung, Opfer/Täter, Rassismus, Spra- che, Trauma/Erinnerung, Übersetzung, Zeitlichkeit etc. Und über diese Themen hinaus muss gefragt werden, wie das Archiv durch strukturelle Kriterien gestaltet werden kann, die selbst-performativ wer- den und eine geringe Form des Kuratierens benötigen, oder die entsprechende Form der Gestaltung von den Beitragenden selbst vorgenommen werden kann.10 4. Interesse an Kunstkritik Das Bild, das den leblosen Körper eines Jungen am Strand von Bodrum (Tür- kei) zeigte, schockte im September 2015 die Welt. Später als Alan Kurdi identi- fiziert, war er mit seiner Familie auf der Flucht von Syrien nach Kanada im Mit- telmeer ertrunken. Wenn dieses Bild als Meme weltweit eine derartige Auf- merksamkeit und intensive Diskussion hervorrufen kann, scheint es sinnvoll, dessen spezifische Wirkkraft zu untersuchen.11 In der Überschneidung der Bli- cke der beiden Theorietraditionen Bildwissenschaft und Visual Studies erzeugt dieses Bild eine komplexe kulturelle und politische Konstellation. So bietet sich etwa ein historischer Vergleich mit dem Schockpotenzial von Théodore Géricaults Gemälde Floß der Medusa (1819) und dessen konkreten politischen Effekten aber auch ein Vergleich mit der Ikonografie12 von auf der Flucht Ge- storbener an. Einer solchen disziplinären Zusammenschau kommt angesichts der Irreversibilität der Thematik eine hohe Relevanz zu. Nicht nur der von Aby Warburg entwickelte Begriff der Reise der Formen und Bilder, sondern auch eine Untersuchung der medialen Affektivität der Bilder erwartet hier ein Inte- resse an einer methodischen Synthese. Somit sind Bilder von humanistischen Ausnahmezuständen, die das zi- tierte Bild des ertrunkenen Alan Kurdi exemplarisch repräsentiert, jenseits ei- ner einzigen institutionellen Disziplin als Affektpolitik zu begreifen. Im Interesse 10 Der vorliegende Text ist an der Idee orientiert, dass die Sammlung von Kriterien für dieses Archiv selbst eine virtuell konzeptionelle Archivfunktion einnimmt. 11 Vgl. die Untersuchung mit den relevanten Abbildungen HERION 2018: X 12 Vgl. zur kritischen Ergänzung der Ikonografie durch eine »konzeptuelle Formation«: RÖMER 2000: 88 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 229 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge einer Fusion von Bildwissenschaft und Visual Studies ist eine Verantwortlich- keit für diesen Diskurs zu proklamieren. Auf dieses journalistische Bild bezieht sich auch eine künstlerische Ar- beit: Welche Bedeutung hat die Pressemeldung (02.02.2016), dass der chinesi- sche Künstler Ai Weiwei die Fotografie des syrischen Jungen in Bodrum nach- gestellt hat, in dem er sich in eine ähnliche Pose an den Strand in Bonrum legte? Für einen Pop-Künstler scheint es eine verbreitete Strategie, sich aktu- elle populäre Bilder anzueignen. Mit dieser Strategie der Aneignung ist es Ai Weiwei auch bisher sehr gut gelungen, sich dem westlichen Image eines chi- nesischen dissidenten Künstlers anzupassen. Doch wie ist diese künstlerische Aneignung des toten Jungen zu begrei- fen? Die erste Wahrnehmung ist, dass es sehr unpassend erscheint, dass man angesichts des persönlichen Leids und des Todes des Jungen aber auch ange- sichts der Größe des mit dem ursprünglichen Bild formulierten familiären Tra- gödie dieses Bild als ›künstlerisches Reenactment‹ nachzustellen. Welches Ziel verfolgt der Künstler damit? Hat er ein Verständnis davon, dass er mit seiner Handlung die Gefühle der Hinterbliebenen verletzen könnte? Übertrifft die ethi- sche Bedeutung dieser Fotografie die Freiheit der künstlerischen Aneignungs- praxis? Ein weiterer Aspekt ist, dass ich mich stark berührt fühle von dem Bild, das in mir das erste Bild des ertrunkenen syrischen Jungen aufruft und gleich- zeitig mein Unbehagen fördert über das Kalkül, mit dem der Künstler Ai Weiwei dieses international kolportierte Bild für seine Kunst ausnutzt. Jenseits der Frage, ob das relevante Kunst sein kann, und ob mit dem politischen Thema – dem Nachstellen des Tods eines Flüchtlingsjungen – eine adäquate künstleri- sche Aussage getroffen werden kann, lässt sich weiterfragen: Was ist das Inte- resse von Weiwei, was will er mit der Fotografie? Es kommt der Verdacht auf, dass es ihm um eine platte Ausnutzung des Bildes für die eigene künstlerische Popularität geht. Beabsichtigt er, sein eigenes Künstlerimage des chinesischen Dissidenten durch die buchstäbliche Inkorporation des Images des toten Jun- gen zu erweitern? Auch lässt sich bemerken, dass er die Aufmerksamkeit von der humanitären Problemlage ablenkt zu den hier gestellten künstlerischen Fragen. Ist das als Eitelkeit eines Künstlers zu verstehen? Der ironische Aspekt dabei, dass dies durch einen berühmten Künstler geschieht, der sein Land ver- lassen hat, scheint gegenwärtig für einige Entscheider/innen im Feld der Kunst seine sarkastische Distanziertheit plausibel zu implizieren. Man muss hier fra- gen, ob es den Tod des Jungen und die gesamte Flüchtlingskatastrophe nicht zu einer niedlichen historischen Anekdote degradiert – wie dies auch die ande- ren daraus gebildeten Meme tun. Diese kunstkritischen Fragen müssen zuerst gestellt werden, wenn man Weiweis künstlerische Arbeit mit der ikonografischen Tradition der Darstellung oder der Berichterstattung vergleicht. Dagegen bedeutet bspw. Dorothea Lan- ges Fotografie Migrant Mother (ca. 1936) eine ikonische Fotografie der IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 230 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge Fotogeschichte.13 Die in Langes Bild und seinem Diskurs aufgeworfene Frage, ob und wie das Elend und Leid von Armut und Ortlosigkeit menschlichen Le- bens abbildbar oder darstellbar ist, behauptet eine nachhaltige Wirkung und Bedeutung – gerade angesichts der polemischen oder gar sarkastischen Aktion von Ai Weiwei. In Kenntnis dieser kunstkritischen Aspekte, die für eine Bildpolitik aus- schlaggebend sind, hatte ich schon früher eine eigene Fotoarbeit entwickelt: Ich arbeitete im Sommer 2015 gerade an einem Fotozyklus über die Kindheit meiner Mutter für eine mehrteilige feministische Ausstellung in Indien.14 Als Kind war sie in den Wirren des 2. Weltkrieges mehrfach mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern geflüchtet. Ich reflektierte diese traumatischen Reisen, die sie als Kind erlebt hatte. Wie wären Fotografien zu konzipieren, welche mit ei- nem überpersönlich existenziellen Verständnis – also jenseits von einem fami- liären Interesse, obwohl die Traumatisierung meiner Mutter auch für mich eine psychische Rolle spielt – das Zurücklassen der eigenen Angehörigen und der Wohnung, die unsichere Reise selbst und die existenzielle Bedrohung des Un- terwegsseins in Kriegsgebieten in Bildern darstellen sollten. Mir ging es um eine persönliche Darstellung, die keine Dokumentation sein konnte, weil ich keine authentischen Bilder der Reisen meiner Mutter vorliegen hatte. Die Bilder sollten jedoch darin möglichst konkret sein, was sie zeigen. Wie wäre das zu konzipieren? Ich suchte nach visuellen Kontinuitäten der Darstellung von frühe- ren zu gegenwärtigen Flüchtlingen. In meiner vierteiligen Foto-Text-Montage Welcoming Culture – 2015 (Abb. 1–4) bezog ich aktuelle Bilder und Rhetoriken über Migrant/innen und Migration in Europa auf die ›Blut und Boden‹- und die ›Schollen‹-Ideologie der Nazis. Diese Ideologie basierte auf der irrationalen Rasse-Lehre und war cha- rakterisiert durch eine Heroisierung kolonialer Reisen und eine Exotisierung der Anderen mit einer gleichzeitigen hermetischen Abschottung des eigenen Lands und Grunds. Dass diese Ideologie unglücklicherweise nicht nur in Deutschland nicht ausgestorben ist, zeigen die unterschiedlichen Reaktionen auf die Migration seit 2015 in der EU. Es geht nun hinsichtlich des zu entwickelnden Archivs nicht darum, sich diesen Diskurs über Migration künstlerisch anzueignen, sondern darum, mit diesen Kenntnissen eine Archivperspektive zu entwickeln, die in unterschiedli- chen gesellschaftlichen Feldern eine politische Involvierung in das Thema zu erzeugen vermag. Deshalb geht es für das hier relevante Archivinteresse nicht darum, Bilder mit einer vagen Beziehung zum Thema zu sammeln, sondern die Beteiligten sollen ein Interesse entwickeln, dass sie die Definition der Kriterien und die Gestaltung des Archivs in die eigene Hand nehmen können. 13 Vgl. zur Aktualität dieser Frage selbst in einem kommerziellen Online-Kunstmagazin wie artsy zu Dorothea Langes bekannter Fotografie: GOTTSCHALK 2018: o.S. 14 Stefan Römer: Welcoming Culture–2015 (Schwarz-weiße Foto-Text-Montage, Inkjetprint, jeweils 64 x 43,3, cm) in den Ausstellungen: Land. Natural, Gendered, Santiniketan, Indien 2015-2016; und: Land. Origin: thereafter, New Delhi, Indien 2016, Kurator: Amit Mukhopadhyay. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 231 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge 5. Aktivistische und institutionelle Projekte zum Thema Eine erste größere Veranstaltung des Archivprojekts widmete sich dem aktivis- tischen Kontext der Migrationsfrage in Berlin. Die Künstlerin und Beteiligte am Archivprojekt, Dorothee Albrecht, lud uns in ihre Ausstellung Tea Pavilion Frankfurter Tor ein, unsere Archividee vorzustellen.15 Schon die Form von Alb- rechts Präsentation setzte sich von einer konventionellen Kunstausstellung ab, denn ihre ausgestellte Recherche über den urbanen Kontext des Ausstellungs- raums wurde als Ambient präsentiert, in dem während der Ausstellungszeit Veranstaltungen stattfanden. In diesem Rahmen luden wir drei erfolgreiche Flüchtlingshilfe-Projekte aus Berlin ein, ihre Idee, ihre Erfahrungen und ihre Perspektive zu präsentieren und zu diskutieren: »Plus1 – Refugees Welcome!« gilt als eine der erfolgreichsten Flücht- lingsinitiativen im Spendensammeln. Das Projekt funktioniert so: An den Kas- sen vieler Musikveranstaltungen in Berlin standen Sammelbehälter, in die alle Besucher/innen, die auf Gästelisten stehen – also freien Eintritt haben –, gefragt wurden, einen Euro zu spenden; aber viele gaben mehr. So wurden in den ers- ten drei Monaten im Winter 2015 mehr als 25.000,- € gesammelt. Das »Forum Visual Exchange« an der Kunsthochschule Berlin-Weißen- see ist eine Kooperation der drei Gruppen »Kommen & Bleiben«, »seeGewohn- heiten« und »the foundation class«. Das Ziel dieser Initiative ist, Flüchtlinge dabei zu unterstützen, sich im Berliner Kunstfeld zu orientieren und Kontakte zu knüpfen. Lena Maculan stellte das von ihr und Marion Detjen gegründete »The Refugee Student Scholarship Network« vor, das am Bard College Berlin situiert ist. Vier Flüchtlingen aus Syrien wurde bisher ein Stipendium jeweils für einen Studienplatz für vier Jahre ermöglicht. Außer der Präsentation dieser drei Projekte wurde der öffentliche Raum um die Galerie am Frankfurter Tor mit den Plakaten »Pro-EU und Anti-Brexit« plakatiert, die der Künstler Wolfgang Tillmans mit seinem Team Between Brid- ges angefertigt hatte. Darin ging es darum, gegen den separatistischen Natio- nalismus zur Abstimmung über den Brexit zu agitieren. Seit dem Migrationssommer 2015 wurden viele künstlerische Projekte veröffentlicht: Viele u. a. fotobasierte Ausstellungen berühren das Migrations- thema, dazu trat das Thema gehäuft auf den großen Ausstellungen wie Bien- nalen und der Documenta auf. Die ›Willkommenkultur‹ im Jahr 2015 hat eine Sensibilisierung für das Thema Migration und Flucht bewirkt, dessen Folge ist eine Vielzahl an institutionellen und nicht-institutionellen Projekten. Das Ziel des zu entwickelnden Archivs sollte sein, möglichst viele dieser Projekte zu analysieren, um daraus Kriterien zum Verständnis und zur Kritik zu ziehen. 15 Tea Conference: International Image-Archive for People on the Move, im Rahmen der Ausstel- lung: Dorothee Albrecht: Tea Pavillion Frankfurter Tor, Galerie im Turm, Berlin 26.5.2016. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 232 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge 6. Zielsetzung des Archivs Was ist das Archiv-Interesse? Wie werden Migrant/innen definiert, die zu dem Archiv beitragen? Welche technologischen Voraussetzungen müssen gewährleistet sein? Theoretische Fragen über Archivstruktur und spezifische Erfahrungen mit digitalen Fotoarchiven werden separat untersucht, wofür hier nicht genug Raum zur Verfügung steht. Gilles Deleuze und Felix Guattari forderten in ihrem Buch Mille Plateaux (1980) dazu auf, dass man eigene abweichende, deviante und nonkonformisti- sche Archive bilden soll. Gegenwärtig stehen mehr oder weniger überzeu- gende digitale, kommerzielle Archivierungsmöglichkeiten zur Verfügung, die von Menschen auf der Flucht mit gutem Grund genutzt werden: Tumblr, flickr, Facebook etc. Aber wie können die dort hochgeladenen Bilder der Migrant/in- nen durch eine einfache Funktion auch in das Archiv verlinkt werden? Welche Form der Öffentlichkeit lässt sich damit schaffen? All diese Fragen soll das Ar- chiv durch seine einfache Funktion klären. Angesichts akademischer Forschungsprojekte etwa der Bildwissen- schaften, der Post Colonial Studies und der Visual Culture, die sich mit bereits bestehenden Bildarchiven beschäftigen, stellen diese höchst zeitgemäße Fra- gen dar, die auch den Dokumentarismus und seine Archivierung betreffen. Bei- träge einer kritischen Fotopraxis, die sich mit ähnlichen Fragestellungen be- schäftigen (vgl. Elisabeth Edwards und Allan Sekula), sollten die Diskussion ergänzen, um Kriterien für die zukünftige Archivarbeit sowie für Fotograf/innen und ihre Praxis selbst zugänglich zu machen. Hier wird ganz deutlich, es han- delt sich nicht etwa um ein Ende der Fotografie, sondern es handelt sich um eine neue Dimension der Produktion, Distribution, Archivierung und Rezeption von einem fotografischen Genre. Dazu werden weitere Fragen gestellt: Was ist der Unterschied von aktu- ellen zu Aufnahmen früherer humanitärer Katastrophen? Und: Inwieweit und in welcher Form sind Fotografien von flüchtenden Menschen ethisch über- haupt angemessen, wenn sie nicht von den Betroffenen selbst stammen? Ha- ben die Fotografierten eine Chance, sich aktiv gegenüber ihrer Abbildung zu verhalten und ihre Würde zu bewahren? Oder werden sie von der Institution Fotojournalismus auf Objekte einer politischen Rhetorik und auf Nachrichten- material reduziert, worauf sie selbst kaum Einfluss haben? Aus den Diskursen des Dokumentarismus lassen sich folgende Fragen anschließen und mit Er- kenntnissen verbinden: Dass es nicht reicht, einfach Fotografien aufzunehmen oder sie zu sammeln. Denn ihre Bedeutung hängt immer vom Kontext ab, in dem sie präsentiert werden.16 Insofern muss man auch für den Kontext sorgen, weil er sonst durch andere definiert wird. Auf diese Weise beuten die Social Media die Interessen ihrer Prosumer/innen kommerziell aus, die sich 16 Vgl. die semiotische Fototheorie in Victor Burgins Thinking Photography mit Beiträgen von Wal- ter Benjamin, Umberto Eco etc.: BURGIN 1982 und darüber: RÖMER 2014: 47-84 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 233 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge mittlerweile als globales Familienalbum für diejenigen gerieren, die zum Inter- net Zugang haben. Für die Fotografien der Migrant/innen und die Archivierung sollte des- halb ein spezifisch avancierter Begriff des Visuellen entwickelt werden: Dies kann mit dem Wissen der Kunst mit einem dreiteiligen Model analysiert wer- den: Darstellung (zweidimensionale Anordnung auf der Bildebene), Präsenta- tion (räumliche oder mediale Veröffentlichung) und Repräsentation (institutio- neller, kultureller und politischer Kontext der Präsentation). Daraus lässt sich die grundlegende Frage nach der fotografischen Repräsentation ableiten: Wer stellt was in welchem (historischen, institutionellen, medialen) Kontext wie dar? Hier schlage ich vor, die Frage konkret auf das Flüchtlingsthema anzuwen- den: Wer hat ein Interesse, die Flüchtlinge auf eine bestimmte Weise darzustel- len? Hier sollte vor allem die Autorschaft der Flüchtenden selbst ernst genom- men werden: Das heißt, sie sollen die Bildrechte für ihre Bilder behalten; au- ßerdem sollten sie individuell entscheiden können, ob ihre Namen ihre Bilder kennzeichnen. Denn es ist hier zu bedenken, dass es aus Gründen der Kontrolle zum Teil sicher angeraten ist, Bilder anonym zu belassen. Denn der syrische Geheimdienst hat die Social Media daraufhin durchsucht, ob Hinweise über Familienverbindungen nach Syrien gehalten werden und deren Aktivitäten wurden daraufhin unterbunden und die Familien Repressionen ausgesetzt. Es muss deshalb eine Option programmiert werden, die den einzelnen Foto- graf/innen eine Entscheidung darüber ermöglicht, ob ihr Name veröffentlicht wird. Medienpolitisch ist zu bedenken, dass Reportagefotografien für eine Publikation redaktionell hinsichtlich ihrer kalkulierten Wirkung ausgewählt werden.17 Angesichts der zum Teil krassen Darstellungen der Flüchtlinge in den Nachrichten muss hier von einer reißerischen Bildpolitik gesprochen werden, die vergleichbar mit der der Kriegsfotografie ist. Im Sinne des zu schaffenden Archivs plädiere ich im Sinne einer »strukturellen Dokumentation«18 für ein strukturelles Archiv, für das die hier aufgeführten Kriterien konstitutiv werden, aber nicht als Dogma bestehen bleiben. Angesichts dieser komplexen und weitreichenden Problematik mutet es naiv an, dass in Deutschland noch kaum eine ethische Fragestellung dieser Fotografien diskutiert wird, wie es die Aus- schreibung der Konferenz »Ikonische Grenzverläufe: Szenarien des Eigenen, 17 »Es geht immer entweder darum, selbst durch Bilder öffentlich zu werden, oder darum, für an- dere eine Öffentlichkeit zu erzeugen. Auf diesem Markt des zirkulären Imagemodells (Sehen und Gesehenwerden, Zeigen und Gezeigtwerden) schließen sich selbstbezüglich Reproduktions- und Repräsentationsmethoden miteinander kurz« (RÖMER 2000: 88). 18 »Es geht […] bei der Strategie der strukturellen Dokumentation darum, etwas, das keine Öffent- lichkeit hat, in die Kunstöffentlichkeit zu zerren, um darüber eine kritische Diskussion zu führen. Die Reflexion der Bezüge, öffentlich zu werden, eine Öffentlichkeit herzustellen und/oder öffentliche Belange zu kritisieren, bedeutet, Interesse an einer politischen Handlung; dies positio- niert sich mit seinem Akzent auf das Intelligible deutlich gegen eine affektive Bildpraxis, schließt sie aber nicht aus. […] Man muss es sich wirklich leisten können, öffentlich zu werden. Denn für eine bereits durch ein Image geprägte Persönlichkeit kann selbst eine gerichtliche Anklage noch als PR geraten, während ein Migrant einfach nur abgeschoben wird« RÖMER 2000: 90. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 234 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge Anderen und Fremden im Bild« betont.19 Besonders alarmierend erscheint mir aber, dass bisher noch keine adäquate Archivierung der Bilder von Migrant/in- nen initiiert wurde. Bezüglich der inhaltlichen Ausrichtung muss bedacht werden, dass auch das Flüchtlings-Thema einer gewissen Konjunktur unterliegt. Bereits drei Jahre nach dem sogenannten ›Flüchtlingssommer‹ 2015 hat sich das Thema institutionell etabliert. Viele Film-, Kunst- und Theater-Projekte versuchen ihre Aktualität durch eine Referenz auf das Thema ›Flüchtling‹ zu betonen. Dabei tritt das Problem auf, dass diese Projektanträge damit nur eine vermeintliche kulturpolitische Relevanz behaupten möchten. Aus diesen Gründen hat die australische Initiative RISE (Refugees, Survivors and Ex-Detainees), die selbst von Flüchtlingen initiiert wurde und betrieben wird, bereits 2015 eine hilfreiche Checkliste aufgestellt, womit man ein solchermaßen tendenziöses Antragsde- sign vermeiden kann.20 Dies ist jedoch nur für diejenigen Kulturproduzent/innen relevant, die – polemisch formuliert – ihr Theater- oder Kulturprogramm nicht bereits jetzt am nächsten Hype nämlich des Rechts-Populismus orientieren und nach den The- men ›Heimat‹ oder ›Identität‹ ausrichten. Abschließend seien hier anstatt einer Zusammenfassung grundlegende Diskussionspunkte des Archivprojekts formuliert: 1. Vermittlung, Diskussion und Unterstützung der Archividee unter Menschen auf der Flucht und ehemaligen Flüchtlingen/Migrant/in- nen, um zunächst ihre Mitarbeit und schließlich ihre Übernahme des Projekts zu erwirken. 2. Internationale Kooperation mit bildwissenschaftlichen und Visual Studies-Instituten und interdisziplinären dokumentarischen, unab- hängigen Projekten. 3. Kooperation mit Internetfirmen, die uneigennützig eine technische Einrichtung eines solchen Archivs erforschen und zukünftig be- treuen. 4. Entwicklung von Freeware Apps, die es ermöglichen, Dokumente einfach und direkt in dieses Archiv zu laden, bestehende Bilder in den Social Media anzuschließen und sie zu verwalten. Auch soll angemerkt werden, dass das Copyright der Bildrechte bei den einzelnen Bildersteller/innen bleiben muss. Bei Verwendung der Bilder in öffentlichen Publikationen, sollen Ihnen die Tantiemen zufließen. Und etwaige Ausstellungen und Präsentationen der Dokumente sollen von den beteiligten Personen demokratisch selbst mit/kuratiert werden. 19 »Die Grundlagenforschung zur ethischen Tragweite etwaiger Bildpraktiken spielt im deutsch- sprachigen bildwissenschaftlichen Forschungsdebatten lediglich eine untergeordnete Rolle«. So die Einladung zur Konferenz »Ikonische Grenzverläufe: Szenarien des Eigenen, Anderen und Frem- den im Bild«, 13.–15.9.2017. 20 Vgl. auf: http://riserefugee.org [letzter Zugriff: 19.04.2018] und: CANAS 2015: o.S. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 235 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge Abbildungen Abb. 1: Stefan Römer: Welcoming Culture 2015 (Daypacks), vierteilige Foto-Text-Montage, S/W- Fotografie, 65 x 44 cm, 2015. Abb. 2: Stefan Römer: Welcoming Culture 2015 (Pflaster), vierteilige Foto-Text-Montage, S/W-Fo- tografie, 65 x 44 cm, 2015. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 236 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge Abb. 3: Stefan Römer: Welcoming Culture 2015 (Flipflop), vierteilige Foto-Text-Montage, S/W-Fo- tografie, 65 x 44 cm, 2015. Abb. 4: Stefan Römer: Welcoming Culture 2015 (Koffer), vierteilige Foto-Text-Montage, S/W-Foto- grafie, 65 x 44 cm, 2015. Literatur AGAMBEN, GIORGIO: Jenseits der Menschenrechte. Einschluss und Ausschluss im Nationalstaat. In: Jungle World, 27, 2001. https://jungle.world/artikel/2001/27/jenseits-der-menschenrechte [letzter Zugriff: 19.04.2018] ARENDT, HANNAH: We Refugees. In: South Magazine, 6, 2017. http://www.documenta14.de/de/south/35_we_refugees [letzter Zugriff: 19.04.2018] IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 237 Stefan Römer: Interesse an und in einem Bildarchiv für Migrant/innen und Flüchtlinge BURGIN, VICTOR (Hrsg.): Thinking Photography. London [MacMillan Press] 1982 CANAS, TANIA: 10 THINGS YOU NEED TO CONSIDER IF YOU ARE AN ARTIST – NOT OF THE REFUGEE AND ASYLUM SEEKER COMMUNITY – LOOKING TO WORK WITH OUR COMMUNITY. 5.10.2015. http://riserefugee.org/10-things-you-need-to-consider-if-you-are-an- artist-not-of-the-refugee-and-asylum-seeker-community-looking-to- work-with-our-community/ [letzter Zugriff: 19.04.2018] EDWARDS ELIZABETH: Andere ordnen. Fotografie, Anthropologie und Taxonomie. In: WOLF, HERTA: Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2003, S. 335-355 GOTTSCHALK, MOLLY: The Fateful Roadside Stop That Led to Dorothea Lange‘s »Migrant Mother«. https://www.artsy.net/article/artsy-editorial-fateful- roadside-led-dorothea-langes-migrant- mother?utm_medium=email&utm_source=11905144-newsletter- editorial-daily-01-14-18&utm_campaign=editorial&utm_content=st-V [letzter Zugriff: 19.04.2018] HERION, GIANNINA: Belanglose Bilder – Vom Viral zum Internet-Mem. 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In: WOLF, HERTA: Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2003, S. 269-334 TERKESSIDIS, MARK: Nach der Flucht. Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft. Stuttgart [Reclam] 2017 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 238 [Inhaltsverzeichnis] Viola Nordsieck Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren. A. N. Whiteheads Konzept der Wahrnehmung als symbolisierender Tätigkeit und die Art, wie wir Bilder als Bilder sehen Abstract In the thought of process philosopher A. N. Whitehead, sense perception can- not be understood as a passive reception of sense data, or even a spontaneous receptive action of the mind. It is symbolic activity, which we can understand as a combination of active and passive elements, embedded within a continu- ous form. Perception as a symbolic activity changes and shapes things in the process. It may be thought of as belonging to the faculties of judgement in a Kantian sense: the faculty of distinguishing by principles that are being devel- oped in progress. This means that our ability of perceiving images as images and reflecting on their context, their modes of appearance and the way they are mediated, must be thought of as a cultivated practice. Questions of iconic- ity and the semiotics of images, for example the question of the image's rela- tion to our perception and our attention, can be asked in new ways. Im Denken A. N. Whiteheads ist Wahrnehmung nicht einfach das passive Auf- nehmen äußerer Reize oder Sinnesdaten, sondern selbst eine Tätigkeit. Doch ist diese auch nicht allein ›aktiv‹ im Sinne einer spontanen Tätigkeit des Ver- standes. Wahrnehmung als ›symbolisierende‹ Tätigkeit reagiert auf die Welt, die wir erfahren, und formt sie zugleich. Diese Tätigkeit lässt sich als eine Form von Urteilskraft im kantischen Sinne beschreiben: eine Tätigkeit des IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 239 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren Unterscheidens und Einordnens auf der Suche nach den je eigenen Prinzipien eines Schemas. Damit wird unsere Fähigkeit, Bilder als Bilder wahrzunehmen und dabei ihren Kontext, ihre Erscheinungsweise und ihre mediale Übertra- gung zu reflektieren, als eine erlernte Praxis gedacht. So stellen sich Fragen im Kontext der Bildsemiotik, zum Beispiel die Frage nach dem Verhältnis des Bil- des zu unserer Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, auf neue Weise. Einleitung Der Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead ist der bekannteste Vertreter der Prozessphilosophie. Seine prozessuale Philosophie der Wahrneh- mung verwirft wesentliche Prinzipien der neuzeitlichen Wahrnehmungstheo- rien und führt damit auch zu einem ungewöhnlichen Begriff vom Bild. Unge- wöhnlich, doch, wie im Folgenden gezeigt werden soll, hilfreich, um den Um- gang mit Bildern zu verstehen. Denn wenn wir Bilder nicht in erster Linie als potentiell wertneutrale Abbilder des Bestehenden denken, sondern von einer Praxis der Bildgebung ausgehen, so erhält diese Praxis eine ethische und unter Umständen auch politische Tragweite. Dieser Text wurde darum bei dem Panel ›Bild‹ des 15. Internationalen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik vorgestellt, der sich dem Thema Grenzen. Kontakt – Kommunikation – Kontrast verschrieben hatte. Die Praxis des Zeigens und Sehens, des Verstehens und Deutens von Bildern ist in Zeiten von Digitalisierung und sozialen Medien zu einer der wichtigsten und alltäglichen kulturellen Tätigkeiten geworden. Whiteheads Denken ist originell und in gewissem Sinne unvergleich- lich. Dennoch gibt es bedeutende Übereinstimmungen, gerade im Hinblick auf seine Kulturphilosophie und seine Philosophie der Wahrnehmung, mit Ernst Cassirer, Susanne Langer und John Michael Krois. Die Nähe zwischen Whi- teheads Denken und Cassirers Philosophie der symbolischen Formen habe ich bereits ausgeführt (vgl. NORDSIECK 2015). Die Ästhetik der nicht-diskursiven For- mauffassung bei Cassirer, Langer und Krois sowie ihre Übereinstimmung mit Whitehead wurde unter anderem von Martina Sauer (vgl. SAUER 2014) hervor- gehoben. Zu Whitehead schreibt sie, er gehe, wie Cassirer und Langer, »von einem auf Relevanz beruhenden Funktions- statt Substanzbegriff aus, der für die kulturelle Entwicklung wesentlich sei« (SAUER 2014: 58), und zeigt im Fol- genden, wie Langers Unterscheidungen der diskursiven und präsentativen Symbolisierungen direkt durch Whiteheads Wahrnehmungsphilosophie beein- flusst wurden. Krois, der sich mit seiner Philosophie der Verkörperung vor al- lem auf Cassirer und Charles Sanders Peirce bezieht, gehört ebenfalls in diese gemeinsame Strömung, ebenso wie John Dewey, Maurice Merleau-Ponty und William James. Doch der einzige prozessphilosophische Denker, auf den sich Whi- tehead selbst bezieht und von dem er große Teile der Philosophie der Wahr- nehmung übernimmt, ist Henri Bergson. Das betrifft auch und gerade die IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 240 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren Konzeption des Bildes, auf die ich im Folgenden kurz eingehen möchte (vgl. auch dazu NORDSIECK 2015). Dennoch enthält dieser Text nur eine knappe und skizzenhafte Wieder- gabe der Bergson’schen und Whitehead’schen Philosophie der Wahrnehmung. Stattdessen wird sich auf die Bedeutung von Bildern und unseren Umgang mit ihnen fokussiert. Denn ein Bild wird zum Bild, indem es in einen Prozess der Bildwahrnehmung einbezogen und als solches symbolisiert wird. Das heißt, ein Bild wird zum Bild, wenn wir mit ihm als solches umgehen. Damit stellt sich auch die Frage, was wir als Bilder erscheinen lassen – denn um zu erscheinen, braucht das Bild nicht nur materielle Medialität wie Leinwand, Pixel oder Licht. Es braucht auch und vor allem unsere Aufmerksamkeit. Whiteheads Kritik an der Philosophie der Wahrnehmung In der Philosophie der Wahrnehmung gibt es eine lange Tradition, die das Se- hen als eine besonders ausgezeichnete Weise des Wahrnehmens versteht. Tat- sächlich galt das Sehen schon als eine Weise des Erkennens, oder das Erken- nen der Wahrheit wird umgekehrt immer schon als eine Form des Sehens ge- dacht. Kannst du etwas erkennen? bedeutet im Deutschen tatsächlich nichts anderes als: Siehst du die Einzelheiten, die es dir möglich machen, festzustel- len, festzuhalten, was du siehst? In dieser philosophischen Tradition wurde immer versucht, die äußeren Merkmale zu finden, die feststellen lassen, was ein Ding sei. Die Verbindung zwischen dem Sehen und dem Erkennen geschieht dabei über die Kontempla- tion, also das interesselose, distanzierte Betrachten. Sehen ist ein Distanzsinn: Ich kann nicht sehen, was sich unmittelbar vor meinen Augen befindet oder was die Augen gar berührt. Und das Maß der Distanz, die ich als Sehende zu dem habe, was ich sehe, bestimmt perspektivisch die Form oder Gestalt, den Ausschnitt oder die Fläche, die Szene des Gesehenen. Weil diese Distanz für unsere Weisen des Sehens so bedeutend ist, wird sie in der Erkenntnistheorie zu einer Art Grundform der Wahrnehmung. Im Konzept des distanzierten, un- bewegten Betrachtens treffen sich die philosophischen Vorstellungen vom Se- hen und vom Erkennen, wobei der Blick eben in dem einen Fall auf die äußere Umwelt des wahrnehmenden Leibes gerichtet sein soll, und in dem anderen auf die innere Welt der Vorstellung, die wir mit dem geistigen Auge sehen. Über ein sich etablierendes Verweisungssystem zwischen der Präsenz des Gesehenen und der Repräsentation des Wirklichen wird nach und nach ein Erklärungsmodell für die Phänomene der Wahrnehmung entwickelt, das sich an der Überzeugung orientiert, die Erscheinung sei ein Abbild des wirklichen Dinges. Im 17. Jahrhundert wird dieses Modell durch ein abstraktes Verständ- nis von Kausalität ergänzt, welche die Eindrücke des wirklichen Dings auf die Wahrnehmung als Ursache der Entstehung des Abbildes im Geiste, der Vor- stellung ansehen. Dazu tritt eine synthetisierende Tätigkeit des Bewusstseins. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 241 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren Bei Descartes, Leibniz und Spinoza ist die Vorstellung (Idee) niemals nur ein sinnlicher Eindruck, sondern immer das Produkt von Unterscheidungen, und zwar möglichst klarer und deutlicher Unterscheidungen anhand distinkter Merkmale. Das Vermögen zu unterscheiden wird mit dem Vermögen zu erken- nen analog gesetzt. Klarheit und Deutlichkeit sind Eigenschaften der Unter- scheidung und darum auch der Idee. Diese optische Metaphorik verstärkt noch die traditionelle Orientierung der Erkenntnis an der visuellen Wahrnehmung. Es ist eben diese Tradition des Erkennens, die Alfred North Whitehead mit äußerster Konsequenz kritisiert. Sein Hauptkritikpunkt ist die Deutung der sinnlichen Wahrnehmung als subjektives Urteil, doch ohne objektiven An- spruch, also als eine niedrige, unvollkommene Form der Erkenntnis. Whiteheads Kritik liegt darin, dass die Philosophie stets angenommen habe, sie müsse nach etwas Statischem suchen und sich ein Bild davon ma- chen, um dieses dann mit dem Original vergleichen zu können. Darum habe sie die Kriterien der Klarheit und Deutlichkeit aufgestellt und sich damit selbst den Irrtum geschaffen, wenn sich etwas besonders klar und deutlich abzeichne, müsse es für die Erkenntnis quasi bestimmt sein: »this tendency [...] [to as- sume] that the more fundamental factors will ever lend themselves for discrim- ination with peculiar clarity« (WHITEHEAD 1967: 175). Eine Reihe weiterer Irrtü- mer folgen daraus: die Welt als eine Ansammlung von Objekten, durch die wir uns als Subjekte bewegen und die wir manipulieren können, ohne von ihnen wesentlich betroffen zu werden; Wahrnehmung als Erstellen eines Bildes von diesen Objekten; das Bild als Repräsentation; und die Erkenntnis schließlich als Prüfinstanz dieser Repräsentation. All das, so Whitehead, ist falsch. »Philosophers have disdained the information about the universe ob- tained through their visceral feelings, and have concentrated on visual feeling« (WHITEHEAD 1978: 121). So wird die Wirklichkeit mit einem Modell verwechselt, das distanziert vor uns liegt und das wir für die Genauigkeit lieben, mit der wir es messen können. Die letzten Worte des letzten Vortrags, den Whitehead je in der Öffentlichkeit gehalten hat, waren: »The exactness is a fake« (WHITEHEAD 1968: 96). Wahrnehmung in der Prozessphilosophie Dennoch gibt es für Whitehead etwas, das er die Objekt-Subjekt-Struktur des Erlebens nennt, also der experience. Statt neue Begriffe zu erfinden, verwendet er die, die er in der metaphysischen und erkenntnistheoretischen Tradition vor- findet, und deutet sie um. Dabei greift er Elemente der traditionellen Bedeu- tung auf und verkehrt andere in ihr Gegenteil. Whiteheads Neuentwurf baut ein vollständiges metaphysisches System auf der Annahme auf, dass wir auf eine Grundkonstante der Statik verzichten können. Es gibt kein Wesen der Dinge, keine Substanz in einem ontologischen Sinne, keine Basis. Alle stabilen Verhältnisse und Strukturen sind immer als Produkte von Prozessen zu IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 242 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren betrachten. Sogar die Gesetze der Logik, verschiedener Typen von Logik, er- halten ihre Gültigkeit in diesem Zusammenspiel von Prozessen und sind dem entsprechend in einigen Kontexten anwendbar, in anderen nicht. Jede Form von Bedeutung, nicht erst Sprache und Bildhaftigkeit, sondern bereits die ma- thematischen Verhältnisse, die eine dreidimensionale Welt ermöglichen, ent- stehen innerhalb von Prozessen. Denn »[d]ie prinzipielle Intuition dieser Kon- zeption ist die Einheit von Kausal- und Sinnverhältnissen« (SCHWEMMER 2018: 185). So ist ein Subjekt bei Whitehead nicht etwa das Ich, das ein Bewusst- sein seines eigenen Denkens hat. Es ist etwas formal ganz Ähnliches, inhaltlich jedoch Gegensätzliches zu einer cartesischen oder kantischen Bestimmung vom Subjekt. Das Subjekt ist eine Art der Einheit der Apperzeption, doch liegt diese Einheit nicht im Ich: ein Subjekt ist bei Whitehead ein Prozess der Form- bildung. Ein solcher Prozess zeichnet sich dadurch aus, dass er sich in ein Ver- hältnis setzt zu allen anderen Elementen des Universums. Dieses Verhältnis ist entweder eines des Einbeziehens oder des Ausschlusses, das heißt, andere Prozesse werden entweder als Faktor in den Prozess aufgenommen und damit in einer bestimmten, dem Prozess eigenen Weise objektiviert; oder sie werden nicht aufgenommen und stehen in einem Bezug des Ausschlusses. Denn jeder Prozess stellt in der Gesamtheit aller Prozesse eine neue Ordnung her. Den Vorgang des Aufnehmens oder Ausschließens nennt Whitehead prehension, das heißt Erfassen oder Wahrnehmen. Was wir Wahrnehmung und Symbolisierung nennen, ist überhaupt nur darum möglich, weil es als Grundstruktur des Erfassens bereits in den Prozessen selbst angelegt ist. Denn [a]us dem Umstand, daß man sich einer Reflexionsstruktur bewußt werden kann, folgt [...] keineswegs, daß 'das Bewußtsein' eine Voraussetzung der Reflexionsstruktur ist. Dies wäre aus Whiteheadscher Sicht die Verwechslung eines Sonderfalls – des Denkens oder Bewußtseins – mit einer viel grundlegenderen allgemeinen Struktur der Selbstbeziehung, die eine Bedingung aller Erfahrung ist (LOTTER 1996: 152f.). Jede Wirkung, die sich durch Aufnahme in einen Prozess entfaltet, nennt Whi- tehead (wie mit ihm Susanne Langer) Fühlen, feeling. Jedes Erfassen bedeutet dabei eine vollständige Verwandlung des Prozesses. Was zu einem subjektiven Prozess gehört und was nicht, ordnet sich um einen quasi-zentralen Punkt herum, den Whitehead actual occasion nennt. Das ließe sich sowohl deuten als das Ereignis, das aktualisiert wird, als auch als Gelegenheit zur Aktualisierung – und die letztere Bedeutung gibt uns mehr zu verstehen. Eine Gelegenheit ist eine Potentialität, die selbst nichts ist, sondern in einem Zusammentreffen ver- schiedener Faktoren besteht und etwas Neues entstehen lässt. Genau so kön- nen wir uns den verschwindenden Punkt der actual occasion vorstellen. Ma- thematiker nennen diesen Punkt eine topologische Singularität. Whitehead nennt ihn eine reine Potentialität, manchmal nennt er ihn auch Substanz. Es ist der Ursprung des Prozesses, der das Kontinuum des Universums unterbricht und den Beginn einer Ordnung auslöst. Dieser Puls vom Kontinuum hin zur Struktur wird natürlich ständig wieder in Frage gestellt, behindert und IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 243 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren unterbrochen. Und dennoch sind alle verwirklichten Strukturen durch symbo- lische Relationen miteinander verbunden. Nichts kann in Whiteheads pulsie- rendem Universum jemals vernichtet werden oder verschwinden, alles ist auf- gehoben, weil es in seiner Ganzheit wieder zum Objekt anderer Prozesse wird. Unsere Wahrnehmung also, die visuelle ebenso wie jede andere, lässt sich mit Whitehead nur als das Erfassen von etwas denken, das seine Wirkung entfaltet auf einen Prozess, in dem auch wir vorkommen. Der Prozess ist in diesem Fall das Erleben, experience, also der Vorgang der Wahrnehmung selbst. Wir sind nicht die wahrnehmenden Subjekte: der Vorgang des Wahr- nehmens selbst ist das Subjekt, das sich erfüllt, indem es eine neue Ordnung herstellt. Innerhalb dieser neuen Ordnung wird unser wahrnehmendes Verhält- nis zu dem wahrgenommenen Gegenstand neu bestimmt. So entsteht Bedeu- tung. Bildverständnis und Bildwahrnehmung bei Henri Bergson und A. N. Whitehead Der Verzicht auf Statik als ontologische Grundkonstante der Realität bringt von vornherein eine andere Vorstellung vom Bild mit sich, als sie in der philosophi- schen Tradition vorherrscht. Denn ein Bild zu sehen, gilt in einem Paradigma der visuell geprägten Erkenntnis als etwas ganz anderes als ein Objekt zu se- hen. Das Bild selbst ist reales Objekt nur, insofern es ein materieller Träger ist. Das Objekt, das wir sehen, ist dann die farbige Leinwand, das Kirchenfenster, der Bildschirm, auf dem das digitale Foto angezeigt wird. Das Bildobjekt, das also, was bei der Bildwahrnehmung präsent wird, ist selbst ein »Nichts« (HUSSERL 2006: 46). Sein ontologischer Status als reales Objekt hängt von der Art seiner Präsenz ab, die Lambert Wiesing (vgl. WIESING 2005) die artifizielle Präsenz des Bildes nennt: eine Präsenz, die durch andere Mittel als Anwesen- heit eines Objekts hergestellt wird. Dieter Mersch beschreibt die Präsenz des Bildes, die das Bildobjekt nicht selbst enthält, auch als eine »Anwesenheit ohne Gegenwart« (MERSCH 2002: 11). Natürlich wird die alte Vorstellung vom Bild als etwas Statischem, als Abbild und Repräsentation durch Philosophen wie Mersch und Wiesing und auch in der zeitgenössischen Bildwissenschaft längst in Frage gestellt. Tatsäch- lich besteht überhaupt erst ein ernsthaftes philosophisches und medienwis- senschaftliches Interesse am Bild, wie auch Krois betont, seit es nicht mehr als bloßes Abbild gedacht wird. Um so interessanter ist in diesem Zusammenhang die zu jener Zeit überaus ungewöhnliche Bildkonzeption in der Philosophie Henri Bergsons, der für Whitehead ein sehr bedeutender prozessphilosophi- scher Einfluss war. Ich erwähne sie hier kurz, weil ihr Verständnis auch für Whi- teheads Philosophie der Wahrnehmung von Bedeutung ist. Bergson beschreibt sein Bild in Materie und Gedächtnis als eine Exis- tenz, die sich zwischen dem Ding und der Repräsentation befände. Damit meint er jedoch nicht ein Zwischen-Ding zwischen dem Gegenstand und seinem IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 244 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren Abbild, sondern zwischen dem, was sich der Realist als Ding vorstellt und was völlig unabhängig vom Bewusstsein an sich in der Welt existieren würde; und dem, was der Idealist eine Vorstellung nennt, die dem Bewusstsein vollständig immanent wäre. Gerade die Beziehung des Bewusstseins auf die Welt ist es, die sich im Bild realisiert und das Innen des Selbst und das Außen der Welt überhaupt erst ordnet, denn »von dem Gesamtzusammenhang der Bilder kann man nicht sagen, daß er uns innerlich oder äußerlich sei, da Innerlichkeit und Äußerlichkeit nur Beziehungen zwischen Bildern sind« (BERGSON 2015: 24). Während das Bewusstsein für Bergson, wie für jeden Prozessphilosophen, der Wirklichkeit vollständig immanent ist und gerade darin besteht, auf sie Bezug zu nehmen und sich zu ihr zu verhalten, besteht das Bild in seiner Wirkung auf die anderen Bilder (nicht etwa Dinge!) und darin, dass dem Bewusstsein diese Wirkung gegenwärtig wird. Diese Gegenwärtigkeit oder Präsenz des Bildes schafft eine Art Wahrnehmungsraum, der wiederum eine eigene Tätigkeit, Re- aktion und Bewegung des Wahrnehmenden erst ermöglicht. Umgehen und Handeln ergeben sich durch das vermittelnde Zusammentreffen von Präsenz und Wirkung. Dieses Zusammentreffen ist es, was Bergson ein Bild nennt. In dem Buch Symbolism. Its Meaning and Effect stellt Whitehead seine Theorie der Wahrnehmung vor. Dabei beschreibt er zwei Modi der direkten Wahrnehmung der äußeren Welt, die in ihrer Wirkung aufeinander die kultu- rellen Symbolisierungen hervorbringen, welche – genau wie bei Bergson – erst die eigentliche Wahrnehmung darstellen. Diese beiden Modi nennt Whitehead »causal efficacy« (WHITEHEAD 1985: 17) oder kausale Wirksamkeit, das direkte Erfassen von Veränderungen, und »presentational immediacy« (WHITEHEAD 1985: 16) oder präsentative Unmittelbarkeit, das ist das erscheinende Verhält- nis des Wahrnehmenden zu seiner Umgebung. Erst im Wechselspiel zwischen beiden entsteht eine räumlich und sinnlich erlebte Situation. Die Übereinstimmung mit Bergson besteht nicht nur in der Unterschei- dung der Elemente des Wirkens und der Gegenwärtigkeit, sondern auch in ih- rer Bewertung: Gegenwärtigkeit liegt einzig in der Beziehung der Elemente ei- ner Situation zueinander, einschließlich der Position des Wahrnehmenden; Wirkung aber ist zeitlich und reicht in die Vergangenheit hinein. Sie wird daher von Bergson und Whitehead wichtiger genommen als die Gegenwärtigkeit, die in ihrer Präsentation bloßer Gleichzeitigkeit nichts hergibt, was reale Zusam- menhänge betrifft. Sie ist anschaulich, genau, und enthält oder führt zu nichts weiter: »vivid, precise, and barren« (WHITEHEAD 1985: 23). Aus ihr lässt sich nichts darüber erfahren, wie es zu der Situation kommt; und doch neigen wir dazu, sie auf Grund ihrer Klarheit und Deutlichkeit als Quelle unseres Wissens heranzuziehen. Doch [...] entspringen […] die Klarheit und Gleichgültigkeit der präsentativen Unmittelbarkeit einem fundamentalen strukturellen Unterschied zwischen beiden Wahrnehmungsmodi, der eine Wahrnehmung in präsentativer Unmittelbarkeit nicht die emotionalen Muster seiner Vorwelt erfassen lässt, sondern die abstrakte Potentialität räumlicher Gleichzeitig- keit (BERVE 2015: 145). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 245 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren Whitehead wendet sich gegen die Philosophie von Locke, Hume und Kant, so wie er sie deutet, nämlich gegen die Idee, Wahrnehmung sei ein Zu- sammenfügen disparater Elemente, einzelner Impressionen, durch die Katego- rien des menschlichen Geistes. Stattdessen begreift er die Wahrnehmung als einen Prozess des Zusammenwirkens dieser beiden Ebenen der Symbolisie- rung, und nur in einer davon, nämlich in der präsentativen Unmittelbarkeit, dominiert die visuelle Prägung des Menschen. Die Objektivierung im Modus der kausalen Wirksamkeit besteht hingegen in den Vorgängen selbst, in denen Veränderungen an und mit unserem Körper gefühlt werden, und der Tatsache, dass wir auf dieses Fühlen Bezug nehmen können. Sie ist darum wichtig, weil sie die Bewegung oder Veränderung selbst enthält und damit verhindert, dass Wahrnehmung nur als aneinander geheftete Folge einzelner Impressionen o- der Bilder gedacht würde. Gäbe es aber nur diesen Modus, in dem wir die Veränderung als Wir- kung erleben, so würden wir gar nichts wahrnehmen. Wir würden in dem Erle- ben der Veränderung einfach mit- und aufgehen. Wahrnehmung als Erfassen von etwas Neuem geschieht, ebenfalls wie bei Bergson, erst durch eine Gegen- bewegung, einen Bruch, einen Widerstand: dort, wo das Erfassen der kausalen Wirksamkeit auf das Erfassen von Gegenwärtigkeit trifft. Der Prozess des Wahr- nehmens ist orientierend und gestaltend: wir setzen uns selbst ins Verhältnis zu dem Wahrgenommenen. Und dieses aktive Element, mit dem wir das Ver- hältnis zu dem Wahrgenommenen und die erlebte Veränderung zusammenfü- gen, nennt Whitehead symbolische Referenz. Das Ereignis des emotionalen Bewegt-Werdens ist also die Basis der Erfahrung und hat zunächst nichts mit einem Auffassen und Abbilden unab- hängig existierender Objekte zu tun. Vielmehr ist, wie Michael Hampe schreibt, meine gegenwärtige Erfahrung [...] das kausale Produkt aller meiner vergangenen Erfah- rungen. […] Alle Wahrnehmungen von gegenwärtigen Eigenschaftsmustern sind das Pro- dukt der Verursachung von Erfahrungsereignissen durch andere Erfahrungsereignisse (HAMPE 1990: 126). Das bewusste, sich identifizierende Selbst gehört diesen Ereignissen an und existiert so wenig unabhängig von ihnen, wie das Bild Bergson außerhalb des Bewusstseins existiert. Zugleich bildet es natürlich eine eigene Einheit, doch diese ist keine Summe seiner Teile, sondern ein komplexes Verhältnis vielfäl- tiger Prozesse. Der, der den Fisch gestern gegessen hat, ist jedoch Teilursache von mir, der sich jetzt daran erinnert. Nehme ich deshalb die kausale Geschichte aller Subjekte der einzelnen Erfahrungen, die einen nexus bestimmter Ordnung bilden, zusammen und bezeichne diese Geschichte als mich, dann war der, der den Fisch aß, in einem gewissen weiten Sinn derselbe wie der, der sich daran erinnert. [...] Es ist die Erfahrung des Ereignisses, das das gegenwärtige Subjekt […] hervorgebracht hat, und zwar als Wirkung anderer Er- eignisse [...] (HAMPE 1990: 127). Der Punkt, an dem Whiteheads Philosophie der Wahrnehmung über diejenige Bergsons hinausgeht, ist genau der Punkt der symbolischen Referenz. Zwar beschreibt Bergson das Verhältnis von Wirkung und Gegenwärtigkeit in Materie und Gedächtnis genauer und mehrstufiger, als IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 246 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren Whitehead es tut, und erarbeitet ein tiefes Verständnis einer Medialität der Wahrnehmung als prozessualer, vermittelnder Instanz, die überhaupt erst ein lebendiges und tätiges Verhältnis zur Welt ermöglicht. Legendär ist in diesem Zusammenhang seine Beschreibung des Gehirns als »zentrales Telefonbüro«, dessen Aufgabe es vornehmlich sei, »zu verbinden oder warten zu lassen« (BERGSON 2015: 29) – quasi ein Vorgriff auf den Ausdruck der Synapse (Verbindung), geprägt 1897 von Charles Sherrington im Jahr nach der Ersterscheinung von Materie und Gedächtnis. Whiteheads Beschreibung der kausalen Wirksamkeit und der präsentativen Unmittelbarkeit sind flüchtiger. Doch ähnlich wie Cassirer setzt Whitehead dafür einen stärkeren Akzent auf das Element der Symbolisierung, und damit auf die kulturphilosophischen Elemente der Entstehung von Bedeutung in der Wahrnehmung. »Neben metaphysischen und erkenntnistheoretischen Implikationen ist die Bedeutung von Whiteheads Konzept der Wahrnehmung im Modus der kausalen Wirksamkeit in seinen kulturphilosophischen Implikationen zu sehen« (LACHMANN 2000: 50). Wahrnehmung als Praxis und reflektierende Urteilskraft Wenn Bedeutung immer schon in der Wahrnehmung entsteht, weil die kon- krete Wahrnehmung selbst Eigenbewegung und Tätigkeit, Unterscheidung und Orientierung miteinschließt, ist das Symbolverstehen schon auf der Ebene der Wahrnehmung mit anzusetzen. Umgekehrt gibt es aber auch keine höher- stufige Ebene des konkreten Symbolverstehens, die abstrakt und völlig frei wäre von Affektivität und Emotionalität (vgl. LACHMANN 2000: 16ff.). Whitehead beschreibt Affekte und Emotionen auf der Ebene kausaler Wirksamkeit als Be- wegungen, die zu etwas hinstreben oder von etwas zurückscheuen (vgl. WHI- TEHEAD 1985: 45). Hier stimmt er, wie John Michael Krois in einem nachgelas- senen Text zum Verhältnis von Philosophie und Ikonologie betont, mit Cassirer überein: »According to Cassirer, perception always already embodies various symbolic meanings simultaneously, and the majority are not the result of in- tentional acts of interpretation« (KROIS 2018: 7). Whitehead zieht daraus den Schluss, dass die Betrachtung von Objek- ten in distanzierter Kontemplation eine spezifische Form von Symbolisierung ist, die einer erlernten und trainierten Fähigkeit bedarf. Die Klarheit und Dis- tinktheit der theoretischen Wahrnehmung ist etwas Erlerntes und Eingeübtes, während die praktische Wahrnehmung uns das Ding immer im Gebrauch, in Bewegung, im praktischen Umgang erfassen lässt. Er eröffnet sein Konzept der Wahrnehmung als Tätigkeit mit einer Szene, in der er beschreibt, wie ein Künstler und ein kleiner Hundewelpe auf einen Stuhl treffen. Er sei skeptisch, so meint Whitehead, hinsichtlich des Auf- wandes, der betrieben werden müsse, um den Stuhl wahrzunehmen. Denn die philosophische Tradition vermutet, es müssten farbige Impressionen und die IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 247 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren Erfahrung von Stühlen erst synthetisiert werden, um einen Stuhl (wieder-)zu erkennen. Er nennt zwei Gründe für diese Skepsis: Erstens habe der Künstler, der sich in distanzierte Kontemplation über Farbe, Form und Position des Stuh- les versenkt habe, die Fähigkeit, den Stuhl als Sitzgelegenheit zu ignorieren, durch Arbeit, Übung und Aufwand erst erworben. Zweitens würde umgekehrt der junge Hund sofort, ohne Training oder langes Nachdenken, auf Grund der Hypothese eines Stuhles handeln und auf ihn springen. Wenn der Hund das unterließe, so schließt Whitehead, könne das wiederum nur daran liegen, dass es ein wohlerzogener Hund gewesen sei (vgl. WHITEHEAD 1985: 3f). Natürlich ist eine Praxis des Wahrnehmens, die wir erlernen und einü- ben können, anfällig für etwas, das es auf der Ebene des Erfassens nicht gibt: »Die Sinneswahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz unterschei- det sich von der direkten Wahrnehmung durch die Möglichkeit des Irrtums« (BERVE 2015: 157). Hier entsteht ein Raum, der Realität und Fiktion mit ein- schließt, der Bereich dessen, was Kant die produktive Einbildungskraft nennt. Einbildungskraft ist in der Philosophie Kants ein Vermögen, das der Synthesis der Anschauungen dient und in der Kritik der reinen Vernunft noch als blinde Funktion der Seele bezeichnet wird. Sie gehört zur Sinnlichkeit und ist zudem in der Lage, einen Gegenstand zu vergegenwärtigen; liefert aber auch die apriorischen Schemata für die Wahrnehmung. Doch während die pro- duktive Einbildungskraft in der Kritik der reinen Vernunft als spontane Syn- these des Wahrgenommenen auftritt, wird sie in der Kritik der Urteilskraft »pro- duktiv und selbsttätig« und erhält im Geschmacksurteil eine »freie Gesetzmä- ßigkeit« (KANT 2008: § 22). Sie wird dabei nicht nur zu einer Fähigkeit, die sich entwickeln und üben lässt, sondern spielt auch eine gestaltende Rolle in Bezug auf die Unterscheidung des Wirklichen und des Möglichen. Whiteheads sym- bolische Referenz nimmt im Verhältnis der Wahrnehmung zur Wirklichkeit eben diese Rolle der Einbildungskraft ein. Obwohl Whitehead sich von Kant sowie von Hume abgrenzt und beiden unterstellt, dass sie Erfahrung als etwas Gegebenes darstellen und die Zeitlichkeit des Wirkens, also das eigentlich Wirkliche am Wahrnehmungsvorgang ausblenden (vgl. WHITEHEAD 1985: 39), hätte er zur Kritik der Urteilskraft sicher ein anderes Verhältnis gefunden. Denn hier leitet Kant aus seiner Organismus-Analogie das regulative Prinzip der Zweckmäßigkeit für die reflektierende Urteilskraft ab, das es ihr, subjektiv gebunden an eine konkrete Gelegenheit (occasion), ermöglicht, über die empirischen Grenzen objektiver Gültigkeit des Urteilens hinauszugehen. Hier ist nicht nur die Zeitlichkeit des Zusammen-Wirkens und die Situiertheit des Urteils mitgedacht, sondern auch die konkrete und prozessuale Individualität des Organischen, die einem Prozess im Denken Whiteheads nahekommt. Sein eigenes Denken bezeichnet Whitehead ja im Ganzen als eine Philosophie des Organischen: »philosophy of organism« (u.a. WHITEHEAD 1978: 39). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 248 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren Die Wirkung des Bildes in der Ökonomie der Aufmerksamkeit Welche Bedeutung kommt nun in diesem Zusammenhang der Bildlichkeit in Whiteheads Theorie der Wahrnehmung zu? Mit Bergson will Whitehead die Rolle aller anderen Formen der Wahrnehmung, vor allem der prozessualen Wirkungsempfindungen, im Verhältnis zur distanzierten Visualität für die Er- kenntnis aufwerten. Für das Verständnis vom Bild bedeutet das, dass beide Prozessphilosophen sich kaum für die Frage interessieren, wofür das Bild stünde oder was das eigentliche Bildobjekt sei. Sie interessieren sich für die Frage, wie das Bild wirkt, wie es auf die Wahrnehmung als Bild wirkt. Denn seine Realität, sein ontologischer Status ist nicht der einer Kopie des Objekts, die auf Adäquatheit überprüft werden muss: seine Realität ist die seiner Wir- kung und Erscheinung als Bild. Krois weist darauf hin, dass für Peirce und Cassirer Sprache und Bild- lichkeit nur zwei verschiedene Typen des kulturell erlernten Symbolverstehens sind, die beide auf emotional-affektiver Wahrnehmungsebene bereits vorkom- men. Dasselbe gilt für Whitehead. Peirce's semiotic theory of perception, like Cassirer's doctrine of symbolic pregnance, united the theory of signs with a phenomenology of perception. This meant that for them imagery and language are not metaphysically different realms but culturally developed varieties of basic semiotic processes already present in sense perception (KROIS 2018: 15). Dabei ist das Bild in Krois’ Denken keineswegs abhängig von seiner Visualität, wie er in dem älteren Aufsatz Für Bilder braucht man keine Augen (KROIS 2006) und auch in dem bereits zitierten, neu erschienenen Text aus dem Nachlass verdeutlicht. Vielmehr ist es eine Gestaltungsform, deren Struktur von räumli- chen, körperlich erfassten Verhältnissen und Wirkzusammenhängen abhängt: ganz im Sinne von Bergsons und Whiteheads Wahrnehmungsphilosophie. »[...] pictorial order and vision are not the same thing. The logic of imagery and depiction is not based upon sight, but on something far more primitive, akin to touch« (KROIS 2018: 9f.). So wird es auch wesentlich interessanter, wie das Bild auf die Wahr- nehmung wirkt, wie es überhaupt als Bild in Erscheinung tritt, und wie wir mit dieser Erscheinung umgehen. Dabei ist zu bedenken, wie Krois schreibt: »The dividing line between the lifeworld of perceptual images and cultural produc- tions is only a matter of degree« (KROIS 2018: 2). Hier wird die Wahrnehmung als Tätigkeit relevant, die affektive Emotionalität einerseits einschließt, aber an- dererseits auch schon eine erlernte reflektierende Urteilskraft enthält. Es spricht [...] viel dafür, mit Whitehead die Grenze zwischen bewußten und unbewußten Wahrnehmungen als fließend anzusehen, nämlich als festgelegt durch den Grad an Auf- merksamkeit, mit dem wir etwas aus seinem Kontext herausheben und vom Hintergrund abstrahieren (LOTTER 1996: 151). Erinnern wir uns an den Künstler, der die bunten Formen des Stuhles betrachtet. Whitehead gebraucht das Wort artist, womit er nahelegt, dass er nicht irgendeine Art von Künstler meint, sondern einen Maler. Was sieht der IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 249 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren Maler, der in dieser Szene den Stuhl betrachtet? Er sieht, wie er ihn malen könnte. Seine Fähigkeit, die er kultiviert hat, besteht also darin, ein Bild zu se- hen: seine Einbildungskraft ist in der Lage, nicht nur seine Aufmerksamkeit zu regulieren und zu konzentrieren, sondern sie auch dahingehend anzuleiten, dass sie ein Bild erschafft. Perspektive, Vordergrund, Hintergrund, Farbgebung etc. kommen in der Imagination des Künstlers, immerhin als ein erster Entwurf, an dem gearbeitet werden kann, zusammen, auf Kosten natürlich der Vernach- lässigung anderer Aspekte, die er ausblenden muss. Der kleine Hund hingegen handelt, wie wir uns erinnern, falls es nicht ein überaus wohlerzogener Hund wäre, unmittelbar aufgrund der Hypothese eines Stuhls: erfasst ihn als solchen und springt im selben Ablauf von Erfassen und Reaktion darauf, um es sich, wie wir vermuten dürfen, erst einmal gemütlich zu machen. Fragen wir nun umgekehrt danach, was eigentlich geschieht, wenn uns etwas gezeigt wird, das wir als Bild erfassen, ebenso spontan, wie der kleine Hund den Stuhl erfasst. Wie handeln wir aufgrund der Hypothese eines Bildes? Springen wir unmittelbar auf den Stuhl, nehmen wir also das Bild als Repräsentation, als Verweis auf einen objektiven Gegenstand? Oder haben wir uns inzwischen selbst so weit erzogen, dass wir verwickelte Schlussfolgerungen ziehen, dass wir uns fragen: Woher kommt dieses Bild, wer hat dieses Bild gemacht und wie, wer zeigt mir dieses Bild, wie und warum? Zum Umgang mit Bildern in Zeiten von Digitalisierung und sozialer Medien Alles, was uns darauf hinweist, wo das Bild herkommt, wie es entstanden ist und warum wir es sehen, hat im Kontext von Digitalisierung und sozialen Me- dien seine Eindeutigkeit verloren. Das digitale Bild bedarf des Kommentars, verbal, kontextuell oder präsentativ, damit wir wissen, ob es sich um eine Farb- projektion von Herzimpulsen handelt oder um das digitale Abbild eines abs- trakten Gemäldes. Ob das Bild ein Gemälde ist und in der Gemäldegalerie hängt, ob es ein Foto ist, das bearbeitet und im Netz geteilt wurde, ist für un- sere Wahrnehmung und unsere geübte Einschätzung des Bildes entscheidend. Wenn wir das Bild so deuten, dass es etwas zeigt, dann hängt diese Deutung fast ausschließlich von unserem Wissen oder unserer geübten Einschätzung des Bildkontextes ab. Wir erfassen das Bild als Teil eines Handlungs- und Kom- munikationskomplexes. Dabei handelt es sich nicht nur oder nicht primär um eine Frage der kulturellen Referenzen, die wir abrufen können. Es geht auch nicht nur um das Thema der Verfeinerung von ästhetischer Sensibilität, einem Thema, das in der Philosophie des Subjekts natürlich schon länger verhandelt wird. Gerade in Bezug auf das Sehen und Deuten von Bildern geht es vielmehr um eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, die bestimmt, wie und was wir über- haupt sehen. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 250 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren Das Zeigen und Austauschen von Bildern ist eine technisch ermög- lichte, kulturelle Praxis, die erlernt werden muss. Diese Praxis spielt natürlich mit unserem visuell geprägten Verständnis des Bildes als Repräsentation, auch mit unserem indexikalischen Verständnis der Fotografie, das uns ein Foto als Zeichen für eine Wahrheit sehen lässt. Doch wenn die Präsenz des Bildes eigentlich als Handlungs- und Kom- munikationskomplex zu verstehen ist, liegt im Zentrum dieses Komplexes eine Fehlkommunikation, ein notwendiges Missverständnis. Denn das Bild gibt vor, etwas anderes zu sein als es ist. Seine Logik des Zeigens, wie Dieter Mersch sie nennt, besteht auch darin, sich als unabhängig von einem Kontext zu prä- sentieren. Das ist es, was das Bild als Bild eingrenzt und uns gegenüber stellt. Wir müssen nicht nachdenken, um das Bild als Bild wahrzunehmen, wir müs- sen keine verwickelten Schlussfolgerungen durchführen, um zu verstehen: Das ist ein Bild. Im Gegenteil, was wir wahrnehmen, ist gerade das Bild. Das Bild präsentiert sich als Bild und lässt uns glauben, wir könnten es in Ruhe betrach- ten und in der Distanz bleiben. In Wahrheit werden wir, wie uns Whiteheads Philosophie der Wahrneh- mung zu verstehen hilft, in den Prozess der Bildpräsentation selbst einbezogen und durch ihn verändert. Ohne unsere Aufmerksamkeit gibt es kein Bild. Wir werden objektiviert in einem Prozess, der unsere Aufmerksamkeit braucht: in dem Prozess des Sehens. Wir sind das Material für diesen Prozess. Unsere Fähigkeit, ein Bild zu ignorieren, wird dabei herausgefordert. Was wir sehen und wie wir es sehen, unsere Aufmerksamkeit ist die Ressource, um die Bilder kämpfen und ohne die ihre Präsenz nicht hergestellt werden kann. Jedes Bild beansprucht für sich Bedeutung. Ein Bild, das mit seiner In- dexikalität spielt, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf diesen Faktor und erlangt damit eine Präsenz als Repräsentation. Die eigentliche ikonische Struktur des Bildes, die seine Wirkmacht ausmacht, kann eine ganz andere sein. Gerade weil das Foto, wie Peirce betont, ein physikalisches Produkt ist, Produkt eines Mo- ments, zerschneidet es die Situation und lässt alles weg, was nicht in dieser Momentaufnahme erscheint. Das Foto enthält keine Zeit. Doch das digitali- sierte Bild schiebt diesen Anspruch, Produkt eines Moments zu sein, schiebt seine Indexikalität nur noch vor. Das sichert ihm Aufmerksamkeit, präsentative Unmittelbarkeit. 1982 schrieb John Berger in dem Essay Appearances: »Philo- sophically, we can evade the enigma. But we cannot look away from it« (BERGER 2013: 86). Und er fährt fort: In every act of looking, there is an expectation of meaning. […] one might say that in appearances everything that can be read is already there, but undifferentiated. It is the search, with its choices, which differentiates. And the seen, the revealed, is the child of both appearances and the search (Berger 2013: 88). Was Berger das Suchen nennt, in der Erwartung von Bedeutung, ist für Whi- tehead das Symbolverstehen, das bereits in der symbolischen Referenz enthal- ten ist als Unterscheiden und Differenzieren durch die Urteilskraft. Die Lenkung unserer Aufmerksamkeit entscheidet letztlich über die Art unserer IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 251 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren Objektivierung im Prozess des Sehens. Nur in diesem Prozess kann sich die Ikonizität, die Wirkmacht des Bildes entfalten. Die Ikonizität des Bildes ist eine parasitäre Existenz. Sie braucht unsere Aufmerksamkeit und unsere Lebens- zeit. Die politische Dimension der kulturellen Symbolisierung (so lautet Rolf Lachmanns Titel für Whiteheads Buch im Deutschen) wird von Whitehead zum Ende von Symbolism betrachtet, wobei er ein geteiltes und gemeinsam entwi- ckeltes Verständnis von Bildern und Bildlichkeit als Faktor sozialen Zusammen- halts, aber auch politischer Lenkung beschreibt (WHITEHEAD 1985: 73). »The great social task for Whitehead is to combine reverence for these symbols with freedom of revision. Today, this topic goes under such headings as ›cultural identity‹ or ›social memory‹, and its importance has become almost universally recognized« (KROIS 2018: 17). Die reverence, also der Respekt oder sogar die Ehrfurcht für gemeinsame Symbole wie Fahnen und Nationalhelden wie George Washington, besteht in einer sozialen Zurichtung der affektiven, emo- tionalen Ebene des Symbolverstehens auf ein gemeinsames Objekt. Die Frei- heit zur Veränderung besteht natürlich in der Beweglichkeit der reflexiven Ur- teilskraft, also genau der Fähigkeit, die wir durch Arbeit und Übung entwickeln müssen. Tun wir das nicht, so verbleiben wir in dem reflexhaften Verhalten einer Reaktion auf Bilder, das der Reaktion des kleinen Hundes auf einen Stuhl gleichkommt (vgl. WHITEHEAD 1985: 75). Hätte Whitehead soziale Medien und digitale Bildbearbeitung gekannt, er hätte sie sofort als wichtige politische Einflussfaktoren identifiziert und vor ihrer Wirkmacht gewarnt. Denn da das Bild vor allem durch seine Wirkmacht im Sinne der causal efficacy definiert ist und seine Weise des Wirkens die Ma- nipulation von Aufmerksamkeit notwendig einschließt, hilft uns hier nur eine weitere Fähigkeit, die manchmal als cultural literacy bezeichnet wird: eine möglichst umfassende Kenntnis des Kontextes, in dem uns die Bilder präsen- tiert werden. Die Art, wie Bilder präsentiert werden, ist eine Praxis der Lenkung von Aufmerksamkeit. Dem entsprechend müssen wir unsere Fähigkeit schulen, mit dieser Praxis umzugehen. Das kann die Fähigkeit bedeuten, ein Bild zu ignorie- ren, es auszublenden, sich dem Sehen zu verweigern. Es kann aber auch ver- schiedene Arten des Umgangs mit einem Bild bedeuten, sowohl im Sehen als auch im Zeigen. Wir müssen davon ausgehen, wie es die Sektion ›Bild‹ der Deutschen Gesellschaft für Semiotik in ihrem Call formuliert, dass der Umgang mit Bildern entscheidend dazu beiträgt, »kulturelle Wertvorstellungen, soziale Anerkennungsverhältnisse, politische Machtkonstellationen etc. zu konstituie- ren«. Das beginnt damit, dass Bilder das wahrnehmende Subjekt als solches konstituieren, als ein Teilelement des Prozesses der Wahrnehmung selbst. Im Sehen von Bildern bin ich genötigt, mich zu positionieren, weil ich das Gese- hene einordne, sowohl perspektivisch als auch weltanschaulich. Doch mit Whi- tehead können wir darüber hinausgehen. Die Praxis des Zeigens von Bildern ist selbst eine grenzüberschreitende Praxis, eine notwendige Neuverhandlung des Innen und Außen einerseits und eine Inanspruchnahme andererseits. Sich IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 252 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren zu beiden dieser Aspekte selbst verhalten zu können, ist etwas, das wir lernen müssen, eine kulturelle Fähigkeit, die zu einem Umgang mit der modernen Welt entscheidend beiträgt. Die Praxis des Zeigens von Bildern ist grenzüberschreitend, denn sie bedrängt uns, weil sie uns braucht. Um unsere Aufmerksamkeit für den Prozess der Objektivation zu gewinnen, ist eine Präsentation von Eindeutigkeit notwen- dig, ein Heraustreten aus der Ambiguität. Doch wie Whitehead sagen würde: Diese Eindeutigkeit ist ein fake. Literatur BERGER, JOHN: Appearances. In: BERGER, JOHN: Understanding a Photograph. Hrsg. und eingeleitet von Geoff Dyer. London [Penguin] 2013, S. 61-98 BERGSON, HENRI: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hrsg. und übersetzt von Margarethe Drewsen. Mit einer Einleitung von Rémi Brague. Hamburg [Meiner] 2015 BERVE, ALJOSCHA: Spekulative Vernunft, symbolische Wahrnehmung, intuitive Urteile: Höhere Formen der Erfahrung bei A.N. Whitehead. Freiburg [Karl Alber] 2015 HAMPE, MICHAEL: Die Wahrnehmungen der Organismen. Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 1990 HUSSERL, EDMUND: Phantasie und Bildbewusstsein. Hrsg. von Eduard Marbach (nach Husserliana XXIII). Hamburg [Meiner] 2006 KANT, IMMANUEL: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Otfried Höffe. Berlin [Akademie Verlag] 2008 KROIS, JOHN MICHAEL: Für Bilder braucht man keine Augen. In: KROIS, JOHN MICHAEL; NORBERT MEUTER (Hrsg.): Kulturelle Existenz und symbolische Form. Philosophische Essays zu Kultur und Medien. Berlin [Parerga] 2006, 167-187 KROIS, JOHN MICHAEL: Philosophy and Iconology. In: LAUSCHKE, MARION; FRANZ ENGEL; JOHANNA SCHIFFLER (Hrsg.): Ikonische Formprozesse. Zur Philosophie des Unbestimmten in Bildern. Berlin [de Gruyter] 2018, S. 1-27 LACHMANN, ROLF: Einleitung. In: ALFRED NORTH WHITEHEAD: Kulturelle Symbolisierung. Hrsg. und übersetzt von Rolf Lachmann. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2000, S. 7-55 LOTTER, MARIA-SIBYLLA: Die metaphysische Kritik des Subjekts. Hildesheim [Olms] 1996 MERSCH, DIETER: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München [Fink] 2002 NORDSIECK, VIOLA: Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung. Die Philosophie der Erfahrung bei Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitehead. Freiburg [Karl Alber] 2015 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 253 Viola Nordsieck: Von der Fähigkeit, einen Stuhl zu ignorieren SAUER, MARTINA: Ästhetik und Pragmatismus. Zur funktionalen Relevanz einer nicht-diskursiven Formauffassung bei Cassirer, Langer und Krois. In: IMAGE, 20, 2014, S. 49-69 SCHWEMMER, OSWALD: Form als Prozess. Whiteheads Konzept einer prozesstheoretischen Metaphysik. In: LAUSCHKE, MARION; FRANZ ENGEL; JOHANNA SCHIFFLER (Hrsg.): Ikonische Formprozesse. Zur Philosophie des Unbestimmten in Bildern. Berlin [de Gruyter] 2018, S. 185-195 WHITEHEAD, ALFRED N.: Adventures of Ideas. New York [The Free Press] 1967 WHITEHEAD, ALFRED N.: Essays in Science and Philosophy. New York [Greenwood Press] 1968 WHITEHEAD, ALFRED N.: Process and Reality. New York [The Free Press] 1978 WHITEHEAD, ALFRED N.: Symbolism. Its Meaning and Effect. Barbour-Page Lectures University of Virginia. New York [Fordham University Press] 1985 WIESING, LAMBERT: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2005 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 254 [Inhaltsverzeichnis] David Jöckel Mythos und Bild. Roland Barthes’ Semiologie bildlicher Stereotypisierung Abstract In the reception of the works of Roland Barthes the dominance of La chambre claire has led to omit two texts that are of paramount importance for investi- gating the production of stereotypes through images. These two texts – The Photographic Message and The Rhetorics of the Image – analyse this kind of production with analytic and systematic rigour, orienting themselves in a much more obvious way to Barthes’ idea in the 1950s and 1960s of a general semiol- ogy that entails a critical or sociocritical dimension. In this paper I want to in- vestigate into a field of texts that bring together these three different threads in the oeuvre of Barthes: his notion of societal myths and of a scientific mythol- ogy, the project of a general semiology, and his image- and photography-re- lated works. I want to highlight that images have a special function towards the production of social stereotypes that lies in their denotative level. Especially images, more than texts, appear to be an objective depiction of reality, a simple denotation of what ›is‹. In der Rezeption von Roland Barthes’ Schriften hat die Dominanz der Hellen Kammer zwei für die Analyse der bildlichen Produktion von Stereotypen ge- wichtige Texte aus den frühen sechziger Jahren in den Hintergrund treten las- sen. In Die Photographie als Botschaft und Die Rhetorik des Bildes hat Barthes minutiös und mit analytischer Strenge die Produktion von Stereotypen durch bestimmte bildliche Techniken analysiert. Die semiologische Analyse des co- dierten Sinns von Bildern ist in dieser mittleren Phase von Barthes’ Werk noch IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 255 David Jöckel: Mythos und Bild strenger und systematischer am Projekt einer verallgemeinerten Semiologie orientiert und eng verbunden mit der ideologiekritischen Untersuchung gesell- schaftlicher Mythen. Der Aufsatz möchte den Zusammenhang, den Barthes’ bild- und insbesondere photographietheoretischen Arbeiten mit seinen my- thenkritischen Texten unterhalten, rekonstruieren. Mehr noch als durch Texte lassen sich durch Photographien aufgrund ihrer Anmutung einer ›reinen‹ Ab- bildung und unentstellten Denotation solche kulturellen Stereotypisierungen fixieren und mit der Aura des Natürlichen belehnen. Dem Aufweis dieser, wie Barthes sie nennt, politisch und ethisch brisanten ›naturalisierenden Funktion der Denotation in Bezug auf die Konnotation‹ gilt nun gerade die in der vorlie- genden Studie angestrebte Rekonstruktion von Barthes’ semiologischer Ana- lyse von photographischen Bildern, in der sich Semiologie, Mythenanalyse und Photographie als drei zentrale Stränge seines Werks verzahnen. Einleitung Auf einen ersten Blick stellt sich das Werk von Roland Barthes als so vielgestal- tig in seinen Themenfeldern und Begriffen dar, dass es schwerfallen mag, über- greifende konzeptuelle Linien zu erkennen und herauszupräparieren. Promi- nenz erlangt haben unter anderen dessen bild- und photographietheoretische Analysen in Die helle Kammer (1980) seine Überlegungen zum Verhältnis von Text und Körper in Die Lust am Text (1973), die intertextualitätstheoretischen Arbeiten wie Der Tod des Autors (1968) und die Sammlung essayhafter, sich einzelnen kulturellen Phänomenen widmender Miniaturen Mythen des Alltags (1957). Nimmt man nur diese Texte in den Blick, so wird man geneigt sein, diese isoliert voneinander zu verstehen. Barthes’ Oeuvre komponiert sich dem- zufolge aus Texten, die weder auf begrifflicher oder konzeptueller noch auf the- matischer Ebene miteinander kommunizieren; demzufolge handelt es sich nicht eigentlich um eine klar abgesteckte und konturierte Theorie, sondern um eine Sammlung disparater Arbeiten. Diese Ansicht erscheint umso stärker und besser fundiert, blickt man auf Sammlungen kritischer Essays wie Literatur o- der Geschichte (1963), Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn (dt. 1990) und Das Rauschen der Sprache (dt. 2006) – denn diese deuten schon im jeweiligen Untertitel darauf hin, dass es sich bei ihnen lediglich um buchför- mige Sammlungen zumeist sehr kurzer und verschiedensten Autoren, Texten, ästhetischen Objekten und Begriffen gewidmeter Arbeiten handelt. Die Kennzeichnung von Barthes als wahlweise ›Strukturalist‹ oder ›Post- strukturalist‹ tut dem keinen Abbruch, sondern stärkt eher diese Vermutung. Denn schaut man einmal von diesen Etiketten aus auf die Texte, scheint prima facie unklar zu sein, in welcher Weise nun genau es sich bei diesen um struk- turalistisch oder poststrukturalistisch angelegte und verfahrende Studien han- deln könnte. Dazu müsste, in einem ersten Schritt, unmissverständlich klar sein, welches das begriffliche und methodische Repertoire dieser beiden, IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 256 David Jöckel: Mythos und Bild vermeintlich homogenen Strömungen ist; und in einem zweiten Schritt müsste plausibilisiert werden können, in welcher Weise nun dieses Repertoire auf die Phänomene, denen sich die angesprochenen Texte zuwenden, angewendet wird. Denn diese zwei Schritte bilden das geläufige, überkommene Verständnis einer Theorie: sie setzt sich aus gewissen Begriffen, Methoden und bevorzugt untersuchten Gegenständen zusammen und führt dieses theoretische Arsenal appliziert auf gewisse Phänomene exemplarisch vor. Zwar wird man den zu- meist unter dem Strukturalismus rubrizierten Autoren – wie Ferdinand de Saussure, Roman Jakobson, Claude Lévi-Strauss oder Émile Benveniste – eine gewisse Verwandtschaft in ihren Begriffen und methodischen Zugängen nicht absprechen können – die Frage aber, ob die genannten Arbeiten Barthes tat- sächlich in diesem Sinn strukturalistisch verfahren, bliebe dabei aber noch zu beantworten.1 Im Falle des Poststrukturalismus ist bereits die Frage schwierig zu klären, durch welche Autoren, welche paradigmatischen, leitenden Texte und welche Begriffe und theoretische Leitlinien dieser ausgezeichnet ist. Ohne Zweifel hat es unterschiedliche Anläufe gegeben, den Poststrukturalismus mit klarer und genauer gezeichneten Konturen zu versehen; aber schon die Frage, ob sich die häufig diagnostizierte Präponderanz der Sprache, des Diskurses o- der des Texts – einmal abgesehen davon, ob dies nicht sehr unterschiedliche Phänomene sind – im Werk von Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles De- leuze, Jacques Lacan und eben Barthes auf dieselbe Weise zur Geltung bringt, ist unbeantwortet geblieben. Da ich, wie angedeutet, der Möglichkeit skeptisch gegenüberstehe, ge- wisse übergreifende Stränge im Werk von Barthes ausgehend von diesen bei- den ›Strömungen‹ oder ›Bewegungen‹ zu sondieren, möchte ich vorschlagen, das Augenmerk stärker auf die Etikettierung Barthes’ als ›Semiologe‹ zu rich- ten. Nun wird man sofort mit der Frage bei der Hand sein, weshalb es denn überhaupt nötig erscheinen könnte, dessen Arbeiten auf solche verbindende Linien abzutasten. Könnte es nicht eher angeraten sein, ganz gemäß eines grundlegenden intertextualitätstheoretischen Credos von der Azentrizität des ›Texts‹, es bei der bloßen Heterogenität und Disparatheit der Texte zu belas- sen? Ich glaube, ganz schlicht: nein.2 Denn es scheint mir nicht allein in exege- tischer Hinsicht – also für das enger gefasste Interesse an dessen Texten und 1 Mitunter spricht Barthes alternierend von strukturaler oder semiologischer Analyseform und Me- thode; auf die dahinterstehende Gemeinsamkeit von Strukturalismus und Semiologie gehe ich später noch ein. Gleichwohl hat Barthes sehr deutlich gemacht, dass sein Verhältnis zu derlei Strö- mungen oder Ismen wesentlich differenzierter und nuancierter ist, als es die Apostrophierung von Barthes als ihrem ›Vertreter‹ oder ›Mitglied‹ glauben macht. In dem kurzen Text Das semiologische Abenteuer deklariert er, mit einer gewissen ironischen Distanz zum Wort ›repräsentieren‹, zu Be- ginn: »Bevor ich auf die Fragen zurückkomme, die in diesem kleinen Psychodrama steckten, muß ich vorausschicken, daß ich die Semiologie (und auch den Strukturalismus) nicht repräsentiere: Kein Mensch kann eine Idee, einen Glauben oder eine Methode repräsentieren, erst recht niemand, der schreibt, dessen Wahlpraxis weder das Wort noch die Schriftstellerei ist, sondern das Schrei- ben« (BARTHES 1988b: 7f., Herv. im Original). 2 Barthes selbst hat zwar, allerdings 1967, also noch vor gewissen Wandlungen seines Werks, des- sen Heterogenität konzediert, dennoch einen Fluchtpunkt seiner Arbeiten gesehen, etwas wie ein gemeinsames Bezugsproblem oder eine perennierende Frage: nämlich das »Problem der Bedeu- tung der Kulturgegenstände« (BARTHES 2002c: 72). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 257 David Jöckel: Mythos und Bild deren internem Zusammenspiel –, sondern auch aus sachlichen Gründen, also für die Klärung und das Verständnis bestimmter Phänomene fruchtbar zu sein, die Texte von Barthes nicht isoliert, herausgenommen aus ihrem Zusammen- hang mit anderen, sondern in ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander zu ver- stehen. Da es hier nicht um eine Exegese von dessen Werk zu tun ist, entsteht jetzt die Frage, welches Phänomen oder welcher Sachverhalt es denn sein soll, den wir nur, oder vorsichtiger gesagt: besser verstehen können, wenn wir un- terschiedliche Texte Barthes’ in ihrem Zusammenhang zu lesen versuchen. Diese Frage soll hier über einen kurzen Umweg beantwortet werden; nachfol- gend stelle ich kurz die Gliederung und das Vorgehen des vorliegenden Texts dar. In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France am 7. Januar 1977, wenige Jahre vor seinem Tod am 26. März 1980, hat Barthes rückblickend auf seine Beteiligung an oder auf sein damaliges Verständnis der Semiologie in den 1950er Jahren diese wie folgt charakterisiert: Nun ist für mich die Semiologie von einer im eigentlichen Sinne passionierenden Bewe- gung ausgegangen: mir schien (um 1954), daß eine Wissenschaft von den Zeichen die Gesellschaftskritik definieren könnte und daß Sartre, Brecht und Saussure sich bei der Verfolgung dieses Ziels vereinigen lassen könnten; es handelte sich im Grunde darum zu verstehen (oder zu beschreiben), wie eine Gesellschaft Stereotypen hervorbringt, das heißt äußerste Formen des Künstlichen, die sie dann konsumiert wie angeborene Be- hauptungen, das heißt wie äußerste Formen des Natürlichen. Die Semiologie (zumindest meine Semiologie) ist entstanden aus einer Intoleranz gegenüber dieser Mischung aus Unaufrichtigkeit und gutem Gewissen, die die allgemeine Moral kennzeichnet und die Brecht als den größten Brauch getadelt hat. Die durch die Macht bearbeitete Sprache, das war das Objekt dieser ersten Semiologie (BARTHES 1980: 47f.). Aus dieser Äußerung erfährt man, dass sich viererlei unterschiedliche Begriffe für Barthes in einen engeren Zusammenhang rücken lassen: die Semiologie, die Wissenschaft von den Zeichen, die Tradition der Gesellschaftskritik, das Phänomen sozialer Stereotypen und der Sachverhalt, dass sich geschichtlich und sozial hervorgebrachte Gegenstände wie Natur geben oder naturalisiert werden können. Davon ausgehend lässt sich zumindest vermuten, dass sich eine gewisse Anzahl von Barthes’ Texten der näheren Explizierung dieses Zu- sammenhangs verschreibt; semiologische Texte wären in dem Sinne gesell- schaftskritisch projektiert, als sie die Erzeugung von Stereotypen und die Na- turalisierung von sozialen Gebilden untersuchen. Um nachzeichnen zu können, was es – um nur zwei sich anschließende Fragen zu stellen – in diesem Kontext genauer heißen mag, dass die Semiologie eine gesellschaftskritische Dimen- sion hat, und in welchem Verhältnis Stereotypen und Naturalisierung zueinan- der stehen, müssen insofern unterschiedliche Texte und darin vorfindbare Be- griffe herangezogen werden; denn in Barthes’ Werk findet sich kein Text, der dafür die Funktion einer systematischen, tragenden Grundlegung ausüben könnte (auch das Nachwort zu den Mythen des Alltags vermag dies nicht zu leisten). Es gehört nun aber zu einem der charakteristischen Züge dieses Pro- jekts der Semiologie, dass sie sich, anders als in dieser Äußerung insinuiert, nicht allein mit der Sprache im engeren Sinne, sondern mit zahlreichen IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 258 David Jöckel: Mythos und Bild unterschiedlichen kulturellen Gegenständen befasst. Während indes die Lingu- istik sprachliche Zeichen in diesem engen Verständnis untersucht, handelt die Semiologie von Zeichen im Allgemeinen: das können gestische und mimische Signale, Krankheitssymptome, Verkehrssymbole und, wie wir gleich sehen werden, noch weitaus mehr verschiedene Gattungen von Zeichen sein. Ausge- hend von diesem weit bemessenen Gegenstandsfeld der Semiologie hat Barthes auch Bilder und Photographien untersucht. In dem für seine semiolo- gische Arbeit zentralen Werk Mythen des Alltags stellen diese daher kein mar- ginales, sondern ein gleichberechtigtes Material der Analyse dar. Wenn es sich nun also die Semiologie angelegen sein lässt, auch Bilder und Photographien mittels ihres semiologischen Vokabulars zu beforschen, und wenn die Semio- logie eine hervorstechende gesellschaftskritische Dimension einbegreift, be- steht ein berechtigtes Interesse danach zu fragen, ob Barthes denn diese drei Stränge seines Werks einmal zusammengeführt hat. Mit anderen Worten: gibt es Texte von Barthes, in denen er gleichermaßen bildtheoretisch vorgeht, se- miologisch argumentiert und gesellschaftskritische Aspekte einbringt? Oder, nochmal anders: hat Barthes in semiologischer Manier untersucht, wie durch Bilder und Photographien gesellschaftliche Stereotypen erzeugt und soziale Phänomene naturalisiert werden? Ich möchte, ganz dezidiert, sagen: ja. Zu die- sen Texten zählen zum einen bestimmte Abschnitte der Mythen des Alltags – wie ›Schockphotos‹, ›Photogene Kandidaten‹ und ›Die große Familie der Men- schen‹ –, zum anderen gibt es zwei Texte, die sich wesentlich systematischer, in ihrer Terminologie und ihrem Vorgehen strenger mit diesem Zusammen- hang von Bild, Stereotypie und Naturalisierung befassen – nämlich Die Photo- graphie als Botschaft von 1961 und die Rhetorik des Bildes von 1964. Diese beiden Texte sollen daher im Zentrum der vorliegenden Studie stehen. Von ihnen aus lässt sich zeigen, dass Barthes über ein heute noch interessantes, gehaltvolles Modell verfügt, mit dem sich präziser verstehen lässt, wie durch Bilder und insbesondere Photographien gesellschaftliche Stereotypen erzeugt und mit dem Anschein natürlichen Daseins belehnt werden. Die Idee einer se- miologisch verfahrenden Gesellschaftskritik liegt demgemäß in der Aufde- ckung der Verfahren, wie diese Stereotypisierung und Naturalisierung vonstat- ten gehen. Kritik heißt dann: dasjenige, was naturgegeben erscheint, als ge- sellschaftlich erzeugt zu dechiffrieren; Ideologie heißt, im Umkehrschluss: dem, was gesellschaftlich erzeugt worden ist, ein natürliches Gepräge zu ge- ben. Von anhaltender Aktualität sind Barthes’ diesbezügliche Überlegungen deshalb, weil die gesellschaftliche, technologisch bedingte Zirkulation von Bil- dern, die eine solche ideologische Wirkung zu entfalten vermögen, gegenüber der damaligen Zeit, also den 1960er Jahren, stark zugenommen hat, was, glaube ich, auf der Hand liegen dürfte und schon damals, etwa unter dem 1962 aufgekommenen, geflügelten Wort vom ›Ende der Gutenberggalaxie‹ (McL- uhan), zu ahnen war. Im Folgenden gehe ich so vor, dass ich zunächst (I.) skizziere, worum es sich bei der Semiologie handelt. Ich werde dabei auf dreierlei besonderen Wert legen: (i) auf den grundlegenden Aspekt der Intelligibilität oder IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 259 David Jöckel: Mythos und Bild Bedeutungshaftigkeit, durch die vermittelt uns Objekte entgegentreten; (ii) die relationale oder strukturale Konstitution solcher Bedeutungen – ein Aspekt, den Barthes insbesondere mit der relationalen Konzeption der Soziologie Pierre Bourdieus gemein hat; (iii) die an Wiederholungsprozesse gebundene Konstitution von Bedeutung – ein komplementärer Aspekt, der insbesondere im Hinblick auf das Verständnis von Vorgängen der Stereotypisierung wichtig ist. Nach diesem Teil schließt sich (II.) ein Abschnitt an, in dem ich mich enger an die beiden schon erwähnten bildsemiologischen Texte halte, um nachzu- zeichnen, in welcher Weise nun für Barthes die bildliche Erzeugung von Stere- otypen von anderen Modi solcher Erzeugung differiert. Am Schluss steht (III.) ein Ausblick. Darin suche ich schließlich noch einmal zu verdeutlichen, was Barthes’ Idee einer bildtheoretisch fruchtbaren Semiologie zur Klärung der Frage beitragen könnte, wie stereotype kulturelle Deutungsmuster des Eigenen und Fremden erzeugt, stabilisiert und tradiert werden. In diesem Sinne weisen auch aus Barthes’ Perspektive Bilder immer eine politische oder ethische Di- mension auf. I. Die Idee einer allgemeinen Semiologie Wenn man so will – und bei allen Problemen mit solchen Periodisierungen – erstreckt sich Barthes’ semiologische Periode von Mitte der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre. Das kann man jedenfalls seiner Selbstauskunft in dem klei- nen Text Das semiologische Abenteuer (1974) entnehmen, in dem er diese Pe- riode überdies in drei Phasen einteilt (BARTHES 1988a: 8-11). So habe er sich zunächst fasziniert gesehen durch die Möglichkeiten, die ihm das semiologi- sche Programm in den Mythen des Alltags von 1957 eröffnete; darauffolgend habe es, mit der Sprache der Mode (1967) und den Elementen der Semiologie (1965), eine strenger wissenschaftliche, kodifizierende Phase gegeben; und am Beginn der 1970er Jahre habe sich, so Barthes, die Semiologie durch die Ein- flüsse von Julia Kristeva, der Tel Quel-Gruppe, von Jacques Derrida und ande- ren stärker in Richtung einer allgemeinen Texttheorie entwickelt. Am Beginn dieses Abenteuers stand für Barthes die Durchführung eines schon bei de Saussure angedeuteten, aber noch nicht eigens entfalteten Pro- gramms. Demnach ist die Linguistik nur eine spezielle Abteilung der Semiolo- gie als eine breiter angelegten Wissenschaft. Wie bereits erwähnt, stehen in ihrem analytischen Fokus nicht allein sprachliche Zeichen, sondern eine Viel- zahl von Objekten, denen allerdings eines gemeinsam ist: sie alle sind auf die ein oder andere Weise sinnhafte, bedeutungstragende oder intelligible Phäno- mene. Das ist das Kriterium, das den Gegenstandsbereich der Semiologie ab- steckt. Sie erstreckt sich auf alle eine Bedeutung tragende Objekte und sucht zu verstehen, wie es zur Erzeugung von derlei Bedeutungen kommt, in welcher Weise sich diese Bedeutung als variabel erweist und ob es bedeutungslose Objekte gibt usw. Barthes hat einmal, in einem kleinen Text namens Die Ma- chenschaften des Sinns, den initialen Gedanken der Semiologie so formuliert, IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 260 David Jöckel: Mythos und Bild dass dessen Alltagsrelevanz und Lebensnähe genauso wie deren Faszinations- kraft ins Auge springen dürfte: Ein Kleidungsstück, ein Auto, ein Fertiggericht, eine Geste, ein Film, ein Musikstück, ein Bild aus der Werbung, eine Wohnungseinrichtung, ein Zeitungsartikel – offenbar lauter bunt zusammengewürfelte Gegenstände. Was können sie miteinander haben? Zumindest dies: Sie alle sind Zeichen. Bewege ich mich durch die Straßen – oder durch das Leben – und treffe auf diese Gegenstände, so unterziehe ich sie alle notfalls unbewußt derselben Aktivität, nämlich einer bestimmten Lektüre: Der moderne Mensch, der Stadtmensch, liest ununterbrochen: er liest zunächst und hauptsächlich Bilder, Gesten, Verhaltensweisen: dieses Auto unterrichtet mich über den gesellschaftlichen Status seines Besitzers, dieses Kleidungsstück unterrichtet mich genauestens über das Maß an Konformismus oder Ext- ravaganz seines Trägers, dieser Aperitif (Whisky, Pernod oder Weißwein-Cassis) über den Lebensstil meines Gastgebers (BARTHES 1988c: 165, Herv. im Original) Der Einsatzpunkt der Semiologie ist mithin die Erfahrung, dass wir im alltägli- chen Leben nicht schlichten, materiell so oder so verfassten Objekten gegen- überstehen, sondern diese Objekte immer vermittelt durch eine gewisse Be- deutung wahrnehmen und erleben. Das ist gemeint, wenn Barthes davon spricht, dass wir Phänomene und Objekte wie Kleidung, Gesten, Filme, Möbel, Bilder, Musikstücke etc. lesen oder entziffern. Damit ist selbstverständlich nicht geleugnet, dass sie ein materielles Substrat haben: Kleidung besteht aus ge- wissen Stoffen, Gesten lassen sich nur durch Körperteile vollführen, Filme müssen auf einem Monitor oder einer Leinwand gesehen werden, usw. Und obwohl wir uns solchen Materialien im Einzelnen zuwenden und von ihrer sinn- haften Vermittlung absehen können, sind sie im Alltag in den meisten Fällen sehr viel weniger relevant als der jeweilige Sinn, den wir den Gegenständen, die aus den Materialien geformt sind, attribuieren. Es besitzen also, so Barthes (1988d: 190) entschieden, »[a]lle Objekte, die einer Gesellschaft angehören, […] einen Sinn; um sinnfreie Objekte zu finden, müßte man sich vollständig impro- visierte Objekte vorstellen; doch in Wirklichkeit gibt es keine«. Zwar gibt es Grenzfälle, Gegenstände, die uns zunächst insignifikant anmuten, fremdartige Objekte, als deren paradigmatischer Fall uns zumeist gewisse Kunstwerke er- scheinen. Aber selbst »das ausgefallene Objekt als solches liegt nicht außer- halb des Sinns; es bewirkt die Suche nach dem Sinn: es gibt Objekte, vor denen wir uns fragen: was ist das?« (1988d: 196, Herv. im Original) Die Insignifikanz, die semantische oder sinnhafte Leere und Armut eines Objekts ist mithin nicht das völlige Vakuum an Sinn oder dessen gänzliche Absenz, sondern lediglich die Einsatzstelle für die Suche nach ihm.3 3 »Wie viele wirkliche bedeutungsleere Bereiche durchlaufen wir während eines Tages?«, fragt sich Barthes im Nachwort zu den Mythen des Alltags. »Sehr wenige, manchmal gar keinen. Ich bin am Meer: Gewiß, es enthält keinerlei Botschaft. Doch am Strand, wieviel semiologisches Material! Fahnen, Werbesprüche, Schilder, Bekleidungen, sogar Sonnenbräune – sie alle sind Botschaften, sie alle teilen mir etwas mit« (BARTHES 2010: 255Fn., Herv. im Original). Die Parallelstelle zu der oben zitierten Passage, wonach es keine sinnfreien Objekte in der Gesellschaft gibt, lautet in den Elementen der Semiologie wie folgt: »[D]a unsere Gesellschaft nur standardisierte, normalisierte Gegenstände erzeugt, sind diese Gegenstände zwangsläufig die Realisierungen eines Modells, die Worte einer Sprache, die Substanzen einer signifikanten Form; um einen unbedeutenden Gegen- stand zu finden, müßte man sich ein absolut improvisiertes Gerät vorstellen, das in nichts einem existierenden Modell ähnelt (Claude Lévi-Strauss hat gezeigt, daß sogar die Bastelei Suche nach Sinn ist). […] Diese universelle Semantisierung des Gebrauchs ist entscheidend: sie bringt die Tat- sache zum Ausdruck, daß es Reales nur gibt, wenn es intelligibel ist, und müßte zur Folge haben, IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 261 David Jöckel: Mythos und Bild Objekte erscheinen also, so Barthes, stets in gewisser Weise, also in variablem Maße semantisiert, mit Sinn überzogen. Wenn wir ein Objekt wahr- nehmen, lesen wir es, wie gesagt, auf gewisse Weise; und dies findet uno actu statt: in einem Zuge sehen wir das Objekt und nehmen dessen Bedeutung wahr. Im Falle beispielsweise eines eine bestimmte Form romantischer Leiden- schaft konnotierenden Rosenstraußes gibt es nicht zwei einander beigeordnete Phänomene, nicht zwei voneinander geschiedene Relata, »einen Signifikanten und ein Signifikat, die Rosen und meine Leidenschaft«, sondern »genauge- nommen gibt es hier nur ›verleidenschaftlichte‹ Rosen« (BARTHES 2010: 256). Oder, um ein Beispiel aus dem oben zitierten Passus aufzugreifen: wir sehen nicht einen Aperitif einer bestimmten Sorte und Marke als einen isolierten Sig- nifikanten, sondern das Signifikat, der Sinn, auf den er uns verweist, ist unmit- telbar in unserer Wahrnehmung gegenwärtig. Zwar lassen sich Signifikant und Signifikat, das materielle Objekt und der Sinn, wie erwähnt, analytisch vonei- nander trennen, aber in unserer Wahrnehmung sind beide auf eine Weise mit- einander verschränkt, die Barthes in die Formel fasst, wonach wir stets »etwas, das als etwas gilt« (bARTHES 2010: 254, 257, Herv. im Original), erleben.4 Wir nehmen eine erhobene flache Hand und ein begleitendes Lächeln als wohlwol- lenden Gruß wahr; den erhobenen Zeigefinger als Ermahnung; die schlecht sitzende Krawatte als betonte Lässigkeit; das raumgreifende Laufen eines Man- nes als Zeichen übersteigerter Männlichkeit; usw. Was heißt es nun aber, so wird man sogleich wissen wollen, der kultu- relle Sinn sei in der Wahrnehmung eines Phänomens ›gegenwärtig‹? Ersicht- lich besitzen Objekte von sich aus keinen Sinn und auch keinen ein für allemal, über alle Zeiten hinweg stabilen Sinn. Der Sinn, den bestimmte Rituale, Werk- zeuge, mimische Regungen oder Bauwerke etwa in der griechischen oder rö- mischen Antike angenommen hatten, ist uns nicht mehr geläufig. Auf dem Genter Altar Jan van Eycks, um dafür ein bekannteres Beispiel zu bemühen, sind vielerlei Figuren und Gegenstände abgebildet, deren religiöse Bedeutung uns heute nicht mehr direkt, sondern allenfalls über eine geduldige Auseinan- dersetzung mit der christlichen Kultur des Mittelalters zugänglich ist; sie sind, um einen sprechenden Ausdruck aufzugreifen, nicht mehr sinnfällig. »Das Ob- jekt«, so Barthes pointiert in Die Semantik des Objekts von 1964, ist polysemisch, das heißt, es ist mehreren Lektüren zugänglich: vor einem Objekt sind fast immer mehrere Lektüren möglich, und zwar nicht nur von einem Leser zum anderen, sondern manchmal auch im Inneren ein und desselben Lesers. Anders ausgedrückt be- sitzt jeder Mensch in seinem Inneren sozusagen mehrere Wortschätze, mehrere Lesevor- räte je nach der Zahl der Kenntnisse, der kulturellen Niveaus, die ihm zu Gebote stehen (BARTHES 1988d: 195). Der Sinn, auf den uns ein Phänomen verweist, differiert mithin zwischen un- terschiedlichen Individuen verschiedener Epochen und Gesellschaften, aber schließlich Soziologie und Soziologik zu vereinen« (BARTHES 1983: 36). 4 Diese der Wahrnehmung eigene Sehen-als-Struktur ist ein Aspekt, der Barthes semiologische Überlegungen in eine gewisse, näher auszulotende Nähe zu Martin Heidegger (1993: 148ff.) und Ludwig Wittgenstein (1984) bringt, die beide auf je unterschiedliche Weise von einem solchen her- meneutischen oder auslegenden Als-Charakter der Wahrnehmung gesprochen haben. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 262 David Jöckel: Mythos und Bild auch zwischen Individuen derselben Epoche und derselben Gesellschaft ebenso wie zwischen demselben Individuum zu einem und zu einem anderen Zeitpunkt. Es gibt eine Polysemie, eine Pluralität des Sinns, und darum eine Pluralität der Lektüren und Codes. Die Historiker/innen mittelalterlicher Kunst werden den erwähnten Altar in einer anderen Weise lesen als ein Laie5; das Lächeln eines Kassierers wird dem einen als mimischer Ausdruck alltäglicher Höflichkeit, dem anderen als Zeichen einer tiefergehenden Sympathie erschei- nen; usw. Gleichwohl, und obwohl die Bedeutung im diachronen, historischen Verlauf variiert und nicht a priori fixiert ist, ist die mit bestimmten Objekten verbundene Bedeutung weder einer schieren, permanenten Variation ausge- setzt noch beliebig, nach individueller Maßgabe veränderbar. Das System von Bedeutungen ist in diesem Sinne eine soziale Erbschaft, sie ist Bestandteil ei- ner gesellschaftlichen Tradition und tritt dem einzelnen Individuum als etwas, das es zunächst passiv zu übernehmen hat – als fait social, gesellschaftliche Tatsache, mit Emile Durkheim gesprochen – gegenüber. »Jede Gesellschaft teilt die Objekte auf ihre Weise ein, und diese Weise bildet das eigentlich Intel- ligible, das sie sich verleiht«, so Barthes (BARTHES 1988g.: 173); und »wenn wir leben, haben wir mehr oder weniger bewußt eine bestimmte Einteilung der Objekte verinnerlicht, die uns von unserer Gesellschaft aufgezwungen oder suggeriert wird« (BARTHES 1988d: 191). Diese Art nun der gesellschaftlichen Konstitution von Sinn lässt sich über zwei Momente genauer aufschlüsseln, auf die ich nun zu sprechen kommen möchte, nämlich (i) die Strukturalität oder Relationalität und (ii) die Reidentifizierbarkeit, Klassifizierbarkeit und Wieder- holbarkeit von Signifikanten als den bedeutungstragenden Elementen. Diese Präzisierung ist notwendig, um genauer verstehen zu können, in welcher Weise von einer ›Sprache‹ die Rede ist, wenn man, wie es auch im Alltag geläufig ist, von der Bildsprache eines Regisseurs, von einem beredten Schweigen, von einem mit einem gewissen Design verbundenen Ausdruck ge- sprochen wird. Dass Phänomene, und nicht nur sprachliche Ausdrücke, von uns als bedeutungstragend erlebt werden, konnte bisher ja als ein plausibler Ausgangspunkt erscheinen, aber – kann man dies in irgendeiner Weise präzi- sieren? So hatten, wie Barthes in einem Gespräch über sein Buch Die Sprache 5 Ich möchte hier kurz auf eine Parallele zwischen Barthes’ Überlegungen und Pierre Bourdieus Ausführungen in seinem noch sehr streng strukturalistisch argumentierenden Text Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung zu sprechen kommen. Denn dort kritisiert Bourdieu wiederkehrend, was er den ›Mythos des reinen Auges‹ nennt: unsere Wahrnehmung sei demgegenüber nicht rein und unbefleckt, sondern immer schon gesellschaftlich überformt, und sie variiert für Bourdieu ebenso wie für Barthes zwischen den Epochen und Milieus. Im folgenden Zitat Bourdieus findet man so einerseits die Generalisierung der grundlegenden semiologischen Einsicht in die Semantizität oder Bedeutungshaftigkeit der Wahrnehmung von Objekten ebenso wie den Fokus auf die Milieugebundenheit der Fähigkeit zur Lektüre von verschiedenen Bedeu- tungsschichten: »Jedes kulturelle Produkt, von der Küche über den Western bis zur seriellen Musik, kann zum Gegenstand verschiedener Arten von Verständnis werden, die vom einfachsten und all- täglichsten Erlebnis bis zum gebildeten Genuß reichen. Die Ideologie vom ›reinen Auge‹ geht an der Tatsache vorbei, daß das Gefühl oder die Wahrnehmung, die das Kunstwerk hervorruft, einen unterschiedlichen Wert haben kann, je nachdem, ob das ästhetische Erlebnis dabei stehenbleibt oder sich einer angemessenen Erfahrung des Kunstwerks einfügt« (BOURDIEU 1974: 167f.). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 263 David Jöckel: Mythos und Bild der Mode hinsichtlich dieses Problems sagt, zwar »Schriftsteller wie Balzac, Proust oder Michelet […] bereits die Existenz einer Kleidersprache postuliert, doch es galt zu versuchen, dem, was man allzu leichthin ›Sprachen‹ nennt (Sprachen des Films, der Fotografie, der Malerei usw.), einen technischen und nicht mehr nur metaphorischen Inhalt zu geben« (BARTHES 2002a: 60).6 Dieses technischere, wissenschaftlich strengere und systematische Gepräge hat er seinem semiologischen Ansatz vor allem in den, auch zeitlich benachbarten Werken Die Sprache der Mode (1967) (BARTHES 1985a) und den Elementen der Semiologie (1964) (BARTHES 1983) zu geben versucht. Wir können diese beiden Werke freilich nicht in extenso abschreiten und also nicht diese strenge Gestalt der Barthes’schen Semiologie en detail rekonstruieren. Zunächst sei aber, be- vor ich auf die erwähnten beiden Aspekte zu sprechen komme, darauf hinge- wiesen, dass ein wesentliches Problem der Rede von einer Pluralität von semi- ologisch untersuchbaren Sprachen darin liegt, die signifikativen Einheiten oder Elemente, aus denen sich solcherlei Sprachen komponieren, zu profilieren. Al- lererst muss mithin feststellbar sein, welches die voneinander abgesetzten Ein- heiten einer Sprache wie etwa der Mode, der Stadt oder einer kulinarischen Sprache sind. Dieses Problem der analytischen Aufgliederung und Artikulation der einzelnen Elemente – der articuli – einer Sprache stellt sich allerdings nur von der Warte der Wissenschaftler/in her, nicht im alltäglichen Leben. Auf einer noch basaleren Ebene ist es allerdings notwendig, dass diese Elemente eine rekurrente, typische, wiederholbare Gestalt haben. So wie ein sprachliches Zei- chen eine gewisse ideale Form, unbeschadet der Varianzen seiner empirischen Realisierungen, aufweisen muss, so müssen wir auch als Zeichen geltende Ob- jekte re-identifizieren können, damit sie als Zeichen fungieren können. Dass eine bestimmte Sorte Aperitif, eine Automarke, ein Kleidungsstil, ein Brillen- modell einen spezifischen Lebensstil indiziert oder bedeutet, diesen Sinn kön- nen diese Objekte nur erlangen, wenn wir sie in unterschiedlichen Kontexten als dieses oder jenes bedeutend zu lesen gelernt haben. »Ein Zeichen ist, was sich wiederholt«, so formuliert Barthes diese rohe, einfache Implikation. »Ohne Wiederholung kein Zeichen, da man es nicht wiedererkennen könnte und das Zeichen auf dem Wiedererkennen beruht« (BARTHES 1990g: 315, Herv. im Origi- nal). Die Semiologie als Wissenschaft der Zeichen ist demnach eo ipso eine Wissenschaft wiederholbarer, typischer Elemente. So wie »jedes einzelne Zei- chen zu einem Element der Sprache« deswegen wird, »weil sich die Zeichen von einem Diskurs zum anderen sowie innerhalb ein und desselben Diskurses wiederholen« und so »das Sprechen in der ständigen Wiederkehr identischer Zeichen besteht« (BARTHES 1983: 14), gilt diese identische Rekurrenz auch von den anderen Zeichen im Phänomenbereich der Semiologie. 6 In ganz ähnlicher Weise formulierte Barthes das Problem in seinem Vortrag Semiologie und Stadtplanung von 1967: »Die Stadt ist ein Diskurs, und dieser Diskurs ist wirklich eine Sprache: Die Stadt spricht zu ihren Bewohnern, wir sprechen unsere Stadt, die Stadt, in der wir uns befinden, einfach indem wir sie bewohnen, durchlaufen und ansehen. Das Problem besteht allerdings darin, einen Ausdruck wie ›Sprache der Stadt‹ aus dem rein metaphorischen Stadium herauszuführen« (BARTHES 1988e: 202f.). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 264 David Jöckel: Mythos und Bild Häufig, und Barthes selbst ebenfalls, hat man daher die Saussure’sche Unterscheidung von langue und parole aufgegriffen, um die zwiefältige Exis- tenzweise der Sprache wie jedes anderen Zeichensystems zu charakterisieren: das instituierte System von Bedeutungen, die langue, bedarf einer fortgesetz- ten Aktualisierung, eines Gebrauchs im konkreten Sprechen, der parole. Barthes hat es in den Elementen der Semiologie daher unternommen, diese Unterscheidung von langue/parole tentativ für die semiologischen Bereiche der Mode, der Nahrung, des Mobiliars und der Autos durchzuspielen. Wichtig für uns ist an dieser Stelle aber lediglich, dass jedes semiologische Zeichen dieser Wiederholbarkeit unterworfen ist, also in seiner Verwendung (parole) auf eine gewisse stabilisierte, instituierte Bedeutung (langue) angewiesen ist, die es immer aufs Neue realisiert. Am zweiten Aspekt des strengeren Gebrauchs des Terminus ›Sprache‹ im semiologischen Sinn lässt sich eine strukturalistische Erbschaft in der Se- miologie feststellen. Barthes erachtet nämlich die Bedeutung von Objekten nicht allein als aus Wiederholungsprozessen hervorgehend, sondern sie wird zudem relational oder struktural konstituiert. Eine intrinsische Bedeutung füh- ren die Objekte nicht nur deswegen nicht mit sich, weil wir es erst durch den wiederholten Umgang mit ihnen oder ihre wiederholte Wahrnehmung erler- nen, ihnen eine Bedeutung zuzuschreiben, sondern eine Bedeutung erlangen sie überdies auch erst dadurch, dass sie sich von anderen Objekten unterschei- den, und dies auf zweierlei Weise, nämlich in paradigmatischer und syntagma- tischer Perspektive. Die Paradigmatik meint das virtuelle System von aufeinan- der bezogenen, also relationierten Elementen; im obigen Beispiel wäre das der Whisky, unterschieden vom Weißwein und Pernod; seine Bedeutung bezöge der Whisky also aus seiner relationalen Stellung gegenüber einer Reihe ande- rer, momentan nicht-präsenter Sorten von Alkoholika. Eine besondere Ausfor- mung hat eine solche paradigmatische Relationierung von Elementen etwa in Bourdieus Die feinen Unterschiede (1979) gefunden, in dem die einzelnen Be- rufe und Milieus in einem Raum situiert werden, sodass sie nur durch ihren Unterschied zu anderen Berufen und Milieus ihre distinkte Bedeutung und Qua- lität erhalten.7 Die syntagmatische Ebene hingegen meint eine verkettende Relationie- rung bedeutungstragender Elemente: ein Element gewinnt seinen Sinn hier also nicht nur seine Stellung in einem virtuellen System, sondern aus seiner 7 Für Bourdieu war es die »entscheidende Neuheit« des Strukturalismus, »daß mit ihm die struk- turale Methode oder einfacher das relationale Denken in die Sozialwissenschaften eingeführt wurde, das mit dem substantialistischen Denken bricht und dazu führt, jedes Element durch die Beziehungen zu charakterisieren, die es zu anderen Elementen innerhalb eines Systems unterhält und aus denen sich sein Sinn und seine Funktion ergeben« (BOURDIEU 1987: 11f.). Weil jedes Ele- ment innerhalb eines solchen Systems eine gewisse Bedeutung trägt oder symbolisiert, gibt es auch für Bourdieu eine Analogie zwischen Sprache im engeren Sinn und anderen Sprachen – etwa der Mode, des Konsums, der Geschlechter usw. So werden »unterschiedlichen Praktiken, Besitz- tümer, Meinungsäußerungen, sobald sie mit Hilfe der entsprechenden sozialen Wahrnehmungs- kategorien, Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien wahrgenommen werden, zu symboli- schen Unterschieden […] und [bilden] eine regelrechte Sprache« (BOURDIEU 1998: 21f.). Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Rezeption französischer Autoren in Deutschland, dass man diese Parallelen zwischen Bourdieu und Barthes kaum bemerkt hat. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 265 David Jöckel: Mythos und Bild Position gegenüber ihm unmittelbar, aktuell Vorausgehenden und ihm Nach- folgenden. »[I]n der Kette der gesprochenen Wörter« erhält »jedes Glied […] seinen Wert nur aus seinem Gegensatz zu dem, was ihm vorausgeht, sowie zu dem, was ihm folgt« (BARTHES 1983: 49). Während man dies häufig in zeitlichen Begriffen artikuliert – das Syntagma ist demnach eine prozessuale Verkettung von Elementen –, kann es sich auch um eine synchronische Kombination von Elementen handeln. So wie wir in sprachlichen Äußerungen mehrere Wörter zu einem Satz verketten und die Wörter daher je nach ihrer Stellung einen un- terschiedlichen Sinn tragen – wobei die diachrone, zeitliche Dimension im Vor- dergrund ist –, so können wir unter dieser Perspektive auch die Kleidung be- trachten, bei der die synchrone Relationierung einzelner Kleidungsstücke eher ins Auge fällt. »In homo homini lupus steht lupus in bestimmten Beziehungen zu homo und homini«, schreibt Barthes 1962 in Die Imagination des Zeichens. Und er schreibt weiter: Bei der Kleidung sind die einzelnen Teile einer Kleidungsart nach bestimmten Regeln mit- einander verbunden: einen Pullover und eine Lederjacke anziehen bedeutet zwischen den beiden Teilen eine vorübergehende aber signifikante Verbindung schaffen, die jener ana- log ist, die die Wörter eines Satzes vereinigt. Dieser Verbindungsplan ist der des Syntag- mas, und wir nennen diese dritte Beziehung deshalb syntagmatische Beziehung (BARTHES 2006a: 94f., Herv. im Original). Dieses syntagmatische, kombinatorische Zusammen- und Aufeinandereinwir- ken der Elemente kann den Effekt haben, einen globalen, übergreifenden Sinn zu vermitteln, der auf keines der Elemente allein zurückgeht. Dass es sich bei den auf bestimmte Nationen oder Volksgruppen bezogenen Stereotypen oft- mals um solche globalen Bedeutungskomplexe handelt, werden wir gleich, im zweiten Abschnitt sehen. Um das Vorstehende zusammenzufassen: in Barthes’ Verständnis der Semiologie hat diese ein sehr weit gefasstes Gegenstandsgebiet; alle mit einer gewissen, sozial etablierten und tradierten Bedeutung versehenen Objekte und Phänomene, von den Nahrungsmitteln, den Möbeln, Kleidungsstücken, Fort- bewegungsmitteln, Filmen, Gesten, Frisuren bis hin zu Blicken können semio- logisch analysiert werden. So gibt es unterschiedlichste Sprachen, etwa die Sprache der Mode und die Sprache der Liebe (BARTHES 1988a), wie sie Barthes selbst schon minutiös analytisch zu rekonstruieren unternommen hat, oder, mit einem Fragezeichen versehen, die Sprache der Malerei (BARTHES 1990c). ›Sprache‹, so kann man seinen Schriften entnehmen, bedeutet dann im We- sentlichen ein System von wiederholbaren, signifikanten Elementen, deren Sinn sich durch ihren distinktiven Bezug auf Elemente derselben Gruppe kon- stituiert – das ist die Dimension der Relationalität oder Strukturalität –, und de- ren Sinn sich auf einer konkreteren Ebene je nach der unmittelbaren Kombina- tion und Assoziation mit anderen Elementen verändert – das ist der Aspekt der syntagmatischen Anordnung von Elementen. Durch ihre Wiederholung und durch ungebrochene, unbefragte Tradierung können solcherlei bedeutungstra- gende Elemente zudem eine gewisse Stereotypizität aufweisen. Prägnant, aber auch mit einem gewissen Mangel an Differenzierung, hat Barthes diesen Sach- verhalt in Die Lust am Text so formuliert: IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 266 David Jöckel: Mythos und Bild [A]lle offiziellen Sprachinstitutionen sind Wiederkäumaschinen: die Schule, der Sport, die Werbung, die Massenware, der Schlager, die Nachrichten sagen immer die gleiche Struk- tur, den gleichen Sinn, oft die gleichen Wörter: die Stereotypie ist ein politisches Faktum, die Hauptfigur der Ideologie« (BARTHES 1974: 62). Stereotypien sind mithin Ablagerungen, Sedimente von Wiederholungspro- zessen; Frauenzeitschriften als Elemente der Massenkultur befördern etwa, so Barthes, ein »stereotypes Bild der Weiblichkeit« und ein »typische[s] Frauen- bild«, die zur »Projektion des kollektiven Imaginären« (BARTHES 2002b: 66) ge- hören. Das Problematische liegt für Barthes nicht allein in der Redundanz und Stereotypie solcher Bilder und Projektionen, sondern vor allem darin, dass sie, durch ihre kaum variierende Wiederholung, als natürlich erscheinen. Dieser »Verlust der Historizität der Dinge« ist es, »der den Mythos ausmacht« (BARTHES 2010: 295). Mythisch ist für Barthes die Naturalisierung von kulturell und sozial erzeugten, also auch veränderlichen Bedeutungskomplexen. »[D]er eigentliche Zweck der Mythen ist es, die Welt unveränderlich zu machen« (BARTHES 2010: 311). Wie man sich nun eine solche Stereotypisierung und Naturalisierung von Sinn durch Bilder und Photographien vorzustellen hätte, müssen wir uns jetzt überlegen.8 II. Bildsemiologische Analyse von Stereotypisierungen Barthes hat nicht nur Texte zu verschiedenen bildenden Künstlern – etwa André Masson, Cy Twombly, Bernard Réquichot – geschrieben, sondern auch selber »Bildtexte[]« (BARTHES 2002d: 389) verfertigt, in denen Bilder und Photogra- phien eine gegenüber dem eigentlichen Text nicht unwichtige Rolle spielen: Das Reich der Zeichen (1970), Über mich selbst (1975) und Die helle Kammer (1980). Wir hatten ja auch schon notieren können, dass Bilder, Photographien und Filme gleichberechtigte Forschungsgegenstände der Semiologie sind. Aber in welcher Weise sind Bilder und, nochmals problematischer, Photogra- phien denn eigentlich selber Zeichen oder als Zeichen lesbar? In welcher Weise bedeuten sie, sind sie selbst ein signifikatives Element oder was an oder in ihnen sind ihre signifikanten Elemente? Im Hinblick auf die Rede von einer Sprache des Bildes oder der Photographie war sich Barthes selbst dieses Prob- lems bewusst – in einem 1980 geführten Gespräch meinte er: Wenn man sagt, die Fotografie sei eine Sprache, so ist das falsch und wahr zugleich. Falsch ist es im buchstäblichen Sinne, weil das fotografische Bild als analogische Repro- duktion der Wirklichkeit keine diskontinuierlichen Partikel enthält, die man Zeichen nen- nen könnte: bei einem Foto gibt es im unmittelbaren Sinne kein Äquivalent zum Wort oder zum Buchstaben. Wahr ist es aber insofern, als die Komposition, der Stil eines Fotos 8 Noch sehr viel deutlicher als in seinem Nachwort zu den Mythen des Alltags hat Barthes in My- thologie heute (1971) die kritische Funktion der Semiologie formuliert. »Als Rede«, also als Menge bedeutungstragender Einheiten, »fällt der zeitgenössische Mythos unter seine Semiologie: diese gestattet, die mythische Verkehrung wieder ›zurechtzurücken‹, indem sie die Botschaft in zwei se- mantische Systeme zerlegt: in ein konnotiertes System, dessen Signifikat ideologisch ist […], und in ein denotiertes System (die offensichtliche Buchstäblichkeit des Bildes, des Gegenstands, des Satzes), dessen Funktion darin besteht, den klassenspezifischen Satz zu naturalisieren« (BARTHES 2006: 73f.). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 267 David Jöckel: Mythos und Bild sich wie eine sekundäre Botschaft verhalten, die über die Wirklichkeit und den Fotografen Auskunft gibt: das nennt man die Konnotation, welche eine Sprache ist; nun aber konno- tieren die Fotos immer etwas anderes als das, was sie auf der Ebene der Denotation zei- gen; paradoxerweise ist das Foto durch den Stil, und zwar allein durch den Stil, eine Spra- che (BARTHES 2002d: 382, Herv. im Original). Die Photographie verwehrt es also prima facie, ihr den Status einer Sprache zu verleihen. Denn wir hatten ja gesehen: eine Sprache muss aus signifikanten, individuierbaren Einheiten bestehen – bei der Photographie ist aber nicht direkt ersichtlich welche Einheiten dies sein könnten.9 Zudem muten Photos wie reine, objektive Abbildungen, als »mechanisches Analogon des Wirklichen« (BARTHES 1990a: 14) an, die keinen zusätzlichen Sinn und keine versteckte Bot- schaft in sich zu tragen scheinen. Gleichwohl hat Barthes Photographien mit- tels eines semiologischen Vokabulars analysiert, zu dem, wie hier schon ange- klungen ist, die Unterscheidung von Denotation und Konnotation des Abgebil- deten und des Symbolisierten gehört. Den eigentlich symbolisierten, konno- tierten Sinn einer Photographie versteht Barthes als »Einbringung eines zusätz- lichen Sinns in die eigentliche fotografische Botschaft« (BARTHES 1990a: 16). Diese Konnotierung – der Vorgang, es mit einer gewissen weiterreichenden Bedeutung zu versehen – kann auf der materialen Seite der dargestellten Ob- jekte und auf der formalen Seite der eingesetzten photographischen Techniken geschehen. Statt uns nun diesen beiden analytisch unterscheidbaren Ebenen der photographischen Konnotierung entlang von Barthes’ theoretischen Ausfüh- rungen zuzuwenden, erscheint es mir ratsamer, dies entlang zweier Beispiele zu tun, die es für sich haben, unmittelbar auch auf die bildliche Erzeugung von Stereotypen zu verweisen. In der Rhetorik des Bildes (1964) hat Barthes Bilder und in Der Werbespot (1964) (BARTHES 1988h) Slogans, mit denen Produkte be- worben werden, untersucht. Für gewöhnlich tritt uns die Werbung allerdings in Form einer Gemengelage zwischen sprachlichen und bildlichen Botschaften vor Augen.10 Im Falle des Beispiels einer Werbung für italienische Teigwaren 9 In den Mythen des Alltags hat Barthes die Zugänglichkeit der Photographie für die Semiologie unumwundener formuliert. Zwar erkennt er auch hier, dass Bilder nicht in demselben Sinn signifi- kante Einheiten wie die Sprache im engeren Sinne enthalten; das verwehrt es aber nicht, von der Möglichkeit zu sprechen, ein Bild oder eine Photographie zu lesen. »Gewiß ist diese Materie nicht gleichgültig: Das Bild ist zwingender als die Schrift, es drängt uns die Bedeutung mit einem Schlag auf, ohne sie zu gliedern, ohne sie räumlich zu streuen. Doch das ist kein entscheidender Unter- schied mehr. Sobald das Bild Bedeutung enthält, wird es Schrift; als Schrift erfordert es eine Lexis. Unter Sprache, Diskurs, Rede usw. ist hier also von nun an jede bedeutungsfähige Einheit oder Synthese zu versehen, sei sie verbaler oder visueller Art. Wir werden eine Photographie mit dem- selben Recht als Rede betrachten wie einen Zeitungsartikel; die Objekte selbst können Rede wer- den, wenn sie etwas bedeuten« (BARTHES 2010: 253, Herv. im Original). 10 Barthes interessiert sich auch, entgegen einer alleinigen Zentrierung auf die eine oder die andere Gattung von Signifikanten, besonders für das Zusammenspiel sprachlicher und bildlicher Bot- schaften. Er schreibt daher: »Auf der Ebene der Massenkommunikationen hat es heute durchaus den Anschein, daß die sprachliche Botschaft in allen Bildern vorhanden ist: als Titel, als Bildbe- schriftung, als Zeitungsartikel, als Filmdialog, als Sprechblase; daraus ersieht man, daß es nicht sehr richtig ist, von einer Kultur des Bildes zu sprechen: Wir sind weiterhin, und mehr als je zuvor, eine Schriftkultur, weil die Schrift und das Wort immer vollwertige Glieder der Informationsstruk- tur sind« (BARTHES 1990a: 33f., Herv. im Original). Ganz ähnlich formuliert er an anderer Stelle: »[D]ie Sprache greift immer als Relais an, namentlich in Bildersystemen wie Titel, Bildunterschrif- ten und Artikeln, weshalb es nicht richtig ist, wenn es heißt, wir lebten ausschließlich in einer IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 268 David Jöckel: Mythos und Bild gibt es Etiketten und Slogans, aber zugleich sind darauf, neben Nudeln, Par- mesan und passierten Tomaten als den beworbenen Produkten der Firma, eine Reihe von Gemüsesorten, die aus einem Netz herauskullern, zu sehen. Man kann auf diesem Bild mithin verschiedene signifikante Elemente voneinander unterscheiden. Diese tragen wiederum unterschiedliche Bedeutungen, sie ver- weisen auf verschiedene Signifikate: die Vorstellung der Rückkehr vom Markt, die häusliche, authentische Zubereitung, das Frische und Gesunde des Gemü- ses und anderes mehr. Da das Gemüse rot, gelb und grün ist, lagert sich an das Bild zugleich die Bedeutung einer gewissen stereotypisierten Italianität, auf die Barthes ein besonderes Augenmerk legt. Barthes schreibt: Ein zweites Zeichen ist beinahe ebenso evident; sein Signifikant ist das Zusammentreffen von Tomate, Paprikaschote und der Dreifarbigkeit (gelb, grün, rot) des Plakats; sein Sig- nifikat ist Italien oder eher die Italianität; […] das Wissen, das durch dieses Zeichen mo- bilisiert wird, ist bereits eigentümlicher: Es ist ein zutiefst ›französisches‹ Wissen […], das auf einer Kenntnis gewisser touristischer Stereotype beruht (BARTHES 1990b: 30, Herv. im Original). Jedoch ist diese Italianität […] nicht Italien, sie ist das kondensierte Wesen all dessen, was italienisch sein kann, von den Spaghetti bis zur Malerei. […] Italianität gehört zu einer bestimmten Achse der Nationalitäten, neben der Frankität [sic!], der Germanität oder der Hispanität (BARTHES 1990b: 43, Herv. im Original). Die durch das Werbungsbild global vermittelte Bedeutung ist demnach ein dif- fuser stereotyper Bedeutungskomplex des italienischen Wesens oder eben der Italianität. Daran ist zudem bemerkenswert, dass dieser Bedeutungskomplex nicht durch einen Signifikanten, nicht durch ein Element des Bildes allein kon- notiert wird, sondern durch deren konstellatives Zusammenspiel. Dieses Phänomen eines sinnhaften Syndroms11, einer Kooperation un- terschiedlicher signifikativer Einheiten, wird im folgenden Beispiel, in dem es um die bildliche Erzeugung des Stereotyps der nach Barthes sogenannten Bri- tischheit geht, noch deutlicher. Für diese konstellative oder konfigurative Er- zeugung von Bedeutung durch Bilder gibt Barthes zwei Beispiele einer »Zu- sammenstellung von Objekten«: Er zeigt zunächst einen Mann […], der abends liest: auf diesem Bild gibt es vier oder fünf signifikante Ob- jekte, die zusammen einen einzelnen globalen Sinn übermitteln, den des Ausruhens, der Entspannung: die Lampe, der Komfort des dicken wollenen Sweaters, der Ledersessel, die Zeitung; die Zeitung ist kein Buch; es wirkt entspannend, nicht so seriös; das alles meint, daß man am Abend ruhig Kaffee trinken kann, ohne nervös zu werden (BARTHES 1988d: 194, Herv. im Original). Zivilisation des Bildes« (BARTHES 1988d: 187). 11 In seinem Text über Semiologie und Medizin (1972), in der die medizinische Diagnose als Lek- türeart verstanden und auf die Verwandtschaft zwischen Symptom und Symbol eingegangen wird, kommt Barthes auch auf den medizinischen Begriff des Syndroms zu sprechen: »Mir scheint, eine stabile und wiederholte Konfiguration der gleichen medizinischen Zeichen könnte als Syndrom bezeichnet werden und wäre damit sprachlich das Äquivalent des sogenannten starren Syntag- mas, das heißt einer Gruppe stereotyper Wörter, die in verschiedenen Sätzen ständig auf dieselbe Weise zusammengeballt auftritt und folglich, obwohl sie strenggenommen aus mehreren, zwei, drei oder vier Wörtern besteht, absolut denselben Funktionswert besitzt wie ein einziges Wort« (BARTHES 1988f: 216, Herv. im Original). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 269 David Jöckel: Mythos und Bild Nicht der Ledersessel, die Lampe oder der Sweater allein vermitteln also den übergreifenden, allgemeineren konnotierten Sinn des Bildes, sondern allein deren assoziative Beiordnungen zueinander. »Diese Art Parataxe der Objekte«, meint Barthes sodann, »ist im Leben äußerst häufig: dieser Form sind zum Bei- spiel alle Möbel eines Zimmers unterworfen. Die Möblierung eines Zimmers ergibt nur durch die Nebeneinanderstellung von Elementen einen finalen Sinn (einen ›Stil‹)« (BARTHES 1988d: 195). Und er gibt selbst ein Beispiel, das den vo- rigen Sachverhalt der Italianität nochmals besser zu illustrieren vermag: Hier ein Beispiel: Es handelt sich um eine Werbung für eine Teemarke; man darf also nicht England bedeuten, denn die Dinge sind viel subtiler, sondern die Englischheit, oder die Britischheit, wenn ich so sagen darf, das heißt eine Art emphatische Identität des Engli- schen: also hat man hier, dank eines äußerst sorgfältig komponierten Syntagmas, den Store der Kolonialhäuser, die Kleidung des Mannes, seinen Schnurrbart, die typische Vor- liebe der Engländer für die Marine und den Reitsport, die in diesen Nippes-Schiffen, in diesen Bronzepferden da ist, und letztlich lesen wir, einzig und allein durch die Nebenei- nanderstellung einer bestimmten Anzahl von Objekten, ein äußerst starkes Signifikat aus dem Bild heraus, eben diese Englischeit, von der ich sprach (BARTHES 1988d: 195, Herv. im Original). Um diese konnotierten Bedeutungen aus solchen Bildern herauszulesen, also ihre Elemente korrekt entziffern zu können, sind gleichwohl ersichtlicherweise spezifische unterschiedliche Wissensbestände vonnöten. Dass es zur Britisch- heit gehören könnte, eine Vorliebe für Polo und die Seefahrt zu haben, muss man wissen, um zu bemerken, dass die ›Nippes-Schiffe‹ und ›Bronzepferde‹ auf solche stereotype Züge verweisen. »[D]ie Lektüre der Photographie« ist mithin »immer historisch; sie hängt vom ›Wissen‹ des Lesers ab« (BARTHES 1990a: 23); und ebenfalls sind die Objekte der Werbungsbilder polysemisch, sie sind Trä- ger pluraler Bedeutungen und partizipieren an unterschiedlichen Sinnregis- tern: »Jedes Zeichen entspricht einem Korpus von ›Einstellungen‹: dem Tou- rismus, dem Haushalt, der Kenntnis der Kunst, von denen manche in einem Individuum natürlich fehlen können« (BARTHES 1990b: 41). Wenn es nun also zur Bildung von Stereotypen durch Bilder dadurch kommt, dass diese eine bestimmte Menge von bedeutungstragenden Elemen- ten abbilden, die eine solche stereotype Bedeutung konnotieren – in welcher Weise ist das Bild näherhin an der Naturalisierung solcher Bedeutungsmuster beteiligt? Barthes bleibt in diesem Punkt ein wenig vage, unentschieden. Man könnte es bei der Diagnose belassen, dass Stereotypen bildlich dadurch tra- diert und stabilisiert werden, dass sie sich eben wiederholen. Dann gäbe es aber vermutlich nichts oder wenig Spezifisches an der Weise, wie Bilder an den Stereotypisierungsprozessen beteiligt sind. Ob ein Stereotyp in einem Text, ei- nem Film oder einem Bild vorkommt, wäre mithin unerheblich, weil es densel- ben Effekt hätte. Das Spezifikum des Bildes liegt in der oben schon erwähnten Unterscheidung einer denotativen und einer konnotativen Ebene. »Das deno- tierte Bild naturalisiert«, so Barthes, die symbolische Botschaft, es läßt den (vor allem in der Werbung) sehr differenzierten semantischen Trick der Konnotation unschuldig erscheinen; obwohl das Panzani-Plakat voll von ›Symbolen‹ ist, bleibt in der Photographie dennoch eine Art natürliches Dasein der Objekte, insofern die buchstäbliche Botschaft hinreichend ist: Die Natur scheint spon- tan die dargestellte Szene hervorzubringen (BARTHES 1990b: 40, Herv. im Original). IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 270 David Jöckel: Mythos und Bild Das nennt Barthes die »naturalisierende Funktion der Denotation in Bezug auf die Konnotation« (BARTHES 1990b: 45). Indem die Photographie, so lässt sich Barthes verstehen, anders als die Malerei, die Zeichnung oder andere Darstel- lungsmodi, die die Wirklichkeit immer gebrochen durch einen Stil wiederge- ben, anmutet wie eine objektive, nicht durch Signifikanten vermittelte Abspie- gelung der Wirklichkeit, trägt sie ein besonderes Vermögen, das in ihr Darge- stellte mit der Aura der Natürlichkeit zu belehnen. »[G]ewiß ist das Bild nicht das Wirkliche: Aber es ist zumindest das perfekte Analogon davon, und für den gesunden Menschenverstand wird die Fotografie gerade durch diese analogi- sche Perfektion definiert« (BARTHES 1990a: 12f., Herv. im Original). III. Ausblick Im Vorstehenden ging es mir im Wesentlichen um zweierlei: (i) Barthes Idee einer allgemeinen Semiologie in ihrer Begrifflichkeit und illustriert an einigen exemplarischen Phänomenen darzustellen; und (ii) das Augenmerk auf ge- wisse, in der Rezeption mitunter in den Hintergrund getretene bild- und photo- graphiesemiologische Aspekte dieses allgemeinen semiologischen Unterfan- gens zu lenken. So hat deutlich werden können, dass sich die gesellschafts-, genauer: mythen- und stereotypenkritische Dimension der Semiologie auch auf Bilder und Photographien erstreckt. Barthes’ Texte halten folglich ein noch nicht ausgehobenes Potential bereit, ein systematisches Instrumentarium aus- zuarbeiten, wie die Erzeugung, Stabilisierung und Naturalisierung von stereo- typen Bedeutungskomplexen feinsinniger zu verstehen ist. Mir scheint, dass seine Überlegungen heute von ungebrochener Relevanz und Aktualität sind. So ließe sich etwa eine semiologische Analyse der »Arabität« (BARTHES 1990a: 24) denken: zu untersuchen wäre, etwa im Anschluss an Edward Saids Begriff des Orientalismus (SAID 2009), wie gegenwärtig Vorurteile, Klischees und Ste- reotype einer vermeintlich homogenen und von der ›westlichen‹ Kultur krass unterschiedenen orientalischen Kultur erzeugt und fixiert werden. Dass dies, auch oder gerade, vermittels Bildern und Photographien geschieht, scheint mir nahezuliegen. Barthes’ Werk ist dafür, so hatte ich zu erweisen gesucht, ein fruchtbarer Ausgangspunkt. Literatur BARTHES, ROLAND: Die Lust am Text. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1974 BARTHES, ROLAND: Lecon/Lektion. Antrittsvorlesung am Collège de France. Gehalten am 7. Januar 1977. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1980 BARTHES, ROLAND: Elemente der Semiologie. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1983 BARTHES, ROLAND: Die Sprache der Mode. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1985a BARTHES, ROLAND: Die helle Kammer. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1985b IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 271 David Jöckel: Mythos und Bild BARTHES, ROLAND: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1988a BARTHES, ROLAND: Das semiologische Abenteuer. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1988b, S. 7-12 BARTHES, ROLAND: Die Machenschaften des Sinns. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1988c, S. 165-167 BARTHES, ROLAND: Semantik des Objekts. In: BARTHES, ROLAND: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1988d, S. 187-198 BARTHES, ROLAND: Semiologie und Stadtplanung. In: BARTHES, ROLAND: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1988e, S. 199-209 BARTHES, ROLAND: Semiologie und Medizin. In: BARTHES, ROLAND: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1988f, S. 210-220 BARTHES, ROLAND: Soziologie und Sozio-Logik. Zu zwei neuen Werken von Claude Lévi-Strauss. In: BARTHES, ROLAND: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1988g, S. 168-180 BARTHES, ROLAND: Der Werbespot. In: BARTHES, ROLAND: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1988h, S. 181-186 BARTHES, ROLAND: Die Fotografie als Botschaft. In: BARTHES, ROLAND: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1990a, S. 11-27 BARTHES, ROLAND: Die Rhetorik des Bildes. In: BARTHES, ROLAND: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1990b, S. 28-46 BARTHES, ROLAND: Ist die Malerei eine Sprache? In: BARTHES, ROLAND: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1990c, S. 157-159 BARTHES, ROLAND: Semiographie André Massons. In: BARTHES, ROLAND: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1990d, S. 160-162 BARTHES, ROLAND: Cy Twombly oder Non multa sed multum. In: BARTHES, ROLAND: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1990e, S. 165-183 BARTHES, ROLAND: Réquichot und sein Körper. In: BARTHES, ROLAND: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1990f, S. 219-246 BARTHES, ROLAND: Auge in Auge. In: BARTHES, ROLAND: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1990g, S. 315-319 BARTHES, ROLAND: Über ›Die Sprache der Mode‹ und die strukturale Analyse der Erzählungen (1967). In: BARTHES, ROLAND: Die Körnung der Stimme. Interviews 1962-1980. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2002a, S. 50-63 BARTHES, ROLAND: ›Die Sprache der Mode‹ (1967). In: BARTHES, ROLAND: Die Körnung der Stimme. Interviews 1962-1980. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2002b, S. 64-71 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 272 David Jöckel: Mythos und Bild BARTHES, ROLAND: Gespräch über ein wissenschaftliches Gedicht (1967). In: BARTHES, ROLAND: Die Körnung der Stimme. Interviews 1962-1980. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2002c, S. 72-77 BARTHES, ROLAND: Über die Fotografie (1980). In: BARTHES, ROLAND: Die Körnung der Stimme. Interviews 1962-1980. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2002d, S. 382-389 BARTHES, ROLAND: Mythologie heute. In: BARTHES, ROLAND: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2006, S. 73-77 BARTHES, ROLAND: Die Imagination des Zeichens. In: BARTHES, ROLAND: Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2006a, S. 94-100 BARTHES, ROLAND: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe. Berlin [Suhrkamp] 2010 BOURDIEU, PIERRE: Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung. In: BOURDIEU, PIERRE: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1974, S. 159-201 BOURDIEU, PIERRE: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1987 BOURDIEU, PIERRE: Sozialer Raum, symbolischer Raum. In: BOURDIEU, PIERRE: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1998, S. 11-27 HEIDEGGER, MARTIN: Sein und Zeit. Tübingen [Niemeyer] 1993 SAID, EDWARD: Orientalismus. Frankfurt/M. [Fischer] 2009 WITTGENSTEIN, LUDWIG: Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1984, S. 225-580 IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 273 [Inhaltsverzeichnis] Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren Julia Austermann arbeitet seit 2015 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Mediengeschichte/Visuelle Kultur von Prof. Dr. Susanne Regener an der Universität Siegen. Sie promoviert zu Homophobie und queeren Interventionen in Polen. 2015 und 2016 war Julia Austermann Forschungsstipendiatin am Deutschen Historischen Institut Warschau. Melis Avkiran ist Doktorandin im Fach Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und promoviert zu dem Thema Alteritäts- und Fremdheitskonzepte im Œuvre Hans Memlings (Arbeitstitel). Seit März 2018 ist sie Promotionsstipen- diatin der Hans-Böckler-Stiftung. Zuvor war sie von April 2017 bis Februar 2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt Bildliche Mythen- rezeption im Mittelalter und der Epochendiskurs moderner Kunsthistoriogra- phie (Prof. Ulrich Rehm) und arbeitete an einem eigenen Teilprojekt zu Erwin Panofsky sowie Zeit- und Kulturmodellen um 1900. Ihren Master of Arts im Fach Kunstgeschichte erhielt sie im April 2016. Den Bachelor of Arts erhielt sie 2012 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dort studierte sie im Kern- fach Germanistik und im Nebenfach Kunstgeschichte. Dr. Barbara Margarethe Eggert, Kulturwissenschaftlerin, ist seit 1996 für diverse Hochschulen, Stiftungen, Museen sowie Verlage im In- und Ausland tätig. Seit 2016 lehrt und forscht sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Donau-Universität Krems insbesondere im Bereich visuellen Erzählens und zu museums- und sammlungswissenschaftlichen Themen. Der Arbeitstitel ihres Habilitationsprojekts lautet: »Victory for the Comic Muse? The Past, Present, and Future of Comics and Webcomics in Museums and Exhibitions«. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 274 Kurzbiographien Dr. Sabine Engel, Studium an der Universität Hildesheim, der Universität Hamburg und der Sorbonne; Dissertation zum Thema Das Lieblingsbild der Venezianer. Christus und die Ehebrecherin in Kirche, Kunst und Staat des 16. Jahrhunderts, erschienen 2012 im Akademie Verlag, Berlin; Wintersemester 2013/14 Lehrauftrag an der FU Berlin; freie Mitarbeiterin der Staatlichen Museen zu Berlin; Publikationen zur venezianischen Malerei, Genderforschung und osmanischen Einflüssen im Westen. Benjamin Häger, geb. 1983 in Kiel, studierte Stadtplanung an der Technischen Universität Hamburg-Harburg und an der HafenCity Universität Hamburg. Studienbegleitend bekleidete er den Vorstand des Kulturvereins Frappant e.V. und arbeite für die ARCH+ Redaktion in Berlin. Nach seinem Studium, das er mit der Diplomarbeit Die Krise der Denkmalpflege abschloss, arbeitete er als freier Mitarbeiter für die Wecide GmbH sowie als Projektleiter im BMVI Forschungs- und Entwicklungsprojekt für die choice GmbH an der Entwicklung von webbasierter Planungs- und Partizipationssoftware. Seit Oktober 2016 promoviert er im DFG Graduiertenkolleg Identität und Erbe zum Thema Recht auf Erbe?! Partizipative Verfahren für die Denkmalpflege in Zeiten der Repräsentationskrise. David Jöckel schloss sein Magisterstudium der Soziologie, Philosophie und Erziehungswissenschaft in Tübingen und Jena ab. Gegenwärtig arbeitet er an einer Dissertation über ›Geistige Erfahrung. Zeitlichkeit und Imaginativität der Erfahrung nach Adorno und Derrida‹ an der FernUni Hagen (Betreuer: Thomas Bedorf). Die Forschungsschwerpunkte liegen in der Systemtheorie, französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts (Derrida, Blanchot, Barthes) und der Psychoanalyse. Claudia Jürgens, geb. 1988 in Freiburg im Breisgau, studierte Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg und Université Blaise Pascal in Clermont-Ferrand. Ihre Masterarbeit Analoges Fotografieren als ästhetisches Regime. Fototechnik, Bildentwicklung und Präsentation als kulturelle Praxis der Distinktion erhob und verfasste sie in Berlin. Sie engagierte sich in Berlin und Regensburg für künstlerische Kulturprojekte, wie Zeitgeist (2014) in Regens- burg und die Tape Art Convention (2016) in Berlin. Sie arbeitet als freischaf- fende Fotografin und Tape Art Künstlerin. Seit Oktober 2016 ist sie Doktorandin des DFG-Graduiertenkollegs Identität und Erbe der Technischen Universität Berlin. Hier setzt sie sich Visualisierungen des immateriellen Kulturerbes am Beispiel des Kankurang in Senegal und Gambia auseinander. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 275 Kurzbiographien Leonie Licht studierte von 2010 bis 2016 ev. Theologie und Bildende Kunst für das Lehramt an Gymnasien an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und an der Kunsthochschule Mainz. Im Anschluss studierte sie an der Goethe Universität in Frankfurt am Main im Master für Ästhetik und an der Akademie der bildenden Künste Wien im Master für Critical Studies. Seit 2017 lebt und arbeitet Leonie Licht in Wien. Dr. Viola Nordsieck ist freie Wissenschaftlerin und Publizistin. Sie lebt in Berlin, schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften und ist Mitherausgeberin des transform Magazins (transform-magazin.de). Ihre akademischen Publikationen, Workshops und Vorträge finden sich auf violanordsieck.net/. Nach ihrem Studium der Philosophie und der englischen Philologie in Heidelberg, Nottingham (UK) und Berlin promovierte sie an der Humboldt-Universität zu Berlin über die Philosophie der Erfahrung bei Ernst Cassirer, Henri Bergson und Alfred North Whitehead. Ihr Buch Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung erschien 2015 bei Karl Alber. http://www.verlag- alber.de/reihen/details_html?k_tnr=48735&k_onl_struktur=1375069. Prof. h. c., Dr. phil. Stefan Römer war zuletzt Researchfellow am Centre for Di- gital Cultures, Leuphana Universität Lüneburg. 1992 initiierte er angesichts rechtsradikaler Anschläge die Kunstaktivistengruppe FrischmacherInnen. 2000 erhielt er den Preis für Kunstkritik des Arbeitskreises deutscher Kunstvereine (AdKV). Teilnahme an Fotobiennalen: Graz, Rotterdam; Teilnahme an Filmfes- tivals: Videonale Bonn, Internationales Kasseler Dokumentarfilm- u. Videofest, Filmfestival Kopenhagen; Soundperformance: CTM Festival Berlin; regelmä- ßige internationale Ausstellungen und Publikationen. conceptual-para- dise.com, stan-back.tumblr.com Dr. Martina Sauer ist Bildwissenschaftlerin und u.a. für das Museum Frieder Burda und die Kunsthalle Karlsruhe tätig. Sie ist Beirätin der Gesellschaft für interdisziplinäre Bildwissenschaft und der Deutschen Gesellschaft für Semio- tik. Sie studierte Kunstgeschichte, Kl. Archäologie und Philosophie in Heidel- berg, München und Basel (Promotion bei Prof. Dr. Gottfried Boehm). Eine wich- tige Publikation zum Thema ist die im Rahmen des Hans- und Lea-Grundig- Preis ausgezeichnete und nun in zweiter Auflage erscheinende Schrift: Faszination – Schrecken. Zur Handlungsrelevanz ästhetischer Erfahrung an- hand Anselm Kiefers Deutschlandbilder, Heidelberg 2012. http://archiv.ub.uni- heidelberg.de/artdok/1851/ Vgl. ergänzend zu den zahlreichen bildwissenschaftlichen Studien der Autorin die Einstellungen in ART-Dok, Research-Gate, Academia und Philpapers. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 276 Kurzbiographien Dr. des. Anna Christina Schütz hat Germanistik und Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum studiert. Im Dezember 2017 wurde sie mit einer Ar- beit über Daniel Nikolaus Chodowieckis Werther-Bilder an der Leuphana Uni- versität Lüneburg promoviert (Titel der Dissertation: Das Scheitern des Charak- ters am Selbstbewusstsein des Bildes. Chodowiecki zeichnet Goethes Werther). Ihre Promotion wurde von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert. Seit Oktober 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart. Ihre Forschungsinteressen umfassen Zeichnung und Druckgrafik des 15. und 16. Jahrhunderts, Kunst und Literatur des 18. Jahrhunderts und der kulturelle Austausch zwischen Europa und dem Osmanischen Reich um 1900. Dr. Irene Schütze, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Kunstbezogene Theorie an der Kunsthochschule Mainz, Johannes Gutenberg-Universität. Publikationen zu Kunst- und Bildtheorie, Kunst und Medien/Film, Wahrnehmung und Rezeption von Kunst, Kulturgeschichte. Forschungsprojekte zu Biopics über bildende Künstler/innen und Autorschaftskonzepte. Thematisch bezogene Publikationen: Koons, Murakami und Vasconcelos in Versailles. Wertezuschreibung und Wertewandel durch Kontextualisierung. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 43, 2016, S. 249-271; Zur Abwesenheit ›großer‹ Utopien: Subjektiv-pragmatische Utopie- Entwürfe in der zeitgenössischen Kunst. In: kunsttexte.de, 3, 2016. http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2016-3/schuetze-irene-2/PDF/schuetze.pdf [letzter Zugriff: 19.04.2018] Dr. Birke Sturm ist Kulturwissenschaftlerin und Kunstpädagogin. Sie wurde an der Akademie der bildenden Künste Wien mit einer Arbeit über die Konstruktion normativer Schönheitsvorstellungen in der Moderne promoviert. Neben ihrer Lehrbeauftragung am Institut für künstlerisches Lehramt an der Akademie der Bildenden Künste Wien unterrichtet sie Englisch und Bildnerische Erziehung am Lauder Chabad Campus, ebenfalls in Wien. IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 277 [Inhaltsverzeichnis] Impressum IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft wird herausgegeben von Klaus Sachs-Hombach, Jörg R.J. Schirra, Stephan Schwan und Hans Jürgen Wulff. Bisherige Ausgaben IMAGE 27 Herausgeber/in: Klaus Sachs-Hombach, Jörg Schirra, Stephan Schwan, Hans Jürgen Wulff JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial SEBASTIAN GERTH: Auf der Suche nach Visueller Wahrheit. Authentizitätszuschreibung und das Potenzial der Wirklichkeitsabbildung durch Pressefotografien im Zeitalter digitaler Medien KRISTINA CHMELAR: Schau! Wie eine staatliche Organisation das 20. Jahrhundert ausstellt und wir entsprechende Mythen dekonstruieren können ALISA BLESSAU/NINA SCHECKENHOFER/SASITHON SCHMITTNER: Darstellungen starker Weiblichkeit. Ikonografische Bildanalyse von Taking a Stand in Baton Rouge JÖRG R.J. SCHIRRA/MARK A. HALAWA/DIMITRI LIEBSCH: Das bildphilosophische Stichwort. Vorbemerkung PETRA BERNHARDT/BENJAMIN DRECHSEL: Das bildphilosophische Stichwort 19. Bildpolitik YVONNE SCHWEIZER: Das bildphilosophische Stichwort 20. Anamorphose JÖRG R.J. SCHIRRA: Das bildphilosophische Stichwort 21. Bild in reflexiver Verwendung IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 278 Impressum IMAGE 26 Herausgeber/in: Klaus Sachs-Hombach, Jörg Schirra, Stephan Schwan, Hans Jürgen Wulff KLAUS SACHS-HOMBACH/JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial MADELINE FERRETTI-THEILIG/JOCHEN KRAUTZ: Speaking Images of Humanity. »The Family of Man« Exhibition as an Exemplary Model of Relational Aesthetic and Pictorial Practice HERMANN KALKOFEN: What Must Remain Hidden to Picture-Men. Notes on So-Called Semantic Enclaves MARKUS C. MARIACHER: »Macht braucht Platz!« Eine Untersuchung des Meskel Square in Addis Abeba, Äthiopien JÖRG R.J. SCHIRRA/MARK A. HALAWA/DIMITRI LIEBSCH: Das bildphilosophische Stichwort. Vorbemerkung ULRICH RICHTMEYER: Das bildphilosophische Stichwort 16. Ikonische Differenz ULRIKE HANSTEIN/CHRISTIAN VOSS: Das bildphilosophische Stichwort 17. Affekt und Wahrnehmung LUKAS R.A. WILDE: Das bildphilosophische Stichwort 18. Comic IMAGE 25 Herausgeber/in: Anne Burkhardt, Klaus Sachs-Hombach JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial SUSANA BARREIRO PÉREZ/MARCEL WOLFGANG LEMMES/STEPHAN UEFFING: Warlords and Presidents. Eine Analyse visueller Diskurse in The Situation Room JENS AMSCHLINGER/LUKAS FLAD/JESSICA SAUTTER: »I saw something white being grabbed«. Sexuelle Gewalt in V-J Day in Times Square KONRAD STEUER/MICHAEL GÖTTING: Grausame Bilder. Ein Experiment zur Emotionalen Wirkung expliziter Gewaltdarstellungen am Beispiel einer Kriegsfotografie von Christoph Bangert Aus aktuellem Anlass: FRANZ REITINGER: Gleich groß oder kleiner? Vom Vorwurf des Eurozentrismus JÖRG R.J. SCHIRRA/MARK A. HALAWA/DIMITRI LIEBSCH: Das bildphilosophische Stichwort. Vorbemerkung DIMITRI LIEBSCH: Das bildphilosophische Stichwort 13. Visual Culture/Visual Studies JENS BONNEMANN: Das bildphilosophische Stichwort 14. Bildbewusstsein JENS SCHRÖTER: Das bildphilosophische Stichwort 15. Digitales Bild IMAGE 24 JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial SEBASTIAN GERTH: Mentale Bilder als visuelle Form der Weltrepräsentation? Eine Systematisierung philosophischer Argumentationen und ihre psychologische Anwendung ERIKA FÁM: Das Wiederbild. Transmediale Untersuchungen von Bild-im-Bild-Phänomenen JOHANNES BAUMANN: Zur (kulturellen) Subjektivität im Fremdbild JANNA TILLMANN: Zwischen Hindernis und Spielelement. Der Umgang mit dem Tod des Avatars in Videospielen JÖRG R.J. SCHIRRA/MARK A. HALAWA/DIMITRI LIEBSCH: Das bildphilosophische Stichwort. Vorbemerkung IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 279 Impressum MICHAELA OTT: Das bildphilosophische Stichwort 10. Theorien des Bildraums JÖRG R.J. SCHIRRA: Das bildphilosophische Stichwort 11. Kontext MARK LUDWIG: Das bildphilosophische Stichwort 12. Werbung IMAGE 23 KLAUS SACHS-HOMBACH: Editorial TIM IHDE: Die da!?! Potentials of Pointing in Multimodal Contexts HEIKE KREBS: Roman Jakobson Revisited. The Multimodal Trailer Event MICHELLE HERTE: »Come, Stanley, let’s find the story!« On the Ludic and the Narrative Mode of Computer Games in The Stanley Parable FRANZ REITINGER: Das Unrecht der Bildnutzung. Eine neue Form der Zensur? Bemerkungen aus der Peripherie des wissenschaftlichen Publizierens über das Spannungsfeld von Staats- und Gemeinbesitz und die Kapitalisierung von öffentlichem Kulturgut zu Lasten der Autoren JÖRG R.J. SCHIRRA/MARK A. HALAWA/DIMITRI LIEBSCH: Das bildphilosophische Stichwort. Vorbemerkung HANS-ULRICH LESSING: Das bildphilosophische Stichwort 7. Ästhesiologie ROLF SACHSSE: Das bildphilosophische Stichwort 8. Bildhermeneutik NICOLA MÖßNER: Das bildphilosophische Stichwort 9. Bild in der Wissenschaft IMAGE 22: Interdisciplinary Perspectives on Visual Literacy Herausgeber/in: Elisabeth Birk, Mark A. Halawa ELISABETH BIRK/MARK A. HALAWA: Introduction. Interdisciplinary Perspectives on Visual Literacy JAKOB KREBS: Visual, Pictorial, and Information Literacy ANDREAS OSTERROTH: Das Internet-Meme als Sprache-Bild-Text ANDREAS JOSEF VATER: Jenseits des Rebus. Für einen Paradigmenwechsel in der Betrachtung von Figuren der Substitution am Beispiel von Melchior Mattspergers Geistliche Herzenseinbildungen AXEL RODERICH WERNER: Visual Illiteracy. The Paradox of Today’s Media Culture and the Reformulation of Yesterday’s Concept of an écriture filmque SASCHA DEMARMELS/URSULA STALDER/SONJA KOLBERG: Visual Literacy. How to Understand Texts Without Reading Them KATHRYN M. HUDSON/JOHN S. HENDERSON: Weaving Words and Interwoven Meanings. Textual Polyvocality and Visual Literacy in the Reading of Copán’s Stela J DAVID MAGNUS: Aesthetical Operativity. A Critical Approach to Visual Literacy with and Beyond Nelson Goodman’s Theory of Notation JÖRG R.J. SCHIRRA/MARK A. HALAWA/DIMITRI LIEBSCH: Das bildphilosophische Stichwort. Vorbemerkung TOBIAS SCHÖTTLER: Das bildphilosophische Stichwort 4. Bildhandeln CHRISTA SÜTTERLIN: Das bildphilosophische Stichwort 5. Maske MARTINA DOBBE: Das bildphilosophische Stichwort 6. Fotografie IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 280 Impressum IMAGE 22 Themenheft: Media Convergence and Transmedial Worlds (Part 3) Herausgeber: Benjamin Beil, Klaus Sachs-Hombach, Jan-Noël Thon JAN-NOËL THON: Introduction. Media Convergence and Transmedial Worlds (Part 3) TOBIAS STEINER: Under the Macroscope. Convergence in the US Television Market Between 2000 and 2014 AMELIE ZIMMERMANN: Burning the Line Between Fiction and Reality. Functional Transmedia Storytelling in the German TV Series About: Kate ROBERT BAUMGARTNER: »In the Grim Darkness of the Far Future there is only War«. Warhammer 40,000, Transmedial Ludology, and the Issues of Change and Stasis in Transmedial Storyworlds NIEVES ROSENDO: The Map Is Not the Territory. Bible and Canon in the Transmedial World of Halo FELIX SCHRÖTER: The Game of Game of Thrones. George R.R. Martin’s A Song of Ice and Fire and Its Video Game Adaptations KRZYSZTOF M. MAJ: Transmedial World-Building in Fictional Narratives IMAGE 21 JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial MARC BONNER: Architektur als mediales Scharnier. Medialität und Bildlichkeit der raumzeitlichen Erfahrungswelten Architektur, Film und Computerspiel MIRIAM KIENESBERGER: Schwarze ›Andersheit‹/weiße Norm. Rassistisch-koloniale Repräsentationsformen in EZA-Spendenaufrufen ELIZE BISANZ: Notizen zur Phaneroscopy. Charles S. Peirce und die Logik des Sehens JÖRG R.J. SCHIRRA/MARK A. HALAWA/DIMITRI LIEBSCH: Das bildphilosophische Stichwort. Vorbemerkung MARK A. HALAWA: Das bildphilosophische Stichwort 1. Bildwissenschaft vs. Bildtheorie DIMITRI LIEBSCH: Das bildphilosophische Stichwort 2. Replika, Faksimile und Kopie JÖRG R.J. SCHIRRA: Das bildphilosophische Stichwort 3. Interaktives Bild IMAGE 21 Themenheft: Media Convergence and Transmedial Worlds (Part 2) Herausgeber: Benjamin Beil, Klaus Sachs-Hombach, Jan-Noël Thon JAN-NOËL THON: Introduction. Media Convergence and Transmedial Worlds (Part 2) JOHANNES FEHRLE: Leading into the Franchise. Remediation as (Simulated) Transmedia World. The Case of Scott Pilgrim MARTIN HENNIG: Why Some Worlds Fail. Observations on the Relationship Between Intertextuality, Intermediality, and Transmediality in the Resident Evil and Silent Hill Universes ANNE GANZERT: »We welcome you to your Heroes community. Remember, everything is connected«. A Case Study in Transmedia Storytelling JONAS NESSELHAUF/MARKUS SCHLEICH: A Stream of Medial Consciousness. Transmedia Storytelling in Contemporary German Quality Television CRISTINA FORMENTI: Expanded Mockuworlds. Mockumentary as a Transmedial Narrative Style LAURA SCHLICHTING: Transmedia Storytelling and the Challenge of Knowledge Transfer in Contemporary Digital Journalism. A Look at the Interactive Documentary Hollow (2012– ) IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 281 Impressum IMAGE 20 JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial MARK A. HALAWA: Angst vor der Sprache. Zur Kritik der sprachkritischen Ikonologie BARBARA LAIMBÖCK: Heilkunst und Kunst. Ärztinnen und Ärzte in der österreichischen Malerei des 20. Jahrhunderts. Eine sowohl künstlerische als auch tiefenpsychologische Reflexion MARTINA SAUER: Ästhetik und Pragmatismus. Zur funktionalen Relevanz einer nicht- diskursiven Formauffassung bei Cassirer, Langer und Krois A. PETER MAASWINKEL: Allsehendes Auge und unsichtbare Hand. Zur Ästhetisierung neoliberaler Ideologie am Beispiel des European Council MARIA SCHREIBER: Als das Bild aus dem Rahmen fiel. Drei Tagungsberichte aus einem trans- und interdisziplinären Feld Aus aktuellem Anlass: FRANZ REITINGER: Der Bredekamp-Effekt IMAGE 20 Themenheft: Medienkonvergenz und transmediale Welten (Teil 1) Herausgeber: Benjamin Beil, Klaus Sachs-Hombach, Jan-Noël Thon JAN-NOËL THON: Einleitung. Medienkonvergenz und transmediale Welten/Introduction. Media Convergence and Transmedial Worlds HANNS CHRISTIAN SCHMIDT: Origami Unicorn Revisited. ›Transmediales Erzählen‹ und ›transmediales Worldbuilding‹ im The Walking Dead-Franchise ANDREAS RAUSCHER: Modifikationen eines Mythen-Patchworks. Ludonarratives Worldbuilding in den Star Wars-Spielen VERA CUNTZ-LENG: Harry Potter transmedial RAPHAELA KNIPP: »One day, I would go there…«. Fantouristische Praktiken im Kontext transmedialer Welten in Literatur, Film und Fernsehen THERESA SCHMIDTKE/MARTIN STOBBE: »With poseable arms & gliding action!«. Jesus- Actionfiguren und die transmediale Storyworld des Neuen Testaments HANNE DETEL: Nicht-fiktive transmediale Welten. Neue Ansätze für den Journalismus in Zeiten der Medienkonvergenz IMAGE 19 JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial SABINA MISOCH: Mediatisierung, Visualisierung und Virtualisierung. Bildgebende Verfahren und 3D-Navigation in der Medizin. Eine bildwissenschaftliche und mediensoziologische Betrachtung KLAUS H. KIEFER: Gangnam Style erklärt. Ein Beitrag zur deutsch-koreanischen Verständigung EVRIPIDES ZANTIDES/EVANGELOS KOURDIS: Graphism and Intersemiotic Translation. An Old Idea or a New Trend in Advertising? MARTIN FRICKE: Quantitative Analyse zu Strukturmerkmalen und -veränderung im Medium Comic am Beispiel Action Comic FRANZ REITINGER: Die ›ultimative‹ Theorie des Bildes IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 282 Impressum IMAGE 18: Bild und Moderne Herausgeber: Martin Scholz MARTIN SCHOLZ: Bild und Moderne RALF BOHN: Zur soziografischen Darstellung von Selbstbildlichkeit. Von den Bildwissenschaften zur szenologischen Differenz ALEXANDER GLAS: Lernen mit Bildern. Eine empirische Studie zum Verhältnis von Blickbildung, Imagination und Sprachbildung PAMELA C. SCORZIN: Über das Unsichtbare im Sichtbaren. Szenografische Visualisierungsstrategien und moderne Identitätskonstruktionen am Beispiel von Jeff Walls »After ›Invisible Man‹ by Ralph Ellison, the Prologue« HEINER WILHARM: Weltbild und Ursprung. Für eine Wiederbelebung der Künste des öffentlichen Raums. Zu Heideggers Bildauffassung der 30er Jahre NORBERT M. SCHMITZ: Malewitsch »Letzte futuristische Austellung ›0,10‹« in St. Petersburg 1915 oder die Paradoxien des fotografischen Suprematismus. Die medialen Voraussetzungen des autonomen Bildes ROLF NOHR: Die Tischplatte der Authentizität. Von der kunstvollen Wissenschaft zum Anfassen ROLF SACHSSE: Medien im Kreisverkehr. Architektur – Fotografie – Buch SABINE FORAITA: Bilder der Zukunft in der Vergangenheit und Gegenwart. Wie entstehen Bilder der Zukunft? Wer schafft sie und wer nutzt sie? Bilder als designwissenschaftliche Befragungsform THOMAS HEUN: Die Bilder der Communities. Zur Bedeutung von Bildern in Online- Diskursen IMAGE 17 Herausgeber/in: Rebecca Borschtschow, Lars C. Grabbe, Patrick Rupert-Kruse REBECCA BORSCHTSCHOW/LARS C. GRABBE/PATRICK RUPERT-KRUSE: Bewegtbilder. Grenzen und Möglichkeiten einer Bildtheorie des Films HANS JÜRGEN WULFF: Schwarzbilder. Notizen zu einem filmbildtheoretischen Problem LARS C. GRABBE/PATRICK RUPERT-KRUSE: Filmische Perspektiven holonisch-mnemonischer Repräsentation. Versuch einer allgemeinen Bildtheorie des Films MARIJANA ERSTIĆ: Jenseits der Starrheit des Gemäldes. Luchino Viscontis kristalline Filmwelten am Beispiel von Gruppo di famiglia in un interno (Gewalt und Leidenschaft) INES MÜLLER: Bildgewaltig! Die Möglichkeiten der Filmästhetik zur Emotionalisierung der Zuschauer REBECCA BORSCHTSCHOW: Bild im Rahmen, Rahmen im Bild. Überlegungen zu einer bildwissenschaftlichen Frage NORBERT M. SCHMITZ: Arnheim versus Panofsky/Modernismus versus Ikonologie. Eine exemplarische Diskursanalyse zum Verhältnis der Kunstgeschichte zum filmischen Bild FLORIAN HÄRLE: Über filmische Bewegtbilder, die sich wirklich bewegen. Ansatz einer Interpretationsmethode DIMITRI LIEBSCH: Wahrnehmung, Motorik, Affekt. Zum Problem des Körpers in der phänomenologischen und analytischen Filmphilosophie TINA HEDWIG KAISER: Schärfe, Fläche, Tiefe. Wenn die Filmbilder sich der Narration entziehen. Bildnischen des Spielfilms als Verbindungslinien der Bild- und Filmwissenschaft IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 283 Impressum IMAGE 16 JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial MATTHIAS MEILER: Semiologische Überlegungen zu einer Theorie des öffentlichen Raums. Textur und Textwelt am Beispiel der Kommunikationsform Kleinplakat CLAUS SCHLABERG: ›Bild‹. Eine Explikation auf der Basis von Intentionalität und Bewirken ASMAA ABD ELGAWAD ELSEBAE: Computer Technology and Its Reflection on the Architecture and Internal Space JULIAN WANGLER: Mehr als einfach nur grau. Die visuelle Inszenierung von Alter in Nachrichtenberichterstattung und Werbung IMAGE 16 Themenheft: Bildtheoretische Ansätze in der Semiotik JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial DORIS SCHÖPS: Semantik und Pragmatik von Körperhaltungen im Spielfilm SASCHA DEMARMELS: Als ob die Sinne erweitert würden... Augmented Reality als Emotionalisierungsstrategie CHRISTIAN TRAUTSCH/YIXIN WU: Die Als-ob-Struktur von Emotikons im WWW und in anderen Medien MARTIN SIEFKES: The Semantics of Artefacts. How We Give Meaning to the Things We Produce and Use KLAUS H. KIEFER: ›Le Corancan‹. Sprechende Beine IMAGE 15 JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial HERIBERT RÜCKER: Auch Wissenschaften sind nur Bilder ihrer Maler. Eine Hermeneutik der Abbildung RAY DAVID: A Mimetic Psyche GEORGE DAMASKINIDIS/ANASTASIA CHRISTODOULOU: The Press Briefing as an ESP Educational Microworld. An Example of Social Semiotics and Multimodal Analysis KATHARINA SCHULZ: Geschichte, Rezeption und Wandel der Fernsehserie IMAGE 15 Themenheft: Poster-Vorträge auf der internationalen Fachkonferenz »Ursprünge der Bilder. Anthropologische Diskurse in der Bildwissenschaft« Herausgeber: Ronny Becker, Jörg R.J. Schirra, Klaus Sachs-Hombach KLAUS SACHS-HOMBACH: Einleitung MARCEL HEINZ: Born in the Streets. Meaning by Placing TOBIAS SCHÖTTLER: The Triangulation of Images. Pictorial Competence and Its Pragmatic Condition of Possibility MARTINA SAUER: Zwischen Hingabe und Distanz. Ernst Cassirers Beitrag zur Frage nach dem Ursprung der Bilder im Vergleich zu vorausgehenden (Kant), zeitgleichen (Heidegger und Warburg) und aktuellen Positionen IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 284 Impressum IMAGE 14 Herausgeber: Klaus Sachs-Hombach, Jörg R.J. Schirra, Ronny Becker RONNY BECKER/KLAUS SACHS-HOMBACH/JÖRG R.J. SCHIRRA: Einleitung GODA PLAUM: Funktionen des bildnerischen Denkens CONSTANTIN RAUER: Kleine Kulturgeschichte des Menschenbildes. Ein Essay JENNIFER DAUBENBERGER: ›A Skin Deep Creed‹. Tattooing as an Everlasting Visual Language in Relation to Spiritual and Ideological Beliefs SONJA ZEMAN: ›Grammaticalization‹ Within Pictorial Art? Searching for Diachronic Principles of Change in Picture and Language LARISSA M. STRAFFON: The Descent of Art. The Evolution of Visual Art as Communication via Material Culture TONI HILDEBRANDT: Bild, Geste und Hand. Leroi-Gourhans paläontologische Bildtheorie CLAUDIA HENNING: Tagungsbericht zur internationalen Fachkonferenz »Ursprünge der Bilder« (30. März – 1. April 2011) IMAGE 14 Themenheft: Homor pictor und animal symbolicum Herausgeber: Mark A. Halawa MARK A. HALAWA: Editorial. Homo pictor und animal symbolicum. Zu den Möglichkeiten und Grenzen einer philosophischen Bildanthropologie NISAAR ULAMA: Von Bildfreiheit und Geschichtsverlust. Zu Hans Jonas’ homo pictor JÖRG R.J. SCHIRRA/KLAUS SACHS-HOMBACH: Kontextbildung als anthropologischer Zweck von Bildkompetenz ZSUZSANNA KONDOR: Representations and Cognitive Evolution. Towards an Anthropology of Pictorial Representation JAKOB STEINBRENNER: Was heißt Bildkompetenz? Oder Bemerkungen zu Dominic Lopes’ Kompetenzbedingung IMAGE 13 JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial MATTHIAS HÄNDLER: Phänomenologie, Semiotik und Bildbegriff. Eine kritische Diskussion SANDY RÜCKER: McLuhans global village und Enzensbergers Netzestadt. Untersuchung und Vergleich der Metaphern MARTINA SAUER: Affekte und Emotionen als Grundlage von Weltverstehen. Zur Tragfähigkeit des kulturanthropologischen Ansatzes Ernst Cassirers in den Bildwissenschaften JAKOB SAUERWEIN: Das Bewusstsein im Schlaf. Über die Funktion von Klarträumen IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 285 Impressum IMAGE 12: Bild und Transformation Herausgeber: Martin Scholz MARTIN SCHOLZ: Von Katastrophen und ihren Bildern STEPHAN RAMMLER: Im Schatten der Utopie. Zur sozialen Wirkungsmacht von Leitbildern kultureller Transformation KLAUS SACHS-HOMBACH: Zukunftsbilder. Einige begriffliche Anmerkungen ROLF NOHR: Sternenkind. Vom Transformatorischen, Nützlichen, dem Fötus und dem blauen Planeten SABINE FORAITA/MARKUS SCHLEGEL: Vom Höhlengleichnis zum Zukunftsszenario oder wie stellt sich Zukunft dar? ROLF SACHSSE: How to do things with media images. Zur Praxis positiver Transfomationen stehender Bilder HANS JÜRGEN WULFF: Zeitmodi, Prozesszeit. Elementaria der Zeitrepräsentation im Film ANNA ZIKA: gottseidank: ich muss keine teflon-overalls tragen. mode(fotografie) und zukunft MARTIN SCHOLZ: Versprechen. Bilder, die Zukunft zeigen IMAGE 11 JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial TINA HEDWIG KAISER: Dislokationen des Bildes. Bewegter Bildraum, haptisches Sehen und die Herstellung von Wirklichkeit GODA PLAUM: Bildnerisches Denken MARTINA ENGELBRECHT/JULIANE BETZ/CHRISTOPH KLEIN/RAPHAEL ROSENBERG: Dem Auge auf der Spur. Eine historische und empirische Studie zur Blickbewegung beim Betrachten von Gemälden CHRISTIAN TRAUTSCH: Die Bildphilosophien Ludwig Wittgensteins und Oliver Scholz’ im Vergleich BEATRICE NUNOLD: Landschaft als Topologie des S(ch)eins IMAGE 10 Herausgeberinnen: Claudia Henning, Katharina Scheiter CLAUDIA HENNING/KATHARINA SCHEITER: Einleitung ANETA ROSTKOWSKA: Critique of Lambert Wiesing’s Phenomenological Theory of Picture NICOLAS ROMANACCI: Pictorial Ambiguity. Approaching ›Applied Cognitive Aesthetics‹ from a Philosophical Point of View PETRA BERNHARDT: ›Einbildung‹ und Wandel der Raumkategorie ›Osten‹ seit 1989. Werbebilder als soziale Indikatoren EVELYN RUNGE: Ästhetik des Elends. Thesen zu sozialengagierter Fotografie und dem Begriff des Mitleids STEFAN HÖLSCHER: Bildstörung. Zur theoretischen Grundlegung einer experimentell- empirischen Bilddidaktik KATHARINA LOBINGER: Facing the picture. Blicken wir dem Bild ins Auge! Vorschlag für eine metaanalytische Auseinandersetzung mit visueller Medieninhaltsforschung BIRGIT IMHOF/HALSZKA JARODZKA/PETER GERJETS: Classifying Instructional Visualizations. A Psychological Approach IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 286 Impressum PETRA BERNHARDT: Tagungsbericht zur internationalen Fachkonferenz »Bilder – Sehen – Denken« (18. – 20. März 2009) IMAGE 9 KLAUS SACHS-HOMBACH: Editorial DIETER MAURER/CLAUDIA RIBONI/BIRUTE GUJER: Frühe Bilder in der Ontogenese DIETER MAURER/CLAUDIA RIBONI/BIRUTE GUJER: Bildgenese und Bildbegriff MICHAEL HANKE: Text – Bild – Körper. Vilém Flussers medientheoretischer Weg vom Subjekt zum Projekt STEFAN MEIER: »Pimp your profile«. Fotografie als Mittel visueller Imagekonstruktion im Web 2.0 JULIUS ERDMANN: My body style(s). Formen der bildlichen Identität im Studivz ANGELA KREWANI: Technische Bilder. Aspekte medizinischer Bildgestaltung BEATE OCHSNER: Visuelle Subversionen. Zur Inszenierung monströser Körper im Bild IMAGE 8 Herausgeberin: Dagmar Venohr DAGMAR VENOHR: Einleitung CHRISTIANE VOSS: Fiktionale Immersion zwischen Ästhetik und Anästhesierung KATHRIN BUSCH: Kraft der Dinge. Notizen zu einer Kulturtheorie des Designs RÜDIGER ZILL: Im Schaufenster PETRA LEUTNER: Leere der Sehnsucht. Die Mode und das Regiment der Dinge DAGMAR VENOHR: Modehandeln zwischen Bild und Text. Zur Ikonotextualität der Mode in der Zeitschrift IMAGE 7 JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial BEATRICE NUNOLD: Sinnlich – konkret. Eine kleine Topologie des S(ch)eins DAGMAR VENOHR: ModeBilderKunstTexte. Die Kontextualisierung der Modefotografien von F.C. Gundlach zwischen Kunst- und Modesystem NICOLAS ROMANACCI: »Possession plus reference«. Nelson Goodmans Begriff der Exemplifikation – angewandt auf eine Untersuchung von Beziehungen zwischen Kognition, Kreativität, Jugendkultur und Erziehung HERMANN KALKOFEN: Sich selbst bezeichnende Zeichen RAINER GROH: Das Bild des Googelns IMAGE 6 JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial SABRINA BAUMGARTNER/JOACHIM TREBBE: Die Konstruktion internationaler Politik in den Bildsequenzen von Fernsehnachrichten. Quantitative und qualitative Inhaltsanalysen zur Darstellung von mediatisierter und inszenierter Politik HERMANN KALKOFEN: Bilder lesen… IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 287 Impressum FRANZ REITINGER: Bildtransfers. Der Einsatz visueller Medien in der Indianermission Neufrankreichs ANDREAS SCHELSKE: Zur Sozialität des nicht-fotorealistischen Renderings. Eine zu kurze, soziologische Skizze für zeitgenössische Bildmaschinen IMAGE 6 Themenheft: Rezensionen STEPHAN KORNMESSER rezensiert: Symposium »Signs of Identity—Exploring the Borders« SILKE EILERS rezensiert: Bild und Eigensinn MARCO A. SORACE rezensiert: Mit Bildern lügen MIRIAM HALWANI rezensiert: Gottfried Jäger SILKE EILERS rezensiert: Bild/Geschichte HANS JÜRGEN WULFF rezensiert: Visual Culture Revisited GABRIELLE DUFOUR-KOWALSKA rezensiert: Ästhetische Existenz heute STEPHANIE HERING rezensiert: MediaArtHistories MIHAI NADIN rezensiert: Computergrafik SILKE EILERS rezensiert: Modernisierung des Sehens IMAGE 5 JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial HERMANN KALKOFEN: Pudowkins Experiment mit Kuleschow REGULA FANKHAUSER: Visuelle Erkenntnis. Zum Bildverständnis des Hermetismus in der Frühen Neuzeit BEATRICE NUNOLD: Die Welt im Kopf ist die einzige, die wir kennen! Dalis paranoisch- kritische Methode, Immanuel Kant und die Ergebnisse der neueren Neurowissenschaft PHILIPP SOLDT: Bildbewusstsein und ›willing suspension of disbelief‹. Ein psychoanalytischer Beitrag zur Bildrezeption IMAGE 5 Themenheft: Computational Visualistics and Picture Morphology Herausgeber: Jörg R.J. Schirra JÖRG R.J. SCHIRRA: Computational Visualistics and Picture Morphology. An Introduction YURI ENGELHARDT: Syntactic Structures in Graphics STEFANO BORGO/ROBERTA FERRARIO/CLAUDIO MASOLO/ALESSANDRO OLTRAMARI: Mereogeometry and Pictorial Morphology WINFRIED KURTH: Specification of Morphological Models with L-Systems and Relational Growth Grammars TOBIAS ISENBERG: A Survey of Image-Morphologic Primitives in Non-Photorealistic Rendering HANS DU BUF/JOÃO RODRIGUES: Image Morphology. From Perception to Rendering THE SVP GROUP: Automatic Generation of Movie Trailers Using Ontologies JÖRG R.J. SCHIRRA: Conclusive Notes on Computational Picture Morphology IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 288 Impressum IMAGE 4 JÖRG R.J. SCHIRRA: Editorial BEATRICE NUNOLD: Landschaft als Topologie des Seins STEPHAN GÜNZEL: Bildtheoretische Analyse von Computerspielen in der Perspektive Erste Person MARIO BORILLO/JEAN-PIERRE GOULETTE: Computing Architectural Composition from the Semantics of the Vocabulaire de l’architecture ALEXANDER GRAU: Daten, Bilder: Weltanschauungen. Über die Rhetorik von Bildern in der Hirnforschung ELIZE BISANZ: Zum Erkenntnispotenzial von künstlichen Bildsystemen IMAGE 4 Themenheft: Rezensionen Aus aktuellem Anlass: FRANZ REITINGER: Karikaturenstreit Rezensionen: FRANZ REITINGER rezensiert: Geschichtsdeutung auf alten Karten FRANZ REITINGER rezensiert: Auf dem Weg zum Himmel FRANZ REITINGER rezensiert: Bilder sind Schüsse ins Gehirn KLAUS SACHS-HOMBACH rezensiert: Politik im Bild SASCHA DEMARMELS rezensiert: Bilder auf Weltreise SASCHA DEMARMELS rezensiert: Bild und Medium THOMAS MEDER rezensiert: Blicktricks THOMAS MEDER rezensiert: Wege zur Bildwissenschaft EVA SCHÜRMANN rezensiert: Bild-Zeichen und What do pictures want? IMAGE 3 KLAUS SACHS-HOMBACH: Editorial HEIKO HECHT: Film as Dynamic Event Perception. Technological Development Forces Realism to Retreat HERMANN KALKOFEN: Inversion und Ambiguität. Kapitel aus der psychologischen Optik KAI BUCHHOLZ: Imitationen. Mehr Schein als Sein? CLAUDIA GLIEMANN: Bilder in Bildern. Endogramme von Eggs & Bitschin CHRISTOPH ASMUTH: Die Als-Struktur des Bildes IMAGE 3 Themenheft: Bild-Stil. Strukturierung der Bildinformation Herausgeber/in: Martina Plümacher, Klaus Sachs-Hombach MARTINA PLÜMACHER/KLAUS SACHS-HOMBACH: Einleitung NINA BISHARA: Bilderrätsel in der Werbung SASCHA DEMARMELS: Funktion des Bildstils von politischen Plakaten. Eine historische Analyse am Beispiel von Abstimmungsplakaten DAGMAR SCHMAUKS: Rippchen, Rüssel, Ringelschwanz. Stilisierungen des Schweins in Werbung und Cartoon BEATRICE NUNOLD: Landschaft als Immersionsraum und Sakralisierung der Landschaft KLAUS SACHS-HOMBACH/JÖRG R.J. SCHIRRA: Bildstil als rhetorische Kategorie IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 289 Impressum IMAGE 2: Kunstgeschichtliche Interpretation und bildwissenschaftliche Systematik Herausgeber: Klaus Sachs-Hombach KLAUS SACHS-HOMBACH: Einleitung BENJAMIN DRECHSEL: Die Macht der Bilder als Ohnmacht der Politikwissenschaft. Ein Plädoyer für die transdisziplinäre Erforschung visueller politischer Kommunikation EMMANUEL ALLOA: Bildökonomie. Von den theologischen Wurzeln eines streitbaren Begriffs SILVIA SEJA: Das Bild als Handlung? Zum Verhältnis der Begriffe ›Bild‹ und ›Handlung‹ HELGE MEYER: Die Kunst des Handelns und des Leidens. Schmerz als Bild in der Performance Art STEFAN MEIER-SCHUEGRAF: Rechtsextreme Bannerwerbung im Web. Eine medienspezifische Untersuchung neuer Propagandaformen von rechtsextremen Gruppierungen im Internet IMAGE 2 Themenheft: Filmforschung und Filmlehre Herausgeber/in: Eva Fritsch, Rüdiger Steinmetz EVA FRITSCH/RÜDIGER STEINMETZ: Einleitung KLAUS KEIL: Filmforschung und Filmlehre in der Hochschullandschaft EVA FRITSCH: Film in der Lehre. Erfahrungen mit einführenden Seminaren zu Filmgeschichte und Filmanalyse MANFRED RÜSEL: Film in der Lehrerfortbildung WINFRIED PAULEIT: Filmlehre im internationalen Vergleich RÜDIGER STEINMETZ/KAI STEINMANN/SEBASTIAN UHLIG/RENÉ BLÜMEL: Film- und Fernsehästhetik in Theorie und Praxis DIRK BLOTHNER: Der Film. Ein Drehbuch des Lebens? Zum Verhältnis von Psychologie und Spielfilm KLAUS SACHS-HOMBACH: Plädoyer für ein Schulfach ›Visuelle Medien‹ IMAGE 1: Bildwissenschaft als interdisziplinäres Unternehmen. Eine Standortbestimmung KLAUS SACHS-HOMBACH: Editorial PETER SCHREIBER: Was ist Bildwissenschaft? Versuch einer Standort- und Inhaltsbestimmung FRANZ REITINGER: Die Einheit der Kunst und die Vielfalt der Bilder KLAUS SACHS-HOMBACH: Arguments in Favour of a General Image Science JÖRG R.J. SCHIRRA: Ein Disziplinen-Mandala für die Bildwissenschaft. Kleine Provokation zu einem neuen Fach KIRSTEN WAGNER: Computergrafik und Informationsvisualisierung als Medien visueller Erkenntnis DIETER MÜNCH: Zeichentheoretische Grundlagen der Bildwissenschaft ANDREAS SCHELSKE: Zehn funktionale Leitideen multimedialer Bildpragmatik HERIBERT RÜCKER: Abbildung als Mutter der Wissenschaften IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 290 Impressum IMAGE 1 Themenheft: Die schräge Kamera Herausgeber: Klaus Sachs-Hombach, Hans Jürgen Wulff KLAUS SACHS-HOMBACH/HANS JÜRGEN WULFF: Vorwort KLAUS SACHS-HOMBACH/STEPHAN SCHWAN: Was ist ›schräge Kamera‹? Anmerkungen zur Bestandsaufnahme ihrer Formen, Funktionen und Bedeutungen HANS JÜRGEN WULFF: Die Dramaturgien der schrägen Kamera. Thesen und Perspektiven THOMAS HENSEL: Aperspektive als symbolische Form. Eine Annäherung MICHAEL ALBERT ISLINGER: Phänomenologische Betrachtungen im Zeitalter des digitalen Kinos JÖRG SCHWEINITZ: Ungewöhnliche Perspektive als Exzess und Allusion. Busby Berkeleys »Lullaby of Broadway« JÜRGEN MÜLLER/JÖRN HETEBRÜGGE: Out of focus. Verkantungen, Unschärfen und Verunsicherungen in Orson Welles’ The Lady from Shanghai (1947) IMAGE | Ausgabe 28 | Themenheft Ikonische Grenzverläufe | 07/2018 291