Geographisch-politisches Laufbild Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart (D 1922, Regie: Felix Lampe,Wäalter Zürn) FilmDokument 43, Kino Arsenal, 25. März 2002 In Zusammenarbeit mit den Freunden der Deutschen Kine- mathek, Berlin, dem Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin, und dem DFG-Projekt „Geschichte und Ästhetik des dokumentarischen Films in Deutschland I1918 bis 1933“ Einführung: Klaus Kreimeier' Der am 29. November 1922 in den Berliner Kammerlichtspielen uraufgeführte Film Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart ist eine Produktion der Ufa- Kulturabteilung Berlin. Für die Kamera ist Curt Helling verantwortlich, feder- führend für die Gesamtherstellung wie für die wissenschaftliche Bearbeitung sind laut Zensurkarte Prof. Dr. Felix Lampe und Dr. Walter Zürn.? Beide sind Mitarbeiter der am 1. Juli 1918, also noch während des Weltkriegs, gegründe- ten Ufa-Kultur(film)abteilung. Deutsche Militärs, Ärzte und Naturwissen- schaftler - Nicholas Kaufmann, Major a.D. Ernst Krieger, Oskar Kalbus, Ulrich K.T. Schulz - verstehen sich in diesen Jahren als Pioniere eines neuen Film- genres: Der Lehr- und Unterrichtsfilm ist ihr kulturpolitisches und pädagogi- sches Projekt. Felix Lampe, gelernter Geograph, spielt in der Kulturabteilung eine maßgebliche Rolle. Seit 1919 ist er zudem Direktor des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, das alle Lehrfilme zu prüfen hat und Beschei- nigungen über ihre Förderungswürdigkeit ausstelit (den sogenannten „Lam- pe-Schein”, der die Steuerabgabe für die Kinobesitzer mindert). Ab 1924 ver- gibt der Lampe-Ausschuss auch die Prädikate „volksbildend“ und „künstle- risch wertvoll” für Spielfilme. Lampe hat somit eine Schlüsselfunktion in der Filmindustrie, die ihm einen eminenten kulturellen und filmpolitischen Ein- fluss und zahllose Feinde verschafft. ' Klaus Kreimeier, geb. 1938. Promotion zum Dr. phil, 1964. Bis 1976 Fernsehdramatursg, „Spiegel“-Redakteur und Dozent an der Deutschen Film-und Fernsehakademie Berlin, da- nach freier Autor. Seit 1997 Professor der Medienwissenschaft und Leiter des Medienstu- diengangs an der Universität Siegen. Neuere Buchveröffentlichungen: „Die Ufa-Story", 1992 (Neuausgabe 2002); „Lob des Fernsehens“, 1995 (beide im Hanser Verlag München). Herausgeber der medienwissenschaftlichen Zeitschrift „Navigationen“. DFG-geförderte Forschungsprojekte: „Geschichte und Ästhetik des Dokumentarfilms in Deutschland“ (Teilprojekt Il:Weimarer Republik) und Forschungskolleg der Universität Siegen „Medien- umbrüche" (Teilprojekt „Industrialisierung der Wahrnehmung‘). 46 Die Kulturabteilung der Ufa stellt Filme für Schulen und wissenschaftliche Institutionen her, ebenso obliegt ihr die Bearbeitung des Materials für den Kulturfilm als Kino-Beiprogramm. Mit dem Ufa-Kulturfilm, der Ufa-Wochen- schau (ab 1925) und dem Spielfilm kann die Firma in ihren eigenen Theatern dem gesamten Kinoprogramm ihr Gepräge geben und ihre marktbeherrschen- de Position entsprechend ausbauen. „Der Triumph aber des Kulturfilms, das Zeichen, dass der Kulturfilm dem Spielfilm ebenbürtig geworden, ist die Tat- sache, dass zurzeit in den großen Ufa-Theatern Berlins Kulturfilme im Abend- programm mit dem denkbar größten Erfolg gespielt werden”, schreibt Ulrich Kayser im Februar 1923 und verweist auf zwei prominente Beispiele: auf den Steinachfilm, der nahezu vier Wochen im Ufa-Palast (2000 Plätze) läuft, und auf den Film Unter Wilden und wilden Tieren im Tauentzien-Palast.? In dieses facettenreiche Umfeld gehört auch der „Rheinfilm“ von 1922; er wird für die Auswertung im Kino produziert (und läuft in den Ufa-Theatern mit großem Erfolg); ab 1923 wird von der Ufa-Theater-Betriebs-Gesellschaft auch die Vorführung für Berliner Schulklassen organisiert.‘ Filmhistorisch ist er als ein frühes Beispiel des langen, abendfüllenden Ufa-Kultur- und Lehr- films zu würdigen (Zensurlänge 2315 bzw. 2102 m). Der politische Kontext der ersten Nachkriegsjahre erhöht die Bedeutung, ja die Brisanz des Rheinfilms in dem Maße, wie die aktuelle politische Lage aus dem filmischen Text selbst (nahezu vollständig) ausgeklammert wird. 1922 ist der Versailler Vertrag von 1919 zum Gegenstand heftigster Agitati- on der nationalen Rechten geworden. Er hat u.a. Elsass-Lothringen und Eu- pen-Malmedy den Siegermächten Frankreich bzw. Belgien zugeschlagen, das Saargebiet unter Völkerbundsverwaltung gestellt und die Entmilitarisierung der Rheinufer verfügt. Der Kapp-Putsch von 1920 wurde durch den General- streik der Gewerkschaften niedergeschlagen, aber politisch bleiben die rechtsnationalen, antidemokratischen Kräfte in der Offensive. 1921/22 sieht sich Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) mit dem Vorwurf der „Erfüllungs- politik” gegenüber dem Versailler Vertrag konfrontiert; 1921 wird der Zen- trumspolitiker Matthias Erzberger, 1922 Außenminister Walther Rathenau von Nationalisten ermordet. In den Folgejahren liefern der Streit um die deutschen Reparationszahlungen und die Ruhrbesetzung durch Frankreich (1923) der rechten Propaganda neue Nahrung; im Rheinland finden separatis- tische Strömungen Zulauf, die erst 1924 endgültig scheitern. „Der Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze”: Diese In- schrift auf dem Sockel des Ernst Moritz Arndt-Denkmals in Bonn am Alten Zoll signalisiert das politische Programm, dem sich der filmische Text zuord- net, ohne (von einer signifikanten Ausnahme abgesehen) die politischen Fakten der Gegenwart zu markieren. Über weite Strecken bedient sich der Film einer bewährten Narrationsstruk- tur des „raunenden Imperfekts“ und konstruiert so einen ideologischen Text, 47 der seinerseits auf eine ideologische Lektüre und deren Applikation auf die aktuelle Lage zielt. Schrille patriotische Töne sind in dieser Struktur über- flüssig. Damit folgt der Rheinfilm einem Paradigma, das für zahllose Ufa-Kul- turfilme mit historischen, landes-, heimat- oder „volkskundlichen“ Themen maßgeblich sein wird. Was ist zu sehen? Nach den Kategorien, die Felix Lampe selbst aufgestellt hat, ist der Rheinfilm den „geographischen Laufbildern” zuzuzählen.? Eine deutsche Landschaft wird in Szene gesetzt; im pädagogischen Kino der Ufa stehen „Erdkunde“ und Geschichte auf dem Stundenplan. Eine Raum-Reise: von der Schweizer Gletscherwelt bis zur Mündung des Rheins in die Nordsee, und eine Zeit-Reise: aus Vorgeschichte und Antike bis in die industrielle Mo- derne des zwanzigsten Jahrhunderts. Zwei „Längserstreckungen“ mussten miteinander „verquickt” werden, schreibt der Film-Kurier nach der Pressevor- führung im Berliner Tauentzien-Palast.° Zu sehen ist ein Geographiefilm, der den Rhein selbst ebenso wie die Landschaften und Städte an seinen Ufern vor Augen führt: vom Bodensee über die mittelrheinische Tiefebene, das Sie- bengebirge, Bonn, Köln und Duisburg bis zu den großen Städten der Nieder- lande. Eingewoben finden sich die Elemente eines Kulturfilms, der - von Bar- barossa bis zur Loreley - jene Sagen, Legenden und Mythen evoziert, die sich um den Rhein und seine Burgen gesponnen haben. Der Begriff der Evokation ist im Wortsinn zu verstehen: Der Film „beschwört” das mythische Material, indem er es aus dem kollektiven Gedächtnis seines Publikums „abruft“ und weiterschwingen lässt. Die Uraufführung, die von den Liedern des Nebe-Quar- tetts und Gesangssolisten begleitet wird, „intoniert” die mythischen Werte auch musikalisch. „Nun hat auch die Ufa ihren singenden Film.” Der Rheinfilm ist auch ein „volkskundlicher“ Film, der seine Zuschauer dar- über belehrt, dass sich in vielen Städten und Dörfern links und rechts des Stroms das „altdeutsche Volkstum”, seine Sitten und Gebräuche erhalten ha- ben. Die Aussage wird Zwischentiteln, die Beweisführung einigen Bildern mit Bauern und Bäuerinnen in ihren Trachten anvertraut. Vorsichtig vermerkt der Film-Kurier hier ein Defizit an Überzeugungskraft: Der Film sei ein Erlebnis für die Zuschauer, „soweit ein Film, der nicht das Leben von Menschen be- handelt, überhaupt ein Erlebnis werden kann."® In der Tat sind offenbar schon manchem zeitgenössischen Auge eine seltsame Leblosigkeit der Bildge- staltung, eine befremdliche Menschenferne der gewählten Drehorte nicht entgangen. Genrewechsel innerhalb des Films sind unumgänglich. Der Kulturfilm, der uns daran erinnert, dass in Mannheim Schillers „Räuber“ uraufgeführt wur- Zu den Abbildungen. S. 4Bo.: Kartentrick. 5. 48u.: Die Römer am Rhein. Geschützexerzieren im Saal- burg-Castell. - S. 49:VVeinlese in allegorischer und dokumentarischer Darstellung. - S. 50: Rheinisch- westfälisches Industriegebiet. - S. 510.:Am I. Januar 1814 überquerte Blücher mit dem schlesischen Heer den Rhein. S. 5 lu.:Alt-holländische Schifferkneipe. (Fotos: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung; Fotos aus der Kopie: Marian Stefanowski, Bildauswahl: Jeanpaul Goergen) 52 den, in Bonn Beethoven geboren wurde und Goethe zweimal in Düsseldorf weilte, mutiert im letzten Drittel zum Industriefilm, der mit beeindruckenden Bildern den historischen Prozess der Urbanisierung und Industrialisierung, also den Umbau einer alten Kulturlandschaft beschreibt. Schließlich: Der Rheinfilm ist ein in Maßen patriotischer Film, der sich auf den vaterländi- schen Geist der Freiheitskriege (Blüchers Rheinüberquerung) und der Grün- derjahre des 19. Jahrhunderts beruft. Arndts Wort von jenem „altgermani- schen Sturmwind, der aus Felsgrund Tannen reißt”, wird bezeichnenderweise auf die Moderne, auf die umpflügenden Potenziale der deutschen Industrie bezogen. Zwischentitel appellieren - zu den Bildern des Duisburger Hafens und des rheinischen Braunkohlereviers - an „deutschen Geist und deutsche Schaffenskraft”. Ist der Kultur- und Lehrfilm Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart ein dokumentarischer Film? Sind Kulturfilme - Dokumentarfilme? Wir sehen do- kumentarisches Material: Bilder vom Rhein und seinen Landschaften, von Städten und Dörfern, auch wenn der aktuelle Alltag in diesen Städten und Dörfern die Kamera gar nicht interessiert. Es handelt sich um eine Selektion von Bildern, die auf ein bestimmtes Konzept, eine bestimmte Komposition zugeschnitten ist: der Rhein als Symbol für Urwüchsigkeit (geologisch-my- thisch) und altdeutsche Art (historisch-politisch); auch die Industriebilder springen nicht in die Moderne, sondern verlängern das Urwüchsige und Alt- deutsche ins Zeitalter der Maschinen und der Krupp AG. Eben: ein „Bildge- sang auf den Rhein“.’ Im dramaturgischen Aufbau präsentiert der Rheinfilm ein Konstrukt aus „dokumentarischen” und „fiktionalen” Szenen, das gleichfalls Schule machen und zu einem weiteren Paradigma des Ufa-Kulturfilms werden wird. Inszenierte Sequenzen - das Leben am Rhein zur Römerzeit, Barbarossa, Blüchers Rheinüberquerung („besonders Blücher erweckte frenetischen Bei- fall”!°), Goethe und Friederike, Szenen aus Beethovens Leben - sind im histo- rischen Ambiente und in historischen Kostümen nachgestellt. Der Film-Kurier analysiert präzise die Melange, die da zustande gekommen ist: Bilder, „wie sie unverändert im strengen Lehrfilm benutzt werden”, wechseln sich ab mit „gestellten historischen Szenen, wie sie für den Spielfilm allein in Frage kommen“. Zusammen mit den Trickaufnahmen sei das eine „neue Einheit”, die man als „Populehrfilm” bezeichnen könnte." Ein Begriff, der sich nicht durchgesetzt hat, aber in den Formaten, die das Fernsehen als Leitmedium kreiert hat, weiter virulent ist. „Infotainment“ und „Doku-Drama“ bezeich- nen den heute aktuellen Stand einer medialen Virtualisierung von Realität, an der bereits der Kulturfilm gearbeitet hat. Schon 1922 wird dagegen mora- lisch intendierter, jedoch ästhetisch begründeter Einspruch laut. Das Bestre- ben, „aus dem reinen Lehrfilm einen Unterhaltungsfilm zu machen”, begegne „Starken ästhetischen Bedenken“, so die Vossische Zeitung, „namentlich die 53 Szenen, in denen Goethe auftritt, hätten fehlen dürfen.“'? Die Kamerafüh- rung in den dokumentarischen Ansichten erlaubt sich keine Extravaganzen, oft ist sie starr, total, seltener nah oder gar groß auf Details gerichtet. Gilt es, Landschaften oder Stadtpanoramen zu überblicken, wird unser Auge in behutsame Schwenks mitgenommen. Es dominiert eine Kamera, die uns nichts erzählen, sondern etwas zeigen will, damit wir etwas lernen und das Gelernte für unser Leben im Gedächtnis behalten können. Gelegentlich nimmt sie die Perspektive des Reisenden oder eines Wanderers ein, der im Vordergrund durchs Bild zieht oder seinen Hut vor einer Sehenswürdigkeit, etwa der Heidelberger Schlossruine, schwenkt. Als neue Errungenschaft führt die Ufa-Kulturabteilung in diesen Jahren die Trick-Grafik ein. Hier sind es schematische Darstellungen des Rheinverlaufs, vereinfachte Reliefkarten, gelegentlich werden Schriftelemente animiert. Da- mit beginnt eine Ästhetik der abstrakten Darstellung großflächiger geogra- phischer Räume, die wenig später - in der Werkstatt des neusachlichen Film- gestalters Svend Noldan - auch für militärstrategische Visualisierungen ge- nutzt wird (so im Ufa-Kompilationsfilm Der Weltkrieg, 1927) und in die Er- oberungs-Kartographien der nationalsozialistischen Wochenschauen mündet. In der Organisation des gefilmten Materials folgt der Film einer Kapitel-Ein- teilung: sieben Akte, die nach den wichtigsten geographischen Abschnitten des Rheinverlaufs geordnet sind. Dies ist die didaktische Methodik des Schul- buchs für die Realschule oder für die Unterstufe der Gymnasien, die von der Ufa-Kulturabteilung als Zielgruppe dem Marketing-Konzept einverleibt wer- den. Der sog. „Unterrichtsfilm” argumentiert mit Ordnungsmustern, in der für Spontaneität, Willkür, Phantasie und Irritation kein Raum vorgesehen ist. Bilder, die der pädagogischen Beweisführung nicht gefügig sind, werden nicht zugelassen. Die Sequenzen innerhalb der Kapitel werden meist durch Kreisblenden ge- trennt - ein ästhetisches Montagemittel des frühen stummen Spielfilms, das sich noch am Theatervorhang orientiert. Die Kreisblende simuliert das menschliche Auge, das sich schließt, nachdem es sich an etwas „satt gese- hen“ hat, und das sich wieder öffnet, um für etwas Neues „aufgeschlossen“ zu sein - ein Gliederungsprinzip, das heute in den vielfach animierten und variierten Fenstergrafiken im Fernseh-Design fortexistiert. Den Film begleitet in den zeitgenössischen Kinos Klaviermusik, in den gro- ßen Häusern ein Orchester. Der Kommentar, lapidar gehalten, ist Zwischenti- teln anvertraut, die in gotischer Fraktur gestaltet sind. Das Lesetempo des zeitgenössischen Publikums verlangt dem heutigen Geduld ab (und die Nei- gung, sich in „altdeutsche Botschaften” zu versenken). Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Untergang der Monarchie wird mit dem Rheinfilm der Ufa ein ideologisch besetzter, von Gemüts- und Stimmungswerten grundierter Großkomplex restauriert. Der Rhein gehört zur 54 symbolischen Grundausstattung der nationalen Rechten, und das alte Inven- tar der Mythen und Legenden muss gar nicht im zeitgeschichtlichen Sinne nachgerüstet oder gar aktualisiert werden, um das Publikum zu erreichen: „es lebt darin etwas, was wir sonst im Kino so selten finden: das deutsche Gemüt in seiner ganzen Tiefe.” Der Film ist sich seiner Adressaten sicher; gezielter politischer Propaganda kann er sich enthalten. Wenn die letzten Bilder die sturmgepeitschte Nordsee zeigen, versichert eine abschließende Schrifttafel: „Wie der Strom wird zum Meere, so greift auch des Menschen weitschauendes Wirken über das heimi- sche Land hinaus ... Weltumspannend - der deutschen Heimat getreu.” Die germanisierenden Alliterationen stimmen den Ton an. Das Film-Echo bestä- tigt: Die Autoren haben einen „wahrhaft nationalen Film“ geschaffen, '* zu besichtigen ist laut Kinematograph „eine schöne und große nationale Tat.” Der Film „erntete bei seiner Erstaufführung Beifallsstürme, wie sie dieses Haus seit Fridericus Rex nicht mehr gesehen hat”, notiert Fritz Olimsky.” Den aktuellen Bezug stellt die Vossische Zeitung her: „Und so wird dieses Laufbild zweifellos seinen Weg, namentlich der Gefühlswerte wegen, machen, die mit dem Begriff des Rheines, dem Wein und Sang am Rhein, nicht zuletzt der augenblicklichen Lage des Rheinlandes fest verbunden sind.” Das von der Interalliierten Rheinlandkommission verhängte Verbot des Films im besetzten Rheinland empört auch den Film-Kurier: „So weit ist es mit Deutschland gekommen, dass es sich die Vorführung von Bildern seines größten Stromes im eigenen Lande untersagen lassen muss.“'* Den Protest- aufmarsch von fünfhundert Kommunisten, der eine Aufführung in Chemnitz verhindert, geißelt die Zeitung als Gipfel „parteipolitische(r) Verbohrtheit.”" Andererseits stellt sie mit Genugtuung fest, dass es bei der Premiere des Rheinfilms in den USA Anfang 1924 keine „aufdringliche deutsch-patrioti- sche Kundgebung“? gegeben habe. Die einzige Filmszene, die politische Ge- genwart präsentiert, wird schon bei der Berliner Uraufführung geschickt ent- schärft: „Als irgendwo am Rhein Besatzungstruppen gezeigt wurden [in der Mainz-Sequenz, Anm. KK], verstummte das Orchester, um die patriotische Stimmung des Publikums nicht zu unkluger Ekstase hinzureißen”.” Postskriptum: Auch 1922 wäre natürlich ein ganz anderer Rheinfilm denk- bar gewesen. Die Republik war jung und schwach, aber noch nicht geschla- gen. Das „eine“ Deutschland lag mit dem „anderen“ im Streit. Ein „anderer“ Rheinfilm hätte vermutlich an die badischen und rheinischen Revolutionäre von 1848 erinnert, an Heinrich Heine und an den Herausgeber der „Neuen Rheinischen Zeitung“, Karl Marx. Er hätte die Bilder von den Rheinbrücken gezeigt, über die nur vier Jahre zuvor die geschlagenen deutschen Armeen von den französischen Fronten zurück in die Heimat strömten. Aber dieses andere Deutschland misstraute dem Film. Es fürchtete eher die Bilder und scheute noch den Kampf, sich ihrer zu bemächtigen. 55 Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart Produktion: Universum Film AG (Ufa), Kulturabteilung, Berlin, 1922 / Wissenschaftlich be- arbeitet und aufgenommen von Professor Dr. Felix Lampe und Dr. Walter Zürn / Histori- sche Bilder: E. Baron, Dr. Walter Zürn / Kamera: Curt Helling Verleih: Ufaverleih;Verleih für Westdeutschland: Geographische Gesellschaft, Düsseldorf Zensur: 17.10.1922, B 6640, 7 Akte, 2315 m, Jf./ 8.12.1922, B 6791, 7 Akte, 2102 m, Jf./ 8.12.1922, ausgefertigt am 4.3.1924, B 6791/6908, 7 Akte, 2105 m, Jf.. Pressevorführung: 22.10.1922, Berlin (Tauentzien-Palast) / Uraufführung (umgeänderte Fassung): 29.11.1922, Berlin (Kammerlichtspiele) / Erstaufführung USA: 20.12.1923, Wa- shington (Auditorium der Irving-Hochschule) Kopie: Bundesarchiv-Filmarchiv: 35mm, s/w, 2088 m (= 90‘ bei 20 Bilder/Sekunde); Kopie entspricht der Zensur B 679] ? Zensurkarten B 6640 vom 17.10.1922,B 6791| vom 8.12.1922 sowie B 6791/6908 vom 8.12.1922, ausgefertigt am 4.3.1924. (Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin) — Dr.Walter Zürn (Lebensdaten nicht bekannt) realisierte für die Ufa u.a. den abendfüllenden Kulturfilm Das Paradies Europas. Ein Bild vom Schweizer Volk und seinen Bergen (1925) sowie 1926 eine Serie von Kurzfilmen über Dresden (Dresden, das deutsche Florenz) und die landschaftlichen Schönheiten Sachsens. — Für Quellenhinweise danke ich Jeanpaul Goergen. ’ Ulrich Kayser: Der Kulturfilm in der Öffentlichkeit. In: Film-Kurier, Nr. 31, 6.2.1923. Der Steinachfilm (P: Ufa 1922) hatte Geschlechtsmerkmale, Geschlechtsumwandlung und Ver- jüngung zum Thema. Unter Wilden und wilden Tieren (P: Svenska-Biograf, Stockholm) doku- mentierte die Abenteuer einer schwedischen Filmexpedition in Ostafrika. *Wie Anm. 3.Vgl.: Der Kulturfilm in der Öffentlichkeit. In: Film-Kurier, Nr. 32, 7.2.1923. ° Prof. Dr. F. [Felix] Lampe: Das geographische Laufbild. In: Dr. E. [Edgar] Beyfuss und Dipl.- Ing. A. Kossowsky: Das Kulturfilmbuch, Berlin 1924, 5. 135 ff. * Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart. In: Film-Kurier, Nr. 234, 23.10.1922. ”Hi.: Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart. In:Vossische Zeitung, Nr. 572,3.12.1922. ® Wie Anm. 6. ” Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart. In: Der Kinematograph, Nr. 819, 29.10.1922. '® Wie Anm. 7. !! Wie Anm. 6. "2 Wie Anm. 7. ?Oly [d.i. Fritz Olimsky]: Erstaufführung des Rheinfilms. In: Berliner Börsen-Zeitung, 30.11.1922 (Stiftung Deutsche Kinemathek, Schriftgutarchiv). '* Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart. In: Film-Echo. Beilage zur Sonderausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers, Nr. 39, 23.10.1922 (Die Filme der Woche). 3 Wie Anm. 9. 6 Wie Anm. 13. "Wie Anm. 7. !& Verbot des „Rheinfilms‘“ im besetzten Gebiet. In: Film-Kurier, Nr. 65, 17.3.1923. % Die Chemnitzer Kommunisten und der Rheinfilm. In: Film-Kurier, Nr. 73, 27.3.1923. 2 Der „Rheinfilm‘ in Amerika. In: Film-Kurier, Nr. 23, 26.1.1924. 2! Wie Anm. 13. 56