Über den Quellenwert historischer Film-, Photo- und Tonaufnahmen Eine Untersuchung am Beispiel des 17. Juni 1953 Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen vorgelegt von Joachim Wendorf aus Goslar Göttingen, 1997 Inhaltsverzeichnis Seite 1. Allgemeine Themenstellung 4 2. Fachtermini für die Umsetzung der methodologischen Fragestellung 14 3. Zur theoretischen Aussagekraft bildlicher Quellen 15 3.1 Der photographische Prozeß: Vom Druck auf den Auslöser bis zur verbalen Interpretation. Eine Ablaufbeschreibung 16 3.1.1 Prinzipielle Beschränkungen des photographischen Verfahrens im Vergleich zu einer physischen Präsenz vor Ort 18 3.1.2 Weitere entfremdende Elemente photographischer Aufzeichnung 19 3.1.3 Manipulationen an Photos 22 3.2 Die Abbildungstreue - eine gesicherte methodische Grundlage 25 3.3 Theoretisches Urteil über das Verhältnis von Bildaussage und verbalem Augenzeugenbericht 26 4. Zur theoretischen Aussagekraft von Tonquellen 31 4.1 Tonaufnahmen in der Rechtswissenschaft und in der Linguistik 32 4.2 Von der Schallquelle zur Tonwiedergabe: eine Ablaufbeschreibung 34 4.2.1 Frequenzumfang und HiFi-Qualität 34 4.2.2 Mikrophone 35 4.2.3 Schallspeicherung 36 4.2.4 Tonmischung 36 4.2.5 Aussteuerung 37 4.2.6 Tonschnitt 37 4.2.7 Zur theoretischen historischen Wertigkeit von Tonaufnahmen 37 5. Bild- und Schriftquellen: Ein erster Vergleich anhand der Demonstrationen vom 16. Juni 1953 39 5.1 Der Beginn der Demonstrationen: Innovation durch Bildquellen 40 5.2 Zum Verhältnis von Bildaussage und Augenzeugenbericht: Die numerische Stärke der Demonstrationen 47 5.3 Ein quellenspezifischer Beitrag zur Variationsbreite von Aktionsformen: Die Bedeutung der Demonstrationsgruppen auf den Straßen am Abend des 16. Juni für die Ausweitung der Unruhen am folgenden Tag 51 5.4 Der Einfluß der Bildquellen auf das Geschichtsbild vom 16. Juni. Inhaltliche und methodische Erkenntnisse 54 6. Können Bild- und Tonquellen zur Begriffsbildung vom 17. Juni beitragen? 56 6.1 Allgemeine Vorbemerkungen zum historischen Gegenstand 57 6.2 Allgemeine Quellenlage und Repräsentativität der Film-, Photo- und Tonaufnahmen 64 6.3 Willensbekundungen von Demonstranten am Beispiel von Gewaltanwendungen gegen Personen 68 6.4 Willensbekundungen am Beispiel der Zerstörung von Symbolen 81 6.5 Verbale Willensbekundungen 99 7. Bild- und Tonquellen über offizielle Reaktionen von östlicher Seite 114 7.1 Reaktionen am 16. Juni 115 7.1.1 Politbüro-Erklärung zur Rücknahme der Normerhöhung 116 7.1.2 Diskussion vor dem Haus der Ministerien 117 7.1.3 Erste Zusammenstöße zwischen Demonstranten, Parteianhängern und VP 118 7.1.4 Die Reden von Grotewohl und Ulbricht auf der Parteiaktivtagung und ihre Veröffentlichung im Neuen Deutschland 119 7.2 Reaktionen am 17. Juni 128 8. Bild- und Tonquellen über offizielle Reaktionen von westlicher Seite 133 9. Zusammenfassung 136 Hinweise zu Abkürzungen und zur Zitierweise der Film-, Photo- und Tonquellen Literaturverzeichnis Schlagwortverzeichnis 1. Allgemeine Themenstellung "Wenn die Daguerreotypie, dieses Riesenkind, herangewachsen sein wird; wenn all seine Kunst und Stärke sich wird entfaltet haben, dann wird der Genius es plötzlich mit der Hand am Genick packen und laut rufen: Hierher! Mir gehörst Du jetzt!"1 (Antoine Wiertz, 1870) Von dieser Euphorie der frühen Gründerzeit ist in unseren Tagen nur wenig geblieben. In Bildung und Wissenschaft mehren sich die Stim- men derer, die vor der unkontrollierten Wirkung heutiger Bilderfluten warnen - vor der Bildung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft bei der Medien-Nutzung2 und vor vielen anderen Gefahren3. Nach Meinung der amerikanischen Essayistin Susan Sontag hat "die Allgegenwart der Photographie eine unberechenbare Auswirkung auf unsere Fähigkeit, ethisch zu empfinden. Indem sie die ohnehin unübersichtlich gewor- dene Welt abbildet und so mit einem Duplikat ihrer selbst ausstattet, läßt uns die Photographie die Welt verfügbarer erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist. ... Die Industriegesellschaften verwandeln ihre Bür- ger in Bilder-Süchtige; dies ist die unwiderstehlichste Form von ge i- stiger Verseuchung."4 Sontags Ausführungen gipfeln in der Behaup- tung, aus einem Photo ließe sich "genaugenommen nie etwas verste- hen"5. Auch in der Beurteilung des historischen Aussagewertes von Photos und Filmen hat es einen gravierenden Wandel gegeben. Noch 1898, das "Film" genannte Bewegtbild war gerade erfunden, fand das Medi- um in dem Polen Boleslaw Matuszewski einen seiner glühendsten Fürsprecher. Matuszewski sah im Film "par excellence le témoin 1) Antoine J. Wiertz: Oeuvres litteraires. Paris 1870, 309 2) Vgl. Interview mit Ernst Zeitter bei Christian Deutsch: Medien-Kompetenz oder Verblödung am Bildschirm? Gespräch mit Prof. Ernst Zeitter: Der Umgang mit audio- visuellen Medien ist lernbar. In: Weiterbildung 6/89, 43- 47 3) Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.): Nicht nur laufen lassen! Kinder und Fernsehen. Köln 1993 4) Susan Sontag: Über Fotografie. Frankfurt/Main 1980, 28 5) Ebenda oculaire véridique et infaillible"6. Und der Däne Niels Skyum-Nielsen plazierte 1974 Filmaufzeichnungen "an der Spitze der Hierarchie hi- storischer Quellen"7. Dagegen waren für den deutschen Historiker Ha- gen Schulze 1990 die zweidimensionalen Bilder auch in ihrer Bedeu- tung flach. 8 Der gleiche Autor skizzierte sogar angesichts des Mas- senmediums Fernsehen das Ende der Zeitgeschichtsschreibung. 9 In Anlehnung daran behauptet der Journalist Charles Henri Favrod, das 20. Jahrhundert werde "das Jahrhundert sein, in dem das Bild bereits vor der Wirklichkeit, die es abbildet, gesehen wird"10. Sicher ist unbestritten, daß mit dem Fernsehen ein neuer wichtiger Faktor das heutige Geschehen, das morgen Geschichte sein wird, mit- bestimmt. Wenn sich die traditionellen Werkzeuge des Historikers zu seiner Erklärung und Deutung als unbrauchbar erweisen, ist aber nicht das Massenmedium schuld, sondern die Geschichtswissenschaft, die die Entwicklung entsprechender Werkzeuge bislang unterlassen hat. Es ist sehr die Frage, wie lange sich die Forschung diese Ignoranz noch leisten kann, bevor die Prognose vom Ende der Zeitgeschichts- schreibung Wirklichkeit wird. 6) Boleslas Matuszewski: Une nouvelle source de l'histoi- re. Paris 1898. Nachdr. Warschau 1955 7) Niels Skyum-Nielsen: TV-kommunikation set udefra. In: Studier i historisk Metode IX: Historikeren og sam- fundet. Oslo/Bergen/Tromsö 1974, 104. Zit. nach Karsten Fledelius, Cinematographic Models as Historical Evi- dence. In: Research Film Vol. 9 No. 6 (1978), 508 8) Hierzu u. im folg. Hagen Schulze: Revolution in der Glotze. Wie das Fernsehen die Geschichte erstickt. In: Die Zeit Nr. 12 v. 16. März 1990, 55. Der Autor deutet zwar an, daß Bilder "eingehender Interpretation bedürfen" und konzediert damit im Prinzip, daß Bilder durchaus aussagekräftig sein können; mit dem bösen Wort von der "flachen Bedeutung" hat er sein Urteil aber offensichtlich schon abschließend gebildet. 9) Vgl. auch Robert A. Rosenstone: History in images / History in words. In: American Historical Review 5 (1988), 1175: "To think of the ever-growing power of visual media is to raise the disturbing thought that per- haps history is dead in the way god is dead. Or, at the most, alive only to believers - that is, to those of us who persue it as a profession." 10) Charles-Henri Favrod: Die Revolution der Fotografie. In: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Nr. 7/8, Juli/August 1992, 131 "Zwei Dinge sind in der Rezeptionsgeschichte der Photographie bis heute herrlich und auffällig nahe beieinander geblieben: das tiefschür- fende subjektive Erleben des einzelnen Bildes und eine entsprechend tiefe Skepsis gegenüber dem objektiven Erkenntniswert des Mediums: ein hartnäckiges dualistisches Erbe aus der Zeit absoluter Dominanz des Geistes über die Sinne, der hohen Vernunft über die niederen Ge- fühle"11. Bei den Gegnern wie auch bei den Befürwortern scheinen bislang die Gefühle in bezug auf die Beurteilung der Photographie zu dominieren. In diesem Spannungsfeld will die vorliegende Arbeit vermitteln, einen Beitrag zur Entwicklung des methodischen Rüstzeugs liefern und zu einer Verwissenschaftlichung des Untersuchungsgegenstandes beitra- gen. So könnte sich erweisen, daß Vorbehalte wie die mangelnder Aussagekraft und des unkontrollierten Einflusses von Gefühlen weit- gehend unbegründet und nicht aufrecht zu erhalten sind und daß es sich bei Photographie und Tonaufnahme um ganz normale Quellen- gattungen handelt, die die in ihrer Zuverlässigkeit oft überschätzten Schriftquellen in wesentlichen Punkten ergänzen können. Gelingt die- ser Versuch, verlieren die geschilderten Visionen an Bedrohlichkeit, weil dann prinzipiell erwiesen ist, daß die genannten Quellen für den wissenschaftlichen Meinungsbildungsprozeß relevant sind. William Henry Fox Talbot, der Erfinder des Negativ-Positiv- Verfahrens, hat schon im Jahr 1844 eine ausführliche Beschriftung von Photographien zur Erhöhung ihres Aussagewertes vorgenom- men. 12 Der Titel seines Buches "The Pencil of Nature" verwies bereits auf die heute noch aktuelle Frage der "Abbildungstreue". 13 Und Walter Benjamin hat 1931 folgendes zu Papier gebracht: "Eins aber ist ... nicht erfaßt worden, das sind die Weisungen, die in der Authentizität der Photographie liegen. Nicht immer wird es gelingen, mit einer Re- portage sie zu umgehen, deren Klischees nur die Wirkung haben, sprachlich14 im Betrachter sich zu assoziieren. Immer kleiner wird die Kamera, immer mehr bereit, flüchtige und geheime Bilder festzuha l- ten, deren Choc im Betrachter den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringt. An dieser Stelle hat die Beschriftung einzusetzen, wel- 11) Marco Meier: Die Sichtbarkeit der Welt. Von Baude- laire und Benjamin bis Barthes: Die Fotografie auf der Suche nach ihrer Theorie. In: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Nr. 7/8, Juli/August 1992, 29 12) William Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature. Lon- don 1844. Reprint New York 1969 13) S.u. Kap. 3.2 14) In der Vorlage heißt es wohl irrtümlich "sprachliche" che die Photographie der Literarisierung aller Lebensverhältnisse ein- begreift, und ohne die alle photographische Konstruktion im Ungefäh- ren stecken bleiben muß." Und er fügt hinzu: "Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichen Bestandteil der Aufnahme werden?"15 Aus diesen Zitaten sind bereits die wesentlichsten Aufgaben abzulei- ten, mit denen der Historiker konfrontiert wird, wenn er die Photogra- phie als Quelle ernst nimmt: Die Sammlung wichtiger Begleitinfo r- mationen, ohne welche Bilder selten präzise zu interpretieren sind16, und die Nutzung eines möglicherweise vorhandenen bildspezifischen Aussagepotentials für den Vergleich mit verbalen Quellen zur Be- stimmung eines historischen Sachverhaltes auf möglichst breiter Grundlage.17 Diese Ansätze sind erst in neuester Zeit mit der Erstellung einer kriti- schen Film-, Photo- und Tonquellen-Edition zum 17. Juni 1953 in Berlin aufgegriffen worden. 18 Noch 1988 hatte der amerikanische Filmhistoriker David Herlihy ratlos gefragt, wie Filme zum Zwecke historischer Auswertung mit einem kritischen Apparat versehen wer- den könnten. 19 Dieses und andere Probleme, die bislang der Interpre- tation von Bild- und Tonquellen entgegengestanden haben, konnten mit der Edition ausgeräumt werden: 1. Die Edition ist mit einem kritischen Apparat versehen, der Zusat- zinformationen zu Aufnahmeort und -zeit sowie zu den abgebildeten Personen enthält. Außerdem werden die äußeren Umstände, unter de- nen die Aufnahmen entstanden sind, beschrieben. Umfangreiche Lite- 15) Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/Main 197911, 64 16) Vgl. dazu Joachim Wendorf und Michael Lina: Pro- bleme einer themengebundenen kritischen Filmquellen- Edition. In: GWU 38/1987, 491f. Ebenso Paul Smith: The Historian and Film. Cambridge 1976, bes. 1-13 17) Vgl. Martin A. Jackson: Film As A Source Material: Some Preliminary Notes Towards A Methodology. In: Journal of Interdisciplinary History IV/1973, 73ff. 18) Institut für den Wissenschaftlichen Film (Hg.): Film-, Foto- und Tonquellen zum 17. Juni 1953 in Berlin. Bearb. v. Manfred Hagen und Joachim Wendorf. Göttingen 1992 (künftig: IWF) 19) David Herlihy: Am I a Camera? In: American Histori- cal Review 5 (1988), 1192 raturhinweise erleichtern dem Benutzer der Edition weitergehende Recherchen. 2. Mit der Vergabe individueller Timecodes bzw. Bildnummern ist jetzt erstmals jedes Einzelbild und jede Tonpassage zitierfähig gewor- den. Damit wird eine grundlegende Forderung erfüllt, die der ameri- kanische Medienwissenschaftler Jarvie bereits 1978 erhoben hat. Jar- vie hatte damals in bezug auf den Film gefragt: "How could he [i.e. the historian] defend it, footnote it, rebut objections and criticize the opposition? 20 3. Außer dem hochsubventionierten Kaufpreis und der Anschaffung eines Abspielgerätes fallen für die Benutzer der Edition keine Ausga- ben für Bearbeitung und Rechtserwerb an. 4. Die Sammlung strebt eine vollständige Verfügbarkeit des überhaupt vorhandenen Materials an. Auf dieser Grundlage können jetzt erstmals Bild-, Ton- und Schrift- quellen detailliert miteinander verglichen werden. Es besteht die Möglichkeit, qualitative Urteile zu fällen, die zu einer allgemeinen und praxisrelevanten Quellentheorie beitragen können. Das Thema des 17. Juni 1953 scheint für eine Muster-Edition gut geeignet zu sein. Nach den Kriterien von White zählen "landscape, scene, atmosphere, complex events such as wars, battles, crowds and emotions" zu denje- nigen historischen Phänomenen, für die Bildquellen am ehesten einen Aussagewert haben könnten. 21 Der Versuch, die Film-, Foto- und Tonquellen-Edition zum 17. Juni 1953 auf den Prüfstand zu stellen, birgt die Möglichkeit zu einer Überprüfung der bisher erarbeiteten Quellentheorie an einem konkre- ten historischen Gegenstand. Dabei sind zwei Untersuchungslinien zu verfolgen: Erstens ist zu prüfen, welchen Beitrag die auditiven und vi- suellen Quellen zum Geschichtsbild des 17. Juni leisten können. Da- bei muß überlegt werden, ob ihr Beitrag eigenständig, vielleicht sogar unersetzlich ist, ob sie nur im Kontext mit schriftlichen Quellen Be- 20) I.C. Jarvie: Seeing through Movies. In: Philosophy of the Social Sciences 8 (1978), 378 21) Hayden White: Historiography and Historiophoty. In: American Historical Review 5 (1988), 1193 deutung erlangen oder ob sie entbehrlich, vielleicht sogar vollkommen irrelevant sind.22 Zweitens bietet eine solche Untersuchung die Möglichkeit, die bisher erarbeiteten (aber kaum am praktischen Beispiel überprüften) que l- lentheoretischen Ansätze in bezug auf ihre Praxisrelevanz zu testen. Das Nebeneinander dieser beiden Untersuchungsstränge hat inhaltli- che und formale Konsequenzen: Die Teilkapitel des praktischen Un- tersuchungsteils müssen sowohl der historisch-inhaltlichen als auch der quellentheoretischen Fragestellung gerecht werden. Gleichzeitig kann die vorliegende Arbeit aber auch als Handbuch zur Theorie visu- eller und auditiver Quellen benutzt werden. Neben dem entsprechen- den Schlagwortregister sollen schlagwortartige Randnotizen mit Querverweisen zwischen Praxis- und Theorieteil den Handbuchcha- rakter verstärken. Eine grundsätzlich zu klärende Frage besteht darin, ob ein Historiker bewußt darauf verzichten soll, im nachhinein Augen- oder Ohrenzeu- ge eines von ihm untersuchten historischen Ereignisses zu werden, oder nicht. Es käme wohl niemand auf die Idee, hier prinzipiell zum Verzicht zu raten. 23 Bei aller Verpflichtung zu emotionaler Distanz be- steht doch gleichzeitig die Aufgabe der Geschichtsschreibung darin, die Vergangenheit so "multiperspektivisch" wie möglich nachzuerle- ben. Trotzdem nutzt die Geschichtswissenschaft die seit Erfindung der Photographie bestehenden Möglichkeiten nur sehr unzureichend. Je- der kann dies leicht nachvollziehen, indem er überlegt, wie viele Ver- öffentlichungen von Fachleuten er kennt, in denen photographische Quellen als Belege angeführt - d.h. zitiert - werden. Wahrscheinlich fällt die Zahl gering aus, und das ist kein Wunder. Der Anteil der Hi- storiker an den Nutzern des Bundes-Filmarchivs beträgt beispielswei- se weniger als zehn Prozent!24 22) Vgl. J.M. Peters: How a Camera Can Express and Convey Information - A Model for Analysing Audio- Visual Messages. In: Kenneth R.M. Short / Karsten Fle- delius (Hg.): History and Film: Methodology - Research - Education. Studies in History, Film and Society 2. Ko- penhagen 1980, 39-52 23) Hagen Schulze und andere sind aber nahe daran! Fürchten sie etwa die direkt-sinnliche Ansprache durch die Bilder und Töne? Vgl. den Schluß des Zitats von Meier (Anm. 11) 24) Peter Bucher: Der Film als Quelle. In: Der Archivar, Jg. 41 (1988), Sp. 514 Währenddessen interpretieren Journalisten z.B. Bilder vom 17. Juni 1953 vollkommen willkürlich. 25 Natürlich kennt jeder Zeithistoriker die Bilder zu den von ihm bearbeiteten Themen. 26 Auditive und visu- elle Quellen fließen jedoch zumeist unbewußt oder auch unreflektiert in den wissenschaftlichen Meinungsbildungsprozeß ein; ihre Verwer- tung entzieht sich dadurch der intersubjektiven Prüfung. Es ist zu überlegen, ob sich die Geschichtswissenschaft damit nicht einem un- berechenbaren Faktor ausliefert. Sie verschließt sprichwörtlich Augen und Ohren vor der Tatsache, daß geschichtliches Wissen in sprachli- cher, aber auch akustischer und bildlicher Form vermittelt wird.27 Doch wie soll die fachgerechte Einbeziehung der genannten Quellen erfolgen? - Wie gesagt liegt erst jetzt eine erste Veröffentlichung vi- sueller und auditiver Quellen nach den (für Schriftquellen obligatori- schen) Prinzipien kritischer Editionen vor. Teile der Zeitgeschichts- wissenschaft haben sich zwar mit Analysen historischer "Dokumentar- filme" befaßt; da audiovisuelles Material genau wie Schriftgut in Quellen und Darstellungen zu trennen ist, haben sich die Historiker folglich im Bereich des Films bislang lediglich mit historischer Filmarbeit, die auf Traditionsquellen zielt, zufrieden gegeben. Sollte unser Fach in bezug auf Photoquellen bei Droysen, für den Darstel- lungen ja neben den "Überresten" und "Denkmälern" die eigentlichen "Quellen" waren, stehen geblieben sein? Tröstet sich die Fachwelt damit, daß sich einhundert Jahre Film-, Photo- und Tonaufnahme ge- genüber der mehrtausendjährigen Schriftgeschichte verschwindend gering ausnehmen? Soll die Auswertung auditiv-visueller Quellen al- lein den außerwissenschaftlich operierenden Medien überlassen ble i- 25) In einer Rundfunksendung des NDR vom 17. Juni 1989 vertrat Walter Boehlich die Ansicht, die Photos würden "beweisen", nicht allein Ostberliner hätten die Rote Fahne vom Brandenburger Tor heruntergeholt. Ein wissenschaftlich haltbarer Beweis dürfte in dieser Hin- sicht kaum gelingen. Die Photographie wurde als Beleg mißbraucht. Siehe Walter Boehlich: Auf der falschen Hochzeit tanzen? Norddeutscher Rundfunk, drittes Pro- gramm, Sendung vom 17.06.89, v. 19.05 bis 19.20 in der Reihe Zeitzeichen (Redaktion: Andreas Wang). Vgl. auch Wendorf/Lina (1987), 493 26) So Manfred Hagen in einem Vortrag auf einem Kon- greß der International Association for Audio-Visual Me- dia in Historical Research and Education (IAMHIST) 1985 im Institut für den Wissenschaftlichen Film Göttin- gen 27) Vgl. Rudolf Vierhaus: Historische Wahrheit. In: Guido Knopp / Siegfried Quandt (Hg.): Geschichte im Fernse- hen. Darmstadt 1988, 165 ben? 28 Die Vermutung ist jedenfalls nicht unbegründet, daß hier ein wissenschaftliches Notstandsgebiet mit akutem Entwicklungsbedarf vor uns liegt. Falls sich die Einbeziehung von Bild und Ton in den hi- storischen Quellenkanon als sinnvoll erweist, wird eine neue histori- sche Hilfswisssenschaft begründet werden müssen; ihre Aufgabe be- stünde darin, das quellenspezifische Aussagepotential weiter zu erfo r- schen, die technischen Prozesse bei Aufnahme, Bearbeitung und Wie- dergabe besser zu verstehen sowie Editionsmethoden weiterzuentwik- keln. Die Frage nach dem Quellenwert visueller und auditiver Quellen be- rührt drei Ebenen. Erstens: Sind Photographien, Filme und Tonbänder überhaupt historische Quellen? Zweitens: Wie realitätsnah sind gege- benenfalls diese Quellen? Drittens: Wie aussagekräftig sind nonve r- bale Quellen im Vergleich zu anderen Quellengattungen? Der erste Aspekt hat in der Fachdiskussion unter Historikern so gut wie keine Rolle gespielt.29 Vielmehr wurden in den zwanziger und dreißiger Jahren quasi selbstverständlich z.B. in Großbritannien und Deutschland große Filmarchive eingerichtet und bis heute fortgeführt und ausgebaut.30 Eine eingehende Untersuchung der Fragenkomplexe zwei und drei ist dieser umfangreichen und teuren Archivierung nicht vorausgegangen. 31 Heute laufen Archivarbeit und Fachdiskussion par- allel, d.h. weitgehend getrennt, wobei die dritte der genannten Fragen noch immer weitgehend im dunkeln liegt. Schon bei dem Versuch, die erste Frage eindeutig mit ja oder nein zu beantworten, zeigt sich, wie sehr die drei genannten Untersuchungse- benen miteinander verwoben sind. Nach Paul Kirn rechnen wir zu den Quellen "alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis 28) Darauf bezieht sich wohl Hagen Schulze (s. Anm. 8). 29) Hermann Kalkofen: Filme als Quellen. Zur Aufzeich- nung des Ebbinghaus-Symposions in Passau. Institut für den Wissenschaftlichen Film Göttingen (Maschinen- schrift) 1986 30) Fritz Terveen: Der Film als historisches Dokument. Grenzen und Möglichkeiten. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 3. Jg. (1955), 57-66; Bucher, Anm. 8, Sp. 500 31) Für die Wochenschau als historische Quelle vgl. in die- sem Zusammenhang Jutta Gröschl: Die Deutschlandpoli- tik der vier Großmächte in der Berichterstattung der Deutschen Wochenschauen 1945-1949. Ein Beitrag zur Diskussion um den Film als historische Quelle. Berlin / New York 1997, 22 ff. der Vergangenheit gewonnen werden kann". 32 Daß Filmeinstellungen, Photos und Tonbänder Gegenstände sind, wird niemand bestreiten. 33 Ob und wie weit aus ihnen eine wie auch immer geartete Kenntnis der Vergangenheit zu gewinnen ist, hängt jedoch entscheidend von dem `Grad' ihrer Realitätsnähe ab. Deshalb ist dem Thema `Abbildungs- treue' im folgenden ein eigenes Kapitel gewidmet. Im Gegensatz zur Erörterung der Abbildungstreue ist die Relevanz photographischer Quellen bislang nicht im Detail und auch nicht am praktischen Beispiel behandelt worden. Manche Autoren begnügen sich mit der Suggestivfrage, wie unser Geschichtsbild denn aussähe, wenn wir zu einem bestimmten Thema nonverbale Quellen hätten. So etwa Bodo Scheurig über Tonquellen: "Stellen wir uns vor, Cato, Bernhard von Clairvaux oder Luther sprächen unmittelbar zu uns: na- hezu sicher ist, daß wir ein noch zutreffenderes Urteil über sie gewon- nen hätten."34 Eine solche Argumentation funktioniert natürlich auch umgekehrt: In diesem Fall fordert ein Autor seinen Leser auf sich vor- zustellen, um wie viel ärmer sein Geschichtsbild doch wäre, wenn er zu einem zeitgeschichtlichen Thema keine visuellen oder auditiven Quellen hätte.35 Neben der Photographie ist in einem gesonderten Teil die Tonquelle Gegenstand der Untersuchung. Gegenüber Bildern, die - soweit sie keine Schrift abbilden - eindeutig nonverbale Quellen sind, ist bei Tonquellen der sprachliche Gehalt in der Regel höher. Sie tragen aber auch nonverbale Elemente, wie etwa Hintergrundgeräusche. Die quellentheoretischen Gemeinsamkeiten erlauben es, Photographien und Tonaufnahmen bis zu einer gewissen Grenze gemeinsam zu be- handeln, um ihre Bedeutung für wissenschaftliche Aussagen festzu- stellen. Der zutiefst unbefriedigende Wissens- und Diskussionsstand über die Relevanz der Bild- und Tonquellen ist der wichtigste Anstoß für unse- 32) Paul Kirn: Einführung in die Geschichtswissenschaft. Berlin 1947. Sechste Auflage von Joachim Leuschner. Berlin 1972, 29f. 33) Vgl. Kalkofen (1986), Anm. 15 34) Bodo Scheurig: Einführung in die Zeitgeschichte. Ber- lin 19702, 69 35) Vgl. Karl Otmar Frhr. v. Aretin mit ausdrücklichem Bezug auf Hitler: Der Film als zeitgeschichtliche Quelle. In: Politische Studien 9/1958, 254-265, bes. 259. Vgl. auch Matthias Peter / Hans-Jürgen Schröder: Einführung in das Studium der Zeitgeschichte. Paderborn 1994, 51 re Untersuchung, die auf den bisherigen Erkenntnissen zur Abbil- dungstreue und auf eigenen theoretischen Vorüberlegungen aufbaut. 2. Fachtermini für die Umsetzung der methodologischen Frage- stellung Schon bei den ersten Präsentationen des Editionsprojekts ist deutlich geworden, daß die Fachterminologie genauerer Definitionen bedarf. Das hauptsächliche Mißverständnis, aufgetreten in der Zeitschrift "Geschichte in Wissenschaft und Unterricht" sowie auf dem Deut- schen Historikertag 1988 in Bamberg36, beruhte auf einem unter- schiedlichen Verständnis dessen, was "Film" bzw. "Original" sei. Die Kritiker bedauerten jeweils die Gliederung der Edition nach Filmein- stellungen (engl. "takes"). Vielmehr plädierten sie dafür, die Wochen- schauen und "Dokumentarfilme", aus denen die zusammenmontierten Einstellungen herausseziert werden mußten, in ihrer Ganzheit zu edie- ren und damit das in ihren Augen Filmtypische - Schnittfolge und Vertonung37 - zu erhalten. Hinter dieser Forderung stehen das vorrangige Verständnis eines Films als Traditionsquelle für die Aussage der jeweiligen Filmautoren und der Wunsch, die Wirkung eines Films auf das Publikum untersu- chen zu können. 38 Um die Film-, Foto- und Tonquellen-Edition davon deutlicher abzugrenzen, hat Manfred Hagen die erweiterte schriftliche Zusammenfassung seines Bamberger Vortrags mit dem Titel "Filme und Tonaufnahmen als Überrestquellen" überschrieben. 39 Die Beto- nung des Überrest-Charakters soll von vornherein darauf hinweisen, 36) Detlef Endeward / Peter Stettner: Film als historische Quelle. In: GWU 8/1988, 496-498. Dieser Aufsatz war die Antwort auf Wendorf/Lina (1987). Weitere Mißve r- ständnisse traten im Zusammenhang mit dem Vortrag von Manfred Hagen in der Filmsektion des Bamberger Histo- rikertages auf. 37) Bei den Wochenschauen zum 17. Juni 1953 fehlt jeder Originalton. Die Geräusche stammen durchweg aus der Konserve. 38) Vgl. Bernd Hey: Umgang mit Geschichte. Geschichte erforschen und darstellen - Geschichte erarbeiten und begreifen. Stuttgart 1992 39) Manfred Hagen: Filme und Tonaufnahmen als Über- restquellen. Versuch einer thematisch-kritischen Bild- und Tonquellenedition zum 17. Juni 1953. In: GWU 41 (1990), 352 daß die Bearbeiter der Edition diese als Quellensammlung für das hi- storische Ereignis verstehen und weniger an Wirkungsanalysen oder an Analysen zur Aussageabsicht von Filmemachern interessiert sind. Dieser Ansatz findet in der Literatur zunehmend Anerkennung als ei- ne eigenständige Methode und Denkrichtung. 40 Wenn im folgenden also von Filmen die Rede ist, sind Filmeinstellun- gen als kleinste filmische Einheiten gemeint - als diejenige Abfolge von Bildern also, die der jeweilige Kameramann mit jeweils einem Druck auf den Auslöser aufgenommen hat. Darüber hinaus zwingen stilistische Gründe zur Abwechslung. Wenn in einem allgemeinen Sinn von "Photographien", "Bildern" oder auch "Bildquellen" gespro- chen wird, decken diese Begriffe immer den Film mit ab. Ein solches Verfahren ist unbedenklich, solange es nicht um Unterschiede zwi- schen Lauf- und Standbildern geht; denn Filme sind ja eine Abfolge photographischer Einzelbilder.41 40) Vgl. Esther-Beate Körber: Wie interpretiert man eine Wochenschau? Überlegungen an Beispielen aus der Nachkriegszeit. In: GWU 45 (1994), 137-150; Hans- Jürgen Pandel / Joachim Rohlfes: Umgang mit Ge- schichte. Stuttgart 1992, 78-83; Peter / Schröder, 256; Hey (1992), 82f. 41) Vgl. Deutsche Industrienorm 15 580 zum Stichwort "Kinematographie". 3. Zur theoretischen Aussagekraft bildlicher Quellen Leitfaden der folgenden theoretischen Betrachtungen soll eine von Karsten Fledelius gestellte Frage sein: "Can a factual film ... be consi- dered as a remnant of the filmed events themselves, making us the eyewitnesses of the past?"42 In diesem Sinne hat die Fachforschung bislang vorrangig die Wirklichkeitsnähe photographischer Aufnahmen hinterfragt und im Prinzip bejaht.43 Trotzdem unterliegt der photogra- phische Prozeß einer ganzen Reihe von Einflußgrößen. Diese Einflüs- se ändern zwar nichts an der prinzipiell hohen Abbildungstreue, die noch diskutiert wird (s.u. 3.2). Sie sind aber sehr entscheidend für den subjektiven Eindruck, den eine photographische Aufnahme vermittelt. Die nachfolgenden Darstellungen von Parametern für die Bild- und Tongestaltung können nicht vollständig sein. Dazu ist der Gegenstand viel zu komplex. Die vermittelten Grundkenntnisse sollen aber eine wichtige Voraussetzung bieten, um bei Bedarf weitere, hier nicht ge- nannte Faktoren in ihrer Bedeutung für die Interpretierbarkeit der Quellen besser einzuschätzen. 42) Karsten Fledelius: Film and History - An Introduction to the Theme. In: Comité International des Sciences Hi- storiques. XVIe Congrès International des Sciences Hi- storiques. Stuttgart du 25 août au 1er Septembre 1985. Rapports I. Grands Thèmes, Méthodologie, Section Chronologique (I), Stuttgart 1985, 184 43) Diese Aussage gilt nur für Einzelbilder und film takes. Siehe Richard C. Raack: Historiography as Cinematogra- phy: A Prolegomenon to Film Work for Historians. In: Journal of Contemporary History 18/1983, 415f. Auch Fledelius (1985), 185 vergleicht Filmbilder mit Spuren oder Fußabdrücken. Hagen (1990) 357, erwähnt auch Vergleiche mit Daumenabdrücken oder Spiegelbildern, kritisiert ebenda in Anm. 28 aber die Vereinfachung, die diese Vergleiche mit sich bringen. In der Diskussion über die Realitätsnähe ganzer Dokumentarfilme ergeben sich in bezug auf die Abbildungstreue divergierende Stand- punkte. Vgl. Klaus Bueb: Wie wirklich ist die Wirklich- keit? Zur Theorie und Geschichte des Dokumentarfilms. In: Brauneck, Manfred (Hg.): Film und Fernsehen. Bam- berg 1980, 303 12 3.1 Der photographische Prozeß: Vom Druck auf den Auslöser bis zur verbalen Interpretation. Eine Ablaufbeschreibung Um die von Fledelius gestellte Frage beantworten zu können, müssen wir uns den Entstehungsprozeß eines photographischen Bildes ve r- deutlichen. Dabei hilft ein einfaches Schema, das die schrittweise Transformation einer photographierten "Realität"44 in eine verbale Be- schreibung oder Interpretation zeigt. Abb. 1: Transformation einer vergangenen "Wirklichkeit" durch den photographischen Prozeß Die photographierte Wirklichkeit steht auch deshalb in der Abbildung bewußt vorsichtig in Anführungszeichen, weil im Mittelpunkt der Untersuchung nicht die "Objektivität"45 sondern der Begriff der "Ab- 44) Der Begriff "Realität" wird hier im Sinne Immanuel Kants benutzt, der Sachverhalte dann als real ansehen wollte, wenn diese sich durch Erfahrung und nicht nur durch Einbildung erfassen ließen. Unabhängig von der offenbar bis heute nicht gelösten philosophischen Grund- frage gelten im folgenden alle sinnlich erfaßbaren Sach- verhalte als real. Vgl. Hermann Krings / Hans Michael Baumgartner / Christoph Wild (Hg.): Handbuch philoso- phischer Grundbegriffe. Bd. 2, München 1973, 1168- 1187, bes. 1169 45) Mit dem Problemkreis Objektivität befassen sich z.B. Hermann Kalkofen: Zum Problem der Objektivität im wissenschaftlichen Filmdokument. In: Jugend Film Fern- sehen. Zeitschrift für audiovisuelle Medien, Kommunika- tion und Pädagogik. 19. Jg., Heft 2 (1975), 67-73 und Walter Dadek: Das Filmmedium. Zur Begründung einer allgemeinen Filmtheorie. München/Basel 1968, 80ff. 13 bildungstreue"46 stehen soll. Dementsprechend rücken drei Fragen in den Mittelpunkt des Interesses: Was kann das photographische Ver- fahren überhaupt von der uns umgebenden komplexen Wirklichkeit erfassen, welche subjektiven Gestaltungsmerkmale sind zu berück- sichtigen, und wie groß ist insgesamt die technische Abbildungstreue? Aus dieser Problemstellung heraus gewinnt der Vergleich zwischen der Aussagekraft einer Photographie und dem Quellenwert der Aussa- ge eines Augenzeugen besondere Bedeutung. 3.1.1 Prinzipielle Beschränkungen des photographischen Verfahrens im Vergleich zu einer physischen Präsenz vor Ort 47 Farbfilmaufnahmen mit synchronem Stereo-Originalton stellen den derzeit höchsten technischen Normalstandard dar. Am häufigsten dürfte allerdings die einfache Mono-Tonaufnahme sein. Die üblicher- weise verfügbaren Filmaufnahmen schließen demnach folgende Sin- neswahrnehmungen prinzipiell aus: a) Dreidimensionales Sehen b) Hören, das nicht nur Geräusche von links oder rechts, sondern auch von vorn oder hinten, oben oder unten unterscheiden läßt (bei Mono-Tonaufnahmen ist selbst eine Unterscheidung zwischen links und rechts unmöglich) c) Geruchssinn d) Wahrnehmung taktiler Reize e) Kinästhetisches Bewegungsempfinden f) Andere Formen selbständiger Interaktion Die unter a) und b) genannten Einschränkungen gewinnen zusätzli- ches Gewicht, wenn an Stelle von Farb- nur Schwarz/Weiß- Aufnahmen existieren und/oder nur Mono- oder gar kein Ton vorlie- gen. 46) Der Begriff der Abbildungstreue findet sich bei Hilmar Mehnert: Film-Licht-Farbe. Ein Handbuch für Kamera- leute. Halle (Saale) 1958, 18. Mehnert bezieht den Begriff allerdings auf die Abbildungstreue von Tonaufnahmen. 47) Vgl. Karsten Fledelius: Cinematographic Models as Historical Evidence. In: Research Film Vol. 9 No. 6 (1978), 502ff. 14 Gegenüber den seitlich zueinander versetzten Augen des Menschen, die dreidimensionales Sehen ermöglichen, haben gewöhnliche Kame- ras nur ein Objektiv und liefern dementsprechend nur zweidimensio- nale Bilder. Derartige Photos lassen räumliches Sehen nur über Hilfskonstruktionen zu: etwa durch die relative Größe von Gegenstän- den zueinander oder dadurch, daß im Bild sichtbare Objekte sich ge- genseitig verdecken. Das räumliche Hören ist im Vergleich zur persönlichen Präsenz vor Ort ebenfalls eingeschränkt. Andere Wahrnehmungssysteme fallen sogar völlig aus. Vor allem aber ist der Betrachter einer Photographie oder einer Filmsequenz zur Passivität verurteilt. Was der Kamera- mann nicht zeigt, bleibt ihm verborgen. Bestimmte Dinge, die ihn in- teressieren, kann er in der Regel nicht näher untersuchen. Die freie Kommunikation mit anderen Beteiligten, überhaupt die Teilnahme an dem Ereignis, ist ihm unmöglich. Ein vor Ort anwesender Augenzeu- ge unterliegt diesen Einschänkungen bei der Aufnahme seiner Ein- drücke weniger. Die Betrachtung einer Photographie oder einer Fil- meinstellung kann demnach von vornherein nur ein eingeschränkt vi- suelles, daneben allenfalls ein ebenso begrenzt auditives Erlebnis sein. 48 3.1.2 Weitere entfremdende Elemente photographischer Aufzeichnung Mit der Betätigung des Auslösers durch den Kameramann beginnt ei- ne mehrstufige Transformation, in der die Realität, die sich vor dem Objektiv abspielt, in eine vielfältig manipulierte Aufnahme ausgesetzt wird. Dabei treten sowohl subjektiv-menschliche als auch rein tech- nisch bedingte Einflußnahmen auf. Zu den menschlichen Faktoren gehören die Entscheidungen des Ka- meramanns und die (noch eingehender zu behandelnde) Nachbear- beitung des Materials. Im einzelnen bestimmt der Photograph den Aufnahmezeitpunkt, den Aufnahmeort, die Perspektive, den Bildaus- schnitt und die Einstellungsdauer (bzw. die Anzahl der Photos von ei- nem Objekt oder Vorgang). Idealerweise sollte dem Druck auf den Auslöser ein gründlicher Entscheidungsprozeß vorausgehen, in dem die Repräsentativität des gefilmten Ausschnitts in bezug auf das Ge- samtereignis geprüft wird. Dabei befinden sich die Verantwortlichen in einer schwierigen Situation. Im Gegensatz zu einem Historiker, der 48) Damit erweist sich die Annahme von David Herlihy, 1187, der Betrachter eines Films werde zum Augenzeu- gen der dargestellten Ereignisse, als zu allgemein. 15 "post eventum"49 über ein Ereignis berichtet und sich dabei auf das für seine Fragestellung Wesentliche konzentrieren und Begründungs- stränge herstellen kann, befinden sich zum Zeitpunkt der Filmauf- nahme die Dinge noch im Fluß. Der Zwang, "sub eventu" die Rele- vanz von Teilvorgängen in kürzester Zeit zu erfassen, birgt die große Gefahr letztlich irrelevanter und/oder wenig repräsentativer Aufnah- men. Die Lage wird noch komplizierter, wenn das Aufnahmeteam "pars eventus" wird.50 Dabei kann allein die Präsenz eines Photographen die Aufnahmesituation beeinflussen, indem etwa die Menschen, die er photographiert, dies bemerken und dadurch ihr Verhalten ändern. In einem solchen Fall wäre der Bildinhalt sowohl als Traditions- als auch als Überrestquelle zu behandeln. Ob die Gefilmten unter diesen Be- dingungen ihr Verhalten nachhaltig modifizieren oder lediglich stärke- re Akzente setzen, dürfte bei jedem Einzelfall gesondert zu prüfen sein. Derselben Einzelfallanalyse unterliegen die Absichten des Ka- meramanns, die z.B. aus einem speziellen Auftrag resultieren können, oder die Aufnahmesituation vor Ort. Die fertige Photographie ist als Überrestquelle in eine solche Untersuchung mit einzubeziehen. Wird der Auslöser betätigt, öffnet sich der Verschluß, und der Film wird belichtet. Dabei beeinflußt bereits das Kamera-Objektiv die spä- tere Abbildung. Während Weitwinkel-Objektive den Vordergrund vergrößert abbilden, verschiebt die Verwendung von Tele-Objektiven die Relation in die Gegenrichtung: Gegenüber dem Vordergrund er- scheint nun der Hintergrund größer. Im Vergleich zur normalen menschlichen Sehgewohnheit oder zur Aufnahme mit einem Normal- Objektiv erscheint damit auch die Entfernung zwischen Vorder- und Hintergrund je nachdem größer oder kleiner. Auch die allgemeine Qualität des Objektivs ist in bezug auf die Frage von Bedeutung, ob es die aufgenommenen Gegenstände gleichmäßig abbildet oder ve r- zeichnet. Daneben spielen Abbildungsschärfe, Auflösungsvermögen und Farbechtheit eine Rolle. Wie exakt die photographische Fixierung auf dem Trägermedium (z.B. Film oder Videoband) ist, hängt nicht nur von einer guten Be- lichtung und der Farbechtheit des Aufzeichnungsmaterials ab. Die Auflösung ist durch Körnung des Films oder die Anzahl der Video- bildpunkte begrenzt. Die bei der Weiterbearbeitung des belichteten Materials erforderlichen Kopierprozesse - die ebenfalls teilweise der menschlich-subjektiven Entscheidung unterliegen - können Farbe, Kontrast, Helligkeit und Auflösung ebenfalls verändern. 49) Hierzu u. im folg. Fledelius (1985), 185f. 50) Vgl. Bueb, 303f. 16 Äußere Aufnahmebedigungen Ausrüstung Entscheidungen des Aufnahmezeitpunkt Photographen Aufnahmeort Perspektive Bildausschnitt Objekte, auf deren Entfernung zur Kamera scharf gestellt wird Einstellungsdauer, bzw. Anzahl der Photos Technische Brennweite des Objektivs (Bildwinkel) Faktoren Lichtstärke des Objektivs Tiefenschärfe Allgemeine Qualität des Objektivs (Verzeichnung, Schärfe, Auflösungsver- mögen, Farbechtheit usw.) Bildfrequenz pro Zeiteinheit Lichtempfindlichkeit des Trägermediums (z.B. Film o. Videoband) Auflösungsvermögen des Trägermediums Farbechtheit des Trägermediums Subjektive Ein- Einflüsse auf - Farbe flüsse auf die - Kontrast Weiterverarbei- - Helligkeit tung - Auflösung (auch tech- nisch bedingt) Abb. 2: Übersicht über Einflußgrößen, denen der photographische Prozeß unterliegt51 Die ursprüngliche, sichtbare Wirklichkeit unterliegt den genannten Faktoren, bevor der Betrachter ein fertiges Bild in die Hand, auf die Leinwand oder den Bildschirm bekommt. Manche Wahrneh- 51) Mit der hier sicher noch nicht vollständig berücksichtig- ten digitalen Bildbearbeitung sind in letzter Zeit die Mani- pulationsmöglichkeiten unbegrenzt vielfältiger geworden! 17 mungspsychologen und Semiologen sprechen deshalb von Bildern als "Surrogaten" der Wirklichkeit.52 3.1.3 Manipulationen an Photos Einfache Photo-Manipulationen gehören zur alltäglichen Arbeit jedes Photographen. Gemeint sind die Ausschnittvergrößerung oder das Wegretuschieren von Fusseln. Man kann wohl ohne weiteres sagen, daß Deckfarbe, Pinsel und Schere zur photographischen Grundausrü- stung gehören. Eine wahre Revolution der Möglichkeiten findet zur Zeit in der Computertechnik statt; sie kann durchaus dazu führen, daß in Zukunft die historische Beweisführung umgedreht werden muß: während bei den Aufnahmen früherer Jahre inhaltlich relevante Retu- schen eher die Ausnahme waren, werden sie vielleicht schon bald als Regelfall anzusehen sein. Für die vorliegende Untersuchung über Aufnahmen aus den fünfziger Jahren trifft letzteres glücklicherweise noch nicht zu. Manipulationen an digitalisierten Bildern und Farbauf- nahmen bleiben deshalb an dieser Stelle unberücksichtigt. Gleiches gilt für Filmbilder, an denen früher kaum Verfälschungen vorgenom- men werden konnten, weil jedes einzelne Filmbild mit höchster Präzi- sion von Hand retuschiert werden mußte. Photos zu verändern ist dagegen relativ einfach. Auch die Bilder vom 17. Juni sind zum Teil retuschiert worden, und zwar aus Gründen des Personenschutzes. So hat etwa die Landesbildstelle Berlin aus eige- nem Antrieb oder auf Antrag betroffener Personen Gesichter mit Deckfarbe unkenntlich gemacht, wenn die Photos zur Identifizierung von Demonstranten hätten herangezogen werden können. 53 Die Grenze zwischen ästhetischen Korrekturen und historisch be- denklichen Manipulationen ist fließend.54 So wollen z.B. Auftraggeber von Photos auf ihren Bildern möglichst gefällig erscheinen und im 52) James Gibson: A Theory of Pictorial Perception. In: AV Communication Review, Vol. II, No. 1 (1954), 3-23. Zitiert nach Kalkofen (1975), 67, der mit dem Begriff des Surrogats nicht "die Assoziation ... von Minderwertigkeit auslösen" möchte. Vgl. auch Nicolas Pronay: The "Mo- ving Picture" and Historical Research. In: Journal of Contemporary History 18/1983, 388 53) Vgl. P23 54) Zur politisch motivierten Retusche und deren histori- scher Bedeutung vgl. Karl Corino (Hg.): Gefälscht! Be- trug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik. Nördlingen 1988, 9f. 18 Mittelpunkt des Interesses stehen. "Alte Lumpen, die herumliegen"55, und aus Versehen mit abgebildet werden, wirken da störend. Ein Photograph, der wirtschaftlich auf den Verkauf seiner Bilder angewie- sen ist, wird bemüht sein, diesen Störfaktor auszuschließen. Die Inter- essen von Auftraggeber und Photograph durchdringen sich gegensei- tig und wirken in dieselbe Richtung. Für die historische Analyse pho- tographischer Quellen ist es deshalb unbedingt erforderlich, die Mani- pulationstechniken zu kennen und auch zu wissen, wie man ihnen ge- gebenenfalls auf die Spur kommen kann. Als Fallbeispiel für eine kommerziell motivierte Retusche soll eine Abbildung dienen, die angeblich das Herunterholen der roten Fahne vom Brandenburger Tor am 17. Juni 1953 zeigt. Das Photo wurde, weil es verfälscht worden ist, nicht in die Edition der Film-, Foto- und Tonquellen aufgenommen. Die Autoren und der Verlag eines Buches zur Geschichte des Brandenburger Tores haben es aber in offensichtli- cher Unkenntnis abgedruckt.56 Die auf dem Photo zu sehende angebli- che rote Fahne wird an einer Stange hochgehalten. Diejenigen, die am 17. Juni gegen 11 Uhr tatsächlich die rote Fahne vom Fahnenmast ab- geschnitten haben, hatten aber nach allem, was wir wissen, keine sol- che Stange dabei57 - ganz im Gegensatz zu denjenigen Demonstranten, die gegen 14 Uhr versucht haben, schwarz-rot-goldene Fahnen auf dem Brandenburger Tor zu hissen. 58 Darauf weist auch ein an der Stange befestigter Blumenstrauß hin. 59 Der Fälscher hat hier schlicht die Grauwerte der Fahnenabbildung so retuschiert, daß man in Ver- bindung mit der Bildunterschrift den Eindruck einer roten Fahne ge- winnen kann. Neben dem Bildinhalt ergeben sich auch aus der ve r- 55) Alain Jaubert: Le commissariat aux archives. Les photos qui falsifient l`histoire. Paris, ca. 1987, 10 56) Michael S. Cullen / Uwe Kieling: Das Brandenburger Tor. Geschichte eines deutschen Symbols. Berlin 1990, 119. Die Sammlung von Jaubert zeigt eindrucksvolle Be i- spiele politisch motivierter Retusche. Siehe auch David King: Stalins Retuschen. Hamburg 1997 und Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Bil- der, die lügen. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 27. Nov. 1998 bis 28. Febr. 1999. Als kleines Lehrbuch der Retusche mit eindrucksvollen Bild-Beispielen kann Mar- tina Rossa: Retuschetips. Leipzig 1988 herangezogen werden. 57) Vgl. F376-387, P162, T14 58) Ebenda, F405-410, P167-172 59) Vgl. ebenda, P168 19 gleichsweise groben Körnung des Photos und aus dem unscharfen Fahnenrand Hinweise auf die Retusche; denn es ist sehr schwer, mit dem Deckfarbenpinsel wirklich scharfe Ränder zu zeichnen, Bildausschnitt eines Photos, das höchstwahrscheinlich manipuliert wurde60 und eine klassische, das heißt, nicht digitale Retusche ist immer mit einem Reproduktionsvorgang - und damit auch mit einem Qualitäts- verlust - verbunden. 61 Photos können aber auch z.B. dadurch verfälscht werden, daß aus ei- nem Bild ein Teil mit der Schere herausgeschnitten und auf ein ande- res Photo aufgeklebt wird. Es sind auch schon Mittelpartien aus Pho- tos herausgeschnitten und die Reste anschließend wieder zusammen- geklebt worden. 62 60) Abgedruckt bei Cullen/Kieling, 119; vgl. dazu P168 61) Dieser Qualitätsverlust entfällt allerdings bei Retu- schen am Original-Negativ 62) Vgl. Jaubert, 136 20 Trotz aller Einschränkungen sind Photographien Abbilder sichtbarer Realität und haben mehr oder weniger Wirklichkeitsgehalt. Es bleibt daher die Frage, wie hoch diese Abbildungstreue prinzipiell einzu- schätzen ist. 3.2 Die Abbildungstreue - eine gesicherte methodische Grundlage Photographien sind "Gegenstände, die sich selbst in unnachahmlicher Treue mahlen". 63 So jedenfalls beurteilte schon Alexander von Hum- boldt die ersten Lichtbilder. Und nach Fledelius und Skyum-Nielsen sind Photographien "the result of a photo-chemical or electro- magnetical process without any human medium". 64 Demgegenüber können wir anhand unserer bisherigen Ergebnisse den Ausschluß des "menschlichen Mediums" so pauschal nicht bestätigen. Das photographische Verfahren ist auch nicht auf den photochemi- schen oder elektromagnetischen Prozeß zu reduzieren. Trotzdem gibt es im Entstehungsprozeß einer Photographie eine bestimmte Phase, die unstrittig objektive Züge trägt. Es ist der Augenblick, in dem die durch das Objektiv einfallenden Lichtstrahlen die photochemische oder elektromagnetische Reaktion auf dem Trägermedium auslösen. Bei diesem Vorgang findet eine höchst genaue Aufzeichnung statt: es wird nichts hinzugefügt und auch nichts weggelassen. 65 Die Abbil- dungstreue einer Photographie ist demnach gleichbedeutend mit ab- soluter Detailtreue, die allerdings in der Lichtempfindlichkeit des Trä- germediums, der Lichtstärke des Objektivs sowie dessen Auflösungs- vermögen und Farbechtheit ihre Grenzen findet. Ganz im Sinne der über 150 Jahre alten Einschätzung Alexander von Humboldts bescheinigt auch die moderne Semiotik der Photographie 63) Vierseitiger Brief Alexander von Humboldts an Frie- derike von Anhalt-Dessau, 1839, Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Alexander v. Hum- boldt, Kl. Ka 1a/34. Zitiert nach "In unnachahmlicher Treue". Photographie im 19. Jahrhundert - ihre Ge- schichte in den deutschsprachigen Ländern. Begleitbuch zu einer Ausstellung der Josef-Haubrich-Kunsthalle Köln in Zusammenarbeit mit dem Foto-Historama Agfa- Gevaert Leverkusen vom 8. September bis 31. Oktober 1979, 28 64) Karsten Fledelius in Anlehnung an Niels Skyum- Nielsen (1978), 508 65) Hagen (1990), 355 21 eine hohe Abbildungstreue.66 Sie äußert sich demnach in großer Ähn- lichkeit des Bildes mit dem Original (Ikonizität); eine Ähnlichkeit, die durch "einen kausalen Einfluß des Objekts auf das Zeichen"67 (Indexi- kalität) bedingt ist. Neben der Detailtreue weisen Filmaufnahmen eine weitere singuläre Eigenschaft auf: die Überlieferung durchgehend gefilmter Vorgänge in Realzeit!68 Um diese Charakteristik zu gewährleisten, müssen aller- dings Aufnahme- und Abspielgeschwindigkeit gleich sein. Wie pha- sengenau eine Bewegung darüber hinaus später nachzuweisen ist, hängt schließlich von der Anzahl der pro Zeiteinheit aufgenommenen Bilder ab. Nach Abschluß der Betrachtungen über die entfremdenden Elemente auf der einen und die Abbildungstreue auf der anderen Seite bedarf es nun der Zusammenführung dieser Gedanken im Rahmen der überge- ordneten Fragestellung. Wie schon gesagt, empfiehlt es sich dabei, die Bildquellen nicht isoliert zu betrachten. Durch den Vergleich mit dem verbalen Bericht eines Augenzeugen ist der Stellenwert der Photogra- phie besser zu beurteilen. 3.3 Theoretisches Urteil über das Verhältnis von Bildaussage und verbalem Augenzeugenbericht Es ist daran erinnert worden, daß Photographien nur ein einge- schränktes visuelles Erlebnis bieten. Ein vor Ort anwesender Augen- zeuge hatte zwar alle Möglichkeiten der Sinneswahrnehmung und der Interaktion, aber letzten Endes ist sein Leser oder - wenn die Aussage auf Tonband oder Tonfilm vorliegt - Zuhörer genauso zur Passivität verurteilt wie der Betrachter einer Photographie. Die technisch-akustische und die technisch-photographische Ereig- niserfassung weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Wir ver- gleichen: Ähnlich wie der Photograph Aufnahmeort, -zeit und -dauer, Perspektive, Objektivwahl und Bildausschnitt festlegt, beschreibt ein Augenzeuge ebenfalls aus seinem persönlichen Erleben und Empfin- 66) Hierzu u. im folg. Winfried Nöth: Handbuch der Se- miotik. Stuttgart 1985, 428 u. 434. Dort wird auf weiter- führende Literatur verwiesen. 67) Ebenda, 434 68) Kalkofen (1975), 71 weist darauf hin, daß "mit dem Verkürzungsmerkmal sogar eins der Kriterien, anhand derer sich Originale und Modelle unterscheiden lassen", wegfällt. 22 den heraus. Die Bildbeeinflussung durch das Objektiv ähnelt der sub- jektiven Perspektive des Berichterstatters. Begrenzte Auflösung, Bild- folge und Ausschnitthaftigkeit des Photos finden ihre Entsprechung in mangelnder Aufmerksamkeit, fehlenden Informationen, begrenztem Gedächtnis und der Formulierungskraft des Erzählers. Ähnlich wie filmtechnische Kopierprozesse Veränderungen gegenüber dem Aus- gangsmaterial mit sich bringen können, unterliegen auch Abschriften oder Zusammenfassungen der Gefahr der Manipulation oder unab- sichtlichen Entstellung. Die Frage eines Interviewers oder persönliche Betroffenheit beeinflussen den befragten Augenzeugen womöglich in ähnlicher Weise wie die von den Akteuren bemerkte Kamera. Sämtli- che entfremdende Einflüsse, denen Photographien unterliegen, finden demnach eine Entsprechung im Entstehungsprozeß ve rbaler Quellen! Deshalb trifft auch die vielzitierte Aussage von Béla Balázs, wonach nichts so subjektiv sei wie das Objektiv69, nicht zu. Wollte man das Wortspiel fortsetzen, könnte man vielmehr sagen: Das Objektiv ist genauso subjektiv wie das Subjekt. Dementsprechend weist jedes Bild - wie jede Schriftquelle - in Anleh- nung an Ahasver von Brandt Elemente von Tradition und Überrest auf. 70 Genauso wenig wie für Schriftquellen ist deren Anteil pauschal zu bestimmen. Im allgemeinen dürfte der Bildinhalt (sofern er nicht gestellt ist) den Überrest-Charakter einer Photographie ausmachen. Die Entscheidungen des Kameramanns und die technische Nachbear- beitung, die gegenüber dem Inhalt vorwiegend die Form der Photo- graphie bestimmen, sind dagegen prinzipiell stärker als Traditions- Elemente zu werten. Gleiches gilt für die Beeinflussung der im Film handelnden Menschen, falls das bewußte Gefilmt-Werden Einfluß auf deren Handeln gehabt haben sollte. Gemessen an dem in Abb. 1 dargestellten Transformationsschema ist eine Photographie eine präverbale Quelle. Die verbale Erzählung, die visuelle Erlebnisse umsetzt, begibt sich demgegenüber auf eine neue Abstraktionsebene. Eine photographische Quelle kann zeitlich und in bezug auf ihre Detailtreue wesentlich näher an der vergangenen Wirklichkeit liegen! Nicht nur das. - Die dauerhafte Fixierung auf dem Trägermaterial ermöglicht auch im nachhinein einen intersubjek- tiven Eindrucksaustausch unter Ausnutzung der genannten Vorteile. Wir dürfen den auf vorverbalem Niveau dauerhaft festgehaltenen Au- genblick genauso zu den Pluspunkten der Photographie zählen wie die einzigartige Abbildungstreue. 69) Béla Bálazs: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst. Wien 19724, 78 70) Ahasver von Brandt: Werkzeug des Historikers. Stutt- gart/Köln/Berlin/Mainz 19809, 54f. 23 Semiologie und Philosophie bieten in bezug auf exakte Informations- unterschiede zwischen Bild und Wort leider erst wenige praktisch verwertbare Antworten. Für den in Prag geborenen Philosophen Vilém Flusser sind Texte "Metacodes" von Bildern71 und demnach verbale Ausformungen visueller Eindrücke, womit das Schema in Ab- bildung 1 auch aus dieser Sicht gerechtfertigt erscheint. Vom Stand- punkt des Historikers gesehen könnte in diesem Prozeß das Bild als Primär- und der Text als Sekundärquelle72 betrachtet werden. Aus se- miologischer Sicht ist diese Vorstellung allerdings zu einfach. Danach stehen bildliche Zeichen (präsentative Symbole) und deren verbale Beschreibung und Deutung (diskursive Symbole) "in einem Verhältnis wechselseitiger Unübersetzbarkeit zueinander". 73 Als Hauptgrund für diese Annahme wird die Vermutung angegeben, daß die Sprache nicht über ausreichende Ausdrucksmittel für Bildinformationen verfüge: "Die Sprache ... erscheint gerade wegen ihres definitiven, distinktiven Charakters kaum geeignet, wirklich Neues zum Ausdruck zu bringen. Unübersetzbar also sind die Inhalte, insofern sie `jeweils noch nicht' übersetzbar sind, bzw. insofern sie, sobald sie diskursiv darstellbar werden, ihren spezifisch präsentativen Charakter verlieren."74 Und für die Philosophen Wittgenstein und Carnap beginnt jenseits der Verbali- sierbarkeit definitiv die im wissenschaftlichen Sinne unkontrollierbare Welt der Gefühle.75 Die Frage, ob es nonverbales Wissen gibt bzw., wie wir es erwarten und ob es kontrollierbar und kommunizierbar ist,76 steht also weiter im Raum. Da der wissenschaftliche Diskurs traditionell auf verbaler Ebene ver- läuft, sieht die vorliegende Arbeit ihre Aufgabe darin, nonverbale In- formationen so exakt und so weitgehend wie möglich in verbale um- zusetzen. Dieser Transformationsprozeß soll sich immer an der histo- risch-fachlichen Relevanz der Fragestellung orientieren, unter der die Bildauswertung erfolgt. Nur auf diese Weise sind Bilder bislang kon- 71) Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen 1983, 11 72) Vgl. Scheurig, 39 73) Hierzu u. im folg. Langer, zitiert nach Hartmut Wink- ler: Der filmische Raum und der Zuschauer. Heidelberg 1992, 145f. 74) Winkler, 146 75) Wittgenstein und Carnap, zit. nach Winkler, 145 76) Vierhaus, 165, Hagen (1990), 364; auch Karl-Georg Faber: Theorie der Geschichtswissenschaft. München 1971, 148 24 struktiv in den Wissenschaftsprozeß einzubeziehen. Die Überlegung, ob es für Bilder einen adäquateren (nonverbalen?) Weg wissenschaft- licher Verwertung gibt, erscheint interessant, hat aber bis heute zu keiner praktisch verwertbaren Alternative geführt. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Text und Bild besteht darin, daß der verbale Bericht nach dem Ereignis verfaßt wird, wäh- rend der Kameramann zeitgleich mit dem Ablauf aufnimmt. Der Photograph ist demnach gezwungen, "sub eventu" die Relevanz des Augenblicks zu erfassen und in Szene zu setzen. Ein "post eventum" erzählender Augenzeuge kann im nachhinein entsprechend seiner Er- zählabsicht Relevantes auswählen und ihm Unwichtiges weglassen. Die Möglichkeit, mit zeitlichem Abstand unter einer dann bedeutsa- men Fragestellung aus einem breiten Erfahrungsspektrum zu berich- ten, ist ein unschätzbarer Vorteil verbaler Überlieferung. Probleme treten bei letzterer allerdings dann auf, wenn die Darstellungsweise des Berichterstatters allzu sehr von der nachfolgenden Zeit geprägt ist. Die Bild- oder Tonaufnahme weist demgegenüber auf Grund der Sub- Eventu-Entstehung und -Fixierung theoretische Vorteile auf. Yves Gellie, Photograph und Mitarbeiter der Zeitschrift GEO, wird zu diesen Sachverhalten wie folgt zitiert: "Das Vertrackte an unserem Beruf ist, daß Fotografie ein so erbarmungsloses Medium ist. Ein Bild zeigt immer nur, was da ist - nicht mehr und nicht weniger. Ein Schreiber kann Dinge hervorheben und weglassen, er kann seinen Le- sern eine Ahnung von Ereignissen vermitteln, die er selbst weder ge- sehen noch gehört hat, indem er Augenzeugen erzählen läßt, er kann, wenn nötig, noch nach seiner Rückkehr fehlende Informationen aus den Archiven ergänzen. Wir Fotografen sind auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, daß in einem Sekundenbruchteil alles zusammen- kommt ..."77 Der kleine Ausschnitt, den eine Filmeinstellung oder ein Photo jeweils von einem Gesamtereignis vermittelt, entspricht einem Teil der opti- schen und - in Verbindung mit synchronem Originalton - auch auditi- ven Wahrnehmung des Augenzeugen. Photographische Bilder können demnach lediglich (audio-) visuelle Bausteine einer historischen Un- tersuchung sein. Sie bieten einerseits unmittelbarere Informationen als der Wortbericht, andererseits aber auch nur ausschnitthaftere und sind unter Umständen weniger relevant. Allerdings ergeben der (nachträgliche) Zusammenschnitt mehrerer Einstellungen oder eine thematische Photosammlung ebenfalls einen größeren Überblick, der in seiner Spannweite einer verbalen Erzäh- lung näher kommt. Wie in einem verbalen Bericht auch ist es dann 77) Johanna Romberg, Die Suche nach dem goldenen Schuß. In: GEO Nr. 10 / Oktober 1996, 196 25 möglich, einzelne Fakten zu einer Geschichte zu verbinden und zeit- lich und räumlich zu springen. In der Regel bedarf es dann eines zu- sätzlichen Wortkommentars, und insgesamt wächst der Anteil der In- terpretation. Beim Zusammenschnitt - etwa zu Reportagezwecken - verlieren die Bilder deshalb oft ihre dominierende Rolle und dienen schließlich nur noch als (oft nur vermeintlicher) Beleg oder als Illu- stration eines Wortberichts.78 Andererseits darf man an dieser Stelle nicht vergessen, daß die Interpretierbarkeitbarkeit der meisten Bild- quellen entscheidend von verbalen Begleitinformationen abhängt. Nach Walter Benjamin bieten Texte Freiraum für Assoziationen, Bil- der auf Grund ihrer Konkretheit jedoch nicht.79 Andererseits gelten photographische Quellen als so komplex, daß sie sich einer erschöp- fenden verbalen Beschreibung entziehen. Deshalb ist auch die Um- kehrung der Aussage über Freiheit und Bindung möglich, denn Bilder halten den Augenblick fest und ermöglichen so eine längere und in- tensivere Ansicht eines vergangenen Ereignisses. Sie machen im nachhinein aus jedem Betrachter einen eingeschränkten Augenzeugen, der genug Muße hat, auch solchen Aspekten nachzugehen, die andere als scheinbar unwesentlich abgetan oder sogar ganz übersehen ha- ben. 80 Photographische Quellen sind insofern "the nearest thing to reality we have"81, als sie Surrogate eines optischen Erlebnisses sind. Nur mit ih- rer Hilfe ist es dem Historiker möglich, die ansonsten unüberwindli- che Barriere der verbalen Quellen (oder diskursiven Symbole) wenig- stens ein Stück weit zu überwinden und mit Hilfe der präsentativen Symbole (oder Bildquellen) wenigstens punktuell - gewissermaßen wie durch ein Schlüsselloch - so nah an die vergangene "Wirklichkeit" heranzukommen wie sonst nie. Daß photographische Quellen "an der Spitze der Hierarchie histori- scher Quellen"82 stehen, ist allenfalls in diesem Sinne zu verstehen und 78) Hartmut Boockmann: Geschichte im Museum? Zu den Problemen und Aufgaben eines Deutschen Historischen Museums. München 1987, 49f., diskutiert eine Gegenpo- sition, wonach Photos oder andere Exponate - etwa aus der Zeit des Nationalsozialismus - eine Faszination aus- üben könnten, an der "die mit Worten erarbeiteten Dar- stellungen der Historiker [zu] zerschellen" drohten. 79) Benjamin, 64 80) Scheurig, 63 81) Sir Arthur Elton: The Film as Source Material for Hi- story. Aslib Proceedings 1955, 209 82) Skyum-Nielsen, 104. Zitiert nach Fledelius (1978), 508 26 bedarf darüber hinaus praktischer Belege; denn eine allgemeinver- bindliche Hierarchie gibt es sicher nicht. Eine Gewichtung der ver- schiedenen Quellengattungen dürfte vielmehr von der jeweiligen Fra- gestellung und Quellenlage abhängen. Die theoretische Untersuchung des Wertes photographischer Quellen stößt an ihre Grenzen, wenn es um die praktische Relevanz dieser Quellengattung im Vergleich zur schriftlichen Überlieferung geht. In- wieweit sind die Beschränkung auf das Optische, der kleine Aus- schnitt, das beschränkte Auflösungsvermögen oder der Zwang zur Ad- hoc-Aufnahme wirklich wertmindernd? Ist es möglich, im nachhinein ausreichende Begleitinformationen zu sammeln? Die Klärung dieser wichtigen Fragen bedarf der Überprüfung am praktischen Be ispiel. 27 4. Zur theoretischen Aussagekraft von Tonquellen Über die Verwertbarkeit von Tonquellen gibt es nur relativ wenig hi- storische Fachliteratur. Auch in den Handbüchern über Geschichtsdi- daktik und -methodik nimmt das Thema nur geringen Raum ein.83 Mehrere Gründe mögen für diesen Umstand ausschlaggebend sein: Tonaufnahmen sind im Gegensatz zum Bild hauptsächlich Träger ver- baler Informationen, die transkribiert und dann wie Schriftquellen be- handelt werden können. Zurück bleibt ein Anteil nonverbaler Ele- mente, über dessen Bedeutung für das historische Urteil bislang ge- stritten wird. So meint etwa Bodo Scheurig, Tonaufnahmen seien der schriftlichen Überlieferung vorzuziehen und würden ihr gegenüber "oft genug zu primären Quellen". 84 Nach Scheurig kommen in Tonquellen Nuancen, Akzente oder auch die allgemeine Atmosphäre eines Ereignisses we- sentlich besser zum Ausdruck;85 die Unterscheidung des Wesentlichen vom weniger Wichtigen würde dadurch erleichtert. Dagegen bewertet Rohlfes die nonverbalen Elemente weniger hoch und kommt - wenig- stens für den Geschichtsunterricht - zu folgendem Schluß: "Im ganzen ... ist der Abstand zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort nicht so groß, daß sich ein umfänglicher Einsatz auditiver Medien ... lohnte."86 In der klassischen Beschränkung des Neuzeithistorikers auf das ge- schriebene Wort und in der Vernachlässigung nonverbaler Elemente liegen wahrscheinlich die hauptsächlichen Ursachen für das offen- sichtlich geringe Interesse an den quellenspezifischen Möglichkeiten der Tonaufnahme. Hinzu kommt, daß auch das tontechnische und lin- guistische Know-how, das für eine konsequente Auswertung von Tonaufnahmen erforderlich ist, den allermeisten Historikern fehlt. 83) Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. Göt- tingen 1986, 343f., widmet dem "Tonträger" in seinem vierhundertseitigen Standardwerk zur Geschichtsdidaktik eine knappe halbe Seite. Peter Ketsch: Schulfunk. In: Pandel, Hans-Jürgen / Schneider, Gerhard (Hg.): Medien im Geschichtsunterricht. Düsseldorf 1985, behandelt das Thema in den Unterkapiteln "Vortrag" und "Augenzeu- genbericht" auf insgesamt zwei Seiten. 84) Hierzu u. im folg. Scheurig, 69 85) Zu diesem Schluß kommt auch Ketsch, 353 86) Rohlfes, 344 29 4.1 Tonaufnahmen in der Rechtswissenschaft und in der Linguistik Zu denjenigen Wissenschaften, in denen Tonaufnahmen ernsthafte Berücksichtigung finden, gehören die Rechtswissenschaft und die Linguistik. Das Bundeskriminalamt etwa setzt Linguisten bei der Ver- brechensbekämpfung ein, wenn es darum geht, die Stimmen von Er- pressern zu identifizieren. 87 So gesehen benutzt die Rechtswissen- schaft die Linguistik als Hilfsdisziplin. Die Linguistik kommt ihrer- seits ohne fundiertes tontechnisches Zusatzwissen nicht aus. In einem Gerichtsverfahren werden Tonaufnahmen dann als Beweis- mittel anerkannt, wenn ihre Aufnahme, etwaige Nachbearbeitung und ihr jeweiliger Verbleib bis zur gerichtlichen Verhandlung einwandfrei und lückenlos von den Ermittlungsbehörden dokumentiert worden sind. Auf diese Weise sollen unerlaubte Manipulationen ausgeschlos- sen werden. Als sachverständige Gutachter werden einschlägig ausge- bildete Sprachwissenschaftler bzw. Germanisten bestellt.88 Diese Ex- perten beurteilen Stimme, Sprache und Sprechweise eines Sprechers erst subjektiv und stellen sie dann mit Hilfe apparativer Verfahren dar. Besonders die apparative Darstellung, etwa in Form von Oszillo- grammen, ermöglicht es dem Gericht, die Tonaufnahme gewisserma- ßen in Augenschein zu nehmen und dadurch als juristisches Beweis- mittel leichter zu akzeptieren. Bei ausreichend guter Qualität der Sprechprobe können die Fachleute folgende Angaben zu einem Spre- cher machen: "Geschlecht, ungefähres Alter, regionale und soziale Herkunft, Bildungsniveau/verbales Ausdrucksvermögen, sprachliche und nicht-sprachliche akustisch feststellbare Gewohnheiten und Be- rufszugehörigkeit"89. Dafür, wie sicher die Richtigkeit solcher Anga- ben einzuschätzen ist, wird folgende Skalierung empfohlen: "- kann nicht beurteilt werden - ist mit gewisser Wahrscheinlichkeit - ist mit großer Wahrscheinlichkeit - ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit - ist ohne jeden vernünftigen Zweifel gegeben"90. 87) Hermann J. Künzel: Dem Täter auf der Stimmspur. In: Kriminalistik 3/1985, 120-126 88) Hierzu u. im folg. Hermann J. Künzel: Die Erkennung von Personen anhand ihrer Stimme. In: Neue Zeitschrift für Strafrecht 9/1989, 403 89) Ebenda, 404 90) Ebenda, 405 30 Der Rückgriff auf diese in der Gerichtspraxis erprobten Aussagemög- lichkeiten und ihre Bewertung empfiehlt sich vielleicht auch für histo- rische Fragestellungen. Allerdings setzen die skizzierten sprachwis- senschaftlichen Analysen sehr viel Fachwissen und Erfahrung91 sowie eine kostspielige apparative Ausrüstung voraus. Der praktische Teil der hier vorliegenden Untersuchung soll deshalb auch Aussagen dar- über ermöglichen, ob ein derartiger Aufwand fallweise für die Ge- schichtswissenschaft gerechtfertigt ist. Außerdem ist es fraglich, ob für historische Zwecke nicht ganz andere Probleme und Fragestellun- gen im Vordergrund stehen. Denn im Gegensatz zu den Juristen müßten Historiker mit Tonbän- dern arbeiten, deren genaue Entstehungsbedingungen und Nachbear- beitung meist gar nicht dokumentiert sind. Gerade die unkontrollierte Nachbearbeitung, bei der das Material geschnitten worden sein kann, ohne daß dies hörbar ist, stellt ein besonderes Problem dar. Hinzu kommt, daß eine historische Untersuchung in vielen Fällen wohl in er- ster Linie auf die Inhalte von Tonaufnahmen ausgerichtet sein dürfte. Die Ermittlung einer bestimmten Person, wie sie für den juristischen Prozeß kennzeichnend ist, steht dagegen vielleicht eher im Hinter- grund. Andererseits weisen Tonaufnahmen ein wichtiges Merkmal auf, das wir auch schon für die Photographie festgestellt haben. Es handelt sich dabei um die "Sub-Eventu-Aufzeichnung". Damit ist eine grundsätzli- che Voraussetzung für die Überlieferung eines authentischen Ein- drucks gegeben. Die Gefahr, die ein "post eventum" verfaßter Bericht birgt, nämlich, daß dieser Bericht eher widerspiegelt, wie dessen Ver- fasser in einem gewissen zeitlichen Abstand über das Ereignis gedacht hat, besteht bei der Tonaufnahme nicht. Aus ihr können wir - zumin- dest theoretisch - unmittelbarere Erkenntnisse über ein historisches Ereignis gewinnen. 4.2 Von der Schallquelle zur Tonwiedergabe: eine Ablaufbeschreibung 92 Wie schon bei der Photographie, so entziehen sich auch für die Ton- aufnahme die vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten einer vollstän- digen Beschreibung. In unserem Zusammenhang ist deshalb ebenfalls 91) Künzel (1985), 125 92) Hierzu u. im folg. vgl. Schaubild bei Johannes Webers: Tonstudiotechnik. Handbuch der Schallaufnahme und - wiedergabe bei Rundfunk, Fernsehen, Film und Schall- platte. München 19895, 628 31 eine Beschränkung auf die wichtigsten und für den 17. Juni 1953 wahrscheinlichsten Einflußgrößen erforderlich. 4.2.1 Frequenzumfang und HiFi-Qualität Gegenüber dem menschlichen Hörsinn bietet die technische Scha l- laufnahme in der Regel nur ein eingeschränktes auditives Erlebnis. Selbst Stereophonie läßt keine Rückschlüsse darüber zu, ob ein Ge- räusch von oben, unten, vorn oder hinten kommt. Bei den Aufnahmen zum 17. Juni in Berlin handelt es sich sogar nur um Monophonie. Da- durch gibt es auch keine Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen links und rechts. Wenn die Aufnahme- und Wiedergabegeräte die HiFi-Norm (DIN 45500) erfüllen, erkennt das menschliche Gehör keinen Unterschied zwischen dem Klang des Originals und dem Klang des Wiedergabege- räts. Die 1953 eingesetzten Aufnahme- und Bearbeitungsgeräte erfül- len diese Norm schon wegen der fehlenden Stereophonie nicht. Ob der Frequenzumfang93 ausreichend aufgezeichnet und wiedergegeben werden kann, hängt von der jeweiligen Fragestellung und dem unter- suchten Gegenstand ab. Im Fall des 17. Juni kommen keine Passagen mit besonders hohen oder tiefen Tönen vor, die die Technik der fünf- ziger Jahre überfordert hätten. Menschliche Stimmen und Hinter- grundgeräusche, wie Verkehrslärm, Lautsprecherdurchsagen, Rufe und Schüsse, wie sie hier im Mittelpunkt des Interesses stehen, sind in bezug auf ihren Frequenzumfang unproblematisch. 93) Zur näheren Begriffsbestimmung s. Webers, 98 32 4.2.2 Mikrophone Im Vergleich zur Photographie ist bei der Tonaufnahme die Art und Weise, in der Schallquellen aufgenommen, bearbeitet und wiederge- geben werden, sehr viel schwerer zu beurteilen. Während bei Bildern - etwa durch nachträglichen Besuch des Originalschauplatzes - die ver- wendete Brennweite des Kameraobjektivs zumindest annäherungs- weise zu bestimmen ist, ist die Richtcharakteristik eines Mikrophons im nachhinein in der Regel nicht mehr feststellbar. Während eine Photographie nur durch ein einziges Objektiv aufgenommen wird, kann eine Tonaufnahme aus beliebig vielen Schallquellen gemischt sein. Die Schallwellen eines elektromagnetisch aufzuzeichnenden Ereignis- ses werden mit Mikrophonen aufgefangen und in modulierten elektri- schen Strom umgewandelt. Damit das Mikrophon anspricht, ist ein bestimmter Minimaldruck des jeweiligen Schallfeldes erforderlich. Jedes Mikrophon hat eine bestimmte Richtcharakteristik, die von der Bauart des Mikrophons und der Frequenz der auf das Mikrophon ein- wirkenden Schallquellen abhängt.94 Es gibt Mikrophone, die Schall- wellen aus einem Umkreis von 360 Grad aufnehmen (sogen. Kugel- Charakteristik). Des weiteren gibt es solche, die nur einen keulen- oder nierenförmigen Ausschnitt ihrer Umgebung empfangen. 95 Für die monophonen Aufnahmen von 1953 bedeutet dies, daß der spätere Hörer vor dem Lautsprecher nicht nur nicht zwischen links, rechts, vorn, hinten, oben oder unten entscheiden kann; es muß dar- über hinaus nicht an der großen Entfernung einer an sich lauten Schallquelle zum Mikrophon liegen, wenn eine Stimme oder ein Ge- räusch nur leise zu hören sind. Es kann schon genügen, wenn sich die Schallquelle außerhalb des Richtbereichs des jeweiligen Mikrophons befindet. Ob die Empfindlichkeit eines Mikrophons für den Historiker bedeutungsvoll ist, hängt vom Einzelfall ab. So ist es im Extremfall denkbar, daß einem stockenden Sprecher leise souffliert wird, ohne daß sich dieser Umstand anhand der Tonaufnahme nachweisen ließe. Die Bedeutung des Mikrophons für die Ausschnitthaftigkeit der Ton- aufnahme ist mit der Bedeutung des Objektivs für die Ausschnittha f- tigkeit der Photographie vergleichbar. Es gibt wahrscheinlich auch keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen der meist wohl nur aus- schnitthaften Erinnerung eines persönlich anwesenden Ohrenzeugen und dem technisch bedingten Realitätsausschnitt, den das Mikrophon erfaßt. 94) Ebenda, 226 95) Ebenda, 170 u. 226 33 4.2.3 Schallspeicherung Zur Schallspeicherung wurden - 1953 wie heute - magnetisierbare Bänder benutzt. Diese Tonträger werden beim Vorbeilauf an dem so- genannten "Aufsprechwandler"96 des Aufnahmegeräts "im Rhythmus des [jeweiligen] Schallereignisses magnetisiert". 97 Mit anderen Wor- ten: das Schallereignis, das das Mikrophon in einen modulierten Strom umwandelt, wird im Augenblick des Kontakts zwischen Auf- sprechwandler und Tonträger dauerhaft gespeichert. In Analogie zur Photographie hat der Moment der Aufzeichnung objektiven Charakter. Wie beim Bild, so wird auch hier im Vergleich zu dem, was sich vor dem Mikrophon abspielt, nichts hinzugefügt, und nichts wird wegge- lassen. Das gilt zumindest im Prinzip. Einschränkungen ergeben sich aus dem schon erwähnten Richtcharakter des Mikrophons und der Empfindlichkeit der gesamten Aufnahmeapparatur für besonders leise oder besonders laute Schallereignisse. Während diese Parameter dafür verantwortlich sein können, daß ein persönlich vor Ort anwesender Zuhörer mehr gehört hätte als schließlich elektromagnetisch aufge- zeichnet wird, kann die elektronische Mischung ursprünglich vonein- ander unabhängiger Schallquellen zum Gegenteil führen: auf dem Tonträger ist dann mehr zu hören als bei leibhaftiger Präsenz; unter Umständen ergibt sich auch ein völlig anderer Höreindruck, der zu- sätzlich aus einer elektronischen Klangbeeinflussung durch Verände- rung von Höhen und Tiefen resultieren kann. Die prinzipiell konsta- tierte "Objektivität" der Tonaufnahme gilt deshalb uneingeschränkt nur unter Ausschluß dieser Störgrößen. 4.2.4 Tonmischung Bei den meisten Tonaufnahmen vom 17. Juni 1953 handelt es sich um Interviews und Reportagen, die von Rundfunkreportern auf der Straße durchgeführt wurden. Dabei ist mit an Sicherheit grenzender Wahr- scheinlichkeit jeweils nur ein Mikrophon verwendet worden. Diese Aufnahmetechnik empfahl sich schon aus praktischen Gründen, denn die Reporter mußten möglichst mobil sein.98 Bestimmte Großveran- staltungen, bei denen eine derartige Beweglichkeit nicht erforderlich war, können aber auch am 17. Juni mit mehreren Mikrophonen aufge- zeichnet worden sein. Dies könnte etwa für die SPD-Kundgebung auf dem Oranienplatz am Abend des 17. Juni gelten. 99 Bei dieser Aufnah- 96) Ebenda, 401 97) Ebenda 98) Die IWF-Edition enthält mit P189 (S.69) ein Photo, das eine derartige Aufnahmesituation dokumentiert. 99) T37, IWF, 232-243 34 meart können Mikrophone unterschiedlicher Richtcharakteristik An- wendung finden, von denen unter Umständen jedes separat ausgesteu- ert wird. Der Zuhörer bekommt später eine Mischung dieser Aufnah- men präsentiert, die der verantwortliche Toningenieur festgelegt hat. Für die Praxis der historischen Tonquelleninterpretation bedeutet dies, daß man etwa bei Zwischenrufen nicht von Rufen aus dem Hinter- grund, sondern lediglich von leiseren Rufen sprechen darf. Genauere Aussagen sind nur möglich, wenn den zu interpretierenden Tonauf- nahmen detaillierte Beschreibungen der Aufnahme- und Bearbei- tungstechnik beiliegen. Das dürfte aber eher die glückliche Ausnahme sein. Für keine der in die Edition zum 17. Juni aufgenommenen Ton- aufnahmen hat derartiges Begleitmaterial vorgelegen. 4.2.5 Aussteuerung Schon am Aufnahmegerät, spätestens aber bei der Weiterbearbeitung im Tonstudio, kann eine Regelung der Klangfarbe, d.h. der Tonhöhen und -tiefen, stattfinden. Der Pegel (die Lautstärke) wird reguliert und auf den Pegel von Versatzstücken, die beim Tonschnitt miteinander verbunden werden sollen, abgestimmt. Die Lautstärke einer Tonauf- nahme und ihrer einzelnen Toneinstellungen wird demnach vom Toningenieur vorgegeben. Sie kann durchaus von dem ursprünglichen Hörerlebnis abweichen. Bei der Bearbeitung im Studio ist es auch möglich, Effekte wie Hall oder Laufzeitveränderungen einzusetzen. Diese Manipulationsmög- lichkeiten finden aber eher im Hörspiel als in der politischen Bericht- erstattung Anwendung. In den Tonaufnahmen vom 17. Juni kommen sie mit großer Sicherheit nicht vor. Auch die Klangfarbenregelung dürfte eine für den Historiker weitgehend zu vernachlässigende Größe sein. Zwar kann durch extreme Beeinflussung von Höhen und Tiefen beim Hörer der Eindruck entstehen, ein Sprecher stünde hinter einem Vorhang oder sei weiter vom Mikrophon entfernt; doch auch dieser Umstand dürfte in der Praxis keine größere Rolle spielen, zumal jeder Hörer an seinem Wiedergabegerät die Höhen und Tiefen seinerseits beeinflussen kann. 4.2.6 Tonschnitt Im Zuge der Nachbearbeitung wird das Originalmaterial so gut wie immer geschnitten. In den meisten Fällen werden später nur die Schnittfassungen archiviert. Von den 41 Tonaufnahmen zum 17. Juni 1953 ist lediglich eine100 offensichtlich nicht geschnitten worden. 100) T26, IWF, 208-214 35 Ein gut ausgeführter Tonschnitt ist nicht hörbar. Die Rundfunkredak- teure nutzen diesen Umstand, um Versprecher oder Sprechgewohn- heiten101 herauszuschneiden, die die Konzentration der späteren Zuhö- rer stören könnten. Auch Umstellungen von Tonstücken entgegen ih- rer ursprünglichen zeitlichen Reihenfolge oder im Widerspruch zum Ort ihrer Entstehung sind leicht entsprechend einer bestimmten Aus- sageabsicht vorzunehmen und später nicht mehr nachzuweisen. 4.2.7 Zur theoretischen historischen Wertigkeit von Tonaufnahmen Auf den ersten Blick sieht es so aus, als könne die `Abbildungstreue' einer Tonaufnahme angesichts der vielen alltäglichen Manipulationen nicht so hoch veranschlagt werden wie die Abbildungstreue des Bil- des. Im Fall der Aufnahmen vom 17. Juni kann aber angenommen werden, daß abgesehen vom Tonschnitt keine gravierende Bearbei- tung des Materials stattgefunden hat. Zudem beschränkt sich das In- teresse des Historikers in der Regel auf das, was in den Tonaufnahmen gesagt wird, wie es gesagt wird und welche Resonanz es etwa bei Zu- hörern hervorruft. Des weiteren interessieren die Umgebungsgeräu- sche, wie etwa Schüsse, und die Reaktion der handelnden Menschen auf diese Ereignisse. Dabei können wir uns darauf verlassen, daß bei der Tonaufnahme beispielsweise ein "X" auch als "X" und nicht als "U" aufgezeichnet wird. Ein freudiger Ausruf wird kein Klagelaut, und ein Schuß bleibt ein Schuß und wird nicht zu Glockengeläut. Be- stimmte "sprecherspezifische Merkmale"102 sind von der Tonbearbei- tung weitgehend unabhängig. Dazu gehören: "- mittlere Sprechstimmlage / Mittelwert der Grundfrequenz - Melodik der Stimme / Streuungsmaß der Grundfrequenz - Stimmqualität / physische Form der Schwingungen u.a. - Dialekt (Art und Grad der dialektischen Färbung) - fremdsprachiger Akzent" (sog. fremdsprachliche Interferenzen) - Idiolekt (einschl. Stereotypien im Bereich des Wortes oder größerer Einheiten, Aspiration von Verschlußlauten, Nasalität, akustische Realisierung und Verteilungseigenschaften von Verzögerungen und 101) Dazu zählen z.B. "äh" oder "hm". 102) Künzel (1989), 403 36 Pausen) - Soziolekt - Artikulationsgeschwindigkeit (`Sprechtempo') - Atemverhalten"103. Letztlich muß die praktische Untersuchung erweisen, welche der auf- gezeigten Erkenntnismöglichkeiten und -einschränkungen fallweise praxisrelevant sind. Die Tonquellen-Edition zum 17. Juni 1953 in Berlin bietet für eine derartige Erörterung gute Voraussetzungen, weil sie ein breites Spektrum von Tonaufnahmen von öffentlichen Reden über Reportagen bis hin zu den verschiedensten Interviews beinhaltet. 103) Ebenda 37 5. Bild- und Schriftquellen: Ein erster Vergleich anhand der Demonstrationen vom 16. Juni 1953 Die Quellen-Edition beinhaltet vom 16. Juni sieben Photos und fünf Filmeinstellungen Anhand dieser übersichtlichen Quellenbasis soll die Untersuchung ohne vorgefaßte Fragestellung zuerst einmal den Que l- len folgen: An welchen Stellen lassen sich die Bilder in das bestehen- de Geschichtsbild vom 16. Juni einordnen? Wie zuverlässig und wie wichtig sind diese Quellen? Während die Photos Demonstranten unter anderem in der Stalin-Allee und in der Leipziger Straße zeigen, bieten die Filmeinstellungen den Blick auf Diskussionsgruppen in der Wil- helmstraße. Mit Hilfe der Photos eins, zwei und drei soll zuerst die Frage verfolgt werden, ob die Demonstrationen des 16. Juni nur von den Bauarbei- tern des Blocks 40 in der Stalinallee ausgegangen sind, oder ob die Basis für den Aufstand nicht doch breiter angelegt war und zeitgleiche Arbeitsniederlegungen an verschiedenen Stellen stattgefunden haben. Anschließend besteht anhand der gleichen Quellen unter Einschluß von P5 und P7 die Möglichkeit, die Demonstrantenzahlen näher zu bestimmen, die in der Literatur teilweise erheblich voneinander ab- weichen, offensichtlich auf Schätzungen beruhen und oft ohne Que l- lenangabe erfolgt sind. Dazu sind die Personen zu zählen, die auf den einschlägigen Photos auszumachen sind. Zuletzt wird anhand der Filmaufnahmen untersucht, ob die dort zu sehenden Gruppen beiein- anderstehender Menschen Rückschlüsse auf die allgemeine Stimmung in Ostberlin am Abend des 16. Juni zulassen - eine Stimmung, aus der heraus am folgenden Tag wesentlich größere Demonstrationen zu- stande kamen. Die genannten Aspekte sind für das Verständnis vom Ursprung der Demonstrationen von Bedeutung. Sie berühren grundsätzlich das Pro- blem des Zustandekommens von Widerstand gegen eine Gewaltherr- schaft wie das damalige stalinistische System. 5.1 Der Beginn der Demonstrationen: Innovation durch Bildquellen Sind die Demonstrationen allein vom Block 40 der Stalinallee ausge- gangen oder ist an mehreren Baustellen etwa zeitgleich die Arbeit nie- dergelegt worden? Dahinter steht die Frage, wie spontan der Beschluß zu der ersten Demonstration war. Hat es vielleicht doch weiterrei- chende Vorabsprachen unter den Arbeitern gegeben, als der westdeut- schen Forschung bislang bewußt war? 38 Mit der Öffnung geheimer Archive und mit der seit 1989 bestehenden Möglichkeit, viel mehr Augenzeugen vom 17. Juni 1953 zu befragen, hat sich die Quellenbasis wesentlich verbessert.104 Die in den bis dahin zugänglichen Quellen zitierten wenigen Augenzeugen haben durch- weg angegeben, daß zuerst am Block 40 in der Stalinallee demon- striert worden ist.105 Bei diesen Augenzeugen scheint es sich entweder um Arbeiter des Blocks 40 selbst gehandelt zu haben oder um Arbei- ter anderer Baustellen, die von Bauarbeitern des Blocks 40 zum Mit- machen aufgefordert worden waren. Dementsprechend wird in der Literatur meist dort der Ursprungsort des gesamten Ereignisses gese- hen. Der direkte Entschluß zur Demonstration ist für den Block 40 wörtlich so geschildert worden: "Ein Kollege trat hervor: 'Ich stelle euch vor die Wahl: wer mit uns mitmacht, der tritt nach rechts raus, wer nicht mitmacht, der tritt nach links raus.' Der ganze Haufen ging nun nach rechts. Ich muß sagen, mir selbst standen die Tränen in den Augen. Ich sah, daß hier nicht nur leere Worte gesprochen worden waren, sondern die Worte in die Tat umgesetzt wurden."106 Vor dem Hintergrund dieses Augenzeugenberichts scheint der Ent- schluß zur Demonstration relativ unvorbereitet gefallen zu sein. Fol- gerichtig betont Theodor Ebert in seiner Abhandlung über Widerstand 104) Vgl. Torsten Diedrich: Der 17. Juni 1953 in der DDR. Bewaffnete Gewalt gegen das Volk. Berlin 1991, 305; Manfred Hagen: DDR - Juni '53. Die erste Volkserhebung im Stalinismus. Stuttgart 1992, 240; Armin Mitter / Ste- fan Wolle: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte. München 1993, 555ff.; Dagmar Sem- melmann: Zeitzeugen über ihren 17. Juni 1953 in Berlin. In: hefte zur ddr-geschichte 7 "17. Juni 1953". Hg. v. Jo- chen Cerny, Helmut Meier, Peter Welker. Berlin 1993; Gerhard Beier: Wir wollen freie Menschen sein. Der 17. Juni 1953: Bauleute gingen voran. Hg. v. Bruno Köbele, Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden. Frankfurt/Main 1993 105) Rainer Hildebrandt: Der 17. Juni. Berlin 1983, 28; Arno Scholz / Werner Nieke / Gottfried Vetter: Panzer am Potsdamer Platz. Berlin 1954, 15. Joachim G. Leit- häuser: Der Aufstand im Juni. Ein dokumentarischer Be- richt. In: Monat 1952/53, 595-642 und 1953/54, 45-66, 604 106) Leithäuser, 604. Ganz ähnlich Hildebrandt (1983), 28 39 gegen stalinistische Regime107 den "spontanen Beginn" der Unruhen. Ebert kommentiert das obige Zitat über den Demonstrationsbeschluß der Bauarbeiter: "In diesem Augenblick begann der Aufstand. Die Ar- beiter entschlossen sich zum offenen Protest." Ebert zieht daraus den Schluß, Aufstände wie der des 17. Juni brächen spontan aus; dies sei geradezu die Vorbedingung, um die Machthaber überraschend und unvorbereitet zu treffen. Die neueste Forschung hat dagegen gezeigt, daß der Demonstrations- beschluß nicht ganz so spontan erfolgt ist.108 Vielmehr ist ihm ein Meinungsbildungsprozeß vorausgegangen, in dessen Verlauf sich die Arbeiter des gegenseitigen Rückhaltes für den Fall eines umfangrei- chen Streiks versicherten. Erst danach ist es zu der oben beschriebe- nen eindrucksvollen Szene gekommen. Wie gesagt, behandeln die meisten Quellen offensichtlich nur den Block 40. Es existiert lediglich eine ausdrücklich formulierte, aber unbelegte Angabe über den zeit- gleichen Demonstrationsbeginn an der Baustelle einer Schule in der Rüdersdorfer Straße.109 Die Bauarbeiter des Blocks 40 haben ihr Transparent angeblich mit folgender Aufschrift versehen: "WIR FORDERN HERABSETZUNG DER (ARBEITS)NORMEN". 110 Das im folgenden hierzu näher zu untersuchende Photo Nr.3 zeigt demgegenüber einen etwas anders formulierten Transparenttext: "BAUARBEITER FORDERN NORMSENKUNG". Ergibt sich daraus ein Anhaltspunkt für die Bil- dung eines zweiten Demonstrationszuges am Vormittag des 17. Juni? Zwei Berliner Tageszeitungen haben folgende Texte genannt: "Wir, Bauarbeiter fordern Normsenkung"111 und "Wir fordern Normsen- 107) Hierzu u. im folg. Theodor Ebert: Gewaltfreier Wider- stand gegen stalinistische Regime? In: Roberts, Adam (Hg.): Gewaltloser Widerstand gegen Aggressoren. Pro- bleme - Beispiele - Strategien. Göttingen 1971, 114-116 108) Hagen (1992), 35; auch bei Beier, 56f. kommt eine baustellenübergreifende Grundstimmung zum Ausdruck. 109) Leithäuser, 604 110) Bei Scholz/Nieke/Vetter (1954), 15 heißt es "Arbeits- normen", bei Hildebrandt (1983), 27 und Leithäuser, 604 heißt es "Normen". 111) Der Tagesspiegel (17.6.53), 1; ebenso Arno Scholz / Werner Nieke: Der 17. Juni. Die Volkserhebung in Ost- berlin und in der Sowjetzone. Berlin 1953, 17; vgl. Inter- view bei Beier, 69f. mit einem Mann, der diesen Text auf ein blaues Tuch gemalt haben will. 40 kung!"112. Leztere Losung soll auf einem blauen Transparent gestan- den haben, das an der Spitze von Demonstrationszügen (sic!) getragen wurde. Daß der Zusatz "Wir" auf P3 nicht zu lesen ist, kann daran lie- gen, daß das von zwei Stangen gehaltene, auf Tuch gemalte Plakat113 zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht vollständig gespannt war. Wahr- scheinlich sind am 16. Juni aber auch nicht zwei, sondern mehr Pla- kate von den Demonstranten mitgeführt worden. Ein Zug von 40 bis 50 Demonstranten soll nach Aussage eines Augenzeugen mehrere große und kleine Transparente aus Protest gegen die Normerhöhung mitgeführt haben. 114 In einem Bericht der Westberliner Polizei ist so- gar von viel weitergehenden, auf Spruchbändern mitgeführten Losun- gen die Rede.115 Allerdings wird diese Nachricht von keiner weiteren Quelle gestützt. Selbst angesichts des Umstandes, daß auch in einem relativ kleinen Demonstrationszug mehrere Transparente gesehen wurden, ist die Theorie, die Demonstrationen des 16. Juni seien lediglich auf die Bau- arbeiter des Blocks 40 zurückzuführen und alle anderen Demonstran- ten hätten sich hinter deren Transparent gesammelt, nicht mehr unbe- dingt gültig. Die Nachricht vom etwa zeitgleichen Demonstrationsbe- ginn in der Rüdersdorfer Straße, einer Nebenstraße der Stalinallee im Bezirk Friedrichshain, legt in Verbindung mit den verschiedenen überlieferten Transparenttexten eine andere Vorstellung nahe. Danach ist am Morgen des 16. Juni zumindest an zwei verschiedenen Bau- stellen etwa zur selben Zeit die Arbeit niedergelegt worden. Für beide Belegschaften wurde jeweils ein eigenes Transparent angefertigt. Die Forderungen waren inhaltlich gleich. Die Akten aus dem Zentralen Parteiarchiv der SED, der Staatssicher- heit und neuere Augenzeugenberichte erhärten das Bild vom zeitglei- 112) Hierzu u. im folg. Der Tag (17.6.53), 1 113) Vgl. Beier, 69 114) Beier, 60 115) Der Polizeipräsident in Berlin - PhS. Interner Bericht der Polizeiinspektion Wedding vom 17. Juni 1953. In dem Bericht werden folgende Tansparent-Texte genannt: "Nieder mit den Sklavenhaltern, wir sind freie Arbeiter." "Wir sind fleißige Arbeiter, wir lassen uns die Normen nicht erhöhen." "Wenn eine Regierung nicht fähig ist zu regieren, dann soll sie abtreten." Sprechchöre sollen geru- fen haben: "Nieder mit den hohen Normen, nieder mit den hohen Preisen." "Nieder mit dem Kommunismus." Allerdings geht aus der Quelle nicht eindeutig hervor, ob sich die Nachrichten auf den Vor- oder den Nachmittag des 16. Juni beziehen. 41 chen Demonstrationsbeginn am Krankenhausbau und am Block 40. In einem "Informationsbericht" der Abteilung Leitende Organe der Partei und der Massenorganisationen heißt es, die Unruhen seien "beson- ders" vom Krankenhausbau Friedrichshain ausgegangen. Außerdem seien "Delegationen" ausgesandt worden, um die anderen Bauarbeiter ebenfalls zur Arbeitsniederlegung und zur Demonstration aufzufo r- dern. 116 Radfahrer scheinen ständig die Verbindung zwischen den ver- schiedenen Baustellen aufrecht erhalten zu haben. 117 Die Demonstrati- onszüge, die sich am Strausberger Platz vereinigt haben sollen118, ha- ben "Transparente mit der Losung 'Rückgängigmachung der Nor- menerhöhung'" mitgeführt119. Nach einem Bericht des MfS waren es Bauarbeiter des Blocks 40, die das absichtlich von der Betriebsleitung verschlossene Tor des Kran- kenhauses Friedrichshain aufbrachen und ihre Kollegen gewisserma- ßen befreiten. 120 Schon zuvor hatten zwei Bauarbeiter des Blocks 40 an den Diskussionen der Krankenhaus-Bauarbeiter teilgenommen. Angesichts dieser Fakten verliert der Eindruck, die Demonstrationen seien absolut spontan zustande gekommen, an Glaubwürdigkeit. Vielmehr wird die Aufmerksamkeit auf mögliche Vorabsprachen un- ter den Arbeitern gelenkt, die dem Einzelnen das Gefühl gegeben ha- ben, daß er, wenn es zu Demonstrationen gegen die Normerhöhung käme, nicht allein dastehen würde, sondern auf breiten Rückhalt ho f- fen könne.121 Im Vorfeld des 16. Juni soll es bereits ca. 60 Streiks in der DDR ge- geben haben. 122 Auch auf dem Land gab es unter den zwangskollekti- vierten Bauern zahlreiche Unmutsbekundungen. 123 Das Politbüro- Kommuniqué über den Neuen Kurs soll diese Entwicklung ausgelöst haben. Es ist durchaus anzunehmen, daß zumindest vage Nachrichten durch Mund-(zu-Mund-)Propaganda darüber verbreitet worden sind. 116) ZPA V/2/5/537,1 117) ZPA IV/2/5/525, zit. nach Diedrich, 60 118) Diedrich, 60; Hagen (1992), 38 119) ZPA V/2/5/537,1 120) Hierzu u. im folgenden Bericht des MfS, zitiert nach Mitter/Wolle (1993), 91 121) Vgl. Diedrich, 60 122) Brandt, 227; Beier, 56 berichtet von "Teilstreiks am 12. Juni" 123) Hierzu u. im folg. Mitter/Wolle (1993), 72ff. 42 Gerade Bauarbeiter, die oft weit entfernt von ihrem Wohnsitz arbeite- ten und dementsprechend am Wochenende weite Fahrtstrecken in öf- fentlichen Verkehrsmitteln zu ihren Familien zurücklegten, waren für die Verbreitung solcher Nachrichten prädestiniert.124 Auf einem ge- meinsamen Betriebsausflug von Arbeitern des VEB Wohnungsbau und des VEB Industriebau am 13. Juni kann durchaus vor dem Hin- tergrund solcher Informationen über eigene Streiks gesprochen wor- den sein.125 Manfred Hagen spricht sogar davon, dort seien "konkrete Vorsätze" gefaßt worden. 126 Diese Ansicht wird auch von Armin Mit- ter und Stefan Wolle vertreten, die sich auf entsprechende Berichte des Ministeriums für Staatssicherheit stützen. 127 Wenn man dann noch die Absprachen zwischen den Kollegen der einzelnen Baustellen be- rücksichtigt, wie sie etwa nach Feierabend stattgefunden haben dür f- ten, 128 so kann man sicher von einer breiten und tief gestaffelten ge- genseitigen Rückversicherung der immer fester zum Streik entschlos- senen Arbeiter sprechen. Dieser zunehmenden Entschlossenheit stand eine im Umfeld des Neuen Kurses mehr und mehr verunsicherte SED gegenüber. Die breite Basis der Unzufriedenheit kommt auch darin zum Ausdruck, daß am 15. Juni auf zwei Baustellen Resolutionen zur Normenfrage vorbereitet wurden, die an den Ministerpräsidenten Grotewohl gerichtet werden sollten. Dabei handelte es sich um den Block 40 und die sogenannte Baustelle Friedrichshain. Gerade bei der Verabschiedung dieser Resolutionen haben die Arbeiter mit Sicherheit auch Streik und Demonstration für den Fall einer Ablehnung ihrer Forderung erwogen. Schließlich haben beide Belegschaften schon am 15. Juni wenn nicht gerade gestreikt129, so doch zumindest sehr unre- gelmäßig gearbeitet130. Am Morgen des 16. Juni hat dann die in der Gewerkschaftszeitung "Tribüne" verteidigte Normerhöhung131 den Eindruck vermittelt, daß eine weitere Resolution nicht mehr zweck- mäßig und der wahrscheinlich schon verabredete nächste Protest- schritt erforderlich seien. 124) Hagen (1992), 35 125) Vgl. Arnulf Baring: Der 17. Juni 1953. Stuttgart 1983, 58, Anm. 19; Beier, 56 126) Hagen (1992), 37; vgl. Beier, 42-55 127) Hierzu bes. Mitter/Wolle (1993), 87f. 128) Vgl. Scholz/Nieke/Vetter (1954), 7 129) ZPA IV/2/5/539,1 130) Hagen (1992), 37; Beier, 42-55 131) Otto Lehmann, zitiert nach Baring (1983), 170-174 43 Wie ist nun der Stellenwert von P3 in dieser Argumentationslinie zu bewerten? Fest steht, daß auch die verbalen Quellen allein die These vom zeitgleichen Demonstrationsbeginn an verschiedenen Baustellen belegen. Im Rahmen der theoretischen Vorüberlegungen ist aber ge- zeigt worden, daß die Bildquelle einen niedrigeren Abstraktionsgrad besitzt als der Augenzeugenbericht, der ja, wie der Begriff schon sagt, erst aus dem visuellen Eindruck heraus entsteht. Damit ist die Reali- tätsnähe des Photos größer als die verbale Umsetzung des Bildinhaltes durch den Augenzeugen. In unserem konkreten Fall bedeutet dies, daß das Photo mit dem Transparenttext prinzipiell die sicherste und damit wichtigste Quelle darstellt. Es ist der Beleg für die Richtigkeit der Schriftquellen. Mögliche Einschränkungen dieses Quellenwertes - et- wa durch Retusche - werden weiter unten diskutiert. P3 fügt sich nicht nur nahtlos in die beschriebene Interpretation ein, es lenkt die Aufmerksamkeit auch auf ein interessantes Detail, nämlich die Anfertigung von Spruchbändern als Teil der Demonstrationsvor- bereitungen. Der Umstand, daß offenbar zeitgleich an zwei verschie- denen Baustellen solche Transparente hergestellt wurden, vertieft die Vorstellung von einer gut vorbereiteten Aktion und läßt die Idee eines spontanen Demonstrationsbeginns zunehmend unglaubwürdig er- scheinen. Zwar ist die Existenz verschiedener Spruchbänder auch aus den Schriftquellen zu erschließen; sie ist aber bislang nie in der Lite- ratur thematisiert worden. Man kommt deshalb nicht umhin, dem Photo in diesem Zusammenhang eine gewisse innovative Funktion zuzusprechen. Die Einbeziehung des Photos zeigt uns darüber hinaus noch zweierlei: Erstens muß sich die Geschichtsschreibung darüber im klaren sein, daß einzelne Augenzeugen immer nur einen begrenzten Überblick über ein Gesamtereignis haben und auch zur Überhöhung ihrer eige- nen oder der von ihnen erlebten Aktivitäten neigen. In unserem spezi- ellen Fall bedeutet dies, daß der endgültige Entschluß zur Demonstra- tion zwar eine mutige Entscheidung der daran beteiligten Individuen war, daß der Einzelne aber mit hoher Wahrscheinlichkeit von der ebenfalls vorhandenen Streikbereitschaft seiner Kollegen und der Ar- beiter anderer Baustellen ausgehen konnte; er durfte bei ihnen siche- ren Rückhalt vermuten. Zum zweiten lehrt uns die Berücksichtigung von P3 mittelbar auch, daß die westdeutsche Geschichtsschreibung bei dem Versuch, die ostdeutsche These vom 'Agentenputsch' 132 zu wi- derlegen, lange Zeit über das Ziel hinausgeschossen ist. Dabei ist ein Geschichtsbild entstanden, das die spontane Entscheidung des Einze l- nen hervorhob und den Prozeß der kollektiven Meinungsbildung in seiner Bedeutung unterschätzte. Unter dem Aspekt des Widerstandes 132) Vgl. dazu z.B. Ausschuß für deutsche Einheit (Hg.): Wer zog die Drähte? Der Juni-Putsch 1953 und seine Hintergründe. Ost-Berlin 1954 44 gegen stalinistische Systeme kann das wie gezeigt zu folgenschweren Fehlschlüssen führen. Gegen eine derart hohe Bewertung von P3 gibt es allerdings ernstzu- nehmende Gegenargumente. Die dargestellte realistischere Sichtweise kann auch allein auf der Basis schriftlicher Quellen belegt werden. Es ist also nicht auszuschließen, daß das Ende des Ost-West-Konfliktes und die damit verbundene ideologische Entkrampfung mehr zu der beschriebenen Neubewertung beigetragen haben als das eigentlich im Blickpunkt stehende Photo. Die Bildaussage von P3 ist verbaler Natur und damit für die Bildinter- pretation an sich unproblematisch. Ein bildspezifisches Problem ergibt sich aber aus der Retusche, die ganz offensichtlich an dem Photo vor- genommen worden ist. Wenn dabei der Schriftzug auf dem Transpa- rent verfälscht worden sein sollte, würde die darauf aufbauende Inter- pretation eine wesentliche Grundlage verlieren. Die Wahrscheinlich- keit spricht aber wohl eher dafür, daß nur die Gesichter der Demon- stranten aus Gründen des Personenschutzes retuschiert worden sind. Es darf deshalb auch nicht verwundern, daß sich der Transparenttext gegenüber den übrigen Bildpartien merkwürdig klar ausnimmt. Aller- dings bleibt ein Rest von Unsicherheit, weil der Schriftzug unnatürlich über die Falten des Tuches zu laufen scheint. Schließlich ist noch zu erwähnen, daß ein Abzug des Photos im früheren Gesamtdeutschen Institut Bonn die Zeitangabe 12 Uhr trägt.133 Wenn diese Zeitangabe entgegen der hier vertretenen Meinung richtig sein sollte, wäre das Photo kein sicherer Anhaltspunkt mehr für die gleichzeitige Arbeits- niederlegung an mehreren Baustellen. Vielmehr würde P3 dann auch Anlaß zu der Vermutung geben, daß sich noch im Verlauf des Vor- mittags zumindest ein neuer Demonstrationszug mit einem Transpa- rent gebildet hat. Allerdings sprechen die (hoffentlich hier nicht über- strapazierte) 'Wahrscheinlichkeit' und der Kontext der Schriftquellen dagegen. Insgesamt stellen also zwei Sachverhalte die Interpretation von P3 in Frage: eine mögliche Retusche und eine problematische verbale Begleitinformation. 5.2 Zum Verhältnis von Bildaussage und Augenzeugenbericht: Die numerische Stärke der Demonstrationen In dem vorausgegangenen Kapitel ist die Bedeutung der Vorabspra- chen für das Zustandekommen der ersten Demonstrationen behandelt worden. Diese Vorabsprachen konnten dem Einzelnen aber nur die Hoffnung auf großen Zulauf zu der Streikbewegung geben. Eine ganz andere Frage ist es, wie viele Menschen sich tatsächlich wann den Demonstrationen angeschlossen haben. Die Dynamik in der Entwick- 133) IWF, 27, Anm.8 45 lung der Teilnehmerzahlen war ein wesentlicher Faktor für den Erfolg der Bewegung. Unbestreitbar hat der Zulauf zu der Demonstration das Selbstbewußtsein der Demonstranten wesentlich gestärkt. Die schon am 16. vorgebrachten politischen Forderungen134 nach Rücktritt der Regierung, freien Wahlen, nach Freiheit allgemein und die Tatsache, daß ein Redner vor dem Haus der Ministerien von einer "Volkserhe- bung"135 sprechen konnte, weisen auf die Bedeutung dieses Selbstbe- wußtseins hin. Auch der Aufruf zum Generalstreik muß vor diesem Hintergrund gesehen werden. In diesem Zusammenhang geht es zu- dem um die Frage nach der 'kritischen Masse', die neben den Vorab- sprachen nötig war, um die ersten Demonstrationen einzuleiten. Ein weiterer Untersuchungsschwerpunkt liegt auf dem hier methodisch besonders interessanten Vergleich zwischen Augenzeugenberichten und Bildaussage sowie allgemeinen Erkenntnissen über den Wert von Bildquellen für quantitative Analysen. Die Zahlenangaben in den Schriftquellen weichen teilweise erheblich voneinander ab. Waren es nur 40 bis 60 Bauarabeiter, die zu demon- strieren begannen, 136 waren es 80137, 100138 oder 300 bis 500139? Alle diese Zahlen werden in der Literatur genannt. Sie beruhen offensicht- lich auf Schätzungen von Augenzeugen. Wie kann es aber zu einer Differenz zwischen Minimal- und Maximalwert um den Faktor zwölf kommen? Die vorausgegangene Abhandlung hat bereits gezeigt, daß einzelne Augenzeugen jeweils nur einen beschränkten Bereich überblicken und daß die Demonstrationen mehrere Ausgangsorte hatten. Es ist dem- 134) Vgl. z.B. Heinz Brandt: Ein Traum der nicht entführ- bar ist. Mein Weg zwischen Ost und West. Berlin 1977, 232; Hildebrandt (1983), 39; Leithäuser, 608; Stefan Brant (alias Klaus Harpprecht) / Klaus Bölling: Der Auf- stand. Vorgeschichte, Geschichte und Deutung des 17. Juni 1953. Stuttgart 1954, 107; ZPA V/2/5/537,2; Der Polizeipräsident in Berlin - PhS, Bericht der Polizeiin- spektion Wedding - Az, 6280/53 GB. vom 17. Juni 1953; Beier, 16, mit weiteren Quellenangaben 135) Hildebrandt (1983), 39 136) Scholz/Werner/Nieke (1954), 16; Beier, 60 137) Hildebrandt (1983), 27; Der Kurier (17.6.53), 6. Wolfgang Paul: Kampf um Berlin. München/Wien 1962, 229 138) KGU-Archiv (19.6.1953), 1 139) Brant, 103; Beier, 57 46 nach durchaus denkbar, daß die Zahlen von verschiedenen Augenzeu- gen stammen. Da meist keine Quellenangabe erfolgte und die zeitliche Einordnung unsicher ist, sind die Aussagen mit Vorsicht zu bewerten. Das Problem, zuverlässige Zahlen zu gewinnen, wächst zudem mit der Anzahl der Akteure im Verlauf der Demonstrationen, denn die Schät- zungen einzelner Demonstrationsteilnehmer dürften zunehmend un- genau geworden sein. Die Untersuchung wird zeigen, daß die Demon- stranten ihre zahlenmäßige Stärke später wahrscheinlich erheblich überschätzt haben. Angesichts dieser Unsicherheit soll geprüft wer- den, ob die Auswertung der verfügbaren Photos zu einer sichereren Einschätzung führt. Das Photo 1 zeigt einen Demonstrationszug in der Stalinallee. Die einzelnen Demonstranten sind auf dem Bild gut auszumachen. Der Mittelwert aus verschiedenen Zählungen ergibt die Gesamtzahl von 390 sichtbaren Personen. In dieser Zahl sind die Personen, die durch das mitgeführte Transparent und den Laternenpfahl in der Bildmitte verdeckt wurden, nicht enthalten. Unter den 390 Personen sind 27 Frauen und acht Kinder eindeutig auszumachen. Der Frauenanteil an der erhobenen Gesamtzahl betrug demnach knapp sieben Prozent. Dieser Wert ist als gesicherter Mittelwert für die ge- samte Demonstration in der Stalinallee anzusehen, wenn man den Grundwert von 390 Personen als repräsentative Stichprobe für den Demonstrationszug insgesamt annimmt. Der Eindruck gesicherter Re- präsentativität wird zusätzlich verstärkt, weil die Frauen sich gleich- mäßig über den Bildausschnitt verteilen und nicht als in sich geschlos- sene Gruppe auftreten. Es mag sich bei den Frauen meist um Verwal- tungsangestellte der Baustellen gehandelt haben. Darüber hinaus fällt auf, daß sehr viele Männer nicht den weißen Anzug der Bauarbeiter, sondern ihren normalen Straßenanzug getragen haben. Leider fehlen über die Zusammensetzung der Demonstrationszüge genauere Zusat- zinformationen. Auf den ersten Blick liegen drei Erklärungsmöglich- keiten auf der Hand: Entweder haben sich viele Bauarbeiter am Mor- gen des 16. Juni gar nicht erst umgezogen, oder schon in der Stalinal- lee war der Zuzug von anderen Bevölkerungsgruppen ganz erheblich. Drittens kann es sich auch bei diesen Männern zumindest zum Teil um Verwaltungsangestellte gehandelt haben. Auch die zahlreichen im Bild sichtbaren Radfahrer können unsere Vorstellung vom Ablauf der Ereignisse verbessern. Es erscheint durchaus vorstellbar, daß diese Radfahrer ihre Mobilität genutzt ha- ben, um den Kontakt zu anderen Baustellen herzustellen und allge- meine Informationen zu verbreiten. 140 140) Vgl. ZPA IV/2/5/525, zit. nach Diedrich, 60, Anm. 7 47 Die Analyse von Details scheint auf den ersten Blick durchaus dazu geeignet zu sein, unsere Kenntnisse zu vertiefen. Der begrenzte Bild- ausschnitt und fehlende Begleitinformationen schränken aber die In- terpretationsmöglichkeiten deutlich ein. So ist auf P1 nur ein Teil des Demonstrationszuges zu sehen, wie der Vergleich mit P2 zeigt. Die Zahl von 390 Personen kann also nur als gesicherte Mindestzahl für die Stärke eines Demonstrationszuges in der Stalinallee angesehen werden. P2 zeigt wahrscheinlich den gleichen Demonstrationszug, aber aus einer anderen Perspektive. Während P1 den Zug fast von der Seite zeigt, bietet P2 eine Perspektive von hinten. Dabei ist der Blick- winkel von schräg oben zu flach, um exakt einzelne Personen zählen zu können. Höchstwahrscheinlich zeigt P2 mehr Demonstranten als P1. Mit hinreichender Sicherheit läßt sich das aber nicht sagen. Angeblich sind fünftausend Demonstranten vor dem Haus der Mini- sterien angekommen. 141 Andere Quellen sprechen von "vielen Tau- send". 142 Am vorsichtigsten ist die Demonstrationsstärke - noch am Alexanderplatz - so beschrieben worden: "Jetzt besteht kein Zweifel mehr: es handelt sich um eine Massendemonstration. Zweitausend? Fünftausend? Zehntausend? Wer vermöchte es zu sagen?"143 Dieser selbstkritischen Einschätzung stehen andere, angeblich stichfeste Zahlen gegenüber: Vor dem Haus der Ministerien hätten sich zehntau- send 144, ja zwanzigtausend 145 Menschen versammelt. Dabei ist der Vorplatz des Ministeriengebäudes nur etwa 50 mal 50 Meter groß. Mehrere Autoren, unter ihnen der Augenzeuge Fritz Schenk 146, haben von einer ständig wachsenden Zahl von Demonstranten vor dem Haus der Ministerien berichtet.147 Die Menge habe schließlich drei- oder viertausend Menschen umfaßt148 und auch die Seitenstraßen gefüllt 149. 141) Berliner Morgenpost (17.6.53), 1; Hildebrandt (1983), 30 142) Curt Riess: Der 17. Juni Berlin 1954, 31; Brandt (1977), 232 143) Ebenda, 14 144) Baring (1983), 62; Hildebrandt (1983), 40; Hermann Weber: Geschichte der DDR. München 19862, 239 145) Scholz/Nieke (1953), 17 146) Fritz Schenk: Im Vorzimmer der Diktatur. 12 Jahre Pankow. Köln 1962, 196 147) Brant, 106 148) Ebenda 48 Nach einer parteiinternen Schätzung haben am 16. Juni etwa 15.000 Menschen gestreikt - z.T. allerdings, ohne ihre Betriebe zu verlas- sen. 150 Nach Auflösung der Versammlung vor dem Haus der Ministerien sind angeblich mehr als zehntausend Demonstranten einem gekaperten Lautsprecherwagen gefolgt.151 Insgesamt sollen am 16. Juni Tausende und Zehntausende auf die Straße gegangen sein. 152 Nach Aussage ei- nes damaligen Volkspolizisten waren um 22.25 Uhr immer noch mehr als fünftausend Demonstranten in Richtung Prenzlauer Allee unter- wegs.153 Von der Demonstration vor dem Haus der Ministerien in der Leipziger Straße bietet die Film-, Foto- und Tonquellen-Edition zwei Photos, von denen P6 den Vorplatz weitgehend erfaßt. Die rechte Begrenzung des Vorplatzes zeigt P7, das sich mit P6 überlappt. Zusätzlich soll ein weiteres, nur in der Literatur gedrucktes Photo ausgewertet werden; 154 es zeigt den linken Rand des Vorplatzes. Auf P6 sind etwa 1040 Per- sonen zu zählen. 155 Die geringe Bildtiefe und die große Streuung der Menschen über die Bildbreite ermöglichen hier eine recht genaue Zählung. Geht man davon aus, daß rechts und links je noch einmal etwa 100 Menschen gestanden haben, kommt man insgesamt auf rund 1200 Demonstranten vor dem Haus der Ministerien. Damit liegt auch für diesen Demonstrationsort eine gesicherte Min- destzahl vor. Sie liegt beträchtlich unter den geschätzten drei- bis zwanzigtausend. Die Schätzungen sind selbst dann als unrealistisch anzusehen, wenn auf der Straßenseite gegenüber dem Ministerium weitere Demonstranten vom Bildausschnitt nicht erfaßt worden sein sollten. Allerdings soll - wahrscheinlich zu einem späteren Zeitpunkt - die Menge auch die Seitenstraßen gefüllt haben. Dies war zur Auf- nahmezeit, als bereits Ansprachen gehalten wurden156, mit hoher 149) Hildebrandt (1983), 40 150) ZPA IV/2/5/539,1 151) Riess, 38; Leithäuser, 608 152) Scholz/Nieke/Vetter (1954), 27 153) Ebenda, 28 154) Der Kurier (17.6.53), 1. Der Tag (17.6.53), 3. Scholz/Nieke (1953), 16 155) Mittelwert aus Mehrfachzählung 156) Siehe P6, IWF, 28 49 Wahrscheinlichkeit nicht der Fall, denn am linken Rand des oben ge- nannten, nicht in die Edition aufgenommenen Photos ist der Rand der Menge zu erkennen. Wenn die geschätzten Zahlen auch nur annähernd stimmen sollten, müßte demnach der Zustrom erheblich gewesen sein. Quellentheoretisch ergeben sich aus dieser Teiluntersuchung folgende Erkenntnisse: Es sind hier einzig und allein die Bildquellen, die die Schriftquellen zu relativieren vermögen. Der präverbale Charakter der Bilder wird hier in seiner Wertigkeit besonders deutlich. Leider liefert die Bildauswertung keine rundum gesicherten Zahlen. Schuld daran sind der begrenzte Bildausschnitt und der flache Aufsichtswinkel. Die Bilder sind aber insofern ehrliche Quellen, als sie die Beschränkung ihres Aussagewertes eindeutiger zu erkennen geben als die Schrift- quellen. In bezug auf die Begleitinformationen macht sich das Fehlen genauer Zeitangaben am schmerzlichsten bemerkbar. Außerdem kön- nen Bilder zu neuen Fragen anregen. 5.3 Ein quellenspezifischer Beitrag zur Variationsbreite von Aktionsformen: Die Bedeutung der Diskussionsgruppen auf den Straßen am Abend des 16. Juni für die Ausweitung der Unruhen am folgenden Tag Zwei Photos und fünf Filmeinstellungen zeigen Gruppen beieinander- stehender Menschen am Nachmittag und Abend des 16. Juni. Im fo l- genden soll anhand dieser Aufnahmen untersucht werden, ob die Bild- aussage unser Verständnis von der Ausweitung der Unruhen verbes- sern kann. Ausgehend von Bildinhaltsbeschreibungen wird die vorlie- gende Literatur zum Thema auszugsweise zitiert und mit der Bildaus- sage verglichen. Die Aufnahmen P4 und P5 sowie F1 bis F5 zeigen Zweier-, Vierer-, Sechser-, Zehner- und Zwanziger-Gruppen dicht beieinander stehender Menschen. Da der Aufsichtswinkel auf die Gruppen sehr flach ist, stellen die Zahlenangaben für die Gruppengrö- ße jeweils nur Mindestzahlen dar. Die Menschenansammlung auf P4 und P5 steht an einem U-Bahn- Eingang. F1 bis F5 zeigen Gruppen inmitten eines lebhaften Straßen- verkehrs mit Personenkraftwagen, Straßenbahn, Radfahrern und Pas- santen. Die einzelnen Gruppen stehen in Sichtweite zueinander, und die im Westen stehende Sonne wirft bereits lange Schatten. Beim Betrachten der beschriebenen Szenen wird deutlich, daß diesen Diskussionsgruppen in zweierlei Hinsicht eine große Bedeutung zu- kommt. Erstens ist die Nachricht von den Ereignissen und der Aufruf zu erneuten Demonstrationen durch intensive Mund-zu-Mund- 50 Propaganda verbreitet worden. Dies gilt um so mehr, als dem Sonnen- stand nach noch viele Stunden nach Auflösung der großen Demon- stration vor dem Haus der Ministerien in der beschriebenen Weise diskutiert wurde. Zweitens dürften die geführten Gespräche und das Bewußtsein, daß auch viele andere ganz offensichtlich ähnliche Unter- redungen führten, ganz entscheidend zu der schon in anderem Zu- sammenhang beschriebenen gegenseitigen Rückversicherung beige- tragen haben. Die durch die Bildauswertung erschlossene Bedeutung der Mund-zu- Mund-Propaganda schlägt sich längst nicht in allen schriftlichen Dar- stellungen nieder. So heißt es etwa bei Curt Riess: "Nur RIAS kann die Ostzone über das unterrichten, was sich in Ostberlin abgespielt hat und noch abspielen wird."157 Der von Rainer Hildebrandt befragte Au- genzeuge ging nach seiner Rückkehr zu Stalinallee noch "mit einigen Kollegen in eine Kneipe". 158 Arnulf Baring sieht in dem von den De- monstranten benutzten Lautsprecherwagen das wichtigste Element der Nachrichtenverbreitung: "Erst durch den Lautsprecherwagen erfuhren viele Tausende in Ostberlin, daß eine Fortsetzung der Streiks und Demonstrationen geplant wurden; sie eilten zu Kollegen, zu Freunden, um zu beratschlagen, was am nächsten Tag geschehen solle, wie man die Belegschaften der Betriebe während der Nacht benachrichtigen könne. Erst durch den Lautsprecherwagen erreichte die Aufforderung zum Generalstreik so viele Menschen, daß sie sich von da an im Laufe der Nacht wie ein Lauffeuer durch Ostberlin verbreiten konnte."159 Sicher sind die Bedeutung des RIAS, des Lautsprecherwagens, die Wirtshauskontakte und die abendlichen Gespräche zu Haus von gro- ßem Einfluß gewesen. 160 Darüber darf aber die Bedeutung der Diskus- sionsgruppen nicht unterschätzt oder ignoriert werden. Andere Autoren erwähnen dagegen die genannte Thematik und geben Hinweise, die die Bildaussage sinnvoll ergänzen. Nach Wolfgang Paul war "abends die ganze Oststadt in Bewegung". 161 Dies würde bedeu- ten, daß die Filmaufnahmen und Photos durchaus als repräsentativ für die Ostberliner Kernstadt während der Abendstunden anzusehen wä- ren. Angeblich bildeten sich die Diskussionsgruppen sogar trotz meh- 157) Riess, 41 158) Hildebrandt (1983), 41 159) Baring (1983), 65f. 160) Vgl. Paul, 233 161) Paul, 232 51 rerer Regenschauer bis in die Nacht hinein.162 In diesem Zusammen- hang ist sicher auch wichtig, daß die Ostberliner Schutzpolizei erst am späten Abend gegen 23 Uhr in größerem Umfang begann, "die Men- schenansammlung im Stadtzentrum zu zerstreuen". 163 Angesichts die- ses Umstandes erscheint es glaubhaft, wenn Klaus Harpprecht alias Stefan Brant über den Abend des 16. Juni schreibt: "Es wird nicht ge- tuschelt. Niemand hält es für nötig, die Stimme zu senken. Man kann reden, die Furcht ist aus den Herzen gewichen. Der beglückende Rausch, frei zu sein, verscheucht den Schlaf aus den Augen. Morgen! Reisende, Kraftfahrer, die Westsender tragen den Funken weiter: Er zündet. Überall. An diesem Abend geraten die Herzen in Aufruhr"164. Die Bildquellen sagen über solche Hochgefühle oder auch über Sor- gen nichts sicheres aus. Am ehesten ist eine gewisse innere Anspan- nung zu erahnen. Dies gilt vor allem für P4 und P5. Der Photograph ist dort sehr dicht an die Menschen herangegangen, und das Auflö- sungsvermögen der Bilder ist entsprechend gut. Nach Arno Scholz, Werner Nieke und Gottfried Vetter ist am Abend des 16. Juni "überall ... aufgeregt" diskutiert worden. 165 Dagegen zei- gen die Photos und Filmeinstellungen niemanden, der dabei erkennbar gestikuliert. Vielmehr stehen die Menschen scheinbar ruhig und be- dächtig, eher vorsichtig, beieinander. Das Wort vom "Fieber der Erre- gung"166, das an diesem Abend über Ostberlin gelegen haben soll, mag dafür durchaus zutreffen; aber es dürfte vielfach ein verhaltenes Fie- ber gewesen sein. Bis zu dem erwähnten großen Polizeieinsatz um 23 Uhr war das Stra- ßenbild nicht nur von Diskussionsgruppen und Demonstrationszügen geprägt. Es ist auch zu erwähnen, daß eine größere Menschenmenge vor dem Frauengefängnis in der Barnimstraße die Freilassung der po- litischen Gefangenen forderte,167 daß es zu mehreren tätlichen Ausein- andersetzungen, beispielsweise zwischen Demonstranten und FDJ, gekommen ist, daß es Sachbeschädigungen gegeben hat und daß die 162) H.J. Reichardt (Bearb.): Berlin. Chronik der Ereignis- se 1951-1954. Berlin 1968, 712 163) Diedrich, 63 164) Brant, 117 165) Scholz/Nieke/Vetter (1954), 25 166) Scholz/Nieke (1953), 20 167) Scholz/Nieke/Vetter (1954), 25 52 Polizei auch schon vor 23 Uhr vom Schlagstock Gebrauch machte168. Von all diesen Sachverhalten sind keine Bilder bekannt - was sich zumindest nach Einbruch der Dunkelheit aus phototechnischen Grün- den erklärt. 168) Hierzu u. im folg. ZPA V 2/5/537, 3ff; T2, IWF, 137; Semmelmann, 32f. 53 5.4 Der Einfluß der Bildquellen auf das Geschichtsbild vom 16. Juni. Inhaltliche und methodische Erkenntnisse Am Ende des Quellenvergleichs drängt sich vor allem eine inhaltliche Erkenntnis auf: Der unter anderen von Torsten Diedrich dargelegte Prozeß gegenseitiger Ermutigung169 war sehr wichtig für den Aus- bruch der Streiks und Demonstrationen und deren Ausweitung am 17. Juni. Dieser Eindruck wird von den Bildquellen gestützt. Das gilt be- sonders für die Photos vom Demonstrationsbeginn und für die Auf- nahmen von den Diskussionsgruppen. Verallgemeinernd läßt sich sa- gen, daß die Unruhen weniger spontan ausgebrochen sind, als vielfach angenommen worden ist. Die Machthaber waren offensichtlich des- halb überrascht, weil sie den Meinungsbildungsprozeß unter den Ar- beitern in seiner Bedeutung unterschätzt oder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben. Die Mund-zu-Mund-Propaganda hat auch bei der Verbreitung der Nachrichten von den Ereignissen des 16. Juni eine entscheidende Rolle gespielt. Bei der Überprüfung der Zahlenangaben überrascht vor allem die gro- ße Diskrepanz zwischen der angegblich hohen Zahl der Streikenden (ca. 15.000), die von der Partei selbst ermittelt wurde, und der Min- destzahl von 1.200 Demonstranten vor dem Haus der Ministerien, die sich aus der Photoauswertung ergibt. Ganz sicher war die Zahl der Streikenden nicht identisch mit der Zahl der (Straßen-)Demonstranten. Wie bereits gesagt, bringt die Bildanalyse hier keine sicheren Er- kenntnisse, sondern vermittelt nur das Gefühl, daß die bisher ange- nommenen Demonstrantenzahlen zu hoch sind. Andererseits regt die große Abweichung zwischen Minimal- und Maximalwert aber auch zum Nachdenken an: Ist es beispielsweise so unwahrscheinlich, daß nur ein geringer Prozentsatz der Streikenden zu öffentlichen Demon- strationen aufgebrochen ist, während die überwältigende Mehrheit sich passiv verhielt und lediglich der Arbeit fernblieb? Die Augenzeu- genbefragungen von Lutz Niethammer und anderen über den 17. Juni könnten vielleicht eine solche Sichtweise stützen. 170 Wie relevant sind die eingangs dargelegten theoretischen Vorüberle- gungen für die Praxis? Am Beispiel von P3, dem Photo, das den Spruchband-Text zeigt, ist besonders deutlich geworden, daß der si- chere Umgang mit Photoquellen auch die Fähigkeit beinhaltet, mögli- che Retuschen zu erkennen und gegebenenfalls bei der Bildinterpreta- tion zu berücksichtigen. Die eigentliche Interpretation aber - und das 169) Diedrich, 58ff. 170) Lutz Niethammer: "Wir wollen nicht mehr Sklaven sein. Kollegen, reiht euch ein". Vergessene Möglichkeiten in einer Nische des Gedächtnisses oder Antworten auf die Frage: Was haben Sie am 17. Juni gemacht? In: Frank- furter Allgemeine Zeitung, 9.11.1990, 36 54 gilt im Grunde für alle hier untersuchten Bildquellen - lag durchaus im Rahmen eines normalen Quellenvergleichs. Besondere quellentheore- tische Kenntnisse waren nicht erforderlich. Allerdings mag dies bei P3 auch nicht verwundern, beruht dessen Interpretation doch auf einem verbal kodierten Bildinhalt. Das größte Problem bei der Einbeziehung von P3 in das Geschichtsbild vom 16. Juni ist wohl seine zeitliche Einordnung. Wenn es - wie es die Bearbeiter der Quellenedition getan haben - auf die Morgenstunden zu datieren ist, läßt es eine andere In- terpretation zu als in dem Fall, daß es erst in den Mittagsstunden auf- genommen worden ist. Wie man sieht, ist die Bedeutung zuverlässiger Begleitinformationen gar nicht zu überschätzen. Ihr Vorhandensein bildet die Grundlage jeder Bildinterpretation. Bei der Erhebung der Demonstrantenzahlen schränken besonders der Bildausschnitt und der Aufsichtswinkel die Interpretierbarkeit der Photos ein. Immerhin lassen sich anhand der Bilder gesicherte, inter- subjektiv überprüfbare Mindestzahlen ermitteln. Diese Mindestzahlen geben Anlaß, besonders die Demonstrationsstärke vor dem Haus der Ministerien wesentlich niedriger einzuschätzen, als das bisher der Fall war. Die Teilnahme von Frauen bereits in der Frühphase der Demon- strationen ist durch P1 eindeutig belegt. Abgesehen davon, daß deren Beteiligung damit erstmals ausdrücklich thematisiert wird, ist die Be- obachtung geeignet, die These vom frühzeitig gefaßten Demonstrati- onsbeschluß weiter zu erhärten. Für das Gesamtereignis sind die ermittelten Zahlen nicht so konkret, wie man es sich wünschen würde. Bezüglich der Frage, wie groß die Demonstrantenzahl in der allerersten Demonstrationsphase und wie groß der Zulauf - etwa bis zur Demonstration vor dem Haus der Mini- sterien - war, führt auch die Bildauswertung zu keinem sicheren Er- gebnis. So schwindet auch in diesem Fall die Hoffnung, aus der nume- rischen Stärke und ihrer Dynamik verallgemeinerungswürdige Er- kenntnisse über Widerstandsformen gegen moderne Gewaltherr- schaften zu gewinnen. Es scheint aber so, als müßten die Zahlenanga- ben aus den Schriftquellen teilweise erheblich nach unten korrigiert werden. Damit liegt als eine Möglichkeit ein ganz wesentliches Ver- dienst der Bildquellen darin, die Schriftquellen in Frage zu stellen. Auch befällt uns hier wieder eine Ahnung, auf welch tönernen Füßen ein Geschichtsbild stehen kann, das nur auf verbalen Quellen beruht. Wir können also den Bildern eine quellenspezifische Andersartigkeit mit Vor- und Nachteilen gegenüber den Schriftquellen zugestehen. In den drei bisher durchgeführten Teiluntersuchungen des historischen Gegenstandes hat sich die dauerhaft auf dem Trägermedium fixierte präverbale Information als grundlegend den Quellenwert bestimmend herausgestellt. Gleichzeitig sind aber auch quellenspezifische Schwachpunkte zutage getreten. Eine Beurteilung der Relevanz der aus den Bildern gewonnenen Informationen ist nur unter Berücksich- tigung dieser Schwächen möglich. 55 Die Bilder haben deutlicher als die Texte die Grenzen ihres Quellen- wertes offenbart. In dieser Offenheit - man könnte fast sagen: Ehrlich- keit - eine Wertminderung zu sehen, wäre aber verfehlt. Gerade die Einsicht in die Begrenztheit auch der nichtbildlichen Quellen muß als Gewinn betrachtet werden, selbst wenn damit vordergründig betrach- tet ein Verlust vermeintlicher Sicherheiten verbunden ist. 56 6. Können Bild- und Tonquellen zur Begriffsbildung vom 17. Juni beitragen? In dem vorausgegangenen Kapitel hat sich die Fragestellung von den Quellen leiten lassen. Im folgenden soll umgekehrt geklärt werden, ob und - wenn ja - in welcher Form die untersuchten Quellengattungen einen Beitrag zur Interpretation des Gesamtereignisses leisten können. Außerdem geht es nach wie vor um die Ermittlung quellenspezifischer Eigenschaften. In diesem Zusammenhang kommt den aus den Film-, Photo- und Tonquellen herauszulesenden Willensbekundungen der Demonstran- ten besondere Bedeutung zu. Denn sie leisten ihren Beitrag zur Be- stimmung des Gesamtcharakters des Ereignisses, der in Begriffen vom "Tag der deutschen Einheit", eines "Arbeiteraufstandes" oder einer "Volkserhebung" gebündelt wurde und wird. Wenn es gelingt, den Anteil der visuellen und auditiven Quellen an der Begriffsbildung ge- nauer herauszuarbeiten, ist deren quellentheoretischer Wert im Ver- gleich zu den Schriftquellen exakter zu bestimmen. Letztlich besteht das Ziel der nachfolgenden Untersuchung darin, in dieser Hinsicht verallgemeinerungsfähige Resultate zu erzielen. Die Verfolgung dieser Ziele ist gleichermaßen reizvoll wie riskant. Denn eine Interpretation der symbolischen, akustischen und verbalen Willensbekundungen der Demonstranten ist nur unter Anerkennung mehrerer Prämissen möglich. Erstens müssen die nur in Berlin bild- und tontechnisch aufgenommenen Ereignisse als repräsentativ für die gesamte Aufstandsbewegung angenommen werden. Zweitens dürfte die mögliche Teilnahme von Westberlinern an den Ereignissen im Berliner Stadtzentrum nicht zu einer Verfälschung der Willensbekun- dungen geführt haben. Gleiches gilt drittens für das vielfache Wissen um das Gefilmt-Werden. Viertens stellt es ein besonderes geschicht s- wissenschaftliches Problem dar, wenn Aktionen, die womöglich nur von relativ kleinen Personengruppen durchgeführt wurden, als reprä- sentativer Ausdruck eines Mehrheitswillens gedeutet werden. Es be- steht also durchaus die Gefahr, durch ein zu hoch gestecktes Untersu- chungsziel die untersuchten Quellengattungen durch Überinterpretati- on in Mißkredit zu bringen, obwohl das Gegenteil beabsichtigt ist. Andererseits muß es aber im Rahmen quellentheoretischer Grundla- genforschung erlaubt sein, die Aussagekraft der diskutierten Quellen auch in Grenzbereichen zu prüfen. 57 6.1 Allgemeine Vorbemerkungen zum historischen Gegenstand Die Revolution von 1989 in der DDR wirft für den 17. Juni erneut die Frage auf, ob ohne dessen gewaltsame Unterdrückung die DDR be- reits damals beseitigt und die deutsche Einheit vollzogen worden wä- re. Es gibt ernstzunehmende Stimmen, die dies bejahen. 171 Von ande- rer Seite ist es in der Vergangenheit vehement bestritten worden. 172 Die Ursache für diesen breiten Interpretationsspielraum liegt offen- kundig darin, daß der Charakter des 17. Juni auf Grund der gewaltsa- men Unterdrückung nicht von seinem Ergebnis her zu erschließen ist. Mit den nachfolgenden Betrachtungen wird der Versuch unternom- men, die Film-, Photo- und Tonquellen in das Quellenspektrum zu in- tegrieren und so einer historisch gesicherten Antwort näher zu kom- men. Dazu ist in einem ersten Schritt der bisherige Forschungsstand darzustellen. Auf dieser Basis und auf der Grundlage allgemeiner Vorüberlegungen erfolgt dann die quellenspezifische Analyse. Wollten die Demonstranten mehrheitlich die Wiedervereinigung Deutschlands unter westdeutschem Vorzeichen, oder wollten sie sie nicht? War der Aufstand ein eher systemimmanenter, vor allem sozial motivierter und hauptsächlich von Arbeitern getragener Aufstand? Oder handelte es sich um eine Erhebung breiter Volksgruppen auf der Grundlage einer tiefgreifenden politischen Unzufriedenheit? Unter diesen Aspekten ist der 17. Juni bislang konträr beurteilt worden. So lautete beispielsweise die Präambel zum Gesetz über den Tag der deutschen Einheit: "Am 17. Juni 1953 hat sich das Deutsche Volk in der Sowjetischen Besatzungszone und in Ostberlin gegen die kommu- nistische Gewaltherrschaft erhoben und unter schweren Opfern seinen Willen zur Freiheit bekundet. Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der Deutschen Einheit in Freiheit geworden." Der Interpretation vom Freiheitsbekenntnis im westlichen Sinne steht u.a. die Auffassung des damals miterlebenden Schriftstellers Erich Loest vollkommen entgegen: "Es ist himmelschreiend geklittert wor- den über den 17. Juni, aber die kühnsten Bocksprünge brachten die fertig, die ihn zum 'Tag der deutschen Einheit' hinbogen. Für keinen, der sich in die Wirren des Tages verstrickte, war die Einheit des Va- terlandes das bestimmende Moment, niemand kämpfte für sie."173 Zwischen vorbehaltlosem Bekenntnis und totaler Ablehnung des Ein- heitsmotivs steht die Idee vom dritten Weg zwischen östlicher Dikta- tur und westlicher Demokratie, die sich in der folgenden Einschätzung 171) Mitter/Wolle; Bahr, Klappentext zu Beier, a.a.O. 172) Siehe weiter unten in diesem Kapitel. 173) Erich Loest: Durch die Erde ein Riß. Hamburg 1981, 209 58 von Klaus Kellmann niederschlägt: Die "Träger" des 17. Juni, "zu- meist Industriearbeiter, besaßen vorwiegend ein sozialdemokratisch bis kommunistisches Bewußtsein. Ihr Verhalten richtete sich auch ge- gen die Privilegien bürgerlicher Schichten, ihre Wiedervereinigungs- forderungen implizierten deshalb auch eine gesellschaftliche Umge- staltung der Bundesrepublik."174 Die zuletzt genannte Ansicht beruht auf zwei Beobachtungen: Einer Auswertung von Befragungen von DDR-Flüchtlingen und einem Be- richt des "Spiegel". Nach dem Spiegel-Bericht haben Demonstranten folgende Parolen gerufen: "Räumt Euren Mist in Bonn jetzt aus, in Pankow säubern wir das Haus!" - "Fort mit Ulbricht und mit Adenau- er, wir verhandeln nur mit Ollenhauer!" Und an einer Autobahnbrücke zwischen Helmstedt und Magdeburg soll ein großes Plakat Adenauer und Ulbricht gleichermaßen am Galgen gezeigt haben mit der Unter- schrift "Einheit macht stark!"175 Die Einschätzung vom sozialdemo- kratisch bis kommunistischen Bewußtsein der Mehrheit der Aufstän- dischen des 17. Juni stützt sich auf Interpretationen von Flüchtlingsbe- fragungen. 176 Diese Interviews sind 1956 im Auftrag des Bundesmini- steriums für Gesamtdeutsche Fragen durchgeführt worden. Die Er- gebnisse dieser als "repräsentativ" bezeichneten Untersuchung haben zu dem oben genannten Schluß geführt. Beispielsweise sei nur ein Drittel der Befragten für eine Reprivatisierung der in der DDR enteig- neten Betriebe eingetreten. Diese Einstellung korrespondiere auch mit Beobachtungen vom 17. Juni, wonach allein die Abbildungen von Karl Marx vom allgemeinen Bildersturm ausgespart geblieben sein sollen177. Diese pauschale und angeblich statistisch repräsentative Einschätzung ist wissenschaftlich jedoch nicht haltbar. Dazu ist die Bandbreite der politischen Einstellungen, die sich hinter einer solchen statistisch- künstlichen Gruppierung verbergen, einfach zu groß. Am Anfang der fünfziger Jahre war die Kluft zwischen Kommunisten und westlichen Sozialdemokraten so beträchtlich, daß man ihnen keine gemeinsame 174) Hierzu u. im folg. Klaus Kellmann: Der 17. Juni 1953. Das Ereignis und die Probleme seiner zeitgeschichtlichen Einord- nung und Wertung. In: GWU 34 (1983), 383 175) Der Spiegel 26/1953, 7 176) Hierzu u. im folg. Axel Bust-Bartels: Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 - Ursachen, Verlauf und gesellschaftspoliti- sche Ziele. In: "Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Wochenzeitschrift "Das Parlament", 25/1980, 51 und Viggo Graf von Blücher: Industriearbeiterschaft in der Sowjetzone. Stuttgart 1959 177) Heimpel, 423; Leithäuser, 48 59 Interessensbasis zusprechen kann. Selbst eine gewisse programmati- sche Nähe in Fragen der Sozialisierung von Grundeigentum und Großbesitz konnte die grundsätzlicheren politischen Gegensätze nicht überbrücken. Diese Einschätzung ergibt sich auch aus den Befra- gungsergebnissen. Selbst diejenigen Probanden, die in Fragen der Wirtschaftsordnung eine sozialistische oder marxistische Einstellung offenbarten, haben gleichzeitig eine mehr oder weniger starke Abne i- gung gegenüber der Sowjetunion zu erkennen gegeben. 178 Die These, wonach die Demonstranten des 17. Juni mehrheitlich den dritten Weg zwischen Bundesrepublik und DDR befürwortet hätten, ist 1991 von Torsten Diedrich mit anderen Argumenten wieder aufge- griffen worden: "Ein Teil der Forderungen dokumentierte das `deutsch-deutsche Problem' als solches. Die Menschenmassen auf den Straßen plädierten für den Wegfall der Zonengrenzen, für gesamtdeut- sche Wahlen und, allerdings weit weniger verbreitet, für die Wieder- vereinigung der beiden deutschen Staaten. Doch die Forderung nach Abschaffung der DDR wurde überhaupt nicht erhoben. Die Hauptur- sache dafür ist wohl darin zu sehen, daß das politische System in der BRD, so wie es sich 1953 offenbarte und natürlich so, wie es von den DDR-Parteien dargestellt wurde, für die Mehrheit der Arbeiter in der DDR nicht die Alternative bildete. Die Stoßrichtung der Arbeitererhe- bung zielte deshalb auf demokratische Veränderungen im ostdeut- schen Staat, was aber immer das Offenhalten bzw. Neueröffnen von Chancen für eine demokratische Wiedervereinigung mit einschloß."179 Diese Einschätzung läßt offen, warum nach Wegfall der Grenzen und gesamtdeutschen freien Wahlen noch zusätzlich das Ende der DDR hätte gefordert werden sollen. Diedrich gehört darüber hinaus zu den- jenigen Autoren, die am akzentuiertesten von einem eruierbaren Mehrheitsbegriff ausgehen. Die folgende Untersuchung soll mit Hilfe der Film-, Photo- und Tonquellen nach Antworten auf die Frage su- chen, ob der 17. Juni Aufschlüsse über solche Mehrheiten überhaupt zuläßt und ob die Forderung, die Demonstranten hätten zum Zeichen ihrer eindeutigen Ablehnung der DDR deren Auflösung direkt fordern müssen, aufrechtzuerhalten ist. Die Frage nach einer mehrheitlichen Willensbekundung der Demon- stranten ist unter Umständen von großer Tragweite. Ist es am 17. Juni um die Freiheit im westlichen Sinne gegangen? Hat ein irgendwie ge- arteter Freiheitsbegriff zumindest eine gewisse Rolle gespielt? Dazu hat Thilo Ramm in seiner Ansprache im Rahmen des Hessischen Staatsaktes zum 17. Juni 1963 folgendes gesagt: Der 17. Juni ist auch "der Tag des Dankes an die Revolutionäre, daß sie durch ihre Opfer 178) Vgl. Kreuztabelle bei Blücher, 70 179) Diedrich, 152f. 60 die Basis geschaffen haben, auf der überhaupt ein deutscher Staat erst möglich ist: daß sie uns den Glauben an das deutsche Volk, den Glau- ben an die Bejahung der Freiheit durch dieses Volk wiedergeschenkt haben. Zu dem geduldigen heroischen Ertragen der Blockade durch die Berliner Bevölkerung um der Freiheit willen ist am 17. Juni 1953 der Einsatz von Freiheit und Leben für die Freiheit getreten. Erst diese Geschehnisse, die mit dem 20. Juli 1944 die großen, unvergeßlichen Ereignisse der jüngsten deutschen Geschichte bilden, haben das durch den Nationalsozialismus so sehr verdunkelte Bild eines freien deut- schen Volkes wiederhergestellt und entscheidend dazu beigetragen, das Mißtrauen der Welt gegen Deutschland zu zerstören. Der 17. Juni 1953 legitimiert den Anspruch Deutschlands, wieder in die Gemein- schaft freier Völker aufgenommen zu werden. Er hat der deutschen Nation das gute Gewissen wiedergeschenkt und richtet den patrioti- schen Deutschen, den immer wieder die Sorge um Deutschland quält und der unter dem schweren Erbe des Nationalsozialismus fast zu- sammenbricht, auf und gibt ihm neue Zuversicht. Die feste Überzeu- gung, daß es nicht nur in Mitteldeutschland, in dem Kernland des vielgeschmähten Preußen, Deutsche gibt, die für die Freiheit ihr Le- ben zu opfern bereit sind, bildet die Grundlage des westdeutschen staatlichen Lebens. Wir verdanken sie den Opfern des 17. Juni 1953. Sie haben damit der freiheitlichen demokratischen Ordnung der Bun- desrepublik die innere und äußere Glaubwürdigket geschenkt, jene Glaubwürdigkeit, die nur der höchste Einsatz des einzelnen, die nur die Würde der Revolution zu verleihen vermag."180 Vom Standpunkt der sechziger Jahre aus gesehen, ist dies wohl die denkbar tiefgreifendste Interpretation des 17. Juni überhaupt. Aus un- serer aktuellen Sicht heraus, also nach dem Vollzug der deutschen Einheit, wird der 17. Juni vielleicht auch nicht mehr nur als gesche i- terter Aufstand gesehen werden, sondern als historischer Vorläufer für die ihm zeitlich nachfolgenden Aufstände im Ostblock und schließlich für die geglückte Revolution von 1989.181 Wissenschaftlich ist die politische Dimension des 17. Juni erstmals im Jahr 1983 in Frage gestellt worden. In einem zum 30. Jahrestag der Unruhen erschienenen Sammelband haben Klaus Ewers und Thorsten Quest vor allem soziale Ursachen des Aufstandes hervorgehoben und 180) Thilo Ramm: Der 17. Juni - Tag der deutschen Einheit. Berlin 1963, 10 181) Vgl. Hagen (1992), 206 61 den gewerkschaftlichen Charakter des Arbeiterkampfes betont.182 Ihre Untersuchung beschränkte sich ganz auf betriebsinterne Auseinander- setzungen, die zum Teil wesentlich länger angedauert haben als die öffentlichen Demonstrationen. Nach eigener Einschätzung ist es den Autoren gelungen, "mit dieser Konzentrierung, die nicht jedem `Spektakel' auf der Straße nachjagt, den wesentlichen Gehalt" des Er- eignisses freizulegen. 183 Damit solle vermieden werden, daß "der spe- zifische, von der Arbeiterschaft geprägte Charakter des 17. Juni" un- tergehe. Die nachfolgende Untersuchung könnte erweisen, daß die zweite, durch öffentliche Demonstrationen geprägte Phase des Aufstandes mehr war als nur ein "Spektakel auf der Straße"; daß sie vielmehr Forderungen hervorgebracht hat, die genauso zu dem Gesamtereignis gehören wie die in den Betrieben verfaßten Streikresolutionen, und daß der Ansatz von Ewers/Quest zu einseitig ist. Es käme ja schließ- lich auch niemand auf die Idee, die Geschichte der Französischen Re- volution nur auf den Zusammentritt der Generalstände zu reduzie- ren. 184 Die gegensätzlichen und in ihrer jeweiligen Tragweite so folgen- schweren Standpunkte zur Bewertung des 17. Juni berühren ein grundsätzliches Problem seiner historischen Bewertung. Denn, wie schon gesagt, ist die Protestbewegung in ihrer freien Entfaltung von den sowjetischen Truppen behindert und letztlich gewaltsam unter- 182) Hierzu u. im folg. Klaus Ewers / Thorsten Quest: Die Kämpfe der Arbeiterschaft in den volkseigenen Betrieben wäh- rend und nach dem 17. Juni. In: Ilse Spittmann / Karl Wilhelm Fricke: 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR. Köln 19882, 23-55 183) Hierzu u. im folg. ebenda, 23 184) Eine derartige Polemik wird der verdienstvollen Arbeit von Ewers/Quest und (als in der Veröffentlichung ungenanntem Mitverfasser) Bust-Bartels natürlich nicht gerecht. So haben die Autoren beispielsweise auch die Diskussionen in den Betrieben nach Niederschlagung der Unruhen analysiert. Trotzdem hat ihre Konzentration auf die innerbetrieblichen Auseinanderset- zungen zu Ergebnissen geführt, die dem Gesamtereignis, zu dem untrennbar die öffentlichen Demonstrationen gehören, nur unvollständig Rechnung tragen. 62 drückt worden. 185 Man kann also nicht vom Ausgang des Ereignisses her klären, welche konkreten Ziele die Demonstranten verfolgt haben. Aufschluß über die Absichten geben die in den Betrieben verfaßten Streikresolutionen, mitgeführte Transparente, gerufene Losungen, das allgemeine Verhalten während der Demonstrationen und aus der Erin- nerung rekonstruierte, schriftlich fixierte Augenzeugenberichte. Ob auf einem solchen Weg wirklich die Meinung einer "Mehrheit" er- schlossen werden kann, ist im Einzelfall zu prüfen. Vielleicht können in der nachfolgenden Untersuchung nur "Elemente" herausgearbeitet werden, die im Verhalten der Demonstranten eine Rolle gespielt ha- ben. Ob diese einzelnen Willensbekundungen letztlich mehrheitsfähig erscheinen, ob man ihnen eine wesentliche Rolle oder gar nur eine Nebenrolle zuweisen mag, wird am Ende der Betrachtungen zu prüfen sein. Die zentrale Bedeutung der deutschen Frage im Bewußtsein der Zeit- genossen kommt besonders gut in den Standpunkten zum Ausdruck, die verantwortliche Politiker beider Gesellschaftssysteme am Vor- abend und am frühen Morgen des 17. Juni dargelegt haben. Es handelt sich dabei um Otto Grotewohl und Walter Ulbricht für die SED und Jakob Kaiser für die Bundesregierung. Grotewohl und Ulbricht haben am Abend des 16. Juni auf einer kurzfristig anberaumten Parteiaktiv- Tagung gesprochen. 186 Sie bekannten sich in ihren Reden zur Einheit Deutschlands und sahen in der Wiedervereinigung letztendlich nicht nur die Lösung einer rein nationalen Frage, sondern auch die Mög- lichkeit zur Bewältigung der wirtschaftlichen Probleme der DDR und einen allgemeinen Beitrag zur Friedenssicherung. 187 Es wird zu fragen sein, ob die Verknüpfung nationaler und wirtschaftlicher Motive auch im Denken der Demonstranten eine Rolle gespielt hat. Der Bundesmi- nister für Gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, sah in der Lösung der deutschen Frage das einzige Mittel zu einer "grundlegenden Ände- rung" im Leben der unter kommunistischer Herrschaft lebenden Deut- 185) Baring (1983), 91f. und Hagen (1992), 205 vertreten die Auffassung, wonach "die revolutionäre Welle schon gebro- chen" war (Baring), bzw. sich in "einer ersten Erschöpfungs- phase" befand (Hagen), als die sowjetischen Truppen eingrif- fen. Diese Meinung ändert aber nichts an der Tatsache, daß es letztlich doch der massive Militäreinsatz war, an dem weitere Proteste gescheitert sind. 186) T3, IWF, 138-145 und T4, IWF, 146-161 187) Ab A1:20337, A1:21131, A1:22843, jeweils IWF, 144; ab A1:26618, IWF, 145; IWF, 148, 153, 154, 156f.; ab A1:30320, IWF, 150; ab A1:37600, IWF, 158; ab A1:53040 und A1:54959, jeweils IWF, 161. Graduelle Unterschiede zwischen den Aussagen Grotewohls und Ulbrichts sind hier nicht berück- sichtigt worden. 63 schen. 188 Man darf allerdings bei dieser systemübergreifenden Einig- keit über die Notwendigkeit der Wiedervereinigung nicht übersehen, daß natürlich jede Seite ihr Gesellschaftsmodell jeweils auf ganz Deutschland übertragen wollte. Wiedervereinigung schließt deshalb in der Diktion der fünfziger Jahre automatisch das jeweils andere Gesell- schaftssystem aus. Deshalb erscheint es von vornherein fragwürdig, von den Demonstranten zusätzlich zur Forderung nach Verwirkli- chung der deutschen Einheit noch das ausdrückliche Votum zur Ab- schaffung der DDR zu verlangen, um ihre Äußerungen für eindeutig interpretabel zu halten. Angesichts der beschriebenen Standpunkte dürfte am 17. Juni die prinzipielle Bedeutung der deutschen Frage kaum zur Diskussion ge- standen haben, weil die Forderung nach ihrer Lösung für beide politi- sche Lager eine Selbstverständlichkeit war.189 Deshalb wird im fol- genden nicht nur nach direkten Bekenntnissen zur Einheit gesucht. Vielmehr ist es von Interesse zu sehen, welcher Gesellschaftsordnung die Demonstranten jeweils zuneigten. Schließlich wird auch zu prüfen sein, welcher übergeordnete Begriff den 17. Juni unter Einschluß der Film-, Photo- und Tonaussagen am ehesten kennzeichnet. Eine Revolution war es nicht; denn zu einer Revolution gehört definitorisch eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung, die die Bewegung von 1953 aber nicht zu erwirken vermochte. In der Literatur der letzten fünfzehn Jahre haben sich zwei Begriffe durchgesetzt, die gleichzeitig die Differenzen im allgemeinen Verständnis des Aufstandes prägnant aufzeigen. Es ist einerseits die Charakterisierung als "Arbeiteraufstand"190 und andererseits als "Volkserhebung"191. Hinter dem Begriff vom Arbeiteraufstand steht eine Auffassung, nach der die Arbeiterschaft der hauptsächliche Trä- ger der Unruhen war und die Ursache für den Aufstand vor allem in sozialer Unzufriedenheit zu suchen ist. Die Deutung des 17. Juni als breite Volkserhebung steht demgegenüber für ein Ereignis, das auch von anderen Bevölkerungsgruppen entscheidend mitgetragen wurde, wobei die gesellschaftlichen Mißstände durch eine grundlegende poli- tische Veränderung gelöst werden sollten. 188) T5, IWF, 162 189) In der älteren Literatur zum 17. Juni - etwa bei Brant/Bölling oder Leithäuser - wird die Forderung nach Ver- wirklichung der deutschen Einheit nicht gesondert hervorgeho- ben; sie war eben selbstverständlich. 190) Diese Charakterisierung ist vor allem von Ewers/Quest, 23 und von Diedrich, 149 vertreten worden. 191) Hagen (1992), 206 64 6.2 Allgemeine Quellenlage und Repräsentativität der Film-, Photo- und Tonaufnahmen Die Film-, Photo- und Tonquellen erfassen vom Spektrum des Ge- samtaufstandes nur die Phase der öffentlichen Demonstrationen. Die filmgerechten und wegen ihres Sensationsgehaltes gern gefilmten und photographierten Aktionen waren vordergründig vielfach destruktiver Natur. Es handelt sich dabei um Beschädigungen symbolträchtiger Objekte des SED-Staates und um die Anwendung körperlicher Gewalt gegen offen auftretende oder auch nur mutmaßliche Repräsentanten des Regimes. Diese im Bild festgehaltenen Ereignisse sind sicher je- weils nur von einer kleinen Minderheit der Demonstranten aktiv aus- geführt worden. Es ist deshalb erforderlich, mit Hilfe der Bild- und Tondokumente die massenpsychologischen Aspekte der Demonstra- tionen zu untersuchen. Da auf diesem Gebiet wesentliche Stärken der Bildquellen vermutet werden können, sind hier vielleicht quellentheo- retische Aussagen zur genaueren Charakterisierung der unterschiedli- chen Quellengattungen möglich. Die in den Rundfunkaufnahmen festgehaltenen verbal/akustischen Willensbekundungen bilden einen weiteren Untersuchungsschwer- punkt. Neben der inhaltlichen Fragestellung nach dem Gesamtcha- rakter des Aufstandes geht es dann auch in bezug auf diese Quellen- gattung um die Frage, ob die `sub eventu' erfolgten Tonaufnahmen gegenüber späteren Aufzeichnungen von Augenzeugenberichten ein eigenes und relevantes Aussagepotential bergen. Die Photos und Filmaufnahmen vom 16. und 17. Juni 1953 in Berlin sind meist direkt an der Sektorengrenze entstanden. Dabei haben die Photographen und Kameraleute von den Westsektoren in den Ostsek- tor hineingefilmt. Eine Untersuchung, die sich mit dem exemplari- schen Quellenwert dieser Aufnahmen befaßt, muß zuerst prüfen, in- wieweit deren Repräsentativität für das Gesamtereignis gegeben ist. Erst auf dieser Grundlage sind weiterführende, ins Detail gehende Ge- danken möglich. Noch am 17. Juni sagte Bundeskanzler Adenauer in einer Regierungs- erklärung: "Wie auch die Demonstrationen der Ost-Berliner Arbeiter in ihren Anfängen beurteilt werden mögen, sie sind zu einer großen Bekundung des Freiheitswillens des deutschen Volkes in der Sowjet- zone und Berlin geworden."192 Nach den Worten des Bundeskanzlers 192) Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesre- gierung vom 18.06.1953. Zitiert nach Seminarmaterial des Ge- samtdeutschen Instituts - Bundesanstalt für Gesamtdeutsche Aufgaben (Hg.): 17. Juni 1953. Bonn, ca. 1981 65 waren demnach die Ereignisse in Berlin exemplarisch für den Auf- stand in der gesamten DDR. Die Präambel zum "Gesetz über den Tag der deutschen Einheit" lautete dementsprechend: "Am 17. Juni 1953 hat sich das deutsche Volk in der Sowjetischen Besatzungszone und in Ostberlin gegen die kommunistische Gewaltherrschaft erhoben und unter schweren Opfern seinen Willen zur Freiheit bekundet. Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der Deutschen Einheit in Freiheit ge- worden."193 Paragraph 1 bestimmte: "Der 17. Juni ist der Tag der deut- schen Einheit". Damit wurde die Interpretation des Aufstandes als Willensbekundung für die Einheit Deutschlands ausdrücklich auch auf die Berliner Demonstrationen zurückgeführt. Dieser sicher auch politisch motivierten Sichtweise stand in bezug auf Berlin schon früh die wissenschaftliche Einschätzung gegenüber. So schrieb Arnulf Baring 1958: "Die Ereignisse des 17. Juni in Ostberlin [entsprechen] in vielem den Ereignissen in der Zone ... Dies gilt je- doch ... mit Einschränkungen: ... Eine ... Einschränkung betrifft die Ereignisse in einer 'Grenzzone' im Zentrum Berlins am Übergang vom Ost- in den Westsektor im Raum der Stresemannstraße, des Potsdamer Platzes und des Brandenburger Tores. Man geht sicher nicht fehl in der Behauptung, daß an den Vorgängen in diesem Gebiet Westberliner beteiligt waren. Eine Darstellung der Erhebung in der Sowjetzone und im Sowjetsektor Berlins sollte aber, wenn sie das Verhalten der Deut- schen im sowjetischen Herrschaftsbereich behandeln will, die Ereig- nisse, an denen mit hoher Wahrscheinlichkeit Westberliner beteiligt waren, unberücksichtigt lassen."194 Für die überarbeitete Neuauflage seines Buches von 1983 hat Baring diese Passage gestrichen. Er spricht jetzt allgemein von einem "Mangel an Unterlagen"195, der den Zugang zum Thema erschwere. Noch weiter gingen Klaus Ewers und Thorsten Quest in einer Veröffentlichung von 1983: Die Ereignisse in Berlin seien "in jeder Hinsicht atypisch für den Verlauf der Ereignisse in der DDR gewesen"196. Drei unterschiedliche Betrachtungsweisen, die die Ereignisse in Berlin einmal als unumstritten, dann als bedingt repräsentativ und schließlich als völlig atypisch bezeichnen. Der Versuch, zwischen diesen Ansichten zu vermitteln, endete bislang in einer Sackgasse. Denn was bei einer politischen Regierungserklä- rung nicht weiter verwundert, läßt doch zumindest bei den wissen- 193) Hierzu u. im folg. Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 45, vom 7.8.1953, S. 778 194) Arnulf Baring: Der 17. Juni 1953. Bonn 19583, 37f. 195) Baring (1983), 67 196) Ewers/Quest, 35 66 schaftlichen Analysen stutzen: Den prägnanten Hypothesen liegen keine genaueren Untersuchungen zugrunde. Es fehlen schlicht die Belege. Wo also liegt die Quellenbasis? Die Ereignisse in Berlin sind früh und relativ detailliert von Journalisten beschrieben worden. Weil diese Arbeiten keine Quellenangaben enthalten, waren sie jedoch nicht überprüfbar und damit wissenschaftlich nur sehr vorsichtig zu verwerten. Für die neuere Literatur hat sich nach Öffnung der DDR- Archive diese Quellenlage wesentlich verbessert. Es besteht jetzt zu- dem die Möglichkeit, viel mehr Augenzeugen zu befragen als früher. Die Film-, Photo- und Tonquellen-Edition zu den Berliner Ereignissen erschließt weiteres Material. Insofern ist der Zwang für wissenschaft- liche Autoren, das bislang schlecht gesicherte Geschehen im Zentrum Berlins thematisch auszugrenzen oder gesondert zu untersuchen, nicht mehr so groß wie früher. Der Verfasser einer der neueren Monogra- phien zum 17. Juni, Torsten Diedrich, hat sie deshalb bereits ganz an- ders gewichtet.197 Manfred Hagen, von dem die zuletzt umfassendste Monographie über den 17. Juni stammt, hat bezüglich der Berliner Er- eignisse ebenfalls keine Einschränkungen gemacht. Hagen bejaht prinzipiell das Vorhandensein politischer Ziele.198 Er geht aber nicht weiter auf das Problem der nationalen Einheit ein, sondern schlägt ei- ne Charakterisierung des 17. Juni als einer auf die Erringung umfas- sender Freiheitsrechte gerichteten "Volkserhebung" vor.199 Die jüngste größere Untersuchung des 17. Juni stammt von Armin Mitter und Ste- fan Wolle.200 Auch diese Autoren machen keine Vorbehalte bezüglich der Berliner Ereignisse geltend. Aus der Retrospektive von 1993 stel- len sie den 17. Juni eindeutig als einen `Volksaufstand' dar, der zur Beseitigung der kommunistischen Herrschaft führen sollte. Die Entscheidung, wegen der möglichen Beteiligung von Westberli- nern die Aktionen an der Berliner Sektorengrenze als nicht repräsen- tativ zu werten, setzt eine unterschiedliche Mentalität zwischen West- und Ostdeutschen voraus. Einer solchen Annahme stehen aber folgen- de Argumente gegenüber: Wie sollen z.B. die angenommenen Menta- litätsunterschiede beschaffen gewesen sein - in einem Deutschland und in einer Stadt, die acht Jahre zuvor willkürlich geteilt worden wa- ren? Gerade in Berlin war die Absurdität dieser Teilung täglich für je- den erfahrbar: Viele Verwandtschaftsbeziehungen bestanden über die neue, bis 1961 noch relativ frei passierbare Grenze fort. Manche ar- beiteten im Osten, wohnten im Westen und umgekehrt. Nahverkehrs- linien kreuzten in ihrem Verlauf immer wieder die politische Grenze. Im Osten herrschte politischer Zwang, und die wirtschaftliche Lage 197) Diedrich, a.a.O. 198) Hagen (1992), 200 199) Ebenda, 206 200) Hierzu u. im folg. Mitter/Wolle, 7-110 67 war schlecht. Die Flüchtlingszahlen waren im Frühjahr 1953 so hoch wie nie zuvor.201 Vor diesem Hintergrund wäre es absurd, den Men- schen in der DDR eine Identifikation mit ihrer demokratisch nicht le- gitimierten Regierung zu unterstellen. Angesichts der vielfach engen persönlichen Beziehungen über die Sektoren- und Zonengrenzen hin- weg erscheint der von Baring unterstellte Mentalitätsunterschied zwi- schen Ost- und Westdeutschen fragwürdig. Es ist zum Beispiel be- kannt, daß Menschen aus einem in Westberlin gelegenen Flüchtlings- lager an den Demonstrationen im Stadtzentrum teilgenommen ha- ben. 202 Waren das Ost- oder Westdeutsche? Womöglich geht der Ver- such, zwischen Ost- und Westberlinern zu trennen, an der Wirklich- keit des Jahres 1953 vorbei! Die Behauptung, die mutmaßliche Betei- ligung von Westberlinern verbiete die Interpretation vieler Berliner Ereignisse, könnte ein Scheinargument sein, ebenso wie das vom "Spektaktel auf der Straße", geboren aus der unausgesprochenen Not einzelner Autoren, ihre Untersuchungen thematisch einzugrenzen. Die Annahme von der Verallgemeinerungsfähigkeit der Berliner Er- eignisse ist eine Grundvoraussetzung für die Interpretation der hier im Blickpunkt stehenden Quellen im Hinblick auf die Begriffsbildung vom 17. Juni. Gerade die Ereignisse im Zentrum Berlins bieten be- sondere Erkenntnismöglichkeiten. Nirgendwo sonst sind so unter- schiedliche Kräfte wie die Demonstranten, die Westberliner Polizei, SED-Agitatoren, (Kasernierte) Volkspolizei, Sowjetarmee und Westalliierte in dieser Konstellation und auf so engem Raum aufein- ander getroffen. Die Möglichkeit, vor den östlichen Sicherheitskräften in den Westen zu flüchten, war nur an der Sektorengrenze gegeben. Gerade an dieser Schnittstelle zwischen Ost und West bestanden des- halb besonders freie Protestmöglichkeiten. Die Begegnung der De- monstranten mit den auf beiden Seiten postierten Sicherheitskräften läßt eventuell tiefer gehende Rückschlüsse auf die Akzeptanz des je- weiligen politischen Systems durch die Demonstranten zu. Der Um- stand, wonach die Demonstranten im Haus der Ministerien in der Leipziger Straße den Regierungssitz der DDR vermuteten, legt den Gedanken nahe, daß besonders dort politische Forderungen erhoben wurden, die andernorts mangels politischer 'Ansprechpartner' gar nicht oder nicht in diesem Maße artikuliert worden sind. Dabei waren die photographisch/technischen Beobachtungschancen einmalig. An kei- nem anderen Ort bestand die Möglichkeit, die Ereignisse so frei auf- zunehmen. Diese besondere Situation und die Tatsache, daß es immer nur relativ kleine Gruppen von Demonstranten waren, die ihre Meinung über das 201) Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Es geschah im Juni `53. Daten und Fakten. Bonn/Berlin 1963, 19 202) Der Polizeipräsident in Berlin - PhS, Auszug aus der Fern- sprechkladde FS v. 17.6.53 68 bloße 'Auf-der-Straße-Stehen' hinaus geäußert haben, sind prinzipiell bei der Interpretation zu berücksichtigen. Es handelt sich hierbei aber um ein allgemeines Problem geschichtlicher Forschung: Sind es nicht immer nur die aktiven Gruppen, die historisch meßbar in Erscheinung treten? Bleibt die Masse meist passiv und stumm? Dem Problem der Repräsentativität von Einzeltaten soll in der hier vorliegenden Arbeit durch den Vergleich mit den Ereignissen an anderen Orten Rechnung getragen werden. Allerdings sind einer Repräsentativitätsprüfung we- gen der beschriebenen Berliner Besonderheiten von vornherein Gren- zen gesetzt. 6.3 Willensbekundungen von Demonstranten am Beispiel von Gewaltanwendungen gegen Personen Manfred Hagen hat in "Prügel(n) und Lynchjustiz" seitens der De- monstranten lediglich eine Randerscheinung gesehen. 203 Die Aus- schreitungen von "Mob-Elementen" und die "Freisetzung bis dahin in Schach gehaltener Triebe" seien bei revolutionären Unruhen wohl un- vermeidbar. Gemessen an der "Vielzahl der Schauplätze", den "nach Zehntausenden zählenden Demonstranten" und dem "Grad der Erre- gung" haben seiner Ansicht nach die Ausschreitungen keine wesentli- che Rolle im Rahmen des Gesamtereignisses gespielt. Die von Hagen erstellte Auflistung erfaßt ein gutes Dutzend aus den Quellen rekon- struierbarer Fälle von Gewaltanwendung gegen SED-Parteigänger. Der Autor weist darauf hin, daß die SED aus propagandistischen Gründen weitere Fälle publik gemacht hätte. Da dies nicht geschehen ist, dürfte die Aufstellung weitgehend vollständig sein. Angesichts von Demonstrationen in ca. 250 Orten nimmt sich die Zahl der an Einzelpersonen begangenen Gewaltakte auch zahlenmäßig sehr gering aus. Aus dem quellentheoretischen Blickwinkel heraus könnte aber gerade die Analyse solcher Einzelaktionen besonders vielversprechend sein. Handelt es sich dabei um symbolische Akte, die für den Willen größe- rer Demonstrantengruppen repräsentativ sind? Die visuellen und au- ditiven Quellen müßten hier besonders zum Tragen kommen, denn sie zeigen nicht nur das bloße Faktum der Gewaltanwendung sondern auch die Reaktionen Umstehender auf das Verhalten der aktiven An- greifer und Zerstörer. Dazu einige allgemeine Vorüberlegungen: Sicher darf man sich die Masse der Demonstranten nicht als völlig im Gleichklang befindlich vorstellen. Andererseits dürfen wir wohl von einer gemeinsamen Grundhaltung ausgehen, die sich in der Teilnahme an dem Ereignis niedergeschlagen hat. Im Verlauf der Demonstratio- nen hat es darüber hinaus Wechselwirkungen zwischen den aktiveren 203) Hierzu u. im folg. Hagen (1992), 148-150 69 kleineren Gruppen und dem sich auf das bloße Demonstrieren204 be- schränkenden Gros gegeben. Die Aktionen kleiner Gruppen setzen Akzente, die die gemeinsame Bewegung gewissermaßen in Schwung halten. Die Masse braucht sol- che Orientierungspunkte, sonst löst sie sich womöglich auf. Stillstand ist für eine Demonstration die erste Stufe der Auflösung, und zumin- dest instinktiv erfassen das die Beteiligten auch. 205 Den Aktiven bietet die Masse den für ihre Aktionen erforderlichen Schutz. Sie brauchen diesen Schutz, denn sie begehen notwendiger- weise destruktive Taten, die sich gegen die alten Normen richten und auch den Tatbestand krimineller Handlungen erfüllen können. Die Ge- fahr, daß derartige Aktionen von den anderen Demonstranten abge- lehnt werden, ist also durchaus vorhanden. Andererseits - und das ist aus unserer Sicht der entscheidende Punkt - dürfen die Aktiven die gemeinsame Basis mit der Masse nicht verlieren, weil sie ja deren Deckung benötigen. Zumindest in ihrem symbolischen Gehalt dürfen Aktionen, die aus einer Menge heraus begangen werden, als Ausdruck einer offensichtlich mehrheitsfähigen Willensbekundung gelten. Diese Aussage ist womöglich auch dann noch gültig, wenn man weniger von einer Zustimmung durch die Menschen in der Menge, sondern eher von deren Duldung ausgeht; sie gilt so lange, wie diese Menge sich angesichts der Gewalttaten nicht verläuft oder die Aktivisten bremst.206 Die geschilderte Sichtweise mag denjenigen verblüffen, der das Pro- blem vom Standpunkt juristischer Verantwortlichkeit aus sieht. Um eine solche Untersuchung handelt es sich hier aber nicht. Die histori- sche Fragestellung richtet sich auf diejenigen Menschen, die aktiv ge- worden sind, um die sie umgebende Welt zu verändern oder zu erha l- ten. Spielen Duldung, Nichtwissen, höhere Gewalt oder Abwesenheit, die unter rechtlichen Aspekten abgewogen werden müßten, hier eine Rolle? Zählt es nicht allein als Tatbestand, wenn Aktionen von De- monstranten durch andere Demonstranten behindert oder revidiert werden? 204) Bei dieser Betrachtung wird außer acht gelassen, daß das "bloße Demonstrieren" selbst ein weites Spektrum von Verha l- tensmöglichkeiten offen läßt. 205) Natürlich können derartige Aktionen auf einzelne Teilneh- mer auch abschreckend wirken. 206) Aus der Literatur zum 17. Juni ist dem Verfasser nur ein einziger Augenzeuge bekannt, der sich angesichts der von De- monstranten begangenen Gewaltakte bewußt von der Demon- stration zurückgezogen hat. Siehe hierzu Semmelmann, 46ff. 70 Überall, wo die Film-Aufnahmeteams am 17. Juni auftauchten, waren sie von den Demonstranten nicht zu übersehen. Die Kameramänner auf den Dächern ihrer Kraftfahrzeuge waren im wahrsten Sinne des Wortes eine herausragende Erscheinung. Wir müssen deshalb davon ausgehen, daß sich die meisten Demonstranten der Tatsache, gefilmt zu werden, durchaus bewußt waren. In der Friedrichstraße wird diese Vermutung zur Gewißheit. Denn dort sind die Kameraleute selbst bei ihrer Arbeit gefilmt worden. 207 Die Analyse der Aufnahmesituation zeigt, daß die Akteure sich zum Teil direkt den Kameras zuwenden, ja geradezu mit ihrem Sektorengrenzschild davor posieren. 208 Diese Beobachtung wirft die Frage auf, ob die Aktionen der Demon- stranten wirklich als eigenständige und unverfälschte Willensbekun- dungen zu werten sind. Mit gewisser Wahrscheinlichkeit hat die Prä- senz, vielleicht sogar die aktive Aufforderung durch die Kameraleute, das Verhalten der Gefilmten beeinflußt. Wahrscheinlich haben sie da- durch akzentuierter gestikuliert und agiert. Doch hätten sie wirklich etwas getan, was ihrer schon vorher gefaßten Grundhaltung wider- sprach? Insofern ist der Einfluß des bewußten Gefilmt-Werdens wahr- scheinlich nur graduell. Man kann vielleicht sogar im Gegenteil argu- mentieren, daß sich die Demonstranten angesichts der Filmkameras sogar genauer überlegt haben, wie sie von außen gesehen werden wollten. Für die Untersuchung von Einzelaktionen als repräsentativen Willens- bekundungen größerer Menschenmengen bieten sich vor allem die Er- eignisse in der Friedrichstraße und am Potsdamer Platz an. Die Hauptquelle für die zeitliche Einordnung der Gewaltakte sind die Westberliner Polizeiberichte. Sie berichten aus der Friedrichstraße für 9.00 Uhr und 9.11 Uhr jeweils von "Schlägereien" und dem Abtrans- port je eines Verletzten. 209 Aus diesen Berichten allein wird aber nicht deutlich, zwischen welchen Personen oder Personengruppen diese "Schlägereien" stattgefunden haben. Es wird auch nicht genauer aus- geführt, wer die abtransportierten Verletzten waren. Deshalb ist nicht einmal mit absoluter Sicherheit zu sagen, daß die dort benannten Vor- gänge überhaupt die im Bild zu sehenden Ereignisse betreffen. An anderer Stelle heißt es in den Polizeiberichten, um 12.05 Uhr seien "zwei angebliche SSD-Leute durch Demonstranten verletzt [der] Westberliner Polizei übergeben und vorläufig ... in Schutzhaft ge- 207) F312 u. 314, jeweils IWF, 90 208) Vgl. z.B. F310, IWF, 90, darin besonders um Bild Nr. A:42317 209) Der Polizeipräsident in Berlin - PhS, Betriebstagebuch der Westberliner Polizei, Frequenz L 71 nommen" worden. 210 Vielleicht handelt es sich bei dieser ohne Ortsan- gabe erfolgten Meldung um die im Bild zu sehenden Gewaltakte am Potsdamer Platz. Weiterhin verzeichnen die Unterlagen für die Zeit von 13.14 Uhr und 13.39 Uhr, daß eine männliche und eine weibliche Person in Polizeiverwahrung genommen worden sind, ebenso ein Volkspolizist um 19.00 Uhr.211 Doch auch hier werden keine näheren Umstände beschrieben. Die Datierung der frühesten Aufnahmen aus der Friedrichstraße auf etwa 9 Uhr morgens beruht auf den Polizeiberichten. 212 Zu diesem Zeitpunkt haben sich dort mehrere tausend Menschen aufgehalten. 213 Es brannte bereits eine Grenzkontrollbaracke, die Zerstörung eines Sektoren-Grenzschildes und das Verbrennen einer roten Fahne hatten bereits stattgefunden. 214 Der enge zeitliche Zusammenhang der ge- filmten Gewaltakte ergibt sich bildimmanent, weil im Bildhintergrund die noch brennende Baracke zu sehen ist215 und weil die Reste des zer- störten Sektorengrenzschildes gerade weggeräumt werden216. Wie auf Kommando läuft plötzlich eine über die gesamte Straßen- breite verteilte Menschenmenge Richtung Westsektor.217 Es zeigt sich, daß die Menge einen Mann an dessen Armen und Beinen heran- schleppt. Er wird vor dem Polizisten abgesetzt und von diesem Rich- tung Westsektor durch die Menge abgeführt. Dabei wird der Mann weiter von mehreren Angreifern bedrängt und geschlagen. Er hält schützend die Arme vor sein Gesicht, und der Polizist ist bemüht, die Schlagenden abzudrängen. Ein zweiter Mann wird ebenfalls von den Demonstranten schwer ge- schlagen, obwohl er bereits von zwei Polizisten abgeführt wird.218 210) Ebenda, Meldungen anläßlich der Demonstrationen im Ost- sektor am 17.6.53 211) Ebenda, Betriebstagebuch, Frequenz L 212) Hierzu u. im folg. IWF, 90 213) Der Polizeipräsident in Berlin - PhS, Betriebstagebuch der Westberliner Polizei, Frequenz L 214) IWF, 88ff. 215) F337ff., IWF, 92 216) F339ff., IWF, 92 217) Hierzu u. im folg. F337 bis 345, IWF, 92 218) Hierzu u. im folg. F346 bis 352, P141, IWF, 92 72 Weitere Polizisten halten die Angreifer schließlich zurück. Der Mann wird zu einem Lkw geführt und sofort damit abtransportiert. Eine weitere Szene spielt sich am Potsdamer Platz in einer größeren Menschenmenge ab.219 Zwei ältere Männer haben einen jüngeren ge- packt und ziehen bzw. stoßen ihn weiter. Der Mann hat den Kopf ein- gezogen und wehrt sich nicht. Ein anderer, nur von hinten zu sehender Mann, schlägt auf das Opfer ein. Weitere Demonstranten laufen mit der Dreiergruppe mit. Einige von ihnen drängen sich in dem Gewühl hinzu, ohne daß ihre Absicht genauer zu erkennen wäre. Es folgen dicht gedrängt Menschen, die offensichtlich sehr an dem Vorgang in- teressiert sind. Es ist nicht sicher, ob F127 bis 130 und P37 am Potsdamer Platz den- selben Vorgang in seiner Fortführung und aus anderer Perspektive zeigen wie die erste Einstellung F126. Der Ort ist aber der gleiche. F127 ist eindeutig auf ca. 12 Uhr zu datieren. 220 Aus der Einstellung ergibt sich, daß die Aktion inmitten einer größeren Gruppe von meh- reren hundert Demonstranten stattgefunden hat. F128 zeigt dann ca. sechs Westberliner Polizisten in der Menge, die dort energisch eine Person herauszuholen scheinen. In F129 schirmen vier Polizisten ei- nen Mann gegen Schläge zweier Umstehender ab. Eine Gruppe von ca. 14 Polizisten bringt schließlich einen (wahrscheinlich: den) jünge- ren Mann zu einem wartenden Polizei-Lkw. 221 Zuvor222 hat schon ein Mann mit Schirmmütze223 den Wagen bestiegen. Der Wagen fährt schon fast los, als noch ein dritter zivil gekleideter auf den Wagen steigt. Welche Rückschlüsse lassen diese Aktionen zu? Bei der offensichtli- chen Auslieferung eines mutmaßlichen SED-Parteigängers an die Westberliner Polizei am Potsdamer Platz fällt auf, daß die Gruppe der Angreifer immer mitten aus der Menge der Demonstranten heraus agiert.224 In der Friedrichstraße läuft eine regelrechte Welle aus 50 bis 100 Personen Richtung Westsektor.225 An den Rändern dieser Gruppe gibt es andere Demonstranten, die teilweise gar nichts von dem Ereig- 219) Hierzu u. im folg. F126 bis 130, P37, IWF, 60 220) Ebenda, 60 221) Bild-Nr. A:20876 222) Bild-Nr. A:20754 223) Handelt es sich hier um denselben Mann, der bei Bild-Nr. A:19526 den Geschlagenen gepackt hält? 224) bes. F126 bis 129, IWF, 60 225) Hierzu u. im folg. F337f., IWf, 92 73 nis mitbekommen, sondern sich dem Brand an der Baracke im Bild- hintergrund zuzuwenden scheinen. Wieder andere betrachten die Ak- tivisten vom Straßenrand her mit deutlichem Interesse. Dieses Interes- se drückt sich entweder darin aus, daß diese Leute stehen bleiben oder sogar auf die Gruppe zugehen - offensichtlich, um besser sehen zu können. 226 Die Menge um das Opfer herum verdichtet sich dadurch. 227 In der Friedrichstraße werden die beiden schon von Polizisten abge- führten Männer von zusammen mindestens zehn verschiedenen An- greifern geschlagen. Die Zahl der Umstehenden, deren Mimik und Gestik ebenfalls Ablehnung und Haß gegenüber dem Abgeführten ausdrücken, ist noch deutlich größer. Die Analyse besonders der Ereignisse in der Friedrichstraße verdeut- licht, daß eine Menschenmasse von weit über tausend Personen bereits zu groß ist, als daß alle Umstehenden ein Ereignis wie die Entdeckung eines mutmaßlichen Gegners in der Menge mitbekommen könnten. Daß es zur Anwendung körperlicher Gewalt kommt, ist dennoch si- cher dem Gefühl der Angreifer zu verdanken, in der Masse Rückhalt für ihre Aktionen zu haben. Die Bildbetrachtung bestätigt diesen Ein- druck. Im näheren Umkreis des Hauptgeschehens kommen immer mehr Menschen hinzu. Mimik und Gestik der Umstehenden lassen diese als Sympathisanten der Angreifer erkennen. Es ist offenkundig, daß dort, wo innerhalb der Menge Aufmerksam- keit auf die Gewaltanwendung fiel, gleichzeitig auch weitverbreitetes Wohlwollen gegenüber den Angreifern vorhanden war. Diese Beob- achtung kann Repräsentativität beanspruchen. Heißt das aber, daß auch bei der Mehrheit derjenigen Demonstranten eine gewisse Zu- stimmung für die Angreifer vermutet werden darf, die wegen der Grö- ße der Menschenmenge, oder weil ihre Aufmerksamkeit gerade ande- ren Ereignissen galt, unmittelbar nichts von den Angriffen auf die vermeintlichen SED-Parteigänger erfuhren? Aus der weiter unten de- tailliert behandelten Schriftquelle über den Parallelfall in Rathenow228 wissen wir, daß die Menge dort den Angreifern nicht nur Deckung gewährte, sondern sie durch Zurufe auch immer wieder anfeuerte. Ähnlich wie in dem Text, wo nur von einem einzigen Rufer die Rede ist, der vor Gewalt und Mord warnt, ist auch aus den photographi- schen Quellen keine Fürsprache oder Hilfe für die Angegriffenen er- 226) F339f., IWF, 92 227) F340, IWF, 92. Zwar ist z.B. in F337, IWF, 92 auch zu se- hen, daß sich einige Demonstranten aus der unmittelbaren Um- gebung der Gruppe zurückziehen; diese Absetzbewegungen können aber wohl nicht als meßbare Tendenz zur Auflösung der Menge angesehen werden. Es überwiegt der Eindruck der Verdichtung. 228) Hildebrandt (1983), 99-105 74 kennbar. Kommt deshalb in den Angriffen auf Repräsentanten der SED eine umfassende und gewaltbereite Ablehnung der SED- Herrschaft als solcher durch die weit überwiegende Mehrheit der De- monstranten zum Ausdruck? Ein besonders interessantes Beispiel für die wechselseitige Abhängig- keit zwischen den in verschiedenen Aktionsgraden tätig werdenden Demonstranten bietet die Erstürmung der Vopo-Wache im Columbus- haus am Potsdamer Platz. Nachdem sich die in die Wache eingedrun- genen Demonstranten am Fenster mit einem VP-Mann gezeigt haben, werfen sie unter dem offenkundigen Jubel einer mindestens hundert- köpfigen Menge Ausrüstungsgegenstände der VP aus dem Fenster.229 Mit offenkundigem Stolz wird unten ein erbeuteter Lederol-Mantel von Demonstranten vor der Kamera ausgebreitet. An diesem Beispiel wird besonders deutlich, daß die Menge, auch wenn sie weniger aktive Einsatzbereitschaft und Risikofreude aufweist, doch die Aktionen der aktiveren Gesinnungsgenossen gutheißt. Die Eroberer der Polizeiwa- che wiederum beziehen die unten Stehenden in ihre Aktion mit ein. Man darf wohl annehmen, daß ohne den Schutz der Menge eine Er- stürmung der Polizeiwache nicht hätte stattfinden können, weil die darin befindlichen Polizisten sich ohne den psychischen Druck von außen wahrscheinlich mit Erfolg gegen die Angreifer zur Wehr ge- setzt hätten. Die Erstürmung des Hauses dürfte andererseits den Zu- sammenhalt der Menge gefördert haben. Eine ganz ähnliche Situation bietet das im folgenden Kapitel besprochene Herunterholen der roten Fahne vom Brandenburger Tor. Welche quellentheoretischen Erkenntnisse erbringt der Vergleich zwi- schen der Bildaussage und vergleichbaren Textquellen? Die vorlie- genden Polizeiberichte und Funksprechprotokolle zu den oben ge- nannten Ereignissen sind sehr knapp gehalten. Es scheint auf Seiten der Westberliner Polizei keine weiteren Untersuchungen gegeben zu haben. Im Falle der von den Demonstranten an die Westberliner Poli- zei ausgelieferten Volkspolizisten aus der gestürmten Polizeiwache im Columbushaus wissen wir, daß zumindest diejenigen Volkspolizisten, die in den Ostsektor zurückkehren wollten, sofort wieder freigelassen wurden. 230 Es hat offensichtlich auch keine polizeiliche Verfolgung der Gewalttäter stattgefunden. Die Filmaufnahmen zeigen, daß die Polizei vorrangig darum bemüht war, die Angegriffenen aus dem un- mittelbaren Gefahrenbereich herauszubringen. Diese Polizeitaktik fin- det allgemein Anwendung, wenn die Menschenmenge, aus der heraus Straftaten begangen werden, zu groß ist. Wie der Vergleich mit den Bildquellen zeigt, zeichnen die Unterlagen der Polizei insgesamt ein ungenaues und verharmlosendes Bild der Auseinandersetzungen, lie- 229) Hierzu u. im folg. F135 bis 141, IWF, 62 230) ZPA IV/2/5/530, 2 75 fern aber Hintergrundinformationen, die aus den Bildern wiederum nicht zu gewinnen wären. Hintergrundin-formationen aus Texten Auch Brant/Bölling, deren journalistische Arbeit nach wie vor eine wesentliche Quelle für den 17. Juni in Berlin darstellt, verniedlichen aus Sympathie zu den Demonstranten den Sachverhalt geradezu. So heißt es beispielsweise: "Am Spittelmarkt fliegt ein FDJler, der sich mausig machte, in hohem Bogen in die Spree". 231 Aus der Stadt Bran- denburg berichten die Autoren: "Die Burschen von der FDJ- Kreisleitung ... empfangen eine Portion Maulschellen."232 In Quedlin- burg wurde dem Ersten Sekretär der Kreisleitung dessen "Treue zur Partei mit Schlägen quittiert". 233 Die Reihe derart verharmlosender Umschreibungen ließe sich fortset- zen. Ein Demonstrant berichtete:234 "... am 17. Juni in den Vormittags- stunden ... habe ich mich gleich zur Grenze an der Oberbaumbrücke begeben, wo sehr viel los war, und habe noch ein bißchen mitge- macht." Frage des Interviewers: "Was verstehst Du unter mitmachen?" Antwort: "Na ja, was dort gerade so lief. Man hatte dort die Beamten, die die Kontrollhäuschen sicherten, ein wenig unter der Fuchtel." Für Magdeburg wird berichtet, aus der wütenden Menge heraus sei eine Polizistin geschlagen, fast vollständig entkleidet und an der Spitze des Demonstrationszuges mitgeführt worden. 235 Brant/Bölling bezeichnen die Frau einfach als "Pistolenmädchen". Spätestens bei diesen Bezeichnungen erkennt der kritische Leser die Tendenz der Autoren und Tatbeteiligten auch ohne einen Querver- gleich zu anderen Quellen. Doch was sind "Schläge" oder "Maul- schellen"? Sind es Schläge mit der offenen Hand oder mit der Faust? Sind es harte Schläge? Auf welche Körperteile werden sie ausgeführt? Werden die Opfer nur mit der Hand geschlagen oder benutzen die Schläger Hilfsmittel wie Holzstöcke oder Eisenstangen? Aus den ge- nannten Texten geht das nicht hervor. Bilder sind eindeutiger. Die Härte der Auseinandersetzungen ist hier besser nachzuvollziehen, die Bilder erweisen sich in dieser Hinsicht gegenüber den Texten als ob- jektive Primärquellen. 231) Brant/Bölling, 124 232) Ebenda, 146 233) Ebenda, 168 234) Hierzu u. im folg. Beier, 71f. 235) Hierzu u. im folg. ebenda, 158. Leithäuser, 48 76 Nimmt man die Filmaufnahmen als Korrektiv für die Schriftquellen - etwa für Brant/Bölling - kann man bei letzteren nicht nur deren Ur- teilsabsicht besser erkennen. Auch die Repräsentativität bestimmter Passagen ist jetzt bei der Schriftquellenlektüre exakter zu bestimmen. Wenn Brant/Bölling also schreiben, "Schwärme von FDJlern und SED-Funktionären versuchen die Heersäule [der Demonstranten] auf- zuhalten, ihre Glieder zu sprengen. Sie werden einfach beiseite ge- schoben. Die Arbeiter sind nicht geneigt, ihnen viel Aufmerksamkeit zu schenken; wenn sie es doch tun, tun sie es mit den Fäusten"236, so scheint dies verallgemeinerungswürdig. In den Akten der SED finden sich dagegen auch Hinweise darauf, daß Diskussionen zwischen Agi- tatoren und Demonstranten zumindest vereinzelt stattgefunden ha- ben. 237 Anhand des Bildeindrucks und der Fallbeispiele aus der Lite- ratur mag man allerdings kaum glauben, daß solche Gespräche in ei- nem größeren Rahmen möglich waren. Aus den Bild- und Tonquellen ergeben sich auch Anhaltspunkte dafür, daß die Anwendung körperlicher Gewalt gegen vermeintliche Reprä- sentanten des SED-Regimes nicht immer so brutal war, wie es die be- reits beschriebenen Szenen am Potsdamer Platz und in der Friedrich- straße vermuten lassen. So hat es beispielsweise bei der Erstürmung der Polizeiwache im Columbushaus am Potsdamer Platz keine Ver- letzten gegeben. Nach übereinstimmenden Berichten haben sich die dort befindlichen sechs bis acht Polizisten den Demonstranten erge- ben. 238 Angeblich haben die Demonstranten alle Volkspolizisten an die Westberliner Polizei übergeben, von denen sich zwei sich unter den Schutz der Westberliner Polizei begeben haben sollen; die anderen haben sich angeblich in der Menge verlaufen. Aus den Akten der SED geht hervor, daß die von den Demonstranten entwaffneten Volkspoli- zisten von "Genossen wieder in den demokratischen Sektor zurückge- schleust" worden sind.239 Ausrüstungs- und Einrichtungsgegenstände der Volkspolizisten und der Polizeiwache wurden ebenfalls an die Westberliner Polizei übergeben; darunter auch Dienstpistolen der Vo- pos, z.T. mit Munition. 240 In diesem Fall sind es wiederum die Schrift- quellen, die diese Hintergrundinformationen liefern. Gleichzeitig wird 236) Brant/Bölling, 121 237) ZPA IV/2/5/530,2 238) Hierzu u. im folg. Der Polizeipräsident in Berlin - PhS, Be- richt der Polizei-Inspektion Tiergarten an die brit. Sektorenle i- tung vom 25.6.53; T11, IWF, 179; Scholz/Nieke (53), 21 239) ZPA IV/2/5/530,2 240) Der Polizeipräsident in Berlin - PhS, Meldungen anläßlich der Demonstrationen im Ostsektor am 17.6.1953 77 erkennbar, daß die Westberliner Polizei von den Demonstranten of- fenbar als Ordnungsmacht vorbehaltlos akzeptiert worden ist. Auch in einem anderen Fall scheint es weniger handgreiflich zuge- gangen zu sein. Als der Stellvertretende Ministerpräsident der DDR von Demonstranten in seinem Dienstwagen erkannt und nach West- berlin verschleppt wurde, "setzte" es nach den Worten von Brant/Bölling "ein paar (nicht allzu harte) Fausthiebe". 241 Otto Nuschke hat nach seiner Auslieferung durch die Demonstranten an die Westberliner Polizei ein Rundfunkinterview gegeben und ist dabei auch photographiert worden. 242 Auf dem Bild zeigt Nuschke keinerlei Spuren harter körperlicher Auseinandersetzungen. Er ist ordentlich gekämmt, seine Kleidung ist absolut intakt, sauber und korrekt. Auch seine Brille ist heil. In der Hand hält er eine Zigarre. Auf die Frage des Rundfunkreporters, wie er nach Westberlin gelangt sei, antwortet er: "Ich wurde geraubt. Mein Auto wurde aus dem Ostsektor von einer er- regten Menge Westberliner nach Westberlin geschleppt."243 Nuschke muß zwar im weiteren Verlauf des Interviews eingestehen, daß eine zuverlässige Unterscheidung zwischen West- und Ostberlinern nicht möglich war; die Art und Weise seiner `Entführung' relativiert er da- gegen nicht, sondern er wiederholt an anderer Stelle die Umschrei- bung vom "Herüberschieben". 244 Damit liegen Anhaltspunkte vor, wo- nach im Fall Nuschke die Beschreibung Brant/Böllings den Sachve r- halt eher als in anderen Fällen getroffen haben könnte. Komplizierter wird der Quellenvergleich dort, wo sich die Schrift- quelle nicht in wenigen Sätzen mit prägnanten Worten erschöpft, son- dern ausführlicher ist. Dieser Vergleich verspricht aber detailliertere quellentheoretische Erkenntnisse. Die ausführlichste Behandlung in den Schriftquellen hat der Tod des SSD-Mitarbeiters Willi Hagedorn erfahren. Hagedorn war Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes in Rathenow. 245 Nach der detaillierten Beschreibung bei Rainer Hildebrandt ist Hagedorn in einer gegen die SED demonstrierenden Menschenmenge erkannt und auf seine Tätig- keit hin angesprochen worden. Angeblich hat er einen ihn bedrängen- 241) Brant/Bölling, 136 242) Hierzu u. im folg. T32, IWF, 223-226 u. P189, IWF, 114 243) Ab B2:16036 244) Ab B2:17530 245) Hierzu u. im folg. Hildebrandt (1983), 99-105. Als Quelle über die Tätigkeit Hagedorns vgl. auch ein Flugblatt der Märki- schen Volksstimme, zitiert nach Scholz/Nieke/Vetter (1954), 112 78 den Jungen geschlagen. In einer anderen Darstellung heißt es, er habe dazu sogar einen Totschläger benutzt.246 Im einzelnen stellt sich der Sachverhalt wie folgt dar: Um das Geschehen herum sammeln sich Menschen an. Hagedorn wird von mehreren Personen tätlich angegrif- fen und zwischendurch immer wieder zu seiner Tätigkeit befragt. Schließlich nehmen die Schläge überhand. Hagedorns Ehefrau ver- sucht, ihren Mann aus der Menge herauszuziehen, hat damit aber kei- nen Erfolg. Hagedorns Versuche, sich verbal zu verteidigen, rufen nur noch mehr Empörung hervor. Um den unaufhörlich auf ihn "einpras- selnden" Schlägen zu entkommen, unternimmt er einen Fluchtversuch, indem er sich durch die ihn umschließende Menge durchkämpft. "'Schlagt ihn tot', brauste die Menge hinter ihm auf, 'tot, tot!'" Vor dem Eingang des HO-Warenhauses, das offensichtlich seine Dienst- stelle beherbergte, wird er wieder festgehalten. "Hinter den Fenstern standen die Angestellten und schauten interessiert zu." Dann ertönt aus der Menge der Ruf "Aufhängen!" Die Angreifer schleppen ihr Op- fer zu einer geeigneten Stelle und bereiten eine Drahtschlinge vor. Niemand hilft Hagedorn. "Nur in der Ferne schrie unaufhörlich je- mand: 'Keine Gewalt! Kein Mord!'". Hagedorn wird hochgehoben, doch es gelingt ihm, die Schlinge wegzuschlagen. Den selbsternannten Henkern wird zugerufen: "Schlagt ihn k.o. - dann könnt ihr ihn ein- hängen!" Darauf ein anderer: "Er muß lebendig hängen!" "In der Menge waren jetzt einige Polizisten, aber sie konnten sich nicht durchkämpfen und wagten es nicht, ihre Waffen zu gebrauchen." Es gelingt Hagedorn, sich zu diesen Polizisten zu retten. Er wird von ihnen in eine naheliegende Molkerei gebracht. Doch die Demonstran- ten lassen den angeforderten Ambulanzwagen nicht wieder von dem Molkereigelände abfahren. Es gelingt ihnen, das Auto zu öffnen. Ha- gedorn wird von der Trage gekippt. "Hagedorn stand langsam auf. Niemand wollte ihn retten. 'Keine Gewalt! Kein Mord!' Diese Stimme ging unter." Als nächstes beschließen die Demonstranten, Hagedorn in die Havel zu werfen. Nach kurzem Weg erreicht die Menge mit ihrem Opfer das Flußufer. "'Tot - tot - tot', brüllten immer mehr. 'Hängt ihm was ans Bein!' 'Keine Gewalt! Kein Mord!' - wieder dieselbe Stimme. Der Ar- beiter zog Hagedorn vom Ufer weg, damit er nicht hineinspringen konnte. Mit aller Kraft schlug er ihm ans Kinn, so daß er zusammen- sackte. Hagedorn wälzte sich. Füße stießen in seinen Körper und in sein Gesicht. Röchelnd wurde er wieder hochgezogen. ... Hagedorns Körper rollte die Böschung hinab. Gespannt schaute die Menge, ob er unterging. Aber er kam hoch und schwamm vom Ufer fort. 'Ersäuft ihn! Ersäuft ihn! " Daraufhin rudern zwei Jugendliche Hagedorn hin- terher. Obwohl am anderen Ufer Volkspolizisten ebenfalls ein Boot besteigen und sogar ihre Gewehre auf die Verfolger anlegen, versucht einer der Jungen, Hagedorn mit einem Ruderriemen zu erschlagen: 246) Scholz/Nieke/Vetter (54), 111 79 "Das Ruder des Knaben sauste nieder. Das Krachen des Holzes konnt man am Ufer hören. Hagedorn tauchte unter - und kam wieder hoch und schwamm weiter. In der Menge waren viele entsetzt über die un- verwüstliche Zähigkeit dieses Lebens." Schließlich gelingt es den Po- lizisten nach Abgabe mehrerer Warnschüsse, Hagedorn ans gegen- überliegende Ufer zu ziehen. Doch er stirbt im Krankenhaus. Die wörtlichen Zitate werden für den nachfolgenden Quellenvergleich gebraucht. Dabei ist klar, daß die Rufe aus der Menge unter Umstän- den nur sinngemäß von dem Berichterstatter wiedergegeben werden konnten. Wenn dies ein guter Bericht zu sein scheint, dann deshalb, weil er in den verschiedenen Phasen immer wieder das Verhalten der einzelnen an dem Vorgang beteiligten Gruppen und Personen be- schreibt. Opfer- und Täterverhalten werden genauso thematisiert wie das Verhalten der Masse und einzelner, kurzzeitig aus dieser Masse heraustretender Personen. Auch über das Verhalten der Polizei wird berichtet. Der Verfasser der Beschreibung trägt damit der Vielschich- tigkeit des Geschehens Rechnung. Wie man sieht, gibt es also durch- aus ein stilistisches Mittel, um auch sprachlich ein komplexes und ur- sprünglich auf vielen Ebenen gleichzeitig ablaufendes Ereignis zu be- schreiben. Allerdings kann keine noch so gute verbale Beschreibung den kom- plexen Bildeindruck vollständig ersetzen. Die Beurteilung des Wort- berichtes als "gut" stützt sich auch nicht auf den Quellenvergleich un- ter Schriftquellen. Es sind vielmehr die inhaltlich vergleichbaren photographischen Aufnahmen aus Berlin, die dieses Urteil ermögli- chen. Gerade am Beispiel der Gewaltanwendung gegen die mutmaßli- chen SED-Parteigänger zeigt sich besonders deutlich der vorteilhafte Charakter der Photographie als präverbaler, viele Eindrücke gleich- zeitig vermittelnder Quelle. Andererseits hat aber auch der Wortbericht grundlegende Vorteile: Solange es sich z.B. um Stummfilm handelt, fehlt der gesamte Ori- ginalton. Zwischenrufe, Schreie, Geräusche usw. werden nicht un- mittelbar überliefert. Damit geht ein wesentlicher atmosphärischer Anteil verloren. Die verbale Quelle kann demgegenüber etwas davon vermitteln. Am Beispiel des gemeinschaftlichen Totschlags in Rathe- now wird z.B. deutlich, daß die Menge der Umstehenden den Schlä- gern nicht nur passiven Schutz gewährte, sondern sie auch anfeuerte. Aber selbst wenn zum Bild synchrone Tonaufnahmen vorliegen, be- steht doch nach wie vor ein hoher Abstraktionsgrad gegenüber der persönlichen Anwesenheit vor Ort. Nur ein leibhaftiger Augenzeuge kann die gespannte Atmosphäre direkt erleben und später nacherzäh- len. Er wird besser als der Filmbetrachter nachvollziehen können, warum beispielsweise bewaffnete Polizisten nicht mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versucht haben, die sich abzeichnende Lynchjustiz zu verhindern. 80 Die verbale Beschreibung vermittelt im Detail viele Eindrücke, die ei- ner Kamera mangels technischer Möglichkeiten entgehen. Neben dem schon beschriebenen Defizit an Originalton scheitert die normale photographische Aufzeichnung zum Beispiel auch an der Spiegelung einer Schaufensterscheibe. Daß dahinter die HO-Mitarbeiter tatenlos dem Treiben vor ihrem Geschäft zusehen, ist nur verbal zu vermitteln. Auch das Entsetzen "über die unverwüstliche Zähigkeit dieses Le- bens", das sich dem Wortbericht nach in der Menge verbreitete, ist wohl am besten von einer direkt vor Ort anwesenden Person zu erfas- sen und zu überliefern. Man darf daraus allerdings nicht den Schluß ziehen, Bilder böten allgemein keine Einsicht in "Antriebe und Ge- danken" oder "die Kausalität eines Geschehens". 247 Der Haß, der aus den Gesichtern und aus den Angriffen der Demonstranten in F337 bis 352 und P141 spricht, läßt derartige Rückschlüsse sehr wohl zu. Die Bildaussage fügt sich nahtlos in die Eindrücke von Hartnäckigkeit und Brutalität im Wortbericht für Rathenow ein. Wie man sieht, ergänzen sich die Quellengattungen. Es wäre völlig falsch, allgemeingültige Prioritäten für die eine oder andere geltend zu machen. Historisch-inhaltlich lassen die Filme und Photos eine fundamentale Ablehnung uniformierter wie ziviler SED-Repräsentanten durch zah- lenmäßig starke Demonstrantengruppen erkennen. Die Auslieferung der Gefangenen an die Westberliner Polizei an der Berliner Sektoren- grenze deutet auf eine hohe Akzeptanz westlicher Organe durch die Demonstranten hin. Eine Ausdeutung dieser symbolischen Akte in Richtung auf eine von den Demonstranten gewünschte Wiederverei- nigung Deutschlands unter westdeutschem Vorzeichen erscheint unter Anerkennung der eingangs ewähnten Prämissen als möglich. Um den Beitrag der untersuchten Quellengattungen zur Begriffsbildung noch näher bestimmen zu können, sollen in einem folgenden Untersu- chungsschritt weitere symbolische Handlungen der Demonstranten untersucht werden. 6.4 Willensbekundungen am Beispiel der Zerstörung von Symbolen Im Verlauf des Vormittags sind am 17. Juni zahlreiche Sektorengrenz- schilder und Straßensperren sowie Propagandakioske, Kontrollstellen des Amtes zur Kontrolle des Warenverkehrs und Polizeidienststellen von den Demonstranten zerstört worden. 248 Auch rote Fahnen und Propagandamaterial gingen in Flammen auf. 247) Scheurig, 55 248) Hierzu u. im folg. vgl. Der Polizeipräsident in Berlin - PhS, Berichte der S. - Org.-Abt. - G.B., v. 18. u. 19.6.53 81 Große Demonstrationszüge, wie etwa aus Hennigsdorf und Velten, mußten auf ihrem Weg vom DDR-Gebiet durch Westberlin ins Zen- trum Ostberlins zwei Grenzen passieren. Teilweise haben mit Werk- zeug ausgerüstete Voraustrupps hinderliche Grenzsperren beseitigt.249 Mit Stahlsägen und Drahtscheren wurden Straßensperren abgebaut, Kraftfahrzeugsperren zugeschüttet und hölzerne Grenztafeln mit Äx- ten gefällt. Schon bei diesen aus der Literatur zu gewinnenden Informationen fällt auf, daß das Abschlagen der Grenztafeln über die notwendige Beseiti- gung von Straßensperren hinausgegangen ist. Es handelt sich dabei eindeutig um einen demonstrativen Akt. Im weiteren Verlauf des Ta- ges hat auch die Beseitigung der Barrieren eine weitgehend demon- strative Funktion bekommen. 250 Die Westberliner Polizei hat am 19. Juni offiziell folgende Zerstö- rungsbilanz gezogen: 24 Sektorengrenzschilder, drei zugeschüttete oder eingeebnete Bodenwellen, fünf demontierte Eisenträgersperren, 12 Meter abgebaute sogenannte Schutzgitter, drei "Zollgrenzstüt z- punkte"251, zwei Vopo-Wachen252, ein Aufklärungslokal, das ausge- brannte Columbushaus und eine rote Fahne (vom Brandenburger Tor).253 Die Auflistung erfaßt offensichtlich nur Objekte direkt an der Sektoren- bzw. Zonengrenze. Sie ist aber auch im Rahmen dieser Ein- schränkung weder ganz eindeutig, noch vollzählig. So wird das abge- brannte Columbushaus zwar aufgeführt, aber nicht zu den zerstörten Polizeiwachen gezählt. Und die in der Friedrichstraße verbrannte rote Fahne oder der am Potsdamer Platz angezündete Zeitschriftenkiosk254 und das ebenfalls dort verwüstete Haus Vaterland werden, um nur ei- nige Beispiele für die Lückenhaftigkeit zu nennen, nicht erwähnt. Oh- 249) Hierzu u. im folg. Brant, 121f. 250) In einigen Situationen kann die Beseitigung von Straßen- sperren auch dem Freihalten von Fluchtwegen gedient haben (vgl. z.B. F61, IWF, 41). Insgesamt überwiegt aber der Ein- druck rein demonstrativer Zerstörung. 251) Der Polizeibericht unterscheidet hier zwischen "2 Zoll- grenzstützpunkten" und einem "Büro des Warenkontrollamtes". 252) Die Vopo-Wache im Columbushaus am Potsdamer Platz ist hier offensichtlich nicht mit eingerechnet worden. 253) Der Polizeipräsident in Berlin - PhS, Berichte der S. - Org.- Abt. - G.B., v. 19.6.53 254) Zur Identifizierung des Kiosks vgl. bes. F116 u. F120, je- weils IWF, 59 82 ne die Bildquellen wäre diese Unzuverlässigkeit der Schriftquelle kaum feststellbar. Manfred Hagen ist der erste Autor, der dem "Bildersturz" durch die Demonstranten ein eigenes Kapitel gewidmet hat.255 Ihm verdanken wir eine wichtige Aufzählung derartiger Zerstörungen, die einen Überblick über das Gesamtereignis vermittelt. Der Vergleich dieser Phänomene mit dem im Bild festgehaltenen Verhalten der Demon- stranten offenbart, daß die Bildquellen ein nahezu geschlossenes Ak- tionsspektrum zeigen. Viele Ereignisse sind überhaupt nur aus den Filmen und Fotos bezeugt.256 Die Bilder sind aber nicht nur quantitativ wichtige Quellen. Oft sind auf einem Photo oder in einer Filmeinstellung mehrere Phänomene gleichzeitig festgehalten worden. P26 etwa zeigt zwei zeitgleich bren- nende Kioske am Potsdamer Platz, P92 dokumentiert im Vordergrund eine bereits abgebrannte Propagandafläche und im Hintergrund eine noch brennende Barrikade. Auf P154 sind ein brennender Kiosk und ein anderes, schon verwüstetes Gebäude zu sehen. F305 öffnet zeit- gleich den Blick auf eine in Brand gesetzte Zollgrenzbaracke, das Zer- störungswerk an einer von den Demonstranten erbeuteten roten Fahne und das Herumtragen eines zerstörten Sektorengrenzschildes.257 In F340 wird ein Rest dieses Sektorengrenzschildes beiseite geräumt, als die Menge einen mutmaßlichen SED-Parteigänger an die Westberliner Polizei übergibt. Diese Eindrücke sind gewissermaßen kompakt; sie vermitteln ein differenziertes Bild für zeitlich und örtlich zu- sammmenhängende oder parallel verlaufende Vorgänge.258 Der reine Aufzählungscharakter einiger Schriftquellen läßt solche Eindrücke nicht zu. Andere Photos ermöglichen dem Betrachter sogar einen noch größe- ren Überblick - etwa wenn er auf P123 flüchtende Demonstranten sieht, die über eine noch brennende Barrikade hinweg aus dem Ost- sektor beschossen werden; wenn sowjetische Soldaten gefechtsbereit Unter den Linden stehen, während aus dem Ostberliner Stadtzentrum Rauchwolken aufsteigen (P174); oder wenn Demonstranten, die einen Teil eines zerstörten Sektorengrenzschildes mit sich führen, auf eine Absperrung der östlichen Sicherheitskräfte und sowjetischer Panzer treffen (P210). 255) Hierzu u. im folg. Hagen (1992), 65-70 256) Vgl. die Anmerkungen ebd., 216 257) Alles zusammen ist besonders gut zu erkennen bei Bild Nr. A:41638. 258) Vgl. Siegfried Kracauer: History. The Last Things Before the Last. New York 1963, 182f. u. 199 83 Die komplexen Bildeindrücke vermitteln im Vergleich zu Texten die Kenntnis von Zusammenhängen in einer anderen Qualität. In diesem Fall gilt das für die Eskalation der Auseinandersetzungen im Ostberli- ner Stadtzentrum. Der konkrete Erkenntniszuwachs ist zwar nur schwer meßbar; es dürfte aber doch Konsens darüber herrschen, daß die Atmosphäre des Ereignisses ohne Bilder wesentlich schlechter er- faßbar wäre. Im Grunde gilt dieses Argument für das gesamte Bild- material vom 17. Juni. Es ist eingangs bereits erwähnt worden, daß die Zerstörung der von östlicher Seite aufgestellten Grenzschilder offenbar symbolisch ge- meint war. Sie sollte offenkundig eine Ablehnung der als künstlich empfundenen Grenze dokumentieren. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß uns nirgends die Zerstörung eines westlicherseits aufge- stellten Grenz-Hinweisschildes überliefert ist. Gerade der zitierte Poli- zeibericht hätte eine solche Zerstörung auf Westberliner Gebiet sicher vermerkt. Die reine Tatsache, wonach die vom Westen aufgestellten Schilder im Gegensatz zu den östlichen Grenztafeln unbehelligt blie- ben, weist auf die politische Grundhaltung der sich auf diese Weise artikulierenden Demonstranten hin. In diesem Umstand kommt zum Ausdruck, daß die Verantwortung für die Grenzziehung bei den östli- chen Machthabern gesucht wurde. Die zahlreichen Aktionen gegen die Holzschilder dokumentieren aber noch mehr als die Ablehnung der innerdeutschen Grenze. Während in den Schriftquellen nur von zerstörten Grenztafeln die Rede ist, zeigt uns das offensichtlich schon am frühen Morgen des 17. Juni aufge- nommene Photo Nr. 13259, daß auch Propagandatafeln abgebrochen wurden. Da der Potsdamer Platz zu dieser Zeit noch menschenleer ist und Fahrräder auf der Straße liegen, liegt die Vermutung nahe, daß die auf dem Bild zu sehenden Männer und Jugendlichen zu dem Perso- nenkreis gehörten, der den großen Demonstrationszügen vorausgefah- ren ist. Zu diesem frühen Zeitpunkt und an diesem Ort ist deshalb noch kein Agieren aus einer geschlossenen Menschenmenge heraus feststellbar. An zeitlich später einzuordnenden Beispielen wird eine durchaus positive Resonanz der umstehenden Menge deutlich. 260 Die symbolischen Handlungen der Demonstranten haben sich damit nicht nur gegen östliche Grenzmarkierungen und -sperren, sondern auch gegen die kommunistische Propaganda gerichtet. Die noch zu bespre- chenden Aktionen gegen rote Fahnen und die schon erwähnte Be- handlung mutmaßlicher SED-Parteigänger verstärken diesen Eindruck noch. Wesentlich aber ist die Erkenntnis, wonach die besonders akti- ven Demonstranten nicht nur die ihrer Meinung nach hauptsächlich 259) A:54262 260) Besonders anschaulich ist dies am Beispiel der gestürmten Vopo-Wache im Kolumbushaus am Potsdamer Platz (F135 bis 141, IWF, 62 und T11, IWF, 179-182) 84 vom östlicher Seite zu verantwortende Grenze bekämpften; die Zer- störung der Propagandatafeln und anderer Symbole weist auf eine tie- fere Ablehnung des kommunistischen Regimes hin. Gerade die schon besprochene Lynchjustiz zeigt, wie fundamental Teile der Demon- stranten die DDR am 17. Juni abgelehnt haben. P13 deutet über diesen Ansatz darauf hin, daß die hier dokumentierte Aktion schon vor den Zusammenstößen mit den östlichen Sicherheitskräften stattgefunden hat.261 Das Element der fundamentalen Ablehnung der DDR ist damit schon für die erste Phase der Mittwochsdemonstrationen nachweisbar. Die Konfrontation mit (K)VP und Sowjetarmee hat diese Ablehnung al- lenfalls graduell verstärkt. Von Fahnen geht eine besondere Symbolkraft aus. Ihr Erbeuten und Verbrennen ist für das Brandenburger Tor, die Friedrichstraße und die Leipziger Straße bezeugt.262 Sicher ist es auch noch an anderen Stellen vorgekommen. Schon am 16. Juni sollen auf dem Alexanderplatz und Unter den Linden Fahnen heruntergerissen worden sein.263 Das Entset- zen der Funktionäre über die öffentliche Verbrennung offizieller Fah- nen kommt in einem parteiinternen Bericht der SED-Kreisleitung Pankow zum Ausdruck: In der "Leipziger Straße wurden ... eine Rote und eine Schwarz-rot-goldene Fahne heruntergerissen und verbrannt (öffentlich verbrannt)."264 Die durch den Nachsatz hervorgehobene Betonung des öffentlichen Charakters der Fahnenverbrennung zeigt die besondere Betroffenheit des Berichterstattters. Da die SED Fahnen bewußt als Symbole für ideologische Zwecke eingesetzt hat, ist der 261) Natürlich ist es denkbar, daß die auf P13, IWF, 47 abgebil- deten Demonstranten vorher schon Zusammenstöße, etwa mit KVP, erlebt haben. Ein Detail der Bildaussage spricht aller- dings dagegen: Die Fahrräder liegen und stehen sämtlich so auf der Straße, daß ihre Fahrtrichtung von Nord nach Süd weist. Die Männer sind also höchstwahrscheinlich von Norden her auf den Potsdamer Platz gefahren. Die ersten Zusammenstöße mit der KVP haben sich aber im Osten des Potsdamer Platzes vor dem Haus der Ministerien abgespielt. Außerdem ist das Gelän- de des Potsdamer Platzes noch nahezu menschenleer. Es sind also noch keine größeren Menschenmengen aus der Leipziger Straße abgedrängt worden. Auch ist die hölzerne Sichtwerbung im Bildhintergrund noch intakt. Es spricht also alles für eine frühe Aufnahmezeit. 262) Vgl. F303 bis 316, IWF, 90 u. F376 bis 393, IWF, IWF, 100 mit P162 bis 164, IWF, 100-102 und ZPA IV 2/5/539,10 263) T2, IWF, 137 ab Bild Nr. A1:04333 264) ZPA IV 2/5/539,10 85 symbolische Akt der Fahnenverbrennung eine Aktion, mit der die Demonstranten das Regime wohl besonders zu treffen versuchten. Das Herunterholen und Zerstören der roten Fahnen in der Friedrich- straße und am Brandenburger Tor ist photographisch und zum Teil auch tontechnisch dokumentiert worden. Somit besteht die Chance, die Akzeptanz dieser besonderen Formen des Bildersturms anhand der visuellen und auditiven Quellen herauszuarbeiten und die im Theo- rieteil vertretenen quellentheoretischen Standpunkte am praktischen Beispiel zu prüfen. In der Friedrichstraße wird die rote Fahne inmitten einer mehrhun- dertköpfigen Menge hochgehalten und angezündet.265 Im Bildvorder- grund bewegen sich einige Menschen, die sich vorher wohl mehr am Rande befunden haben, auf diesen Mittelpunkt zu. Andere drehen sich zu dem Ereignis um, viele winken und gestikulieren in Richtung auf die Fahne. Im Gegensatz dazu bahnen sich Einzelne ihren Weg durch die Menge in Richtung Westsektor, als geschehe nichts Außerge- wöhnliches. In F305 ist gut zu sehen, wie innerhalb der Menge die brennende Fahne herumgetragen wird und wie sich direkt um die Fah- ne herum sozusagen ein Kern von Demonstranten gebildet hat, der die Bewegungen des Fahnenträgers mitmacht. In F304 werden ein her- ausgebrochenes Sektorengrenzschild und anderere Grenzschilderreste mit herumgetragen und zum Teil hochgehalten. Während in F307 im Bildvordergrund noch letzte Fahnenreste verbrennen, hält weiter hin- ten ein auf Schultern getragener Mann offensichtlich eine Ansprache. Das Gros der Menge wendet sich ihm zu. In F310 stellen einige Män- ner ein herausgezogenes sowjetisches Sektorengrenzschild vor den Filmkameras auf. 266 Die Umstehenden klatschen und jubeln dazu. Zusammenfassend kann man die Reaktion der Menge auf die ge- nannten Zerstörungen durchaus im Sinne einer vorbehaltlosen Zu- stimmung beurteilen. Ablehnende Reaktionen oder Auflösungser- scheinungen sind nicht feststellbar. Ganz im Gegenteil entsteht bei der Bildbetrachtung wie schon im vorausgegangenen Kapitel der Ein- druck, daß die beschriebenen Aktionen den Zusammenhalt der Menge gefördert haben. Interessant ist auch, daß die Ansprache des auf Schultern getragenen Mannes offensichtlich größeren Anklang findet als die auch auf Medienwirkung angelegte Fahnenverbrennung. Schon in einem Bericht von der Demonstration am 16. Juni vor dem Haus der Ministerien ist das Problem der Führungs- und Richtungslosigkeit empfunden worden. 267 Vielleicht kann man deshalb anhand der Bilder sagen, daß die symbolischen Zerstörungsakte eine Ersatzhandlung 265) Hierzu u. im folg. F303, IWF, 90 266) A:42186 267) Leithäuser, 607, T29, IWF, 219f. ab Bild Nr. A:11869 86 oder Begleiterscheinung waren, an der die meisten Demonstranten das Interesse verloren, wenn ihnen stattdessen eine Programmatik geboten wurde. In einem gewissen Maße weist auch die große Teilnehmerzahl an der SPD-Kundgebung auf dem Oranienplatz in Kreuzberg am Abend des 17. Juni in diese Richtung. 268 Zu Ausschreitungen wäre es wohl in jedem Fall gekommen. Bei einerer klareren Perspektive für die Demonstranten hätten die Gewaltakte gegen Personen und Sachen aber sicher nicht eine so breite Akzeptanz erfahren. Vielleicht wäre Schlimmeres, wie Körperverletzung und Brandstiftung, auch gar nicht unternommen worden. Gegenüber der Friedrichstraße zeichnen sich die Ereignisse am Bran- denburger Tor durch zwei Besonderheiten aus. Erstens ist die Litera- turlage wesentlich besser. Es gibt sowohl überlieferte Berichte der Akteure selbst als auch einen Rundfunkmitschnitt vom Herunterholen der roten Fahne. Zweitens hat es dort nicht nur den Zerstörungsakt an der roten Fahne gegeben; in den frühen Nachmittagsstunden haben andere Demonstranten anstelle der alten Fahne schwarz-rot-goldene Fahnen und wohl auch eine Berliner Fahne gehißt. Für unsere Unter- suchung ergeben sich daraus folgende Möglichkeiten: Die Bildaussa- ge soll mit der Literatur und mit den Tonaufnahmen verglichen wer- den, um quellenspezifische Charakteristika herauszuarbeiten. Außer- dem gilt es, das Hissen der schwarz-rot-goldenen Fahnen ebenfalls im Sinne einer symbolischen politischen Aussage zu interpretieren. Folgende Phasen des Geschehens sind im Bild festgehalten worden: Das Einholen der roten Fahne, das Feiern der Tat und schließlich das Zerreißen und Verbrennen des Fahnentuchs. F376 zeigt einen Mann, der in gebückter Haltung auf den oberen Sims des Brandenburger Tors klettert. Ein zweiter folgt ihm. Die beiden ziehen die Fahne herunter. Unten steht auf beiden Seiten des Tores ei- ne Menschenmenge (F378). Alle blicken nach oben. Einige winken, andere klatschen offensichtlich Beifall. Um die Fahne ganz herunter- zubekommen, müssen die beiden Männer mit aller Kraft ziehen. Ob- wohl es ihnen schließlich gelingt, die Fahne herunterzubekommen, können sie sie doch nicht ganz lösen. Während der eine noch am Fah- nentuch zieht, entfernt sich der andere Mann (F383). Schließlich sieht man beide von der westlichen Seite kommend auf dem unteren Sims um die Nordwestecke des Tors herumgehen (F385f.). 268) Vgl. IWF, 112. Die Resonanz auf die Kundgebung am Abend ist allerdings insofern nicht mit den Ereignissen am Morgen zu vergleichen, als abends der Ausnahmezustand mit militärischen Mitteln weitgehend durchgesetzt worden war. Die Demonstranten hatten zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Möglichkeiten, um an den eigentlich von ihnen angestrebten Orten zu demonstrieren. 87 Unten angekommen werden die beiden Männer von anderen auf die Schultern gehoben. 269 Um diese Gruppe herum verdichtet sich die Menschenmenge, die jetzt auch unter dem Brandenburger Tor steht und lediglich die den Platz vor dem Brandenburger Tor in Nord-Süd- Richtung kreuzende Ebert-Straße freizuhalten scheint. Die Umstehen- den applaudieren den Männern, von denen einer einen Blumenstrauß bekommen hat. Etwa acht Männer haben unter Beteiligung einiger Jugendlicher schließlich das herabgeworfene Fahnentuch zerrisssen und ver- brannt.270 Dabei wird aus der halbkreisförmigen Aufstellung sowie aus dem direkten Blick einiger Akteure in die Kamera deutlich, daß die Demonstranten sich des Photographiert-Werdens bewußt waren. Die Tonquelle Nr. 14 behandelt ebenfalls die Ereignisse am Branden- burger Tor.271 Damit besteht an diesem Aufnahmeort die für den 17. Juni selten gegebene Möglichkeit, Bild- und Tonaufnahmen zu dem- selben Vorgang auszuwerten. Bei T14 handelt es sich um einen nachträglichen Zusammenschnitt, dessen Authentizität vor der Interpretation geklärt werden muß. Wie schon im allgemeinen Theorieteil gesagt wurde, sind Tonschnitte nicht immer nachweisbar. Im Falle von T14 können wir aber mit rela- tiv großer Sicherheit sagen, wo die jeweiligen Schnitte angebracht worden sind. Der erste Teil der Tonquelle, der das untersuchte Ereignis direkt be- trifft, beginnt nach A2:50220. Im Hintergrund sind unartikulierte, bei- fällig auffordernde Rufe272 und Beifall-Klatschen zu hören. Aus dem dazu gesprochenen Kommentar des Reporters273 ergibt sich, daß diese Beifallsbekundungen "zwei Jugendlichen" gelten, die auf das Bran- denburger Tor hinaufgestiegen sind und sich an der Fahne zu schaffen machen. Der Reporter fügt hinzu, daß die beiden die Fahnenstange als Deckung benutzen, um sich "vor eventuellen Schüssen des sowjeti- schen Militärs [zu schützen], das ... auf der Ostseite des Brandenbur- 269) Hierzu u. im folg. F388 bis 393, P163f., IWF, 102 270) Hierzu u. im folg. F394, P165f., IWF, 103 271) Ab A2:49538 272) Vielleicht ist es auch nur ein einziger Rufer gewesen. 273) Der Reporter-Kommentar setzt ein, noch bevor der Beifall im Hintergrund abgeklungen ist. Deshalb ist hier mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Schnitt zu vermuten. Der Beifall ist demnach wohl authentisch. 88 ger Tors in vielleicht 50 Meter Entfernung steht". Danach erfolgt etwa bei A2:50980 ein Schnitt. Unter vielfachen lauten "Ja"-Rufen und Beifall der unten stehenden Menschen wird die rote Fahne herabgezogen. Nach Aussage des Re- porters werden dazu noch Hüte geschwenkt. Noch während der Jour- nalist diese Anmerkungen macht, sind Rufe zu hören, wonach die rote Fahne zu verbrennen sei. Anscheinend sollen nach dem Willen der Rufer stattdessen eine schwarz-rot-goldene Fahne und eine Fahne mit dem Berliner Stadtwappen, dem Bären, aufgezogen werden. Der Re- porter berichtet weiter, als sich die Fahne gesenkt habe, sei aus der Menge gerufen worden: "Wir grüßen das freie Berlin!"274 Nach den di- rekt aufgezeichneten Worten eines Demonstranten handelt es sich um den "schönsten Augenblick unseres Lebens". Eine andere Aussage ist nur bruchstückhaft zu hören: "... wegkommen, die Verbrecher". Etwa bei A2:51924 erfolgt dann der nächste Schnitt. Auch das dritte Fragment ist so geschnitten, daß es mit unartikulierten Bravo-Rufen und mit Beifall beginnt. Nach den Worten des Reporters werden damit die beiden "Jungen", die die Fahne am Fahnenmast her- abgezogen haben, bei ihrer Rückkehr von den unten stehenden Men- schen begrüßt. Sie werden auf Schultern getragen. Einem von ihnen wird ein roter Nelkenstrauß überreicht. Dieser Teil der Tonaufzeich- nung endet etwa bei A2:52298. Nach diesem Schnitt berichtet der Reporter weiter: "Und wieder sind zwei Jungen hinaufgeklettert auf das Brandenburger Tor und haben nun die Fahne gelöst. Sie haben sie hinuntergeworfen, und hier wird sie nun von der Bevölkerung - von der wütenden Bevölkerung kann man sagen - zerrissen." Es schließt sich ein Interview mit einem der jungen Männer an. Als diesem ein Fetzen der roten Fahne überreicht wird, sagt er, er freue sich, "diesen hier im freien Sektor in der Hand zu haben". Nach seinen Worten konnten er und sein "Kollege" die Fahne nicht ganz lösen, weil ihnen ein Messer fehlte. "Zwei weitere Kameraden" seien jetzt hinaufgestiegen und hätten sie gelöst. Die rus- sischen Soldaten hätten nicht eingegriffen. Die Beschreibung des Hinaufkletterns in der Tonquelle und der darin enthaltene O-Ton bieten eine interessante Ergänzung zu den Bildern. Während wir aus der Bildbetrachtung einen Eindruck davon bekom- men, wie sich die Menge unten postiert und wie groß sie etwa ist, er- fahren wir aus der Tonaufnahme, daß schon das Hinaufklettern mit Beifall von unten verbunden war. Entgegen den Worten des Reporters zeigen die Bilder, daß sich die beiden Männer nicht ständig in der Deckung des Fahnenmastes aufgehalten haben, um einem eventuellen Beschuß aus dem Ostsektor zu entgehen. Wir sehen im Bild deutlich, daß jeweils mindestens einer von ihnen, oft wohl auch beide gleich- 274) Auf dem Band ist das nicht direkt zu hören. 89 zeitig völlig ungedeckt versuchen, die Fahne einzuholen. Aus der Bildbetrachtung entsteht der Eindruck, daß für die beiden Männer das Niederholen der Fahne Priorität vor ihrem eigenen Schutz hatte. An- dererseits konnten sie wohl von oben das sowjetische Militär beob- achten und haben gesehen, daß es sich passiv verhielt. Die diesbezüg- liche Interview-Äußerung des einen Mannes läßt diesen Schluß wohl zu. Als die Fahne sich senkt, spenden die Menschen erneut Beifall. Daß dazu Hüte geschwenkt werden, erfahren wir ebenfalls aus der Ton- quelle; aus F378 ist nur Klatschen und Winken deutlich geworden. Insgesamt verstärkt die Toninformation damit den Eindruck von der Unterstützung der beiden Männer durch die unten stehende Menge. Die bisher nur auf theoretischer und bildlicher Grundlage erfolgte Aussage über das Wechselspiel zwischen den verschiedenartig aktiven Demonstrantengruppen gewinnt unter Hinzunahme der verbal- akustischen Informationsebene weiter an Glaubwürdigkeit. Gleichze i- tig zeigt dieses Beispiel, wie gewinnbringend die parallele Auswer- tung verschiedener Quellengattungen sein kann. Wie intensiv das Herunterholen der Fahne bei den Untenstehenden empfunden wurde, ist dagegen nur aus der Tonquelle zu erfahren. Das reine Senken der Flagge reicht einigen der unten stehenden nicht aus. Sie wollen sie zusätzlich verbrennen und an ihrer Stelle Schwarz-Rot- Gold und die Westberliner Flagge hissen. Die Aussage vom "schön- sten Augenblick unseres Lebens" weist bereits darauf hin, daß der Fahnenakt auch als Symbol für das politische Ende des kommunisti- schen Regimes verstanden und gefeiert wurde. Auch die Forderung, daß "die Verbrecher wegkommen", weist wohl eindeutig in diese Richtung. Die Demonstranten haben offenbar auch sehr schnell be- griffen, wie der Fahnenmast auf dem Tor für ihre weiterreichenden Ziele genutzt werden konnte - nämlich durch das Hissen anderer, von ihnen akzeptierter Flaggen. Offenbar reichte dazu das Setzen von Schwarz-Rot-Gold nicht aus, denn das war ja damals auch (noch ohne das spätere Emblem) die offizielle Fahne der DDR. Die Forderung nach dem Berliner Bären ist deshalb wohl als Zusatz zu verstehen, wonach die gesamtdeutschen Farben sozusagen unter westdeutschem Vorzeichen stehen sollten. Wahrscheinlich ging es darum, gegen die Teilung der Stadt zu protestieren. Vor dem Hintergrund dieser politischen Einstellung ist auch die Eh- rung der beiden auf die Schultern gehobenen Männer zu sehen. Ihre Tat wird dadurch von den unten gebliebenen noch einmal symbolisch als eine Handlung dargestellt, die von ihnen mitgetragen wird. Das Fortsetzung des Zerstörungswerks an dem Fahnentuch weist in diesel- be Richtung. Während die Filmaufnahmen und Photos, die in dem kla- ren Bewußtsein der Demonstranten, gefilmt und photographiert zu werden, entstanden sind, lachende Menschen zeigen, spricht der Re- porter von der "wütenden Bevölkerung". Das Lachen in die Kamera 90 ist hier sicher einmal als Reaktion auf das Gefilmt-Werden zu verste- hen, zum anderen aber auch als Ausdruck der Freude, mit einer sym- bolischen Tat die eigene politische Haltung demonstrieren zu können. Der Hinweis des interviewten Demonstranten, er freue sich, den Fet- zen der roten Fahne "im freien Sektor" in Händen zu halten, verstärkt noch einmal den Eindruck der Ablehnung des kommunistischen Re- gimes bei gleichzeitiger Akzeptanz der westdeutschen Demokratie durch die Demonstranten. In der Literatur liegt der Augenzeugenbericht eines Mannes vor, der am 17. Juni die rote Fahne vom Brandenburger Tor heruntergeholt haben will.275 Es handelt sich dabei um den damals 22jährigen Last- wagenfahrer Horst Ballentin. Nach eigener Aussage war er am 17. Ju- ni drei Mal auf dem Brandenburger Tor. Danach ist es ihm und einem Mitstreiter beim ersten Mal zwar gelungen, die Fahne am Mast her- unterzuziehen, doch auf Grund von Warnrufen der unten stehenden hat er, noch bevor sie ganz gelöst war, das Brandenburger Tor wieder verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Beim zweiten Mal hätten er und ein anderer Mann mit Hilfe eines Messers die Fahne ganz ab- geschnitten und nach unten auf die Straße geworfen. Nach längerem Hin und Her habe er in einem dritten Anlauf eine Westberliner Bären- fahne auf Halbmast gesetzt. Weiter hochziehen konnte er die Fahne angeblich wegen des von der Ostseite einsetzenden Beschusses nicht. Bevor näher auf Details des Berichts eingegangen wird, ist anhand des Quellenvergleichs mit den visuellen und auditiven Quellen die grund- sätzliche Frage der Glaubwürdigkeit des Augenzeugen zu erörtern. Denn in einem wesentlichen Punkt widerspricht die Aussage Ballen- tins den Bild- u. Tonquellen: In der Literatur wird Ballentin eindeutig als der Mann identifiziert, der auf P164 auf der linken Bildhälfte einen anderen Mann mit hellem Hemd und dunkler Jacke auf den Schultern trägt.276 Der Mann hat den hellen Hemdkragen über seine Jacke ge- schlagen. Ballentin selbst trägt einen dunklen Monteuranzug. F384 zeigt aber zwei Männer auf dem Brandenburger Tor, die beide helle Hemdkragen über der Jacke tragen. Keiner von beiden trägt einen Monteuranzug. Der Bildeindruck stimmt nur mit dem Mann überein, den Ballentin auf den Schultern trägt und mit einem zweiten, ebenfalls auf Schultern getragenen Mann, der auf P164 einen Blumenstrauß hochhält. Nach Ballentin hat der von ihm getragene die Blumen be- kommen. Ganz offensichtlich hat hier die Erinnerung dem Augenzeu- gen einen Streich gespielt. Warum hätten andere den Mann mit dem Blumenstrauß auf Schultern tragen und ihm Blumen schenken sollen, wenn er nicht einer der beiden Männer gewesen wäre, die die Fahne 275) Hierzu u. im folg. Hildebrandt (1983), 89-98. Ganz ähnlich, aber nicht so ausführlich auch bei Leithäuser, 620f. 276) Hildebrandt (1983), 89 zeigt einen Ausschnitt von P164, auf dem Horst Ballentin abgebildet sein soll. 91 zwar nicht ganz haben lösen können, denen es aber immerhin gelun- gen ist, sie am Mast herunterzuziehen? Die Rundfunkreportage un- termauert den Verdacht von der Unzuverlässigkeit des Augenzeugen Ballentin. Denn der Interviewte spricht dort eindeutig von "zwei wei- teren Kameraden", die die Fahne endgültig gelöst hätten. 277 Wenn überhaupt, dann hat Ballentin erst zu diesen beiden gehört. An dem gezeigten Beispiel wird einmal mehr deutlich, in welchem Maße Augenzeugen, zumal dann, wenn sie aktiv an dem Ereignis be- teiligt waren, zur Überhöhung ihrer Taten neigen. Dabei ist es für die Geschichtswissenschaft irrelevant, ob dies ursprünglich bewußt oder unbewußt geschieht. Mit der Zeit glauben die Befragten wohl selbst an ihre Geschichte (retrograde Autosuggestion). Die an sich negative Erkenntnis führt aber sogar inhaltlich weiter. Denn jetzt wissen wir, daß höchstwahrscheinlich mehr als zwei Männer am Herunterholen der roten Fahne beteiligt waren. Damit entsteht durchaus der Ein- druck, daß die Aktion gegen das Symbol kommunistischer Macht auf einer breiteren Basis gestanden hat, als bisher angenommen werden konnte. Der Bild-Ton-Text-Vergleich zeigt, wie sehr die Bildquellen die Glaubwürdigkeit einer Schriftquelle erschüttern können. Dabei ergän- zen sich Bild- und Tondokument in ihrer Aussage. "Es sind jezt zwei weitere Kameraden hoch", sagt der Interviewte. Für sich allein ge- nommen bietet das noch keinen festen Anhaltspunkt. Erst in Verbin- dung mit der Bildaussage bekommt diese Passage einen eindeutigeren Sinn. Auf den Bildern ruht deshalb hier die Hauptlast der Interpretati- on. An dem dargelegten Beispiel wird deutlich, daß die "sub eventu" erfolgenden Bild- und Tonaufnahmen zur Korrektur und zur Ergän- zung der "post eventum" niedergeschriebenen Augenzeugenberichte sehr nützlich sein können. Nach Vollendung des Zerstörungswerks an der roten Fahne haben Demonstranten auf dem Brandenburger Tor konstruktive Zeichen ge- setzt. Um 14 Uhr sollen dort eine Berliner und eine halbe Stunde spä- ter drei schwarz-rot-goldene Fahnen gesetzt worden sein.278 Auch zu diesen Angaben steht die Aussage von Horst Ballentin im Wider- spruch. Er will die Berliner Bärenfahne angebracht haben, nachdem Schwarz-Rot-Gold bereits oben geschwenkt worden sei. 279 277) Ungefähr ab A2:53603 278) Der Polizeipräsident in Berlin - PhS, Meldungen der West- berliner Polizei zum 17. Juni 1953; Der Telegraf (18.6.53), 3; T26, IWF, 212f. nach B1:48284; T28, IWF, 217 nach B2:04148 279) Hierzu u. im folg. Hildebrandt (1983), 97 92 Vom Setzen schwarz-rot-goldener Fahnen auf dem Brandenburger Tor gibt es einige Photos und Filmaufnahmen, ein im Studio aufge- nommenes, offensichtlich ungeschnittenes Interview mit einigen De- monstranten und schließlich die Reportage eines Rundfunkreporters vor Ort.280 P167 zeigt einen Demonstrationszug, der auf breiter Front durch das Brandenburger Tor in Richtung Westsektor zieht. An seiner Spitze werden vier schwarz-rot-goldene Fahnen mitgeführt. Angeblich hat der Zug dabei das Deutschlandlied gesungen. 281 Einer der inter- viewten Demonstranten hat für sich in Anspruch genommen, den De- monstrationszug geführt zu haben. 282 Nach Aussage einer Demon- strantin habe der Anblick der Westberliner Bärenfahne oben auf dem Tor sie selbst und ihre Mitstreiter dazu angeregt, ihre Fahnen ebenfalls nach oben zu bringen. 283 Diese Fahnen hätten sie den ganzen Vormit- tag mit sich geführt. Mit ihrer Hilfe hätten sie den Demonstrationszug gesammelt. Die Demonstrantin spricht dabei nur von "unseren Fah- nen", ein anderer Demonstrant von "unseren Freiheitsflaggen"284. Ge- meint sind aber ganz eindeutig schwarz-rot-goldene Fahnen. 285 Der Bildeindruck wird also durch die Interviewaussage bestätigt: Die Demonstranten haben sich um die schwarz-rot-goldenen Fahnen ge- sammelt und sind mit ihnen von Ost nach West durch das Branden- burger Tor gezogen. Schwarz-Rot-Gold war zwar 1953 auch die Staatsflagge der DDR; die Bezeichnung als "Freiheitsfahne" ist aber wohl eindeutig so zu interpretieren, daß damit "Freiheit" im Sinne der westdeutschen Demokratie gemeint war. In diesem Zusammenhang ist beachtenswert, daß der Demonstrationszug nicht nur zum Branden- burger Tor marschiert ist, sondern durch dieses hindurch. Dabei spielt es keine Rolle, daß einer der interviewten Demonstranten die Führung für sich in Anspruch genommen hat. Entscheidend ist die freiwillige Entscheidung jedes einzelnen Demonstranten, den Fahnen auf dem beschriebenen Weg zu folgen. In diesem Handeln liegt ein doppelter Symbolcharakter. Indem die Menschen nicht nur zu dem an der Sekto- rengrenze gelegenen Tor sondern durch es hindurch auf die Westseite gegangen sind, haben sie den an der Zugspitze mitgeführten Fahnen eindeutig gesamtdeutschen Symbolcharakter zugewiesen. 280) F405 bis 410, P167 bis 172, jeweils IWF, 105, T26, IWF, 208-214 u. T28, IWF, 217f. 281) T28, IWF, 218, ungefähr nach B2:07655 282) T26, IWF, 213, ungefähr nach B1:48447 283) Hierzu u. im folg. T26, IWF, 213, ungefähr ab B1:49111; die Bärenfahne wird auch in T28, IWF, 217f. erwähnt. 284) T26, IWF, 213, ungefähr B1:51498 285) Vgl. IWF, 105 mit zahlreichen Belegstellen. 93 Aus den Bildern wird deutlich, daß die Fahnenträger eine breite Un- terstützung hatten. P167 zeigt die Fahnen zwar an der Spitze des De- monstrationszuges;286 dessen eigentliche Front ist aber wesentlich grö- ßer. Sie erstreckt sich über die gesamte Breite des Brandenburger To- res. Mit seiner Durchquerung hatte der Zug sein Ziel erreicht. Das Hinauftragen der Fahnen war eine Fortsetzung der Demonstration und gleichzeitig ihr Höhepunkt und Abschluß. Es ist deshalb nur folge- richtiges Handeln der Demonstranten gewesen, diese Aktion bis zum Schluß zu unterstützen. Im Bild wird diese Unterstützung besonders durch die Rettung der vom Osten her beschossenen Fahnenträger deutlich. 287 Nach der Aussage eines Demonstrationsteilnehmers haben die unten stehenden Demonstranten erst bei der Westberliner Polizei ein Sprungtuch angefordert und sich dann selbst beholfen, indem sie zwei Holzstangen (vielleicht Telephonmasten) miteinander verbunden und diese an das Brandenburger Tor angelehnt haben. 288 F410 zeigt, daß mindestens hundert Demonstranten um die Stange herumgestan- den haben dürften. In F409 strecken sich einem an der Stange herun- terhangelnden Mann hilfreiche Hände entgegen. 289 Die Bildquellen haben auch für das Setzen schwarz-rot-goldener Fah- nen auf dem Brandenburger Tor eine große Beweiskraft. Sie allein zeigen uns, daß der Demonstrationszug nicht nur zum Brandenburger Tor, sondern hindurch gezogen ist.290 In den Wortquellen fehlt dazu jeder ausdrückliche Hinweis. Offensichtlich war für die Demonstran- ten und Reporter das, was uns heute als symbolischer Akt erscheint, eine Selbstverständlichkeit. Die von Bodo Scheurig vertretene These, wonach Bilder auch das für die Zeitgenossen "scheinbar Unwesentli- che" festhalten291, bestätigt sich hier in der Praxis und erweist sich als historisch relevant. Die Bilder helfen uns auch, die Größe des Demon- strationszuges und die Unterstützung für die Fahnenträger besser ein- zuschätzen. Der Eindruck, auch diese Demonstration sei ein Bekennt- 286) A:54873 287) F410, IWF, 105 288) T26, IWF, 214 ab B1:52641 u. F410, IWF, 105 289) Die Zählung der Filmeinstellungen orientiert sich an der Reihenfolge für die Video-Edition. Für die Bildplatte sind die Einstellungen F408 bis 410 umgestellt worden! 290) Auch der Radioreporter in T28, IWF, 218 ab B2:07655 sagt lediglich, die Demonstranten seien "zum Brandenburger Tor" gezogen. 291) Scheurig, 63 94 nis Vieler zur Einheit Deutschlands gewesen, wird dadurch wesentlich gefestigt. Andernorts sind in Berlin jeweils zumindest eine Holzbaracke des Amtes für Kontrolle des Warenverkehrs292, ein Zeitungskiosk293, ein HO-Laden294 und eine mutmaßliche SED-Dienststelle295 von den De- monstranten zerstört worden. Auch ein umgestürzter Pkw296 und die Zerstörung eines Tisches und anderer Gegenstände297 wurden photo- graphisch dokumentiert. Gegenüber dem Geschehen am Potsdamer Platz sind diese Ereignisse aber längst nicht so ausführlich in Ton und Bild festgehalten worden. Weil diese spärlichen Zeugnisse über den reinen Tatbestand hinaus kaum weitere Schlüsse zulassen, spielen sie in der nachfolgenden Erörterung nur eine Nebenrolle. Am Potsdamer Platz sind bis ca. 9.30 Uhr drei Holz-Kioske auf östlicher Seite ange- zündet worden. 298 Am Eingang zur Leipziger Straße dürfte es sich wie in der Friedrichstraße um eine Kontrollstelle des Amtes zur Kontrolle des Warenverkehrs gehandelt haben. 299 An anderer Stelle war es ein Propagandakiosk der Nationalen Front.300 Der dritte Leichtbau war wohl ein reiner Zeitungskiosk.301 Schließlich haben die Demonstranten auch die Polizeiwache im Columbushaus gestürmt.302 Die dort ihren Dienst verrichtenden Volkspolizisten wurden samt ihren Waffen und sonstigen Ausrüstung an die Westberliner Polizei übergeben. Die reinen Fakten sind uns auch aus Schriftquellen bekannt. Aus den Filmaufnahmen, Photos und Tonquellen erschließt sich darüber hinaus das Umfeld, aus dem heraus diese Gewalttaten verübt worden sind. Das gilt für Details im Ablauf der Aktionen, für zeitlich naheliegende 292) F317 bis 336, P139f., jeweils IWF, 91 293) P219, IWF, 126 294) P214 bis 217, IWF, 126 295) P154 bis 156, IWF, 97 u. P220, IWF, 127 296) P197 bis 201, IWF, 118 297) F365 bis 367, P150, jeweils IWF, 97 298) Hierzu u. im folg. vgl. IWF, 54. 299) Vgl. F83 bis 93, P23 bis 25, jeweils IWF, 54 300) Vgl. F94 bis 104, P26 bis 30, jeweils IWF, 57 301) Vgl. F114 bis 125, P32 bis 36, jeweils IWF, 59 302) Hierzu u. im folg. vgl. IWF, 60 95 Demonstrationen und für die Frage nach der Akzeptanz der Aktionen durch größere Demonstrantenzahlen. Die drei genannten Kioske sind eindeutig vor dem massiven Eingrei- fen der Sowjetarmee angezündet worden. Diese Brandstiftungen sind allenfalls als Antwort auf Aktionen der VP zum Schutz des Hauses der Ministerien zu verstehen. 303 Tatsächlich hat ein interviewter De- monstrant diese Verbindung gesehen. Das Anzünden der Holzbuden sei von den Arbeitern verübt worden, die "am Ministerium eben nie- dergeknüppelt" worden seien. 304 Die Stellung der Demonstranten zur Einheit Deutschlands wird unter anderen Gesichtspunkten klarer. Während die Zerstörung des Propa- gandakiosks und der Zeitungsbude hauptsächlich die Ablehnung des DDR-Sozialismus dokumentieren, ist die Zerstörung der Kontroll- stelle des Amtes zur Kontrolle des Warenverkehrs, die de facto ein Grenzkontrollpunkt gewesen sein dürfte, gleichzeitig eine Demon- stration gegen die bestehende Grenze gewesen. Die Brandstiftung an dem entsprechenden Holzhaus in der Friedrichstraße305 unterstützt die- sen Eindruck. P23 zeigt ca. 80 Beifall klatschende, winkende und Holzknüppel schwingende Demonstranten vor dem Hintergrund des in hellen Flammen stehenden Kiosks. Sie alle haben sich der Kamera bewußt zugewandt. Ihr Verhalten soll offensichtlich zeigen, daß sie sich zu der Brandstiftung bekennen. Am Beispiel des Propagandakiosks sehen wir, daß die dortige Brand- stiftung nicht blindwütig war. Bevor der Kiosk in Brand gesteckt wird, tragen die Demonstranten Einrichtungsgegenstände wie Stühle und Tische heraus und bringen sie in den Westsektor.306 Offenbar ging es ihnen um eine Demonstration, bei der aber eine unnötige Beschädi- gung von Sachwerten vermieden werden sollte. In F95 sind es etwa 70 Demonstranten, die sich vor dem Kiosk versammelt haben. Über die beschriebenen Details erfahren wir nur etwas aus den Bildquellen. So wissen wir auch nichts über das weitere Schicksal der offensichtlich geschonten Möbel. Die geschilderten Begleitumstände lassen aber die Brandstiftung in einem anderen Licht erscheinen als die Kenntnis des reinen Faktums. Neben der schon geschilderten Schonung von Sach- werten ist das Wegtragen in den Westsektor ein weiteres Detail, das die politische Heimat der Demonstranten im Westen vermuten läßt. 303) Vgl. F13 bis 34, IWF, 36 304) T11, IWF, 181 ab A2:43072 305) F317 bis 336, P139f., jeweils IWF, 91 306) F94 bis 96, IWF, 57 96 Die Erstürmung der Polizeiwache im Columbushaus ist dagegen rela- tiv gut in den Polizeiberichten dokumentiert.307 Es gibt dazu auch eine Tonaufnahme (T11). In den Aufzeichnungen der Westberliner Polizei ist uns eine detaillierte Liste derjenigen Gegenstände überliefert, die die Demonstranten dabei der Behörde übergeben haben. Darunter be- fanden sich u.a. ein Panzerschrank, eine verschlossene Geldkassette, 4 Pistolen und Munition, Akten, Karteien und Karten, aber z.B. auch Büromaterial sowie Brotbeutel mit Inhalt und eine FDJ-Fahne.308 Die Aufzählung zeigt, daß die Polizeiwache wie der Propagandakiosk offensichtlich weitgehend ausgeräumt worden ist. Die Übergabe auch belangloser Gegenstände an die Westberliner Polizei offenbart wie- derum, wie tief die Akzeptanz der westdeutschen Behörden bei den Demonstranten verwurzelt war. Sie steht in krassem Gegensatz zu der offenkundigen Ablehnung des ostdeutschen Systems. Während F137 ca. 150 Personen zeigt, die vor dem Columbushaus stehen, die Kapitulation der VP beobachten und aus dem Fenster eini- ge der oben genannten Gegenstände zugeworfen bekommen, spricht der Rundfunkreporter in T11 von 5.000 Demonstranten, die dem Er- eignis zujubeln309. Bei der Beurteilung von T11 macht sich jedoch wieder die Unsicherheit bezüglich vermeintlicher Tonschnitte be- merkbar. Während im Hintergrund Ja-Rufe und Klatschen zu hören sind, macht der Reporter die Zeitangabe 10.11 Uhr und erwähnt den Jubel der angeblich 5.000 um das Columbus-Haus versammelten De- monstranten. Wenn dieser Jubel wirklich von der Begrüßung der VP- Kapitulation herrührt, muß man wohl nach A2:41676 einen Tonschnitt annehmen, denn es folgt unmittelbar ein Interview mit einem Demon- stranten, der gerade zwei VP-Männer an die Westberliner Polizei übergeben hat. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, daß die Stimme des Reporters nach der genannten Stelle einen anderen Klang hat. Quellenimmanent ist die Authentizität des im Hintergrund hörba- ren Jubels demnach nicht sicherzustellen. Man wird aber wohl davon ausgehen können, daß bei dem nachträglichen Zusammenschnitt dies- bezüglich keine Manipulation vorgenommen worden ist. Die Wahr- scheinlichkeit spricht dafür, daß der im Hintergund hörbare Jubel aus- brach, als sich das Fenster im ersten Stock öffnete und die Aufgabe der Vopo-Dienststelle für die unten Stehenden offenkundig wurde. Vielleicht galt der Jubel auch bestimmten heruntergeworfenen Gegen- ständen. 307) Hierzu u. im folg. IWF, 62 308) Der Polizeipräsident in Berlin - PhS, Meldungen zum 17. Juni 1953 in Berlin 309) Hierzu u. im folg. ab A2:41081 97 Die Zahlenangabe des Reporters ist nur schwer zu beurteilen. Sicher waren zu der fraglichen Zeit sehr viele Demonstranten auf dem Areal des Potsdamer Platzes. Unmittelbar unter dem Fenster der VP-Wache haben aber nur gut 150 Menschen gestanden. Von ihnen dürfte auch der Jubel ausgegangen sein. Dieser Jubel ist das erste Indiz für die breitere Zustimmung bezüglich der Erstürmung der Polizeiwache. Das ist für uns die Kernaussage von T11. Ein Vergleich der oben zitierten Liste mit den Filmeinstellungen 135 bis 141 zeigt darüber hinaus, daß zumindest einige der aus dem Fenster geworfenen Gegenstände wie Regenmäntel und Telephon offensichtlich später an die Westberliner Behörden übergeben worden sind. Die aus diesem Umstand abgelei- tete Anerkennung der westlichen Organe erstreckt sich also nicht nur auf den direkt in die Polizeiwache eingedrungenen Personenkreis, sondern zumindest auch auf Teile der vor dem Haus wartenden Men- ge. Immerhin sind nicht alle "Lederol-Regenmäntel" auch bei der Westberliner Polizei abgegeben worden. Während im Bild vier Mäntel aus dem Fenster geworfen werden, verzeichnet der Polizeibericht nur zwei. Am Abend des 17. Juni sind das Columbushaus 310 und das Haus Va- terland 311 in Brand gesteckt worden. Diese Zerstörungsakte waren of- fensichtlich ein letzter Protest. Vor allem diese Aktionen sind als pu- rer Vandalismus bezeichnet worden. Aber auch sie sind noch auf die Sympathie von jeweils über einhundert Demonstranten gestoßen. Ihre offenkundige Sinnlosigkeit ist aber auch ein Ausdruck der Ohnmacht der Demonstranten gegenüber dem im Ostsektor verhängten Ausnah- mezustand. Die Untersuchung hat gezeigt, daß die Bildquellen das Spektrum der symbolischen Handlungen im Vergleich zu den Schriftquellen umfas- sender beinhalten. Diese Erkenntnis ist jedoch nicht verallgemeiner- bar. Sie gilt vielmehr ausdrücklich für ein Ereignis, das vorrangig durch öffentliche Demonstrationen gekennzeichnet war. Nur derart öf- fentliche Handlungen lassen sich ohne größeren technischen Aufwand auf Bild und Ton aufnehmen. Schon eine spiegelnde Schaufenster- scheibe setzt der (Audio-)Vision im Normalfall die Genze. Die festge- stellte Gleichzeitigkeit der Übermittlung verschiedenartiger Informa- tionen stellt einen qualitativen Unterschied zu den Schriftquellen dar, der zu einem besseren Verständnis der Kausalität und der Zusammen- hänge von Teilvorgängen führt. In bezug auf die historisch-inhaltliche Fragestellung gilt dies vor allem für die Parallelität der Ablehnung kommunistischer Repräsentanten und Symbole bei gleichzeitiger Ak- zeptanz westlicher Offizieller und westlicher Einrichtungen unter dem Beifall (oder zumindest unter Duldung) der Menge. 310) F252 bis 228, P126 bis 133, jeweils IWF, 83 311) F290 bis 292, P134 bis 138, jeweils IWF, 86 98 Bezüglich des Erfassens der Atmosphäre hat sich vor allem am Be i- spiel der Gewaltanwendung gegen Personen gezeigt, daß die Härte der Auseinandersetzungen in den Schriftquellen zum Teil verharmlost worden ist. Das Herunterholen der roten Fahne vom Brandenburger Tor hat sich als hervorragendes Beispiel für die Ergiebigkeit kombinierter Aus- wertung von Bild-, Ton- und Textquellen erwiesen. Besonders pla- stisch ist der Vorteil der Sub-Eventu-Aufnahme hervorgetreten. Dar- über hinaus hat sich hier ein Hinweis darauf gefunden, daß das für die damaligen Zeitgenossen Unwesentliche, das mit zeitlichem Abstand unter bestimmten historischen Fragestellungen doch bedeutungsvoll erscheint, anhand der Bilder besser nachzuvollziehen ist. Es sind vor allem zwei quellentheoretische Erkenntnisse, die sich aus der Analyse der symbolischen Handlungen ergeben. Die untersuchten Beispiele zeigen deutlich, daß sich die verschiedenen Quellengattun- gen sinnvoll ergänzen. Das gilt sowohl in einem quantitativ-additiven Sinn als auch im Sinn gegenseitiger Verifizierung oder Falsifizierung. Außerdem erweisen sich möglicherweise die Film-, Photo- und Ton- quellen in einem Grenzbereich historischer Erkenntnis sogar als un- entbehrlich. Während bislang die symbolischen Handlungen kleinerer Demonstrantengruppen als schwer interpretierbare Einzeltaten er- schienen sein mögen, so tritt mit Hilfe der Bild- und Tonaufnahmen das Wechselspiel zwischen den auf verschiedene Weise aktiv werden- den Demonstranten eindrucksvoll zutage. Wird dadurch eine weiter- gehende Ausdeutung des historischen Ereignisses möglich? Am Abschluß der historisch-inhaltlichen Betrachtungen über die sym- bolischen Handlungen der Demonstranten steht die Vermutung, daß die untersuchten Willensbekundungen auf eine weit verbreitete Ab- lehnung des kommunistischen Systems hindeuten. Gleichzeitig gibt es ernstzunehmende Indizien für eine hohe Akzeptanz des westdeutschen Systems. Unter Anerkennung der eingangs erwähnten Prämissen sind damit Elemente im Handeln der Demonstranten sichtbar geworden, die eine durchaus freundliche Haltung gegenüber einer möglichen deutschen Wiedervereinigung unter westdeutschem Vorzeichen er- kennen lassen. 6.5 Verbale Willensbekundungen Verbale Willensbekundungen, die über die Forderung nach Normsen- kung hinausgingen, hat es bereits am 16. Juni vor dem Haus der Mini- sterien gegeben. Mindestens ein Sprecher der Demonstranten hat dort 99 freie Wahlen gefordert.312 Robert Havemann soll den Menschen dar- aufhin zugerufen haben: "Ihr wollt die Einheit Deutschlands"313. Wolle und Mitter haben in ihrer Arbeit gezeigt, daß diese Forderung bereits im Vorfeld der Berliner Ereignisse, verstärkt nach Verkündung des Neuen Kurses, erhoben wurde.314 Arbeiter des Kabelwerks Köpenick forderten am Morgen des 17. Juni in einer Entschließung unter ande- rem freie Wahlen und die Wiedervereinigung Berlins;315 die Liste ließe sich fortsetzen. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang noch das Telegramm der Werktätigen des Kreises Bitterfeld an die Regie- rung der DDR, in dem der Rücktritt der Regierung, die Zulassung westdeutscher Parteien, freie Wahlen und die Abschaffung der Zo- nengrenzen gefordert worden ist.316 Im Rahmen der Film-, Photo- und Tonquellen liegt der Schwerpunkt der verbalen Willensbekundungen natürlich auf den Tonquellen. Transparente mit der Forderung nach freien Wahlen sind aber auch im Bild zu sehen. In F108 bis 110 formiert sich am Potsdamer Platz ein mehrhunderköpfiger Demonstrationszug hinter einem kleinen Schild mit der Aufschrift "Für freie Wahlen!". Unter demselben Motto stand die SPD-Kundgebung am Abend des 17. Juni auf dem Oranienplatz (Westberlin), an der offenkundig auch viele Demonstranten teilge- nommen haben. 317 In P194 tragen schließlich zwei Männer ein großes Schild mit der Aufschrift "Freie Wahlen". Hingegen ist ein von Ger- hard Beier abgedrucktes Photo mit der gleichen Forderung offensicht- lich retuschiert und darf nicht in die Beweisführung aufgenommen werden. 318 Elf Tonaufnahmen beinhalten Aussagen von Demonstranten über de- ren Motive und Absichten. Diese Bekundungen begegnen uns in Form von Einzel- und Gruppen-Interviews, als Beifall Umstehender zu sol- chen Bekenntnissen, in Form von Liedern und Parolen und schließlich als teilweise vorformulierte, im Rundfunkstudio auf Band gesproche- 312) Hierzu u. im folg. Beier, 103, der auszugsweise aus einem Bericht des RIAS zitiert 313) Ebenda 314) Wolle/Mitter, 62-77 315) Brant, 125 316) Zuletzt abgedruckt bei Beier, 17 317) IWF, 112f. 318) Beier, 218; darauf verweisen vor allem die offenkundig nachgezeichneten Ränder der Haltestange und des Transpa- rents. 100 ne Erklärungen. Eine der Aufgaben der nachfolgenden Untersuchung ist es, daraus auf die jeweilige Einstellung zur Deutschen Frage zu schließen. Dabei wird sich zeigen, daß die Einheit Deutschlands am 17. Juni einen hohen Stellenwert hatte. Eine erste Bewertung der Äußerungen Jakob Kaisers, Grotewohls und Ulbrichts ist für diesen Zusammenhang bereits vorgenommen worden. Die diesbezüglichen Ergebnisse sind an dieser Stelle selbstverständ- lich auch als verbale Willensbekundungen zu berücksicht igen. Der Schwerpunkt der folgenden Untersuchung liegt auf der Analyse von Tonaufnahmen westlicher Rundfunkanstalten. Dabei ist zu be- denken, ob vorwiegend solche Demonstranten Interviews gegeben ha- ben, die dem westlichen Regierungssystem von vornherein freundlich gegenüberstanden. Um hier einer möglichen Einseitigkeit vorzubeu- gen, sollen die Tonquellen auch im Kontext mit den anderen verfüg- baren Quellengattungen gesehen werden. Die Tonaufnahmen sind manchmal spontan, manchmal offenkundig nach vorheriger Absprache zwischen Interviewtem und Interviewer entstanden. Der Grad der Spontaneität kann nur aufnahmeimmanent erschlossen werden; oft ist er nicht eindeutig zu bestimmen. Wenn es Vorabsprachen gegeben hat, so dürften dort in der Regel die im Inter- view zu berührenden Themen behandelt worden sein. Vielleicht hat in diesem Rahmen der jeweilige Rundfunkreporter oder -redakteur dem Interviewten die eine oder andere Forderung in den Mund gelegt - ei- ne Forderung, auf die der Interviewte von selbst gar nicht gekommen wäre. Für diesen Fall gilt die gleiche Frage wie im Falle des bewußten Gefilmt-Werdens: Hätten die Interviewten auf Aufforderung etwas gesagt, zu dem sie nicht auch innerlich gestanden hätten? Die einzelnen Willensbekundungen lassen sich wie folgt klassifizie- ren: als eindeutige oder indirekt zu erschließende Forderungen nach Verwirklichung der deutschen Einheit, als Bekundungen grundsätzli- cher Unzufriedenheit mit dem kommunistischen System bei gleich- zeitiger hoher Akzeptanz westlicher Organe, als Wünsche nach einem materiell besser gestalteten Leben oder schlicht als allgemeine und teilweise diffuse Unmutsbekundungen. Im folgenden werden die in Frage kommenden Äußerungen in zwangloser Folge dargestellt und interpretiert. Die Gleichartigkeit der Motive und Forderungen, obwohl aus den unterschiedlichsten Situa- tionen und auf verschiedendste Weise artikuliert, kommt so besonders eindrucksvoll zur Geltung - gerade wegen der nicht zu vermeidenden Wiederholungen. Am Ende der Erörterungen steht der zusammenfas- sende Quervergleich. 101 Die Tonaufnahme Nr. 26319 bietet das wohl komplexeste Beispiel für die Forderung nach freien Wahlen und nach Wiedervereinigung bei offenkundiger Absprache mit den RIAS-Redakteuren. Es ist nicht nachträglich geschnitten worden. Das Problem der Manipulation durch Tonschnitt kann deshalb hier mit hoher Wahrscheinlichkeit aus- geklammert werden. Zu Beginn der Aufzeichnung verliest ein Demonstrant eine Proklama- tion, die er mit den Worten "Deutsche Arbeiter, deutsche Bauern!"320 einleitet. Seinen Worten ist zu entnehmen, daß er und die anderen im Studio anwesenden Demonstranten am Vormittag an einer dann von sowjetischen Truppen aufgelösten Kundgebung im Lustgarten teilge- nommen haben. 321 Der Redner bezeichnet sich und seine Mitstreiter im Studio als "Delegation". Nach seinen weiteren Ausführungen handelte es sich bei den Demonstrationen um einen "Streit um die Einheit Deutschlands und um ein besseres Leben". 322 Am Ende seiner knapp dreiminütigen Rede richtet der Mann erneut "folgende Bitte an Euch Bauern und Arbeiter in der Ostzone sowie in den Berliner Sektoren: Laßt uns nicht im Stich. Haltet aus und streitet323 bis zum letzten, bis die Einheit Deutschlands vollzogen und unsere Punkte von den regie- renden Mächten anerkannt werden."324 Die zweimalige ausdrückliche Nennung der Arbeiter und Bauern als Zielgruppe des Aufrufs erweckt den Eindruck eines besonders kla s- senbewußten Redners. Doch schon die umfangreiche Augenzeugenbe- fragung von Manfred Hagen hat zu dem Eindruck geführt, nationale und klassenbetonte Ziele seien am 17. Juni `zusammengeflossen' und schlössen einander nicht aus.325 Hinter der Adressierung des Aufrufs kann sich auch die psychologisch begründete Absicht verbergen, ge- 319) T26 - Delegation im RIAS: Nicht gesendeter Aufruf. Stu- dio-Aufnahmen, Augenzeugenbericht, Forderungen. Aufge- nommen nach 13 Uhr, IWF, 208-214 320) Ab ca. B1:32920 321) Hierzu u. im folg. ab B1:35659 322) Ab ca. B1:34124 323) Evtl. heißt es anstelle von "streitet": "streiket". 324) Ab ca. B1:36442 325) Hagen (1992), 63. Der Autor schließt auf diese Verknüp- fung aus den Liedern der Demonstranten, die sowohl die "im SED-Staat verfemte, wegen ihrer ersten Strophe als nationali- stisch diffamierte Nationalhymne" als auch die "Internationale" und "Brüder zur Sonne, zur Freiheit" gesungen haben. 102 rade diejenigen Bevölkerungsschichten anzusprechen, die die SED be- sonders zu vertreten vorgab. Der Redner verwendet zwar nicht die Formel aus der Präambel des Grundgesetzes von der Vollendung der Freiheit und Einheit Deutsch- lands in freier Selbstbestimmung. Er verlangt aber: "Erstens: freie Wahlen in Groß-Berlin, eingeschlossen die DDR. Zweitens: freien Mund und freie Propaganda für jeden deutsch Denkenden auf öffentli- chen Straßen und Plätzen. Drittens: Rücktritt der Regierung. Viertens bitten wir den Kommandanten Dibarova von der russischen Armee, uns in unseren Streitigkeiten, die eine reine deutsche und eine reine Berliner Angelegenheit ist [sind], nicht mit Waffen aufzureizen. Fer- nerhin bitten wir die Kameraden vom Westen, uns jeder Zeit und Stunde eine wahre Hilfe bereitzustellen."326 Die Forderungen nach freien Wahlen und nach Redefreiheit, verbunden mit dem Beistands- Appell an die "Kameraden im Westen" beinhalten eine hohe Akzep- tanz der westlichen Grundwerte. Dafür spricht auch ganz allgemein das freiwillige Auftreten des Sprechers im RIAS als einem Sender, der der offiziellen westlichen Linie besonders verpflichtet war. Auch die mehrfachen Hilfestellungen und Anweisungen aus dem Re- gieraum und durch den im Aufnahmeraum offensichtlich mit anwe- senden Redakteur trüben den Eindruck einer autonomen Willensbe- kundung des Demonstranten nicht. Eine erste Hilfe gibt der Redak- teur, als der Sprecher stockt, weil ihm offensichtlich ein Wort nicht einfällt. Der Sprecher sagt: "Unsere Regierung hat uns schmählich betrogen und hat ihre ..." Nach einigen Sekunden sagt der Redakteur: "Versprechungen", und der Sprecher fährt fort: "... Versprechungen keineswegs gehalten."327 Zu einem späteren Zeitpunkt kommt die Auf- forderung aus der Regie: "Bitte jetzt die Punkte der Reihe nach."328 Der Sprecher antwortet mit "Jawohl" und zählt die offensichtlich vor- her abgesprochenen Punkte auf. In diese Aufzählung fällt aus der Re- gie der Zuruf: "Freie Wahlen". 329 Der Redner fordert daraufhin "freie Wahlen im gesamt-, in der gesamten DDR sowie in Groß-Berlin ein- schließlich Ost-West."330 Doch damit hat er im wesentlichen nur wie- derholt, was er davor bereits gesagt hatte, was der Aufmerksamkeit der Regie aber offensichtlich entgangen war. Denn schon unter Punkt eins seines Forderungskataloges hatte er verlangt: "Freie Wahlen in 326) Ab ca. B1:37456 327) Ab ca. B1:34878 328) Ab ca. B1:37273 329) Ab ca. B1:38723 330) Ab ca. B1:38748 103 Groß-Berlin, eingeschlossen die DDR."331 Auf die Aufforderung hin hat er zusätzlich noch freie Wahlen "einschließlich Ost-West" gefor- dert, also offensichtlich freie Wahlen im gesamten Deutschland. Vor- rangig war ihm aber wohl das Verlangen nach freien Wahlen in Mit- teldeutschland und damit nach grundlegenden politischen Verände- rungen in der DDR. Ist der Wunsch nach Veränderung aber vielleicht doch weiter gegan- gen? Galt er auch für das besonders hervorgehobene "Groß-Berlin", also auch für Westberlin und damit für die westdeutsche Demokratie? Tritt dieser Umstand um so deutlicher hervor mit der im zweiten An- lauf ausgesprochenen Forderung nach freien Wahlen "einschließlich Ost-West"? Höchstwahrscheinlich dürfen die Aussagen des Sprechers nicht so formal-logisch interpretiert werden. Mit hoher Sicherheit ging es ihm und den anderen im Studio anwesenden Demonstranten vorrangig um freie Wahlen in der DDR und in Ostberlin - und damit um einen fun- damentalen politischen Wandel. Die Forderung nach umfassenderen freien Wahlen, die auch Westberlin und das Bundesgebiet einschlie- ßen sollten, war aber offenkundig vom Gedanken der Wiedervereini- gung getragen. Freie Wahlen in Gesamtdeutschland standen Anfang der fünfziger Jahre nach westlicher Lesart eben ganz allgemein für die Wiedervereinigung Deutschlands unter einem westlichen Regierungs- system. Der Demonstrant im Studio hat diese Sichtweise mit eigenen Worten zum Ausdruck bringen wollen. Unausgesprochen schließen die geäußerten Wünsche deshalb auch die Wiedervereinigung ein. Auf eine Aufhebung der Trennung Berlins scheint der Redner besonderen Wert gelegt zu haben. Die Anweisungen aus der Regie haben dem Sprecher wahrscheinlich keine unfreiwilligen Willensbekundungen abverlangt. Sie erscheinen vielmehr als Erinnerungshilfen für die Erwähnung vorher abgespro- chener Punkte. Das gilt auch für eine letzte Regieanweisung zum Stichwort Gewaltlosigkeit.332 Der Redner in T26 ist nicht der einzige, der seine Forderungen aus der Kundgebung im Lustgarten ableitet. In T7 333 berichtet ein Demonstrant 331) Ab ca. B1:37356 332) Ab ca. B1:39261. Anscheinend hatten sich Demonstranten und Redaktion auf einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit geeinigt. Die Regie erinnert den Redner daran, und dieser geht anschlie- ßend kurz auf das Thema ein, indem er zu Disziplin und ord- nungsgemäßem Verhalten aufruft. 333) T7 - Augenzeugen berichten; Studio-Interviews im RIAS, wohl nachmittags, IWF, 165-173 104 folgendes: "... und wir als Spitze, wir zogen weiter zum Lustgarten. Und da hat unser Redner die Vorschläge gemacht, wir wollten [einen] Generalstreik machen, eine Absetzung der SED-Regierung, freie Wahlen für ganz Deutschland und die Lohnerhöhung und die HO- Senkung um 40% ..."334. Gegenüber T26 werden hier noch Forderun- gen nach Generalstreik, Lohnerhöhung und HO-Preissenkung vertre- ten. Daß auf der Kundgebung im Lustgarten der Generalstreik ausge- rufen worden ist, berichtet ein Mitglied der dort offensichtlich ge- wählten Streikleitung auch in T17.335 Ganz offensichtlich sollten dem- nach die politischen und wirtschaftlichen Forderungen mit dem ge- werkschaftlichen Kampfmittel des Generalstreiks durchgesetzt wer- den. T7 läßt damit einen umfangreicheren Forderungskanon erkennen als T26. Dort beschränkt sich der Sprecher auf die politischen Forderun- gen. Vielleicht ist diese Beschränkung auf Absprachen mit den Rund- funkredakteuren zurückzuführen. Inhaltlich ergeben sich zwar keine Konsequenzen in bezug auf unsere Fragestellung; quellentheoretisch ist es aber interessant zu sehen, wie Vorabsprachen eine `Filterwir- kung' haben können. T7 bietet somit einen Anhaltspunkt dafür, daß die Rundfunkredakteure den Redner in T26 in irgend einer Form dazu bewegt haben könnten, sich in seinem Bericht auf vermeintlich we- sentliche Punkte zu beschränken. Eine andere Aussage, die der in T26 durchaus ähnelt, stammt von ei- nem fünfzehnjährigen, auf der Straße interviewten Demonstranten in T16336. Er durchquert in einer größeren Gruppe den Französischen Sektor.337 "R.: Es ist jetzt genau zwölf Uhr, wir sind auf der Ruppiner Chaussee, unmittelbar vor der Sektorengrenze zum russischen Sektor. Und wie- der kommt der nächste Demonstrationszug. Wo kommen Sie her? I.: Vom Krankenhaus Hennigsdorf. 334) Ab A2:9420 335) Ab ca. B1:6234 336) T16 - Für die Einheit Deutschlands; Reportage mit Inter- views, Ruppiner Chaussee, 12 Uhr, IWF, 190f. 337) Ab ca. B1:1146. Die Tonaufnahme Nr. 16 besteht aus meh- reren, offensichtlich durch Tonschnitte voneinander getrennten Interviews. Die Ortsangabe "Französischer Sektor" ergibt sich aus den einleitenden Worten der Reporterin. Höchstwahr- scheinlich gilt sie für alle unter T16 aufgeführten Interviews. Eine letzte Sicherheit gibt es dafür jedoch nicht. 105 Wir haben mehr Schwierigkeiten gehabt wie die anderen ... Panzersperren mußten wir durchgehen. Drei Sperren haben wir durcharbeiten müssen. 338 R.:Jetzt muß ich erst mal erzählen, was auf Eurem Schild draufsteht: Streik, 40-prozentige Preissenkung HO, freie Wahlen, Unterschrift: Krankenhausbau Hennigsdorf. Und was hat man für Sperren aufge- baut bei Ihnen? I.: Ja, Russe mit, Russe mit Polizei. ... mit deutscher Polizei, jawohl. Mit deutscher Polizei, ging auf uns los, Deutsche gegen Deutsche, das Schwein.339 R.: Sag mal, wie alt bist denn Du? I.: Fünfzehn Jahre. R.: Und wofür demonstrierst Du jetzt? I.: Für die Einheit Deutschlands, damit wir alle zusammen sind und nicht die Hälfte Arbeiter im Osten und die Hälfte im Westen. (Rufe Umstehender:) Bravo ... (Ruf eines Einzelnen:) Ein besseres Leben. (Ruf eines Einzelnen:) Ein einig Volk von Brüdern. I.: Sie müßten sich wohl schämen, daß sie [sich] an der Grenze hin- stellen, auf uns mit Gewehren drauf zugehen. 340 (Weiterer Interviewter:) Das sagen Sie man, daß die gestanden haben und auf uns schießen wollten. So was haben wir noch nicht erlebt, daß Deutsche auf Deutsche schießen wollen." R.: Was sind Sie von Beruf? I.: ... Bauarbeiter.341 338) Hier evtl. Tonschnitt (B1:684) 339) Hier evtl. Tonschnitt (B1:1146) 340) Hier evtl. Tonschnitt (B1:1644) 341) Hier wohl Tonschnitt (B1:1846) 106 Als Ingenieur habe ich mich angeschlossen der Masse, weil ich mich mit der Arbeiterschaft solidarisch fühle. Und ich muß sagen, daß be- sonders die Frauen in meiner Nähe einen besonderen Mut bewiesen haben beim Durchbruch durch die Sperre von Polizisten und von Rus- sen mit Maschinenpistolen. R.: Wie alt sind Sie? I.: Achtundsechzig. R.: Und wofür demonstrieren Sie denn nun? I.: Na, für die Einheit Deutschlands in Freiheit. T16 ist in diesem Zusammenschnitt im Archiv des SFB, vormals NWDR, überliefert. Zweifellos befinden sich darin mehrere Ton- schnitte.342 Es ist aber anzunehmen, daß die für die Tonbearbeitung verantwortlichen Redakteure die Authentizität des Aufnahmeortes wenigstens ungefähr gewahrt haben und daß es sich hier um Stimmen handelt, die zwar nicht nur aus einer einzigen Gruppe stammen, aber doch von Demonstranten, die aus Richtung Hennigsdorf ins Stadtzen- trum ziehen wollten. Für diese Annahme spricht ganz eindeutig die Erwähnung der von den Demonstranten überwundenen Sperren in je- dem vermuteten Teilstück der Reportage. Im Gegensatz zu dem Ingenieur, der die Grundgesetzpräambel von der "Einheit Deutschlands in Freiheit" zitiert und damit eindeutig Stellung bezieht, sind die Meinungsäußerungen der Arbeiter komplexer. Der fünfzehnjährige Junge fordert zwar die Einheit Deutschlands, begrün- det sie aber mit der von ihm für erforderlich gehaltenen Einheit der Arbeiterschaft. Für seine Aussage erntet er den Beifall der Umstehen- den. Es geht allerdings nicht klar hervor, ob diese Zustimmung sich wirklich auf alle Details der Aussage bezieht. So ruft ein anderer in den Applaus hinein: "Ein einig Volk von Brüdern!" Unabhängig da- von, ob er sich des Ursprungs dieses Zitats343 bewußt war, hat er damit ein umfassenderes Einheitsbekenntnis abgegeben. Auch die Empö- rung über ostdeutsche Sicherheitskräfte, die den Demonstranten für den Fall des Grenzübertritts offensichtlich Schußwaffengebrauch an- gedroht hatten, trägt eindeutig nationalen Charakter. Der Zuruf "Ein 342) Z.B. bei B1:1146, B1:1644 und B1:1846; evtl. auch bei B1:00684 343) Schiller, Wilhelm Tell II,2: "Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, In keiner Not uns trennen und Gefahr". 107 besseres Leben" deutet auf den daneben vorhandenen materiellen Hintergrund des Aufstandes hin. T7 beinhaltet auch den Bericht einer Ostberliner Arbeiterin344: "Die Volkspolizei, die wollte uns noch gut zureden, doch wieder zurückzu- gehen zur Arbeit und vernünftig zu sein, die Normerhöhung würde herabgesetzt werden und - aber von den freien Wahlen hatten sie uns nichts gesagt. Und darum geht es ja an und für sich. Und dann sind wir weitergelaufen und haben unterwegs auch eben bekanntgegeben, was wir verlangen, ..."345 Auf die Reporterfrage, wie die Demon- stranten ihre Forderungen artikuliert hätten, antwortet die Frau: " ... in ... Sprechchören haben wir eben bekanntgegeben, daß wir keine HO haben wollen, und wir wollen Frieden haben und vor allen Dingen zu essen und Freiheit, das vor allen Dingen."346 Der Reporter faßt nach und fragt: "Gestern war eine Delegation hier bei uns im RIAS und hat uns vier Punkte der Forderungen der De- monstranten genannt, das waren die Preisherabsetzung bei der HO um 40%, die Senkung der Normen, die Absetzung der Regierung und die Forderung nach freien Wahlen. Sind diese Punkte heute von den De- monstranten noch stärker vertreten worden wie gestern?"347 Darauf antwortet die Demonstrantin: "Ja, noch stärker, möchte ich sagen. Denn so, wie sie uns heute behandelt haben, mit Gummiknüppel und Panzer, aufgefahren mit Maschinengewehre[n] und alles ..." An sich sei es bei der Demonstration um freie Wahlen gegangen, sagt die Demonstrantin zuerst. Aber bevor sie diese Aussage noch einmal bekräftigt ("Freiheit, das vor allen Dingen"), spricht sie auch von dem Wunsch nach Frieden und davon, "vor allen Dingen zu essen" zu ha- ben. Hier wird wieder wie in T16 und T26 die Verknüpfung zwischen dem Wunsch nach freien Wahlen und dem Streben nach einem mate- riell besseren Leben deutlich. Die Demonstranten waren offensichtlich der Überzeugung, letzteres sei nur über den Sturz des SED-Regimes zu erlangen. In dem Interview kommt auch andeutungsweise zum Ausdruck, daß die Forderungen der Demonstranten um so grundsätz- licher geworden sein könnten, je massiver der Einsatz der östlichen Sicherheitskräfte erfolgte. Am Abend des 17. Juni, zwischen 18 und 19 Uhr, als die Niederschla- gung des Aufstandes feststand, ist in T19 dagegen wieder die dann 344) T7 - Augenzeugen berichten; Studio-Interviews im RIAS, wohl nachmittags, IWF, 165-173 345) Ab A2:21163, IWF, 169 346) Ab A2:21922, IWF, 170 347) Hierzu u. im folg. ab A2:22253, IWF, 170 108 naheliegendere Forderung nach einem Generalstreik erhoben wor- den. 348 Der materielle Hintergrund des Aufstandes kommt auch in einem Krankenhausinterview vom 18. Juni in T41 zum Ausdruck. Ein Ver- letzter berichtet dort von einer Argumentation Hennigsdorfer Arbeiter gegenüber einem Vopo: "Was denn, willst Du gegen Deinen Bruder schlagen, ja, wo er ja auch in der LEW arbeitet und genauso um sein Geld kämpft wie wir[?]"349 Es ist zu überlegen, ob die starke Akzentuierung des Freiheitsgedan- kens vielleicht durch Vorabsprache erzielt wurde. Dem bereitwilligen Auftreten der Demonstrantinnen im RIAS als der Stimme der westli- chen Demokratie schlechthin steht auch hier die Ablehnung des SED- Staates gegenüber. Damit bietet T7 einen weiteren Anhaltspunkt da- für, daß die Demonstranten das westdeutsche System akzepierten, auch wenn die Forderung nach Wiedervereinigung nicht direkt erho- ben wurde. Das Herunterholen der roten Fahne vom Brandenburger Tor ist bereits auf seinen symbolischen Gehalt hin untersucht worden. Verbale Äu- ßerungen dazu sind in dem Tondokument Nr. 14 festgehalten wor- den. 350 Als sich die Fahne am Fahnenmast senkt, rufen nach Aussage des Reporters unten stehende Menschen: "Wir grüßen das freie Ber- lin". 351 Dann sind Forderungen nach einer schwarz-rot-goldenen und nach einer Berliner Bärenfahne zu hören. 352 Offensichtlich werden die Rundfunkleute dazu um Hilfe gebeten: "Ihr könnt doch sowas. Ihr habt doch einen Wagen da."353 Für einen Rufer ist es "der schönste 348) Ab 04:29:54,15. Es handelt sich um einen Zwischenruf ei- ner kleinen Demonstrantengruppe während der SPD- Kundgebung auf dem Oranienplatz. Der Redner Ernst Schar- nowski (Westberliner DGB-Chef) ignoriert den Einwurf. Auch die anderen Kundgebungsredner rufen bewußt nicht zum Gene- ralstreik auf. Es wird vielmehr auf die Verantwortung der Sie- germächte verwiesen. 349) Ab B2:42880, IWF, 260f. 350) T14 - Die rote Fahne wird vom Brandenburger Tor geholt; Reportage, Massenszenen; Brandenburger Tor, ca. 11 Uhr, IWF, 186-188 351) Ab A2:51285, IWF, 187 352) Ab A2:51385, IWF, 187 353) Ab A2:51770, IWF, 187 109 Augenblick unseres Lebens"354. Ein anderer fordert, daß die "weg- kommen, die Verbrecher"355. Später freut sich einer der Männer, die die Fahne herabgeworfen haben, und der ein Stück Fahnentuch über- reicht bekommt, dieses "hier im freien Sektor in der Hand zu ha- ben"356. Ein weiterer Interviewter sagt: "Wir wünschen, daß es eine bessere Zeit gebe, ja, und daß alles eins in eins bleibt zwischen Ost und West."357 Die Analyse von T14 verstärkt den Eindruck eines breiten Konsenses unter den Demonstranten bezüglich einer Ablehnung der DDR, deren Repräsentanten offensichtlich als "Verbrecher" bezeichnet werden. Der Niedergang der roten Fahne als Symbol des kommunistischen Sy- stems schlechthin wird hocherfreut begrüßt. Auch hier wieder der Wunsch nach "einer besseren Zeit" Die Akzeptanz der westdeutschen Demokratie wird direkt zum Ausdruck gebracht durch Rufe der De- monstranten: "Wir grüßen das freie Berlin", durch die Genugtuung, im freien Sektor ein Stück der zerfetzten Fahne in Händen halten zu kön- nen, durch den Wunsch, anstelle des verhaßten kommunistischen Symbols die schwarz-rot-goldene Fahne und das Berliner Stadtwap- pen als Flaggen der Einheit zu hissen, durch die Bereitwilligkeit zu Interviews mit dem Westberliner Rundfunk und schließlich sogar durch die Bitte um aktive Hilfe durch die Rundfunkleute. In der Tonaufnahme Nr. 19358 befragt eine am Straßenrand stehende Reporterin vorübergehende Demonstranten. Auf die Frage, wohin es gehe, erhält sie die Antworten: "Stalinallee","Nach dem Spitzbart"359, "Wir wollen Pankow sehen"360, "Wir wollen ihn holen"361 und von ei- ner anderen Gruppe: "Nach Pankow"362. Schließlich faßt die Reporte- rin die ihr gegenüber gemachten Aussagen so zusammen: "Das ist die Antwort, die einem die meisten geben; wenn man sie fragt, wo wollt 354) Ebenda 355) Ab A2:51670, IWF, 187 356) Ab A2:53275, IWF, 187 357) Ab A2:54715, IWF, 188 358) T19 - "Wir wollen nach Pankow"; Reportage mit Inter- views; Scharnweberstr., Vormittag, IWF, 195-197 359) Ab B1:10258, IWF, 195 360) Ab B1:10772, IWF, 196 361) Ab B1:11858, IWF, 196 362) Hierzu u. im folg. ab B1:12390, IWF, 197 110 ihr hin, dann sagen sie entweder `nach Pankow', oder aber die meisten sagen `nach Deutschland', und wir wissen alle, was sie damit meinen." An diesen Aussagen ist erst einmal bemerkenswert, daß verschiedene Gruppen363 "nach Pankow" "zum Spitzbart" wollten, um "ihn zu ho- len" - und nicht vorrangig ins Stadtzentrum. Pankow war der Wohnort der SED-Größen. Die Aussage, man wolle nach Deutschland, zielt da- gegen offensichtlich über die Absetzung der SED-Regierung hinaus. Auch aus den Liedern der Demonstranten lassen sich Rückschlüsse ziehen. In T28 ist davon die Rede, daß in dem Demonstrationszug, der mit schwarz-rot-goldenen Fahnen von Ost nach West durch das Bran- denburger Tor gezogen ist, das Deutschlandlied gesungen wurde.364 In T19 singen Demonstranten unter anderem das Schlesierlied.365 Eben- falls in T19 wird in Anlehnung an eine Marsch- oder Wanderliedme- lodie offensichtlich ein eigener Text gesungen. 366 Ähnliches geschieht in T8.367 In T19 wird der Gesang mit dem Ruf "Freiheit" eingeleitet.368 Der dann angestimmte Text läßt, soweit er aufgezeichnet wurde, aber wohl keine näheren Schlüsse zu: "... in der Mitte steht ein kleines wei- ßes Haus ...". An Nachmittag des 17. Juni spricht in T30 ein Reporter auf dem Potsdamer Platz angesichts von Absperrmaßnahmen der So- wjetarmee und der VP von "einer vieltausendköpfigen Menschenmen- ge von Westberlinern und Ostberlinern ... [die] Freiheitslieder singen und Freiheitsparolen in den Ostsektor hinüberrufen ...". 369 In der Literatur sind auch die Internationale (Berlin) und "Brüder zur Sonne, zur Freiheit" (Berlin und Leuna) bezeugt.370 Vor dem Haus der Ministerien in Berlin sollen von der Polizei abgedrängte Demonstran- 363) T19 ist offensichtlich ein Zusammenschnitt aus verschiede- nen Interviews. Es sind sowohl Arbeiter der Bauunion Naum- burg und/oder Bauunion Berlin einerseits und des VEB Tiefbau andererseits befragt worden. Der Tonschnitt dürfte bei B1:12010 liegen. 364) Ab B2:07655, IWF, 218 365) Ab B1:12252, IWF, 197 366) Ab B1:09772, IWF, 195. 367) Ab A2:33147, IWF, 174. Vgl. im folg. Hagen (1992), 63 368) Hierzu u. im folg. ab B1:09580, IWF, 195 369) Ab B2:13109, IWF, 221 370) Hierzu u. im folg. Hagen (1992), 63 , Hildebrandt (1983) und Heinz Brandt, 243, 242. Bei Hagen weiterführende Hin- weise. 111 ten die dritte Strophe des Deutschlandliedes gesungen haben - seit 1952 die offizielle Hymne der Bundesrepublik. Für Bad Tennstedt in Thüringen ist "Ein' feste Burg ist unser Gott" bezeugt. Damit sollte allgemeiner Protest zum Ausdruck kommen (Kirchenge- sang, Schlesierlied) und das Marschieren unterstützt werden (Wan- derlieder). Teilweise beinhalteten die Lieder auch konkrete politische Willensbekundungen (Deutschlandlied). Die Wanderlieder mit den abgewandelten Texten dienten sicher auch der Einstimmung der De- monstranten auf ein gemeinsames Ziel. Der in T19 hörbare einheitli- che Marschtritt verstärkt diesen Eindruck. Dort hört man auch die Lo- sung "Freiheit". Der Freiheitsruf scheint in ähnlicher Weise des öftere- ren erklungen zu sein. Auch die große Kundgebung der SPD am Abend des 17. Juni auf dem Kreuzberger Oranienplatz wurde bei- spielsweise mit dem dreimaligen Ruf "Freiheit" beendet.371 Insofern wäre der Freiheitsruf in T19 eine vielleicht bewußte Anlehnung an Veranstaltungen der westdeutschen demokratischen Parteien. Formal gesehen stellen die Lieder der Demonstranten eine spezielle Gattung der Willensbekundungen dar. Dort, wo sie konkretere Aussa- gen enthalten, fügen sie sich inhaltlich durchweg in das bereits ge- wonnene Bild ein. Das Umdichten von Texten unter Beibehaltung der Melodie hat im übrigen in der Geschichte der Arbeiterproteste eine gewisse Tradition. Schon die englische Chartistenbewegung hat sich dieses Mittels bedient.372 Im Handeln und in den Aussagen der Demonstranten sind Elemente erkennbar geworden, die direkt oder indirekt als Willensbekundungen für die Einheit Deutschlands gewertet werden können. Die von Ew- ers/Quest vertretene Ansicht von der Priorität der ökonomischen Mo- tive ist deshalb in dieser Einseitigkeit nicht aufrecht zu erhalten. Wir dürfen vielmehr mit einem gewissen Recht vermuten, daß die Men- schen des 17. Juni von Anfang an eine grundsätzliche Lösung ihrer Probleme angestrebt haben. Die Reihenfolge der erhobenen Forderungen hat sich möglicherweise an der Umsetzbarkeit der einzelnen Punkte orientiert. Aus diesem Grund haben der Wunsch nach freien Wahlen oder der Einheit Deutschlands zu Beginn der Demonstrationen meist erst an dritter, vierter oder fünfter Stelle auf den Forderungskatalogen gestanden. Die 371) Ab 04:50:07,00. Der Redner Otto Suhr ruft die Losung, die aus der Menge wiederholt wird. 372) Ulrike Schwab: Die Lyrik der Chartistenbewegung. Eine literarisch-historische Studie. Inaugural-Dissertation zur Erlan- gung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) im Fachbereich Anglistik/Romanistik der Ge- samthochschule Kassel. Kassel 1987, 174ff. 112 Streikenden und Demonstrierenden waren eben darum bemüht, reali- stische Forderungen zu stellen. Vielen dürfte das ausdrückliche Ver- langen nach Wiederherstellung der Einheit auch als überflüssig oder taktisch unklug erschienen sein; konnten sie doch davon ausgehen, daß nach freien Wahlen sowieso eine Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschland erfolgen würde. Die Einheit Deutschlands in diesem Kontext in den Vordergrund zu stellen, hätte eine sofortige Kollision mit den Interessen der Sowjetunion bedeutet. Normsenkung, niedrige- re HO-Preise und die Abhaltung freier Wahlen hielten sich dagegen zumindest vordergründig im Rahmen des Systems 373 - auch wenn die Forderung nach freien Wahlen schon seit langem vom Westen vertre- ten worden war. Für ein derartiges, von taktischen Gesichtspunkten geleitetes Handeln der Demonstranten spricht auch die Beobachtung, wonach Aktionen gegen die Besatzungsmacht bis zu deren aktivem Eingreifen weitgehend vermieden wurden. 374 Für die Unzufriedenheit der Demonstranten gab es wirtschaftliche und nationale Beweggründe, die sehr stark miteinander verwoben gewesen sein dürften. Wo die materiellen Motive auftraten, bestand offensicht- lich die Überzeugung, mit Übernahme der westlichen Demokratie bessere Lebensverhältnisse herbeizuführen. Zwischen dem in einigen Aussagen und Liedern zum Ausdruck kommenden Klassenbewußtsein einerseits und dem Nationalbewußtsein andererseits hat in den Augen der betreffenden Demonstranten offensichtlich kein Widerspruch be- standen. Forderungen zur Umgestaltung der Bundesrepublik - Forde- rungen nach dem dritten Weg also - wurden nicht erhoben. Ganz im Gegenteil sind die Rundfunkreporter als Repräsentanten des westli- chen Systems voll und ganz von den Demonstranten akzeptiert wor- den. Das Absingen des Deutschlandliedes und das Hissen von Ein- heitsfahnen weisen in dieselbe Richtung. Bei den direkten verbalen Bekenntnissen zur deutschen Einheit fällt auf, daß die Demonstranten sie mit eigenen Worten vorgebracht haben. Die Grundgesetzpräambel wird nur einmal wörtlich zitiert. Unter den anderen politischen Forde- rungen tritt neben dem Rücktritt der DDR-Regierung besonders der Wunsch nach Abhaltung freier Wahlen hervor. Auch darin liegt ein Einheitsbekenntnis, denn das bedeutete de facto eine Übernahme des westlichen Systems. Trotz allem darf keinesfalls der Eindruck entstehen, das Verhalten der Demonstranten sei völlig rational und absolut zielstrebig gewesen. Dazu waren viele Willensbekundungen der Demonstranten viel zu va- ge. Aussagen wie "wir wollen ihn holen" oder "nach Pankow" sind einfach zu ungenau, als daß daraus eine konkrete konstruktive Absicht herauszulesen wäre. 373) Vgl. Ewers/Quest, bes. 29 374) Hagen (1992), 119; Brant/Bölling, 132 113 Vielleicht liegt in dieser Erkenntnis der Schlüssel zu einem umfassen- deren Verständnis des Gesamtereignisses. Der größte gemeinsame Nenner der Demonstranten lag in der Ablehnung des kommunisti- schen Systems. Einig waren sich die meisten wohl auch in ihrem Wunsch nach einem materiell besser gestellten Leben. Über die Frage, wie diese Ziele praktisch und im Detail zu erreichen gewesen seien, dürften die Vorstellungen dagegen vielfach diffus gewesen sein. Es sind aber nirgends Vorbehalte gegenüber der parlamentarischen De- mokratie feststellbar. Man kann durchaus annehmen, daß diejenigen, die konkret die Übernahme des westdeutschen Systems für die DDR forderten, auch die Zustimmung derjenigen erhalten hätten, deren ei- gene Vorstellungen bis dahin weniger präzise waren. Unter den quellentheoretischen Resultaten ist in der Untersuchung zu- erst die Problematik der Regieanweisungen und Vorabsprachen aufge- fallen. Zwar zeigt in diesem Zusammenhang T26 eindrucksvoll, daß die Regieanweisungen dem Sprecher der Demonstranten keine prinzi- piell neuen Äußerungen entlockt zu haben scheinen; der Vergleich dieser Tonaufnahme mit T7 offenbart aber eine Einschränkung auf die politischen Ziele der Demonstration im Lustgarten. Damit besteht der begründete Verdacht, wonach Vorabsprachen zwischen Reportern und Interviewten eine Schwerpunktbildung in der Tonaussage bewirken können. Die bislang für die Bildquellentheorie (bewußtes Gefilmt- Werden) angenommene geringe Einflußgröße der Vorabsprachen kann deshalb nicht nur nicht so einfach auf die Tonquellen übertragen werden - sie ist womöglich durch die Tonquellenanalyse sogar zu re- lativieren. Bei Studio-Interviews, die in der Regel nicht ohne ein Vor- gespräch erfolgen, steht prinzipiell die Frage im Raum, ob der Re- dakteur den Interview-Partner zu einer gelenkten Darstellung veran- laßt hat. Andererseits ist zu bedenken, daß die Beschränkung auf das vermeintlich Wesentliche ja im Einverständnis mit dem Interviewten erfolgt. So gesehen wäre in den Vorabsprachen lediglich eine Hilfe für den Rundfunklaien zu sehen, die dazu dient, ihm den Kern seines An- liegens besonders bewußt zu machen. In bezug auf das bewußte Ge- filmt-Werden ergibt sich jedoch ebenfalls die Frage nach einer mögli- chen Akzentverschiebung im Handeln der Demonstranten. Probleme mit dem Tonschnitt sind vor allem in T16 aufgetreten. In- haltliche Überschneidungen zwischen den mutmaßlichen Fragmenten haben aber für eine gewisse Sicherheit der Authentizität gesorgt. Es gibt Aussagen in den Tonquellen, die nicht direkt von den Demon- stranten stammen, sondern lediglich Zitate von Äußerungen der De- monstranten darstellen. Die Rundfunkreporter haben auf diese Weise versucht, Meinungen zu vermitteln, die sie - vielleicht aus technischen Gründen - nicht auf Magnetband festhalten konnten. Quellentheore- tisch liegt das nicht so nah an der eigentlichen Quelle wie die direkten Aufzeichnungen von den Demonstranten. Zeitlich gesehen liegt die Feststellung des Reporters aber immer wesentlich näher am Ereignis 114 als spätere schriftliche Fixierungen, die sich in der Regel erst aus der dem Ereignis nachfolgenden Befragung von Augenzeugen ergeben. Die Straßeninterviews und -reportagen weisen unter den Tonaufnah- men die größte zeitliche Nähe zum Ereignis auf. Wir haben damit Quellen, die die unmittelbare Stimmung375 noch während des Ereignis- ses festhalten. Schriftliche Aufzeichnungen - selbst Stenogramme - können das so nicht. Auch die unmittelbare Resonanz, die bestimmte Parolen unter den Umstehenden hervorgerufen haben - Beispiel T16 - sind am direktesten und quellenkritisch zuverlässigsten den Tonauf- nahmen zu entnehmen. Dabei spielt der Aspekt der Parallelität ver- schiedener Informationen in den Tonaufnahmen eine positive Rolle. 375) Der Begriff der "Stimmung" beschränkt sich in diesem Zu- sammenhang nicht auf das `Atmosphärische' nach Scheurig, 70. Er soll hier auch konkrete Willensbekundungen umfassen. 115 7. Bild- und Tonquellen über offizielle Reaktionen von östlicher Seite Eine Untersuchung über den 17. Juni nur aus der Sicht der Demon- stranten würde dem Gesamtereignis nicht gerecht werden; aus dem Wechselspiel zwischen der Staatsmacht und den gegen sie aufbegeh- renden Menschen ergibt sich ein vertieftes Verständnis. Außerdem birgt auch dieser Themenkomplex quellentheoretische Erkenntnis- möglichkeiten. Während die dem Politbüro nachgeordneten DDR-Dienststellen am 16. Juni noch weitgehend auf sich allein gestellt waren, entschieden am folgenden Tag im wesentlichen sowjetische Kommandeure über das Vorgehen gegen die Demonstranten. 7.1 Reaktionen am 16. Juni Am 16. Juni haben die DDR und die Sowjetunion mit folgenden we- sentlichen Schritten auf die Forderungen der Demonstranten reagiert: Es erfolgten eine Rücknahme der Normerhöhung und die Bekanntga- be dieser Entscheidung. 376 Vor dem Haus der Ministerien wurde mit den Demonstranten diskutiert.377 Auf einer Parteiaktivtagung ergingen Instruktionen an Parteimitglieder.378 Gegenkundgebungen wurden or- ganisiert,379 sporadisch erste Verhaftungen durchgeführt,380 Militärein- heiten, Geheimdienste und Polizei alarmiert381; über den Rundfunk 376) Die Bekanntgabe der Politbüro-Erklärung erfolgte über Rundfunk und Lautsprecherwagen. Text abgedruckt in: Dokumente der SED, Bd. IV, Berlin 1954, 432f. und IWF, 135f. (T1). Zu der Bekanntgabe der Politbüro- Erklärung über Lautsprecherwagen s. Heinz Brandt, 237 u. Brant/Bölling, 108 377) Ebenda, 236f. Hildebrandt (1983), 30ff. Brant/Bölling, 105ff. 378) Vgl. H. Brandt, 238, der im Gegensatz zu Hagen (1992), 53 angibt, die Parteikonferenz sei schon zwei Ta- ge vor den Demonstrationen beschlossen worden. 379) Hagen (1992), 53; Brant/Bölling, 112 u. 118; T2, IWF, 137 380) Brant/Bölling, 111 u. Hildebrandt (1983), 41 381) Ebenda, 112 u. 118; Diedrich, 64ff. 120 verbreitete man eine Aufforderung zur Teilnahme an Betriebsve r- sammlungen am Morgen des 17. Juni382. Diese Maßnahmen sind nur zum Teil zentral vom SED-Politbüro oder der sowjetischen Regierung koordiniert worden. Die Diskussion vor dem Haus der Ministerien, die Organisation von Gegenkundgebungen und erste Verhaftungen erfolgten wahrscheinlich spontan durch nach- geordnete Dienststellen. 7.1.1 Politbüro-Erklärung zur Rücknahme der Normerhöhung Der im Westen erfolgte Mitschnitt der Politbüro-Erklärung ist der ei- gentliche Beweis für deren Ausstrahlung über den Rundfunk der DDR. Ihr Text ist zwar auch in den Dokumenten der SED nachzule- sen; anhand des Rundfunk-Mitschnitts können wir uns aber einen ei- genen Eindruck davon verschaffen, wie diese Erklärung ihrerzeit auf die Zuhörer gewirkt haben mag. Heinz Brandt, damals Parteisekretär der Berliner SED-Bezirksleitung, hat in seiner Autobiographie deren Wirkung wie folgt beschrieben: Der Politbüro-Beschluß "wurde in so verklausulierter Form veröffentlicht, daß er seine Wirkung verfehlte. Was da verkündet wurde, klang unglaubwürdig, ja betrügerisch und von nackter Angst diktiert."383 Die Verschleierung des Inhalts der Er- klärung ergibt sich bereits aus der schriftlichen Fassung, denn die Rücknahme der Normerhöhung wird nicht direkt erwähnt. Es ist näm- lich nicht von einer Anweisung, sondern lediglich von einer Empfeh- lung des Politbüros an die "einzelnen Ministerien" die Rede, "die ob- ligatorische Erhöhung der Arbeitsnormen als unrichtig aufzuheben"384. Hinzu kommt, daß diese Empfehlung geradezu in dem Text versteckt worden zu sein scheint. Wäre ihre ausdrückliche Betonung beabsich- tigt gewesen, hätte sie eigentlich am Anfang stehen müssen. So aber wurde von den Rundfunkhörern - und wohl auch von den Zuhörern vor den Lautsprecherwagen auf den Straßen - Aufmerksamkeit aus ei- nem längeren Text für genau diese Passage verlangt; anschließend war die "Empfehlung" entgegen der wörtlichen Aussage (und dem nach außen gewahrten Schein einer weitgehenden Autonomie der DDR- Regierung) im Sinne eines verbindlichen Beschlusses zu interpretie- ren. Es liegt bereits anhand dieser Sachlage auf der Hand, daß der Po- litbüro-Beschluß nicht für eine rasche Breitenwirkung sorgen konnte und auch nicht als Rundfunkerklärung geeignet war. Der generelle Ansatz der SED, die Staatspolitik zentral im Politbüro zu formulieren und diese Texte nicht nur als Handlungsanweisung für die nachgeord- 382) Hagen (1992), 56 u. Brant/Bölling, 118 383) Brandt, 231 384) T1, IWF, 136, ab A1:3009 121 neten Instanzen, sondern gleichzeitig als Informationsmaterial für die Bevölkerung zu benutzen, war wohl von vornherein zum Scheitern verurteilt. Eigentlich hätte das Politbüro wenigstens zwei Versionen gleichen Inhalts ausarbeiten müssen: eine Handlungsanweisung für interne Zwecke und eine Medienerklärung. Diese doppelte Arbeit konnte es nicht leisten; delegieren mochte es die Mehrarbeit offen- sichtlich aber auch nicht. Das Resultat war die gewundene Erklärung vom 16. Juni. Der Rundfunkmitschnitt gibt uns im nachhinein die Gelegenheit, uns in die Situation der Zuhörer von 1953 besser hineinzuversetzen. Beim Abhören der Tonaufnahme zeigt sich, um wie vieles schwerer es ist, einem derartigen Text nur durch Zuhören folgen zu müssen. Das Ver- ständnis der Erklärung war um so schwerer, als der Rundfunksprecher zumindest an einer Stelle eine eigentlich erforderliche Betonung aus- gelassen hat. Die diesbezügliche Textstelle lautet: "... damit in der nächsten Zeit der Lohn der Arbeiter, die ihre Normen erhöht haben, gesteigert werden kann."385 Eigentlich hätte der Sprecher lesen müs- sen: `der Lohn der Arbeiter'386 im Sinne von `derjenigen Arbeiter'. Dies ist nicht geschehen. Wahrscheinlich wollte der Sprecher das Schwergewicht der Aussage auf die in Aussicht gestellte Lohnsteige- rung legen und diese Betonung nicht durch die genannte Einschrän- kung vermindern. Der Text sagt aber etwas anderes, und dieser Um- stand dürfte zusätzlich das Verständnis des Vorgelesenen erschwert haben. Da diese Passage genau vor dem eigentlichen Kernstück, näm- lich der Rücknahme der Normerhöhung, stand, dürften auch besonders aufmerksame Zuhörer gedanklich noch mit der Diskrepanz zwischen Text und Betonung befaßt gewesen sein, während der Sprecher schon weiter im Text war. Die Einbeziehung der Tonaufnahme zeigt damit deutlicher als Inter- pretationen auf der konventionellen Quellenbasis, daß das Verständnis von der Wirkung der Politbüro-Erklärung vertieft werden kann. Das Argument, die Forderungen der Demonstranten hätten bei Veröffentli- chung der Erklärung schon einen fortgeschrittenen politischen Cha- rakter gehabt, reicht allein zur Erklärung der Wirkungslosigkeit des Politbüro-Kommuniqués nicht aus. Ein weiterer Grund ist in seiner Formulierung und der Art seiner Verbreitung zu sehen. 7.1.2 Diskussion vor dem Haus der Ministerien Mit dem Photo Nr. 6 enthält die Edition eine Aufnahme von der De- monstration vor dem Haus der Ministerien. Darauf ist ein erhöht ste- 385) Ebenda, ab A1:2194 386) Das eigentlich zu betonende Wort folgt ab A1:2239 122 hender Bauarbeiter zu sehen, der offensichtlich zu den Umstehenden spricht. Höchstwahrscheinlich steht dieser Demonstrant auf einem Stuhl oder einem Tisch, den Regierungsangestellte hinausgetragen ha- ben, um besser zu der Menge sprechen zu können. In den Schrift- quellen ist von einer Staatssekretärin Walter, dem Industrieminister Selbmann und von dem Volkskammer-Mitglied Prof. Robert Have- mann die Rede.387 P6 zeigt nun, daß diese Redeplattform fast auf der Mitte des Vorplatzes gestanden hat. Damit wird die Atmosphäre zu Beginn der Demonstration für uns besser nachvollziehbar: Hätten die genannten Regierungsangestellten Angst vor den Demonstranten ge- habt, dann hätten sie sich sicher nicht so weit vorgewagt. Insofern unterstreicht die Bildaussage hier den Eindruck aus den Schriftque l- len, wonach die Demonstranten vorrangig mit einer Gesprächsauffor- derung vor das Haus der Ministerien gezogen sind. Forderungen wie "Nieder mit der Regierung!" scheinen bis zu jenem Zeitpunkt allen- falls vereinzelt aufgekommen zu sein. Die Mehrheit der Demonstran- ten wollte ganz offensichtlich noch verhandeln. Zumindest ist das wohl im Haus der Ministerien so verstanden worden. Zusammen mit Inhalt und Verbreitung der Politbüro-Erklärung ergibt sich damit bis zu den Mittagsstunden des 16. Juni ein geteiltes Bild in bezug auf die offiziellen Reaktionen: Während die Parteiführung ihren Rückzieher in der Normenfrage nur sehr umwunden zugeben mochte, waren Regierungsangestellte vor Ort im Haus der Ministerien offen- sichtlich bemüht, den Quellenwert: Zusatzinformationen durch Ton- u. Bildquellen demonstrierenden Arbeitern Rede und Antwort zu ste- hen und ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihnen zu gewinnen. Aller- dings fehlten ihnen die Kompetenzen zu weitergehenden Konzessio- nen. Die Parteiführung war dagegen offensichtlich viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und bezog die einfachen Menschen auf der Straße nicht oder nur unzureichend in ihr Kalkül ein. Darüber hinaus wird auch deutlicher, wie schwer sich die Partei mit dem Eingeständ- nis des Kurswechsels tat. 7.1.3 Erste Zusammenstöße zwischen Demonstranten, Parteianhängern und VP In der Tonaufnahme Nr. 2 berichtet ein junger Westdeutscher von Schlägereien zwischen Demonstranten und Mitgliedern der FDJ sowie über Schlagstockeinsatz seitens der Ostberliner Polizei. Die Motoren- geräusche im Hintergrund zeigen, daß das Interview auf der Straße stattgefunden hat. Vielleicht hat der Rundfunkreporter an einem Sek- torenübergang Passanten befragt, die aus dem Ostsektor kamen. Das Tondokument ist eine wichtige Quelle dafür, daß es solche Auseinan- dersetzungen bereits am 16. Juni gegeben hat. Inzwischen liegt zu- 387) Brant/Bölling, 105; Hildebrandt (1983), 30 123 mindest ein weiterer Augenzeugenbericht vor, wonach schon in den Abendstunden des 16. Juni eine hoch explosive Stimmung in Berlin geherrscht hat.388 Damit ergibt sich ein weiterer Anhaltspunkt für das Verständnis von der allmählichen Eskalation der Ereignisse. 7.1.4 Die Reden von Grotewohl und Ulbricht auf der Parteiaktivtagung und ihre Veröffentlichung im Neuen Deutschland Am Abend des 16. Juni hat im Ostberliner Friedrichstadtpalast eine SED-Parteiaktivtagung stattgefunden, auf der Otto Grotewohl als Parteivorsitzender und als Ministerpräsident der DDR sowie Walter Ulbricht als Erster Sekretär des Zentralkomitees gesprochen haben. Nach der Erinnerung von Heinz Brandt, damals Sekretär der SED- Bezirksleitung Berlin, war diese Tagung von einer gegen Ulbricht be- stehenden Opposition durchgesetzt worden. Nachdem die Sowjetuni- on der SED-Führung einen gemäßigteren politischen Kurs aufgenö- tigt 389 hatte, sollte wenigstens dem relativ geschlossenen Kreis der Parteiaktivisten die neue Linie erläutert werden390. Im Zusammenhang mit unserem Erkenntnisinteresse sind die Reden von Grotewohl und Ulbricht u.a. inhaltlich und im Vergleich unterein- ander von Interesse. Aus den Zuschauerreaktionen soll die Stimmung in der Partei und die Frage nach einer etwaigen Opposition gegen Ul- bricht erschlossen werden. Zur Klärung der Politik des Politbüros und der Position Ulbrichts in der Partei bietet sich darüber hinaus der Ver- gleich der Originalmitschnitte mit der späteren Veröffentlichung der Redetexte im Neuen Deutschland vom 18.06.53 an. 391 Aus dem detaillierten Vergleich der Tonaufnahmen mit dem Abdruck der Redetexte im SED-Zentralorgan ergibt sich, daß die Texte des N.D. z.T. gekürzt und umgestellt worden sind. Während die Ulbricht- Rede am umfassendsten auf Tonband überliefert ist, bietet das N.D. eine längere Version der Ansprache Grotewohls. Es ist nicht mit letz- ter Sicherheit zu entscheiden, ob die Tonaufnahme geschnitten oder 388) Semmelmann, 33f. 389) Vgl. Rolf Stöckigt: Ein Dokument von großer histori- scher Bedeutung. In: Beiträge zur Geschichte der Arbei- terbewegung (1990), 648-651 390) Es ist umstritten, ob diese Tagung einige Tage im vor- aus oder kurzfristiger anberaumt wurde. Siehe Heinz Brandt, 238 und Hagen (1992), 53 391) Neues Deutschland künftig: N.D. 124 die Ergänzungen für das N.D. nachträglich angebracht worden sind. Hier macht sich demnach wiederum eine Unsicherheit durch Ton- schnitt bemerkbar. Im Vergleich zu der Schriftfassung offenbaren da- gegen die Tonaufnahmen, wie das Publikum der Parteiaktivisten je- weils reagiert hat. Auch die Rhetorik der Redner ist anhand des Ton- bandes besser zu beurteilen. Inhaltlich hat bereits Manfred Hagen die jetzt vollständiger als früher vorliegenden Reden analysiert.392 Die nachfolgende Darstellung ist demgegenüber stärker quellentheoretisch orientiert. Im Verlauf seiner Rede äußert Grotewohl folgende harte Kritik: man müsse öffentlich Maßnahmen zur Beseitigung von Fehlern ergreifen; die Staatsausga- ben seien zu hoch, z.T. bedingt durch hohe Kosten zur Landesvertei- digung (wird vom Redner als gerechtfertigt angesehen) 393 und durch forcierte Entwicklung der Schwerindustrie; es habe eine falsche Um- setzung der Parteibeschlüsse "auf der mittleren Ebene der Verwaltung und in den Betrieben" gegeben; Beseitigung von Mängeln sei "mit fast ausschließlich administrativen und polizeilichen Mitteln" erfolgt, und die Politik der DDR habe die deutsche Wiedervereinigung erschwert. Trotz dieser gravierenden Probleme stellt Grotwohl nicht die Frage nach namentlich verantwortlichen Personen. 394 Er wahrt streng die Parteidisziplin und vermeidet persönliche Angriffe. Auch die Verant- wortung für die konstatierten Mißstände soll offensichtlich kollektiv getragen werden. Alle zugegebenen Fehler seien von der Führung ur- sprünglich mit den besten Absichten begangen worden - wenn sie nicht von nachgeordneten Dienststellen zu verantworten seien. Wie die neue Politik im Detail aussehen soll, sagt Grotewohl nicht. Dies solle im Politbüro und im Zentralkomitee entschieden werden. Grote- wohl formuliert dafür nur allgemeine Ziele: "Volk, Partei und Regie- rung" müßten wieder zusammenwachsen, dann würden sie auch er- folgreich zusammenarbeiten; die erforderlichen Veränderungen seien "in der erforderlichen Ordnung und Disziplin - so, wie wir es in der Partei gelernt haben - zu vollziehen". Mit seiner Äußerung, wonach die Produktionssteigerung die unabdingbare Grundlage für die He- bung des Lebensstandards sei, steht Grotewohl ganz auf der Linie der Politbüro-Erklärung vom Vormittag. Der Zweck der Rede bestand demnach offensichtlich darin, einschnei- dende Änderungen auf den genannten Gebieten zu fordern, dabei kon- 392) Hierzu und im folgenden vgl. Hagen (1992), 54f. 393) T3, IWF, 142 ab A1:14050 394) Hierzu u. im folgenden T3, IWF, 143f., ab A1:18734, wo Grotewohl kritische Überlegungen und das Ziehen letzter Konsequenzen im Zentralkomitee der SED ankün- digt 125 krete Maßnahmen dem Zentralkomitee zu überlassen und insgesamt unbedingt parteikonform zu bleiben. In diesem Zusammenhang sind endlich die Beifallspassagen in der Rede von Interesse. Sie erfolgen fast ausschließlich auf Passagen über eine erfolgreiche und [partei-] disziplinierte Vereinigung der Arbeiterklasse mit ihrer Vorhut, der Partei. Von den sechs aufgezeichneten Redepassagen, zu denen Gro- tewohl Applaus erhält, zählen allein fünf zu dieser Kategorie! Der sechste Applaus bezieht sich auf sein Bekenntnis zur Notwendigkeit von Produktionssteigerungen. Grotewohl hat seine an sich deutlich geäußerte Kritik demgegenüber nicht so akzentuiert, als hätte er für diese Analysen Beifall, d.h. Unterstützung für seine Kritik, bekommen wollen. Während Grotewohl während seiner vierzehneinhalb-minütigen Rede insgesamt sechs Mal Beifall erhält, bekommt Walter Ulbricht 20 Mal Applaus auf rund 51 Minuten Redezeit. Im statistischen Durchschnitt sind damit beide Redner etwa alle zweieinhalb Minuten mit Beifall bedacht worden. Die Beifallsbekundungen für Ulbricht häufen sich aber während der letzten 12 Minuten. In diesem Redeabschnitt faßt Ulbricht in sehr kämpferischer Form seine Redeinhalte noch einmal kurz zusammen und spricht schließlich die Ereignisse des Tages - "die Lektion, die wir heute bekommen haben" - an. Er gibt seinen Partei- aktivisten Handlungsanweisungen für den nächsten Tag und feuert sie an: "Morgen tiefer in die Massen!" Schließlich tut er so, als habe es Kritik an der Person des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck gegeben. Auf Zurufe aus dem Publikum läßt die Versammlung Pieck sogar drei Mal hochleben. Ulbrichts Rede endet mit dem Ausruf: "So dienen un- sere Beschlüsse der Einheit unseres Vaterlandes, dem Kampf um den Frieden und einer glücklichen Zukunft unseres Volkes!"395 Die Rede Ulbrichts und die mit ihr aufgezeichneten Reaktionen des Publikums helfen bei der Beantwortung der Frage, wie sich Ulbricht in dem parteiinternen Machtkampf zu behaupten suchte. Ulbricht gibt schwere Fehler in vielen Gesellschaftsbereichen zu. Mit Angriffen auf die Bonner Regierung lenkt er anschließend die Aufmerksamkeit des Parteivolks auf den äußeren Feind. Offensichtlich spekuliert er darauf, daß die Ablehnung der westdeutschen Regierung eine breite, die Par- tei einigende Basis darstellt. Diese an sich schon äußerst geschickte Strategie gipfelt schließlich in der Ablenkung möglicher Kritik an sei- ner eigenen Person auf die Person des DDR-Präsidenten; gleichzeitig nimmt er Pieck gegen derartige - offensichtlich von ihm selbst erfun- dene - Kritik in Schutz und stärkt damit zusätzlich seine eigene Positi- on. Inhaltlich gibt es eine große Übereinstimmung zwischen den Reden Grotewohls und Ulbrichts. Sie bezieht sich auf das Eingeständnis be- 395) ab ED T4, A1:54950 126 gangener Fehler, die Aufforderung zu einer offenen Diskussion und das Bekenntnis zur Einheit Deutschlands. Ulbrichts Rede ist aber tak- tisch ungleich geschickter aufgebaut und hat die Zuhörer ganz offen- sichtlich stark beeindruckt. Der Umstand, daß sich in seinem persönli- chen Nachlaß eine Tonbandkopie der Rede fand,396 deutet darauf hin, welch große Bedeutung die Ansprache am Abend des 16. Juni für Ul- bricht gehabt hat. In der Tat konnte er mit dem Ergebnis seiner Rede hoch zufrieden sein, verhalf ihm doch der begeisterte Beifall der Par- teiaktivisten zu neuer Autorität und damit zur Festigung seiner Positi- on. Die positive Publikumsresonanz hat sicher auch auf Ulbrichts Gegner im Politbüro gewirkt. Gerade von Rudolf Herrnstadt wissen wir, wie stark Ulbrichts Argumentation ihn beeindrucken konnte.397 Aus quellentheoretischer Sicht stellt sich die Frage, ob diese Erkennt- nisse nicht auch anhand der reinen Texttranskription und ohne Abhö- ren der Tonaufzeichnung zu gewinnen gewesen wären. Zu einem gro- ßen Teil wäre das sicher möglich gewesen. Die Publikumsreaktionen sind aber in der Transkription nur mit Worten und Begriffen wie "Bei- fall", "Raunen" oder "Pfui-Rufe" zu umschreiben. Es ist aber wohl nur durch direktes Abhören der Tonaufnahme möglich, die von Ulbricht schrittweise hervergerufene Begeisterung der Zuhörer so weit nachzu- vollziehen, wie es im nachhinein überhaupt noch möglich ist. Nur so kann man erfahren, wie grundverschieden der Beifall für Grotewohl auf der einen und Ulbricht auf der anderen Seite war. Beide Reden sind am 18. Juni im SED-Zentralorgan Neues Deutsch- land gedruckt worden. Dieser Abdruck ist eine wertvolle Ergänzung zu den Tonaufnahmen, denn keine der beiden Versionen muß origi- nalgetreu sein. Erst der Vergleich zwischen Zeitungsveröffentlichung und Tonmitschnitt ermöglicht eine nach heutiger Quellenlage weitest- gehende Rekonstruktion der Redetexte. Diese Rekonstruktion ist je- doch äußerst schwierig, weil die vorliegenden Versionen mit Aus- nahme der Ulbricht-Rede aus jeweils unterschiedlichen Gründen nachweislich von den Original-Redetexten abweichen: Die Grote- wohl-Rede ist vom DDR-Rundfunk wahrscheinlich bereits unvoll- ständig gesendet und im Westen mitgeschnitten worden. Anschließend kann durchaus auch auf westlicher Seite noch eine Nachbearbeitung des Mitschnitts erfolgt sein. Die Unsicherheiten, die sich aus diesen Manipulationen ergeben, haben zur Folge, daß wir zwar den Wortlaut der Rede Otto Grotewohls durch Vergleich der Versionen vervollstän- digen können; die Original-Reihenfolge der einzelnen Redepassagen ist aber nicht sicher wiederherzustellen. 396) IWF, 146 397) Rudolf Herrnstadt: Das Herrnstadt-Dokument. Hg. v. Nadja Stulz-Herrnstadt. Reinbek 1990, 81 127 Die Transkription in der Editions-Begleitpublikation orientiert sich in der Reihenfolge der Texte an den überlieferten Schnittfassungen der Archive. Ergänzungen durch die Zeitungsveröffentlichung sind be- rücksichtigt und im Anmerkungsapparat gekennzeichnet worden. Sy- stematische und ausführliche Hinweise auf Kürzungen im Neuen Deutschland hätten dagegen den Rahmen der Film-, Foto- und Ton- quellen-Edition überschritten. Die redaktionelle Überarbeitung der Redetexte für das Neue Deutschland läßt aber Rückschlüsse darüber zu, wie sich die Partei am 18. Juni im Vergleich zu der innerparteili- chen Veranstaltung am Abend des 16. Juni nach außen darstellen wollte. Die vom N.D. veröffentlichten Versionen sind auch deshalb von Interesse, weil die erste Politbüro-Sitzung nach dem 16. Editionstechnik: allgemeine Anlage der Edition Juni erst wieder am 20. Juni stattgefunden hat.398 Für den dazwischenliegenden Zeitraum, besonders für die unmittelbare Reaktion der DDR-Führung auf den 17. Juni, sind wir deshalb auf Veröffentlichungen im SED- Zentralorgan besonders angewiesen. Die Edition erleichtert diesen Quellenvergleich sehr: Parallel zum Lesen des N.D.-Textes kann der Historiker die Bildplatte oder das Videoband abhören und sich direkt Notizen über die Differenzen zwischen beiden Versionen machen - evtl. sogar in der Begleitpublikation, die ja einen breiten Rand für per- sönliche Anmerkungen bietet. Gleichzeitig gewährt das Abhören der Tonaufnahmen die einzige Möglichkeit, Betonungen der Redner, die etwa in der Interpunktion im Text des N.D. nicht zur Geltung kom- men, ebenfalls zu erfassen. Die Rede Grotewohls in der Fassung des N.D. weist gegenüber dem Tonmitschnitt eine Reihe unbedeutender stilistischer Änderungen auf. Es hat aber offensichtlich auch eine inhaltliche Bearbeitung stattge- funden. Ein Ziel dieser wohl kaum von Grotewohl selbst stammenden Manipulationen scheint es gewesen zu sein, die SED als Partei von der Kritik auszusparen. Zwei Passagen deuten darauf hin: Während Gro- tewohl auf der Parteiaktivtagung gesagt hatte: "Wir haben stets den Standpunkt vertreten: Volk, Partei und Regierung gehören zusam- men,"399 ist im N.D. nur von "Volk und Regierung"400 die Rede. An anderer Stelle hat Grotewohl davon gesprochen, die "Vorhut der deut- schen Arbeiterklasse"401 habe "sich von den Massen gelöst". Davon ist im N.D. nicht mehr die Rede. Hier heißt es lediglich: "Die Vorhut der deutschen Arbeiterklasse muß sich noch fester mit den Massen verei- nigen"402 - eine Manipulation, die wohl durchaus als Fälschung be- 398) Hagen (1992), 183 399) T3, IWF, 139f., ab A1:6616 400) Neues Deutschland (18.06.53), 3 401) Hierzu und im folgenden T3, IWf, 144, ab A1:24500 402) Neues Deutschland (18.06.53), 3 128 zeichnet werden darf. Eine weitere gravierende Änderung betraf die Ansicht der Parteiführung, wonach Produktionssteigerungen unerläß- lich seien. Vor der Parteikonferenz hatte Grotewohl noch ausgeführt, die vom Zentralkomitee zu beschließenden Maßnahmen änderten "nichts an der Tatsache, Genossinnen und Genossen, daß der wirkli- che Träger zur Verbesserung unseres Lebens die arbeitende Bevölke- rung und die Vergrößerung unserer Produktion und die Produktions- steigerung darstellt. Wenn wir in diesem Punkte eine Stellungnahme suchen würden, die an diesem entscheidenden Problem vorbeigeht, müßte alles erneut fehlerhaft werden. Ich sage das, damit die Genos- sen der Partei sich unserer großen Verantwortung bewußt sind, die wir für die weitere Entwicklung unserer Politik und für die Lösung der nationalen Probleme in Deutschland haben."403 Ganz offensichtlich sollte nach den Ereignissen des 16. und 17. Juni selbst der geringste Verdacht bei den Lesern vermieden werden, die Partei wolle doch in irgendeiner Form an den Normenerhöhungen festhalten. Schließlich scheint es so, als hätten die Bearbeiter des Redetextes sich noch darum bemüht, die Nachgiebigkeit der Partei nicht mit den Demonstrationen in Verbindung zu setzen. Ein Indiz dafür ist die Interpunktion in fol- gendem Satz Grotewohls: "Das alles ist heute - nach dem Ablauf der Ereignisse - völlig klar."404 Während Grotewohl in seiner Rede diesen Satz sehr akzentuiert und mit hörbaren Pausen spricht, druckt das N.D. einfach: "Das alles ist heute nach Ablauf der Ereignisse völlig klar."405 Selbst dann, wenn sich hinter diesem Umstand keine aus- drückliche Manipulationsabsicht verbergen sollte, wird diese Textstelle für den Leser abgeschwächt. Die Erkenntnis, daß Grote- wohl den Satz ursprünglich ganz anders betont hat, ist nur durch Ab- hören des Tonbandes möglich. Im Vergleich zu der Ansprache Grotewohls ist die Rede Ulbrichts we- sentlich stärker überarbeitet worden. Das Ziel scheint neben einer ge- wissen stilistischen Bereinigung darin bestanden zu haben, gegenüber dem mündlich im geschlossenen Kreis vorgetragenen Text allzu scharfe System- und Parteikritik sowie die Personaldebatte um Ul- bricht zu unterdrücken. Der Hinweis auf notwendige Produktionsstei- gerungen, der sich noch in dem Kommuniqué des Politbüros vom 16. Juni fand, ist ebenfalls gestrichen worden - offensichtlich, um von vornherein den Eindruck zu vermeiden, die Rücknahme der Nor- menerhöhungen sei nicht ernst gemeint. Damit ähneln sich die Grund- sätze, nach denen beide Reden überarbeitet worden sind. 403) T3, IWf, 143, ab A1:17158 404) Ebenda, ab A1: 405) Neues Deutschland (18.06.53), 3 129 Wie in der Grotewohl-Rede ist bei Ulbricht die Kritik an der man- gelnden oder verlorengegangenen Bindung der Partei zur Bevölkerung abgeschwächt worden. Wörtlich hatte Ulbricht gesagt: "Die Gewähr, daß solche Fehler nicht wiederholt werden, liegt nur in der engen Ver- bindung der Parteiführung und der Partei überhaupt mit den Massen ..."406. Im N.D. ist dagegen von einer "weiteren Festigung der Verbin- dung"407 die Rede. In seiner Originalrede hatte Ulbricht als erste Leit- frage formuliert: "Worin besteht die Wendung in unserer Politik?"408 Unter diesem Aspekt hatte Ulbricht den beschleunigten Aufbau des Sozialismus hart kritisiert, die Spaltung Deutschlands als für die DDR wirtschaftlich sehr problematisch bezeichnet, die schematische Über- nahme des sowjetischen Vorbildes als falsch verworfen und schließ- lich verkündet: "Die bisherige Politik der Einschränkung der kapitali- stischen Kräfte wird aufgehoben."409 So weit sollte die veröffentlichte Kritik dann aber wohl doch nicht gehen. Die komplette erste Frage ist nicht im N.D. erschienen, und die "zweite Frage: Was bleibt an unse- ren Beschlüssen?"410 wurde ebenfalls umformuliert. Die erste Frage hatte gelautet: "Was ist der tiefere Sinn unserer Beschlüsse?"411 Ganz offensichtlich sollte die Verstaatlichungspolitik durch den Neuen Kurs nicht zu stark unter Druck geraten. Im mündlichen Vortrag hatte es noch geheißen, die Belieferung von Privatbetrieben mit Rohstoffen solle selbst zu Lasten volkseigener Betriebe erfolgen, und die Konkur- renz des staatlichen Handels mit dem privaten Handel zwinge den staatlichen Handel, "besser zu arbeiten, weil er sonst Waren, die einen Schund darstellen, nicht mehr absetzen kann"412. Diese Aussagen feh- len im N.D. Auch die ursprünglich vierte Frage: "Was gedenken die SED und die Regierung zu tun gegen die Verletzung der demokrati- schen Gesetzlichkeit?"413 ist dem Rotstift zum Opfer gefallen. In die- sem Abschnitt hatte Ulbricht schwere Gesetzesverletzungen gegen- über Arbeitern, Intellektuellen und besonders gegenüber privaten Landwirten und Unternehmern zugegeben. Er hatte angekündigt, be- reits verhängte Vollzugsmaßnahmen rückgängig zu machen und zu- künftigen Rechtsverletzungen durch neue Gesetze vorzubeugen. Letztere würden "auch in Westdeutschland von der Mehrheit der Be- 406) T4, IWf, 149 (nicht auf Bildplatte) 407) Neues Deutschland (18.06.53), 3 408) T4, IWF, 150, ab A1:28898 409) T4, IWF, 150, ab A1:32880 410) T4, IWF, 151, ab A1:33031 411) Neues Deutschland (18.06.53), 3 412) T4, IWF, 152 (fehlt auf Bildplatte) 413) Ebenda 130 völkerung begrüßt werden"414. Gegenüber dem ursprünglichen Rede- text war somit die redaktionelle Bearbeitung für das N.D. mit einer massiven Filterung und Abschwächung verbunden! Bezüglich parteiinterner Veränderungen scheint bei der Überarbeitung der Rede die Angst vor allzu fundamentaler Kritik von Seiten der Ba- sis zu interessanten Änderungen geführt zu haben. Zwar heißt es im N.D. wie in der Originalrede, daß "die Selbstkritik und die Kritik von unten entfaltet"415 werden solle. Doch im N.D. steht dabei extra noch der einschränkende Zusatz, diese Kritik habe "der Erreichung der gro- ßen Ziele unseres Aufbaus [zu] dienen"416. Während Ulbricht am Abend des 16. Juni noch von der "Pflicht der Parteimitglieder, Kritik an den führenden Genossen zu üben"417, gesprochen hatte, heißt es ab- geschwächt im N.D.: "Auch die führenden Genossen sind keine Men- schen, die von der Kritik für ihre Mängel ausgenommen sind."418 Mündlich hatte Ulbricht noch gesagt: "Die Parteiaktivtagungen in den Kreisen dürfen nicht den Charakter eines Befehlsempfangs haben"419. Im N.D. steht an Stelle des Wortes `Befehlsempfang' das weitaus ver- harmlosendere Wort `Informationsabend'420. In bezug auf seine eigene Person hat Ulbricht vor dem Berliner Parteiaktiv relativ deutlich - wenn auch ohne Namensnennung - gesagt: "Was die Frage der füh- renden Person in der Partei betrifft, so ist es notwendig zu betonen, daß das vom Parteitag gewählte Zentralkomitee die Führung der Partei ist und zwischen den Tagungen des Zentralkomitees das gewählte Po- litbüro. Zweifellos liegen bei uns auch Fehler vor in bezug auf die Entwicklung eines Führerkultes, der nicht der Würde einer marxi- stisch-leninistischen Partei entspricht. Auch das muß man korrigie- ren."421 Für die Publikation im N.D. ist dieser Abschnitt der Ulbricht- Rede ersatzlos gestrichen worden! Die gleiche Streichung traf auch den Redeabschnitt, in dem Ulbricht die Demonstrationen des 16. Juni zu charakterisieren versucht, Handlungsanweisungen für den nächsten Tag ausgibt und die vermeintliche Diskussion um Wilhelm Pieck an- spricht.422 414) T4, IWf, 153 415) Ebenda; Neues Deutschland (18.06.53), 3 416) Neues Deutschland (18.06.53), 3 417) T4, IWF, 153 (fehlt auf Bildplatte) 418) Neues Deutschland (18.06.53), 3 419) T4, IWF, 153 (fehlt auf Bildplatte) 420) Neues Deutschland (18.06.53), 3 421) T4, IWF, 154 (fehlt auf Bildplatte) 422) T4, IWF, 159-161, ab A1:39947. 131 Nach Abschluß dieser Betrachtungen erhellt sich unser Ulbricht-Bild in vielfältiger Weise. Dies gilt einmal für seine Persönlichkeit ganz allgemein und zum zweiten für die Position Ulbrichts in der Partei im Umfeld des Aufstandes. Bislang ist die Historiographie davon ausge- gangen, daß Ulbricht ohne den 17. Juni gestürzt worden wäre. In der Tat scheint die sowjetische Führung für die Umsetzung der von ihr verordneten Kursschwenkung in Otto Grotewohl den bevorzugten Ge- sprächspartner gesehen zu haben. 423 Der Vergleich der Reden Grote- wohls und Ulbrichts zeigt aber, daß sich der Erste Sekretär des ZK der SED gegenüber dem Ministerpräsidenten in mehrerlei Hinsicht tak- tisch geschickter verhalten zu haben scheint. Gegenüber Otto Grote- wohl hat Ulbricht seine Rede wesentlich publikumswirksamer aufge- baut. Während Grotewohl seine Kritik mit deutlicher Zurückhaltung formuliert, wird Ulbricht taktisch ungemein geschickt offensiv. Er bleibt nicht bei der Fehlerdiskussion stehen, sondern schwört das Par- teivolk wirksam auf den äußeren Gegner ein424, lenkt geradezu elegant von etwaiger Kritik an seiner Person ab und gibt relativ konkrete Handlungsanweisungen und Argumentationshilfen in bezug auf die für den 17. Juni zu erwartenden Diskussionen. Die Tagungsteilnehmer dürften sich dadurch wesentlich mehr ermutigt und exakter angeleitet gefühlt haben, als durch die Rede Grotewohls. Der Umstand, wonach Ulbricht als zweiter Redner auftrat, deutet auch auf organisatorisches Geschick; denn das zuletzt Gehörte hat sich sicher tiefer bei den Zu- hörern eingeprägt als der erste Redebeitrag, und notfalls hätte Ulbricht auch in freier Rede mißliebige Äußerungen seines Vorredners relati- vieren können. Damit bietet die Parteiaktivtagung das Bild eines rhe- torisch und organisatorisch überlegenen Walter Ulbricht, demgegen- über die Person Grotewohls regelrecht farblos wirkt. Der beschriebene Eindruck verstärkt sich noch angesichts der Überar- beitung, die die Ulbricht-Rede für die Veröffentlichung im SED- Zentralorgan erfahren hat. Der detaillierte Vergleich der beiden Ver- sionen des Ulbricht-Textes zeigt auch, daß die Opposition gegen Ul- bricht die Veröffentlichung der selbstkritischen Passagen über den Kreis der Parteiaktivisten hinaus nicht erzwungen hat. Dieser Um- stand erscheint um so erstaunlicher, als mit Rudolf Herrnstadt einer der angeblich entschiedendsten Ulbricht-Gegner Chefredakteur des Neuen Deutschland war. Das hier untersuchte Beispiel zeigt, wie geschickt Ulbricht taktiert hat und/oder wie halbherzig sich die innerparteiliche Opposition gegen ihn verhalten hat.425 Jedenfalls wurden eine allzu harte Kritik an der 423) Hagen (1992), 188 424) Vgl. das Raunen im Publikum (IWF, 157) 425) Vgl. Hagen (1992), 182ff. 132 alten Ulbricht-Linie unterdrückte, größere Zugeständnisse an die Pri- vatwirtschaft nicht mehr ausgesprochen und die sowieso schon ve r- klausulierte Selbstkritik Ulbrichts völlig gestrichen. Die geschilderten Untersuchungsergebnisse werfen weiterführende Fragen auf. Können wir auf Grund der hier gewonnenen Erkenntnisse ein insgesamt genaueres Bild der Opposition gegen Ulbricht zeich- nen? Ist die Vorstellung von einem seinen vermeintlichen Gegnern rhetorisch und organisatorisch überlegenen Ersten Sekretärs des ZK der SED allgemein richtig? Müssen wir wirklich davon ausgehen, daß die Parteidisziplin für Ulbricht lediglich ein Mittel zur Disziplinierung der anderen Parteimitglieder war, von der er selbst aber glaubte, über ihr zu stehen? Ging im Gegenzug die Parteidisziplin seiner Gegner so weit, daß sie um dieser Disziplin willen direkte Angriffe auf die Per- son Ulbrichts weitgehend vermieden, ja ihn vielleicht sogar nach dem 17. Juni stützten, weil sie der Meinung waren, der Partei damit den besten Dienst zu erweisen? Haben schließlich die Sowjets Ulbricht nicht nur gestützt, um nach außen Stärke zu demonstrieren, sondern auch, weil sie keine gleichwertige personelle Alternative unter den üb- rigen SED-Spitzenfunktionären finden konnten? Quellentheoretisch bleibt abschließend festzuhalten, daß die inhaltli- che Untersuchung wesentlich von dem Abhören der auditiven Quellen profitiert hat und teilweise dadurch erst inspiriert wurde. 7.2 Reaktionen am 17. Juni Am Morgen des 17. Juni waren es ganz offensichtlich zuerst KVP- Einheiten, die zur Sicherung strategisch wichtiger Gebäude im Zen- trum Berlins eingesetzt wurden. Im Film ist dies besonders für das Haus der Ministerien belegt. Die Vopos haben versucht, Sperrketten vor dem Gebäude zu bilden. Torsten Diedrich hat in seiner Untersu- chung die hohen Desertionszahlen und die geringe ideologische Fe- stigkeit der KVP dargestellt.426 Der gegen die eigene Bevölkerung ge- richtete Einsatz am 17. Juni dürfte die Soldaten psychisch außeror- dentlich belastet haben. Auf P19 sind Körperhaltung und Mimik ein- zelner Vopos gut zu erkennen. Während einer der Offiziere, erkennbar am Koppelschloß, grimmig in Richtung Kamera blickt, wirken die jungen Soldaten unsicher und bedrückt. Das Photo bietet damit einen eindrucksvollen Anhaltspunkt für den Druck, der auf den Sicherheits- kräften lastete. Bei ihrem Einsatz waren die deutschen und später so- wjetischen Soldaten nicht nur den Schmähungen der Demonstranten ausgesetzt sondern auch deren Steinwürfen. Wie bedrohlich die kom- pakte Masse auf die verunsicherten Soldaten gewirkt haben mag, zeigt 426) Diedrich, 161 133 uns P92 (s. S. 127). Die Menschenmenge füllte die gesamte Straßen- breite aus und war aus Augenhöhe für die Soldaten unüberschaubar. Um wieviel bedrohlicher mag sie den Verteidigern des Regierungs- viertels mit ihrer Taktik erschienen sein, sich immer wieder ganz langsam den Absperrungen zu nähern. 427 Aus dieser Perspektive wird verständlicher, warum Panzer eingesetzt wurden, um die Demonstranten zurückzudrängen und auseinanderzu- treiben. Da die Militäreinheiten nur über Kriegswaffen und in der Re- gel nicht über Wasserwerfer, Tränengas oder ähnliches verfügten, wa- ren sie auf deren Einsatz angewiesen. Lediglich auf dem Vorplatz des Hauses der Ministerien ist Wasser aus einem Feuerwehrschlauch zur Abwehr von Demonstranten eingesetzt worden, 428 und am Potsdamer Platz ist zeitweise, aber insgesamt wohl erfolglos, ein Wasserwerfer zum Einsatz gekommen. 429 In der Literatur wird der Militäreinsatz des 17. Juni mehrfach als der Aufgabe angemessen bezeichnet.430 Diese Aufgabe bestand ab Mittag darin, unter sowjetischem Oberbefehl die Regelungen des Ausnahme- zustandes durchzusetzen. Eine wichtige Taktik der sowjetischen Streitkräfte zur Auflösung der Demonstrationen bestand darin, mit Panzern in die Menschenmenge hineinzufahren. Zumindest in einem Fall ist dabei ein Demonstrant zerquetscht worden. 431 Die Filmaufnahmen vom Potsdamer Platz bie- ten die Möglichkeit, im Rahmen einer meßtechnischen Auswertung die Geschwindigkeit der dort operierenden Panzer zu messen. Obwohl damit von vornherein keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen er- wartet werden können, kann an diesem Einzelfall im Rahmen der quellentheoretischen Fragestellung geprüft werden, wie genau eine solche Messung möglich ist. 427) So hat ein Rundfunksprecher 1953 die Taktik der Demonstranten beschrieben. Da es sich bei dieser Passage nicht um einen Beitrag von einem der Originalschauplä t- ze oder um ein Interview mit Beteiligten gehandelt hat, ist diese Tonaufnahme nicht in die Edition aufgenommen worden. 428) Hildebrandt (1983), 171 429) IWF, 178, 199, 216 430) Arnulf Baring: Die Russen schossen in die Luft. In: Der Spiegel 25 (1965), 88; Diedrich, 85 431) Brant/Bölling, 130; Riess, 129f.; Scholz/Nieke (1953), 25; Scholz/Nieke/Vetter (1954), 38; ZPA IV/2/5/537, 47f. 134 Das Verfahren beruht auf der Tatsache, daß ein vor der Kamera be- findliches Objekt in Abhängigkeit von seiner Entfernung zum Objek- tiv und in Abhängigkeit von der Brennweite des Objektivs in einer eindeutig bestimmten Größe auf dem Film abgebildet wird. Je weiter das Objekt von der Kamera entfernt ist, desto kleiner wird es abgebil- det; nähert es sich, nimmt es auf dem Filmbild entsprechend größeren Raum ein. Wenn die Anzahl der pro Sekunde aufgenommenen Bilder bekannt ist, läßt sich die Zeit (und damit die Geschwindigkeit) ermit- teln, die z.B. ein Fahrzeug zur Überwindung der zwischen Einstel- lungsbeginn und -ende zurückgelegten Strecke benötigt hat. Die Filmeinstellung Nr.151 erfüllt wesentliche Voraussetzungen für eine derartige Messung: Ein Panzer, der an der Spitze einer Kolonne fährt, bewegt sich direkt auf die Kamera zu. Mit einer Länge von knapp 18 Sekunden ist die Einstellung auch lang genug. Außerdem ist die Größe des T34-Panzers bekannt.432 Große Unsicherheitsfaktoren ergeben sich dagegen daraus, daß mit der Brennweite des verwendeten Kameraobjektivs ein wesentlicher Parameter nicht exakt zu bestim- men ist. Die Brennweite wäre hilfsweise zu erschließen, wenn sich zumindest an einer Stelle der Einstellung der Abstand zwischen Ka- mera und Panzer exakt bestimmen ließe. Dies ist aber nicht mit hinrei- chender Genauigkeit möglich. So ist die Panzergeschwindigkeit nur annäherungsweise zu bestimmen. Die direkte Filmauswertung am Filmauswertegerät433 ist aus mehreren Gründen genauer als eine Messung am Video-Monitor: Bildformatbe- einträchtigungen durch die Filmabtastung und eine Justierung des Monitors in Bildhöhe und -breite entfallen, und außerdem beeinträch- tigt die Wölbung der Monitorscheibe nicht die Messung des abgebil- deten Objekts. 432) Taschenbuch der Panzer 1943-54. München 1954, 204. Bei dem im Film zu sehenden Panzer handelt es sich um den Typ T34/85. 433) Eine Beschreibung dieses Gerätes und seiner Ein- satzmöglichkeiten findet sich bei Hans-Karl Galle: Die Mehtodik der herkömmlichen Filmauswertung. In: Rese- arch Film - Le Film De Recherche - Forschungsfilm Vol.8 No.5 (1975), 417-419 135 Folgende Rechenschritte sind erforderlich: 1. Grundgleichung: Brennweite Entfernung --------------------- = ----------------- Abbildungsgröße Originalgröße 2. Umstellung der Grundgleichung: Brennweite X Originalgröße Entfernung = ---------------------------------- Abbildungsgröße 3. Errechnen der zwischen Einstellungsbeginn und -ende zurückge- legten Strecke. 4. Umrechnen in Stundenkilometer. Die praktische Berechnung für die verschiedenen möglichen Brenn- weiten führte zu folgenden Ergebnissen: 150 mm Brennweite entspricht 4,4 kmh 200 mm " " 5,9 kmh 250 mm " " 7,4 kmh 300 mm " " 8,9 kmh 500 mm " " 14,8 kmh 600 mm " " 17,7 kmh Da der Panzer zu Beginn der Einstellung gerade die Einmündung der Leipziger Straße auf den Leipziger Platz zu passieren scheint, kann eine Entfernung von rund 250 Metern angenommen werden, 434 wenn man davon ausgeht, daß der Kamerawagen hart an der Sektorengrenze auf Westberliner Gebiet gestanden hat.435 Diese Annahme legt die 434) Vgl. Stadtplan-Ausschnitt bei IWF, 128 435) Die leichte Aufsicht, die sich aus einer erhöhten Posi- tion des Kameramanns, vermutlich auf dem Dach seines Pkw, ergeben hat, ist wegen des geringen Neigungswin- kels nicht mit in die Berechnung der Panzergeschwindig- keit einbezogen worden. 136 Verwendung eines 500mm-Objektivs nahe. Damit ist zu vermuten, daß der Panzer zum Zeitpunkt der Aufnahme mit einer Geschwindig- keit von etwa 15 Stundenkilometern gefahren ist. Diese Annahme wird auch dadurch gestützt, daß es einem im Bild sichtbaren Radfah- rer ohne besonders starkes Treten möglich war, vor dem Panzer herzu- fahren. Da die Demonstranten auf den Bürgersteigen beiderseits der Straße neben den Panzern herliefen, sind sie zu diesem Zeitpunkt durch die Panzer nicht gefährdet worden. Insofern ist an dieser Stelle den Aus- sagen von Baring und Diedrich, die den sowjetischen Militäreinsatz als eher zurückhaltend beschrieben haben, nicht zu widersprechen. 436 Anhand anderer Filmbilder und Tonquellen stellt sich die Härte der Zwangsmaßnahmen jedoch in einem Maße dar, das die Aussage von Baring in Frage stellt, wonach die Russen vorrangig "in die Luft" ge- schossen und die sowjetischen Panzer - wie vom Stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten Nuschke dargestellt - lediglich "demon- striert" haben. 437 Mindestens ein Demonstrant ist von Panzerketten er- drückt worden, 438 zahlreiche Menschen wurden durch Schüsse zum Teil tödlich verletzt. Allein durch diese Umstände ist ein gezielter Waffeneinsatz bzw. ein Waffeneinsatz, bei dem billigend Todesopfer in Kauf genommen wurden, belegt. In T21 berichtet ein Reporter von Geschossen, die an ihm "vorbeipeitschen"439. Und er fügt hinzu: "Sie gehen also nicht etwa in die Luft." Insgesamt verzeichnet die Tonauf- nahme etwa 13 kurze Feuerstöße - aus Maschinenpistolen, wie der Reporter vermutet.440 Der unterschiedliche Klang legt nahe, daß gleichzeitig am Potsdamer Platz und weiter entfernt geschossen wor- den ist. Zu einem anderen Zeitpunkt (Motorengeräusche im Hinter- grund) ist neben erneuten kurzen Feuerstößen auch Einzelfeuer am Potsdamer Platz auf Tonband aufgezeichnet worden. 441 In T31 schil- dert ein Demonstrant die Wirkung des Schußwaffengebrauchs: "Man sah gleich einige auf dem Boden sich wälzen, blutüberströmt ..."442 Hingegen scheinen die Demonstranten, die nach 14 Uhr versuchten, 436) Vgl. Baring (1965), 88; Diedrich, 85 437) Baring ebenda; IWF, T32, ab B2:20286 438) Brant/Bölling, 130; Riess, 129f.; Scholz/Nieke (1953), 25; Scholz/Nieke/Vetter (1954), 38; ZPA IV/2/5/537, 47f. 439) Hierzu u. im folg. IWF, 200, ab B1:18874 440) Ebenda, ab B1:17953 441) IWF, 215, ab B2:288 442) IWF, 222, ab B2:14265 137 schwarz-rot-goldene Fahnen auf dem Brandenburger Tor zu hissen, nicht gezielt beschossen worden zu sein.443 Insgesamt gelingt mit Hilfe der Film-, Photo- und Tonquellen auch in bezug auf die Niederschlagung des Aufstandes die Zeichnung eines differenzierteren Geschichtsbildes. Das Schlagwortverzeichnis der Edition bietet dabei etwa zu den Stichworten "Wasserwerfer" oder "Schußwaffengebrauch" wertvolle Verweise. Danach scheinen die Si- cherheitskräfte erst nach Verhängung des Ausnahmezustandes von ih- ren Handfeuerwaffen Gebrauch gemacht zu haben. Es wurde teilweise durchaus gezielt in die Menge geschossen. Zur Durchsetzung des Ausnahmezustandes sind demnach Menschenopfer bewußt in Kauf genommen worden. Dabei steht der große psychische Druck, der auf den Soldaten lastete, außer Zweifel. Die angeführten Bildbelege füh- ren diesen Aspekt eindrucksvoll vor Augen. Es ist der sowjetischen Militärführung zudem entlastend anzurechnen, daß sie am Potsdamer Platz auch versucht hat, ihr Ziel mit Hilfe eines oder mehrerer Was- serwerfer - und damit ohne Blutvergießen - zu erreichen. Offenbar hat dieses Mittel die Demonstranten nicht ausreichend abschrecken kön- nen. Der Panzereinsatz war, soweit im Film beobachtbar, nicht mit einer übermäßigen Gefährdung für die Menschen verbunden. Das gilt sogar für die Taktik, den Potsdamer Platz mit Hilfe hin- und herfahrender Panzer von Demonstranten zu räumen.444 Die meßtechnische Aus- wertung der untersuchten Filmeinstellung hat diesen Teil-Eindruck erhärtet. Der Umstand, daß der Einsatz von Panzern an anderer Stelle trotzdem mindestens ein Todesopfer gefunden hat, legt aber auch hier den Verdacht nahe, daß Menschenleben dem Ziel der Demonstrati- onsauflösung untergeordnet worden sind. Zu einer Verharmlosung des letztlich kompromißlosen sowjetischen Militäreinsatzes besteht dem- nach kein Anlaß. 443) IWF, 217, ab B2:4583 444) Hierzu u. im folg. IWF, F159-169 138 8. Bild- und Tonquellen über offizielle Reaktionen von westlicher Seite In der Lesart der DDR-Historiographie hat es sich bei dem Aufstand des 17. Juni um einen vom westlichen Ausland gesteuerten Putsch ge- handelt.445 Abgesehen davon, daß es keine glaubhaften Belege für die- se Theorie gibt, hat zuletzt Manfred Hagen ausführlich dargestellt, wie auf westlicher Seite die Sympathie gegenüber den Aufständischen mit der Sorge vor unverantwortbarer Eskalation gerungen hat.446 Der Au- tor kommt zu folgender Schlußfolgerung: "Zwar haben die Amerika- ner den RIAS unter ... Einschränkungen weiter senden lassen, und dessen erste Kommentare und aktuelle Berichterstattung haben offen- bar starke Wirkung ausgeübt, die in der Erinnerung der Verantwortli- chen recht unterbewertet erscheint. Davon abgesehen hat jedoch der offizielle Westen nicht `nur alles unterlassen, was die Sowjets provo- zieren könnte', sonder fast alles Erdenkliche getan, um die Erhebung zu begrenzen". 447 Inhaltlich ist dieser Darstellung nichts hinzuzufügen. Es ist aber von quellentheoretischem Interesse, die Bedeutung der Bild- und Tonquellen für diese Argumentation nachzuzeichnen. Hagen stützt sich bei seiner Analyse der RIAS-Sendungen in weiten Teilen auf die Film-, Foto- und Tonquellen-Edition. Dabei ergibt sich, daß die verschiedenen über den Sender gegangenen Aufrufe teils auf- munternden, teils dämpfenden Charakter hatten. Ihr Inhalt korrespon- diert auf eindrucksvolle Art mit der jeweiligen Sprechweise der Red- ner. Während Jakob Kaiser, der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, seine Mahnung zur Besonnenheit geradezu emotionslos vor- trägt,448 verkündet der Westberliner DGB-Vorsitzende Ernst Schar- nowski seinen Aufruf zur Teilnahme an den Demonstrationen mit pa- thetischer Stimme.449 Das Abhören der Tonaufnahme erleichtert damit die Interpretation dieser beiden wichtigen Quellen. Darüber hinaus er- geben sich bessere Anhaltspunkte für die Wirkung der Sendebeiträge auf die Rundfunkhörer, denen die akzentuierte Sprechweise Schar- nowskis eindringlicher erschienen sein dürfte. Zusammen mit der mehrmaligen Ausstrahlung der Ansprache des Gewerkschafters ergibt sich damit in bezug auf die ersten Reaktionen des RIAS, daß die Auf- forderung zur Demonstrationsteilnahme stärker betont worden ist als die Bedenken des Vertreters der Bundesregierung. 445) Vgl. Ausschuß für deutsche Einheit (Hg.): Wer zog die Drähte? Der Juni-Putsch und seine Hintergründe. Berlin 1954 446) Hierzu u. im folg. Hagen (1992), 93-104 447) Ebenda, 104 448) IWF, 162, ab A2:90 449) IWF, bes. 164, ab A2:6278 140 Auch am Potsdamer Platz hat es mehrschichtige Reaktionen von westlicher Seite gegeben. Während etwa ein Lautsprecherwagen der SPD die östlichen Sicherheitskräfte zur Beendigung des Schußwaf- feneinsatzes aufrief und den Schützen in diesem Zusammenhang an- drohte, sie würden "eines Tages dafür zur Verantwortung"450 gezogen werden, gab die Westberliner Polizei der Aufrechterhaltung der öf- fentlichen Ordnung und dem Schutz der Bürger vor der östlichen Waf- fenwirkung den Vorzug und versuchte, Demonstranten und Zuschauer von den Brennpunkten an der Sektorengrenze fernzuhalten. 451 Der von Hagen zitierte Polizeibericht vermerkt, daß die Polizisten sich hierbei dem Vorwurf der Unterdrückung der Demonstrationen aussetzten. Auf P94 und P109f. ist jeweils zu sehen, daß eine Polizei-Sperrkette Zu- schauer westwärts vom Potsdamer Platz abdrängt. Die Menschen blicken zum Teil im Weggehen zurück, Nachzügler tauchen in P109 unter den Armen der Sperrkette bildenden Polizisten hindurch. Ledig- lich ein Mann spricht offenbar eindringlich auf einen am Straßenrand stehenden Polizeibeamten ein (P109). Insgesamt scheinen sich die Menschen der Polizeianweisung zum Verlassen des Platzes ohne Wi- derstand zu fügen. Besonders auf P110 ist zu sehen, daß die Polizisten die Menschen keinesfalls körperlich bedrängen müssen, um sie zum Weggehen zu bewegen. Damit wird deutlich, daß die Westberliner Polizei nicht nur bei den Demonstranten, die vermeintliche SED-Funktionäre an sie ausliefer- ten, über Autorität verfügte. Gleiches gilt offenbar auch für diejeni- gen, die lediglich vom Westen aus zusehen wollten. Während es sich die amerikanische Besatzungsmacht nicht entgehen ließ, den in ihrem Sektor um Polizeischutz bittenden Stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten Nuschke zu verhören und (erfolglos) zu ei- nem propagandaträchtigen Übertritt in den Westen zu überreden, 452 beweist F417, daß britische Militärpolizei das sowjetische Ehrenmal in der Charlottenburger Chaussee bewacht hat - offenkundig, um es vor Anschlägen zu schützen. Die Westberliner Polizei hat diese Maß- nahme unterstützt, indem sie Demonstranten sogar in den Ostsektor (!) abdrängte und schließlich die gesamte Straße in dem fraglichen Ab- 450) IWF, 215, ab B2:605 451) Hierzu u. im folg. Hagen (1992), 100 452) Notiz des politischen Beraters des britischen Stadtkomman- danten von Berlin an das britische Außenministerium in Lon- don. Abgedruckt bei Beier, 137 141 schnitt gesperrt hat.453 Eindrucksvoller ist die Deeskalationsstrategie offizieller westlicher Organe am 17. Juni wohl kaum zu belegen. Das Bemühen um den politisch weitgehend bedeutungslosen Otto Nuschke spielt dagegen in diesem Zusammenhang keine wichtige Rolle. 453) Der Polizeipräsident in Berlin - PhS, Meldungen der West- berliner Polizei zum 17. Juni 1953; ebenda, Bericht der Poli- zeiinspektion Tiergarten an die britische Militärregierung; ZPA IV/2/5/539,1 142 9. Zusammenfassung Die Untersuchung hat ergeben, daß ein Grundsatz historischer Que l- lenkritik - nämlich der kritische Vergleich verschiedener, voneinander möglichst unabhängiger Quellen zum Zweck historischer Wahrheits- findung - auch für den Vergleich unterschiedlicher Quellengattungen gilt. Die Wertigkeit von Film-, Photo- und Tonquellen kann am Be i- spiel des 17. Juni 1953 über viele Details bis hin zu deren Anteil an der Begriffsbildung erschlossen werden. Dabei hat sich gezeigt, daß die vermeintlich oberflächlichen Bilder durchaus Rückschlüsse auf Antriebe und Gedanken der aufgenommenen Akteure zulassen. Unter bestimmten Voraussetzungen erlangen die visuellen und auditiven Quellen im Vergleich zu Texten oftmals primären Wert. Dieser Um- stand ist im wesentlichen in der "Sub-Eventu-Entstehung" der Bild- und Tonaufnahmen begründet, die sich als relevantes Untersche i- dungskriterium im Vergleich zu den post eventum entstandenen Tex- ten erwiesen hat. Sub eventu wird zudem manches aufgenommen, was in den Augen der miterlebenden (d.h. auch der die Aufnahmen anfer- tigenden) Zeitgenossen scheinbar unwesentlich war, das sich aber für den nachlebenden Historiker als durchaus wichtig erweisen kann. Erweist sich die Sub-Eventu-Entstehung bildimmanent als großer Vorteil, erscheint sie gleichzeitig aus historischer Sicht als schwer- wiegende Verantwortung für den aufnehmenden Kameramann bzw. Reporter. Hinzu kommt, daß die Bild- und Tonaufnahmeteams in der Regel nicht aus historischem sondern aus kommerziellem Interesse tätig werden und sich von vornherein Gedanken über den Marktwert ihrer Aufnahmen machen müssen. Es steht zu befürchten, daß dieser Druck auch bei öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten wächst. Der Ein- fluß dieser äußeren Bedingungen für den Quellenwert der Aufnahmen vom 17. Juni 1953 ist nur schwer abzuschätzen. Die Wochenschaufirmen als Auftraggeber der Kameramänner dürften vor allem an spektakulären Aufnahmen interessiert gewesen sein. Darüber hinaus lag es im Interesse der Kameraleute, sparsam mit dem teuren Filmmaterial umzugehen. Die Ereignisse des 17. Juni haben sich im Berliner Stadtzentrum von morgens acht bis abends neun Uhr über 13 Stunden erstreckt. Aus diesem Zeitraum existieren insgesamt nur etwa 35 Minuten Film! Daraus wird deutlich, wie komprimiert die Bildeindrücke zwangsläufig sind. Es ist davon auszugehen, daß sie sich auf aufsehenerregende Aktionen beschränken. Stundenlanges, ratloses Herumstehen der Demonstranten, abwartendes Verhalten auf Seiten der Sicherheitskräfte, die es zweifellos auch gegeben hat, sind offenbar nicht im Bild festgehalten worden. Ein besonderer Einwand ergibt sich daraus nicht. Denn auch die ver- bale Berichterstattung konzentriert sich naturgemäß auf die Höhe- punkte der Aktionen. Unterschiede zwischen Bild- und Worterzählung können sich allerdings daraus ergeben, daß bestimmte Ereignisse 143 mangels erkennbarer Bewegung von den Kameraleuten als nicht fil- menswert bewertet und nicht aufgezeichnet worden sind. Wenn ein Rundfunksprecher etwa berichtet, am Potsdamer Platz seien die De- monstranten über Stunden immer näher an die östlichen Sicherheits- kräfte herangerückt, bis diese schließlich das Feuer eröffnet hätten, 454 so ist dieses langsame Vorrücken wegen seiner Dauer im Film nicht festzuhalten gewesen. In diesem Zusammenhang ist die allgemeine Erkenntnis von Bedeutung, daß bestimmte Vorgänge technisch nicht von Kamera und Mikrophon sub eventu erfaßt werden können, weil sie nicht öffentlich sind, zu lange dauern, zu langsam vor sich gehen oder weil sich, wie im Fall des Lynchmordes in Rathenow, bestimmte Aspekte des Geschehens hinter spiegelnden Fensterscheiben oder bei mangelnder Beleuchtung abspielen. Ein deutlicher Vorteil der Bild- und Tonquellen dürfte dagegen darin zu sehen sein, daß der von ihnen erfaßte zeitliche Ausschnitt eines Gesamtereignisses und die damit verbundene Beschränkung ihrer Aussagekraft eindeutiger als bei Schriftquellen zu bestimmen ist. Bezüglich der von Demonstrantengruppen ausgeübten Gewalt gegen Personen und Sachen haben sich die Film-, Photo- und Tonquellen als wichtige Ergänzung des Quellenspektrums erwiesen. Sie haben geho l- fen, die Tendenzen bestimmter Darstellungen deutlicher herauszuar- beiten und zu bewerten. Darüber hinaus ist ein breiteres und differen- zierteres Aktionsspektrum als auf Schriftquellenbasis deutlich gewor- den. Aus dieser Einsicht ergibt sich die quellentheoretische Erkennt- nis, daß sich die Bild- und Tonquellen wesensmäßig von den Schrift- quellen unterscheiden. In erster Linie haben sie den Vorteil, ständig intersubjektiv auf einer Ebene überprüfbar zu sein, die näher an der vergangenen Wirklichkeit liegt; denn sie vermitteln einen Teil der Sinneseindrücke, die ein wirklicher Augen- oder Ohrenzeuge "sub eventu" sammeln konnte - unabhängig von dessen späterer verbaler Umsetzung des Gesehenen und Gehörten. Sie zeigen Fakten, wie etwa die Diskussionsgruppen am Nachmittag und Abend des 16. Juni in der Ostberliner Innenstadt. Sie regen zum Nachdenken an, etwa bezüglich der Frage, wie in dem Gewimmel aus Diskutierenden, Passanten, Rad- und Autofahrern sowie öffentlichem Nahverkehr die Nachrichtenver- breitung stattgefunden haben könnte. Sie vermitteln durch die Dar- bietung zeitlich paralleler oder dicht beieinanderliegender Ereignisse ein besseres Gefühl für Zusammenhänge und Hintergründe. Beispiele dafür sind die unmittelbar nachzuerlebenden Reaktionen Umstehender auf die Aktionen kleinerer Gruppen oder auf Äußerungen gegenüber Rundfunkreportern. Als ebenso aufschlußreich haben sich die Publi- kumsreaktionen, etwa gegenüber Grotewohl und Ulbricht, erwiesen. Das Schreiben von Geschichte wird dadurch nicht einfacher. Denn je mehr Quellen verfügbar sind, desto schwieriger ist es unter Umstän- 454) Rundfunksprecher in einer Sequenz, die nicht in die Edition aufgenommen worden ist 144 den, die Details zur Deckung zu bringen. Mancher mag bedauern, daß dadurch klare Aussagen, wie sie für die populäre Vermittlung von Ge- schichte wünschenswert sind, erschwert werden. Vom wissenschaftli- chen Standpunkt aus gesehen ist selbst die möglicherweise entstehen- de Irritation ein Gewinn, und letzten Endes wird der harte Kern des historischen Wissens vielleicht klarer darstellbar. Die von Susan Sontag und Hagen Schulze vertretene These, aus Bil- dern ließe sich kein historisches Wissen gewinnen, läßt sich also wi- derlegen! Richtig ist, daß Bilder und auch Tonaufnahmen ohne mög- lichst vielfältige verbale Zusatzinformationen nicht oder nur einge- schränkt interpretierbar sind. Insofern können sie schon aus Prinzip nicht an der Spitze einer wie auch immer annehmbaren Hierarchie hi- storischer Quellen stehen. 455 Da es unrealistisch ist, die Sammlung der so wichtigen Begleitinfor- mationen von den Aufnahmeteams zu erwarten, fällt diese Aufgabe den Archivaren und Bearbeitern von Quellen-Editionen zu. Wegen der unendlichen Vielzahl der an die Quellen zu richtenden Fragen wird es eine umfassende und systematische Interpretationslehre, aus der sich ein fester Kanon von Begleitinformationen ableiten ließe, vielleicht nie geben. Unerläßlich sind aber Angaben zu Aufnahmeort und -zeit, zu den äußeren Aufnahmeumständen und den abgebildeten Personen und Handlungen. Spezialuntersuchungen wie der Versuch, die Ge- schwindigkeit der sowjetischen Panzer zu messen, bedürfen darüber hinaus genauester Angaben zur Position der Kameramänner und zu den verwendeten Brennweiten. Gerade mit voranschreitender techni- scher Entwicklung ist auch eine lückenlose und zuverlässige Doku- mentation der Bearbeitungsschritte erforderlich, denen das Material zwischen der Aufnahme und der Archivierung unterlegen hat. Retu- schen und Tonschnitte sind so eindeutig wie möglich zu dokumentie- ren. Bezüglich der Tonaufnahmen haben sich Vorabsprachen und Schnitte als wesentlich relevanter erwiesen als die von Linguisten und Kriminologen angeführten Kriterien. Trotzdem mag es in Einzelfällen auch für historische Untersuchungen nützlich sein, einzelne Stimmen zu identifizieren und dann auch den dazu eventuell erforderlichen ap- parativen Aufwand zu betreiben. Bildquellen setzen der freien Assoziation Grenzen. Das hat Vor- und Nachteile. Der wohl wichtigste Nachteil tritt auf, wenn Bilder trotz ih- rer Ausschnitthaftigkeit ungerechtfertigt als repräsentativ für einen größeren Komplex angesehen werden und der Interpretierende sich von dem Bildeindruck nicht mehr befreien kann. Für denjenigen aber, der über das entsprechende methodische Rüstzeug verfügt, sollten 455) Diesen Gedanken verdanke ich einem kurzen Hinweis von Pierre Sorlin auf dem IAMHIST-Kongreß 1990 in Frost- burg/USA. 145 Bildquellen in jedem Fall eine sinnvolle Ergänzung des verfügbaren Quellenspektrums darstellen. Die untersuchten Film-, Photo- und Tonaufnahmen haben sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht als wertvolle Quellen für den 17. Juni 1953 erwiesen. Ihre Einbeziehung in das klassische Quellen- spektrum vermittelt ein vielschichtigeres Geschichtsbild. Im Fall des 17. Juni liefern sie Anhaltspunkte für die These, wonach diejenigen Demonstranten, die ihre Meinung direkt oder symbolisch zum Aus- druck gebracht haben, die deutsche Einheit nach westdeutschem Vor- bild wollten. Sowohl die Bild- als auch die Tonquellen stützen diese Annahme, die, wenn sie Anerkennung in der wissenschaftlichen Dis- kussion findet, nachweislich auf den hier im Blickpunkt stehenden Quellengattungen beruht. Ihr Einfluß auf die Begriffsbildung vom 17. Juni als einer gegen die Regierung der DDR gerichteten und letztlich auf die deutsche Einheit abzielenden Volkserhebung wäre erwiesen. Damit wäre eine inhaltliche Aussage möglich geworden, die über die von Manfred Hagen gewonnene vorsichtigere Bewertung hinausweist. Gleichzeitig würde sie die von Mitter und Wolle vertretene Ansicht stützen, wonach der 17. Juni eher eine "gescheiterte Revolution" als eine "revolutionäre Erhebung"456 war. Den hier untersuchten Quellen verdanken wir darüber hinaus unter Umständen die Einsicht, wohin diese Revolution nach Meinung des aktiven Teils der Demonstranten führen sollte. Mancher Kritiker des vorgetragenen Gedankenganges wird einwen- den, daß eine Überinterpretation vorliege; daß es nicht möglich sei, der gewaltsam und frühzeitig unterdrückten Erhebung ein so weitrei- chendes Ziel zuzuweisen. Dem ist entgegenzuhalten, daß es aus que l- lentheoretischen Gründen notwendig war, die untersuchten Quellen so weitgehend wie möglich auszuwerten. Vielleicht ist der 17. Juni auf Grund seines Scheiterns als historischer Gegenstand weniger gut dazu geeignet. Die symbolischen Handlungen und die verbalen Aussagen des aktiven Teils der Demonstranten weisen aber eindeutig in die be- schriebene Richtung. Um mehrheitsfähig zu bleiben, durften sich die besonders Aktiven mit ihren Aktionen und Äußerungen nicht allzu weit von dem entfernen, was für die breite Masse akzeptabel war. Im Idealfall haben die Aktiven nur das genauer dargestellt oder formu- liert, was andere lediglich gefühlt haben, aber nicht auszudrücken vermochten oder wagten. Letzten Endes entsteht so Geschichte. Es ist ein hervorzuhebendes Merkmal der hier untersuchten Quellengattun- gen, wenn dieser Tatbestand besonders plastisch hervortritt. Quellen- theoretisch ist in diesem Zusammenhang ebenfalls festzustellen, daß die aktive und passive Einflußnahme der Kameramänner und Rund- funkjournalisten dem Aufstand ein klareres Profil gegeben hat. Inso- fern hat diese Personengruppe ebenfalls einen aktiven Anteil an dem 456) Besprechung des Buches von Hagen (1992) durch Mitter in einer Sendung des RIAS vom 05.10.93 (Außenpolitik/248) 146 Geschehen. Dabei erscheint aber die Behauptung, das Aufgenommene hätte nur deshalb stattgefunden, weil es in Bild und Ton dokumentiert worden sei, bei weitem zu einfach. Man kann mit der gleichen Be- rechtigung sagen, daß die Mediendokumentation von den Demon- stranten gewissermaßen als Sprachrohr benutzt wurde. Im Jahr 1953 lag aus technischen Gründen zwischen Aufnahme und Kinovorführung meist noch ein Zeitraum von mehreren Tagen. Im Video-Fernsehzeitalter ist mit den jetzt möglich gewordenen Live- Übertragungen zwar eine neue, die Ereignisse möglicherweise forcie- rende Qualität eingetreten. Am Beispiel des 17. Juni ist jedoch zu er- leben, daß ein Teil der Demonstranten als Antwort auf Gewaltanwen- dung der Gegenseite oder aus Mangel an eigener verbaler Ausdrucks- fähigkeit und/oder -möglichkeit gewaltsame Handlungen begangen hat, die nicht mit dem Gesellschaftssystem vereinbar sind, für das die Akteure sich mutmaßlich eingesetzt haben. Wenn in heutiger Zeit der- artige Gewaltakte eskalieren, mag dies unter anderem an der berech- tigten Hoffnung der Täter auf besondere Medienwirksamkeit liegen. Brände und Straßenschlachten sind nun einmal mediengerechter als viele andere Protestformen. An dem beschriebenen Verhältnis zwi- schen den Akteuren vor und hinter der Kamera hat sich im Grundsatz aber nichts geändert. Deshalb ist das "Ende der Zeitgeschichtsschrei- bung" sicher nicht nahe. 147 Hinweise zu Abkürzungen und zur Zitierweise der Film-, Photo- und Tonquellen Die Abkürzungen in der Zitierweise der Film-, Photo- und Tonquellen orientieren sich an der Film-, Foto- und Tonquellen-Edition des Insti- tuts für den Wissenschaftlichen Film (abgekürzt "IWF"). Dabei stehen die Abkürzungen "F" für "Film", "P" für "Photo" und "T" für "Ton- aufnahme". Die jeweilige Nummer bezeichnet die Dokumentennum- mer in der Edition. Die Edition ist sowohl auf Bildplatte als auch auf VHS-Videoband er- schienen. Der Angabe für die Bildnummern der Bildplatte geht mit "A:" oder "B:" jeweils die Angabe der Bildplattenseite voraus. In der vorliegenden Arbeit werden lediglich diese Belegstellen angeführt! Benutzer der Video-Edition werden gebeten, die entsprechenden Vi- deo-Timecodes der zur Edition gehörenden schriftlichen Begleitpubli- kation zu entnehmen. Des weiteren haben folgende Abkürzungen Anwendung gefunden: IWF - Institut für den Wissenschaftlichen Film (Herausgeber der Quellenedition) N.D. Neues Deutschland (Zentralorgan der Sozialistischen Einheits- partei Deutschlands) MfS - Ministerium für Staatssicherheit der DDR ZPA - Zentrales Parteiarchiv der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 148 Literaturverzeichnis Literatur zum 17. Juni Ausschuß für deutsche Einheit (Hg.): Wer zog die Drähte? Der Juni- Putsch 1953 und seine Hintergründe. Berlin 1954 Baring, Arnulf: Der 17. Juni 1953. Bonn 19583 Ders.: Der 17. Juni 1953. Stuttgart 1983 Ders.: Die Russen schossen in die Luft. In: Der Spiegel Nr. 25 (1965), 78-88 Beier, Gerhard: Wir wollen freie Menschen sein. Der 17. Juni 1953: Bauleute gingen voran. Hg. v. Bruno Köbele, Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden. Frankfurt/Main 1993 Berliner Morgenpost, 17.06.1953 Blücher, Viggo Graf von: Industriearbeiterschaft in der Sowjetzone. Stuttgart 1959 Boehlich, Walter: Auf der falschen Hochzeit tanzen? Norddeutscher Rundfunk, drittes Programm, Sendung vom 17.06.89, v. 19.05 Uhr bis 19.20 Uhr in der Reihe Zeitzeichen (Redaktion: Andreas Wang) Brandt, Heinz: Ein Traum der nicht entführbar ist. Mein Weg zwi- schen Ost und West. Berlin 1977 Brant, Stefan (alias Klaus Harpprecht) / Bölling, Klaus: Der Aufstand. Vorgeschichte, Geschichte und Deutung des 17. Juni 1953. Stuttgart 1954 Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 45, vom 07.08.1953, S. 778 Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Es geschah im Juni `53. Daten und Fakten. Bonn/Berlin 1963 Bust-Bartels, Axel: Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 - Ursa- chen, Verlauf und gesellschaftspolitische Ziele. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitschrift `Das Parlament' 25/1980, 24-54 Diedrich, Torsten: Der 17. Juni 1953 in der DDR. Bewaffnete Gewalt gegen das Volk. Berlin 1991 Dokumente der SED, Bd. IV, Berlin 1954 149 Ebert, Theodor: Gewaltfreier Widerstand gegen stalinistische Regi- me? In: Roberts, Adam (Hg.): Gewaltloser Widerstand gegen Aggres- soren. Probleme - Beispiele - Strategien. Göttingen 1971, 108-137 Ewers, Klaus / Quest, Thorsten: Die Kämpfe der Arbeiterschaft in den volkseigenen Betrieben während und nach dem 17. Juni. In: Ilse Spittmann / Karl Wilhelm Fricke: 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR. Köln 19882 Gesamtdeutsches Institut - Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufga- ben (Hg.): 17. Juni 1953. Seminarmaterial. Bonn, ca. 1981 Hagen, Manfred: DDR - Juni '53. Die erste Volkserhebung im Stali- nismus. Stuttgart 1992 Herrnstadt, Rudolf: Das Herrnstadt-Dokument. Hg. v. Nadja Stulz- Herrnstadt. Reinbek 1990 Hildebrandt, Rainer: Der 17. Juni. Berlin 1983 KGU-Archiv v. 19.06.1953, hg. von der "Kampfgruppe gegen Un- menschlichkeit" Kellmann, Klaus: Der 17. Juni 1953. Das Ereignis und die Probleme seiner zeitgeschichtlichen Einordnung und Wertung. 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