96 Medie1111·isse11sclwfi I /98 Thomas Koebner (Hg.): Idole des deutschen Films. Eine Galerie von Schlüsselfiguren München: edition text + kritik, 1997, 555 S., ISBN 3-88377- 535-5, DM 59,- Thomas Koebner hatte 1995 in Mainz eine Tagung über Schlüsselfiguren des deut- schen Films veranstaltet. Die dort gehaltenen Referate, teilweise überarbeitet, so- wie einige ergänzende Beiträge liegen nun. mit Anmerkungen versehen, als stattli- cher Band vor und sind ein nützlicher Begleiter der deutschen Filmgeschichte. Die Beiträger rekrutieren sich in angenehmer Mischung sowohl aus dem aka- demischen Bereich wie aus der Kritik, so daß insbesondere der universitäre Jargon weitestgehend vermieden wird. Immerhin wollen wir als abschreckendes Beispiel aus einem Text von Moltke und Wulff über die Trümmerdiva Knef zitieren: ,,Die diskursive Größe 'Hildegard Knef' ist bestimmbar als ein Wert im Sinne der Saussureschen „valeur" in Beziehung und in Abgrenzung zu den anderen Stars der Zeit". (S.305) Filme sind bekanntlich - das wußte sowohl Hollywood wie auch die Ufa - auf Menschen zentriert, nicht auf Ideen oder Thesen, und wenn diese Men- schen überlebensgroß sind, dann um so besser. Daß hinter Menschen Idole und damit Ideen und damit aber auch Ideologien stehen, ist ebensowenig verborgen geblieben, und Kracauer, der der Säulenheilige der Mainzer Tagung war, war der erste, der eine ganze Epoche der deutschen Filmgeschichte auch unter diesem Ge- sichtspunkt sah. Thomas Elsaesser untersucht in einem medienkritischen Beitrag zu Beginn des Bandes die beiden Hauptbücher zum deutschen Film bis 1933, Eisners und Kracauers Filmgeschichten. Man würde überpointieren, wenn man Elsaesser darauf reduzie- ren würde, daß er hier die zierliche alte Lotte Eisner und den Dr. Kracauer gegen- einander ausspielt. Beide bestimmen, natürlich von unterschiedlichen Ansätzen her, bis heute die Diskussion über den Film Deutschlands bis 1933, und das alleine reicht schon aus, um die insbesondere bei Kracauer immer wieder in Gang gesetzte und auch bei Elsaesser erörterte Kritik an ihm zu relativieren. Wo er große Wirkungen sehe, pflege er große Ursachen vorauszusetzen, meinte Goethe zu Eckermann, und wenn er damals sich auf Uhland bezog, so scheint uns hier der Bezugspunkt Kracauer noch sehr viel anregender. Auch wenn. zugegebenennaßen, Kracauer post festum geschrieben hat und sicher, dixit Koebner, es weder ein einheitlich reagierendes Kino-Publikum noch ein mit ihm identisch seiendes Volk gibt. Bei Kracauer ist fas- zinierend - und darauf weist Elsaesser völlig zu Recht hin-, daß für ihn über die sozial determinierte Widerspiegelungstheorie hinaus das Kino als Produkt auch in der Lage ist, bestehende Beeinflussungen aufzudecken: ,,So gesehen ist Kino ein Diskurs unter anderen, der mit den umerschiedlichen Diskursen des sozialen Sy- stems [ ... ] kompatibel und interaktiv verbunden ist." (S.32) Elsaesser weist auch noch auf eine feministische Komponente bei der Diskussion von Kracauer hin. Das sei aber an dieser Stelle nur erwähnt. um dem dornigen Geflecht dieser Inanspruch- nahme des Filmkritikers und Filmtheoretikers aus dem Weg zu gehen. V F'owgrafie wul Film 97 Es ist nicht möglich, auf alle 36 Beiträge des Bandes einzugehen. Die Idole gehen querfeldein, von Kaiser Wilhelm II, dem angeblich ersten deutschen Film- star, über valeurs sures, die diesmal nicht von Saussure stammen, wie Friedrich den Großen, Dr. Mabuse und Hans Albers bis zu Zarah Leander, deutsche Liebes- paare der dreißiger und fünfziger Jahre und endlich Gabi Teichert aus Kluges Pa- triotin. Wie immer ist eigentlich der Blick auf Ungewohntes am spannendsten. Des- halb habe ich mit großem Interesse die abschließenden Aufsätze über einen mir unerwarteten Aspekt bei Wim Wenders gelesen, nämlich die Rolle des Kindes bei ihm. Darüber schreibt besonders schön Martin Schaub und sehr fußnotenreich An- nette Deeken. Sie zitiert Wenders selbst: ,,Kinder sind in meinen Filmen eigentlich ständig gegenwärtig als der eigentliche Wunschtraum der Filme, sozusagen als die Augen, die meine Filme gerne hätten." (S.516) Diesen unverbildeten, frischen Blick des Kindes haben natürlich nicht alle Beiträger. So argumentieren auf bekanntem Grunde etwa Stephan Lowry und Peter Zimmermann über das deutsche Idol par excellence, Heinz Rühmann. Alles ist richtig, aber irgendwie ist man da auf ver- trautem Gelände. Mehr Gewinn, weil meines Wissens bisher nicht beackert, ver- spricht der Aufsatz über Olga Tschechowa, den Claudia Lenssen geschrieben hat. Sie hat nonnalerweise in der „seriösen" Filmgeschichte keinen Platz, aber wird hier als emanzipierte, sich selbst verwirklichende Frau im Film und anderswo, nämlich im business, dargestellt. Ihr „operativer Optimismus'' bedeutet Realitäts-Tüchtig- keit. Ihre Selbstdisziplin macht sie Marlene Dietrich verwandt, ohne freilich, wie diese, gänzlich im Mythos zu verschwinden. Neu ist für mich auch ein Aspekt der drei Winnetou-Filme, mit denen sich Hans-Peter Koll beschäftigt. Nach einer zu- treffenden Analyse der Wirkungsmechanismen der drei Filme versucht er, sie als unterschwellig argumentierende Hoffnung auf Vergebung und Versöhnung des Deut- schen jener Jahre zu vereinnehmen. Das ist ein bißchen Bliersbach, kühn aber durch- aus bedenkenswert. Allen Beiträgen ist eine Betonung des ideologiekritischen Aspekts gemeinsam. Dabei riskiert die Ästhetik, zu kurz zu kommen. Das war ja seinerzeit auch ein Hauptvorwurf gegenüber den Schreibern in der Filmkritik, die damals Kracauer für Deutschland entdeckt und ausgebeutet hatten. Bei allem akademischen Abstand von heute - der Emigrant aus New York ist bis heute die Meßlatte für die Beschäf- tigung mit dem deutschen Film geblieben. Wir kommen nicht los von ihm und er- fahren so auch heute noch. welchen geistigen Verlust wir l 933 erlitten haben. Auf Seite 16 ist ein kleiner Irrtum zu korrigieren: Hugo Münsterbag. dessen Schrift The Photopfay ( 1916) seit 1970 wieder als Nachdruck vorliegt, war nicht als Austausch-Professor zu Beginn der Weimarer Republik in Berlin tätig, sondern starb 1916 als Harvard-Professor. Ulrich von Thüna (Bonn)