Rundfunk und Geschichte 47, 2021, Nr. 3–4 Der Klang der neuen Wirklichkeit Zur künstlerischen Arbeit im dokumentarischen Rundfunk der Sowjetunion zu Beginn des Stalinismus Elizaveta Willert In der Periode von 1928 bis 1933 lässt sich ein spannender Prozess beobachten: Die sowje- tische Radiokunst etabliert sich und sucht in der Verbindung von Agitationskunst, Theater, Musiktheater und Film eine eigene künstlerische Ästhetik. Dabei spielen eine Reihe von An- ordnungen zur Reglementierung der künstlerischen Radiokompositionen eine Rolle, die die Funkoberagentur NKPT SSSR in dieser Zeit veröffentlicht hat. So wird in der Anordnung vom 4. September 1929 eine spezielle „radiophone Qualifikation“ erwähnt, die alle musikalischen Ensembles und Solisten erhalten sollten.1 Tat′âna Gorâeva ver- steht unter diesem Begriff spezielle Kenntnisse über die Arbeit mit dem Mikrofon und vor allem die Befähigung zum Hören von Klangverhältnissen zwischen Stimme, Musik und Ge- räuschen.2 Eine weitere Reglementierung aus dem Jahr 1933 bezüglich der Tonaufnahmen- Abteilung verweist unter anderem darauf, dass wegen der „großen Rolle des Rundfunks beim Aufbau des Sozialismus“3 in der Abteilung die „besten Tonregie-Spezialisten“ arbeiten müssten.4 Im Winter 1933 erfolgte die für die vorliegende Fallstudie ebenfalls relevante Anordnung zur „Reorganisation des literarisch-dramatischen Rundfunks“, in der noch einmal die Aufgaben der radiophonen Propaganda angedeutet sind. Der Fokus des literarisch-dokumentarischen Rundfunks sollte auf der Verbindung zwischen der „bäuerlichen“ und der städtischen Kultur liegen. Darüber hinaus sollte an den Rundfunk ein wissenschaftliches Institut angeschlossen werden, an dem die Probleme der Wahrnehmung der Funkproduktion von Literaturwissen- schaftler:innen, Musikwissenschaftler:innen, Radioregisseur:innen und Radiotechniker:innen erforscht werden sollten.5 1 Staatliches Archiv der Russischen Föderation (Gosudarstvennyj Arhiv Rossijskoj Federacii, GARF), F. P-6903, op. 1, l/s, D. 1, S. 112. 2 Tat‘âna Gorâeva: „Velikaâ kniga dnâ…“ Radio v SSSR. Dokumenty i materialy. Moskau 2007, S. 149. 3 Alle Zitate wurden von der Autorin des Artikels aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt und nach dem ISO 9-Standard transkribiert. 4 GARF, F. P-6903, op. 1, op. 1, l/s, D. 1, S. 112. „Privlečenie k delu zvukozapisi lučših specialistov-zvuko- vikov v celâh podnâtiâ tehničeskogo urovnâ zapisi na vysotu, polnost′û otvečaûŝuû toj bol′ŝoj roli, kotoruû dolžno sygrat′ radioveŝanie v oblasti stroitel′stva socializma v SSSR“, September 1933. 5 GARF, F. P-2382, Op. 1, D. 41, L. 24–26. 33Der Klang der neuen Wirklichkeit Dass der Rundfunk in der Sowjetunion ein Instrument der Agitprop war und stark poli- tisch und ideologisch geprägt wurde, ist mithin offensichtlich und steht außer Frage. Dieser Artikel blickt nun auf die in den 1930er bis 40er Jahren entstandene Debatte um eine neue akustische Form. Diese Debatte betraf unter anderem ästhetische und künstlerische Proble- me des seit 1924 existierenden Genres Radiogazeta und sollte sich in den 1940er Jahren in der Entstehung der akustischen Radiodramen widerspiegeln. Eben die historisch-genetische Entwicklung von Agitprop-Genres wie der Radiogazeta und des Radiodramas – mit Fokus auf Verbindungen zwischen der musiktheatralischen Ästhetik und der der radiophonen De- klamation – steht im Zentrum des folgenden Artikels; dies soll als Anstoß für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der sowjetischen Radiogeschichte dienen, sowohl in medienhistorischen als auch in musikwissenschaftlichen Diskursen. In diesem Sinne sind die wichtigste Grundlage für die folgende Studie die Zeitschriften, die speziell dem Rundfunk gewidmet sind, und zwar die europaweit älteste Radio-Zeitschrift „Novosti radio“6 (später „Radiosluŝatel′“) und „Govorit SSSR“.7 Außerdem werden mehrere Primärquellen wie Texte der Funksendungen herangezogen. Im ersten Abschnitt des Artikels werden die historische Genealogie des Genres des doku- mentarischen Radiodramas und die Analogien in den künstlerischen und ästhetischen Dis- kursen über die frühen Genres Radiogazeta und Radiodrama kurz skizziert. Im zweiten Teil des ersten Abschnitts werden die relevanten künstlerischen Methoden der Stimmwiedergabe, der Nutzung von Geräuschen und der Musik in den Radiokompositionen näher untersucht. Der zweite Abschnitt des Artikels ist der intermedialen Analyse von zwei ausgewählten Radio- dramen gewidmet, die den kompositorischen Aufbau und den Inhalt der „dokumentarisch- künstlerischen“8 Radiokompositionen des frühen Stalinismus illustrieren. Eine kurze Dis- kussion und Zusammenfassung der Ergebnisse der Untersuchung beschließen den Artikel. Zur Genealogie des Radiodramas Von der Radiogazeta zum Radiodrama: Die Anfänge der politischen Radiokunst in der Sowjetunion Das Genre der Radiogazeta (wörtlich „Radiozeitung“) war ursprünglich die akustische Dar- stellung von gedruckten Zeitschriften, die man aus wirtschaftlichen und logistischen Gründen nicht im ganzen Land verteilen konnte. Für Lenin war Radiogazeta eine „Zeitung ohne Papie- re und Entfernungen.“9 Den Text, der bisher nur gelesen werden musste, galt es nun akus- tisch zu hören und zu verstehen. Dieser Aspekt verändert nach und nach die Ästhetik des Textes und die Methoden seiner Präsentation. Dabei hatte Radiogazeta von Anfang an eine 6 „Novosti radio“ erschien seit dem Februar 1925. 7 Mehr über die Geschichte der Zeitschriften hier: Stephen Lovell: Russia in the Microphone Age. A History of Sovier Radio, 1919–1970. Oxford Press 2015 und bei Aleksanr Šerel′: Audiokul′tura XX veka. Istoriâ, èstetičeskie zakonomernosti, osobennosti vliâniâ na audiotoriû. Očerki. Moskva 2011. 8 Als Untertitel zu dem Genre fungiert meistens „dokumetal′no-hudožestvennaâ kompoziciâ“, was man als „dokumentarisch-künstlerische Komposition“ übersetzen kann. 9 Lenin V.I., Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 51, S. 130 34 Elizaveta Willert ästhetische Ambivalenz. So wurden in der frühen Entwicklungsphase (1924–1928) durch- aus spezifische Normen für den stimmlichen Vortrag der Texte festgelegt und erste Versuche unternommen, Informationen zu „dramatisieren“.10 Zudem wurde die Radiogazeta nicht nur über das Radio übertragen, sondern gleichzeitig auf der Bühne theatralisch „ausgespielt“. M. Veprinskij beschreibt diese theatralisierte Form als „lebendigen Vortrag“ (živoj doklad), der neben der Radiozeitung „immer mehr Platz in den Clubs einnimmt“.11 Oft stand ein Radio oder ein Telegraf auf der Bühne, sodass deren Geräusche gleichzeitig mit der szenischen Hand- lung wahrgenommen werden konnten.12 „Die Zeitung erzählt…singt…spielt“ – so beginnt eine Anmerkung des Redakteurs A. Sadovskij in der Zeitschrift „Radioslušatel′“ über diese neue radiophone Form informativer Sendungen für die „proletarischen Arbeiter:innen und Bäuer:innen“.13 Neben der Radiozeitung entstand das Genre des Radiofilms, bei dem immer mehr auf Ge- räusche und Soundeffekte geachtet wurde. Beide Genres haben sich gegenseitig beeinflusst. Die Diskrepanz zwischen der „reinen“ sprachlichen Darstellung von Fakten einerseits und der Suche nach radiophonen Ausdrucksmöglichkeiten andererseits spiegelt sich auch in der weiteren Entwicklung der Radiokunst von 1928 bis 1932 wider. Hier muss man bedenken, dass diese Diskrepanz des Genres eng mit seiner strengen politischen Kontrolle verbunden war. Schon am 1. Dezember 1921, fast drei Jahre vor der ersten Radiogazeta, erschien die An- ordnung N 137, dass die Zuverlässigkeit (dostovernnost′) der Information streng kontrolliert sein sollte.14 In den Protokollen vom 30. November 1926 bestätigte der Rat der RSFSR (Rus- sische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) außerdem die Notwendigkeit der Zensur der Radionummern.15 Die erste Radiogazeta „erschien“ am 23.  November 1924 und bestand aus kurzen Vor- lesungen der politischen regionalen und Welt-Nachrichten. Das Skript dieser Radiosendung liegt im Staatlichen Archiv der Russischen Föderation (Gosudarstvennyj Arhiv Rossijskoj Fe- deracii, GARF)16; aus ihm geht hervor, welche Aufgaben und Ziele mit dieser Sendung verfolgt wurden. Laut dem Text besteht die Besonderheit der Radiogazeta in ihrer „Lebendigkeit“; sie wird „gehört“ und nicht gelesen, ist in „lebendiger“ Sprache geschrieben und besteht aus „kur- 10 Šerel′ 1993, S. 35. 11 M. Veprinskij: Živoj doklad. In: Novosti radio, 1925, N 1, S. 48–49, hier S. 48. „Živoj doklad âvlâetsâ odnoj iz novyh form samodeâtel›noj raboty. Narâdu s zivoj gazetoj, on zahvatyvaet sebe pročnoe mesto v klubah“. S. Korev: Živaâ gazeta. In: Novosti radio, 1925, N 3, S. 38–40, hier S. 39. „(…) Teper‘ my uze vvodim v dejstvie telefon, telegraf, radio, rabotaûŝie na szene, pinimaûŝie telegrammy i peredaûŝie otveti, iduŝie so szeny, ili že iz zritel‘nogo zala v forme hora, deklamacii ili nebol‘šoj szenki i t.d.“ 12 S. Korev: Živaâ gazeta. In: Novosti radio, 1925, N 3, S. 38–40, hier S. 39. „(…) Teper‘ my uze vvodim v dejstvie telefon, telegraf, radio, rabotaûŝie na szene, pinimaûŝie telegrammy i peredaûŝie otveti, iduŝie so szeny, ili že iz zritel‘nogo zala v forme hora, deklamacii ili nebol‘šoj szenki i t.d.“ 13 A.A. Sadovskij: Gazeta rasskazivaet…poët…igraet. In: Radioslušatel, 1928, Nr. 1, S. 4–5, Hier S. 4. 14 GARF, F. 391, op.11, d.9, l. 31. Oder vgl. bei Šerel‘ 1993, S. 34. 15 GARF, F. 2306, op.69, d.571, l.49. Oder vgl. bei Šerel‘ 1993, S. 35. 16 GARF, Fond P4459, op.7, d. 16 oder vgl. der Abdruck des Skriptes im Buch von Tat‘âna Gorâeva 2007, S. 207–208. 35Der Klang der neuen Wirklichkeit zen, lebendigen Beiträgen (stateek)“.17 Das Gehör wurde zu einer Kategorie der Propaganda gemacht. Aber wie genau sollte die „živaâ“ Radiogazeta die proletarischen Ohren schulen? Der erste Teil der Radiogazeta vom 23. November 1924 bestand aus den „Grußworten“ von vier Politikern – Čičerin, Âroslavskij, Lunačarskij und Lûbovič. Um den ästhetisch-politischen Konnex des Genres besser zu verstehen, sollen zwei dieser Persönlichkeiten und deren Bezug zur Ästhetik der Radiopropaganda hier kurz näher eingeführt werden, und zwar der Volks- kommissar (narodnij komissar) Čičerin und der Publizist und Politiker Lunačarskij. Beide er- klärten das proletarische Ohr zum Hauptmedium der Aufklärung und der Propaganda. Georgij Vasil′evič Čičerin (1872–1936) war russischer Diplomat und Volkskommissar des Auswärtiges Amtes der RSFSR und der UdSSR. Sehr selten in der Literatur über ihn wird die Tatsache erwähnt, dass Čičerin außerdem Musiker und Musikwissenschaftler war. Sei- nen Bezug zur Musik und Musikgeschichte dokumentiert die Ausstellung im Museum in sei- nem Geburtshaus in Tambov.18 Čičerins Opernleidenschaft, belegt durch seine umfangreiche persönliche Sammlung an Opernpartituren, verwirklichte er in einer musikwissenschaftlichen Schrift über Wolfgang Amadeus Mozart19, dessen Schaffen und Leben er im Jahr 1929 zu unter- suchen begann. Seine Nichte – Sofiâ Nikolaevna Čičerina (1904–1983) – war Komponistin und schrieb während des zweiten Weltkriegs für das Radio mehrere Kompositionen.20 Dass eben Čičerin als Politiker, aber auch als Musikwissenschaftler, in der ersten Radiogazeta über die aufklärende Rolle der Sendung spricht, wird vor dem Hintergrund dieser Untersuchung kein Zufall sein. Anatolij Vasil′evič Lunačarskij (1875–1933) war Publizist und Redakteur von Zeitungen wie „Proletarij“ und „Prosvešenie“; von 1917 bis 1929 war er Volkskommissar für Bildung der RSFSR. Seine Überzeugung von dem propagandistischen und aufklärenden Potenzial des Radios beweist unter anderem seine Initiative, die musikalischen Konzerte aus dem Bolšoj- Theater zu übertragen.21 Außerdem war Lunačarskij seit dem Jahr 1925 im Radiokomitee bei der Abteilung für Propaganda aktiv.22 Nicht zuletzt muss man anmerken, dass Lunačarskij, wie Čičerin, als Musikkritiker, Musikhistoriker und Dramaturg tätig war und sowohl theoretische Schriften über Kunst, Kultur und Revolution als auch Libretti für das Theater verfasst hat.23 Am 24. November 1924, einen Tag nach der Ausstrahlung der ersten Ausgabe der Radiogazeta, 17 Ebd., Übersetzung der Autorin. „Radiogazeta – samaâ zivaâ v mire. Radiogazeta ne čitaetsâ, a slušaetsâ. Radiogazeta napisana žyvym âzikom. Radiogazeta sostoit iz žyviyh koroten›kih stateek.(…) Pered gazetoj važnejšie zadači, velikoe buduŝee. (…)“. 18 Artefakt – guide to Russian museums. The House-Museum of G.V. Chicherin. Online: https://ar.culture. ru/en/museum/dom-muzey-g-v-chicherina, abgerufen am 13.07.2021. 19 Das Buch mit dem Titel „Mozart“ wurde erst nach dem Tod von Čičerin im Jahr 1970 herausgegeben; im Jahr 1975 erschien die Schrift auf Deutsch im Verlag VEB Deutscher Verlag für Musik. Eine neue Ausgabe wurde im Jahr 2000 vom Rowohlt-Verlag herausgegeben. 20 Der Nachlass von Sofiâ Čičerina befindet sich im Archiv des Čičerin-Museums in Tambov und im Russi- schen Zentralen Archiv für Kunst und Kultur (Sankt-Petersburg), F. P-348, op. 3–2, d. 113. 21 Ružnikov 1987, S. 140. 22 Ebd., S. 62. 23 Einige Artikel und Schriften in der Übersetzung findet man hier: DNB-Katalog. Online: https://portal. dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=118818694, abgerufen am 28.07.2021. https://ar.culture.ru/en/museum/dom-muzey-g-v-chicherina https://ar.culture.ru/en/museum/dom-muzey-g-v-chicherina https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=118818694 https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=118818694 36 Elizaveta Willert hielt er eine Radiovorlesung über die „Kultur der UdSSR und die Bedeutung des Radios“; be- merkenswert ist, welche Rolle er dem Radio dabei zuschrieb: (…) Das ist eine lebendige Bibliothek, tragende gigantische Strömung des menschlichen Schaffens, die Lebenslinie, die für uns verständlich ist. Menschen folgen schon jetzt dieser Strömung und werden auch weitere diesem Lebens- material folgen, das kolossalen Reichtum in sich selbst trägt. Mit Hilfe des Ra- dios vermehrt der Mensch den Umfang seiner Eindrücke und macht unsere Psyche bunter und empfindlicher. (…) Wir, Lebende auf dem Planeten, leben, im Grunde, durch sein Gehirn, und befinden uns alle unter den Einfluss der Strömung des Gedankens und Gefühls, die durch seine Oberfläche fließt. (…)24 In diesem kurzen Absatz sieht man, wie Lunačarskij das Radio mythologisierte. In diesem Sinne ist seine Erklärung am Ende der Vorlesung höchst interessant: „(…) Jede menschliche Psyche wird eine empfindlichere kreative Muschel [tvorčeskoj rakovinoj] sein, die auf jede Erregung und Schwankung dieser Strömung reagiert (…).“25 Die politisch-ästhetische Ideali- sierung des Mediums Radio hängt bei Lunačarskij mit dem Potenzial der akustischen „Macht“ der die Kreativität fördernden Informationsströmungen zusammen. Die agitatorische Bedeutung der Radiopropaganda stand für die politische Führung also außer Frage. Es stellte sich aber heraus, dass das einfache Vorlesen der Zeitungsnachrichten in der Radiosituation eine Erweiterung braucht: Die Radiogazeta muss nicht nur kurz sein, sondern auch lebendig, interessant und verständlich. Ansonsten wird niemand es anhören (…) Besonders wich- tig ist die Form der Darstellung. Für die Verstärkung dieser Lebendigkeit der Radiogazeta erlauben wir auch musikalische Nummern, Častuškas mit Gesang und Balalajka-Begleitung u. s. w. Und schließlich ist die Übertragung der Ra- diogazeta ebenso wichtig. Sogar die beste Nummer kann durch schlechte De- klamation ruiniert werden.26 24 Russisches Staatliches Archiv für Literatur und Kunst (RSALK), F.279, Op.1, d. 91, L. 33–44, Kopie. „Eto živaâ biblioteka, nesuŝaâ gigantskij potok čelovečeskogo tvorčestva, eto nit‘ žizni, kotoraâ nam ponâtna. Lûdi i sejčas dvigaûtsâ za etim materialom žizni, nesuŝim kolossal‘noe bogatstvo. Pri pomoŝi radio čelovek uveličit eŝë značitel‘nye količestva polučaemyh vpečatlenij i sdelaet bogače i gorazdo bolee vospriimčivoj našu psihiku (…) My, živuŝie na planete, živëm v suŝnosti govorâ, eë mozgom, i mi vse nahodimsâ pod dejstviem togo potoka mysli i čuvstva, kotoryj tečët po eë poverhnosti“. 25 RSALK, F.279, Op.1, d. 91, L. 33–44, Kopie. „(…) Každaâ otdel‘naâ psihika čeloveka budet naibolee vospriimčivoj tvorčeskoj rakovinoj, kotoraâ budet otsyvat‘sâ na malejšie kolebaniâ i volnenie ètogo potoka (…).“ Das Wort rakovina kann im Russischen sowohl „Muschel“ als auch „Ohrmuschel“ bedeuten. 26 Novosti radio. Radiogazeta – radiogazeta pervaâ v mire 1925, N 1, S. 3. Übersetzung der Autorin. „Radio- gazeta dolžna byt’ ne tol’ko korotkoj, no i ves’ma živoj, interesnoj I ponâtnoj. Inače radiogazetu ne budut slušat’ (…) Črezvyčajno važna forma izloženâ. Dlâ usileniâ živosti radiogazety my dopuskaem v gazete musykal’nye nomera, častuški s peniem i balalajkoj i proč. Nakonez, ne menee važna peredača radiogazety. Samyj lučšij nomer možet byt’ isporčen vsledstvie plohoj deklamacii.“ 37Der Klang der neuen Wirklichkeit Aleksandr Šerel′ bemerkt in seiner Monografie über die ersten Etappen der Entwicklung des Radiodramas27, dass die erhaltenen Quellen der Radiogazeta beweisen, dass nur eine „de- klamatorische“, also keine „künstlerische“, Vorlesung von Bedeutung war. Außerdem zitiert er die Aussage der Radiosprecherin und Zeitzeugin Natal′â Aleksandrovna Tolstova28 zu den Anforderungen an die artistischen Stimmen für die Arbeit bei den ersten Ausstrahlungen der Radiogazeta: „(…) alles, was sie brauchten, war eine schöne Stimme und eine tadellose Diktion. Andere Anforderungen kamen später mit dem Aufkommen neuer Sendungsformate hinzu.“29 Gemeint waren mit diesen Formaten zum Beispiel das Radiotheater oder eben die Radiodramen. Aus einigen kritischen Zeitungskommentaren zu den ersten Ausgaben der Ra- diogazeta geht hervor, dass das damalige Verständnis der Diktion der Radiosprecher:innen nah an der theatralischen Deklamation lag. In späteren Ausstrahlungen waren Klang und Rhyth- mus der Stimme sowie der Zusammenhang zwischen den Geräuschen und der Orchester-Be- gleitung Teil der Aufnahmesituation und in der „Partitur“ der Radiogazeta festgehalten: (…) Genau um 18:15 Uhr hört man manchmal vernehmlich [âvstvenno] erst ein tiefes Ausatmen des Sprechers und dann seine gemessene, voll klingende Stimme. Dies wird von einer Radiozeitung ausgestrahlt. Es wird wie durch eine Partitur vermittelt. (…) Inzwischen herrscht Totenstille in den weichen Falten des Tuches des Radiostudios. Das Orchester, bereit für das Vorspiel, lauerte. Der Ansager erstarrte erwartungsvoll. Mit einer Handbewegung des Modera- tors der Radiozeitung tritt jeder Teilnehmer laut Vermerk in der Partitur der Zeitung mit einer Stimme in seine Rolle in das Material der Zeitung ein. Eine Geste – und mitten im Studio steht ein Sänger oder Musiker, ein Chor oder Orchester dem Mikrofon gegenüber.30 Dieser Kommentar Sadovskijs verweist darauf, dass sich das Genre der Radiosendung der Opernaufführung näherte: Es gab eine bestimmte dramatische Handlung, die aber, im Unter- schied zu den theatralischen Präsenzformen des Theaters, rein akustisch wahrgenommen wurde. Der Moderator tritt in der Aufnahmesituation fast wie ein Dirigent auf, das Zitat macht deutlich, wie wichtig die körperliche Präsenz im Radiostudio war. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung der ersten Radiodramen lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Anfang der 40er Jahre hörte die Radiozeitung auf zu existieren, jedoch trifft man in den Zeitungen häufiger Erwähnungen von dokumentarisch-künstlerischen Kompositionen oder Radiodramen. Das 27 Aleksandt Šerel’: Tam na nevidimyh podmostkah…. Moskau, 1993, S. 15. 28 Natal’â Aleksandrovna Tolstova. Vnimanie, vklûčaû mikrofon. Moskau, 1972, S. 31. 29 Šerel› 1993, S. 16. „(…) ot nih trebovalis‘ liš‘ krasivyj golos i bezukoriznennaâ dikziâ. Drugie trebovaniâ poâvilis‘ pozže, s poâvlenijem novyh vidov peredach“. 30 Sadovskij, 1928, S. 4. „(…) Rovno v 6 chasov 15 minut, možno inogda âvstvenno uslyšat‘ sperva glubokij vydoh konferans‘je, a zatem jego razmerennyj, polnozvunyj golos. Eto peredayots‘â radiogazeta. Pereday- ots‘â ona kak po partiture. K etomu vremeni v mâgkih skladkah sukna radiostudii – mërtvaâ tišina. Pritailsâ gotovyj I vystupleniû orkestr. V ožidanii zastyli diktory. Po manoveniû ruki veduŝego, každij učastnik soglasno pometki v partiture gazety, vstupaet golosom v svoû rol‘ v material gazety. Žest – i na seredinu studii, licom k mikrofonu, stanovitsa pevec, libo musykanty, libo hor ili orkestr.“ 38 Elizaveta Willert Radiodrama übernahm von der Radiogazeta die Funktion der Information und Aufklärung der Bevölkerung. Gleichzeitig basierte die Form des Radiodramas nicht mehr auf dem „Lesen“ des Textes, sondern wurde nach den Prinzipien der Ausdruckskraft von Wort und Musik auf- gebaut. Sound, Stimme und Musik als Praxen der künstlerischen Wirklichkeitsdarstellung in den Radiodramen Die Dokumentation der „neuen“ sozialistischen Wirklichkeit war das oberste Ziel einiger ex- perimenteller Radioformate, die Anfang der 40er Jahre in der Sowjetunion existierten, da- runter der Radiofilm und das Radiodrama. Im folgenden Abschnitt wird näher diskutiert, wel- che Methoden der künstlerischen Darstellung im Format des Radiodramas existierten, warum die Theatralisierung Teil der Radiokunst wird und welche Rolle dabei die Soundgestaltung mithilfe von Geräuschen, Musik und Stimme spielte. Wie im vorherigen Abschnitt angedeutet, nimmt die Frage, wie Informationen dargestellt werden sollten, damit sie politisch „zuver- lässig“ blieben, aber auch, wie die Aufmerksamkeit der Hörer:innen gefördert werden sollte, einen wichtigen Platz in dem hier untersuchten Diskurs ein; dies zeigen die genannten Radio- Zeitschriften. Die Stimme der Sprecher:innen ist in den Zitaten von Sadovskij ein wichtiges Objekt der ästhe- tischen Suche in der radiophonen Aufnahmesituation. In diesem Zusammenhang ist der Gen- deraspekt der Radiostimme interessant, der auch in einigen Zeitungsartikeln diskutiert wird. In den 1930er Jahren wurde in Moskau eine Gruppe gegründet, die sich mit der Ausbildung von Radiosprecher:innen beschäftigte (diktorskaâ gruppa); in der Gruppe wirkten unter ande- rem zwei Akteur:innen des Čehov-Kunsttheaters Moskau, Vasilij Kačalov und Nina Litovceva.31 Šerel′ zitiert die Erinnerungen des ersten Gruppenleiters, Alexander Gurin, an eine Anweisung der Redaktion der Radiogazeta, dass weibliche Stimmen nicht mehr im „Zeitungsmaterial vor- kommen sollen“. Die einzige Ausnahme sollte eine weibliche „angenehme, tiefere Stimme“ sein, die „der männlichen Stimme“ ähnelte.32 Auch nach der Meinung von Sadovskij passen tiefe Stimmen besser bei der Radioübertragung. „Eine Frauenstimme, die zur Gestaltung rein weiblicher oder kindlicher Stoffe oder überhaupt für jede diskrete Angelegenheit dient, sollte unmittelbar nach dem Bass nicht zugelassen werden. Um die Klanglücke zu glätten, um Bass mit Frauenstimmen in Einklang zu bringen, werden Bariton und Tenor benutzt“33. Die Frauen- stimme scheint in den 30er Jahren nur für bestimmte Inhalte „zuständig“ sein. Die männliche, „tiefere“ Stimme figuriert in den Zeitschriften als „Standard“ für das Genre des Radiodramas.34 31 Aleksandr Šerel‘: Radioveŝanie 1920–1930h godov. K probleme vzaimnogo vliâniâ nemeckoj i russkoj audiokul‘tur. In: Hans Günther und Sabine Hänsgen (Hg.): Sowjetmacht und Medien. Sankt-Petersburg 2005, S. 104–112, hier S. 109. 32 Šerel‘ 1993, S. 16. 33 Sadovskij, 1928, S. 4. „Èfir, naprimer, lučše priemlet nizkie golosa. Ženskij golos, kotorij podaёtsâ dlâ oformleniâ čisto ženskogo ili detskogo materiala, ili voobŝe dlâ vsâkoj ‚delikatnoj materii‘, nel‘zâ puskat‘ totčas že posle basa. Zagladit‘ zvukovoj rasriv, primirit‘ bas s ženskim golosom, vypuskaetsâ bariton i tenor.“ 34 Interessante Überlegungen über weibliche und männliche Radiostimmen in den 20–30er Jahren macht Dmitri Zakharine in dem Artikel „Das Ethos und Pathos der E-Stimme“. In: Riccardo Nicolosi, Tanja Zimmer- 39Der Klang der neuen Wirklichkeit Trotz dieser Einstellung gibt es in der frühen sowjetischen Funkgeschichte Frauen, die als Radio-Ansagerinnen arbeiteten, darunter Zinaida Remizova, Evgeniâ Gol′dina, Nataliâ Tolsto- va und Ol′ga Vysozkaâ.35 Im Radiodrama „Steklo“, das später im Text nähert dargestellt wird, spielte eine Frau die „Artistin Zubkova“.36 Überlegungen über den stimmlichen Zusammen- klang und das narrative Potential des Klangs der Stimme gab es in den 40er Jahren in ver- schiedenen medialen Kontexten: Das Theater und die Agitationskunst sind eng miteinander verbunden. Diese Verbindung wird institutionell schon in den frühen 30er Jahren durch die Gründung des „Instituts des Lebendigen Worts“ (Institut Živogogo Slova) gefördert, wo unter anderem Anatolij Lunačarskij und der Theaterregisseur Vsevolod Mejerhold wirkten.37 Zu den Aufgaben des Instituts gehörte die wissenschaftliche Ausarbeitung von Methoden, die die Pro- bleme der Sprache und des Sprechens betreffen; die Ausbildung von „Meister-Orator:innen“ in der Pädagogik, in gesellschaftlich-politischen (Agitator:innen, Richter:innen) und in künst- lerischen Bereichen (Poet:innen, Schriftsteller:innen, und Schauspieler:innen), außerdem die Verbreitung des Wissens über die Sprache und Sprachförderungsmethoden.38 Die Audioüber- tragung der Stimme förderte ein bestimmtes Publikum, das bereit war, mithilfe der eigenen Ohren Inhalte zu verstehen und zu visualisieren. In diesem Zusammenhang zitiert Tat′âna Marčenko in ihrem Buch über das sowjetische Radiotheater Vladimir Markov, der über das Problem der akustischen Wahrnehmung des Radiogeschehens berichtete.39 Markov verglich die Zuhörer:innen des Radios nicht mit Theaterzuschauer:innen, sondern mit den Leser:innen eines Buches, die das Geschehene selbst für sich visualisieren müssen.40 Marčenko verweist auf veröffentlichte Kommentare von Zuhörer:innen der Radioinszenierung „Purga“ von Dmitrij Šeglov (Moskau Radio), aus denen man erkennt, welche Auswirkung künstlerisch inszenierte Stimmen hatten: Es ist nicht wichtig, dass die abgebildeten Typen nicht sichtbar waren. Die große Geschicklichkeit der Künstler im Stimmspiel hat sie so bunt geschaffen, sie sind alle so lebendig und echt, dass es notwendig war, sie gedanklich in imaginäre Kostüme zu kleiden, und jetzt sind sie alle vor unseren Augen da.41 mann (Hg.): Ethos und Pathos. Mediale Wirkungsästhetik im 20. Jahrhundert in Ost und West. Böhlau 2017, S. 97–129. 35 Vgl. Oksana Bulgakova: Golos kak kul‘turnyj fenomen. Očerki aktual‘nosti. Moskau 2015. 36 Steklo. In. Govorit SSSR, 1931, N.7, S. 9–10. Über ihre Stimmeigenschaften findet man keine An- merkungen, aber ein klangliches Beispiel der weiblichen Stimmen der 40er Jahre kann man auf der Inter- netplattform „Staroe radio“ anhören. Zur Verfügung steht die Stimme der Radioansagerin Ol‘ga Vysockaâ (1906–2000). Staroe radio: Diktor vsesoûznogo radio. Online: http://svidetel.su/audio/2905, abgerufen am 10.08. 2021. 37 Tat‘âna Gorâeva: „Fabrika poètov“. K istorii instituta živogo slova. In: Vstreči s prošlym, 2011, Nr. 11, S. 231–328, hier S. 232. 38 Ebd. 39 Vladimir Markov: Spektakl‘ po radio. Moskau 1930, S. 50. Hier S. 17. 40 Ebd. 41 Tat’âna Marčenko: Radioteatr. Stranicy istorii i nekotorye problemy. Moskau 1970, S. 29–30. „Eto ničego, što izobražayemyje tipy byli ne vidimy. Bol’shoje masterstvo artistov igroj golosa sozdavalo ih tak ârko, vse oni http://svidetel.su/audio/2905 40 Elizaveta Willert Mit welchen Mitteln arbeiteten die Sprecher:innen und Schauspieler:innen, um die eigenen Radiostimmen zu inszenieren? Der Radioregisseur und Schauspieler Osip Abdulov, dessen Radiodrama „Torf “ später ausführlicher dargestellt wird, vertrat eine Theorie der „Stimm- schminke“ (golosovoj grimm), deren Konzept auf der theatralischen, musikalischen Arbeit mit der Radiostimme basierte. Die Stimme der Radiosprecher:innen wurde dabei als plastisches Kompositionsmaterial wahrgenommen.42 Ausführlich berichtet über Abdulovs Theorie sein Schüler, der Radiokünstler Rostislav Plâtt: (…) Ich liebe es, in Bezug auf die Erinnerung an die 30er Jahre im Radio über das Abdulov-Theater zu sprechen. (…) All dies wurde in Abdulovs Program- men durch eine äußerst ausdrucksstarke Kommunikation mit dem Wort er- reicht. Seine besten Radioauftritte zeichneten sich meiner Meinung nach durch eine solche radiotheatralische Qualität wie das Schauspiel [zreliŝnost′] aus. Ab- dulov kannte den Wert verschiedener Pläne am Mikrofon, Entfernungen und Annäherungen, er kannte den Wert der Funkpause, wenn zum Beispiel ein Wort aus einem Schrei in ein Flüstern verwandelt wurde, plötzlich aufhörte … dann Stille … (…)43 In diesem Zitat ist die Stimme der Radioinszenierung nicht als rein deklamatorisch dargestellt, sondern als ein z. B. mit Geräuschen montierter Teil der klanglichen Komposition, mit mu- sikalisch-akustischen Eigenschaften (Dynamik, Rhythmus, Tempo) und theatralischen Pau- sen. Die Montage als künstlerische Methode der Wirklichkeitsdarstellung wurde in den 20er und 30er Jahren als Innovation wahrgenommen und viel in Radiodramen und Radiofilmen genutzt. In Evegenij Rûmins Beschreibung der sprachlichen Montage und des Auftritts des Schauspielers Vladimir Âhontov merkt man zum Beispiel, dass die schnell wechselnden Bilder der Erzählung, zusammen mit der passenden Mimik und Gestik, oft begleitet durch einen Pfeifton, eine Sirene oder Gesang, als gesamte „Harmonie“ wahrgenommen wurden.44 Das Problem der Soundeinführung in den frühen radiophonen Kompositionen beschäftigte mehrere Kritiker:innen und Radioregisseur:innen. Am Ende der 20er Jahre, noch am Anfang der klanglichen Experimente, sieht Šerel′ drei Tendenzen: erstens die Versuche einer „gleich- berechtigten“ Synthese aller akustischen Elemente, bzw. eines so genannten „klanglichen Alphabets“, zweitens die Benutzung der Musik und des klanglichen Materials als erklärende nastol’ko živy i dejstvitel’ny, što ostavalos’ myslenno odet’ ih v voobražayemyje kostûmy, i vot oni vse nalizo pered glazami“. 42 Osip Abdulov. In: Govorit SSSR, 1935, N. 8, S. 32, hier S. 32. 43 Rostislav Plâtt: Bez èpiloga. Moskau 2008, S. 156ff. „(…) Â lûblû, vspoominaâ o radio v 30e godi, govorit o teatre Abdulova. Vse eto v abdulovskih peredačah dostigalos’ putëm predel’no vyrazitel’nogo obŝeniâ so slovom. Lučšye ego radiospektakli otličalis’, po-moemu, takim kak by ne radioteatral’nym kačestvom, kak zreliŝnost’. Abdulov znal cenu raznym planam u mikrofona, udaleniâm i približeniâm, znal tsenu radiopauze, kogda, k primeru, slovo s krika perešlo na šëpot, vdrug zamerlo… zatem tishina… (…)“ 44 Evgenij Rûmin: Montaž. In: Novosti radio, 1925, N. 4–5, S. 53–55, hier S. 53. Ein audiovisuelles Beispiel des Auftritts von Âhontov siehe hier: Triacetat TV: Vladimir Âhontov liest das Gedicht „Denkmal“ von Alex- ander Puškin. Online: https://www.youtube.com/watch?v=Mlr9VXA7kjw, abgerufen am 11.08.2021. https://www.youtube.com/watch?v=Mlr9VXA7kjw 41Der Klang der neuen Wirklichkeit Begleiter in den Radiostücken und schließlich die totale Verbalisierung des akustischen und musikalischen Geschehens, die besonders in den frühen Konzertaufführungen stark geprägt wurde.45 In seinem Bericht über das „klangliche Alphabet“ schreibt der Tonregisseur Vladimir Kanzel′, dass prinzipiell alle Zeichen dieses Alphabets für die Radiokünstler:innen gleich sein müssen, sowohl im Moment der Auswahl als auch dem der Aufführung.46 Das Hauptkriterium für die Geräusche und die klangliche Begleitung des Wortes in den Radiokompositionen sollte nach der Meinung der Zeitung „Novosti radio“ ihre Ausdrucksfähigkeit und Zweckmäßigkeit sein.47 Aber welches Material kann durch den Klang radiophon passend ausgedrückt werden? Nach der Meinung des Kritikers Borodin kann die Radiokomposition nur mit vollständig akustisch ausdrückbarem Material arbeiten, es kann keine „statischen seelischen Zustände“ beschreiben, die nur wörtlich beschreibbar sind.48 Der Diskurs über den Klang, seine Wirkung und Funktion war in dieser Zeit nicht nur in journalistischen Reportagen, sondern auch in den Radiodramen sehr präsent, und verweist auf die intensive Beschäftigung mit dem künst- lerischen Potential des Klanges. Ein frühes Klang-Experiment beschrieb die Zeitschrift „Radioslušatel′“: Jetzt organisiert das Moskauer Rundfunkzentrum seine Arbeit neu und sucht nach neuen Formen und Wegen, um die breite Masse der Radiohörer zu er- reichen. Nehmen Sie den Moskauer Alltag. (…) Für Provinzhörer ist alles, was in Moskau gemacht wird, äußerst interessant. (…) Die erste Erfahrung, mit einem Mikrofon durch Moskau zu laufen. Der Radiohörer, der mit Kopfhörern an seinem Tisch sitzt, wird gedanklich für eine Weile nach Moskau zurück- kehren. (…) In einem separaten, speziell ausgestatteten Raum proben Schau- spieler und Musiker ihre Aufführungen.49 Danach folgen in dem Artikel Verbalisierungen von Zuggeräuschen oder dem schweren Ge- ratter eines Lastkraftwagens.50 Diese Beschreibung verweist auf Methoden der Inszenierung realer Situationen oder der sound-scape. Einzelne Signalelemente, die eindeutig auf bestimmte Gegenstände des Raums oder des Geschehens verweisen, benutzten die Regisseure in diesem Fall, um das Leben der Hauptstadt akustisch in die Provinz zu übertragen. In der Ankündigung 45 Šerel‘ 1993, S. 52–54. 46 Vladimir Kanzel′: Zvukovoj âzik – veduŝij radioiskusstvo. Nekotorie soobraženiâ po tehnologii radioâzyka. In: Miting milliohov, 1931, N 4–5, S. 32–33, hier S. 32. 47 Vgl. Šerel’ 1993, S. 53. 48 A. Borodin: Radiokomposizyi. In: Govorit SSSR, 1933, N 16, S. 22. 49 G.: Progulki po Moskve. In: Radioslušatel’, 1928, N. 3, S. 14. „Sejčas Moskovskiy radioveŝatel’nyj uzel pe- restraivaet svoû rabotu, našupyvyet novye formy i puti, čtoby ohvatit’ širokiye massy radioslušatelej. Vzât’ hotâ by povsednevnuû žizn’ Moskvy. (…) Dlya provinzial’nyh slushatelej vsë, što delayetsâ v Moskve, črezvyčajno interesno. (…) Pervyj opyt progulki s mikrofonom po Moskve. Radioslushatel’, sidâ s naushnikami u sebâ za stolom, myslenno vernëtsâ na vremâ v Moskvu. (…) V otdel’noj komnate, special’no oborudovannoj, aktëry i muzykanty repetiruût svoi vysptupleniâ“. 50 Vgl. Ebd. 42 Elizaveta Willert des ersten Radiofilms „Stepan Halturin“ (1928) trifft man einen anderen Verweis auf diese Me- thode der künstlerischen Faktenwiedergabe: „Stepan Halturin“ hat die Aufgabe, den Lebensweg und den revolutionären Kampf von Halturin aufzuzeigen, indem mit Hilfe künstlerischer Techniken Fakten aus seinem Leben und Werk durch Methoden der freien Komposition vermittelt werden, was manchmal Abweichungen von Fakten und Verletzungen ihrer Richtigkeit erfordert.51 Die Experimente des Radiojournalismus mit den Methoden des „klanglichen Alphabets“ und der bestehende Mangel der theoretisch fundierten Auseinandersetzung mit dem abs- trakten klanglichen Material im Radio führten einerseits zur Verschärfung der Kritik an den Radiokompositionen, und anderseits, zur starken Kontrolle der Radioproduktion durch die Regierungspolitik.52 Im selben Jahr 1928 schreibt außerdem der Autor Kal′ma über die Not- wendigkeit der Professionalisierung der Arbeit mit Klängen und Geräuschen und der Ein- richtung eines „Klanglabors“.53 Fallstudie: Die zwei Radiodramen „Povest′ o sfagnume“ (1931) und „Steklo“ (1932) In der folgenden Fallstudie werden zwei Radiodramen näher dargestellt und miteinander ver- glichen: „Povest′ o sfagnume“ (deutsch „Torf “) sowie „Steklo“ (deutsch „Spiegel“), beide von Osip Abdulov und Asenij Trakovskij realisiert. Laut Šerel′ wurde die Komposition „Povest′ o sfagnume“ sehr positiv von der Kritik aufgenommen54, während die Komposition „Steklo“ sehr scharf als „nicht-proletarische“ Kunst kritisiert wurde.55 Da beide Stücke zur gleichen Zeit ent- standen sind, ist es interessant zu vergleichen, wie die beiden Dramen aufgebaut sind und was an ihnen kritisiert wurde. In der Zeitschrift „Radiodekada“ findet man einen vollständigen Text des Dramas „Povest′ o sfagnume“, außerdem wurde ein kritischer Bericht von Abdulov veröffentlicht. Von dem Drama „Steklo“ ist kein Text bekannt, aber man findet eine ausführliche Beschreibung des Stückes von dem Schriftsteller Arsenij Tarkovksij und dem Komponisten Vladimir Fere in der Zeitschrift „Govorit SSSR“. Außerdem existiert ein Bericht, „Ošibki, na kotoryh učatsâ“, in dem „Steklo“ von der literarisch-künstlerischen Redaktion kommentiert wurde. Anhand dieser Quellen wurde die folgende Analyse durchgeführt. 51 Radioslušatel’, 1928, N3, S. 13. „Stepan Halturin imeet zadačej pokazat’ žiznennyj put’ i revolûtsionnuû bor’bu Halturina, peredavaâ fakty iz ego žizni i deâtel’nosti metodami svobodnoj kompozitsii pri pomoči hudožestvennyh priëmov, trebuûŝiy podčas otstuplenij ot faktov i narušeniy ih tochnosti“. 52 Vgl. dazu zum Beispiel die Ausgaben von der Zeitschrift „Govorit SSSR“, 1932, N. 15, S. 10 oder 1932, N. 12, S. 13. 53 Kal‘ma: Ston vetra, voj volka i mnogoe eŝë. In: Radioslušatel‘, 1928, N.8, S. 2, hier S. 2. 54 Šerel 1993, S. 137. 55 Ošibki, na kotoryh učatsâ. In: Govorit SSSR, 1932, N. 4, S. 6–7. 43Der Klang der neuen Wirklichkeit „Povest′ o sfagnume“ basiert auf einer Erzählung über den Torfabbau; es besteht haupt- sächlich aus zusammenmontierten Fakten über dem Abbau in der UdSSR, enthält aber auch Elemente aus historischen Quellen über den Torfabbau zur Zeit des Zaren Peter I. In dem am 3. Januar 1932 erstausgestrahlten Radiodrama „Steklo“ geht es ebenfalls um ein industrielles Thema, es wurde von Tarkovskij aber als Drama über eine Person – den Arbei- ter Stepan Kruglâkov – verstanden, der dank seiner Auffassungsfähigkeit und der Erfindung des unzerbrechlichen Glases seine Fabrik „rettet“. Die Figur des Kruglâkov wurde in dem Be- richt „‚Steklo‘ – Udar po proletarskomu iskusstvu“ scharf kritisiert; seine Handlungen ent- sprechen, nach der Meinung der Kritiker:innen, nicht den sozialistischen Vorstellungen über den Arbeitsablauf in einer Spiegelmanufaktur: In der Aufführung selbst wurde die falsche Herstellung von „Glas“ sorgfältig hervorgehoben, das Bild eines einsamen Erfinders wurde hervorgehoben, und das 18. Jahrhundert bis zum scheinbar spiritistischen Auftritt Lomonosovs am Mikrofon (gleichzeitig mit der Rede zum Fünfjahresplan!) ebenso behandelt.56 Kruglâkov handelt allein, zufällig, als einzelne Einheit.57, während in „Povest′ o sfagnume“ keine einzelnen Individuen, sondern „Typen“ wie der russische mužik (Bauer) gezeigt werden; so ist auch die Komposition „Steklo“ anders aufgebaut: Tarkovskij benutzte einen arhythmischen Jambus für den Text und der Komponist Vladimir Fere führte eine thematisch-motivische mu- sikalische Begleitung ein. Letzterer erklärte nicht die „Illustration“, sondern die „Erläuterung“ und „Unterstreichung“ des Sujets zur Hauptaufgabe der Musik.58 Laut dem kritischen Bericht entspricht die künstlerische Methode der Produktion nicht den sozialistischen Prinzipien; vor allem betrifft diese Anmerkung „die musikalische Begleitung“, die den „Text verfolgt“ und die „Motive der nebensächlichen [pobočnoj] Arbeitslyrik“ unterstreicht.59 Der letzte und größte – methodische – Fehler des Hörspiels schließlich liegt darin, dass Musik nicht als organisch notwendiges Element in die Komposition einfließt. Sie begleitet nur den Text und betont ständig, dass dies alles nur Spiel, Theater, Rezitation ist und den Hörer von realen alltäglichen Darstellungen ab- lenkt.60 Während in „Povest′ o sfagnume“ die Musik zwischen den Szenen eingeführt wurde, ist die Musik und die klangliche Begleitung in „Steklo“ laut Fere ein Teil des Sujets. Die Volkstüm- lichkeit stand offensichtlich nicht im Fokus des „Spiegels“, sondern die Charakteristika der 56 Ebd. „V samom ispolnenii staratel’no byli podčërknuty nevernye ustanovki ‚Stekla‘, vydelen byl obraz odinokogo izobretatelâ, sootvetsvuûŝim obrasom byl traktovan 18 vek vplot’ do âvno spiritičeskogo poâvleniâ Lomonosova u mikrofona (odnovremenno s razgovorami o pâtiletke!)“ 57 Ošibki, na kotoryh učatsâ, 1931, S. 6, Sp. links. 58 „Steklo“. In: Govorit SSSR, 1931, N 7, S. 8–9. 59 Ošibki, na kotoryh učatsâ, 1931, S. 6, Sp. links. 60 Ebd., S. 7. „Nakonez, poslednij i kreupnejšij – metodologičeskij – promah radiop’esy ‚Steklo‘ – zaklûčaetsâ v tom, što vsë– tol›ko igra, teatr, deklamaziâ, otvelkaâ slušatelâ ot real›no–bytovyh predstavlenij.“ 44 Elizaveta Willert Personen und deren Bezug zur Spiegelproduktion. Dass die Musik und das „Theatralische“ in der Kritik des Radiodramas eine präsente Rolle spielte, verweist darauf, wie komplex der Auf- bau des Stückes war. Die starke „Theatralisierung“ des radiophonen Geschehens durch die musikalische und klang- liche Begleitung des Textes führte zu einer unerwünschten Kollision der künstlerischen Dar- stellung der Realität mit der Realität, die eigentlich durch das Prisma der Propaganda gezeigt werden sollte. Das unterstreicht den gespaltenen Charakter des dokumentarisch-künst- lerischen Rundfunks zwischen der ästhetischen Suche nach neuen Formen der akustischen Darstellung und der Notwendigkeit, den „Sound“ der politischen Propaganda weiterzugeben. Nach Osip Abdulovs Kommentar hat „Povest′ o sfagnume“61 (wie Abdulov es nennt, „očerk“, d. h. eine „Prosaskizze“) die Form einer Ballade oder eines Liedes, das nicht in „all- täglichen Tönen“, sondern in „aktivem Pathos“ geschrieben ist.62 Das literarische Genre des „očerk“ kann man mit der Englischen „sketch story“ oder dem zeitgenössischen „feature“ ver- gleichen, es ist in der Regel eine kurze, teilweise realistische, teilweise poetische Beschreibung einer konkreten Situation. Dementsprechend enthält die Komposition von Tarkovskij und Abdulov dokumentarische und stilisierte Teile. Tarskovkij verwirklicht das „Skizzenhafte“ in sprachlichen Montagen zwischen den Repliken von Wissenschaftler:innen und Arbeiter:innen mit Darstellungen von Fakten über die zeitgenössische Torfverarbeitung. Das Radiodrama ist als Abfolge einzelner Szenen konzipiert, deren „Tempo und Rhythmus variiert.“63 In der Kom- position sind 4 männliche und 2 weibliche Stimmen eingeführt. Aus dem 5. Teil, „Nam nužno toplivo“ („Wir brauchen Kraftstoff“)64 Diesen Ausschnitt bezeichnet der Regisseur mit dem musikalischen Begriff „razrabotka“ („Durchführung“), die zum Beispiel für den Sonatensatz charakteristisch ist. 61 „Povest′ o sfagnume“ wurde am 13. Juli 1931 ausgestrahlt. 62 Osip Abdulov: Kak zvučit torf?. In: Govorit SSSR, 1931, N. 1, S. 14, hier S. 14. 63 Abdulov 1931, S. 14. 64 Arsenij Tarkovskij: Povest‘ o sfagnume. In: Radiodekada, 1931, N. 1, S. 11–14, hier S. 12. Und die Kraftwerke mit voller Stimme: I elektrostancii golosom polnym: – Gib mir Treibstoff. – Topliva daj. Der Dampfer brüllt, die Wellen schneidend: Revët parohod, razrezaâ volny: – Gib mir Treibstoff. – Topliva day. Die Häuser singen etwas leichter: Doma zapevaût čut′ polegče: – Gib mir Treibstoff. – Topliva day. Und die Fünfjahresplanbestellungen: I pâtiletka prikazyvaet: – Es ist notwendig, die Torfproduktion zu ma- – Neobhodimo maksimal′noje rasširenie dobyči ximieren und durch die Umwandlung in Strom torfa i zamena im putëm prevraŝeniâ v elektroe- zu ersetzen. nergiû. Das jährliche Torfwachstum im europäischen Ežegodnyj prirost torfa po Evropeyskoj časti Teil der UdSSR erreicht 27 Millionen Tonnen. SSSR dostigayet 27 millionov ton. 45Der Klang der neuen Wirklichkeit (…) Die Entwicklung hat begonnen. Die Torfproduktion nimmt jedes Jahr zu. Die Sümpfe werden zur Basis der Industrialisierung. Der erste Teil des Stücks ist vor dem Hintergrund des Sirenensignals aufgebaut, das sich die ganze Zeit verstärkt. Die Stimmen, zusammen mit den Sirenen, verlangen kraftvoll nach Kraftstoff. Ein Textstück wird sechsstimmig gesungen. Der zweite Teil des Stückes („Es ist notwendig, die Torfproduktion“…) – ist ein Bericht über eine große Versammlung. Eine Person, die von der enormen Bedeutung der Torf- gewinnung überzeugt ist, erstattet Bericht. Die Stimme erklingt temperament- voll, fest und klar. (…)65 Aus dem Kommentar wird deutlich, dass an dieser Stelle die Kulmination der Komposition stattfindet. Es erklingt ein stimmliches tutti, die Arbeiter:innen und Wissenschaftler:innen for- dern gemeinsam die Entwicklung des neuen Kraftstoffs. In „Povest′ o sfagnume“ sollte die Musik eine große Rolle gespielt haben, in dem Skript des Dramas wechseln sich die in Klammern bezeichneten musikalischen Nummern mit den Deklamationen der Sprecher:innen ab. Die Besonderheiten der Vortragsweise mit der musikalisch-sprachlichen Montage kann man grafisch aus dem überlieferten Text des Radio- dramas herauslesen, da der vorgelesene Text mit einer anderen Schrift als der Text des Liedes markiert wurde (siehe Abb. 1). Abb. 1: Ausschnitt aus dem Finale der Radiokomposition.66 65 Abdulov 1931, S. 14. 66 Tarkovskij 1931, S. 14. „(Muzyka) Zaklyucheniye. Pesnâ hora – Shumit listva – poyot listva – zvenit, chto golosa Nam nuzhen les, nam nuzhen les, poberegi lesa. Derzhi na torf! Raz! Dva! Na torf! Na torf vperod! Torfyaniki u nas lezhat – kak more shiroki. Mashiny dvin’ i sam idi – na te torfyaniki Derzhi na torf! Raz! Dva! Na torf! Druzhney v pokhod! Chtoby tok bezhal k tvoyey izbe – po zvonkim provodam. Strana moya – strana tvoya – prikazyvayet vam: Derzhi na torf! Raz! Dva! Na torf! Na torf vperod! Rasti, strana. Zavody stroy. Lesa- mi zeleney. No chtob yeshcho – byla strana – Sovetskaya sil’ney Derzhi na torf! Raz! Dva! na torf! Druzhney v pokhod!“ 46 Elizaveta Willert Um die „Volkstümlichkeit“ in der Komposition zu unterstreichen, führt Tarkovskij ein stilisier- tes Volkslied „Och ty, gore velikoe“ in der Art des Klageliedes (russkaâ protâžnaâ pesnâ) ein. Dieses Lied erklingt im dritten Teil „Istoričeskaâ spravka“ („Historische Anmerkung“) zu- sammen mit der Beschreibung des Treffens von Zar Peter mit dem Holländer Erasmus Armus, der dem Zaren das Geheimnis des Kraftstoffes offenbarte. Die Episode stellt gleichzeitig meh- rere Räume dar: Den Zuhörenden soll gezeigt werden, wie der „herrschsüchtige“ Peter dem „hinterlistigen“ Holländer akustisch gegenübergestellt ist. Denn eben der Holländer schafft die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der russischen Bauern, deren „übermäßige Arbeit den Rücken biegt.“67 Der anderer Raum sind die Sümpfe und Wälder des damaligen Russlands. Laut Abdulov soll das Lied die „Einfachheit, die Unterdrückung“ des mužik (Bauern) des za- ristischen Russlands charakterisieren.68 Beide Räume unterscheiden sich akustisch durch den Text und die Vortragsweise. Diskussion Der im ersten Abschnitt des Artikels skizzierte historische Schritt von der Radiogazeta zum Radiodrama zeigte, dass die Dokumentation der Wirklichkeit und die Übertragung der Pro- paganda durch das Medium Radio in der Sowjetunion der 1930er und 40er Jahren zu einem ästhetischen Spannungsfeld geführt hat. Die Schulung des proletarischen Ohrs und das Zu- sammenfügen der Stadt- und Provinzkulturen wurde zur höchsten Priorität der Radio- politik erklärt und führte deswegen zu strengen Reglementierungen in Bezug auf die Radio- produktion. Gleichzeitig bekamen die Möglichkeiten der akustischen Wahrnehmung und die künstlerischen Methoden der radiophonen Deklamation, darunter auch bestimmte Stimm- und Klangpolitiken, eine starke theatralische und musikalische Prägung. Das Netzwerk aus Politiker:innen, Musikwissenschaftler:innen, Schauspieler:innen und Schriftsteller:innen um die sowjetische Radiopropaganda zu Beginn des Stalinismus verweist darauf, dass die neu entstandenen Genres wie die Radiogazeta und das Radiodrama interdisziplinäre Experiment- 67 Abdulov 1931, S. 14. „Trud, neposil’nyj trud gnët ego spinu“. 68 Ebd. „V peredače aktërom dolžna byt’ prostota, ugnetënnost’, (harakterizuûŝaâ muzika zarevoj Rusi)“ (Musik) ABSCHLUSS Chorlied. — Laub raschelt — Laub singt — es klingeln die Stimmen Wir brauchen einen Wald, wir brauchen einen Wald, rette den Wald. Bleib ’ auf dem Tor f ! E ins! Zwei! Auf den Tor f ! Vorwärts zum Tor f ! Unsere Torfmoore sind so breit wie das Meer. Beweg’ die Autos und geh’ selbst — in diese Torf- moore Bleib ’ auf dem Tor f ! E ins! Zwei! Auf den Tor f ! Gemeinsam auf den Weg! Damit der Strom zur Hütte fließt — entlang der klingelnden Drähte. Mein Land — Dein Land — befiehlt: Bleib ’ auf dem Tor f ! E ins! Zwei! Auf den Tor f ! Vorwärts zum Tor f ! Wachse, Land. Bau’ Fabriken. Aus grünen Wäldern Aber damit auch das sowjetische Land stärker wird Bleib ’ auf dem Tor f ! E ins! Zwei! Auf den Tor f ! Gemeinsam auf den Weg! 47Der Klang der neuen Wirklichkeit felder waren. Dabei entstanden bestimmte Diskurse darüber, wie der Klang, das Wort und die Stimme in den Radiostücken eingeführt werden sollten, um eine verständliche Botschaft zu vermitteln. Die Versuche der Akteur:innen, Kunst und Propaganda im Radio zusammen- zufügen, kann man als ein historisches Labor bezeichnen, das aus verschiedenen musik- und medienwissenschaftlichen Perspektiven weiter untersucht werden kann.