MEDIEN – WISSEN – BILDUNG Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger, Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.) Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik innsbruck university press MEDIEN – WISSEN – BILDUNG innsbruck university press Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger, Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.) Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik Andreas Beinsteiner Institut für Philosophie, Universität Innsbruck Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien Nina Grünberger Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik, Technische Universität Darmstadt Theo Hug Institut für Medien, Gesellschaft und Kommunikation, Universität Innsbruck Sprecher des interfakultären Forums Innsbruck Media Studies an der Universität Innsbruck Suzanne Kapelari Institut für Fachdidaktik, Universität Innsbruck Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Instituts für Medien, Gesellschaft und Kommunikation, des Instituts für Fachdidaktik, des Interfakultären Forums Innsbruck Media Studies sowie des Vizerektorats für Forschung der Universität Innsbruck. © innsbruck university press, 2023 Universität Innsbruck 1. Auflage Alle Rechte vorbehalten. www.uibk.ac.at/iup Titelgrafik: © Christoph Pirker ISBN 978-3-99106-086-4 DOI 10.15203/99106-086-4 Inhaltsverzeichnis Editorial ......................................................................................................................... 9 Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger, Theo Hug & Suzanne Kapelari Grußworte zur Eröffnung ............................................................................................ 19 Ulrike Tanzer, Vizerektorin für Forschung der Universität Innsbruck Pharmakon .................................................................................................................. 21 Thomas Ballhausen Kritisch-ökologische Theorieperspektiven Von der Aufklärung zu 5G .......................................................................................... 29 Antoinette Rouvroy Zombie-Technologien und negative Commons .......................................................... 35 Alexandre Monnin Datenbasierte Demokratie oder datafizierte Prediktivität? Ein analytisches Plädoyer für die Rettung der evolutionären Kontingenz ............................................ 55 Carsten Ochs & Sebastian Sierra Barra Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 6 Inhaltsverzeichnis Politics, Sustainability and Post-Digitality – The role of political actors for a more sustainable digitality .................................................................................. 67 Sy Taffel & Nina Grünberger Visuelle Impulse zu ökologischen Diskursen – Bilderstrecke ..................................... 79 Christoph Pirker Kritische Positionen und Kontroversen Modalitäten von Kritik in Praktiken des Urban Sensing ............................................ 89 Daniela van Geenen & Timo Kaerlein Suffizienz, Digitalität und digitaler Kapitalismus. Herausforderungen für die Medienpädagogik .......................................................................................... 109 Nina Grünberger Kritik als Theorieform. Von der Kritischen Theorie zur Cancel Culture .................. 125 Rainer Leschke Von der negativen Ökologie zur De-struktion der Medizin ...................................... 149 Hans-Martin Schönherr-Mann Scientists4Future – Gesellschaftliches Engagement als Wissenschaftler*in ............ 167 Lara Leik Inhaltsverzeichnis 7 Pädagogische und praktische Perspektiven Bildung – Bewegung – Berechnung. Drei Blickwinkel auf ökologische Krisen im digitalen Zeitalter ................................................................. 187 Dan Verständig Mobile Endgeräte in der Bildung: ein Blick durch die ökologische, ökonomische und soziale Brille ........................................................... 203 Helga Mayr & Reinhold Madritsch Critical Thinking in Teacher Education Matters to Face Ecological Crises ............. 225 Susanne Rafolt & Suzanne Kapelari Digitalität, Nachhaltigkeit und Bildung. Analyse zweier didaktischer Angebote für Schulen zu ökologischen Implikationen von Smartphones ................ 239 Silja Topfstedt, Katja Schirmer, Nina Grünberger & Klaus Himpsl-Gutermann Mikroorganismen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst – Ein Potpourri ........................................................................................ 253 Judith Ascher-Jenull, Barbara Imhof, Daniela Mitterberger, Tiziano Derme, Carolin Garmsiri & Heribert Insam Kurzbiografien der Mitwirkenden ............................................................................. 263 Editorial Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger, Theo Hug & Suzanne Kapelari Zu Beginn der 1930er-Jahre planten Walter Benjamin und Bertolt Brecht die Gründung einer Zeitschrift mit dem Titel Krisis und Kritik. Das Projekt konnte nicht verwirk- licht werden, doch seine Ambitionen sowie die konkreten Umsetzungspläne sind über- liefert. Insgesamt sollte die Zeitschrift „in einem klaren Bewußtsein von der kritischen Grund situation der heutigen Gesellschaft verankert“ (Benjamin 1991, 619) sein, wo- bei Benjamin und Brecht diese Situation als die des Klassenkampfes verstanden. Mit Beiträgen aus dem Milieu der bürgerlichen Intelligenz (eingeplant wurden u. a. Theo- retiker wie Lukácz, Marcuse und Adorno, aber auch Künstler wie Döblin, Eisler, Musil und Weill), sollte sich diese aus ihrer Perspektive Rechenschaft von den Forderungen einer Revolution der Produktionsverhältnisse geben. Betrachtet man diese Pläne mit einem besonderen Augenmerk auf Fragen der Medialität und Diskursivität, so ist vor allem ein Anliegen der Zeitschrift auffällig: Die Schreibenden sollten in ihren Texten nämlich Thesen entwickeln, die dann in regelmäßigen Beiheften gebündelt werden soll- ten. Einmal in diese Thesensammlung aufgenommene Sätze sollten dann für künftige Beiträge verbindlich werden. Damit war nicht gemeint, dass diese Sätze dogmatisch verankert und damit dem Dissens und der kritischen Hinterfragung entzogen werden, sondern vielmehr, dass sie einen gemeinsamen Bezugspunkt für die Debatten in die- sem Publikationsorgan bilden sollten, der einen gemeinsamen theoretischen Boden si- chert und nicht einfach ignoriert werden kann: „es ist den Mitarbeitern der laufenden Zeitschrift wohl gestattet, an einzelnen dieser Sätze, die sie etwa glauben ablehnen zu müssen, begründete Kritik zu üben, nicht aber in ihren eigenen Arbeiten diese Sätze zu ignorieren.“ (ebd., 620) Aus heutiger Sicht könnte man diese Vorgabe als einen Versuch deuten, der Problematik eines zunehmenden Zerfalls und der Fragmentierung öffentlicher Debatten, wie sie in der jüngeren Vergangenheit von Cass Sunstein (2001) diagnostiziert und von Jürgen Ha- bermas (2008, 2021) popularisiert wurden, entgegenzuwirken. Die Zentrifugalkräfte öf- fentlichen Diskutierens, das wird daran ersichtlich, werden nicht erst in einer durch das Internet massiv pluralisierten oder durch Algorithmen kuratierten Öffentlichkeit wirk- Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 10 Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug & Suzanne Kapelari sam; gesellschaftliche Polarisierung, das Ignorieren oder Verwerfen abweichender Welt- bilder und Sichtweisen sowie das Fehlen einer ernsthaften Auseinandersetzung zwischen konträren Positionen scheinen vielmehr Grundtendenzen von Aushandlungsprozessen in medienbasierten Öffentlichkeiten zu bilden. Freilich leben wir heute, über 90 Jahre nach dem Scheitern der Pläne für „Krisis und Kritik“, in einer Situation, in der sich diese Ten- denzen massiv verstärkt haben und die Dynamik von Polarisierungen, Echokammern und Filterblasen immer mehr zu eskalieren scheint. Mögen die 1930er-Jahre, mit Wirt- schaftskrise und erstarkendem Faschismus, im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs und der industriellen Massenvernichtung, auch als Krisenzeit par excellence erscheinen, sehen doch auch wir uns heute mit einer Krisenhaftigkeit unserer Gegenwart konfrontiert, die gegenüber der damaligen keinesfalls harmlos wirken kann. Nicht nur sind heute dis- kursive Verrohung und intellektueller Verfall sowie das Aufklaffen der Schere zwischen Arm und Reich in einem Ausmaß virulent, das an die 1930er-Jahre gemahnt; über diese Ebenen des Diskursiven und des Ökonomischen hinaus drängen sich heute weitere Di- mensionen auf, die die Gegenwart als Krisensituation erkennbar machen. Dies betrifft insbesondere die Problematik(en) des Anthropozäns, allen voran den Klimawandel und das Artensterben. Wobei im Kontext des Anthropozäns die Frage nach einer möglichen Selbstüberschätzung des Menschen und dessen Einfluss auf den Planeten Erde kritisch diskutiert werden kann. Jedenfalls wird damit angezeigt, dass Kritik sich heute nicht mehr auf menschliche Bereiche wie das Diskursive oder das Ökonomische beschränken kann. Viele kritische Interventionen der letzten Jahre versuchen deshalb, über eine an- thropozentrische Sichtweise hinauszugelangen und kontemporäre Krisenphänomene im Rahmen komplexer Verflechtungen von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren zu begreifen (Barad 2012, Haraway 2018, Latour 2018). Zu diesen nichtmenschlichen Anderen zählen nicht nur die in ökologische Umbrüche und Transformationsprozesse involvierten Lebewesen, von Mikroorganismen über invasive Pflanzenarten bis zu aus- sterbenden Säugetieren; auch nicht bloß für die globale Erwärmung relevante Substan- zen wie Kohlendioxid oder Methan; eine wesentliche Rolle unter diesen nichtmensch- lichen Akteuren spielen Infrastrukturen und Technologien; gegenwärtig insbesondere jene eines umfassenden digital-kapitalistischen S ystems (Staab 2020). Während die Industrie in ihrer offensichtlichen Abhängigkeit von fossilen Energien schon lange als unbestreitbarer Teil des Problems erkannt ist, wird digitale Techno- logie weiterhin vornehmlich als Teil der Lösung gesehen: So sind es die diskursiven Möglichkeiten der Vernetzung, die neue Formen der kritischen Intervention mit sich ge- bracht haben, welche der Klimabewegung zu Auftrieb und Aufmerksamkeit verholfen habe. Weiters spielen für Bewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion digitale Plattformen und Infrastrukturen nicht nur in der internen Koordination eine wichtige Rolle, sondern auch für das Auftreten nach außen. Wiederum sind jedoch hier Dimensionen jenseits des Diskursiven zu berücksichtigen. Editorial 11 Einerseits wird Digitaltechnologie als Lösung für die Problematik des Klimawandels vermarktet. „Smarte“ Technologien sollen dabei helfen, verschiedenste Prozesse (etwa den Güter- und Personentransport in der smart city) dahingehend zu optimieren, dass der Ressourcenverbrauch minimiert wird. Algorithmen werden hier als Regulations- instanzen imaginiert, die ökologische Probleme im technisch-mathematischen Rahmen bewältigen können, ohne dass Bedarf bestünde, Wirtschaftsmodelle und Wachstums- imperative auf grundlegenderer Ebene in Frage zu stellen. Die Ablösung einer ressour- cenintensiven Produktionsindustrie zu einer smarten Dienstleistungsökonomie sei der Schlüssel zu „nachhaltigeren“ Formen des Wirtschaftens. Implizit beruht ein solches Narrativ jedoch auf dem eigentlich längst widerlegten Mythos der Immaterialität digita- ler Technologien: Nicht nur sind für die Herstellung diverser Bauteile digitaler Endgerä- te sogenannte „conflict minerals“ erforderlich, nicht nur stellen diese wie auch die (im- mer öfter fest verbauten) Akkus eine Herausforderung bei der Entsorgung dieser Geräte mit oft sehr kurzem Lebenszyklus dar. Auch die „Cloud“ ist keineswegs so immateriell und ephemer, wie der Name suggeriert. Große Serverfarmen mit enormem Energiever- brauch sind die Voraussetzung für die „skalierbaren“, d. h. auf eine scheinbar beliebig große Zahl von User:innen erweiterbaren Services von Suchmaschinen, Social-Media- Plattformen, Streaming-Diensten usw. Insofern sich Konsumpraktiken vom Download zum Streaming verschoben haben, tangiert das wiederholte Abspielen eines AV-Inhalts nicht mehr bloß den Energieverbrauch eines isolierten Endgeräts, sondern den des In- ternets insgesamt, insofern der Inhalt jedes Mal von neuem über weite geographische Distanzen und zahlreiche logistische Zwischenknoten im Netz weitergereicht werden muss. Die Logik ständiger Verfügbarkeit von Inhalten und Dienstleistungen und die ihre Datentransferkapazitäten immer weiter steigernden Mobilfunkstandards verstärken sich gegenseitig. Spätestens seit der Energieverbrauch des Internets den der zivilen Luftfahrt überflügelt hat (vgl. The Shift Project 2019), ist die Erzählung von der Digitalwirtschaft als grüner Alternative zum Industrialismus nicht mehr haltbar. Doch vergleichsweise langsam entsteht ein öffentliches Bewusstsein für diese materielle und ökologische Rückseite der glänzenden Touchscreens. Was bei alle dem nur am Rande diskutiert wird, ist die Bedeutung (digitaler) Techno- logien für das Verständnis von Natur und Naturphänomenen im Generellen. Mediale Entwicklungen und die Vorstellung von Natur befinden sich in einem „co-emergenten“ und „co-deterministischen“ Verhältnis zueinander. (Digitale) Technologien und Medien sind „natürlich“ und sie tragen zur Erfassung, zu einem Sichtbar-Machen von Natur und Naturphänomenen maßgeblich bei (Parikka 2018, 103). Selbst der Klimawandel wird durch technologisch hervorgebrachte Messdaten aus der Vergangenheit und Gegenwart und algorithmen-basierter Hochrechnungen in die Vergangenheit und die Zukunft sicht- bar (Chun 2015). 12 Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug & Suzanne Kapelari Die Frage nach der Aussicht auf ein differenzierteres Bewusstsein auf die materiellen Ökologien, in die digitale Technologien eingebunden sind, sieht sich nicht zuletzt zu- rückverwiesen auf die Frage nach der Qualität und Differenziertheit der diskursiven Ökologien, die digitale Medien und Infrastrukturen in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit ermöglichen. Auch auf dieser Ebene erweisen sich diese Medien nicht nur als Teil der Lösung, sondern auch als nicht zu unterschätzender Teil des Problems. Nicht nur der bereits genannten Fragmentierung und Polarisierung der Öffentlichkeit ist in diesem Zusammenhang Rechnung zu tragen. Die Social-Media-Öffentlichkeiten der gegenwär- tig dominanten Plattformen weisen einen deutlichen Bias in Richtung affektgetriebener Instantkommunikation auf: was am meisten aufregt, erhält am meisten Aufmerksamkeit (vgl. etwa Pörksen 2018, 156ff). Die omnipräsenten Logiken des Bewertens führen zu einer unterkomplexen Moralisierung individuellen Verhaltens, die systemische Logiken unberührt lässt. Tweets über Flugscham oder vegane Burger auf Instagram scheinen hier mehr Raum einzunehmen als grundsätzliche Auseinandersetzungen mit den Verflech- tungen ökonomischer und ökologischer Dynamiken. Paradoxerweise scheint Verant- wortung dem individuellen Konsumverhalten umso mehr zugeschrieben zu werden, je mehr dieses Verhalten nicht nur Objekt algorithmischer Steuerung mittels Nudges und Hypernudges (Yeung 2017) geworden ist, sondern diese Steuerung sogar zum dominan- ten Geschäftsmodell des sogenannten Überwachungskapitalismus (Zuboff 2018) aufge- stiegen ist. Wenn in diesem Zusammenhang nicht mehr die Produktionsmittel, sondern die Verhaltensmodifikationsmittel zur entscheidenden ökonomische Ressource gewor- den sind, die es ständig zu steigern gilt, so bedeutet dies nicht nur, dass die Erschließung immer neuer Überwachungsbereiche (der Bewegungsmuster durch Geotracking, des privaten Raums durch Smart-Home-devices, des AV-Konsumverhaltens durch Strea- ming, des Sexualverhaltens durch Dating-Apps, etc.) immer höhere Datentransfer- und -verarbeitungskapazitäten und damit eine weitere Steigerung des Energieverbrauchs verlangt. Es bedeutet zugleich auch, dass all diese Ressourcen dazu herangezogen wer- den, das mündige und selbstverantwortliche Subjekt auszuhöhlen, aber gleichzeitig des- sen Verantwortung via moralisierende Appelle zu adressieren. Ein signifikanter Teil der von heutigen Wertschöpfungsmodellen investierten Energie scheint also direkt in die Auflösung kritischer Subjektivität zu fließen. Solch paradoxe Konstellationen, in denen sich materielle und diskursive Ökologien stets verschränken, sind ein wesentlicher Teil gegenwärtiger Krisenphänomene. Ihnen hätte eine Kritik zu antworten, die sich auf der Höhe der Zeit befindet und die materiel- len und diskursiven Dimensionen ihres Krisencharakters gleichermaßen und in ihren Wechselbezügen zu durchdringen vermag. Ökologische Krisen und Ökologien der Kri- tik standen in diesem Sinne 2021 im Zentrum der Tagungsreihe „Medien – Wissen – Bildung“, die sich im 2-Jahres-Rhytmus aktuell drängenden Fragen an der Schnittstelle medien- und bildungswissenschaftlicher Herangehensweisen widmet. Editorial 13 Der vorliegende Sammelband, der die Beiträge dieser Tagung dokumentiert, ist in drei Abschnitte gegliedert: Der erste Abschnitt „Kritisch-ökologische Theorieperspektiven“ umfasst kritisch-theoretische Auseinandersetzungen aus medienwissenschaftlicher und medienpädagogischer Perspektive zu ausgewählten Themenfeldern eines breiten Öko- logieverständnisses. Damit soll auch eine Grundlage und eine Rahmung für die weite- ren Beiträge geschaffen werden. Der zweite Abschnitt fokussiert konkretere Kontexte wie etwa die Frage nach Suffizienz in der Digitalität oder Modalitäten von Kritik im Alltag. Der dritte Abschnitt führt in explizit pädagogische und pädagogisch-praktische Überlegungen ein und gibt damit Hinweise, wie die theoretischen Bezüge in der Praxis auffindbar sind. Diese drei wissenschaftlichen Themenblöcke und die darin verankerten Texte werden durch vier Beiträge gerahmt, die einen anderen, fast schon moderierenden, kontrapunk- tischen oder irritierenden Charakter haben. Diese vier Beiträge bilden gleichsam eine ergänzende Folie mit spezifischen Blickwinkeln auf die genannten Themenfelder. Da- bei sind sie an wissenschaftlichen Diskursen orientiert und durch eine wissenschaftli- che Auseinandersetzung informiert, obschon sie ihre Überlegungen und Argumente in künstlerischer bzw. aktivistischer Form präsentieren. Dies kann und soll den Lesenden während der Lektüre vor Augen halten, dass es auch andere Lese- und Bearbeitungs- arten der Themenfelder geben kann. Insofern sind die vier Beiträge zwischen den Ab- schnitten eingefügt. Zunächst führt Thomas Ballhausen in literarischer Form durch eine teils dystopische Erzählung, die als Ausgangspunkt der weiteren Auseinandersetzung dienen kann, in den Band ein. Hierzu reiht sich nach dem ersten Themenabschnitt eine Bilderstrecke von Christoph Pirker, der die kritischen theoretischen Positionen in Karikaturen abgebildet hat und dadurch so manches sehr pointiert darstellen kann. An das Ende des zweiten Abschnitts reiht sich ein Beitrag von Lara Leik, Vertreterin der Scientists4Future Aus- tria. Leik schildert in ihrem Essay Schwierigkeiten in der Verbindung von Aktivismus und Forschung am Beispiel der Umweltbewegung und der Arbeit der Scientists4Future. Und schließlich stellen Judith Ascher-Jenull, Carolin Garmsiri, Barbara Imhof, Daniela Mitterberger, Tiziano Derme und Heribert Insam die Formel „1013 mensch- liche Zellen plus 1,3x1013 mikrobielle Zellen“ zur Diskussion (eine Auflösung dessen, was damit gemeint ist, findet sich im Beitrag). In „Mikroorganismen im Spannungs- feld von Wissenschaft und Kunst“ greifen sie zur Frage nach unterschiedlichen Lebens- formen interdisziplinäre Diskursstränge zwischen Forschung und Kunst auf und geben erste Einblicke in ein umfassenderes Projekt. 14 Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug & Suzanne Kapelari Kritisch-ökologische Theorieperspektiven Der Abschnitt wird eröffnet durch eine kurze Intervention von Antoinette Rouvroy in De- batten zur französischen Technologiepolitik. Präsident Macron hatte sich über Bedenken gegen den 5G-Ausbau hinweggesetzt und gegen das „Amish-Modell“ bzw. gegen eine „Rückkehr zur Öllampe“ polemisiert. Im Rückgriff auf Foucault warnt Rouvroy vor einer rhetorischen Erpressung, die kritischen Positionen unterstellt, sie wären „gegen die Innovation“ (ebenso wie gewissen Spielarten von Kritik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterstellt worden war, „gegen die Aufklärung“ zu sein) und weist auf die Implikationen einer Ideologie hin, die jegliche materiellen Begrenzungen verleug- nen zu können meint. Damit hebt sie die Dimensionen des Physischen und Psychischen, des Ökologischen und Sozialen als Einsatzpunkte für eine Kritik zeitgenössischer me- dientechnischer Entwicklungen hervor. Auch der Beitrag von Alexandre Monnin reagiert auf die Unvereinbarkeit der Indust- riegesellschaft mit planetaren Grenzen. In Auseinandersetzung u. a. mit Bruno Latour, Elinor Ostrom, Bernard Stiegler und Anna Tsing stellt Monnin die Begriffe der Zombie- Technologien sowie der negativen Commons in den Vordergrund, um problematische technische Entwicklungslinien verständlich zu machen. Dies erfordert eine Revision gängiger Verständnisse nicht nur der Commons, sondern auch von Technologien. Ein angemessenes Verständnis des Digitalen hat sich in diesem Sinne auch von Stieglers Konzeption der pharmaka abzusetzen. Insgesamt schlägt Monnin so eine Haltung der Destauration vor, die auf Umsetzung wartende Virtualitäten nicht realisiert und die In- tensität dessen, was besteht, zu mindern sucht. Carsten Ochs und Sebastian Sierra Barra widmen den Beitrag ihrem und unserem viel zu früh verstorbenen Kollegen Manfred Faßler, der im Kontext der Tagungsreihe „Medien – Wissen – Bildung“ mehrfach in sehr konstruktiver und anregender Weise beteiligt war. Ausgehend von kulturevolutionären Entwicklungen der jüngeren Vergan- genheit, die bekannte Demokratieformate unter Druck setzen, stellen sie einen Prob- lemraum zur Diskussion, der für zukunftsoffene, soziodigital verfasste Demokratien bedeutsam ist. Im Format eines Interviews vertiefen Nina Grünberger und Sy Taffel die Frage nach der Rolle und Verantwortung politischer Institutionen wie der Europäischen Union für eine nachhaltigere Entwicklung gegenwärtiger und zukünftiger digitaler Infrastruktu- ren und daraus resultierender Medienpraktiken. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf bereits vorhandenen gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie Herausforderungen für eine Adaptierung und Erneuerung dieser entlang gegenwärtiger Entwicklungen im Kontext digital-kapitalistischer Strukturen und den Zielen und Aktivitäten der großen IT-Monopole. Editorial 15 Kritische Positionen und Kontroversen Der Beitrag von Daniela von Geenen und Timo Kaerlein diskutiert zwei Beispiele zivil- gesellschaftlicher urban sensing Initiativen aus den Niederlanden vor dem Hintergrund der Kritikkonzeptionen von Philip Agre und Bruno Latour, die kritische technische Praktiken und Dinge von Belang in den Mittelpunkt stellen. Die Diskussion betrach- tet die beiden Projekte im Zusammenhang eines Umweltlich-Werdens von Kritik und macht die Differenzierungen und Schattierungen deutlich, denen im Spannungsfeld von technokratischen Visionen der smart city und genuinen Mitgestaltungsmöglichkeiten der an soziomateriellen Kollektiven Beteiligten Rechnung getragen werden muss. Herausforderungen für die Medienpädagogik sind bekanntlich vielgestaltig. Nina G rünberger befasst sich in ihrem Beitrag „Suffizienz, Digitalität und digitaler Kapita- lismus“ mit dem Suffizienz-Prinzip insbesondere im Kontext des individuellen Medien- handelns und der Frage, welche Rolle digital-kapitalistische Strukturen dabei spielen. Davon ausgehend werden diesbezügliche Herausforderungen und Anschlussstellen für die Medienpädagogik konkretisiert. Mit seinen metakritischen Überlegungen spannt Rainer Leschke einen Bogen von der Kritischen Theorie zur Cancel Culture. Der kritische Impuls, der bereits bei der Grün- dung der Medienwissenschaften eine prominente Rolle gespielt hat, erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht weniger problematisch als die aktuellen positivistischen Tendenzen in der Medienforschung. In einem aspektreichen Durchgang durch die Fach- geschichte unter dem Titel „Kritik als Theorieform“ argumentiert er für einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen einer normativ aufgeladenen Skylla der ideologiekritischen Echauffiertheit und einer Charybdis des blinden Positivismus im Modus einer Kritik der eigenen Normativität. „Von der negativen Ökologie zur De-struktion der Medizin“ lautet der Titel des Bei- trags von Hans-Martin Schönherr-Mann. Ausgehend von Entwicklungen der Medi- zinisierung und Ökologisierung stellt er weitreichende gesellschaftliche Ansprüche von M edizin und Ökologie in Frage. Er verweist dabei auf wissenschaftskritische und sprachphilosophische Einsichten und votiert für ein Prinzip der Gewaltenteilung, das die Macht der Medizin de-struiert. Pädagogische und praktische Perspektiven Bildung, Bewegung, Berechnung: Diese drei Begriffe stellt Dan Verständig seinem Bei- trag voran und skizziert damit bereits mögliche Blickwinkel auf die Frage nach ökolo- gischen Krisen in einer von digitalen Medien geprägten Lebenswelt. Verständig greift in seinem Beitrag wichtige Fragen der Medienpädagogik auf und ergänzt diese um Ein- 16 Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug & Suzanne Kapelari blicke in die Algorithmizität der Lebenswelt und die Berechnung als Grundlage des Weltbildes und des Bildes von Naturphänomenen, wie etwa auch ökologischen Kri- senbedingungen. Diese Skizze bindet er an die allgemein-erziehungswissenschaftliche Frage der Bildsamkeit zurück. Der Beitrag von Helga Mayr und Reinhold Madritsch nimmt einige Ambivalenzen im Zusammengang der Verwendung von Tablets im Unterricht am Beispiel von iPads in den Blick. Ausgehend von dem von der Österreichischen Bundesregierung initiierten 8-Punkte-Plan für Digitalisierung werden ökologische und soziale Aspekte bei der Pro- duktion, Nutzung und Entsorgung von Tablets aufgezeigt und pädagogische Potentiale und Grenzen des Einsatzes digitaler Medien diskutiert. Abschließend wird für eine syn- ergetische Betrachtung der beiden Konzepte Digitale Bildung (DB) und Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) argumentiert. Mit ihrem Beitrag „Critical Thinking in Teacher Education Programmes. Matters to Face Ecological Crises“ adressieren Susanne Rafolt und Suzanne Kapelari die Heraus- forderung, vor der Lehrer:innen stehen, selbständiges Denken und kritisches Reflek- tieren von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Das Synergiemodell des kritischen Denkens schafft den konzeptionellen Rahmen für das Aushandeln von schulischen Bildungszielen und die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen (socio scientific issues) und dem jeweiligen Kontext, in dem das gelingen kann. Silja Topfstedt, Katja Schirmer, Nina Grünberger und Klaus Himpsl-Gutermann ver- knüpfen in ihrem Beitrag die drei Schlüsselbegriffe ‚Digitalität‘, ‚Nachhaltigkeit‘ und ‚Bildung‘. Sie beschreiben die sozio-ökologischen Implikationen der Digitalität und geben Einblicke in zwei deutschsprachige Lehr-/Lernmaterialien für die Primarstufe, die ökologische Nachhaltigkeit entlang des Lebenszyklus von Smartphones thematisie- ren. Diese Materialien werden unter Berücksichtigung didaktischer Überlegungen der Medienpädagogik und einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) analysiert. Abschließend danken wir allen, die zum Gelingen des Projekts beigetragen haben, in- sonderheit Sarah Panizzutti-Giuliani, Martina Bachor und ihrem Team für die orga- nisatorische Unterstützung sowie Andreas Forster, Ivo Köll und Burkhard Hager für die technische Unterstützung bei der Tagungsveranstaltung. Wir danken weiters den Gutachterinnen und Gutachtern für die Review-Prozesse, Christoph Pirker für die Grafiken und Illustrationen, Birgit Holzner und Carmen Drolshagen für die verlegeri- sche Be treuung sowie allen Organisationseinheiten und Institutionen, die die Tagungs- veranstaltung und die Drucklegung des Bandes ermöglicht haben. Editorial 17 Literatur Barad, Karen (2012): Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Berlin: Suhrkamp. Benjamin, Walter (1991): Memorandum zu der Zeitschrift „Krisis und Kritik“. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. VI. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 619-621. Chun, Wendy H. K. (2015): On Hypo-Real Models or Global Climate Change: A Challenge for the Humanities. Critical Inquiry, 41(3). https://www.jstor.org/stable/10.1086/680090. S. 675–703. Habermas, Jürgen (2008): Ach, Europa. Frankfurt am Main: Suhrkamp Habermas, Jürgen (2021): Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwan- del der politischen Öffentlichkeit In: Seeliger, Martin und Sevignani, Sebastian (Hrsg.): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? (Leviathan Sonderband 37). Baden: No- mos, S. 470-500. Haraway, Donna J. (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt am Main: Campus. Latour, Bruno (2018): Das terrestrische Manifest. Berlin: Suhrkamp. Parikka, Jussi (2018): Medianatures. Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 9(1) 2018: Medioscene, S. 103-106. DOI: https://doi.org/10.28937/1000108097. Pörksen, Bernhard (2018): Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. Mün- chen: Hanser. Staab, Philipp (2020): Digitaler Kapitalismus: Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Sunstein, Cass R. (2001): Das Fernsehen und die Öffentlichkeit. In: Wingert, Lutz und Gün- ther, Klaus (Hrsg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 678-701. The Shift Project (2019): Lean ICT – Towards Digital Sobriety. https://theshiftproject.org/ wp-content/uploads/2019/03/Lean-ICT-Report_The-Shift-Project_2019.pdf [Stand vom 01-07-2022] Yeung, Karen (2017): „Hypernudge“: Big Data as a mode of regulation by design. Informa- tion, Communication & Society 20(1), S. 118-136. Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt/New York: Campus. Grußworte zur Eröffnung Ulrike Tanzer, Vizerektorin für Forschung der Universität Innsbruck Liebe Referentinnen und Referenten! Es ist ein besonderer Moment, in Präsenz eine Tagung eröffnen zu können. Ich glau- be, Sie haben auch schon diesen guten Spirit jetzt gefühlt, dass wir uns alle wieder in die Augen schauen und miteinander kommunizieren können. Ich freue mich sehr, dass ich Sie heute hier in der Claudiana, einem der schönsten Räume der Universität Inns- bruck zur internationalen Tagung „Medien – Wissen – Bildung: Ökologische Krisen und Ökologie der Kritik“ begrüßen kann. Das Thema der Tagung ist höchst aktuell und von großer Relevanz. Ökologische Krisen sind unübersehbar geworden. Ich glaube, ich brauche Ihnen die Bilder der letzten Monate nicht speziell vor Augen zu führen. Die Waldbrände in Griechenland und Sizilien, die Überschwemmungen in Deutschland und Österreich, Muren, Tornados und Hagelschäden in ganz Mitteleuropa in einer bisher un- geahnten Intensität – und ich bin jetzt hier nur auf dem europäischen Sektor geblieben. Nachhaltigkeit ist also ein gesellschaftspolitisch relevantes Thema und an unserer Uni- versität auch entsprechend verankert. In der Querschnittsmaterie Nachhaltigkeit ver- suchen wir, die vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zu diesem The- menbereich arbeiten, entsprechend zu vernetzen, aber auch in unserer Infrastruktur uns entsprechende Ziele zu setzen. Wie kann die Digitalisierung zur nachhaltigen Entwick- lung beitragen? Welche Formen der Kritik sind relevant? Das sind alles Fragen, die Sie heute hier in dieser Tagung diskutieren werden. Und zwar aus unterschiedlichen Fach- richtungen und Perspektiven. Aus der Medienwissenschaft, Sozialwissenschaft, der Bildungswissenschaft, Managementwissenschaft, Biologie und Philosophie, um nur einige zu nennen. Hervorzuheben ist, dass sich Fachwissenschaft und Lehrer*innen- bildung konzentriert mit einer Thematik auseinandersetzen, die für den ganzen Bildungs bereich von höchster Relevanz ist. Die Beiträge sind vielfältig und reichen eben von den Fachvorträgen bis zu künstlerischen Interventionen. Ich freue mich, dass diese Tagung vom Interfakultäten Forum Innsbruck Media Studies initiiert und vom Institut für Mediengesellschaft und Kommunikation organisiert wurde. Hier danke ich Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 20 Ulrike Tanzer besonders Theo Hug für seine jahrzehntelange Pionierarbeit, die mittlerweile fast main- stream geworden ist. Du hast sehr wichtige Impulse schon sehr früh gesetzt und weiter- entwickelt. Dieser lange Atem, lieber Theo, das muss man Dir zugestehen, den hast Du und der ist auch ganz wichtig in diesen Fragen, um diese auch entsprechend umzusetzen. Das Institut für Fachdidaktik kooperiert ebenso wie die Sektion Medienpädagogik der österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen sowie das Zentrum für Lerntechnologie und Innovation der PH Wien, die eine Pre-Konferenz zur Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft ausrichten, die morgen mit 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der SoWi stattfinden wird. Sie sind also das wichtige Vorprogramm sozusagen zu dieser großen Tagung. Ich lade Sie sehr herzlich ein, hier entsprechend sich bei den Diskussionen zu beteili- gen. Nachhaltigkeit ist – wie schon gesagt – ein wichtiges Thema, ebenso wie Digita- lisierung an unserer Universität. Wir sind auch Teil eines europäischen Universitäts- netzwerks mit dem Namen Aurora. Auch hier ist das Thema Nachhaltigkeit von großer Relevanz. Es sind neun Universitäten von Reykjavik bis Barcelona, von Duisburg- Essen bis Innsbruck, die sich hier zusammengefunden haben und in interdisziplinären Lehrveranstaltungen Ringvorlesungen und Forschungsprojekten kooperieren. Und es ist auch wichtig, die Nachwuchswissenschaftler*innen entsprechend zu unterstützen: durch Stiftungsfonds für Umweltökonomie und Nachhaltigkeit der sogenannten SUN- Stiftung, die ich hier noch einmal erwähnen möchte, aber auch unser Förderkreis 1669 hat sich hier eingebracht. Es sind renommierte Gäste unter uns. Theo Hug und Susanne Kapellari sowie Nina Grünberger und Andreas Beinsteiner wer- den die Teilnehmerinnern und Teilnehmer noch im Detail vorstellen. Ich bedanke mich besonders beim Organisationsteam noch einmal ganz herzlich für die Mühen der Vor- bereitung. Es war nicht wenig und eine neue Herausforderung in Zeiten wie diesen, eine Tagung zu organisieren. Ich wünsche Ihnen weiterhin eine sehr gute Tagung und interessante Diskussionen, vor allem aber einen spannenden Austausch! Pharmakon Thomas Ballhausen „Du fragst mich, ich frage mich selbst: wo uns das hinführt, an welchen Platz?“ (Derrida 1982) Das Schreiben in meiner Hand gleicht einer leicht überdimensionierten Postkarte, einem einseitig bedruckten Papierrechteck von bestimmter Stärke und Grammatur. Es ist ein Beleg von Gewicht, so sage ich mir, während ich erneut die darauf abgebildeten Figuren betrachte, ihre historischen Kostüme studiere. Ich nehme mir einen weiteren Moment, um wieder Gesichter und positionierte Körper zu betrachten, die Verheißungen, die darin lesbar gemacht werden sollen, die Haltungen der vermeintlich Unbeobachteten. Etwas Verbotenes scheint sich zwischen diesen drei inszenierten Frauenfiguren anzubahnen, nein, vielmehr ist das Verbotene bereits im Gange, über seinen schwierigen, heiklen Anfang hinaus. Auf der Rückseite steht, quer zu den Zeilen meiner vorformulierten Auf- gabe, etwas wie ein irritierender Hinweis, eine Frage, vielleicht ein Titel: Almost Happy. Ich verstaue die Karte in meinem Rucksack und setze meine Vorbereitungen fort, sor- tiere meine Ausrüstungsgegenstände, taste alles auf seine Richtigkeit ab. Nachdem ich das im Befehl beschriebene Haus im Sperrbezirk betreten habe, liegt die Schwelle zur infizierten Zone nun direkt vor mir. Das Holz der überdimensionalen Eingangstüre, die nur einen Spalt offensteht, biegt und bewegt sich wie ein pulsierender Organismus, die auf ihr angebrachten, zerrissenen Absperrbänder wirken wie eigenwillige Verzierungen. Ich beuge mich herunter, die Türe immer im Blick und beginne, einem persönlichen Ritual folgend, die Schnürsenkel meiner Sneakers nachzuziehen. Einen guten Stand im Schuh zu haben, hat bislang immer geholfen, vielleicht also auch diesmal. Umständlich weiche in den Markierungen im Eingangsbereich aus, alles scheint mich an diesen Platz bannen, mich zu einem beschworenen und gehorsamen Element machen zu wollen. Aber eigentlich ich bin nur hier um zu spähen, um eine Frage zu stellen, um vielleicht eine Frage mehr zu stellen. Ich sehe mich nochmals um, atme tief ein und aus, die Türe fühlt sich unter meiner linken Handfläche unnatürlich warm an. Als ich durch den Spalt schlüpfe, kommt mir Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 22 Thomas Ballhausen erneut der Gedanke, ob mit dem Absperren dieser Zone nicht doch eher dem zutiefst menschlichen Wunsch nach der Unterdrückung des Unbekannten nachgegeben worden war, statt, wie offiziell verlautbart, die Einrichtung eines Schutzgebietes zu ermögli- chen. Kaum habe ich die Schwelle übertreten, schließt sich die Türe mit einem schnal- zenden Geräusch hinter mir und fließt ins Gemäuer zurück, bis sie davon kaum mehr zu unterscheiden ist. Nur grobe, erhabene Linien bleiben sichtbar. Vor mir liegt der erste Raum einer großzügigen Anlage, eine gigantische Aushöhlung voller Wunder und Schrecken. Mir ist ein wenig schwindelig, alle Sinne sind zugleich gefordert. Da ist fließendes Metall an den Wänden, das sich in Verästelungen fortbewegt, über Vorsprün- ge und verkleidete Fenster hinweg, begleitet von einem körperlich spürbaren Sound. An den Wänden sind trotz der sich ausbreitenden, glänzenden Strukturen zahlreiche Kampfspuren deutlich zu sehen. Ich halte meine Balance, buchstabiere in Gedanken einfache Worte, Abfall, Bergland, Cäsar, folge mit Augen und Fingerspitzen den Hin- weisen auf sehr kurze, doch heftige Auseinandersetzungen. Wer ist mir vorausgegangen und wie viele. Ich erinnere mich an Operationen wie Screaming Fist, an das Aufopfern von unwissenden Kommandos, um die Verteidigungsmechanismen der Zone in Aktion erleben und analysieren zu können, doch es hat nicht funktioniert, es hat nie funktio- niert. Ich bin hier, weil es neue Ideen braucht, aber auch, weil ich etwas auszugleichen habe und mein möglicher Verlust leicht zu verkraften sein wird. Langsam und vorsichtig beginne ich die Räume abzugehen, die Drehort und Kino zu- gleich sind, ein Inkubator des Fremden. Blick und Begriffe gleiten an einer Welt ab, die umgestaltet und unvertraut geworden ist, die nicht mehr kontrolliert oder gezähmt wer- den kann. So viele Stühle, aber kaum ein leerer Tisch, Anhäufungen, ausgelegte Reste eines Schiffs, das abgestürzt und nicht gelandet zu sein scheint. Die Chemie der Dinge zeigt sich in zur Schau gestellten scharfen Kanten, im glitzernden Wechselspiel aus Wahrheit und Täuschung. Ich taste mich vorsichtig an das Material heran, ganz als wür- de ich ein Lebewesen berühren. Alles hier existiert, weil es sich entzieht und so nicht zu erwarten war, weil es von mir im Moment nicht vollständig gefasst w erden kann. Versuchsweise probiere ich ein paar meiner Instrumente aus, hantiere, wie ich es gelernt habe, aber mehr als die Bestätigung über umfunktionierte Trümmer und Wrackteile lässt sich nicht ablesen. An einer der Wände scheint etwas wie ein Kopf mit langem Haar zu hängen und ich wende den Blick ab, gerade noch rechtzeitig, so rede ich mir ein. Ich kann angesichts der Menge des Materials und den ständig ablaufenden Bewegungen nicht anders als nicht zu verstehen. Überraschend bahnt sich, einem zähen Tropfen von der Decke gleich, ein in Metall eingeschlagener Körper seinen Weg nach unten. Die Augen einer Jägerin fixieren mich, während sich ihr Körper wendet und unaufhörlich umwendet, das sie umgebende Material knistert. Ich kann nicht mehr wegsehen, ihre Züge könnten das aufgeprägte Gesicht einer fremden Währung sein, aristokratisch und hart. Metall, flirrender Teil ihres Körpers, umfängt mich vorsichtig während einer ihrer Pharmakon 23 Nesselarme mich wie beiläufig berührt, mir Schmerz und den ersten Moment eines neu- en Verstehens verschafft. Ein Schock des Erkennens durchzieht mich, der meine antrai- nierten Vorstellungen von Information und Objekten, von der stets fixierten Trennung zwischen Beobachtern und Beobachteten schlagartig abfallen lässt. Ich konzentriere mich darauf, dass mein Herz nicht aussetzt, sage mir einen Minutentakt her, Black- hammer, Planetary, Marvels, einen Rhythmus, der mich überleben lässt, während eine weitere Nessel, betäubender Ausdruck von Neugierde, meine Wange streift. Vielleicht irre ich mich, aber sie scheint amüsiert den Kopf zu neigen und gleitet dann zurück, den Boden entlang, einen Türstock hinauf. Sie ist ein Riss im Vereinbarten und sie gewinnt, weil sie nichts will. In einem der anderen Räume schreit jemand, doch verzerrt und immer schwächer wer- dend. Bin das ich, stirbt etwas an mir, bin ich vielleicht schon tot, auch wenn es nicht so aussieht. Mühsam bewege ich mich weiter, unkoordiniert und wankend. Mehrere Leute bewegen sich in unmittelbarer Nähe durch die Zone, nun kann ich sie sehen, aber sie nehmen weder mich noch einander wahr. Ein Nebel umschließt uns, während die Jägerin sich durch die Räume rollt und schiebt, die erschlossenen Räume immer wieder umgestaltet und transformiert, uns auf diesem Wege jede Möglichkeit der Orientierung nimmt. Wir können keinen Überblick entwickeln, alle Lehren der Aufklärung, das Sam- meln relevanter Informationen, die über die reine Geographie hinausgehen, versagen. Auf Chaos, eingeschränkte Kommunikation oder manche Formen üblicher Feindein- wirkung war ich vorbereitet, ein gewisses Ausmaß an kalkulierbarer Unsicherheit hatte ich mir erwartet, aber in der Zone bleibt der Boden stets unsicher, ich kann zu keiner dauerhaften Einsicht gelangen, die Ungewissheit nimmt nicht ab. Was sichtbar wird, kann und wird weiterhin verändert werden, ist einem unaufhörlichen Zyklus aus einan- der abwechselnden Phasen des Festen und des Bewegten unterworfen. Ich versuche die anderen Einheiten auf mich aufmerksam zu machen, doch es ist vergebens. Wie in Zeit- lupe schleifen sie ihr Gerät durch die Räume, rüstungshafte Kampfanzüge lassen alles noch träger erscheinen. Hin und wieder sind Schüsse zu hören, doch die Jägerin, falls sie überhaupt das Ziel ist, bewegt sich zu schnell, zu wendig zwischen den Spähern und gepanzerten Einheiten. Obwohl ich immer noch leicht betäubt von Schmerz und Verste- hen bin, kann ich nicht anders als sie staunend zu bewundern. So wie sie sich im Raum ausbreitet, durchdringt sie auch mich und alle Anwesenden. Ihre in der Zone sichtbaren Nervenbahnen und Verästelungen sind Ableger, deren Entsprechungen ich dumpf in mir spüre. Alles ist infiziert, sie erzieht und verbessert mich, doch auch das ist kein Plan, vielmehr etwas wie ein Nebeneffekt. Sie jagt mit Bögen und Blicken, sie ist das Un- denkbare. Ihre Bewegungen sind präzise, von ständig wechselnder Geschwindigkeit, als sie wieder auf mich zukommt. Ich taste nach meinem Messer und erinnere mich, dass es irgendwo in meinem Rucksack sein muss, weil ich mit dieser Form direkter At- tacke nicht gerechnet hatte. Jetzt kommt mir dieser mitgebrachte Gegenstand wie eine 24 Thomas Ballhausen lächerliche, vergebliche Maßnahme der Verteidigung vor. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie die Mechanismen des Messers funktionieren, welche Bewegungen nötig sind, um die Klinge mit nur einer Hand zu öffnen und zu fixieren. Während sie sich vor mir aufbaut, Schritte vor und zurück macht, denke ich an meine kindischen Übungen mit dem Messer, wie mir die Handhabung nicht so richtig gelingen wollte. Da ist eine Verbindung aus Sound, Licht und Körper, in ihrem Sein ziehen sich Raum und Zeit zu- sammen. Ich empfinde keinen Ekel, mehr Überraschung und Faszination darüber, wie dieser Körper offensteht, ein sich öffnender Riss in der Wirklichkeit, der sich nach au- ßen wölbt. Ich lasse all das zu, ihre Ableger wurzeln und arbeiten in mir weiter und ich kann sie für einen Augenblick wirklich sehen, sie ist eine Anomalie, eine unsterbliche Interferenz, ein glitch, den die Zeit nicht verschwinden lassen wird. Jetzt kann ich unter all den Schichten ihre eisernen Hände erkennen, die goldenen Flügel und ihr Gesicht. Im Moment ihres Siegens wendet sie sich auch schon wieder von mir ab, was meine Niederlage noch größer und vollkommener macht. Sie zieht sich in den Raum zurück, dreht sich, geht, immer schneller werdend, die nächstbeste Wand hoch, die Decke ent- lang. Ich taumle rückwärts, die Abdrücke ihrer Berührungen schmerzen und verschaffen mir zugleich eine beunruhigende Euphorie. Ich stolpere trunken durch zwei weitere, dunkle Räume und gelange, einen im Finstern nicht leicht zu entdeckenden Vorhang beiseite schiebend, in einen Nebentrakt. Ich versuche mich zu sammeln, zu beruhigen, buchstabiere das Wort Autophagie, was mir gut gelingt, leere meinen Rucksack aus und lege die Instrumente und Ausrüstungsgegenstände vor mir auf. Meine Hände zittern, während ich eine angelernte Ordnung und Struktur im Mitgebrachten herstellen will, ich buchstabiere weiter, versuche es mit Autophagozytose und scheitere mehrfach an dem Begriff. Ich war immer schon schadhaft, aber das wäre mir, da bin ich sicher, frü- her nicht passiert. Herleitungen und Wortgeschichte, das Verzehren, den Raum und die Höhle laut aufsagend, mache ich mir klar, dass ich über ein Phänomen wie die Zone nicht einfach berichten kann. Nein, die Zone geht durch mich hindurch, sie hat ihre Spu- ren in mir abgelegt, ich kann folglich nur mit ihr schreiben. Sie verfeinert und korrigiert mich, sie nimmt mich völlig ein. Ich trete zurück an den Vorhang, blicke nach draußen, meine Augen gewöhnen sich an das Dunkel. Die Zone bewegt sich mit der Jägerin, sie breitet sich in Verbindung mit ihr aus. Wo immer sie ist, da ist das Zentrum, ein sich der- zeit sehr schnell bewegender Knoten, der allen Gesetzen der Physik zu trotzen scheint. Sie erweitert ihren Einfluss, entfaltet in diesem Ort permanent ihren Raum. Ich bin hier, weil ich jemandem etwas geschuldet habe, weil ich in die Zone eingehen werde, ein weiteres Wrack, etwas Überwundenes, in dem neues Wissen nistet und sich ständig aus- breitet. In dieser Veränderung erkenne ich den Irrtum, von Bedeutung sein zu wollen. Kurz denke ich an die Schwelle, die sich vielleicht noch finden aber nicht mehr öffnen lassen wird. Mit den ersten Schritten, so der fremde Gedanke in mir, war ich bereits für meine Vorstellung von der Wirklichkeit verloren. Die Geschichte, aus der ich stamme, Pharmakon 25 ist nicht mehr vorhanden, sie hat schlicht aufgehört zu existieren. Die Zone hat mich. Ich könnte nicht glücklicher sein. Editorische Nachbemerkung Diese Zeilen sind kein Beipackzettel, vielmehr versuchte Selbstauskunft und vorläufige Standortbestimmung. Als Schriftsteller und Wissenschaftler sehe ich die Angebote der Literatur bzw. des Erzählens als vitale Ergänzungen vertrauter Instrumente, um zu re- cherchieren, zu forschen, herauszufinden und zu vermitteln. Im Sinne einer produktiven Befragung tradierter Trennungen von Genres und Gattungen erscheinen mir hybride Textformen besonders geeignet, nicht nur über Theorie zu erzählen, sondern tatsächlich auch mit ihr. Dies ist der Horizont meiner vorliegenden Bemühungen, in denen ich des- halb ganz vorsätzlich an Referenzfelder wie Raumtheorie, (Material) Ecocriticism oder Fantastik anschließe, mich im Bereich von slipstream und speculative writing positio- niere. Immer als Leser und von der Lektüre her kommend, setze ich auf ein Verständnis von Begriffen um respekt- und niveauvolle Diskurse zu ermöglichen. Dieser Nachvoll- zug mag angesichts bedenklicher, weil Differenzen autoritär einebnender Ausprägun- gen von Identitätspolitik überholt wirken; für eine Auseinandersetzung mit Ökologie und Kritik – sowie den daran geknüpften, mannigfaltigen Wechselbeziehungen – ist er mir aber unerlässlich. (tb) Literatur Derrida, Jacques (1982): Telepathie. Berlin: Brinkmann & Bose. Kritisch-ökologische Theorieperspektiven Von der Aufklärung zu 5G Antoinette Rouvroy Zusammenfassung Hier wird in deutscher Übersetzung ein Text aus dem Jahr 2020 wiedergegebenen, in dem Antoinette Rouvroy zur Debatte über den 5G-Ausbau in Frankreich Stellung nimmt. Präsident Emmanuel Macron hatte sich über einen von ihm selbst zuvor einberufenen Bürgerkonvent hinweggesetzt, in dem die Aussetzung des Ausbaus bis zur Klärung gesundheitlicher und ökologischer Folgen gefordert worden war. Macrons Polemik gegen eine „Rückkehr zur Öllampe“ nimmt Rouvroy zum Anlass für eine grundsätzliche Befragung jener Ideologie von Beschleunigung, Fortschritt und Innovation, die materielle Grenzen auf verschiedenen Ebenen ignoriert und deshalb mit physischen und psychischen, ökologischen und sozialen Verwerfungen einhergeht. „Wenn Sie beschleunigen, ist Ihre Beschleunigungskapazität begrenzt durch materielle Beschränkungen, aber es muss auch eine transzendentale Grenze der Geschwindigkeit geben. Die äußerste Grenze […] ist der Tod oder die kosmische Schizophrenie. Sie bilden den äußersten Horizont.“ (Brassier 2017) Michel Foucault warnte seinerzeit davor, in die Falle jener intellektuellen und politischen Erpressung zu tappen, die darin bestand, auf die Frage „Für oder gegen die Aufklärung?“ zu antworten (vgl. Foucault 2005). Jetzt, wo die Lichter ausgehen,1 lautet die Frage 1 Rouvroi spielt hier mit dem Begriff der Aufklärung, die im Französischen „les lumiéres“, wörtlich also „die Lichter“ genannt wird. Das Wortspiel verweist einerseits auf die Ablösung der Normen der Aufklärung durch diejenigen der Beschleunigung und knüpft andererseits an Macrons Polemik gegen die „Rückkehr zur Öllampe“ an. Dieses Bezugsgefüge wird am Ende des Textes wieder aufgegriffen (Anm. d. Übers.). Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 30 Antoinette Rouvroy nicht mehr „Für oder gegen die Aufklärung?“, sondern „Für oder gegen die Innovation, aka 5G?“. Diese falsch gestellte Frage, bzw. diese „Erpressung zur Innovation“, von der Herr Macron – er ist nicht der Einzige – kürzlich Gebrauch gemacht hat,2 ist Teil einer Strategie der Entwertung der Materialität der Gegebenheiten zugunsten eines hohlen Imperativs der Beschleunigung. „[T]here is an important sense in which the only thing that does not seem to matter any more is matter“, schreibt Karen Barad (2003, S. 801) absolut treffend. 5G ist nicht nur eine Angelegenheit von Start-Ups und magischen Einhörnern:3 Diese Beschleunigung der Informationsflüsse ist mit (a) menschlichen, (b) klimatischen und ökologischen, (c) physischen und (d) politischen Kosten verbunden, die unsere Mittel übersteigen. (a) Ein bisschen wie Stadtkinder, die glauben, dass Hühner unter Cellophan wachsen, scheinen die Anhänger der Beschleunigung des Datentransfers4 zu glauben, dass Smartphones in Start-Ups wachsen. Aber Smartphones und generell nahezu alle elektronischen Bauteile, die in die Konstruktion dessen eingehen, was man als „Innovation“ bzw. „Fortschritt“ bezeichnet, sind keine von magischen Einhörnern gelegte Eier, sondern Produkte von Foxconn, des taiwanesischen Elektrokomponenten-Giganten. Wenn man dorthin einen Ausflug unternimmt, hätte man Gelegenheit, die Sklaven („forced labor“) zu treffen, ohne die all dies nicht möglich wäre (vgl. hierzu insbes. Qiu 2019). (b) Ferner übersteigen die klimatischen und ökologischen Kosten von 5G unsere Mittel und letztendlich die unserer Kinder (Abrikh, Aiguinier et al. 2019). Aber unsere Kinder und die zukünftigen Kinder wählen noch nicht und werden angesichts des Rhythmus, mit dem der Zusammenbruch sich beschleunigt, vielleicht niemals wählen. (c) 5G wird zweifellos auch Kosten in Form psychischer Invalidität mit sich bringen. Das Individuum – bis zum Hals vom Datenfluss erfasst, ohne jegliche Unterbrechung – 2 „Natürlich werden wir zu 5G übergehen. Ich möchte sehr deutlich sein. Frankreich ist das Land der Aufklärung, das Land der Innovation, und viele Herausforderungen, die wir in allen Sektoren haben, werden sich mittels Innovation bewältigen lassen. Wir werden also erklären, debattieren, die Zweifel ausräumen und mit allen falschen Vorstellungen aufräumen; aber ja, Frankreich wird die Wende zu 5G schaffen, denn es ist die Wende zur Innovation. Und ich höre viele Stimmen, die sich erheben, um uns zu erklären, dass man die Komplexität der gegenwärtigen Probleme bewältigen muss, indem man zur Öllampe zurückkehrt. Ich glaube nicht an das Amish-Modell. Und ich glaube nicht, dass das Amish-Modell erlaubt, die Herausforderungen der gegenwärtigen Ökologie in den Griff zu bekommen.“ (Emmanuel Macron, 14.09.2020) 3 Als unicorns werden im Finanzsektor Start-Ups bezeichnet, die mit über einer Milliarde bewertet sind (Anm. d. Übers.). 4 Die Datentransferleistung von 5G soll 70 Gbits/s erreichen. Von der Aufklärung zu 5G 31 läuft nicht Gefahr, den Pathologien der Bildschirmsucht zu entkommen, dem Stress. Unser Immunsystem scheint nicht dafür geschaffen, andauernd Stimulationen bzw. Benachrichtigungen zu verarbeiten, die das Leben unablässig unterbrechen… Es ist zu erwarten, dass die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit dermaßen erodiert, dass das Erlernen von was auch immer bald nicht mehr zum Repertoire menschlicher Leidenschaften gehören wird. Der „homo numericus“ begnügt sich damit, reflexartig auf digitale Stimuli zu reagieren. Er wird dabei zweifellos eine gewisse Fingerfertigkeit der beiden Daumen erlangen, aber vermutlich nicht viel anderes. (d) 5G eröffnet von all dem abgesehen einige verführerische Perspektiven wie die des selbstfahrenden Autos, über das man uns sagt, es würde die Fahrweisen besser optimieren, Leben retten etc. Zweifellos ist 5G ein „must“ für ein KI-gelenktes Auto. Weil die KI Schwierigkeiten hat, den Kontext zu verstehen, in dem sie steuert (sie hat sozusagen keinerlei „leibliche Intelligenz“), besteht eine Herausforderung darin, dass man alles umgestalten muss – die Stadt, die „Aufteilung“ der Strecke zwischen unterschiedlichen Arten von Fahrzeugen und Nutzern… – für die Königin „Auto“ und um sie herum, wo doch die Herstellung und das Recycling dieses fahrenden Objektes, wie man weiß, absolut nicht nachhaltig sind; egal, unter welchem Aspekt man es betrachtet. Abgesehen vom Auto führt uns 5G, wenn man die Angelegenheit aus der Perspektive dystopischer Science Fiction sieht, auch näher heran an die Hypothese der cyberphysischen Fusion5 und der „Erfassung“ noch der geringsten Fluktuation der Welt in Echtzeit und in HD auf der „Cloud“. Die cyberphysische Fusion akzentuiert ein Regime der Ununterschiedenheit zwischen digitalen Signalen und Dingen – insbesondere unter Einsatz des Internets der Dinge sowie von Dispositiven sogenannter „ambient intelligence“ (vgl. hierzu 5 In einem am 24.01.2020 veröffentlichten Weißbuch, das den Perspektiven eines Einsatzes von 6G (das einen Datentransfer von 100Gbits/s erlauben soll) im Jahr 2030 gewidmet ist, beschreibt der japanische Mobilfunkbetreiber DoCoMo die cyberphysische Fusion als die Übertragung und Verarbeitung massiver Informationsmengen zwischen dem Cyberspace und dem physischen Raum ohne jegliche Zeitverzögerung. Dies bringt eine neue, dreidimensionale Netztopologie mit sich, die geostationäre Satelliten, Satelliten in niederer Umlaufbahn und sogenannten High Altitude Pseudo- Satelliten (HAPS) auf eine Weise einbezieht, die 6G omnipräsent macht; nicht nur auf der Erde, sondern auch am Himmel, im Meer, im Weltraum. Insbesondere würde eine solche cyberphysische Fusion es ermöglichen, sämtliche kommerziellen, administrativen, sicherheitsbezogenen usw. Interaktionen in Echtzeit zu automatisieren, optimieren und personalisieren. Dies soll erfolgen mittels einer Massenüberwachung, in welcher die Autorität nicht mehr von irgendeiner konkreten Person übernommen würde. Indes wären die „objektive Funktionen“ (Bestimmung dessen, was optimiert werden soll), die Algorithmen zugewiesen werden, auf nichts anderes mehr angewiesen als auf sektorielle/industrielle Logiken, welche sich losgelöst hätten von jeglicher Schiedsgerichtbarkeit oder Begrenzung gemäß Prinzipien der Vervollkommnung des Sozialen wie Gerechtigkeit oder wiederum einer ökologischen, sozialen oder psychischen Nachhaltigkeit. 32 Antoinette Rouvroy Hillebrandt/Rouvroy 2011). Sie stellt auch die Perspektive einer Steuerung der Welt durch Super-Algorithmen dar, die in Echtzeit in der Cloud erfasste Daten nach Art des high-frequency-trading verarbeiten – räuberische Spekulationen miteinbegriffen. Das politische Personal selbst verkäme dergestalt zu einer Art dekorativer Redundanz, deren sich die Algorithmen vielleicht zu entledigen „entscheiden“ werden.6 Was sind wir für die Algorithmen? Arbeitsmaterial? Bitcoins? Schlichte unbedeutende semiotische Rückstände – Spuren, die dabei sind, zu verwischen? Biologische Gefahrenquellen [bio-hazards]? Zweifellos kommt es dem Volk (das Wort selbst scheint in Ungnade gefallen) zu, zu entscheiden – indem es der Zukunft Rechnung trägt, an welcher es dem Volk mangelt und die zugleich sein Lebensprinzip bildet7 – ob es sich der Möglichkeit eines derartigen „Regime“- Wechsels aussetzen will, aber man hat es gar nicht gefragt. Man muss den Sinn für den Erdball verloren haben – d.h. die Welt verlassen haben oder durchgedreht sein [perdu la boule] – um nicht die absolute Irrationalität der Anmaßungen des techno-solutionistischen Messianismus wahrzunehmen. Dieser versucht – wie durch Magie oder ein Wunder – die Perspektiven des Zusammenbruchs und der Auslöschung8 in solche des Glaubens und des unbegrenzten Konsums umzuwandeln. Aber genau weil sie dieses Vorstellungsschema [imaginaire] der Unbegrenztheit9 und Maßlosigkeit10 im Extraktivismus gegen die der Materialität und dem Organischen (bzw. der physischen Welt und dem Leben) eigenen Grenzen und Regularien zu immunisieren beansprucht, erscheint die Perspektive eines „Übergangs ins Digitale“ bzw. einer „algorithmischen 6 Gewissen Perspektiven zufolge, die vom „rechten Akzelerationismus“ oder von einer Art anarcho- libertärem Nihilismus eröffnet werden, für den insbesondere Nick Land (1992) repräsentativ ist. Wie Ray Brassier andeutet: „death is the transcendental speed limitation.“ 7 „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als „Gesetz“ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann. [ ] Das „Wunder“ besteht darin, daß überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins.“ (Arendt 1994, S. 243) 8 Zur Notwendigkeit, das dem Kapitalismus eigene Vorstellungsschema der Unbegrenztheit durch dasjenige der Auslöschung [extinction] zu ersetzen, vgl. Berardi (2020). 9 Das Wuchern der digitalen Daten scheint weder an eine Grenze zu stoßen noch seine „Quelle“ zu erschöpfen. 10 An die Stelle der von der traditionellen naturwissenschaftlichen Epistemologie inspirierten Idee des Maßes, das die Existenz messbarer Dinge voraussetzt, tritt das Prinzip hypermobiler Metriken in einem digitalen Raum abstrakter Koordinanten oder von „Datenpunkten“, die durch eine informatische Reduktion produziert werden, die jegliche materielle, soziale oder organische Referenzialität auslöscht. Von der Aufklärung zu 5G 33 Wende“ unwiderstehlich attraktiv. Dennoch, dieses Un-Verständnis [des-intelligence] der Grenzen (vgl. zu dieser Frage Tort 2018), dieses Vergessen der Materialität und der Organizität sind kein Synonym für den Fortschritt, die Emanzipation, den Sieg des rationalen Denkens, sondern Aberglaube und Verantwortungsverweigerung. Heutzutage eine Art der Problemlösung aufzugeben, die einen Entscheidungsträger veranlasst, die konkreten Konsequenzen seiner Entscheidungen zu übernehmen – als wären ihm seine Entscheidungen gar nicht wirklich zurechenbar, weil sie sich wie eine von jeglichem Rechtfertigungsanspruch losgelöste Notwendigkeit durchsetzen (man kann ja nicht gegen Innovation sein) – wäre nicht nur anti-demokratisch (der „Dezisionismus“11 – hier gibt es effektiv einen gemeinsamen Zug mit diktatorischen Regimen), sondern auch eine Art Kapitulation angesichts dringendster planetarischer Herausforderungen. Es ist kaum mehr Öl in der Lampe, doch die Wut ist ein Rückstrahler. Übersetzt von Andreas Beinsteiner und Astrid Knell Literatur Abrikh, Fabien; Aiguinier, Camille et al. (2019): Empreinte environnementale du numérique mondial. Abgerufen unter: https://www.greenit.fr/wp-content/uploads/2019/10/2019- 10-GREENIT-etude_EENM-rapport-accessible.VF_.pdf [Stand vom 15-06-2022]. Arendt, Hannah (1994): Vita Activa oder vom tätigen Leben. München/Zürich: Piper. Karen Barad (2003): Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter. Signs: Journal of Women in Culture and Society, 28(3), S. 801-831. Bennett, Horace; Gunter, Helen & Reid, Sylvia (1996): Through a glass darkly: images of appraisal. Journal of Teacher Development, 5 (3) October, pp. 39–46. Berardi, Franco (2020): Virus Mythologies (Interview mit Srećko Horvat vom 24.4., online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=OZCoMsKRDzM [Stand vom 15-07-2022]. Brassier, Ray (2017): “Mad Black Deleuzianism: On Nick Land (Accelerationism)”, abgerufen unter: https://www.youtube.com/watch?v=3QSOuVnFhEw [Stand vom 15- 07-2022: Link nicht mehr verfügbar] 11 Der techno-solutionistische Dezisionismus intensiviert sich zu dem, was Luciana Parisi als „algorithmischen Dezisionismus“ bezeichnet, welcher die Produktion scharfer und schneller Entscheidungen derjenigen korrekter Entscheidungen vorzieht. Für den Dezisionismus ist das Kriterium der „Gültigkeit“ [validité] und „Glücklichkeit“ [félicité] einer Entscheidung ihr „entschiedener“ [décisif] Charakter (Parisi 2017). 34 Antoinette Rouvroy Foucault, Michel (2005[1984]): Was ist Aufklärung? In: Ders: Schriften in vier Bänden, Band 4: 1980-1988. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 687-706. Hildebrandt, Mireille/Rouvroy, Antoinette (Eds.) (2011): Law, Human Agency and Autonomic Computing. London/New York: Routledge. Land, Nick (1992): The First for Annihilation. George Bataille and Virulent Nihilism. London/New York: Routledge. Parisi, Luciana (2017): „Reprogramming Decisionism“, e-flux journal 85, online abrufbar unter: http://worker01.e-flux.com/pdf/article_155472.pdf [Stand vom 15-07-2022] Qiu, Jack Linchuan (2019): “Goodbye iSlave: Making Alternative Subjects Through Digital Objects” In: David Chandler and Christian Fuchs (Hg): Digital Objects, Digital Subjects: Interdisciplinary Perspectives on Capitalism, Labour and Politics in the Age of Big Data. London: University of Westminster Press, S. 151-164. Patrick Tort (2018). L’intelligence des limites. Essai sur le concept d’hypertélie. Paris: Gruppen. Zombie-Technologien und negative Commons Alexandre Monnin Zusammenfassung Aus einer ökologischen Perspektive sind gegenwärtige Vorstellungen über die Zukunft der ICT (Internet der Dinge, smart cities, selbstfahrende Autos etc.) unvereinbar mit der wissenschaftlichen Literatur über planetare Grenzen. Bernard Stiegler und andere haben Technologien als pharmaka konzeptualisiert, um ihrer konstitutiven Ambivalenz (als Gift und Heilmittel) Rechnung zu tragen. Wir werden jedoch argumentieren, dass diese Analyse schwerwiegende Mängel aufweist. Stattdessen schlagen wir vor, ICT als „Zombie- Technologien“ (im Sinne des Physikers José Halloy) zu verstehen sowie als „negative Commons“ (ein Konzept, das wir im Laufe der letzten Jahre entwickelt haben). Aus Gründen, die wir darlegen werden, unterscheiden sich negative Commons fundamental von pharmaka.1 Zombie-Technologien als Ruine(n) Mit dem Begriff der Zombie-Technologien (vgl. Monnin/Halloy/Nova 2020) liefert José Halloy ein äußerst fruchtbares Beispiel einer wahrhaften Pluralisierung von Technologien. Er stellt die Zombie-Technologien (und nicht bloß -Techniken, denn die Technologien sind nicht von den Wissenschaften oder dem ökonomischen System getrennt, sie gehören einander wechselseitig an) den lebendigen Technologien gegenüber. Erstere bezeichnen im Wesentlichen die heute im Umlauf befindlichen Technologien. In Anknüpfung an diesen Diskurs und im Versuch, ihn zu formalisieren, schlagen wir drei Kriterien vor, um erstere von letzteren zu unterscheiden: – Zombie-Technologien beruhen auf endlichen „Ressourcen“ (Energien, Metalle, Halb metalle), wodurch sich in der Theorie das Problem einer Erschöpfung der 1 Dieser Text besteht aus Auszügen des ersten Kapitels von Emmanuel Bonnet, Diego Landivar und Alexandre Monnin (2021): Heritage et fermeture. Une Ecologie du démantèlement. Paris: Éditions Divergence. Wir danken dem Verlag für die freundliche Erlaubnis zur Übersetzung. Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 36 Alexandre Monnin Vorräte stellt. Tatsächlich kann sich diese Aussicht der Erschöpfung niemals verwirklichen, denn parallel zu den Ressourcen versiegen auch die Mittel, diese verfügbar zu machen. Probleme bei der Erschließung dominieren also letztendlich. (Die verbreitete Rede von Metallen der „seltenen Erden“ verkennt diesen Punkt.) Umgekehrt beruhen lebende Technologien auf erneuerbaren Ressourcen statt auf Vorräten. – Wie das Rüstungswesen, dessen Wirkkraft während relativ kurzer Zeit maximal sein muss und dessen Dispositive nicht auf Dauer ausgerichtet sind, sondern darauf, zu dienen und anschließend durch ihre Nachfolger ersetzt zu werden, schöpfen Zombie-Technologien um der Effizienz willen aus der Gesamtheit der verfügbaren Vorräte: Z.B. sind in ein Smartphone nicht weniger als 63% der Elemente des Peridensystems verbaut.2 Hinzu kommt die geplante Obsoleszenz, deren Kritik weitgehend unzureichend bleibt – denn man wird eine Zombie- Technologie nicht lebendig machen. Sie mittels Reparaturen aufrechtzuerhalten ist nur ein Notbehelf, dessen Rebound-Effekte noch im Detail zu untersuchen wären. Um aus der zwischen Angebot (Industrie) und Nachfrage (Nutzung der Endgeräte) hin- und hergeschobenen Verantwortung auszusteigen, müsste man eher beginnen, demokratisch die Obsoleszenz der Abstammungslinien (im Sinne von Gilbert Simondon) von Zombie-Technologien insgesamt zu planen (vgl. Monnin/Roussilhe/ Landivar 2018). – Die lebendigen Technologien stützen sich auf diejenigen Elemente, die 97% der Masse des Lebendigen ausmachen: Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H), Stickstoff (N), Phosphor (P), Schwefel (S) (mit dem Akronym CHNOPS bezeichnet). Auch andere Elemente treten in die Zusammensetzung ein, insbesondere Metalle wie Eisen, Kupfer und Zink. Gleichwohl sind es die CHNOPS-Elemente, über die das Lebendige in die großen geophysikalischen Zyklen (Stickstoff, Kohlenstoff, Wasser, Phosphor, Schwefel) eingebunden ist (Arnoux et al 2020, S. 12). Die Zombie-Technologien hingegen schreiben sich nicht in diese Kreisläufe ein. Wo das „Recycling“ möglich ist (und das ist selten der Fall, vgl. Labbé 2016), simuliert es diese Zirkularität auf eine gänzlich artifizielle Weise um den Preis einer Zuführung von Energie, welche für den Versuch erforderlich ist, diesen Sachverhalt durch die Schließung des Systems zu kompensieren. Wie Zombies schaffen es diese Technologien nicht, zu sterben und zu verschwinden; ihre Abfälle (vgl. Parikka 2015) sammeln sich unerbittlich im Herzen der geologischen Schichten des Anthropozäns an. 2 Laut den auf der Seite der Britischen Gesellschaft für Geologie dargestellten Daten: https://www. geolsoc.org.uk/~/media/shared/documents/education%20and%20careers/Resources/Posters/ Minerals%20in%20a%20smartphone%20poster.pdf [Stand vom 15-07-2022] Zombie-Technologien und negative Commons 37 Ressourcen Nachhaltigkeit Lebensende Zombie-Technologien Endlich (langfristige Minimal im Betriebs- Maximale Lebensdauer Erschöpfung) zustand in der Form von Abfall Lebendige Erneuerbar (hohe Nach- Maximal im Betriebs- Minimale Lebensdauer Technologien haltigkeit) zustand in der Form von Abfall Tabelle 1: Zombie-Technologien vs. Lebendige Technologien Wehren wir ein mögliches Missverständnis ab. Man verkennt alles, was die Kraft dieser Unterscheidung ausmacht, wenn man darin nur das x-te Plädoyer sieht, die Wirtschaft durch ihr Grün-Werden wieder in Schwung zu bringen, ohne irgendetwas Grundsätzliches zu ändern. Diese Tendenz existiert, insbesondere in der Welt des Biomimetismus, die von „vom Lebendigen inspirierten Lösungen“ wimmelt. Abgesehen von der Notwendigkeit, das dergestalt mobilisierte „Lebendige“ zu befragen, wird der Biomimetismus perfekt repräsentiert durch die Konzeption eines Flugzeugflügels, der von demjenigen eines Vogels inspiriert ist: eine in eine Zombie-Industrie eingegliederte Zombie-Technologie. […] Die Rede von Zombie-Technologien erlaubt es, vollzogene Prozesse der Zombifizierung zu ermessen, von denen zahlreiche andernfalls lebendige Technologien betroffen sind. Es reicht, an die Landwirtschaft zu denken: „Die Landwirtschaft, 14000 Jahre alt, sollte ein Beispiel für Nachhaltigkeit sein. Das 20. Jhdt. hat sie jedoch weitgehend in eine Zombie-Technologie verwandelt.“ (Arnoux et al. 2020, S. 12) Der Rückgriff auf den Maschinenbetrieb hat zu einer Abhängigkeit von Erdöl geführt, während Phosphat, das seit den 1950er-Jahren als Düngemittel verwendet wird, sich zu einem unentbehrlichen Bestandteil der intensiven Landwirtschaft entwickelte (von den dabei anfallenden Abfällen ganz zu schweigen). Es wird sogar immer öfter ein Phosophor-Peak am Ende des Jahrhunderts in Aussicht gestellt (Cordell/White 2014). Ohne diese technologische Dimension sind lediglich politische Gründe für den Wechsel von der Erzeugung [engendrement] zur Produktion [production] auszumachen3 ([…] etwa kapitalistische und sozialistische Regime), was nicht zur Erhellung des Phänomens beiträgt. Über diese Zombifizierung einstmals lebendiger Technologien hinaus sind nahezu alle gegenwärtigen Technologien Zombie-Technologien. Man muss von einem durch 3 Die Unterscheidung von Erzeugung und Produktion wird von Latour (2018, Kap. 16-18) über- nommen: Während die moderne Konzeption der Produktion den Menschen und seine Souveränität über die mechanistisch verstandene Natur betont, liegt der Erzeugung die Auffassung eines Netz- werks von gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Wesen zugrunde. Sie weist Menschen keine privilegierte Stellung zu und ist darauf angelegt, Bindungen zu kultivieren. (Anm. d. Übers.) 38 Alexandre Monnin die Moderne initiierten Prozess des Ruins im großen Stil sprechen. Ein erneuertes Verständnis des Ruins/der Ruine [ruine] entwickelt sich aus dieser Feststellung: Die Ruinen des Anthropozäns sind weder ausschließlich pittoresker Natur, noch beschränken sie sich auf ruin-porn bzw. die libidinöse Besetzung der Bilder von Landstrichen, die durch Unwetter, Stürme, Brände oder Überschwemmungen verwüstet wurden. Aus der Perspektive des Anthropozäns ist der Ruin/die Ruine gänzlich neu zu denken: Es handelt sich nicht mehr um das eingestürzte Gebäude, sondern um dasjenige, das sich aufrecht hält; nicht mehr um das von Moos bedeckte Aquädukt, sondern die supply chain, die die Weltmärkte versorgt; die Fabrik, die mit einem Minimum an Arbeitskräften auf Hochtouren läuft; nicht zu vergessen die Organisationen und business models, die sie steuern – dies sind die tatsächlichen Ruinen des Anthropozäns, zugleich ruinierend (ruina ruinans, zombifizierend, im Sinne einer kosmologischen Fehleinrichtung bzw. einer Einrichtung der Unhaltbarkeit [inconsistance] und in der Unhaltbarkeit4) und ruiniert (ruina ruinata, zombifiziert, Abfallprodukte des Prozesses des Ruinierens). Diese Ruine(n) schlagen wir angesichts ihrer Allgegenwart zu politisieren vor und – um dies zu bewerkstelligen – sie als „negative Commons“ zu konzeptualisieren. Darin besteht der erste Schritt, die Natur des Erbes zu begreifen, welches das unsere ist. Von den Commons zu den negativen Commons Man ist gewohnt, die Commons ausgehend von einer kanonisch gewordenen Definition darzustellen, die unterscheidet: a) eine geteilte Ressource, die b) von einer Gemeinschaft verwaltet wird, welche c) sich dazu bestimmte Richtlinien gibt (Collectif 2017). Diese Definition beansprucht den Ansatz von Elinor Ostrom zu syntheti- sieren – jener Forscherin, die zu einem wesentlichen Teil die Wiederentdeckung der Commons initiierte. Lionel Maurel weist darauf hin, dass ihren Einsatzpunkt eine mit ökonomischem Wert oder einem „Nutzen“ (im juristischen und ökonomischen Sinne) versehenen „Ressource“ bildet. Die von Ostrom im Rahmen der Commons bzw. der Common Pool Ressources (CPR) untersuchten Gegebenheiten (Weideflächen, Wälder, Fischereigebiete, Grundwasser, usw.) zeichnen sich durch das Interesse aus, das Gemeinschaften an ihrem Erhalt zeigen. Man könnte hier also von „bukolischen Commons“ sprechen, weil es darum geht, das Verschwinden dieser wünschenswerten Ressourcen infolge ihrer Überbeanspruchung zu verhindern. Diese Perspektive schreibt sich faktisch in eine bestimmte Kosmologie 4 „Wenn man die ‚ökologische‘ Unruhe, die unseren Planeten erschüttert, genau betrachtet, so zeigt sich, dass es um die Unfähigkeit des Menschen geht, mit anderen Wesen zu bestehen [consister]: Unhaltbarkeit und Auflösung [dislocation].“ (Montebello 2015, S. 10) Zombie-Technologien und negative Commons 39 (im Sinne eines Entwurfs oder besser noch einer Praxis [pratique] der Welt) ein, welche einen instrumentellen Zugang des Menschen zu seiner als „Ressource“ begriffenen Umwelt privilegiert. Diese ursprüngliche Konzeption ist später von Ostrom (und der auf sie zurückgehenden Schule) ausgedehnt worden auf informationelle Ressourcen, wodurch das Forschungsfeld der Commons des Wissens bzw. der digitalen Commons eröffnet wurde (Hess und Ostrom 2007). In all diesen Fällen werden die Commons als eine intrinsisch positive – weil nützliche – Gegebenheit dargestellt. Der negative Pol wurde in dieser Beschreibung auf gänzlich symmetrische Weise repräsentiert, sei es als Überbeanspruchung [surexploitation] (bei Garrett Hardin), sei es als Einschließung [enclosure] (bei Ostrom selbst oder bei den Verfechter*innen der Commons allgemein). Zwei Problemfelder zeichnen sich hier ab. Zunächst ein unbestreitbarer Ökonomismus. Wenngleich Hardin als Ostroms Nemesis gilt, teilen die beiden Autor*innen ein Weltbild, das durch das Vokabel der „Ressourcen“ primär naturalisierte menschliche Bedürfnisse fokussiert. Laut Ersterem hat jeder sein exklusives Interesse im Blick, sodass das Kollektiv letztlich nicht anders kann als die gemeinsamen Ressourcen aufzubrauchen: Das Interesse der Einzelnen legt diesen nahe, sich in erster Linie selbst zu bedienen und entfacht damit eine Dynamik der übermäßigen Ausbeutung, aus der letztendlich alle als Verlierer hervorgehen. Hardin gedenkt der dergestalt dramatisierten Tragödie der Commons mithilfe von Regeln des Privateigentums und des Marktes ein Ende zu setzen, die ihm zufolge als einzige in der Lage sind, das betreffende Gut zu schützen, indem sie es dem vereinnahmenden Kollektiv entziehen. Ein Schutz, der faktisch nicht gerade absolut ist, seitdem das Privateigentum (z.B. im französischen Recht) dem Eigentümer eine absolute Macht über sein Gut zugesteht; sogar, es zu zerstören – ganz zu schweigen von der so beförderten Kommerzialisierung der Güter. Ostrom zeigt ihrerseits, dass unter diesen Umständen und in gewissen lokalen Maßstäben geeignete institutionelle Arrangements es ermöglichen, die Aneignung zu kontrollieren und den Erhalt der Ressourcen sicherzustellen. Beide Autor*innen teilen dieselbe Auffassung von Ressourcen und die ergänzende Perspektive einer natürlichen (ja geradezu wünschenswerten) Tendenz zur deren Ausbeutung. Sie kommen überein, diese einfach zu regulieren, um die Überbeanspruchung und Erschöpfung jener zu vermeiden. Die andere Schwierigkeit liegt in der eng mit den Ostromschen Commons verknüpften betriebs wirt schaftlichen Dimension. Die Verwaltung, die hier herangezogen wird, um die Verteidigung der Commons sicherzustellen, erweist sich als perfekt kompatibel mit den Erwartungen des Managements (bzw. der Betriebswirtschaft) als Disziplin, die sich vornehmlich für die Steuerung zielgerichteten kollektiven Handelns interessiert. Die Lösung der Probleme überträgt – dem Ostromschen Rahmen inhärent – ihre teleologische Dimension auf das kollektive Handeln. Die von Ostrom aufgezeigten Grundprinzipien hinsichtlich der Überlebensfähigkeit von gemeinsamen Ressourcen [ressources mises en commun(s)] schreiben sich präzise in diese Herangehensweise ein. 40 Alexandre Monnin Ihre Nähe zum Management und zur Governance (also zwei Formen der Antipolitik) wirft legitime Fragen hinsichtlich der Politik auf – insbesondere in ihrer demokratischen Spielart im klassischen Ansatz der Commons: Wie gemeinsam eine Erfahrung radikaler Demokratie machen mit Governance-Prinzipien, die gerade dazu bestimmt sind, solche Experimente zu umgehen? Dieser Frage kann hier nicht im Detail nachgegangen werden, aber zumindest sollte sie gestellt werden. Elemente der Ressource Gemeinschaft Governance Definition damit verbundene latenter Extraaktivis- Unmittelbarer Ort antipolitischer Probleme mus und Ökonomis- des Lokalen, der die Management-Ansatz mus Netze der Abhängkeit verschleiert Tabelle 2: Probleme der kanonischen Commons-Definition In den letzten Jahren sind zu den Reflexionen um die Commons verschiedene Vorschläge hinzugekommen, die sie in neue Richtungen führen und die genannten Tendenzen auf grundsätzlicher Ebene korrigieren. Die Berücksichtigung der Nicht-Menschlichen ist deshalb ein Kernanliegen einer wachsenden Zahl von Forschern und Forscherinnen. Insbesondere ein Vorschlag unterstreicht jene Qualität der Commons, die umso mehr vergessen worden ist, je mehr das Konzept an Popularität gewann: deren konfliktueller Charakter. Marisol de la Cadena und Mario Blaser haben den Begriff der Uncommons geprägt (Blaser/de la Cadena 2017), um die Pluralität von Praktiken und Welten zu berücksichtigen – im Gegensatz zu einer hegemonialen Welt (one world), die sich anderen Assemblagen aufzwingt, ohne sie jedoch zum Verschwinden zu bringen. Die Uncommons „bringen die Idee der eine basale Gemeinschaft bildenden ‚Welt‘ durcheinander, ohne sie zu ersetzen: eine Idee, die als Möglichkeitsbedingung des gemeinsamen Guts und und der Commons erscheint“ (Blaser/de la Cadena 2017, S. 195). Auch wenn die Anhängerschaft der ‚Entwicklung‘ die Vereinnahmung der Commons rechtfertigt im Namen des gemeinsamen Guts, das sie bildet, indem sie Arbeitsplätze schafft, Energie produziert und angeblich die Lebensqualität steigert, zerstört der Extraktivismus die Commons in ihrer institutionalisierten Form ebenso wie aus einer Umweltperspektive. Der klassische Ansatz der Commons setzt eine Trennbarkeit von Menschen und Ressourcen voraus sowie deren nachträgliche Verbindung. Der Rekurs auf das Konzept der Ressource selbst stellt diese Trennbarkeit sicher. Nun hat die Philosophie uns gelehrt, zwischen externen (i.S. von Begriffen, die in Beziehung gesetzt werden) und internen bzw. transduktiven Relationen zu unterscheiden, welche im Gegensatz dazu ihre Relata erst konstituieren. Zweifellos ist das klassische Denken der Commons Zombie-Technologien und negative Commons 41 aus der ersten Option hervorgegangen, während der Ansatz der Uncommons mit der letzteren verwandt ist. Auch die Aufmerksamkeit auf „Divergenzen“ (de la Cadena übernimmt den Begriff von Isabelle Stengers) zwischen heterogenen Welten5 wird zum Imperativ; zu einer Voraussetzung dafür, dem Mehr-als-Menschlichen Rechnung zu tragen (den Menschen und Nicht-Menschen, in ihren Relationen zueinander begriffen) und auf die Commons ein anderes Licht zu werfen, ohne die klassische Theorie der CPR als universelle ontologische Grundlage zu unterstellen (vgl. u.a. Bresnihan 2015, Latour 2018, Kap. 166 sowie Maurel 2019). Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Commons und den Ruinen des Globus? 2017/18 sind im französischsprachigen Raum voneinander unabhängig mehrere Reflexionen zum Begriff der negativen Commons entstanden (vgl. Monnin 2017, Kohso 2018, Maurel 2018).7 Das klassische Denken der Commons ist beherrscht von der Bedrohung der Vereinnahmung. Dieser Konsens knüpft Positionen zusammen, die indes durch starke theoretische Diskrepanzen geprägt sind. Wenn man die Blickrichtung umkehrt, um sich auf die durch das Anthropozän eröffneten Horizonte einzulassen, ist die Frage, die sich unserer Generation stellt, nicht mehr „Wer vereinnahmt das Wasser oder den Boden?“, sondern: „Was werden wir mit dieser Industriegesellschaft machen, die uns zur ökologischen Katastrophe verdammt?“ Die Vereinnahmung tritt also in den Hintergrund zugunsten der Frage des Erbes. Ein schwieriges Erbe von Realitäten und Ruinen, im Sinn der ruina ruinans (die noch funktionierenden Überbleibsel des Globus: Organisationen, Geschäftsmodelle, Lieferketten, Rechte alter Kolonialmächte etc.) und der ruina ruinanta (verunreinigte Böden, mit Nährstoffen angereicherte Flüsse, Erdöl, CO2-Partikel in der Atmosphäre etc.). Wenngleich ein Streit um die beste Weise kreist, wie ihr Erhalt sichergestellt werden kann, haben diese Ruine(n) nichts mit den Ressourcen eines zu erhaltenden Garten Eden zu tun. 5 Es handelt sich dabei nicht nur um einen Konflikt zwischen „Bildern“ bzw. „Konzepten“ der Welt (das um die Wende zum 20. Jhdt. vieldiskutierte deutsche Konzept der Weltanschauung [im Original deutsch, Anm. d. Übers.]), sondern um Praktiken, die aufeinander irreduzible Entwicklungsb ahnen [trajectoires] eröffnen. 6 Latour schreibt dort (S. 87-88): „Sicher konnte man in den Archiven anderer Völker wühlen und darin Einstellungen, Mythen, Rituale entdecken, denen jedwede Vorstellung von ‚Ressource‘ oder ‚Produktion‘ fremd war. Aber dabei handelte es sich um etwas, was zu jener Zeit nur noch als Überbleibsel einstiger Formen von Subjektivität, von durch die Modernisierungsfront unwiderruf- lich überholten archaischen Kulturen beeindruckte. […] Erst jetzt werden alle diese Praktiken zu kostbaren Lernmodellen für das Überleben in der Zukunft.“ 7 Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Ausdruck „negative Commons“ jenseits des franzö- sischen Sprachraums zuvor schon von Mies/Bennholdt-Thomsen (2001) gebraucht wurde, aller- dings in einer eingeschränkteren Bedeutung. Die Entdeckung dieser Referenz verdanke ich Justine Loizeau. 42 Alexandre Monnin Negative Commons und Ruine(n) Lionel Maurel und ich haben die folgende Definition vorgeschlagen: „Negative Commons bezeichnen (materielle oder immaterielle) ‚nega- tive Ressourcen‘, wie Abfälle, Atomkraftwerke, verschmutzte Böden oder auch gewisse Formen kulturellen Erbes (wie die Rechte einer Kolonial- macht). Es geht darum, für sie kollektiv Sorge bzw. Verantwortung zu tragen (commoning) in Ermangelung der Möglichkeit, mit ihnen reinen Tisch zu machen. Weiters wird die klassische Theorie der Commons, ins- besondere der ‚positive‘ Ansatz der CPR […], erweitert. Der Ansatz der negativen Commons dreht sich um zwei wesentliche Anliegen: a) Gegebenheiten, die oft positiv bewertet werden, einen negativen Wert zuzuweisen (den fossilen Energieträgern, dem Digitalen, etc.). Insofern jegliches Common zunächst ein von Konfliktualität gekennzeichnetes Uncommon ist, kann man dies als einen Kampf um Anerkennung ver- stehen. b) Neue Institutionen zu bauen, die es den Gemeinschaften erlauben, Sachverhalte demokratisch wieder anzueignen, die ihnen bisher entzogen waren – insbesondere die Koexistenz mit negativen Commons, die mehr oder weniger auf Distanz gehalten werden. (Man kann an kürzlich von Stadtverwaltungen im Umgang mit Pestiziden getroffene Maßnahmen denken8 oder gemäß dem gleichen Modell an die Zukunft des Digitalen.) Diese Wiederaneignung über neue Institutionen wirft eine Reihe von Fragen über Größenordnungen, Zuständigkeiten, Subsidiarität, Rechts- fragen etc. auf. Darüber hinaus können die negativen Commons die Idee von Gemein- schaften der Nicht-Nutzung einführen, d.h. von Kollektiven, die versu- chen, gewisse sonst als ‚Ressourcen‘ eingeschätzte Entitäten nicht mehr zu verwenden (im Kontrast zu jener Bezeichnung, die offensichtlich eine das extraktivistische Vorgehen fördernde und legitimierende Enthemmung darstellt).“ (Monnin/Maurel 2020) Das Konzept der negativen Commons bietet eine Möglichkeit, die Frage des Erbes zu problematisieren und politisches Handeln vor diesem Hintergrund neu zu denken. […] Wenn die ruinierenden Ruinen zunächst auf die modernen Infrastrukturen verweisen, 8 Vgl. den Chlordecon-Skandal auf den französischen Antillen. Zombie-Technologien und negative Commons 43 wie lassen sich resiliente Infrastrukturen der Gegenwart erben, die „als Anti-Ruinen konzipiert wurden mit dem expliziten Ziel, die Zerstörung und das Desaster zu bewältigen, welches durch die gegenwärtige Funktionsweise von modernen Infrastrukturen wie Pipelines, Bergwerken und Kraftwerken hervorgerufen wird“ (Wakefield 2018)? Unter diesen Infrastrukturen hat Stephanie Wakefield (2020) den Fall von in New York gezüchteten Austern untersucht, um die Folgen des steigenden Wasserspiegels zu verstehen. Im Gegensatz zum Biomimetismus ähneln diese Infrastrukturen den lebendigen Technologien, wenngleich dieses Konzept ihren Sinn nicht erschöpft, insofern sie auf Erzeugungsbeziehungen im Dienst einer neuen, auf die Natur abgestimmten Biopolitik zurückgreifen. Einer Biopolitik, weil das Leben bzw. die Natur aus Perspektive der Resilienz einen Überschuss gegenüber dem Sein enthüllt. Ihre Produktivität wird genutzt und mobilisiert, um die durch die moderne Infrastruktur verursachten Schäden, im konkreten Fall den Anstieg des Meeresspiegels, abzufedern. Das Beispiel steht keineswegs allein: Nach einem ähnlichen Gedankenschema hat der IWF in der internationalen Walfangkommission aufgegriffene Diskussionen eröffnet hinsichtlich der Möglichkeit, Wale zu schützen, deren Kapazitäten zur Kohlenstoffbindung die „Rettung“ [le salut] (über Züchtungsgarantien) sicherstellen könnten.9 Es reicht nicht, die moderne Produktion mit einem technologischen, bio-inspirierten Avatar zu verkleiden: Diese Lektion gilt für die lebendigen Technologien wie für die Erzeugungsbeziehungen, die neuen Formen der Biopolitik unterworfen sind, welche weniger dazu bestimmt sind, den Ausbruch von Katastrophen zu verhindern als vielmehr deren Effekte einzudämmen. Das Problem liegt nicht nur an der fehlenden Verbindung zum Lebendigen oder des Einbaus in die Erzeugungsbeziehungen – welche den Haupteinsatz der konnektionistischen Ökologie bilden. Es geht gleichermaßen darum, das Lebendige von dieser Mobilisierung zu subtrahieren, um einen Ort für die Unproduktion auszusparen – Bedingungen sine qua non der Reproduktion und folglich einer Nachhaltigkeit, die diesen Namen verdient. Zunächst ist es unabdingbar, von der ruinierenden zur ruinierten, unproduktiven Ruine überzugehen, ohne sich damit zufriedenzugeben, letztere mit pittoresken oder kanonischen Visionen zu versehen. Die noch aktiven Scherben des Globus auf der Erde landen zu lassen,10 erfordert, möglichst gut zwischen den durch einen doppelten 9 Vgl. Chami et al. (2019): „International financial institutions, in partnership with other UN and multilateral organizations, are ideally suited to advise, monitor, and coordinate the actions of countries in protecting whales. [...] Since the role of whales is irreplaceable in mitigating and building resilience to climate change, their survival should be integrated into the objectives of the 190 countries that in 2015 signed the Paris Agreement for combating climate risk.“ 10 Monnin bezieht sich hier auf Latours (2018) Unterscheidung des Globalen als Horizont der Moderne vom neuen Attraktor des Terrestrischen, welchem sich wiederum das Aussererdige [Hors-Sol] zu entziehen versucht. Im Zentrum von Latours terrestrischem Manifest (der Titel 44 Alexandre Monnin Imperativ auferlegten Rahmenbedingungen zu navigieren: bestimmen, wie zu landen sei, und zu diesem Zweck das Seiende erben. Zweifellos ist es angebracht, dies zu bedauern, aber Milliarden menschlicher Leben hängen von den gegenwärtigen Infrastrukturen des Globus oder der Technosphäre ab. Selbige Abhängigkeit hat offensichtlich integralen Anteil am Problem; sie erfordert einen Ansatz, der sie zu berücksichtigen weiß; der angesichts der Befürchtung, die Vulnerabilität der betroffenen Bevölkerungen zu vergrößern, Mittel erfindet, mit diesem Abhängigkeitsverhältnis zu brechen, welches obendrein sich selbst ruiniert, indem es buchstäblich seine eigenen Fundamente untergräbt. Das bedeutet Landung: lernen, „gute Ruinen“ zu schaffen im Ausgang von den negativen Commons, die noch aktiv sind. Die unproduktiven Ruinen sparen einen Platz für die Reproduktion aus, nicht die noch produktiven Ruinen (ruinierende Ruinen) oder ihre bloßen Überreste (ruinierte Ruinen). Vorab erfordert dies eine Arbeit, die sich einer „Kunst“ annähert (Anna Tsing) oder einer „Pragmatik der Aufmerksamkeit“ (Hennion/Monnin 2020). Denn die negativen Commons verstehen sich keineswegs in einem ontologischen oder essentiellen Sinn: Kein Common ist für sich selbst negativ. Keine intrinsische Spaltung durchquert die Gegebenheiten der Welt derart, dass sie die Aufteilung in zwei Seiten einer ontologisch- normativen Grenze dergestalt erlaubt, wie der gute Metzger in Platons Sophistes ein Tier entlang seiner natürlichen Gelenke schneiden würde. Selbige Idee würde sofort in Widerspruch mit der Lehre der Uncommons treten, nämlich der Perspektive von Konflikten, die sich zwischen heterogenen Praktiken und den aus ihnen jeweils hervorgehenden Welten eröffnen. Darüber hinaus ist es selbst im Inneren einer gegebenen Welt schwierig, eindeutige Schnitte vorzunehmen. Wie steht es z.B. mit dem CO2 in der Atmosphäre? Die Antwort mag evident erscheinen, aber es wird sich immer jemand finden, der sich an der Anreicherung von Teilchen in der Atmosphäre erfreut (Weinstöcke in Schweden? Erfreuliche Perspektive, falls es so kommt!). Mit dem Erdöl? Die Argumente zu seinen Gunsten laufen Gefahr, sich zu vervielfachen trotz der erzeugten Schäden. Sicher, Gott lacht über Menschen, die Folgen beklagen, deren Ursachen sie lieb gewonnen haben. Dennoch muss man die unterschiedliche Natur der Bindungen berücksichtigen, welche sich von einer Einheit zur anderen (CO2 oder Erdöl hier) völlig unterscheiden – trotz des Kausalitätsverhältnisses, das diese verknüpft (die Anwesenheit von CO2 ist unmittelbar mit dem Ölverbrauch verbunden). Und das Internet oder das Web? Sind sie negative Commons? Intrinsischerweise? Schon immer? Es geht offensichtlich nicht darum, a priori zu unterscheiden, wenngleich man Argumente für eine negative Bewertung dieser Dispositive anführen könnte, bei denen lautet im Original „Où atterrir?“) steht genau diese Frage nach der Möglichkeit zu landen bzw. sich zu erden angesichts der Gefahr eines Crashs der sich von der Erde entfernenden Projekte der Moderne. (Anm. d. Übers.) Zombie-Technologien und negative Commons 45 es sich unbestreitbarerweise um Zombie-Technologien handelt. Denn diese Frage ist faktisch untrennbar mit einer anderen verbunden, die an der Notwendigkeit hängt, den streitbaren Anteil der negativen Commons festzuhalten: In ihrer Eigenschaft als Uncommons setzen sie einen Kampf voraus, damit ihre positive oder negative Valenz erkannt wird. Indem sie sich vom Hintergrund der Uncommons abheben, sind die Commons von einer fundamentalen Veränderlichkeit betroffen. Das negative Common im Speziellen ist eine Angelegenheit der Evaluierung und kollektiven Untersuchung. Es verlangt mit anderen Worten nach einer „Politik der Untersuchung“ [politique de l’enquête], deren Herausforderungen von Josep Raffanell i Orra (2018, Kap. 3) mit großer Präzision beschrieben worden sind. Nach wie vor ähnelt das allgegenwärtige Digitale im kollektiven Imaginären – auch in demjenigen der Institutionen – weniger einer Ruine als einer unabwendbaren Zukunft. Das ist allerdings immer weniger der Fall, insofern die auf ihm beruhenden dystopischen Perspektiven und Tendenzen täglich offensichtlicher werden. Erinnern wir uns an die „Monumente der Bourgeoisie“, die uns Benjamin gelehrt hat „als Ruinen zu erkennen noch ehe sie zerfallen sind“ (Benjamin 1991, S. 59; zu Benjamins Ruinenkonzeption vgl. u.a. Stead 2003 und Pensky 2011). Soweit es sich um eine Zombie-Technologie handelt, eröffnet das Digitale obsolete Zukünfte: 5G, sogar 6G und so weiter, vernetzte Objekte, smart cities, an die ihre Verfechter*innen übrigens kaum mehr glauben,11 etc. Wenn sich das Urteil hinsichtlich der negativen Commons auf Prozesse der Bewertung [enquêtes de valuation] (bzw. der Valenzb estimmung, wenn es um den positiven oder negativen Charakter eines Commons geht) stützt, verbietet indes nichts, essentielle Faktoren anzuführen – hier den Zombie- charakter dieser Technologien – die den Ausschlag geben. Erlauben wir uns eine Anekdote als Illustration. Der Autor dieser Zeilen arbeitete von 2015 an zur Frage der Zukunft (oder des Endes) des Digitalen. Keinerlei Aufschrei oder Protest unterbrach seine Präsentation, als er (2016 auf Einladung, sich beim ersten nationalen inter-labex-Symposion „Excellence in smart systems: Intelligente Systeme im Dienst der Gesellschaft“ zum Thema „Schließung“ [clôture] zu äußern) die Gründe lieferte, weshalb das Digitale in seinen Augen mittelfristig ohne Zukunft war.12 Als 11 „In 2021, the idea that the goal of every city should be to get smarter feels painfully out of touch“ („Why You’ll Be Hearing a Lot Less about ‚Smart Cities‘“, City Monitor, 18. Februar 2021, www. citymonitor.ai/government/why-youll-be-hearing-a-lot-less-about-smart-cities). Es geht offen- sicht lich darum, Forschende zu warnen, die unglücklicherweise noch immer an dieser Aufgabe arbeiten. 12 Vgl. www.femto-st.fr/fr/L-institut/actualite/1er-symposium-national-inter-labex?page=12. Die Präsentation entfaltete sich vor Mitgliedern von Labex (laboratoire d‘excellence), die zusammen- ge kommen waren, um eine Verlängerung ihrer Finanzierung zu beantragen; im Begriff, abgeschafft und absorbiert zu werden von idex (initiatives d‘excellence) wie auch die alte PDG der Agence Nationale de la Recherche (ANR) und andere französische Forschungsförderungseinrichtungen, 46 Alexandre Monnin der Verantwortliche eines Labex seine Überraschung auszudrückte („Bezahlt dich INRIA [Institut national de recherche en informatique et en automatique] dafür, dass du das sagst?“), tat er dies, um mir anzuvertrauen, dass er die präsentierte Diagnose teile. Seine Arbeit, sagte er, bestehe darin, zukunftslose Innovationen zu fördern. Heruntergekommene Innovationen, brandneue Ruinen. Im Nachklang von durch Anna Tsing popularisierten Ansätzen, die uns auffordern, über die „Möglichkeit“ nachzudenken, „in den Ruinen des Kapitalismus zu leben“ (Untertitel von Tsing 2017), geht es also darum, zukünftig die Natur dieser Ruinen neu zu denken und in weiterer Folge zu repolitisieren. Diesem Ziel soll die Reflexion zu den negativen Commons dienen. In einem höchst relevanten Text schlägt Stephanie Wakefield (2018) eine Parallele vor zwischen den resilienzbasierten Ansätzen13 und dem durch Tsing und ihre gesamte Gefolgschaft eröffneten (zu der sich auch Wakefield selbst zählt). Die zeitgenössischen Theorien klären ihr zufolge definitiv die Voraussetzungen für Ansätze der Resilienz.14 Doch jenseits dieses theoretischen Korpus oder der von der Forschung geförderten, häufig stark abstrakten Visionen von Ruinen und Verfall gibt es konkrete Erfahrungen mit Situationen partiellen Zusammenbruchs, die teils unter dem Banner der Resilienz verstanden werden.15 Diese jedoch, erklärt Wakefield, „können nicht zu einer der modernen Infrastruktur vorgängigen Epoche zurückkehren oder letztere einfach fortsetzen oder in deren Ruinen nur zu überleben streben, als wäre das liberale Leben alles, was es gibt oder je geben könnte. Stattdessen nutzen sie den experimentellen Mut der Resilienz und die „hier und jetzt“-Mentalität des Denkens in Ruinen, um ihre eigenen, dem liberalen Leben gegenüber irreduziblen Lebensweisen zu finden.“ (Wakefield 2018, S. 9) Unreine Formen also, wo man zum Beispiel sieht, wie Einwohner im Unterschlupf von Fabriken leben, deren Präsenz der Ausdehnung einer Metropole Grenzen setzen und so das Verschlingen von Ackerland und umliegenden Dörfern verhindern, nach dem Vorbild des Chemietals am Rand des Ballungsraums von die alle bei dieser Gelegenheit versammelt waren. 13 „There are two key assumptions that enable resilience approaches: 1) life has to be in excess of being, and 2) relations must be privileged over entities. These [...] mark a distinct challenge to modernist or liberal universal frameworks of thought and clearly emerge in response to new problems and new sensitivities of the limits of modernity [...] resilience would seem well placed to be a dominant discursive governmental framing in the epoch of the Anthropocene“ (Chandler et al. 2020, S. 9). 14 „In these visions, implicitly or explicitly human existence is conceived as little different from the resilient life criticized above, albeit reduced further as hubris is no longer allowed, ideas of future improvement said to be impossible, and creation and audacity denigrated as outdated artifacts of the 20th century. Ruins politics is defined explicitly as a matter of survival“ (Wakefield 2018, S. 9). 15 Und das ist zunehmend der Fall in Frankreich, wo dieser Begriff – zeitgleich übernommen von den öffentlichen Mächten – kritisiert, ja denunziert (vgl. Ribault 2021) und häufig zweckentfremdet wurde (zumindest auf taktischer Ebene) – in erster Linie von den Umweltorganisationen selbst. Zombie-Technologien und negative Commons 47 Lyon (Zeugenaussagen der Bevölkerung). Oder wenn die Produktion tatsächlich der Unproduktion Raum gibt …16 Man muss die Resilienz sehr ernst nehmen bzw. auch die Theorien der Organisationen […]. In ihren aktuellen, avanciertesten Versionen verschieben diese Theorien den Fokus von der Organisation als Artefakt, wo das Unternehmen den Ursprung des Modells bildet, in Richtung eines Prozesses des „Organisation-Werdens“ der Welt. Dies ist hier eine Weise, die Bewusstwerdung des unbestimmteren und weniger kontrollierbaren Charakters kollektiven Handelns gegenüber dem zu bekräftigen, was die dominanten Theorien und Praktiken des Managements aus dem 20. Jhdt. glauben lassen. Dieser Punkt steht in starker Resonanz mit dem Denken Heideggers, das keineswegs so konservativ ist, wie die Karikatur es will, sondern sich im Gegenteil dafür ausspricht, das Sein von Grund und Ordnung zu befreien. Pierre Caye spiegelt, indem er Heidegger kommentiert, unbeabsichtigterweise mehrere Lektionen wider, die aus zeitgenössischen prozessuellen Ansätzen zu ziehen sind. „Indem das Risiko des Seins eingegangen wird, seiner Unvorhersehbarkeit, seiner Gewalt, der Irre seiner Übergänglichkeit, wird Außergewöhnliches möglich. Der ontologische Fortbestand hat etwas Heroisches in dem Sinn, dass es um den Fortbestand des Menschen im Milieu der Gefahr geht, als der Bewegung des Seins gegenüber offenes Dasein.“ (Caye 2015, 148f)17 Es ist auffallend, dass am zentralen Stellenwert des menschlichen Seins hier, trotz seiner Immersion in einen großen Fluss von Gefahren aller Art, festgehalten wird: Dieses Sein fungiert als Matrix, die dazu bestimmt ist, radikal neue Ereignisse (Heidegger), Innovationen (prozessuelle Organisationstheorien des organizing) oder schließlich soziale Innovationen, die das Überleben der Menschheit sicherstellen sollen (Resilienz), hervorzubringen. Obwohl diese Ansätze in gewissem Umfang die Unsicherheiten des betreffenden Handelns anerkennen, verteilt und vermittelt durch Netzwerke menschlicher und nicht- menschlicher Wesen, können sie nicht anders als den menschlichen Akteur ins Zentrum zu stellen. Es gibt also Material, um die Organizing- und Resilienztheorien hinsichtlich ihrer zugrundeliegenden Anthropologien und Kosmogonien zu befragen. Dies gilt umso mehr, als aus Perspektive der Heideggerschen Philosophie dieser Anthropozentrismus 16 Bzgl. der Forderung, neben einer Technik und Metaphysik der Produktion einer Technik und Metaphysik der „Unproduktion“ [improduction] Platz einzuräumen, bezieht sich Monnin auf Caye (2015). (Anm. d. Übers.) 17 Caye präzisiert dann, dass „das Hüten des Seins bei Heidegger in keiner Weise impliziert, dass die Existenz sich zu sichern versucht. Es handelt sich um ein Hüten ‚ohne Sicherheit und Schutz‘, welches darüber hinaus jegliche Sicherheit und jeglichen Schutz abstreifen muss, um seine Platzhalterschaft für das Nichts zu gewährleisten. Denn die Destruktion und der Tod sind hier die Arche selbst des Nichts in seinem Wesen.“ (ebd.) 48 Alexandre Monnin mit einem Lob des Opfers völlig kompatibel ist, fern jeglicher Idee von Nachhaltigkeit. (Dies stellt umgekehrt auch das Organizing und die Resilienz in Frage; vgl. Caye 2015, S. 138.) […] Negative Commons und Pharmaka Neben dem Begriff der „negativen Externalität“ könnte man versucht sein, die negativen Commons auf einen anderen Begriff herunterzubrechen: auf das pharmakon, jenes Gift/ Heilmittel/Sündenbock-Konzept im Zentrum des Denkens von Bernard Stiegler. Wenn das Common von Veränderlichkeit betroffen ist, ist es dann nicht dem pharmakon vergleichbar, jenem Dispositiv, das weder gut noch schlecht noch neutral ist, sondern grundsätzlich ambivalent? Die Herangehensweise ist verführerisch, jedoch irreführend, wie man sehen wird. Paradoxerweise erweist es sich als recht schwierig, innerhalb dieses zweifellos fruchtbaren Werks einen kanonischen Text zu finden, der das Konzept mit der für eine solche Überprüfung erforderlichen Genauigkeit präsentiert. De la Pharmacologie scheint auf den ersten Blick dieser Erwartung zu entsprechen, aber seine Lektüre verweist uns auf die Dualität Adoption/Adaption. Unsere Wahl führt uns vielmehr zu einem populärwissenschaftlichen Text. Letztere sind oft schwieriger zu redigieren, denn sie profitieren nicht von den Stützen bzw. dem Schleier der Gelehrtheit, um ihre etwaigen Mängel und Fehler zu kaschieren. Der Text, den wir zitieren, wurde vom Philosophen Victor Pétit verfasst: „Im antiken Griechenland bedeutete der Begriff pharmakon zugleich das Heilmittel, das Gift und den Sündenbock. Jedes technischen Objekt ist pharmakologisch: Es ist gleichzeitig Gift und Heilmittel. Das pharmakon ist zugleich das, was erlaubt, Sorge zu tragen und dasjenige, wofür man Sorge tragen muss in dem Sinn, dass man ihm Aufmerksamkeit widmet: Die Heilkraft liegt im Maß; im Übermaß wird es zu einer zerstörerischen Kraft. Die Pharmakologie ist durch dieses ‚zugleich‘ bestimmt, insofern sie versucht, in derselben Geste die Gefahr und das Rettende zu begreifen. Alle Technik ist originärer- und irreduziblerweise ambivalent: Die alphabetische Schrift z.B. konnte und kann immer noch ein Instrument der Emanzipation und der Entfremdung gleichermaßen sein. Wenn, um ein anderes Beispiel anzuführen, das Web pharmakologisch genannt werden kann, so deshalb, weil es gleichzeitig ein assoziiertes technologisches Dispositiv ist, das die Partizipation erlaubt und ein industrielles System, das den Internetnutzern ihre Daten entzieht, um sie einem allgegenwärtigen Zombie-Technologien und negative Commons 49 Marketing zu unterwerfen, das individuell zielgerichtet verläuft durch die Technologien des user profiling. Die Pharmakologie, in diesem sehr breiten Sinn verstanden, studiert organologisch die durch die Techniken hervorgerufenen Effekte und wie deren Sozialisation Verschreibungen/ Vorschriften [prescriptions] voraussetzt; also ein System der geteilten Sorge; gemeinsame Grundlagen der allgemeinen Ökonomie, wenn es stimmt, dass Ökonomisieren Sorge tragen bedeutet. […] Als Gift und Heilmittel kann das pharmakon auch zum Sündenbock der Sorglosen werden, die die Heilkraft nicht zu nutzen verstehen und ihm erlauben, ihr Leben zu vergiften – derjenigen also, die nicht pharmako- logisch zu leben wissen. Es kann in seiner Toxizität auch dazu führen, dass Sündenböcke für die verhängnisvollen Effekte benannt werden, zu denen es in Situationen der Sorglosigkeit kommen kann. […] Grundsätzlich sollte das pharmakon immer gemäß der drei Bedeutungen des Wortes betrachtet werden: Als Gift, als Heilmittel und als Sündenbock (Ventil). Wie Gregory Bateson unterstreicht, besteht das kurative Verfahren der Anonymen Alkoholiker darin, die notwenigerweise heilsame und deshalb günstige Rolle des Alkohols für den Alkoholiker zu würdigen, der noch keine Entziehungskur in Angriff genommen hat.“ (Petit 2013)18 Thematisieren wir zunächst die Analogie mit dem Gift und seine sakrosankte Um- wandlung/Umwendung [renversement] in ein Heilmittel, die vor allem eine Frage der Dosis und folglich des Gebrauchs ist. Wenn man bei diesem Punkt verweilt, zeigt die Analogie unmittelbar ihre Grenzen. Man muss den zeiträumlichen Fokus nämlich in bemerkenswerter Weise auf den einzelnen Gebrauch verengen, um die unterstellte Äquivalenz zu rechtfertigen. Dies erfordert, die vielen Abzweigungen [bifurcations] einfach auszublenden, in denen die Entwicklung dieser Substanz erkennbar wird, die sich keineswegs innerhalb strikt definierter Grenzen bewegt. Es reicht, an den Anbau der Zutaten zu denken, an die Arbeit der Extraktion sowie der Auf- und Zubereitung, an die Lagerung oder an die Entsorgung der Substanz, wenn sie einmal zu Abfall wird. Bei all diesen Schritten interveniert eine Vielzahl heterogener, menschlicher wie nicht- menschlicher Akteure bzw. Akteurinnen.19 Der Vergleich mit dem Digitalen ist leicht zu vollziehen: Wo genau soll die pharmakologische Umwandlung des Smartphones 18 Es versteht sich von selbst, dass sich unsere Kritik in keiner Weise an Victor Petit richtet. Wir sind ihm im Gegenteil zu Dank verpflichtet, weil er eine so vollständige Definition synthetisiert hat. 19 Obwohl es geboten ist, eine neutrale Form zu verwenden, wird die versteckte oder unerkannte Arbeit, die an diesem Prozess beteiligt ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit weiblich sein. 50 Alexandre Monnin eintreten? In den Fabriken von Foxconn oder in den Minen des Kongo?20 Danach wird offensichtlich nicht gefragt. Die von der pharmakologischen Umwandlung betroffene Öffentlichkeit ist eine Öffentlichkeit von Konsumenten und Konsumentinnen; dieselbe, zu deren offiziellem Verteidiger sich Stiegler – schnell dabei, die noetischen Schäden des Marketings aufzuspüren – gemacht hat. In Bezug auf das Digitale, die Zombie-Technologie schlechthin, haben wir essenzielle und nicht bloß akzidentielle Gründe angeführt.21 In diesem spezifischen Fall schlägt die pharmakologische Umwandlung nichts Anderes vor, als eine negative Essenz in ein positives Akzidens umzuwenden. Indes handelt es sich nicht um eine authentische Umkehrung, sondern um eine Hinzufügung: Das kompensatorische Akzidens wird der „Zombie“-Essenz hinzugefügt.22 Die uns zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen und zuweilen eine zufriedenstellende Umsetzungen entstehen zu sehen, verpflichtet in keiner Weise, die Möglichkeit einer Umkehrung zu postulieren, was eine extrem starke These wäre, die im Bewertungsverfahren das Ausgleichen von Tendenzen erfordert; ein von Leroi-Gourhan (dem Stiegler übrigens besonders verbunden war) übernommener Begriff. Freilich kann ein „Leben ohne“ das Digitale nicht von heute auf morgen verordnet werden. Die progressive Landung dieser Technologien erfordert, sich von den Erfahrungen, an die wir gewöhnt sind und von den ermöglichten Diensten zu lösen, um sie auf andere Technologien und Dispositive zu verlagern, die nicht notwendigerweise nachhaltig oder low-tech23 (das Attribut hat übrigens in Bezug auf das Digitale keinen Sinn) sind, sondern provisorisch, sparsamer, zweitweilig getrennt vom globalen Netz: 20 Das ist nicht genau, was Stiegler vor Augen hat. Vgl. z.B. Stiegler/Audi/Bedel (2015). 21 Die Berufung auf essenzielle Gründe steht nicht im Widerspruch zum nicht-essenziellen Charakter der negativen Commons. Nichts deutet darauf hin, dass sie faktisch ausreicht, um eine abschließende Bewertung [valuation] vorzunehmen: Diesen Gründen werden sich Anhänglichkeiten, Pfadabhängigk eiten, ökonomische und politische Interessen usw. entgegenstellen. Es fehlt nicht an Beispielen, um diesen Punkt zu veranschaulichen, der an das alte Symmetrieprinzip erinnert: In so einem Fall ist es unmöglich, im Voraus die Gründe zu bestimmen, die die Oberhand gewinnen werden. 22 Im oben erwähnten Artikel erklärt Stiegler, Kurse online zu stellen, indem er Zugang zu Dispositiven der Kategorisierung gibt, die dazu bestimmt sind, „unter den Studierenden Prozesse der kontributiven Interpretation und Kategorisierung des Kurses zu schaffen“. 23 Ein Netz zu denken, „das wir uns leisten können“ (im Unterschied zu Tim Berners-Lees Imperativ, das „web we want“ zu bauen), ist das Ziel der Gruppe „Web we can afford“, die ich im Januar 2016 im Rahmen des World Wide Web Consortium (W3C) gegründet habe. Zombie-Technologien und negative Commons 51 Es gibt viele Beispiele, vom Sneakernet (dem Transport von Informationen zu Fuß) in Regionen Kubas ohne Internetzugang, einem Fall von minimal computing, bis zu den kommunitären Netzen (mesh) in Detroid.24 Es bleibt die Frage nach dem Sündenbock. Im Gegensatz zu technokritischen Ansätzen, die die Technik insgesamt verdammen,25 kann auf der Grundlage des Begriffs der negativen Commons keine Rede davon sein, sie schlicht und einfach zu opfern (was auf anthropologischer Ebene keinen Sinn ergäbe und von Neuem ganze Bevölkerungen verdammen würde). Es geht im Gegenteil darum, das Erbe anzutreten und Sorge zu tragen (mittels einer Palliativversorgung, von welcher Stiegler nichts zu sagen hat). Ergänzen wir, dass diese Debatte verzerrt ist, solange man die Technik durch ein univokes Prisma betrachtet, ohne Unterschiede innerhalb einer Pluralität von Technologien zu markieren (hier verstanden als Zombies, was die Versuchung des Sündenbocks wirksamer abwehrt, als dies irgendein pharmakon zu tun vermag). Die Definition der pharmaka umfasst dennoch ein letztes Beispiel, das diese den negativen Commons annähert: „Dass man jegliches pharmakon immer aus Sicht einer positiven Pharmakologie betrachten muss, impliziert natürlich nicht, dass man sich nicht erlauben müsste, dieses oder jenes pharmakon zu verbieten. Ein pharmakon kann solche toxischen Effekte haben, dass seine Nutzung durch die sozialen Systeme unter den Rahmenbedingungen geographischer und biologischer Systeme nicht realisierbar ist und seine positive Umsetzung sich als unmöglich erweist. Das ist genau die Frage, die die Kernkraft stellt.“ (Petit 2013) Greifen wir die in den Raum gestellte Möglichkeit eines Verbots (der Nuklearenergie oder von etwas Anderem, der Bewertungsprozess wird es zeigen) als Axiom auf. Man wird allgemeiner von „Verzicht“ sprechen. Die Grundfrage lautet also: „Wie umsetzen?“ Wir machen uns diesen Ausgangspunkt zu eigen, der im Denken von Stiegler liegen gelassen wurde. Davon zeugt die Diskrepanz, die sich in Bifurquer beobachten lässt, dem vorerst letzten Werk, zu dem Stiegler beigetragen hat (Stiegler/Internation 2020). 24 Für diese Beispiele und viele weitere (insbes. die Möglichkeit eines Web ohne Internet) vgl. meinen Vortrag unter: www.slideshare.net/aamonnz/quel-avenir-pour-le-numrique [Stand vom 15-07-2022] 25 Manche stoßen auf Reaktionen der Öffentlichkeit, die damit unmittelbar zusammenhängen; von daher die Anklagen des Vandalismus und der Transphobie, die seit mehreren Jahren gegenüber militanten Individuen oder Kollektiven florieren, die sich zu dieser technokritischen Haltung bekennen. Man wünschte, sie wären gelogen. 52 Alexandre Monnin Man liest dort Reflexionen über die smart city gerade in dem Moment, in dem dieses Projekt sich immer offensichtlicher als obsolet erweist, ja als gefährlich;26 dass die dafür kämpfenden Kollektive die Aufgabe umfangreicher Projekte erreicht haben (so 2020 desjenigen von Sidewalk Labs, einer Tochterfirma des Google-Mutterkonzerns Alphabet). Indem er dem Angebot zu viel zugesteht, hat Stiegler letztendlich doch darauf verzichtet, den Stopp solcher Projekte anzustreben. Es ist indes die Herausforderung der Destauration,27 des Aktes, diejenigen Virtualitäten nicht ankommen zu lassen, die noch auf Umsetzung warten und die Intensität dessen zu reduzieren, was schon da ist. Wenn es neben der Aufmerksamkeit eine neue Kunst zu kultivieren gilt, so diese. Übersetzt von Andreas Beinsteiner und Astrid Knell Literatur Mathieu Arnoux et al., Trois questions à... 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Finance & Development 56 (4). 26 Wenn man die smart cities als Illustrationen zeitgenössischer Resilienzdoktrinen betrachtet, sind diese die ruinösesten Ruinen überhaupt, insofern sie dazu berufen sind, die Destruktion in Gang zu halten, indem ein gleichermaßen destruktives Korrektiv an sie herangetragen wird. Zu smart cities und Resilienz siehe Halpern/Mitchell/Geoghegan (2017). 27 Das Konzept der Destauration entwickelt Monnin als Gegenpol zu demjenigen der Errichtung [l‘instauration] von Étienne Souriau (2015), welches die Tendenz zur Aktualisierung des Virtuellen bezeichnet. Zombie-Technologien und negative Commons 53 Chandler, David; Grove, Kevin und Wakefield, Stephanie (2020): Resilience in the Anthropocene: Governance and Politics at the End of the World. London/New York: Routledge. Collectif (2017): Dictionnaire des biens communs. Paris: Presses Universitaires de France. 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Wir tun dies, indem wir zunächst einige kulturevolutionäre Entwicklungen der jüngeren Ver- gangenheit skizzieren, die das Demokratieformat in seiner hergebrachten Form unter Druck setzen. Im nächsten Schritt werden wir einige Implikationen und Problemlagen herausarbei- ten, die in der Folge zutage treten. Im resümierenden Schlussteil werden wir zusammenfassen und die gewonnenen Erkenntnisse diskutieren, um so einen Problemkatalog vorzulegen, dem sich sowohl die Forschungsbemühungen als auch die „ontological politics“ (A. Mol) der Zu- kunft tunlichst widmen sollten. „Wie macht der Mensch Zusammenhänge?“ Manfred Faßler (2012, S. 39) I. Einleitung Der vorliegende Beitrag weist einen doppelten Charakter auf. Zum einen wollen wir, in- dem wir ihn formulieren und veröffentlichen, unserem im April 2021 plötzlich und un- erwartet aus dem Leben geschiedenen Inspirator, Diskussionspartner, Kritiker, Promo- tionsbetreuer, Connaisseur – und was da an Charakterisierungen mehr wären – Manfred Faßler die Ehre erweisen. Wir beide haben bei ihm nicht nur studiert, sondern auch über Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 56 Carsten Ochs und Sebastian Sierra Barra alle weiteren Phasen der mittlerweile reichlich unwägbar gewordenen akademischen Laufbahn hinweg mit ihm bis in die Gegenwart Kontakt gehalten, diskutiert, gestritten und Gedanken ausgetauscht. Die trotz Pausen immer wieder neu aufgenommene Dis- kussion mit Manfed Faßler bildete somit eine echte Konstante vor dem Hintergrund unserer ziemlich unvorhersehbaren Wanderungen durch den zeitgenössischen Univer- sitätsbetrieb. Um unsere Trauer über den Verlust nicht einfach für sich stehen zu lassen, wollen wir mit dem vorliegenden Text Manfred Faßler unsere Reverenz erweisen. Wer den Ge(l)ehrten gekannt hat, wird aber sehr gut wissen, dass wir diesem Vorhaben kaum gerecht werden könnten, würden wir uns hier gewissermaßen als Bauchredner des Erfinders der Anthropologie des Medialen versuchen. Der Versuch einer Replikation seiner Thesen und Konzepte hätte bei ihm vermutlich nicht viel mehr als Kopfschüt- teln hervorgerufen, denn „mit jeder Information verändert sich Welt, unumkehrbar.“ (Faßler 2012, S. 38; kursiv i.O.). Das soll nicht heißen, dass eine Reproduktion seiner Thesen unmöglich wäre, doch wenn wir uns darauf konzentrieren, wie unser gleichzei- tig schmerzlich vermisster aber dennoch in bestimmter Hinsicht anwesender Geehrter (denn auch er hat ja Welt, insbesondere unsere Welt, und damit den Lauf der Dinge unumkehrbar verändert) vor unserem geistigen Auge erscheint, dann fürchten wir, auf diese Weise bei ihm nicht viel mehr als ein herzhaftes Gähnen auszulösen. Er war ja be- kanntlich durchaus streitbar. Aus diesem Grunde werden wir den Beitrag zum anderen und in inhaltlicher Hinsicht nicht als Präsentation, sondern als Auseinandersetzung mit einigen der Thesen konzipieren, die ihn und uns bis in die jüngste Vergangenheit be- schäftigt haben. Wir werden dies tun, indem wir unsere gemeinsamen Diskussionsinhal- te im Lichte seiner und unserer und der Denkarbeit anderer Forscher:innen beleuchten. Um dieser Route zu folgen, werden wir hier ein aktuell intensiv diskutiertes Problem im Lichte des Faßler’schen Denkens beleuchten, namentlich die digitalkulturelle Unter- minierung von Demokratie als gegenwärtige medienevolutionäre Verwerfung. Wir tun dies, indem wir zunächst einige kulturevolutionäre Entwicklungen der jüngeren Vergan- genheit skizzieren, die das Demokratieformat in seiner hergebrachten Form unter Druck setzen (II.). Im nächsten Schritt werden wir einige Implikationen und Problemlagen her- ausarbeiten, die in der Folge zutage treten (III.). Im resümierenden Schlussteil werden wir zusammenfassen und die gewonnenen Erkenntnisse diskutieren (IV.). II. Von digitalen Demokratisierungshoffnungen zur Datafizierungsdystopie In den letzten Jahren stand für Manfred Faßler, so wie auch für uns und viele andere, v. a. die mögliche Zukunft des Gesellschaftsformats, und dabei insbesondere die Mög- lichkeit einer demokratischen Verfassung von Sozialität unter digitalen Bedingungen Datenbasierte Demokratie oder datafizierte Prediktivität? 57 im Zentrum des Interesses (Faßler 2020). Faßlers Grundperspektive war dabei wie ge- wohnt radikal undisziplinär, und eine, die mit Entwicklungsoffenheit, mit irreduzibler Kontingenz rechnet. So schreibt er in einem Plädoyer für eine Entwicklungswissen- schaft jenseits der Disziplinen: „Die Erweiterung der Lebensgrundlagen und der lebensdienlichen (sied- lungs-, stadt- oder gesellschafts-organisatorischen, ökonomischen, tech- nologischen) Bedingungen vergrößern keineswegs die Sicherheit, artspe- zifisches Leben zu erhalten, sondern die Menge möglicher Zustände erhöht das Risiko des evolutionären Abbruches, des Scheiterns. Somit lassen sich Verbund, Kopplung und andere Konzepte nicht auf Entwicklungen redu- zieren. Sie geben Auskunft über die Gegenwart von Selbstorganisation.“ (Faßler 2016b, S. 15) Evolution ist keineswegs mit Erfolg gleichzusetzen (Faßler 2016a), d. h. „[o]bwohl komplexe Bedingungen und Zustände mit dem Menschen ‚Karriere‘ […] gemacht haben, weil sich der Anteil künstlicher Agenten (Dinge, Strukturen, Normen, Institutionen, Maschinen, Technologien) am Leben enorm erhöht hat, und ebenso die menschliche Population enorm gewachsen ist, ist diese Entwicklung keineswegs eine Erfolgsgeschichte.“ (Faßler 2016c, S. 17) Nichts ist also garantiert, weder, dass wir in demokratisch verfassten Gemeinwesen zu- sammenleben, noch dass diese Gemeinwesen in Form von Gesellschaft organisiert sind, mitunter bedrohen soziale Organisationsweisen und kulturelle Errungenschaften gera- dezu den Fortbestand menschlicher Lebensformen. Wie viele andere (vgl. etwa Baecker 2007) glaubt auch Faßler (2012, S. 27) uns in einem digitalen Epochenwandel begriffen, denn zwar organisieren sich die kollektiven Lebensformen der Menschen immer, indem sie Stoff-, Energie- und Informationsströme ordnen (ebd., S. 12), jedoch werden letztere im Zuge der weltweiten Digitalisierungsprozesse auf infogene Grundlagen hin um- und neu geordnet. Für Faßler bedeutet die Umorientierung von Vergesellschaftungsprozes- sen auf allen Ebenen einen bio-technologischen Systemwechsel. Unabhängig davon, ob man an dieser Stelle die These mittragen will, dass wir einen Epochenwandel von der Qualität und Tragweite der Erfindung der Sesshaftigkeit er- leben, lässt sich wohl kaum ignorieren, dass im Zuge der weltweiten Digitalisierung – manche sprechen aufgrund der mittlerweile unentwirrbaren Durchdringung von On- line- und Offline-Sozialität auch schon von „Postdigitalität“ (Cramer 2014) – einige 58 Carsten Ochs und Sebastian Sierra Barra Errungenschaften der modernen Gesellschaft und im gleichen Zuge auch das Gesell- schaftsformat selbst erheblich geschwächt werden: „Die direkt-biologischen Gruppenzusammenhänge werden mit indirekten, informationsreichen Netzwerken verbunden, um neue, selbst-organisato- rische Erfolge zu erzeugen. Die Ergebnisse sind Mikrosozialitäten. Ihre Selbsterhaltung und Selbstlokalisierungen liegen zu erheblichen Anteilen außerhalb der großen modernen Gesellschaftserzählungen.“ (Faßler 2012, S. 27) Diese vergleichsweise neuartigen, digital organisierten Mikrosozialitäten bilden sich Internet-gestützt heraus; sie schaffen Gesellschaft nicht ab, formieren sich aber bis zu einem gewissen Grad jenseits gesellschaftlicher Wirklichkeit. Faßler bezeichnet sie als „Habitate“: „Habitat beschreibt hier die (aktuell) organisatorischen und (mittelfristig) strukturierenden Dimensionen der erzeugten und besetzten ökologischen Nische. Menschen suchen sich nicht ‚ihre Nische‘, sondern sie erzeugen sie unabsichtlich als eine regulierbare Lebenswelt, die mehrere Generatio- nen ‚überleben soll‘, also vererbbar, tradierbar sein sollte.“ (ebd., S. 116) Die Habitate, die sich im Zuge des digitalen Epochenwandels ausformen, sind zeitlich begrenzte und gewissermaßen flüssige, weil sich immer wieder neu auf- und abbauende Sozialitätsformationen mit eigenen Regeln, Informationsbeständen, Verhaltensmustern, Subjektivierungsformen usw. (ebd., S. 112). Als Zonen biologisch-infrastruktureller Wechselwirkung entwickeln sie sich ganz im postdigitalen Sinne der online-offline- Verschränkung ko-evolutionär weiter (ebd., S. 143) – und setzen dabei nicht bloß die Tauglichkeit des Gesellschaftsformats herab (ebd., S. 21 ff.), sondern auch die demokra- tische Verfasstheit von Sozialität unter Druck: „Folgt man der Prognose, dass 2030 ca. die Hälfte der Menschheit mit / in diesen digitalen Netzwerken arbeiten wird, lässt sich vermuten, dass es in diesen Netzwerken deutlich unterscheidbare globale Populationen / Community-Ökologien geben wird. Community ist nicht gleich Demokra- tie der (über Kopplungen) nahen Menschen.“ (ebd., S. 139) In der Entstehung und im Kampf der Habitate artikuliert sich damit die grundlegende Offenheit evolutionärer Entwicklungsverläufe, die auch die Erforschung dieser Verläufe immer wieder kalt erwischt. In den 1990er Jahren wurde das Internet medientheoretisch Datenbasierte Demokratie oder datafizierte Prediktivität? 59 und -soziologisch noch vielfach vor der Differenzfolie des one-to-many-Sendeprinzips der Massenmedien betrachtet und dementsprechend gerühmt. Von Bertolt Brecht bis Manuel Castells reichten die Demokratisierungshoffnungen, die sich mit der grundle- genden many-to-many-Strukturierung von Kommunikation verbanden. So stellte etwa ersterer bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhundert fest, dass „[d]er Rundfunk […] der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens [wäre], ein ungeheures Kanalsystem, […], wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu ma- chen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.“ (Brecht 2002 [1932/1927], S. 152) Rund 65 Jahre später schien das Internet genau dieses „Spre- chenmachen“ zu ermöglichen, weshalb Castells zufolge „das Internet durchaus dazu beitragen [kann], soziale Bindungen in einer Gesellschaft auszuweiten, die sich in ei- nem schnellen Prozess der Individualisierung und des Rückgangs öffentlichen Engage- ments zu befinden scheint“ (Castells 2017 [1996], S. 441f). Folgerichtig erkannten die frühen Vernetzungsforschungen tatsächlich eine digitale, mitunter auch demokratische Vergemeinschaftungstendenz der Digitalisierung, die sich gerade gegen den von Ulrich Beck (1986) und vielen anderen analysierten, forcierten Freisetzungsindividualismus der 1980er und 1990er Jahre richtete. Das Internet erschien gewissermaßen wesenhaft als Demokratisierungstool: Sherry Turkle (1995) feierte die freie Wählbarkeit von Iden- titäten im Netz, Howard Rheingold (1993) die Virtual Communities, Yochai Benkler (2006) sah im „Wealth of Networks“ eine wirkliche Alternative zu Kapitalismus und Sozialismus schlummern. Dass dieses Potential sich mittelfristig leider nicht entfalten konnte, heißt nicht automatisch, dass die genannten Forschungen danebengelegen hät- ten; vielmehr fungierte das Internet in der umrissenen Phase in den Akteur-Netzwerken der gerade beginnenden digitalen Vergesellschaftung tatsächlich als emanzipatorische Anthropotechnik. Aber wir sehen eben auch hier wieder: Nichts ist garantiert, auch in der Digitalvernet- zung findet sich keine fest-verdrahtete Demokratiegarantie. Denn was viele Forschun- gen übersehen hatten, ist das, was Robert Metcalfe schon 1980 vorgedacht hat und heute als Netzwerkeffekt bezeichnet wird: die Tendenz einzelner Netzwerke, Monopole zu bilden (vgl. Gilder 1993). Eben diese Tendenz unterläuft die auf Schaltungsebene durchaus vorliegende many-to-many-Strukturierung des Internet; sie zeigt, dass diese eben doch nicht direkt auf die soziotechnische Ebene durchschlägt – und vor allem: Sie hat die Entwicklung von GAFAM ermöglicht. Die im Akronym zusammengefas- sten paradigmatischen Player der Datenökonomie – Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft – haben sich zunächst zu Plattformen entwickelt, die der neuen Mikrosozia- lität der Habitate, der Communities of Projects (Faßler 2005) und zeitlich begrenzten Sozialitäts-Cluster die Vernetzungsinfrastruktur liefern. Und sie haben in diesem Zuge, spätestens mit Beginn der 2000er Jahre, die Steuerungsmöglichkeiten entdeckt, die in 60 Carsten Ochs und Sebastian Sierra Barra den Daten stecken, die die Habitate generieren, wenn sie sich innerhalb ihrer Infra- strukturen organisieren. Shoshana Zuboff (2018) hat die resultierende Datenökonomie unlängst als „Überwachungskapitalismus“ bezeichnet. Bekanntlich ist der Datenhunger der quasi-monopolistischen Plattform-Kapitale aus strukturellen Gründen nicht zu stil- len, denn diese liefern den Stoff für die Vorhersagen, die predictive analytics, mit denen sie ihre astronomischen Gewinne erzielen – und die tendenziell umso besser werden, je mehr Daten zur Verfügung stehen (Baecker 2019, S. 16). Die Dynamik geht dann Zuboff (2018, S. 335 ff.) zufolge dahin, dass die Plattformen nicht nur Vorhersagen über das zukünftige individuelle oder kollektive Schwarm-Verhalten treffen, sondern auch Maßnahmen ergreifen, die das Eintreffen der Vorhersagen wahrscheinlicher machen: aus prediction wird prescription. Die so verstandene Prediktivität scheint sich mittler- weile zur paradigmatischen Machtform digitaler Vergesellschaftung formiert zu haben, die in alle möglichen nicht-ökonomischen Bereiche einsickert; exemplarisch sei auf das sogenannte predictive policing verwiesen oder auf die segensreichen gesellschaftli- chen Wirkungen, die manche mithilfe von datenbasierter Verhaltenssteuerung entfalten möchten (vgl. etwa Pentland 2014). Karen Yeung (2016) hat also ganz recht, wenn sie das „Hypernudging“, dem wir in den datentechnologischen Infrastrukturen der Sozialität permanent ausgesetzt sind, als Modus der Verhaltensregulierung beschreibt: Es geht um Steuerung, mithin um die Steuerung sozialer Prozesse. Aber: War das nicht die Aufgabe von Politik? Mit der Eta- blierung der Plattform-Kapitale hat die Politik, wie wir sie kannten, einen mächtigen Konkurrenten bekommen, einen, der für sich Soziales als lukratives Geschäftsmodell entdeckt hat. Denn das Versprechen der datenökonomischen Prediktivität besteht ja darin, allen politikfrei genau das zu geben, was sie wollen – und dabei besser als die Betroffenen selbst zu wissen, worum es sich handelt (Zuboff 2018, S. 385 ff.). Wenn das dann nicht aufgeht, das individuelle Begehren den Interessen des Schwarms also zuwiderläuft, dann kann es soziodigital zugerichtet (Pfeffer 2021, S. 15) oder sanktio- niert werden – kollektives Verhalten wird dementsprechend, statistisch signifikant, in die richtige Richtung zu lenken sein (Zuboff 2018, S. 511 ff.). Die Möglichkeiten, die sich dadurch zur „Lösung gesellschaftlicher Probleme“ ergeben, sind vielversprechend, man denke nur an die für die Bekämpfung des Klimawandels wohl unumgehbaren Verhaltensänderungen. Ökologien der Kritik sind dann aber eben- so überflüssig wie Theorien, politische Auseinandersetzungen und Interessenkämpfe. Der Einsatz von machine learning-Techniken, wie künstliche neuronale Netze, dürfte die Attraktivität dieses Modells noch erhöhen, denn die datenbasierte Evidenzprodukti- on scheint hier ja direkt an der Realität anzusetzen. Wenn manche das Big Data-basierte „Reality Mining“ dazu nutzen wollen, „to Engineer a Better World“ (Eagle/Greene 2014), dann kann das Versprechen schnell wie eine Drohung anmuten. Denn was hier bedroht wird, ist letztlich Kontingenz, zum einen die der möglichen Erfahrungen (Ochs Datenbasierte Demokratie oder datafizierte Prediktivität? 61 2019), zum anderen aber auch die von Entwicklung als solcher (Pfeffer 2021): Wenn wir alle vordringlich in den selbst-verstärkenden Feedback-Schleifen von algorithmi- schem „reinforcement learning“ agieren, dann werden wir nur noch das, was wir immer schon waren – oder einfach das, was die Schwarmkontrolle für richtig hält. Experimente mit Subjektivitäten und ihrer Transformation werden dann unwahrscheinlicher (Floridi 2017). Als Zwischenfazit und mit Manfred Faßler gesprochen können wir also festhalten: Die Gesellschaftsformate haben es versäumt oder waren nicht in der Lage, den Habitaten, communities of projects, Kurzzeitsozialitäten einen organisierenden infrastrukturellen Rahmen zu liefern. In diese Lücke stießen die Plattform-Kapitale. Sie organisieren dies nun, aber nicht unter zivilisatorischen, sondern unter datenökonomischen Gesichts- punkten (Ochs et al. 2019). Was bedeutet dies nun wiederum für Demokratie? III. Digitale Issues von Demokratie… Unter den Bedingungen der neu entstandenen Macht der Plattform-Kapitale und den fehlenden Infrastrukturangeboten von Seiten heutiger Gesellschaften für die neu ent- stehenden Mikrosozialitäten sah Manfred Faßler ein Neuentwerfen von Demokratie als eine der dringlichsten Aufgaben und Herausforderungen der Gegenwart. Dabei ging es ihm gerade nicht um eine Verteidigung der uns bekannten repräsentativen demo- kratischen Gesellschaftssysteme, sondern um die Anforderung, sich „mit völlig neuen Kapital- und Sozialformationen auseinanderzusetzen“ (Faßler 2020, S. 59). Dieser Neu- entwurf von Demokratie orientiert sich an den Wirklichkeiten digital erzeugter Quer- schnitte durch alle Kulturen und sozialen Systeme und verabschiedet sich von identitär gebundenen Interessengruppen, wie etwa dem „Volk“, ebenso wie von staatlich terri- torialen Ordnungen.1 Die analog geprägten Ordnungssysteme sind nicht mehr in der Lage, die prinzipielle Vernetzbarkeit aller datenfähigen Ereignisse und Aktivitäten zu repräsentieren oder zu legitimieren. In den Diskussionen entwickelte sich die Idee einer „Entwicklungs- oder Infrastruk- turklasse“, einer global verteilten Menschengruppe, die direkt mit den vielfältigen 1 Hier wie an vielen anderen Stellen auch entfaltet sich die Paradoxie zwischen der soziokulturel- len Allgegenwärtigkeit der Kulturtechnik „Digitalisierung“ einerseits und ihrer lokalspezifischen praktischen Ausformung andererseits (vgl. Ochs 2017). Sozial artikuliert sich dies aktuell als zentralistisch organisierte datenökonomische Infrastruktur, der jede kulturelle Form recht zu sein scheint (Kapitol-stürmende US-amerikanische Anti-Demokrat:innen, anti-rassistische Black Lives Matter-Bewegung) – solange diese nur datenökonomisch auszubeuten ist. Wir bedanken uns für den Hinweis auf diese Paradoxie bei Theo Hug. 62 Carsten Ochs und Sebastian Sierra Barra Schnittstellen digitaler Kulturpraxen in Verbindung steht. In begrifflicher Anlehnung an Definitionen der Globalen Mittelklasse – die bis heute als Hoffnungsträger demo- kratischer Entwicklungen gehandelt wird –, Konzepten der Creative Class (vgl. Florida 2003) sowie dem Konzept der Multitude von Michael Hardt und Antonio Negri (vgl. 2003) diskutierten wir die Notwendigkeit, die Entwicklung von Technologien und Infra- strukturen zum Ausgangspunkt demokratischer Neuentwürfe zu nehmen.2 Es ging dar- um, den Fokus auf die „medientechnologischen Basisstrukturen einer global vernetzten Menschheit“ zu legen, und damit auf den „nachgesellschaftlichen Organisations- und Ordnungsbedarf“ reagieren zu können (Faßler/Sierra Barra 2018). Denn der damit an- gesprochene Versorgungs- und Zusammenhangsbedarf ermöglichte es den Tech-Unter- nehmen erst, Soziales als Geschäftsmodell für sich in Anspruch zu nehmen oder, wie Joseph Vogl es ausdrückt, als „unternehmerisches Projekt für sich zu entdecken (vgl. Vogl 2021). Die Suche nach einem veränderten Demokratieverständnis muss von diesen Veränderungen her betrieben werden: Demokratie muss entsprechend „anders gedacht werden, materialer, technologischer, aufwendiger. Demokratie im 21. Jahrhundert muss in der datentechnologischen Verfassung der Welt verankert sein und es jedem Menschen offen lassen, wie viel und welche Verbreitungswege und Datenansammlungen sie oder er nutzt. Sie wird grundsätzlich als konflikthafte Demokratie in geopolitischen Projekt- Netzwerken gedacht werden müssen.“ (Faßler 2018, S. 3) Der Versuch, eine „Entwicklungs- oder Infrastrukturklasse“ zu identifizieren, beruht gleichzeitig auf dem Unbehagen, dass der Begriff der Nutzer:innen bzw. User:innen von den dramatischen Entwicklungen ablenkt – davon, dass entgegen der vermeintlichen Erfahrung und Erzählung, die Plattformen würden mehr Partizipation ermöglichen, ge- nau das Gegenteil passiert: „Der harmlos wirkende Terminus User oder Using steht […] für eine neue Querschnitts- und Universaldisziplin. Sie baut auf einer allgemei- nen Proletarisierung, also einer abhängigen, unfreien, jederzeit künd baren N utzung des Maschinenparks heutiger sozialer Zusammenhänge auf“ (Faßler 2021, o.S.). 2 Zentrales Issue im Rahmen des Neuntwurfs ist der – aktuell in neuerlichem Strukturwandel be- griffene (Seeliger/Sevignani 2021) – Status der digitalen Öffentlichkeit, deren Zustand sich im Spannungsfeld zwischen „Ende der Diskursrationalität“ und „Hoffnung auf eine globale Agora“ bewegt (vgl. WBGU 2019, S. 229-232). Soziologisch und kulturwissenschaftlich ist v.a. der rekur- sive Charakter digitaler Problem-Öffentlichkeit in Rechnung zu stellen: Algorithmen strukturie- ren die Diskurse um Algorithmisierung, Plattform-Kritik zirkuliert in Plattform-Öffentlichkeiten, Machine Learning-Systeme werten die öffentliche Problematisierung von Machine Learning aus usw. (Ochs im Ersch.). Wir danken Nina Grünberg für die Ermutigung, hier die Zentralstellung öffentlicher Diskursarenen anzumerken. Datenbasierte Demokratie oder datafizierte Prediktivität? 63 Nutzer:innen bleiben bei der Programmierung sozialer Zusammenhänge außen vor bzw. werden auf Datenlieferant:innen reduziert. Während Konzepte wie „Internet der Din- ge“ oder „Künstliche Intelligenz“ noch im Produktverständnis von Objekt- oder Ge- räteherstellung präsentiert werden, ohne die damit verbundenen Neuentwürfe sozialer Verfassungen zu diskutieren, stellt die Rede von Sozialen Medien „eine der geschickt platzierten Marketingbomben“ dar (Faßler 2021, S. 257; vgl. auch van Dijck 2013). Diese Überlegungen zu einer sozio-technischen Verfasstheit zukünftiger Demokratie- entwürfe führen den Ansatz einer Anthropologie des Medialen konsequent weiter. Aus- gehend von der damit verbundenen ko-evolutionären Entwicklungslogik zwischen An- thropos und Medien/Technik, stellt sich Demokratie als Methode menschlicher Selbst- organisation im Umgang mit Komplexität dar. Der bio-technologische Systemwechsel muss, so betrachtet, in einem größeren evolutionären Zusammenhang gesehen werden, mit dem auch eine Veränderung des Selbst-Verständnisses einhergeht. Die Aussage, De- mokratie müsse „materialer, technologischer und aufwendiger“ gedacht werden, bezieht sich auch auf dieses ko-evolutionäre Geschehen der Menschwerdung. Das Auftauchen digital-binärer Modi menschlicher Selbstorganisation definierte Manfred Faßler als „In- fogenen Menschen“, der sich molekulargenetisch, informatisch und kognitionswissen- schaftlich neu entwirft (Faßler 2008). Die Nähe zur Akteur-Netzwerk-Theorie, den Science and Technology Studies oder zum Neuen Materialismus war hier wichtiger Referenzpunkt für die Diskussionen. Der Übergang vom „Gesellschaftsmenschen“ hin zu einem „Infogenen Menschen“, das hat Manfred immer wieder pointiert herausgestellt, ist begleitet von Fragen danach, warum Menschen sich auf das Experiment mit abstrakten und indirekten Versorgungssyste- men eingelassen haben und dies weiterhin tun. Die Entstehung exosomatisch vernetzt- agierender digitaler Datenkörper, die weder ein Abbild noch Kunstkörper sind, sondern „fortlaufend in biochemische, emotionale und konsumistische Befindlichkeiten“ ein- greifen, dienen bei den Entwürfen zu einer „Entwicklungs- und Infrastrukturklasse“ als Orientierungspunkt. Mit Blick auf Demokratie werfen diese Überlegungen zahl- reiche grundsätzliche Fragen auf: Wie lassen sich Demokratie-Kodierungen als Alter- nativen zum drohenden User-Konformismus programmieren? Diese Frage gewinnt an Relevanz, wenn man bedenkt, dass man unter Human-Comptuer-Interaktion (HCI) eine handelnde Einheit versteht, die nicht mehr der klassischen Subjekt-Objekt Dichotomie folgt. Wie müssten entsprechend demokratische Produkte und Prozesse aussehen, und wie lassen sich entwicklungsoffene oder evolutionäre Designs denken? Die Rettung der Kontingenz durch ein Neuentwerfen von Demokratie kann ents prechend auch als Rettung der Entwicklungsoffenheit eines Menschen verstanden werden, der sich, mit Dietmar Kamper (vgl. 1973, S. 26) gesprochen, gerade wegen dieser O ffenheit nicht auf den Begriff bringen lässt. 64 Carsten Ochs und Sebastian Sierra Barra IV. Schluss An diesem Punkt brach unsere gemeinsame Diskussion im April 2021 unverhofft ab, nicht jedoch, ohne uns einen wertvollen Frageraum zu vermachen, den wir hier nun resümierend und natürlich nur skizzenhaft darstellen wollen. Während wir uns hinsicht- lich der Identifizierung der Problematiken weitgehend einig waren, waren wir uns bzgl. unserer Einschätzung möglicher Antwortoptionen nicht immer so sicher. Dies gilt zu- nächst grundlegend in der Frage der Vergangenheit, oder handfester gesprochen, bzgl. der möglichen Rolle hergebrachter Institutionen, allen voran des unter Druck geratenen Gesellschaftsformates selbst. Inwieweit diese variierend neu-erfunden werden könnten, oder doch als grundlegend obsolet anzusehen wären, darüber gingen die Meinungen z.T. auseinander. Und dies gilt dann im Weiteren auch für damit verbundene, und teilweise oben bereits angesprochene Fragen. Akzeptiert man die eher metaphorisch als ortho- dox gemeinte Analogie zum Industriekapitalismus, dann wäre etwa zu fragen, wie die „Trägerklasse“ einer zivilisatorischen Demokratisierung digitaler weltweiter Sozialität zusammengesetzt sein könnte, aus welchen Menschengruppen bspw. – und ggf. auch: aus welchen Nichtmenschenkomponenten. Welche Verfahren könnten einer Demokrati- sierung der Aushandlungsprozesse digitaler Vergesellschaftungszusammenhänge Form verleihen, wer könnte diese entwickeln und operativ ins Werk (und auch durch-) setzen, und welche Infrastruktur würde hierfür benötigt? Gemeinsame Antworten auf diese Fragen konnten wir leider nicht mehr entwickeln. Aber indem wir unsere zukünftige Denk- und Forschungsarbeit auch diesen Fragen widmen, wollen wir das akademische und politische Erbe, das Manfred Faßler uns hin- terlassen hat, in Ehren halten. Wir hoffen, dass der große Anthropologe des Medialen auf diese Weise trotz schmerzlich gefühlter körperlicher Abwesenheit dennoch weiter- hin die Zukunft prägen wird – und auf diese Weise einen Beitrag zur Rettung der Kon- tingenz leistet. Literatur Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Baecker, Dirk (2019): Intelligenz, künstlich und komplex. Berlin: Merve. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Benkler, Yochai (2006): The Wealth of Networks. How Social Production Transforms Markets and Freedom. New Haven, London: Yale University Press. Brecht, Berthold (2002) [1927/1932]: Radio – eine vorsintflutliche Erfindung? Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks. Über Verwertungen. 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This article is dedicated to the question of the role of political institutions, here using the example of the European Union, for a more sustainable development in the context of digitalisation. Below is an interview with Sy Taffel, an experienced researcher who studies the social and environmental effects of digital technologies at Massey University in Aotearoa-New Zealand. The interview was conducted by Nina Grünberger. She teaches media education on the connection between education, digitality and sustainability. Intro There is currently a lot of discussion about the design of a more sustainable digital world. The arguments range from scientific research to political statements and rarely to loud shouts that have more the character of “greenwashing”. This interview by Nina Grünberger and Sy Taffel takes a closer look at the relationship between digitality and sustainability. It is preceded by a brief introduction by Sy Taffel to the interconnectedness of digitality and sustainability. It then focuses on the role of political institutions in a transformation towards more sustainable development. In particular, the role of the European Union and its policies are discussed. Links are provided in the footnotes to the interview to support easy retrieval of the material. Nina Grünberger is a media educator and researches and teaches on the close connection between digitality and sustainability in educational contexts. In her papers and talks she often addresses questions of responsibility and normative settings. Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 68 Sy Taffel & Nina Grünberger Sy Taffel is an expert in digital media ecologies and has been researching and teaching at Massey University in Aotearoa-New Zealand for many years. One of his latest works is discussing the relationship of Data and Oil1. The Conversation Nina Grünberger: At the conference “Media Knowledge Education 2021” in Innsbruck/ Austria, we discussed intensively about digital ecologies and the role of digital technologies for our environment from an interdisciplinary perspective. You have been working on the topic of digital media ecologies and the close interconnection between the development and use of digital technologies and the development or change of certain natural phenomena for a long time. In your scientific contributions, you always argue for more ecologically sustainable action and thus for more environmental and climate protection. But what do you think is urgently needed to be able to implement a more sustainable media practice in dealing with digital technologies? Sy Taffel: Before addressing the last part of this question, I think that it’s useful to take a step back to consider some of the key issues here. While yes, I do think we need to think about what a sustainable digital ecology looks like, before we get there, we need to address what we mean by sustainability. Basically, when discussing sustainability, we’re talking about systems that are able to endure over long periods of times without becoming systematically degraded. It doesn’t necessarily imply something that is infinitely sustainable, as we know that eventually the sun will run out of hydrogen within its core and become a red giant that will likely envelop this planet and extinguish all life on it. But this isn’t forecast to happen for about five billion years. Whereas when we’re talking about contemporary ecological crises, such as climate change, the sixth mass extinction of life on earth, chemical pollution, disruptions to planetary flows of nitrogen and phosphorus and so on, we are talking about the degradation of the ecological systems upon which life depends happening in the space of a couple of centuries, which geologically speaking is the blink of an eye. So, it isn’t a binary opposition between things that are and are not sustainable, or a choice between stasis and change, but a case of the ecological changes that are occurring as a result of human activity being too fast for ecosystems to be able to adapt to them, and consequently those ecosystems becoming systematically degraded as a result of human actions. 1 Taffel, S. (2021). Data and oil: Metaphor, materiality and metabolic rifts. New Media & Society. Abgerufen von https://doi.org/10.1177/14614448211017887 [Stand 15-07-2022]. Politics, Sustainability and Post-Digitality 69 However, I think it’s important to emphasize that sustainability alone is not enough when thinking about a desirable society. We can look back at all kinds of societies that existed in the past, or which we can imagine existing in the future which are environmentally sustainable but are also deeply unjust and inequitable. This is especially the case looking at possible futures with advanced technologies that can subdue dissenting elements of the populace. So, I think it’s important to emphasize that we need technologies, cultures and societies that are explicitly designed to be sustainable and just, and this is of urgent importance because the systems that we have currently are neither of those things. In terms of outlining some of the problems with digital technology, sustainability, and equity, it’s worth emphasizing that there are a range of issues that traverse numerous spatial and temporal scales. These include the overall trajectory of the rapid growth in materials and energy that are needed for digital technologies and the form of ecologically unequal exchange that describes both the flows of raw materials and energy from the global periphery towards the core, and how the core profits from selling technologies, infrastructure and services that use those materials back to the periphery. Equally though, there are a huge number of far more localised harms associated with every stage of digital production, from the extraction industries that remove matter from the earth, through the purification and beneficiation of that matter, the manufacturing of particular components and devices, the transportation and logistical systems that are required for these globalised industries, through to the end-of-life disposal for most digital equipment, most of which is either sent to landfill or shipped for artisanal recycling in regional centres in the global periphery such as Agbogbloshie in Ghana, where local people, workers and environments are poisoned by toxic materials within microelectronics or by particular processes that are used to reclaim materials, such as burning plastic casing of wires. Some of these processes, practices and materials will continue polluting environ- ments for significant durations, like the 18 million tons of plastics that are used in microelectronics each year which are not biodegradable, they fragment into increas- ingly small pieces, eventually becoming micro- and nano-plastics which have been found everywhere from the top of Mount Everest to the deepest oceanic trenches, which attract persistent organic pollutants, bioaccumulate throughout the food chain and function as endocrine disrupting chemicals. Whereas this will impact ecosystems for thousands of years, many of our digital technologies are deliberately designed to become obsolete and/or fail within a couple of years, as a way to increase the pace of unsustainable technological consumption. Highlighting this massive tempo- ral discrepancy, between the speeds of digital capitalism and earth’s ecosystems is important, because it indicates that these problems are not just specific products or 70 Sy Taffel & Nina Grünberger materials, but that the underlying political economic system of globalised capitalism is itself a key structural problem. Often when discussing these issues, the initial reaction people have is to ask ‘what can I buy to change this’, which assumes that the most effective way of dealing with these problems is through an ethical form of individualised consumption, which itself indicates a belief that self-regulating markets are an effective way of producing social and environmental justice. Unfortunately, this is often an ineffective way of trying to deal with many of these problems. While there are niche ethical devices available such as the Fairphone2, which are designed to be modular, repairable, and longer lasting, where the manufacturers have put in place safeguards to ensure they’re not using conflict minerals and so on, this is a vanishingly small proportion of the overall smartphone market, far less than 1 % globally. Equally, much of the digital infrastructure that smartphones are reliant upon, from the data centres that host digital content, the fibre-optic cables through which data is transmitted, the GPS satellites that are used for locational services and so on is stuff that no consumer is ever going to purchase. While changing cultural expectations about upgrade culture and repairability is useful, individual consumer choices cannot achieve the same scope of action as national and international regulation that is designed to protect people and environments. Ultimately, what we really need are far more robust and enforceable legal frameworks that are designed to make technology sustainable and just, rather than what we have, which is neoliberal, light-touch regulation that has facilitated a technology industry that has been quite open about its ethos of ‘move fast and break things’. Among the things currently being broken by digital capitalism are the ecosystems that life depends upon. Nina Grünberger: You pointed out that there is a need for a political and legal framework for sustainable development in the context of the usage and further development of digital technologies systems. What would such a framework look like, and does it already exist? Sy Taffel: In terms of political frameworks around sustainable development more broadly, there is the UN Sustainable Development Goals (SDGs)3 which has 17 aspirational goals and 169 targets that aim to provide a common plan for a sustainable, prosperous, and equitable future. Importantly, these goals go beyond environmental sustainability to think about what a desirable future looks like. While many of the 2 https://www.fairphone.com/de/ [Stand vom 15-07-2022]. 3 United Nations (2015). Sustainable Development Goals. United Nations Sustainable Development. Abgerufen von https://www.un.org/sustainabledevelopment/sustainable-development-goals/ [Stand: 15-07-2022]. Politics, Sustainability and Post-Digitality 71 goals, ending poverty, ending hunger, providing clean water and sanitation for all, and taking urgent climate action might not immediately conjure up images of digital technology, others, such as building resilient infrastructure and sustainable industry, sustainable cities and sustainable patterns of production and consumption potentially outline strategies for fundamentally rethinking how digital technologies should function that would be hugely beneficial if they were enacted. These ambitious goals which were adopted by the UN general assembly in 2015 are supposed to be enacted by 2030, meaning that in 2022 we are around halfway through the timeframe for actioning these goals. The obvious issue when talking about the SDGs though, is that, unfortunately, since 2015 little progress has been made on many of the ambitious targets. Indeed, the Covid 19 pandemic has led to the first rise in what the UN described as extreme poverty in a generation, with somewhere around 120 million people around the world being pushed back into extreme poverty during 2020. Despite Covid 19 causing a 5 % drop in global greenhouse gas emissions in 2020, the rebound during 2021 means that last year’s global greenhouse gas emissions were higher than those from 2015, so despite the need for urgent action and a global framework which explicitly recognises this, things have not improved, and in many cases they’ve actually gotten worse. The problem here is not that the framework itself is unambitious or unachievable, but firstly that it provides a series of aspirational targets that are voluntary, rather than legally binding or enforceable, and secondly the SDGs largely ignore questions around the inequitable power relations and systemic oppression associated with capitalism. In order to address the second issue, it’s absolutely vital that the frameworks that are put in place for sustainability (leaving aside the critiques of development as a term which often suggests that the world should aspire towards American or European levels of consumption, which are, of course, deeply unsustainable) are mandatory, enforceable, and that they contain punitive measures which are sufficiently harsh, so that non-compliance is not an attractive or viable option. Indeed, what we see with the SDG’s is similar to the problem that we see with the Paris agreement around climate change4. Although nations have signed up to an agreement which describes itself as ‘a legally binding international treaty on climate change’ that seeks to limit warming to less than 2° and preferably no more than 1.5° C, the mechanism for achieving this is voluntary nationally determined contributions (NDCs), which allows countries to decide for themselves what kinds of greenhouse gas emission reductions they should aim for, and the result has been countries both delaying urgently needed action in favour of doing things in the future (primarily 4 https://unfccc.int/process-and-meetings/the-paris-agreement/the-paris-agreement [Stand 15-07- 2022]. 72 Sy Taffel & Nina Grünberger when the current elected governments will no longer be in power) and relying on speculative and unproven future technological innovations, or international carbon trading schemes to provide most of those emission reductions. While the processes around measuring and updating NDC’s is legally binding, there is no legal obligation for nations to make particular emissions reductions or to meet their own voluntary targets. Again, we see that voluntarism is ineffective, and there are no shortage of examples to demonstrate this. Nina Grünberger: In another interview you said that you see the European Union in a pioneering role here. Why? Sy Taffel: There are a few reasons why the EU is a key actor when it comes to regulation and digital technology. Part of this relates to questions around power and money, as a block of high-income nations that are home to around 450 million people the EU has enough political-economic influence to meaningfully affect the actions of global corporations. Compare this with where I’m based now, in Aotearoa New Zealand, where there are only 5 million of us. If our government were to unilaterally produce legislation designed to significantly alter the way that corporations produce digital devices, those corporations would just not sell things here because it’s such a tiny market. Consequently, if we want to affect those kinds of changes, we have to look towards international agreements, which are often much harder to put in place. Of the other markets that are large and wealthy enough to meaningfully regulate the big digital technology corporations, the US for the most part doesn’t seem that interested because they’re mainly American corporations, although there are some signs this might be changing in certain ways, such as with the Federal Trade Commission’s anti-trust case against Meta/Facebook. China is another potential actor in this space, but while some of their recent actions such as banning bitcoin mining suggest they may be beginning moving in a different direction, for the most part their interest has been in building and promoting Chinese alternatives to American digital platforms rather than fundamentally reorientating the ways that platforms should operate. Consequently, in the past the EU has consistently taken the lead in trying to produce legislation to curb the worst harms associated with digital technologies. A good example of this when we’re talking about sustainability is RoHS5, the restriction of hazardous substances in electrical and electronic equipment directive, which was adopted in 2003 and has since been updated in 2011 and 2015. This directive effectively bans the use of many of the most toxic and harmful substances that were 5 Directive 2011/65/EU of the European Parliament and of the Council of 8 June 2011 on the restriction of the use of certain hazardous substances in electrical and electronic equipment, (2021). Abgerufen von: http://data.europa.eu/eli/dir/2011/65/2021-11-01/eng [Stand: 15-07-2022] Politics, Sustainability and Post-Digitality 73 previously ubiquitously used within information and communication technologies, including lead, mercury, cadmium, hexavalent chromium, Polybrominated biphenyls (PBB) and polybrominated diphenyl ether (PBDE). The 2015 amendment banned four additional materials, all of which are phthalates that are primarily used as plasticisers, substances that are added to synthetic polymers (plastics) to increase particular properties such as flexibility, durability or transparency. This has been a really effective piece of legislation which means that today many of substances that used to be found in most digital technologies have been removed and it’s something that we should celebrate as a major success in terms of reducing harm. RoHS has been successful in changing the behaviour of technology corporations, in part, because it addresses toxicity at the design and production stages, rather than allowing toxic products to be produced and then hoping that they will be responsibly treated at the end of their lives. It’s worth noting that when this directive was being proposed and discussed there was significant criticism and pushback from industry, which argued that doing things like removing lead from solder and mercury from the lamps which backlight LCD screens would have adverse effects on the quality and longevity digital devices, and that consequently this would significantly increase the manufacturers’ costs, with those increases then being passed on to consumers, with the likely effect that this would widen digital inequalities. Of course, none of this actually came to pass, but it is revealing to contrast these corporations’ rhetoric around innovation and sustainability with their behaviour here, which demonstrated a real resistance to change and innovation when it came to preventing their products from poisoning people. Nina Grünberger: Which of the European Union’s political and legal directives or programmes do you think are particularly important for a more sustainable system of digital technologies and why? Sy Taffel: Alongside existing directives such as RoHS6 and GDPR7 (the latter of which was primarily designed to address social rather than environmental harm, but was significant in terms of being the first piece of legislation to try and to meaningfully protect citizens data and privacy through implementing privacy by design - despite criticisms that this was quite an individual focused, neoliberal piece of legislation 6 Directive 2011/65/EU of the European Parliament and of the Council of 8 June 2011 on the restriction of the use of certain hazardous substances in electrical and electronic equipment, (2021). Abgerufen von: http://data.europa.eu/eli/dir/2011/65/2021-11-01/eng [Stand: 15-07-2022] 7 General Data Protection Regulation, (2016). Abgerufen von: http://data.europa.eu/eli/ reg/2016/679/2016-05-04/eng [Stand: 15-07-2022]. 74 Sy Taffel & Nina Grünberger and that most technology corporations simply transgressed the rules that were put in place, the fact remains that again it was the EU that took the lead in trying to regulate harm resulting from digital technologies), the suite of initiatives and legislation that are currently being enacted which has the potential to significantly improve the sustainability of digital technologies is the European Green Deal8. This is an enormously broad ranging set of proposals, many of which don’t directly relate to digital technology, but do things like set out EU wide reductions in greenhouse gas emissions (50 % of 1990 emissions by 2030 and net zero emissions by 2050), aiming to end deforestation and promote the restoration of soil health. One of the key pieces of legislation with regards to digital technology within the European Green Deal is the Circular Economy Action Plan9, which lists electronics and ICT as a key area, and which will be the focus of a circular electronics initiative designed to promote longer product lifetimes by introducing regulatory measures around energy efficiency, durability, maintenance, reuse and recycling. This includes making digital technology a priority sector for implementing right to repair legislation, will include the right to update obsolete software, which is one of the ways that technology corporations currently seek to persuade consumers to upgrade functional devices by rendering them unupgradable and obsolete. More broadly, the circular economy action plan will aim to reduce greenwashing and planned obsolescence in electronics and electrical equipment. The plan also outlines regulation for the introduction of common charging cables and standards to prevent manufacturers from using their own proprietary connections, such as Apple’s Lightning connector, which encourages a totally unnecessary and wasteful proliferation of accessories such as chargers and cables. The proposals also speak to trying to improve the treatment of waste electrical and electronic equipment, while the Basel Convention10 outlaws the exportation of toxic waste (including electronics equipment) from high income nations (like the EU) to less affluent nations this is recognised as not being well enforced at present. 8 European Commission. (2019). The European Green Deal. European Commission. Abgerufen von https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/european-green-deal-communication_en.pdf [Stand: 15- 07-2022] 9 A new Circular Economy Action Plan For a cleaner and more competitive Europe, (2020) (testimony of European Commission). Abgerufen von: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/ TXT/?qid=1583933814386&uri=COM:2020:98:FIN [Stand: 15-07-2022]. 10 Europäische Gemeinschaft. (1993). Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung. Abgerufen von: https://eur-lex.europa.eu/DE/legal-content/summary/basel-convention-on-the-control-of- transboundary-movements-of-hazardous-wastes-and-their-disposal.html [Stand 15-07-2022]. Politics, Sustainability and Post-Digitality 75 Nina Grünberger: In media education, the debate about structures of digital capitalism and its implications for educational contexts is becoming increasingly intense. Do you see political actors as having a responsibility here, and if so, in what respect? And what role do educational institutions and educational science play? Sy Taffel: The first part of this question is quite complicated. On the one hand politicians are elected to serve their electorates, to do what is morally and ethically right, to act as leaders who take difficult decisions that are designed to protect their citizens and the environment. On the other hand though, those politicians are elected through a democratic process where they outline a series of positions on important issues and the demos then vote for those politicians whose electoral platforms most closely resonate with their own views. One of the key problems with contemporary democracy is that most of those politicians standing for election simply are not honest when laying out what they intend to do. If that was the case, we would have politicians routinely campaigning on a platform that said ‘we don’t care about the future, we don’t care about the environment and we intend to continue with a suicidal model of business-as-normal that puts short-term economic profits which will overwhelmingly accumulate with the ultra-rich ahead of long-term sustainability or social justice despite all the available evidence indicating that this will lead to ecological catastrophe and immense suffering.’ Of course, if they did this, they wouldn’t get elected, so basically, they lie. This poses a real problem for any notion of a rational, representative democracy and public sphere because it’s impossible to meaningfully debate the differences in political platforms when everyone says ‘of course we’re in favour of sustainability and equity and of course we will make life better for everyone if you elect us’ especially when those candidates’ actions clearly contradict their words. In this respect the actions of groups like Friday for Future and Extinction Rebellion are immensely important in highlighting the totally hypocritical and vacuous statements made by politicians and business leaders whereby today, just about everyone, including fossil fuel corporations, are claiming to be in favour of sustainability. Part of this has also been a renewed focus on capitalism, digital or not, as being part of the problem rather than being the solution to contemporary ecological crises. The fact that, as people like David Harvey have demonstrated, capitalism requires year-on- year compound economic growth in order to function, means that in the long term it almost certainly incompatible with sustainability. But when normalised political discourse promises everything to everyone, there is little prospect of success in campaigning on the basis that numerous thresholds around planetary boundaries for a sustainable future have already been breached, and that wealthy nations who have contributed the vast majority of environmental harm should take the largest steps to redressing those ecological harms while also compensating those in the global 76 Sy Taffel & Nina Grünberger periphery, who often experience those harms most acutely while contributing little to their existence, and so those of us living in high-income nations need to learn to redistribute wealth more equitably and do more with less. Part of the issue, then, is what is often referred to as post truth politics. However, I don’t think it’s helpful to separate politics or public sphere debate from the wider cultural and economic context that this occurs within, which is one where advertising is ubiquitous. While some of the literature around surveillance capitalism usefully outlines some of the problematic new tactics that are used by Google and Facebook for digital marketing and advertising, from my perspective the problem is less the specific digital tactics, so much as the ubiquitous scale at which advertising occurs today. Some industry estimates suggest that people living in cities in OECD nations see somewhere between 6000-10,000 adverts every day. The overall effect of this is not that those people believe everything they encounter in the daily onslaught of messages contained in those advertisements, in fact, quite the opposite happens, we become conditioned to expect communications not to be truthful, for them to grossly distort any underlying reality, and this parallels what we see with political communication. Alongside this though, the scale of contemporary consumerism and commodification within wealthy nations, which is totally unsustainable, becomes normalised through this daily bombardment of advertisements. So, when we ask what needs to be done to address this situation, part of the discussion ought to be contemplating how we can massively constrain and limit the scale of the advertising industry. Unfortunately, a lot of what we see in many places around the world is that this highly commodified digital culture is something that is increasingly also present within schools and education. Whether it’s teachers wanting to use engaging educational video content that is hosted on YouTube, so their students end up watching advertisements in class, or schools using tools like Google Workspace for Education, which is a way of trying to get children hooked into the Google ‘ecosystem’, what we increasingly find is that digital platforms and the profit driven commercial culture they are part of, being normalised, engaged with and taught within formal educational contexts. If we want education to be able to meaningfully critique digital capitalism, it seems important that this is something that educational institutions and educators need to find ways of challenging. At the very least this should include introducing students to Linux, Firefox, Libre Office and other free and open source alternatives to corporate computing tools and demonstrating that there are commons-based, cooperative ways of using computational technologies as well as corporate tools. Politics, Sustainability and Post-Digitality 77 Nina Grünberger: If you had the chance to further develop the above-mentioned framework conditions and political guidelines together with political actors, such as the European Union, what new emphases would you set? Where should the journey go? Sy Taffel: While the EU Circular Economy Action Plan11 is potentially a really useful way of challenging present harms that arise from things like planned obsolescence and international waste flows, the way it frames digital technologies is still hugely problematic. The plan’s introduction argues that: ‘Digital technologies, such as the internet of things, big data, blockchain and artificial intelligence, will not only accelerate circularity but also the dematerialisation of our economy and make Europe less dependent on primary materials’. Now for anyone familiar with the literature exploring the materiality of digital technology, these claims are patently nonsensical. While there is a popular discourse that equates digital technology with dematerialisation, in actuality, digital technologies require enormous quantities of diverse materials, many of which are not located in significant quantities within Europe. Far from evidencing dematerialisation, since 1990, when digital technologies have exploded in popularity, the global material footprint of society has grown faster than economy. Rather than dematerialisation, we see the opposite, society uses more matter per dollar (or euro) of GDP (Gross Domestic Production) than thirty years ago. While some European countries have reduced their domestic material footprint during this period, this is not evidence of dematerialisation, but of the globalisation and off-shoring of heavy industry alongside processes of ecologically unequal exchange. Furthermore, while a circular economy can absolutely help to reduce waste and all the social and environmental harms that this produces, within a capitalist economy which requires year-on-year growth, it is very hard to see how circularity can resolve the problem of always needing more materials. It might reduce the need for ‘virgin’ materials, but economic growth has so far always correlated with material usage, so long as that correlation holds, economic growth will always require more materials in total. As a result, if we are interested in a sustainable society, one that is equitable and which doesn’t degrade the capacity for life in the future, we not only need to engage with the materiality of digital technologies, but we need to seriously question the growthist model that underpins capitalism. If we don’t, we are effectively deciding to continue sacrificing the future to fuel the inequality and inequity of the present. 11 A new Circular Economy Action Plan For a cleaner and more competitive Europe, (2020) (testimony of European Commission). Abgerufen von: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/ TXT/?qid=1583933814386&uri=COM:2020:98:FIN [Stand: 15-07-2022]. Visuelle Impulse zu ökologischen Diskursen – Bilderstrecke Christoph Pirker Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 80 Christoph Pirker Visuelle Impulse zu ökologischen Diskursen – Bilderstrecke 81 82 Christoph Pirker Visuelle Impulse zu ökologischen Diskursen – Bilderstrecke 83 84 Christoph Pirker Visuelle Impulse zu ökologischen Diskursen – Bilderstrecke 85 86 Christoph Pirker Kritische Positionen und Kontroversen Modalitäten von Kritik in Praktiken des Urban Sensing Daniela van Geenen & Timo Kaerlein Zusammenfassung Der Beitrag diskutiert das Potenzial bürgerwissenschaftlicher Urban Sensing-Initiativen mit- tels kritisch-technischer (Daten-)Praktiken sowohl zu einem besseren ökologischen Verständ- nis urbaner Dynamiken als auch zur Reflexion sensorbasierter Datenerhebung beizutragen. Gleichzeitig sind die Politiken, Rhetoriken, Methoden und epistemologischen Voraussetzun- gen des Urban Sensing stets dem Risiko ausgesetzt einem reduktionistischen Verständnis der datenbasierten Stadt Vorschub zu leisten. Am Beispiel der niederländischen Projekte Meet je Stad und Snuffelfiets zeigen wir, wie unterschiedlich gewichtete Beteiligungs- und Gestal- tungsmöglichkeiten die Nachhaltigkeit der Unternehmungen beeinflussen und verschiedene Arten urbanen Wissens produzieren. Zwischenergebnisse aus einer laufenden ethnografischen Feldstudie legen nahe, dass die soziomaterielle und organisatorische Ausgestaltung von Urban Sensing-Projekten mit darüber entscheidet, ob sensorbasiertes Wissen in politische Hand- lungsfelder Eingang finden und auf diesem Wege urbane Mensch-Umwelt-Relationen neu ausrichten kann. Einleitung Urban Sensing – die kontinuierliche Erfassung und Vermessung des städtischen Raumes mittels Sensortechnologien – kennt zwei hauptsächliche Ausprägungen: eine infra- strukturelle Herangehensweise und einen kollektiven, bürgerwissenschaftlichen An- satz. Hierbei kommen (Verknüpfungen von) diverse(n) Sensoren zum Einsatz, die zur Produktion von vielfältigem Umgebungswissen beitragen, wobei es häufig explizit um Datener hebung zu drängenden Umweltfragen geht. Über diese Sensoren werden zum Beispiel Daten zur lokalen Luftqualität (wie die urbane Feinstaubbelastung), zur Be- schaffenheit des Bodens oder der Infrastruktur und der Mobilität diverser Verkehrs- teilnehmerInnen generiert, abzielend auf ‚gesündere‘ und ökologischere Arten der Fortbewegung wie das Fahrradfahren. Solche feinmaschigen, im besten Falle nicht nur Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 90 Daniela van Geenen & Timo Kaerlein orts-, sondern auch situationsbezogenen Daten finden zwar auch in wissenschaftlicher Forschung Anwendung, gewinnen aber zunehmend verwaltungstechnische und politi- sche Relevanz, zum Teil in Projekten, die BürgerInnen auf verschiedene Arten aktiv einbeziehen. Zwei solcher Projekte im niederländischen Kontext, wo Urban Sensing schon vielfältig angewandt wird und etabliert ist, werden im Rahmen unseres Beitrags als empirische Beispiele erörtert, verortet und verglichen, wobei wir die Frage stellen, welche Formen von Kritik solche Projekte möglich machen, aber auch erfordern. Bei infrastrukturell orientierten Projekten kann es sich einerseits um großflächige Daten- sammlung durch die Nutzung vernetzter mobiler, sensorbasierter Geräte wie zum Bei- spiel Smartphones handeln (vgl. Ghahramani et al. 2020; Sun et al. 2017). Andererseits kann es um Projekte gehen, die auf in die Umgebung eingebetteten Sensortechnologien basieren. Genutzt wird deren kontinuierliche, automatische Erfassung der Umgebung in Interaktion mit ihren BewohnerInnen unter anderem zu administrativen Zwecken, wie es in sogenannten ‚Smart Cities‘ der Fall ist (Willis et al. 2020). In beiden Fällen findet diese automatische und oftmals für NutzerInnen nicht einsehbare und/oder nach- vollziehbare Datenerhebung in Kombination mit algorithmischer Datenverwertung und -analyse statt (Andrejevic/Burdon 2015). In diesem Beitrag richten wir unser Augen- merk dagegen auf Projekte, in denen BürgerInnen selbst Sensortechnologien anwenden, dadurch zu deren (Weiter-)Entwicklung beitragen und Sensing-Praktiken aktiv (mit)ent- wickeln, um ihr Lebensumfeld zu vermessen, zu beobachten und zu überprüfen. Eines der bekannteren bürgerwissenschaftlich angelegten Projekte ist das auf mehrere Jahre angesetzte britische Forschungsprojekt CitizenSense von Jennifer Gabrys und Kolle- gInnen, das 2013 anlief (Gabrys 2022). Solche Projekte setzen intensive Feldarbeit ein, um zu untersuchen, wie Citizen Sensing nicht nur zur Bereitstellung von „Crowd-Sour- cing“-Datensätzen dienen, sondern auch zur Entstehung neuer Formen von Umwelt- bewusstsein und -aktivismus beitragen kann (ebd.). Auch unsere Fallstudienbeispiele kommen aus laufender ethnographischer Forschungsarbeit zu Urban Sensing-Initiati- ven. Über die Frage hinaus, welche kritischen Potenziale Praktiken des Urban Sensing mit Blick auf umweltbezogenes politisches Handeln haben können, interessiert uns vor allem, wie bürgerwissenschaftliche Ansätze des Urban Sensing zu neuen Formen des technisch-digitalen Bewusstseins und geeigneten Formen kritischer Praxis beitragen können, inklusive kritischer Datenpraxis. Einerseits sind, wie wir im Anschluss an die Einleitung diskutieren werden, die von Urban Sensing-Initiativen verwendeten Datenpraktiken häufig von denselben erkennt- nistheoretischen Prämissen geprägt, die auch Smart-City-Agenden zugrunde liegen: Die Stadt wird als ein Informationsraum begriffen, dessen einzelne Bestandteile identi- fiziert, vermessen und iterativ optimiert werden können (vgl. Gabrys et al. 2016, Powell 2021). Urban Sensing-Kollektive erliegen nicht selten der Faszination von Datenvisua- lisierungen, deren Interpretation weitergehende datenpraktische Expertise voraussetzt. Modalitäten der Kritik in Praktiken des Urban Sensing 91 Dies kann zur Folge haben, dass die Datenförmigkeit des generierten Wissens unter der Hand zur Etablierung von Wissenshierarchien führen kann, in denen beispielsweise das verkörperte implizite Wissen von AnwohnerInnen abgewertet wird (vgl. Mattern 2021). Andererseits haben die von uns untersuchten niederländischen regionalen und kommunalen Behörden damit begonnen, ‚smarte‘ Infrastrukturen zu entwickeln oder in deren Entwicklung zu investieren, die als ‚living labs‘ unter aktiver Beteiligung von An- wohnerInnen geplant werden. Außerdem sind hier einige gut organisierte und nachhal- tig gestaltete BürgerInneninitiativen zum Thema Urban Sensing zu finden. Ausgehend von diesen Fallstudien werden wir aufzeigen, wie Praktiken des Urban Sensing mit verschiedenen Formen und Modalitäten von Kritik verwoben sind. Urban-Sensing-Kol- lektive positionieren sich oft als kritische AkteurInnen, die das vorhandene statistische Wissen über Umweltfaktoren in Frage stellen, indem sie Bottom-up-Ansätze anwenden, um Gegendaten zu Themen wie Biodiversität, Nachhaltigkeit, Gesundheitsrisiken und urbaner Lebensqualität zu generieren. Diese Daten geben Anlass zu kollektiver Sorge – sie bilden die Grundlage gemeinsamer „matters of concern“ und „care“ (Latour 2004, S. 232, unter Bezugnahme auf Donna Haraway) – und ermöglichen eine Umverteilung der kritischen Aufmerksamkeit auf lokale Themen und Anliegen. Die Praktiken dieser Kollektive werfen die Frage auf, wie eine ‚kritisch-technische Praxis‘ (Agre 1997) im Urban Sensing Gestalt annehmen kann und welche Möglich- keiten dies gleichermaßen für Forschung und Politik bietet. Kritisch-technische Praxis im Sinne Philip Agres bezeichnet eine situationsbezogene Form der Kritik, die wesent- licher Teil technischer Praxis ist. Wir unternehmen den Versuch, Agres Verständnis von kritisch-technischer Praxis vor dem Hintergrund des Urban Sensing zu aktualisieren und zu erweitern. Dabei richten wir unser Augenmerk gezielt auf bürgerwissenschaft- liche Projekte, in denen Sensoren als zentrale Wissenstechnologien eingesetzt – und idealerweise auch hinterfragt – werden, um die öffentliche Aufmerksamkeit für Um- weltthemen zu sensibilisieren. Im Zuge dessen stellen wir einen Bezug her zwischen Agres und Bruno Latours (2004) Verständnis von Kritik als inhärent soziomateriell und Teil eines kollektiven und vielgestaltigen Aushandlungsprozesses von öffentlichen An- gelegenheiten. Abschließend diskutieren wir Praktiken des Urban Sensing in einer erweiterten Pers- pektive vor dem Hintergrund eines ‚Umweltlich-Werdens‘ von Kritik (vgl. Hörl 2018). Diese Diskussion dreht sich um die Frage, ob und wie Praktiken des Urban Sensing trotz (oder wegen) ihrer epistemisch-materiellen Voraussetzungen zu einer immanenten Kritik des ‚environmentalitären‘ Macht-Wissen-Komplexes beitragen können. 92 Daniela van Geenen & Timo Kaerlein Urban Sensing im Kontext der verdateten Stadt Bevor wir uns der Frage widmen, welche Potenziale Praktiken des Urban Sensing als kritisch-technische Praxis im Sinne Agres entfalten können, ist es uns wichtig zu be- tonen, dass Urban Sensing nicht isoliert von der seit einigen Jahren geführten Debatte um die datengesteuerte ‚Smart City‘ diskutiert werden kann. Aus dieser Debatte lassen sich eine Reihe von kritischen Positionen ableiten, die sich auf die Politiken, Rhetori- ken, Methoden und epistemologischen Voraussetzungen von Urban Sensing beziehen. Auf drei Aspekte kommt es uns dabei insbesondere an: 1) die Ästhetisierung und teil- weise Fetischisierung von Messmethoden, 2) die Dominanz eines techno-systemischen Denkens und die damit einhergehende Vorstellung berechenbarer Urbanität, und 3) die Emergenz von Wissenshierarchien, in denen datenförmiges Wissen gegenüber alternati- ven Wissensformen aufgewertet wird. ‚Methodolatrie‘: Zum Methodenfetisch des Urban Sensing Shannon Mattern hat früh beobachtet, dass die Urban Data Science im Allgemeinen, aber gerade Urban Sensing-Initiativen sich im Regelfall um geteilte Praktiken des Mes- sens und Datensammelns organisieren (vgl. Mattern 2013). Die Vorstellung der Stadt als Datenraum bringt ihre eigene Ästhetik mit sich, die sich, so Matterns Argument, allerdings nicht nur an den ubiquitären Datenvisualisierungen ablesen lässt, sondern ebenso an der Gestaltung von Sensoren, Messinstrumenten und Fieldkits. Während den erhobenen Daten selbst in der diskursiven Verhandlung oft eine übersubjektive Quali- tät oder gar Objektivität zugesprochen wird, sind die Praktiken des Sensing vor Ort gleichsam „ästhetisch-imprägniert“ (Reckwitz 2015), d.h. verkörpert, affektiv aufge- laden, schöpferisch-kreativ und ortsspezifisch. Ein nicht unerheblicher Anteil der Teil- habemotivation in Grassroots- und DIY-Initiativen des Urban Sensing wurzelt in der Faszination einer kollektiven, ästhetischen Praxis des Datensammelns im Feld mit Hilfe ansprechend gestalteter gadgets (vgl. Kaerlein 2019). Was diese ästhetische Orientierung problematisch machen kann, ist die mit ihr einherge- hende Gefahr einer Fetischisierung von Tools und Methoden auf Kosten einer vertieften Auseinandersetzung mit den (politischen) Zielen und der epistemologischen Grundie- rung urbaner Anliegen. Das Medium wird im Urban Sensing schnell zur eigentlichen Botschaft, wenn in solutionistischer Manier die Erhebung von Daten als einzige mög- liche Antwort auf urbane Herausforderungen gesehen wird. Mit Valeria Janesick spricht Mattern in diesem Kontext von ‚Methodolatrie‘, „a preoccupation with selecting and defending methods to the exclusion of the actual substance of the story being told“ (Janesick 1994, S. 215; nach Mattern 2013). Während sich unter methodologischen Ge- Modalitäten der Kritik in Praktiken des Urban Sensing 93 sichtspunkten die Auswahl von Methoden nach Forschungsgegenstand und Erkenntnis- interesse richten sollte, steht im Urban Sensing häufig die Methode von Beginn an fest und die Generierung einer möglichst großen Zahl von Daten droht zum Selbstzweck zu werden. Dem Akt des Messens gegenüber rücken andere Datenpraktiken, die sich eher auf Prozesse des sense-making anhand erhobener Daten beziehen, in den Hintergrund. Oft fehlen auch die entsprechenden Datenkompetenzen in Citizen Science-Projekten, was spätestens dann zu Problemen führt, wenn die erhobenen Daten in politische Hand- lungsfelder Eingang finden sollen (vgl. Gabrys et al. 2016, die allerdings darauf hin- weist, dass von BürgerInnen erhobene Daten im Regelfall bloß ‚good enough‘ sein müs- sen, um Anlass für weitere, von ExpertInnen durchgeführte Untersuchungen zu geben). Stadt als Computer: Zur Rhetorik der Smartness Die im Kontext von Urban Setting konstatierte Fixierung auf Daten und die Praktiken ihrer Erhebung bringt eine zweite problematische Tendenz mit sich, die in den letz- ten Jahren insbesondere in der interdisziplinären Urbanistik beschrieben worden ist (vgl. Greenfield 2013; Powell 2021; Mattern 2021). Die Rhetorik und epistemologi- sche Grundierung von Urban Sensing-Initiativen überlagern sich mit dem wirtschafts- politischen Smart City-Diskurs, der in vielen Fällen als Agenda technologiegetriebe- ner Datafizierung im Kontext des Überwachungskapitalismus (Zuboff 2018) und eines Verständnisses der Stadt-als-Plattform (Van Dijk et al. 2018) auftritt. Die sogenannte ‚Smart City‘ verspricht eine Effizienzsteigerung urbaner Prozesse durch Ansätze daten- basierter Planung, Steuerung und Kontrolle um den Preis, dass tendenziell Urbanität als Rechenproblem neu gefasst wird. Angesichts der Pluralität urbaner Diskurse und Praktiken, insbesondere im Kontext von Metropolen, erscheint jede Reduzierung auf eine Stadt-als-Computer-Metapher (vgl. Mattern 2021) als unzulässige Verkürzung von Ursache-Wirkungs-Relationen und Beziehungsgefügen im städtischen Raum. Die häufig als ‚Smartness‘ kaschierte Ausstattung städtischer Infrastrukturen mit Sensoren und Selbststeuerungskapazitäten verwandelt die Stadt zudem in eine Testumgebung für neue technische Lösungen und datenbasierte Monetarisierungsansätze (vgl. Halpern u.a. 2013 zum „test-bed urbanism“). Alison Powell (2021) beobachtet vor diesem Hintergrund, dass die Tendenz zu einem techno-systemischen Denken von VertreterInnen der Smart City-Agenda und vielen AkteurInnen des Citizen Sensing geteilt wird. Diesem Denken liegt eine Vorstellung von Stadt als Agglomeration von Datenströmen zugrunde, deren Code oder Logik bloß erkannt werden muss, um optimiert werden zu können, beispielsweise mit der Zielset- zung größerer Nachhaltigkeit im Ressourcenverbrauch oder der Verbesserung des Ver- kehrsflusses. Mit anderen Worten: Es gibt keine eindeutige Trennlinie zwischen den An- 94 Daniela van Geenen & Timo Kaerlein sätzen, Methoden und dem Vokabular (wirtschaftlicher und politischer) institutioneller AkteurInnen einerseits und den oft aktivistisch motivierten und bottom-up organisierten Citizen Sensing-Initiativen andererseits. Lagerübergreifend birgt dies das Risiko, dass sich eine Rhetorik der Smartness durchsetzt, die immer schon den Topos der berechen- baren Stadt voraussetzt und Urbanität als komplexes, aber lösbares Optimierungsprob- lem fasst. Daten als Währung: Wissenshierarchien des Urban Sensing Ein subtileres Problem selbstorganisierter Datensammlungsinitiativen beschreiben Roderic Crooks und Morgan Currie (2021), die sich mit gegenwärtigen Ausprägun- gen des kommunal organisierten Datenaktivismus auseinandersetzen. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von (oft quantitativen) Daten für die Stadtplanung und die Stadt betreffende politische Entscheidungsprozesse besteht die Gefahr, dass Daten zur harten politischen Währung werden, und dies in dem Sinn, dass alternative Arten und Formen von urbanem Wissen angesichts eines exklusiven Fokus auf Daten keine diskursive Wirksamkeit mehr entfalten können. Beschreibt Woodsum (2018) die Wis- senshierarchien im Grassroots- und Community-basierten Aktivismus noch dergestalt, dass gerade der ungefilterte Bericht ‚aus erster Hand‘, die persönliche Betroffenheit, der Augenzeugenbericht zum Ausgangspunkt politischer Willensbildung wird, hat der Datenaktivismus mit dem Problem zu kämpfen, dass fehlende Daten unweigerlich mit ausbleibender politischer Aufmerksamkeit einhergehen. Zudem, so Crooks und Currie (2021) weiter, liegt der Druck datenbasierter Evidenz zunehmend auf den Kommunen selbst, die selbst im Falle offensichtlicher Problemlagen und trotz begrenzter Ressour- cen und Expertise die Hauptlast der datenbasierten Beweisführung tragen. Mit dieser Umwertung urbanen Wissens – vom persönlich gefärbten Augenzeugenbe- richt zur Zirkulation von kontextenthobenen Daten – wird allerdings nicht nur die Frage verhandelt, wer auf welcher Basis als legitime(r) DiskursteilnehmerIn gelten kann: Jen- nifer Gabrys (2014) hat darauf aufmerksam gemacht, dass von der zunehmenden Ver- breitung urbaner Datenpraktiken auch Auffassungen von Bürgerschaft im Kern berührt sind: „[C]itizenship is articulated environmentally through the distribution and feedback of monitoring and urban data practices“ (Gabrys 2014, S. 32). Das Citizen Sensing ge- winnt so eine neue Nuance: Als ‚Ambividuen‘ in einem System verteilter governance werden BürgerInnen selbst – teilweise ungefragt und unbewusst – zu mobilen Sensoren, die sich durch programmierte Umgebungen bewegen und durch ihre Partizipation die digitale Infrastruktur überhaupt erst funktionsfähig machen. Diese BürgerInnen, deren Handlungsfähigkeit infrage gestellt wird, werden somit zu Datenpunkten der Entschei- dungsfindung in und der Verwaltung von Smart Cities. Mit anderen Worten: Die envi- Modalitäten der Kritik in Praktiken des Urban Sensing 95 ronmentale Gouvernementalität setzt keine normierten Subjekte mehr voraus, sondern bietet die Möglichkeit, an den städtischen Umgebungen selbst anzusetzen, deren Ge- staltung regulatorische Effekte auf alltägliche urbane Praktiken hat. Die folgenden em- pirisch gestützten Ausführungen sollen aufzeigen, dass eine solche sehr passive Bürger- partizipation weniger nachhaltig ist als Urban Sensing-Praktiken, in denen BürgerInnen sich aktiv und dauerhaft einbringen. Urban Sensing als kritisch-technische Praxis Wir entlehnen unser Verständnis von ‚kritisch-technischer Praxis‘ Agres (1997) Kon- zeptualisierung. Der Informatiker und spätere Wissenschafts- und Technikforscher versteht unter ‚kritisch-technischer Praxis‘ eine vom Poststrukturalismus – vor allem dem Foucault’schen Verständnis – geprägte, situationsbezogene Form der Kritik. Kritik muss bei der Arbeit an und mit Informationstechnologien essenzieller Teil technischer Praxis werden, so zeigt Agre anhand seiner Arbeit in der Entwicklung und Modellie- rung künstlicher Intelligenz auf. Agre führt aus, dass diese Form der Kritik gleich- zeitig nach der praktischen Auseinandersetzung mit der betreffenden Technologie im Entwicklungs- und Nutzungskontext und nach einer kritischen Reflexion des eigenen Handelns hinsichtlich historisch-institutioneller Ursprünge und theoretisch-methodo- logischer Ausgangspunkte der Technologieentwicklung verlangt (1997, S. 155). Eine solche ständige Kombination von kritischer Praxis und praktischer Kritik ist begründet in einem nach interdisziplinärer Kooperation strebenden, in diesem Austausch reflek- tierten Arbeitsethos, der hilft, Brücken zu schlagen zwischen Disziplinen, Institutionen und deren Herangehensweisen, was den Weg ebnen kann für alternative, vor allem situ- ative theoretisch-methodologische und organisatorische Ansätze (vgl. Suchman 2007). In Bezug auf bürgerwissenschaftliche Praktiken des Urban Sensing konzentrieren wir uns hierbei nicht nur auf computerbezogenes und -basiertes Handeln, Praktiken der Hardware- und/oder Softwareentwicklung und -nutzung in Bezug auf Sensortechno- logien, sondern auch ausdrücklich auf Datenpraktiken. Hiermit erweitern wir, was im Hinblick auf die alltäglichen Praktiken des Datenjournalismus als ‚kritische Daten- praxis‘ angedeutet wurde: „understanding how critical engagements with data might modify data practices, making space for public imagination and interventions around data politics“ (Gray/Bounegru 2021, S. 14). In diesem Sinne werden wir im Folgenden eine Verbindung herstellen zwischen Agres und Latours (2004) Kritikverständnis: Kri- tik wird von beiden Autoren verstanden als immanenter Teil soziomaterieller Praxis, als kollektiver, vielgestaltiger und konstruktiver Aushandlungsprozess von Angelegenhei- ten öffentlicher Relevanz. Bei unserer Annäherung an das praktisch-kritische Potenzial des Urban Sensing richten wir uns demzufolge nicht nur auf in bürgerwissenschaft- 96 Daniela van Geenen & Timo Kaerlein lichen Projekten involvierte ExpertInnen und deren Herangehensweisen und Wertvor- stellungen in Bezug auf Sensortechnologien und deren Daten, sondern auch explizit auf die Sensing-Praktiken anderer Beteiligter und deren Ausgangspunkte und Zielsetzun- gen. Im Folgenden widmen wir uns im Detail der Einordnung der drei wesentlichen Bestandteile von Agres Konzept im Kontext des Urban Sensing anhand des empirischen Materials: Kritik, Praxis und soziotechnische Involviertheit. Kritische Datenpraxis und praktische Datenkritik: die Relevanz von Methodenpluriformität und soziomaterieller Partizipation Als Fallbeispiele werden in diesem und dem folgenden Unterkapitel zwei bürgerwissen- schaftliche Urban Sensing-Projekte und deren organisatorische Kontexte herangezogen. Beide Fallbeispiele sind miteinander verbunden durch die gemeinnützige Interessen- gemeinschaft Milieucentrum Utrecht (MCU).1 Es geht um das Projekt Meet je Stad – spezifisch den ursprünglich in der Stadt Amersfoort gegründeten Zweig des Projekts – und das in derselben Region, der Provinz Utrecht, initiierte und angesiedelte Projekt Snuffelfiets, die beide als Citizen Science-Initiativen auftreten. Die Bürgerinitiative Meet je Stad (übersetzt „Vermesse deine Stadt“ und abgekürzt MjS) wurde 2015 gegründet. Initiatorin war die selbsternannte Kooperatieve Univer- siteit Amersfoort; keine staatlich anerkannte Universität, sondern eine gemeinnützige Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Menschen für ihre Umwelt zu interessieren, für und mit engagierten EinwohnerInnen bezahlbare und einsatzfähige Hard- und Soft- ware für die Bürgerwissenschaften zu entwickeln und zu nutzen (Meet je Stad 2022a). MjS ist ein außergewöhnliches Projekt, da es seit mehr als sechs Jahren eigenständig arbeitet. Darüber hinaus hat die Initiative von Anfang an eine Zusammenarbeit mit Ver- treterInnen der Wasserbehörden und der Stadtverwaltung Amersfoorts angestrebt und gepflegt. Diese – unter anderem finanzielle – Unterstützung und unmittelbare Beteili- gung der Stadtverwaltung in Kombination mit dem unermüdlichen Einsatz von Frei- willigen in verschiedenen Städten hat es möglich gemacht, eine aktive Gemeinschaft aufzubauen, gemeinsam eine kontinuierlich wachsende, mit jedem Mitglied an Granu- larität gewinnende Datensammlung zur Luftqualität im eigenen Lebensumfeld anzu- legen und ein, wie es auf der Website heißt, ‚gut durchdachtes Forschungsdesign‘ zu entwickeln (Ebd.). Einer der wichtigsten Beweggründe für dieses Projekt ist die Generierung von situati- ven Daten, d. h. von zusätzlichen, kontinuierlich gesammelten und daher detaillierteren 1 Siehe: https://mcu.nl/ [Stand vom 19-06-2022]. Modalitäten der Kritik in Praktiken des Urban Sensing 97 Daten als denen, die von offiziellen Stellen wie dem RIVM, dem niederländischen Na- tionalen Institut für Volksgesundheit und Umwelt, erhoben werden. Diese Daten werden durchgehend über ein Netzwerk von selbstgestalteten Messgeräten erfasst, die sie an die Open-Access-Datenplattform von MjS übermitteln, sodass die Mitglieder und an- dere interessierte BürgerInnen – entsprechende Expertise und Erfahrung vorausgesetzt – die Möglichkeit haben, jederzeit auf die Messwerte zuzugreifen. Hierbei messen die Messgeräte, die durch TeilnehmerInnen in MjS-Workshops angefertigt und im eigenen Garten oder am Balkon befestigt wurden, in regelmäßigen zeitlichen Abständen (ca. 15 Minuten) die Umgebungstemperatur und -feuchtigkeit. Neuere Messgeräte enthalten auch Feinstaubsensoren. Außerdem wird die GPS-Position des Messgeräts festgestellt. Das folgende Beispiel zeigt Experimente einiger Mitglieder des Kollektivs, sowohl solche mit technischen Fähigkeiten als auch solche mit Fachwissen aus der Klimafor- schung, mit Analysen und visuellen Darstellungen der Daten. Dies geschieht nicht nur zur Kalibrierung der Messgeräte anhand eines Vergleichs der generierten Sensordaten mit Messwerten von offiziellen Instanzen wie dem RIVM, sondern auch um diversen Mitgliedern die Möglichkeit zu geben, sich mit den gemeinsam gesammelten Daten auseinanderzusetzen (Meet je Stad 2022a, unter der Rubrik „Nieuws“ und dann „Vuur- werk en fijnstof“). Abbildung 1: Liniendiagramm zeigt die gemessene Feinstaubkonzentration in der Luft (PM10) um Neujahr 2021 (Bildnachweis: Homepage von Meet je Stad (2022a) unter „Vuurwerk en fijnstof“) 98 Daniela van Geenen & Timo Kaerlein Solche Visualisierungen werden im alltäglichen Austausch im öffentlich zugänglichen Chatraum2 gezeigt und methodisch dargelegt oder in den monatlichen Zusammenkünf- ten von MjS besprochen als eine Art des kollektiven sense-making. Auch wenn hierbei standardisierte Analysemethoden und Visualisierungsformen angewandt wurden, sind diese Visualisierung und der Dialog, der hierdurch zustande kommt, kein Ausdruck von Methodenfetischismus, sondern ein Beispiel der situativen Arbeit mit den gesammelten Daten: Der Grafik liegen Feinstaubmessungen an und um Neujahr 2021 zugrunde, die einige TeilnehmerInnen analysierten, um den Sinn eines offiziellen Feuerwerkverbots aufzuzeigen und zu untermauern. Somit kommen die gesammelten Daten, in Kombina- tion mit qualitativeren Umgebungsbeobachtungen und Erfahrungswerten, zum Einsatz, um lokale Belange und Anliegen zur Sprache zu bringen. Die Daten fließen damit in kommunale Debatten und gelegentlich auch in politische Beschlussfassungen zur Ge- staltung des geteilten Lebensumfelds ein. Abbildung 2: Karte, die gleichzeitig Sensordaten (rot) und Naturbeobachtungen (grün) zeigt (Bild- schirmfoto (Meet je Stad 2022b)) Das gleichwertige Interesse von MjS an Sensormessdaten (als quantitativen Daten) und qualitativeren, kontextuell stärker eingebetteten Daten (wie Beschreibungen der natürlichen Umgebung) illustriert die obige Abbildung (Abb. 2) einer Karte, die auf 2 Siehe: https://riot.im/app/#/room/#meetjestad:matrix.org [Stand vom 19-06-2022]. Modalitäten der Kritik in Praktiken des Urban Sensing 99 der Website der Initiative zu finden ist (Meet je Stad 2022a): Rot abgebildet sind hier alle registrierten Bürgermessstationen der Initiative in und um die Stadt Amersfoort3, die die Luftqualität überwachen, während manuell erfasste Umweltbeobachtungen in grün dargestellt werden. Beide Datenformen können einander ergänzen. Auch wenn es bei den erfassten Beobachtungen momentan vor allem um Blühzeiten von Pflan- zen geht, haben verschriftliche Beobachtungen und Fotos der natürlichen Umgebung in Sensornähe das Potenzial, auf kontextuelle Informationen zuzugreifen, die Rückschlüs- se auf die Situationen zulassen, in denen die Sensordaten erhoben wurden. (Sensor-) Daten werden im Zuge dessen von MjS nicht als ‚Tatsachen‘, sondern als Dinge von Belang (vgl. Latour 2004) angesehen, die ständig hinterfragt werden sollten und Teil eines kontinuierlichen demokratischen Austauschs sind. Gemeinsame Momente des Austauschs und Verhandlungsräume (alltägliche Zugänglichkeit des Chatraums, monat- liche Zusammenkünfte) ermöglichen hierbei – im besten Fall – eine Art soziomaterielle Versammlung (Latour/Weibel 2005), in der Wissen ausgehandelt wird. Essenziell sind hierbei die kritisch-praktische Auseinandersetzung mit sensorischer Messtechnologie und den generierten Daten sowie die aktive Teilnahme von diversen involvierten und relevanten ExpertInnen, politischen EntscheidungsträgerInnen, StadtplanerInnen und teilnehmenden ,Laien‘ – oder besser: TeilnehmerInnen mit situationsbezogenen Erfah- rungen, also situativem Wissen. Diese AmateurInnen, im Sinne Hennions (2007), ge- winnen zudem Erfahrungen und bauen Expertise auf und aus durch ihre Involviertheit in das bürgerwissenschaftliche Projekt, in dem ihre aktive – untersuchende, inhaltliche, datenpraktische und/oder technische – Mitarbeit gefragt ist. MjS organisiert deshalb nicht nur monatliche Zusammenkünfte, sondern auch jährliche Tagungen und regelmä- ßige Workshops. Das Beispiel von MjS zeigt, dass für beständiges bürgerwissenschaftli- ches Urban Sensing die aktive, kritisch-konstruktive Teilnahme und alltäglichen Daten- praktiken aller TeilnehmerInnen relevant sind, ihre damit verbundene Expertise und Erfahrungswerte, sowie ihre Wertvorstellungen. Hierbei sind diese ‚Ethnomethoden‘ – im Sinne Garfinkels (1967) – der kritischen Datenpraxis und praktischen Datenkritik nicht nur von wissenschaftlicher (zum Beispiel im Bereich der Erforschung von und der Arbeit mit bürgerwissenschaftlichen Forschungsansätzen), sondern auch politischer Bedeutung. Dies zeigt sich vor allem im Vergleich von MjS zu Snuffelfiets, den wir im folgenden Absatz anstellen möchten. 3 Hier ist die interaktive Version der Karte zu finden mit Fokus auf Amersfoort: https://meetjestad. net/index3.php?loc=Amf [Stand vom 19-06-2022]. 100 Daniela van Geenen & Timo Kaerlein Bedingungen von nachhaltigem Urban Sensing: kollektive soziomaterielle Involviertheit und Sorgfaltspflicht Der Name des zweiten Projekts – übersetzt Schnüffelrad – spielt auf den menschlichen Geruchssinn an. Snuffelfiets wurde 2018 von der Provinz Utrecht in Zusammenarbeit mit zwei Partnern aus der Privatwirtschaft gegründet: Civity stellt die Datenplattform und das Dashboard bereit, auf der die Sensordaten – zum Teil öffentlich – zugänglich sind. Auf einer Karte auf der Projektwebsite werden zum Beispiel akkumulierte Mess- werte im hexagonförmigen Raster farblich abgebildet (s. Abb. 3), während Teilneh- merInnen auch auf ihre selbst erhobenen Sensordaten zugreifen können. Das andere Unternehmen, SODAQ, baut die an Fahrrädern zu montierende Sensorplattform, die unter anderem die Feinstaubkonzentration in der Luft misst. Außerdem wird das Projekt durch gemeinsames Communitymanagement des oben genannten MCU und der Stif- tung Natuur en Milieufederatie Utrecht4 koordiniert (Snuffelfiets 2021a). Zentrales Ziel dieses in seinem Forschungsdesign einzigartigen Projekts ist es, gemeinsam ‚gesunde Radrouten‘ zu identifizieren und die Nutzung des Fahrrads als primäres Verkehrsmittel zu stimulieren (Snuffelfiets 2022a). Abbildung 3: Snuffelfiets-Karte mit gemessenen Feinstaubwerten (PM 2.5). (Bildschirmfoto von Snuf- felfiets (2022b) 4 Siehe: https://www.nmu.nl/ [Stand vom 19-06-2022]. Modalitäten der Kritik in Praktiken des Urban Sensing 101 Die beiden Partner aus dem privaten Sektor unterstützen nicht nur das Projekt, sondern Civity und SODAQ und sogar die wissenschaftliche ExpertInnenorganisation RIVM, die die Provinz Utrecht in das Projekt einbezog, um eine sinnvolle Datennutzung zu gewährleisten, fungieren in gewisser Weise auch als ‚Gatekeeper‘. D.h. diese Orga- nisationen verwalten den Zugang der BürgerInnen zu den Daten, die diese durch ihre alltäglichen Fahrradaktivitäten und -routinen erzeugen. Diese Vorgehensweise birgt das Risiko, dass die diskursiv-materiellen Modalitäten dieser Verwaltungsprozesse Mög- lichkeiten der Auseinandersetzung mit den gesammelten Daten einschränken – selbst wenn diese Einschränkung nur dadurch bedingt ist, dass die angebotenen Dashboards als technische Herausforderung wahrgenommen oder die akkumulierte visuelle Darstel- lung als vornehmliche Rückkopplung der Daten als zu wenig aussagekräftig erfahren werden, wie die Ergebnisse einer Umfrage aufzeigen. Diese Umfrage, an der 80 der insgesamt etwa 500 TeilnehmerInnen des Projekts (ca. 16%) teilnahmen, wurde von einer der AutorInnen dieses Beitrags im Dezember 2021/Januar 2022 in Kooperation mit den Snuffelfiets-OrganisatorInnen durchgeführt, um Einblicke in die Beweggründe und Interessen von TeilnehmerInnen zu bekommen und Formate und Modalitäten des gemeinsamen kritischen Austauschs zu identifizieren. Bis auf eine öffentlich zugängliche Rückkopplung von Ergebnissen des Projekts Ende Januar 2021 in Form einer mehrstündigen Online-Veranstaltung (Provincie Utrecht 2021) zum Ende der zweiten Phase der Pilotierung, in der die angestrebte Zahl von 500 TeilnehmerInnen erreicht wurde, gibt es momentan (noch) keinen Rahmen, in dem das Forschungsdesign von Snuffelfiets, die methodische Arbeit und die eigentliche Datenar- beit mit den teilnehmenden BürgerInnen besprochen werden. Auch gibt es bisher keine Möglichkeit für Snuffelfiets-TeilnehmerInnen, selbst Forschungsfragen zu stellen, oder regelmäßige Treffen, bei denen sie dabei unterstützt würden, ihre eigenen Datenprakti- ken zu artikulieren, zu reflektieren und möglicherweise (weiter) zu entwickeln. Die oben genannte Umfrage hat gezeigt, dass die meisten TeilnehmerInnen sich zumindest eine regelmäßige und kontextualisierte Rückkopplung der Ergebnisse wünschen; der Groß- teil der Befragten in textueller Form, z.B. in Form eines journalistischen Artikels und/ oder in Gestalt von Visualisierungen. Andere TeilnehmerInnen wünschen sich jährliche Zusammenkünfte mit den OrganisatorInnen, anderen TeilnehmerInnen, (involvierten) ExpertInnen, VerwaltungsbeamtInnen oder (lokalen) RegierungsvertreterInnen, die für die nötige und gewünschte ‚Übersetzungsarbeit‘ (vgl. Star/Griesemer 1989) dieser Er- gebnisse sorgen und auf die Frage eingehen könnten, für welche Zwecke die gesammel- ten Daten verwendet werden (können). 102 Daniela van Geenen & Timo Kaerlein Abbildungen 4a und 4b: Messstation zum Messen der Luftqualität – mit und ohne Lichtsensor (links oben) und in den Workshops von MjS gelötete und montierte Platine (rechts oben) (Foto aus dem Lagebericht 2018 (Meet je Stad 2022c) und Privatfoto) Abbildung 5: SODAQs ‚black-boxed‘ Sensorplattform mit Fahrradträger (unten) (Snuffelfiets 2021b) Auf organisatorischer Ebene zeichnen sich demnach soziomaterielle Unterschiede zwi- schen MjS und Snuffelfiets ab, die umso deutlicher im Vergleich der in beiden Projek- ten verwendeten Sensorgeräte werden. Während die Mitglieder des MjS-Kollektivs die Möglichkeit haben, in Workshops ihre eigenen Messgeräte zusammenzubauen, wobei sie von technisch versierteren Projektmitgliedern und einer gut geschriebenen Bauanlei- tung unterstützt werden (vgl. Kooijman 2017), ist die auf dem Fahrrad zu montierende Sensorplattform von SODAQ ein buchstäblich geschlossenes – mehr oder weniger – Modalitäten der Kritik in Praktiken des Urban Sensing 103 ‚black-boxed‘ EndnutzerInnengerät, das zur Wartung an die Herstellerfirma übergeben werden muss (vgl. Abbildungen 4a, 4b und 5). Gründungsmitglieder der MjS-Initiative haben das sensorische Messgerät hingegen selbst entwickelt und optimieren es zusam- men mit anderen Mitgliedern ständig. Die oben genannten monatlichen Treffen finden sowohl zur technisch-methodischen Wartung und zur Diskussion von Datenpraktiken als auch zur Pflege der Gemeinschaft statt. Der Kontrast zwischen beiden Projekten, was die soziomaterielle Organisation an- geht und die Art, wie Partizipation in die Praxis umgesetzt wird, betont die Relevanz von Urban Sensing nicht nur als kollektiver Angelegenheit von Belang, sondern auch der Fürsorge (vgl. de la Bellacasa 2017). Ausgehend vom feministischen Begriff der ‚matters of care‘ kann festgehalten werden, dass Urban Sensing-Projekte vor allem dann nachhaltig sind, wenn sie kritisch-konstruktive Möglichkeiten und dialogische Räume bieten, wodurch alle AkteurInnen, ihre Standpunkte, Erwartungen und Wertvor- stellungen einbezogen werden können in die Gestaltung und (Weiter-)Entwicklung der Projekte (Ebd.). Im Gegensatz dazu kann ein Ausklammern der TeilnehmerInnen von Urban Sensing-Projekten bei datenpraktischen oder technischen Fragen ein Fortbeste- hen dieser Projekte aufs Spiel setzen. TeilnehmerInnen haben das Bedürfnis, situative Forschungsfragen einzubringen und an lokaler, mit Daten gespeister Politikgestaltung teilzuhaben, wobei sie ihre situationsbezogenen Erfahrungswerte in Bezug auf die ver- messene Umgebung einbringen können. Wie die Snuffelfiets-Umfrage zeigt, kann ein Fehlen dieser Möglichkeiten und der dafür nötigen Versammlungsräume dazu führen, dass TeilnehmerInnen die Motivation verlieren, zum Projekt beizutragen. Die Relevanz von Fürsorge im Citizen Sensing wurde schon von Gabrys (2017) erörtert als die kollektive Zuwendung zu Angelegenheiten, die den geteilten Lebensraum und die Gesundheit der Mitglieder einer Gemeinschaft betreffen. Wir möchten hier jedoch noch einen Schritt weitergehen und caring for auch im Sinne von Annemarie Mol (2008) begreifen, für die das Tinkering (S. 12), also das gemeinsame praktische Experimentie- ren mit Sensortechnologien und deren Daten, während man deren ‚ontological politics‘ hinterfragt, von zentraler Bedeutung ist. Für eine vollständig entwickelte kritisch-tech- nische Praxis ist es allerdings erforderlich, sich wiederholt mit institutionell-theoreti- schen Grundsätzen und propagierten Idealen und Methoden des Urban Sensing kritisch- konstruktiv auseinanderzusetzen, angeleitet und eingeladen von diversen ExpertInnen, RegierungsvertreterInnen und anderen organisatorisch involvierten AkteurInnen, wobei alle teilnehmenden BürgerInnen, im Sinne Agres, aus ihrer eigenen Komfortzone treten. Kritisch-technische Praxis im Urban Sensing strebt somit nach soziomaterieller Invol- viertheit aller Beteiligten und verlangt deren kollektive Sorgfaltspflicht für das komplet- te Konstrukt, die gesamte Infrastruktur von sozialen und technischen AkteurInnen und Faktoren. Idealerweise sollten hierbei auch mögliche (negative) Effekte der zum Ein- satz kommenden Technologien des Urban Sensing für die Gesellschaft und/oder Um- 104 Daniela van Geenen & Timo Kaerlein welt überprüft und hinterfragt werden. Abschließend und überleitend zur Diskussion kann festgehalten werden, dass ein Verständnis von BürgerInnen als reinen Datenliefe- rantInnen des Urban Sensing, wie es von administrativ-infrastrukturell ausgerichteten ‚Smart City‘-Projekten propagiert wird, eindeutig deren Interesse und Anteil am Mess- geschehen, das die Interaktion dieser BürgerInnen mit ihrer Umwelt erfasst, verkennt. Diskussion: Zum ‚Umweltlich-Werden‘ von Kritik Wir haben gezeigt, wie Praktiken des Urban Sensing zu einer Neuverhandlung von urbanen Mensch-Umwelt-Relationen beitragen und kritische Ressourcen für Kommu- nen generieren können, um Umweltgerechtigkeit einzufordern und auf lokale Anliegen und möglicherweise sogar Missstände aufmerksam zu machen. AkteurInnen des Citizen Sensing versammeln sich um kollektive, orts- und situationsbezogene matters of con- cern and care und können diese mithilfe mobiler Sensoren, die Daten über Umwelt- phänomene erheben, artikulieren. Zugleich aber kann die Wissensproduktion des Urban Sensing gerade auf Basis ihrer spezifischen Medialität kritisiert werden. Praktiken des Urban Sensing können, wenn ihr Einsatz nicht hinreichend reflektiert (d.h. im Sinne von Agres kritisch-technischer Praxis) erfolgt, zu einer Fetischisierung von Daten und Methoden ihrer Erhebung beitragen, einer Rhetorik der urbanen Smartness Vorschub leisten und quantitatives, datenförmiges Wissen privilegieren. In einem letzten Schritt werden wir versuchen beide argumentativen Stränge – Urban Sensing als kritische tech- nische Praxis und eine an der Medialität des Urban Sensing ansetzende Kritik – als Teil der gleichen Diskursformation zu situieren: Sie sind, in Anlehnung an Erich Hörl (2018), gleichermaßen Ausprägungen eines Umweltlich-Werdens von Kritik und damit Teil des Macht-/Wissenskomplexes der Environmentalität. Hörl (2018, S. 157) geht davon aus, dass verschiedene Weisen des Umweltlichwerdens – u.a. der Macht, des Subjekts, des Wissens und des Denkens – die Signatur unserer Epoche ausmachen. Gegenwärtig vollziehe sich dieses Umweltlichwerden allerdings nach der Maßgabe einer technokapitalistischen Agenda, die u.a. als Überwachungskapi- talismus (Zuboff 2018) bzw. Datenextraktivismus (Celis Bueno/Schultz 2021) bezeich- net worden ist, und die Hörl als environmentalitäre Situation [environmentalitarian si- tuation] kennzeichnet. Sie gelte es zu überwinden, indem die begrenzte Vorstellung von Environmentalität zugunsten einer spekulativen Kategorie des Umweltlich-Werdens fallen gelassen werde, für die sich Denkansätze aktuell vor allem bei Donna Haraway (2016) finden. Hörls Theorieagenda ist nicht frei von Pathos, aber sie macht nachdrück- lich auf den wichtigen Aspekt aufmerksam, dass menschliches Leben und Überleben auf dem Planeten Erde entscheidend von der Ausprägung und Gestaltung umweltlicher Relationen abhängt, die eine große Zahl von Quasi-Objekten und Nicht-Menschen um- Modalitäten der Kritik in Praktiken des Urban Sensing 105 fasst (das Klima, Viren, Feinstaub, Tiere etc.). Damit einher geht die Notwendigkeit eines aktualisierten Verständnisses von Kritik, die sich nicht mehr auf eine externe und souveräne Subjektposition zurückziehen kann, sondern notwendigerweise aus der Ein- sicht des Verstricktseins in komplexe und asymmetrische Relationen heraus entwickelt werden muss (vgl. Kaiser et al. 2021). Praktiken des Urban Sensing sind einerseits aufgrund ihrer medientechnischen Voraus- setzungen Teil der environmentalen Gouvernementalität (vgl. Gabrys 2014), doch sie bieten andererseits verschiedene Potenziale aus ebendieser Formation auszubrechen, indem sie als praktische Umsetzung eines Umweltlich-Werdens von Kritik direkt an den Mensch-Umwelt-Relationen anknüpfen. Für diese Hypothese gibt es mehrere An- haltspunkte: Zum einen gehört es zur alltäglichen Erfahrung beim Datensammeln über Umweltphänomene, dass die erhobenen Daten sich nicht reibungslos in ein einheitli- ches Datenmodell überführen lassen. Daten sind im Regelfall unvollständig, inkongru- ent und messy. Powell (2021) zieht das Beispiel von Bewegungssensoren heran, die von in der Stadt lebenden Tieren wie Füchsen ausgelöst werden, und zu unverständlichen Datenpunkten führen. Anstatt diese allerdings als bloße Messfehler und Ungenauigkei- ten beiseite zu legen, empfiehlt Powell sie als Queering des Sensing-Dispositivs ernst und zum Anlass zu nehmen über die gleichermaßen wahrscheinlichen Fehler bei der Er- fassung von Menschen und ihren Praktiken nachzudenken. Darüber hinaus kann gerade das Sensing von Umweltphänomenen darüber Auskunft erteilen, wie intensiv urbanes Leben mit der mehr-als-menschlichen Umwelt verbunden und verschränkt ist (vgl. dazu ausführlich Tsing et al. 2020). Dies kann, auch entgegen der ursprünglichen Intention des jeweiligen Sensing-Kollektivs, zu der Einsicht führen, dass Urbanität nicht mehr mit anthropozentrischen Begriffen und Konzepten verständlich zu machen ist. An den genannten Beispielen zeigt sich mithin eine unerwartete Modalität von Kritik, die sich in der Praxis des Urban Sensing verwirklicht. Das bottom-up (mit)gestalte- te und teils von AmateurInnen durchgeführte Sensing hat das Potenzial die einseitige Orientierung auf Optimierung und profitorientierte Datenextraktion des Smart City-Dis- positivs zu irritieren und stattdessen Einblicke in die Diversität von Mensch-Umwelt- Relationen urbanen Lebens im Anthropozän zu gewähren. Literatur Agre, Philip E. 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Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt/New York: Campus. Suffizienz, Digitalität und digitaler Kapitalismus Herausforderungen für die Medienpädagogik Nina Grünberger Zusammenfassung Begriffe wie Suffizienz und Degrowth sind in der Debatte um eine nachhaltige Entwicklung gängig und werden auch in politischen Programmatiken als wirksame Maßnahme propagiert. Im Kern geht es um eine Mäßigung des Konsums und einen Rückbau eines – aufgeblasenen – kapitalistischen Systems. Zunehmend wird dies auch mit Bedingungen eines Lebens in der Digitalität thematisiert. Dabei finden sich im Diskurs alle Schattierungen einer dystopischen, utopischen oder im Kern neutralen Rolle digitale Technologie am Weg zu einer nachhaltigeren Entwicklung der Gesellschaft. Dieser Beitrag geht der Verbindung des Suffizienz-Prinzips im Allgemeinen und im Kontext des individuellen Medienhandelns im Besonderen sowie der Rolle digitalkapitalistischer Strukturen nach. Dabei wird auch die Rolle des/der Einzelnen im Verhältnis zu globalen Märkten thematisiert. Als Ergebnis werden davon abgeleitet Herausforderungen und Anschlussstellen für die Medienpädagogik formuliert. „Darin liegt die Perversion unserer Situation: Wir verbrauchen so viel wie keine Gesellschaft vor uns und empfinden doch überwiegend Krise.“ (Trojanow 2019, S. 87) Einleitung Ilja Trojanow beschreibt in Der überflüssige Mensch, dass sich ein Teil der Weltbevöl- kerung so an ein Leben im Überfluss gewöhnt hat, dass er dafür bereit ist einen anderen Teil der Bevölkerung zu „opfern“. Ähnlich der Situation von Schiffbrüchigen, die sich dafür entscheiden das Leben einiger für das Leben einiger, weniger dafür ‚wichtigerer‘ Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 110 Nina Grünberger Personen zu opfern, so nimmt sich die Bevölkerung des Globalen Nordens das Recht heraus in Wohlstand zu leben. Dies lässt zwei Schlüsse zu: Entweder es ist „genug für alle da“. Das hieße, das globale Wachstumsstreben kann ungehindert fortgeführt werden, „bis eines Tages alle Länder der Welt unseren Lebensstandard samt unserem Verbrauch [Anm.: des Globalen Nordens] erreicht haben“. Oder die Ressourcen sind etwa durch planetare Bedingungen limitiert, was eine Minderung des Wohlstands im Globalen Norden verlangt „um den anderen wenigstens das Recht auf Nahrung und ein würdevolles Leben zu garantieren“ (ebd., S. 26). Das zweite Argument ist ein Leitpa- radigma der Suffizienz- (Stengel 2011) und Degrowth-Bewegung (Thomay 2020) im Rahmen des Diskurses um nachhaltige Entwicklung. Nicht eine Effizienz-Steigerung, keine Konsistenzveränderung etwa hin zu biologisch abbaubaren Konsumgütern, son- dern die Mäßigung des Konsums gilt als Schlüssel einer nachhaltigeren Entwicklung der Gesellschaft im Zusammenspiel mit der Umwelt. Gängige Argumente zu einer nachhaltigeren Entwicklung werden zunehmend um Im- plikationen digitaler Technologie erweitert. Dementsprechende Diskursstränge fokus- sieren unterschiedliche Gesichtspunkte, die nicht selten einer Schwarz-Weiß-Malerei verfallen: Da wird digitale Technologie einerseits als das Umweltproblem der Gegen- wart beschrieben. Dies wird etwa mit dem Energiebedarf in der Herstellung, Nutzung und Entsorgung der Geräte begründet. Das wird auch auf den Bedarf an seltenen Erden, die unter problematischen Bedingungen gehoben werden, zurückgeführt. Und schließ- lich geht es um Fragen von Recycling, Lagerung und Verbrennung von Elektroschrott. Andererseits ist digitale Technologie etwa für die Erschließung erneuerbarer Energie- quellen notwendig und trägt zur Effizienzsteigerung von industriellen Produktionsket- ten, zur nachhaltigeren Energiebilanz von Haushalten oder zum Ausbau der Elektro- Mobilität bei (Lange/Santarius 2018). – Selten umfasst eine Dichotomisierung in Gut und Böse, Weiß und Schwarz oder nachhaltig und nicht-nachhaltig die vielfältigen Perspektiven und feinen Schattierungen eines Diskurses. Mit dem bekannten Zitat von Melvin Kranzberg (1986) gesprochen: „Technology is neither good nor bad, nor is it neutral.“ Die Entwicklung und Nutzung digitaler Technologie, so der Wissenschaftliche Beirat der Deutschen Bundesregierung, ist konsequent in den Dienst der Nachhaltigkeit und der Demokratiestärkung zu stellen (WBGU 2019). Die Verwobenheit von Digitalität und Nachhaltigkeit wird zunehmend auch aus einer medienpädagogischen Perspektive (vgl. Demmler/Schorb 2021), teils mit Bezug zum Digitalen Kapitalismus (Niesyto 2017) sowie an der Nahtstelle zur schulischen Pra- xis (vgl. Grünberger 2020) thematisiert. Diskutiert wird dann einerseits die Frage, ob sich die Medienpädagogik als Disziplin diesem Themenfeld annehmen solle respektive wie etwa eine systematische Verknüpfung mit Anliegen aus dem Kontext um Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) aussehen könne. Letzteres mündet auch in päd- agogisch-praktischen Projekten mit Anknüpfungen zur Medienbildung, Informatische Suffizienz, Digitalität und digitaler Kapitalismus 111 Grundbildung oder BNE. Entlang der Prinzipien einer BNE kann es nicht darum gehen ein „für die Zukunft ‚richtiges‘ Verhalten“ zu bestimmen und zu vermitteln. Es geht vielmehr um die Ermöglichung einer „Fähigkeit zur Entwicklung von alternativen Zu- kunftsentwürfen und zur kritischen Reflexion derselben“ sowie von Fähigkeiten mit „Unsicherheiten und Unwägbarkeiten“ umgehen und leben zu lernen (Muheim 2021, S. 40 f.). Ähnlich findet sich dies auch in einer „handlungs- und wahrnehmungsorientier- ten Medienpädagogik“, die ihrer gesellschafts- und medienkritischen Perspektive nicht müde wird (Niesyto 2017, S. 4). Dieses Offenhalten von alternativen Entwürfen wider- spricht dem Anliegen um einen suffizienten Lebensstil und dem Degrowth-Bestreben, welchen eine normative Beurteilung über richtiges oder nicht richtiges Handeln implizit ist. Dieser Beitrag fragt nach medienpädagogischen Herausforderungen im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung in der Digitalität und einem digitalen Kapitalismus mit Fo- kus auf das Suffizienz-Prinzip. Mit konkreten Fragen formuliert: Welchen Beitrag leis- tet eine genügsame Nutzung digitaler Technologie und in welchem Verhältnis steht dies zur Ermöglichung einer aktiven gestalterischen Teilhabe an einer Kultur? Was bedeutet ‚Genügsam‘ in diesem Kontext? Welche Rollen spielen IT-Entwicklung und IT-Mono- pole des digitalen Kapitalismus? Darum kreist der Beitrag mit dem Ziel die Frage nach nachhaltigeren Alternativen im Medienhandeln zu erhellen. Zunächst wird das Thema nachhaltige Digitalität – oder umgekehrt formuliert – digitale Nachhaltigkeit und die Relevanz von Suffizienz- und Degrowth-Bemühungen skizziert. Im Anschluss werden Charakteristika des digitalen Kapitalismus formuliert, der den Bemühungen und Anlie- gen eines suffizienten Medienhandelns diametral gegenübersteht. Und schließlich wer- den Schlüsse für den medienpädagogischen Diskurs formuliert. Digitalität und Materialität Die Spannbreite des Themas der Suffizienz in der Digitalität erschließt sich auch über eine Begriffsbestimmung von Digitalisierung und Digitalität. Der Begriff Digitali- sierung, häufig politisch-ökonomisch verwendet, bezieht sich auf einen umfassenden Transformationsprozess, der sozio-kulturelle Strukturen hinterfragt, neu ordnet und der Logik der Binarität und Algorithmizität unterwirft. Diesem Transformationsprozess ist ein Steigerungsparadigma ähnlich dem allgemeinen Wirtschaftswachstum einge- schrieben: Es geht um ein Mehr an digitalen Geräten in allen Lebensbereichen; um eine Ubiquität digitaler Technologie. Der im wissenschaftlichen Diskurs und insbeson- dere in der Medienpädagogik häufig präsente Begriff Digitalität bezieht sich auf kein Werden, sondern darauf, dass wir bereits in einer von digitalen Strukturen geprägten Kultur leben. Die Digitalität zeichnet sich durch Algorithmizität, besondere Formen 112 Nina Grünberger der Gemeinschaftlichkeit und Rerefentialität aus (Stalder 2019). Horst Niesyto (2017, S. 17 ff.) hat auf die Ähnlichkeiten und gegenseitige Ergänzung von „kapitalistischen“ und „digitalen Strukturprinzipien“ verwiesen. Im Diskurs um Digitalität wird häufig der Eindruck erweckt, die Digitalität sei immateriell oder beziehe sich auf eine bestimmte Materialität; jener der digitalen Devices. Dies sollen drei Beispiele veranschaulichen: Zum Ersten strebt das Design digitaler Geräte nach „Seamlessness“, also danach mög- lichst wenig Reibung, wenig Unterschied, wenig störendes Material zu erzeugen. Das Design ist auf unproblematisches Funktionieren, Anpassung an die Lebensgewohnhei- ten und Glattheit ausgerichtet. „Das Glatte ist die Signatur der Gegenwart“ (Han 2016, S. 9). Die Materialität des Designs legt nahe uns nicht zu stören und nicht als Überflüs- siges, Künstliches oder gar als Müll zu erscheinen. Dies kann als „Dematerialisierung“ bezeichnet werden (Niesyto 2017, S. 14, orientiert an Peter Glotz). Zum Zweiten ist ein zentrales ‚Material‘ digitaler Medien für die Nutzer:innen unsicht- bar: Daten. Waren vor einigen Jahren große Speichermedien ein Zeichen dafür, dass sich auf dem Datenträger viele Informationen befinden, werden Speichermedien in ra- sante Geschwindigkeit immer kleiner und effizienter (Döbeli Honegger 2017, S.163). Der Datentransfer hat sich ins Netz, in die Cloud verlagert (Parikka 2015). Während man vor einigen Jahren etwas handfestes in der Hand hielt und den Speichervorgang hören konnte, wenn man Daten auf Disketten speicherte, auf eine CD-Rom brannte oder auf einem USB-Stick archivierte; während vor einiger Zeit das Geräusch des Einwäh- lens eines Internetmodems mit dem ‚Einsteigen‘ in das Internet gleichgesetzt werden konnte oder die Sanduhr beim Hochladen der Informationen den Speicherfortschritt symbolisierte, so werden heute rund um die Uhr Daten unmerklich, teilweise auch un- gewollt oder zumindest ohne aktive Zustimmung übermittelt und quer über den Globus geschickt. Der Drucker wird via WLAN angesteuert, die Geräte sind via Bluetoeth un- sichtbar verbunden und die Daten werden via Cloud zwischen Geräten und User:innen geteilt. Wir ‚konsumieren‘ Daten und merken dabei selten deren zugrundeliegende Ma- terialität; Telekommunikationsantennen und Handymasten werden kaum, Glasfaserka- beln und Serverfarmen so gut wie nie ersichtlich, obwohl all das die materielle Grund- lage der Nutzung digitaler, internetfähiger Devices ist. Seit Beginn der Telekommuni- kation wurde Kupfer zum Ziel der globalen Vernetzung quer über den Globus gespannt und zwar zunächst ersichtlich, auf der Erdoberfläche. Nach und nach wurden sie durch Glasfaserkabel unter der Erde ersetzt. Die Materialität ist aus dem oberflächlichen, aus dem schnellen Blick verbannt (Gramlich 2021). Zum Dritten ist der Energieverbrauch digitaler Devices unsichtbar. Dies bildet sich in immer längeren Laufzeiten der Akkus ab. War bis vor kurzem etwa in Bildungskontexten stets die Frage nach einer Steckdose oder einem Steckdosenverteiler relevant, so bringt man die nötige Energie heute via in Powerbank mit. Hat man nicht vorgesorgt, kann man das Gerät fast unmerklich über ein Magnetfeld aufladen. Die Bedienung digitaler Suffizienz, Digitalität und digitaler Kapitalismus 113 Devices einschließlich der Energieversorgung soll möglichst friktionsfrei, user:innen- freundlich, intuitiv aufgebaut sein; der Ladevorgang eines Geräts erfolgt schnell und unbemerkt. Dass die Nutzung digitaler Geräte Strom benötigt, liegt auf der Hand, wird aber für das Bewusstsein darüber im Sinne einer BNE selten thematisiert. Beim Kauf eines Kühlschranks achtet man auf dessen Energieverbrauch und Klassifizierung in den gängigen Klassifizierungssystemen. Wer achtet beim Kauf eines Smartphones auf den Energieverbrauch (in Abgrenzung zur Laufzeit bei aufgeladenem Akku)? Wir sehen nicht, wo und wie der Strom zur Nutzung digitaler Devices erzeugt wird. Wir sehen nicht, wo die Rohstoffe für die Herstellung digitaler Medien geschürft und mit welchen Hilfsmitteln Serverfarmen gekühlt werden. Somit gerät eine spezifische, der Digitalität eingeschriebene Materialität und damit auch der Überfluss der alltäglichen, unmerklichen, friktionsfreien Nutzung digitaler Devices aus dem Blick. Wie aber, so könnte man im Anschluss fragen, soll dann eine Mäßigung, eine Genügsamkeit, ein suffizienter Lebenstil möglich sein, wenn der Überfluss nicht als solcher erkannt wird? Die Materialität der Digitalität entzieht sich der Aufmerksamkeit und erschwert die Idee eines suffizienten Lebens angesichts einer Kultur der Digitalität. Nachhaltigkeit und digitale Suffizienz Die Entwicklung digitaler Technologie und Strategien wie Zukunftsentwürfe um glo- bale nachhaltige Entwicklung sind miteinander verknüpft. Das Verhältnis von Digitali- tät und Nachhaltigkeit ist komplex: Digitale Technologie gilt als „Brandbeschleuniger“ einer nicht-nachhaltigen Ausbeutung von Natur und Mensch, als Verursacher erhebli- cher Boden- und Luftverschmutzung sowie als Verstärker neuer und gängiger Formen sozialer Ungleichheit. Gleichzeitig wird digitale Technologie für Hochrechnungen von Klimadaten eingesetzt und macht den Klimawandel erst ersichtlich und nachvollziehbar (Chun 2015). Technologie und insbesondere digitale Technologie ist zentrales Werk- zeug der modernen Wissenschaft und dient der Hervorbringung von Abbildungen der Natur (als sozio-kulturelles Konstrukt). Eine „Ko-Determination“ und „Ko-Emergenz“ von Medienkulturen und Naturdynamiken ist beobachtbar (Parikka 2018, S. 103). Im Diskurs um eine nachhaltigere Entwicklung werden Strategien und Maßnahmen gefordert, um die negativen Effekte der Lebensweisen des Globalen Nordens auf den Klimawandel, die Umweltzerstörung und das Artensterben zu verringern. Dabei fokus- sieren die Vereinten Nationen mit der Agenda 2030 (2015a) und der Formulierung der 17 Sustainable Development Goals (2015b) ein In-Einklang-Bringen sozialer, ökono- mischer und ökologischer Nachhaltigkeitsanliegen. Häufig wird die Agenda 2030 dafür kritisiert keine große Transformation etwa von kapitalistischen Strukturen oder epis- temischer Unterdrückung direkt anzustreben, welche für eine tatsächlich nachhaltige 114 Nina Grünberger Entwicklung unumgänglich sei. Ähnliche Argumente finden sich auch in der Suffizienz- und Degrowth-Bewegung, die sich ihrerseits der Kritik ausgesetzt sieht, ebenso nicht holistisch nachhaltig zu sein (so dies überhaupt möglich ist). Eine „Postwachstums- ökonomie“ fokussiere ökologische Nachhaltigkeit und laufe Gefahr eine nachhaltige soziale Entwicklung zu vernachlässigen. „Anstatt demokratisch, egalitär und ökologisch nachhaltig ist die derzeitige Wirtschaft ohne Wachstum von steigenden Ungleichheiten, zunehmender Machtkonzentration und einem ökologischen Fußabdruck geprägt, der weit über dem nachhaltigen Niveau liegt.“ Erneut wird Vermögen und ökonomische Macht dort ausgebaut, wo es längst angesie- delt war, während die Einkommensschere weiter auseinandergeht und man von einem „digitalen Neofeudalismus“ (Lange/Santarius 2018, S. 129 f.) sprechen könnte. Im De- growth-Diskurs steht eine suffiziente Lebensführung im Zentrum. Suffizienz basiert auf dem lateinischen Ursprung sufficientem oder sufficiens für Angemessenheit. Als nach- haltiger Lebensstil wird jener mit angemessenem Konsum definiert. Dem ist das Prinzip der Mäßigung im Gegensatz zum Prinzip des Wirtschafts-/Wachstums eingeschrieben: Leitend ist das Paradigma Weniger und Genug (Paech/Folkers 2020), statt Mehr und Vermehren (bspw. von Gütern, Kapital, Macht). Häufig bezieht sich diese Formel auf die Verringerung einer bestimmten Materialität: weniger Fleischkonsum, Plastikverpa- ckung, fossile Brennstoffe, Emissionen usw. Das Prinzip der Suffizienz wird sichtbar, indem von irgendetwas weniger angeschafft wird, vorhanden ist oder als Abfall übrig- bleibt. Das Leitprinzip Suffizienz propagiert eine bestimmte Lebensführung, die sich bestimmter Normen und Werte verschrieben hat. Will man, dass die Bevölkerung des Globalen Nordens über Nachhaltigkeit nachdenkt und den suffizienten Lebensstil über- nimmt, dann geht es um nichts Geringeres als zu einem tiefgreifenden, transformativen Bildungsprozess anzuregen (vgl. Koller 2012; Rieckmann 2021). Als eine, dem Suffizi- enz-Prinzip teilweise entgegengesetzte Position kann jene entlang der Leitformulierung Cradle to Cradle (Braungart/McDonough 2014) im Sinne einer Kreislaufwirtschaft ge- lesen werden. Nach Braungart et al. sollten Güter so produziert werden, dass sie nach Benützung nicht zu Abfall werden, sondern zum Nährboden neuer Güter (übersetzt: Von der Wiege zur Wiege). So führt nicht Genügsamkeit zur nachhaltigen Entwicklung; vielmehr gilt es dann weiterhin im Überfluss zu leben und dadurch das Entstehen neuer – abbaubarer, fruchtbarer, weiter verwendbarer... – Güter zu forcieren. Das Streben nach weniger Wachstum und mehr Suffizienz zeigt sich im Umgang mit digitaler Technologie als komplexer als mit anderen Konsumgütern. Die „digitale Suf- fizienz“ soll dabei helfen „die nicht nachhaltigen Auswüchse einer ressourcenintensi- ven Digitalisierung vieler Lebens- und Wirtschaftsbereiche ein[zu]dämmen“, und im Umkehrschluss ihre „positiven ökologischen Potenziale“ zu aktivieren und für eine nachhaltigere Entwicklung einzusetzen (Lange/Santarius 2018, S. 150). Eine digitale Suffizienz steht mit dem Wachstums- und Vermehrungsprinip der Digitalisierung im Suffizienz, Digitalität und digitaler Kapitalismus 115 Sinne eines Mehrs an und einer Ubiquität digitaler Technologie im Widerspruch. Lange und Santarius (2018, S. 150 f.) beschreiben drei Formen digitaler Suffizienz. Dabei wird deutlich, dass sich eine digitale Suffizienz in erster Linie auf eine nachhaltigere und genügsamere Entwicklung, Herstellung und Bereitstellung suffizienter digitaler Infra- strukturen bezieht. Weniger geht es um Strategien des individuellen Medienhandelns. (1) Ziel der „Techniksuffizienz“ ist es, „Informations- und Kommunikationssysteme so zu konzipieren, dass nur wenige Geräte nötig sind und diese selten erneuert werden müssen“. Dabei müsse Hard- und Software in enger Koppelung im Hinblick auf ihren Beitrag zur Nachhaltigkeit entwickelt werden. Oft werden funktionierende Geräte durch neuere ersetzt, weil adaptierte Betriebssysteme darauf nicht mehr eingesetzt werden können. Techniksuffizienz verbindet die Hard- und Softwareentwicklung mit Fragen einer „sozial und ökologisch nachhaltige[n] Herstellung“ und einer „Reparierbarkeit“ oder „modularen Erweiterbarkeit von Geräten“ (ebd., S. 152). Die freie Zugänglichkeit zu Bauplänen der Hardware und zu den Codes der Software trägt dazu bei. In Zukunft könnte für User:innen eine Art Zertifizierungssystem dienlich sein, welches die ökolo- gische und soziale Nachhaltigkeit bestimmter Geräte garantiert, was im besten Fall eine Kaufentscheidung und damit den Wechsel von digital-kapitalistischen IT-Monopolen zu nachhaltigeren Alternativen erleichtert. Es liegt auf der Hand, dass der große Einfluss digitalkapitalistischer Strukturen und insbesondere die Monopolstellung der GAFAM- Unternehmen – Google (Android), Amazon, Facebook, Apple (IOS) und Microsoft – dies erschwert (Staab 2020, S. 21) oder derartige Zertifizierungen umgekehrt für das eigene „grüne“ Marketing – Stichwort „greenwashing“ – genutzt werden würden. (2) Fast unbemerkt erzeugt die Nutzung digitaler Technologie einen steten Datenver- kehr, der Serverkapazitäten und IT-Infrastruktur benötigt. Darauf bezieht sich „Daten- suffizienz“. Es ist fraglich, ob eine dauerhafte Cloud-Verbindung einer App notwendig ist, oder ein Offline-Betrieb mit gelegentlichen Updates nachhaltiger wäre. Als Beispiel wird häufig der Vergleich des Musikhörens via Streaming-Plattform oder über gedown- loadete, lokal gespeicherte Musikdateien bemüht. Denkt man an selbstfahrende Autos als realistisches Zukunftsszenario, kann die Datenmenge, die über Clouds und IT-Infra- strukturen fließen, lediglich erahnt werden und macht jeden individuellen Versuch zur Datensparsamkeit lächerlich. Eine Genügsamkeit und Mäßigung zeichnet sich entlang der Technologieentwicklung nicht ab. Für die Entwicklung von Anwendungen müsse das Prinzip „Sufficiency by Default“ gelten. Gemeint ist, dass in den Grundeinstellun- gen und im Design von IT-Anwendungen ein möglichst hohes Maß an Einsparung von Datenmengen und -verkehr angestrebt wird (Lange/Santarius 2018, S. 153). (3) Die „Nutzungssuffizienz“ fragt nach dem individuellen Beitrag zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele und hängt eng mit den anderen Suffizienzstrategien zusammen. Anders formuliert: Ist man Willens sein kaputtes Smartphone eigenständig zu reparie- ren, statt sich ein neues zu kaufen, so muss das Gerät so gebaut sein, dass eine Reparatur 116 Nina Grünberger möglich ist. Dabei hängt die Nutzungssuffizienz mit der Frage von „Rebound-Effekten“ zusammen: Wenn durch die Nutzung digitaler Geräte oder Anwendungen ein bestimm- tes Vorhaben effizienter wird, wäre im Sinne der Suffizienz in dieser Zeit oder mit diesen Ressourcen kein weiteres Projekt durchzuführen, sondern „suffiziente Nutzer*innen“ würden „Zeitwohlstand genießen“ (ebd., S. 154). Digitaler Kapitalismus und soziale Ungleichheit Wie gezeigt ist die Frage nach einem individuellen suffizienten Lebensstil in der Digita- lität zweitrangig. Wobei bestimmte Apps1 zur Förderung eines suffizienten Lebensstils entwickelt wurden und das Narrativ des individuellen Beitrags zur nachhaltigeren Ent- wicklung fortführen: Diese Apps regen eine „Sharing Culture” und das „Peer-to-Peer- Sharing“ etwa von Lebensmitteln, Alltagsgegenständen oder in der Mobilität an (Lange/ Santarius 2018) und gehen letztlich auf die Heilsversprechen wie Dezentralisierung, Offenheit und Demokratisierung des frühen Internets zurück (Niesyto 2017, S. 20). Die kritische Analyse zeigt, dass digitalkapitalistische Strukturen „Mensch-Sein, Alltag und Arbeit sowie das Zusammenleben in einer Gesellschaft grundlegend [...] verändern“ (ebd.) und sich in unterschiedlichen Formen prominent auch in Bildungskontext wieder- finden (Hug/Madritsch 2021). Die freie Entscheidung für oder gegen einen suffizienten Lebensstil ist also gar nicht so frei. Im Folgenden werden daher zentrale Implikationen des digitalen Kapitalismus für den Bildungskontext besprochen, ehe daraus Schlüsse für die Medienpädagogik formuliert werden. Den Anfang macht eine Diskussion (ver- meintlich) suffizienter Alternativen im individuellen Medienhandeln. Insofern ein suffizienter Lebensstil die Verringerung des Konsums umfasst, könnte man den Schluss ziehen, es gehe etwa um die Nutzung weniger digitaler Geräte, weniger Programme, um die Reduktion der Nutzungsdauer oder -intensität, von Daten- oder des 1 Die verfügbaren Apps in diesem Zusammenhang sind zahlreich, vielfältig und schnelllebig und eine Auswahl immer stark selektiv: Für den Bereich des Food-Sharings kann etwa die App To Good to Go (https://toogoodtogo.at/de) genannt werden. Für das Verkaufen bzw. Verschenken von Alltagsgegenständen in Österreich Willhaben (https://www.willhaben.at) und für Deutschland ebay-Kleinanzeigen (https://www.ebay-kleinanzeigen.de/). Aus der Idee des Tauschens von Second-Hand-Kleidung im Kleiderkreisel ist die Plattform Vinted (https://www.vinted.at/) her- vorgegangen. Der eigene ökologische Fußabdruck lässt sich über die App Klimakompass von Worldwatchers (https://www.worldwatchers.org/klimakompass) berechnen. Die App nachhaltICH (www.nachhaltich-app.de) des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung war gleichermaßen informierend wie spielerisch aufgebaut. Auf Grund „tech- nischer Unzulänglichkeiten“ der App, wurde diese eingestellt. Eine nachhaltige, fortlaufende Nutzung des App-Contents steht zur Diskussion. Suffizienz, Digitalität und digitaler Kapitalismus 117 Energieverbrauchs. Doch wie gezeigt, sind individuelle Suffizienzstrategien in einer Di- gitalität zwar gut, doch treffen sie bei weitem nicht den Kern des Problems. Mehr noch: Aus medienpädagogischer Sicht könnten individuelle Suffizienzstrategien in der Digi- talität falsch verstanden werden und letztlich soziale Ungleichheiten verstärken oder ak- tive, kreative Teilhabe an einer Kultur der Digitalität hemmen. Dabei ist dies stark vom Niveau des suffizienten Lebensstils abhängig: Der Verzicht auf das jeweils neue digitale Device wird keine sozial-ausschließenden Effekte implizieren. Der gänzliche Verzicht oder die Nicht-Zugänglichkeit digitaler Geräte und Infrastrukturen weist exkludierende Effekte auf, da mittlerweile weite Teile des öffentlichen Lebens und der Berufswelt über digitale Geräte organisiert werden. Das Plädoyer zur individuellen digitalen Suffizienz fokussiert zudem den Privatbereich und lässt die Arbeitswelt unberührt. Damit wird das Prinzip der digitalen Suffizienz mehr zu einer Mode-Erscheinung à la „Digital Detox“. Die Formel „Lebe digital genügsamer“ kann nur für den Globalen Norden, aber nicht für eine sozial-ökonomisch prekäre Bevölkerung oder den Globalen Süden gelten. Der Appell für einen digital-suffizienten Lebensstil kann als Affront des Globalen Nordens interpretiert werden, der die Bedingungen anderer Weltregionen ebenso wie die post- kolonialen Verwebungen der Mediengeschichte (Castro Varela, 2005) und einer Kultur der Digitalität ignoriert (Gramlich 2021; Taffel 2021; mehr bspw. in Grünberger 2021). Die Idee eines individuellen, digital-suffizienten Medienhandelns als Lösung des Nach- haltigkeitsproblems negiert die Hegemonie des digitalkapitalistischen Systems. Der Begriff Digitaler Kapitalismus geht auf Dan Schiller zurück, der die Entwicklun- gen des globalen Wirtschaftssystems basierend auf digitaler Kommunikationstechno- logie und der amerikanischen Vorherrschaft in der IT-Industrie aufgreift und mit der Be deutung der Industrialisierung Anfang des 20. Jahrhunderts vergleicht (Staab 2020, S. 9 f.).2 Das kommerzielle Internet sei ein „ökonomisches Gravitationszentrum“, das sich um die „künstliche Verknappung“ von nicht knappen Gütern dreht. Schafft man einen künstlichen Bedarf an nicht knappen Gütern, scheint die Kapitalakkumulation durch das Internet endlos (ebd., S. 150). Nach Phillipp Staab ist den Kapitaldynami- ken in der Digitalität eines gemein: „dass sie auf eine Verschärfung der sozialen Un- gleichheit hinauslaufen“ und nicht die breite Bevölkerungsschickt profitiert, sondern die Entwicklungen zu einem „Vermögenswachstum zulasten des Faktors Arbeit“ (ebd, S. 148 f.) hinauslaufen. In diesem Sinne tragen digitalkapitalistische Strukturen nicht zur nachhaltigen Entwicklung bei; sie sind kein Garant für eine „digitale Allmende“ oder eines Endes des Kapitalismus (falls man „Postkapitalismus“ so verstehen möchte), sondern eine „riskante Akkumulationsmaschine“ und ein „Finanzkapitalismus online“. Kapitalistische und digitalkapitalistische Strukturen stehen stets in einem Spannungsver- 2 Eine ausführliche Herleitung der Begriffsgeschichte des Digitalen Kapitalismus findet sich bei Niesyto (2017). 118 Nina Grünberger hältnis zu demokratischen Strukturen, wobei das kapitalistische Wachstumsstreben und das „Wachstumsversprechen“ (ebd., S. 149 ff.) unweigerlich zu mehr sozialer Ungleich- heit und antidemokratischen Tendenzen führe (ebd., S. 156). Anders als im vorherigen Kapitel zu Suffizienzstrategien ist im Kontext der Analyse des digitalen Kapitalismus nicht mehr von einer Postwachstumsökonomie oder konsequenten sozio-ökologischen Nachhaltigkeit die Rede. Ohne „sozialökologischer Transformationsstrategie[n]“ und ohne einer „Ausweitung demokratischer Partizipation“, ist die Gefahr groß, dass digi- talkapitalistische Dynamiken in einen „willkürlichen Überwachungsregime“ münden. Eine solche „technokratische Fremdsteuerung” stünde dann über sozialen Grundrechten (Piétron 2021, S. 121). Nationalstaatliche wie überstaatliche politische Organisationen müssten dagegen Stra- tegien entwickeln. Sie sind „längst nicht mehr die entscheidende Kapitalquelle”, welche die Weiterentwicklung digitaler Technologie vorantreiben; vielmehr ist es das „priva- te Risikokapital, das das Wachstum und die globale Expansion der Internetkonzerne stützt“, gleichzeitig den Markt instabil – also auch ökonomisch nicht nachhaltig – macht und zudem schwer politisch steuerbar ist. Der Staat ist der „große Verlierer des digitalen Kapitalismus“ und habe „das wirtschaftspolitische Heft des Handelns in den gegenwär- tigen Leitbranchen der Digitalisierung“ längst aus der Hand gegeben (Staab 2020, S. 18 ff.). Zunehmend holt sich die Politik dieses Heft zurück, wie etwa am Beispiel der EU und der Verabschiedung des Digital Services Act (veröffentlicht unter European Com- mission 2020) im Jänner 2022 beobachtbar ist. Um die Macht der IT-Monopole einzudämmen, setzen politische Akteur:innen auf „ protektionistische Maßnahmen“ und Stärkung eigener Wirtschaftsunternehmen. So könne man fast von einem „digitalen Wettrüsten“ sprechen (Piétron 2021, S. 116), bei dem digitalkapitalistische Strukturen wegen ihres großen Lobbykreises im Vorteil sind. Weiters bauen Staaten sukzessive eigenständige Plattformen auf – wie bspw. die euro- päische Cloud-Plattform Gaia-X (Bonfiglio 2021) – oder etablieren kommunale Platt- formanbieter, die in einer Gemeinschaftlichkeit über die Nutzung, Speicherung oder Löschung der Datensammlungen entscheiden. Um der digitalkapitalistischen Fremd- steuerung entgegenzuwirken, wird eine kollektive Datenkontrolle gefordert, die demo- kratisch in einem Checks-and-Balances-System auch unabhängig von ökonomischen Verwertungsinteressen und staatlicher Überwachung um die Frage kreist: „Welche gesellschaftlichen Daten sollen von wem gesammelt und für welche Zwecke genutzt werden?”. Es bedarf einer „Vergesellschaftung digitaler Infrastrukturen” (ebd., S. 121). Dies könne in Form einer „Patengenossenschaft“ erfolgen, deren Mitglieder „sämtliche Daten sicher speichern und nur für klar definierte Zwecke zur Verfügung stellen“ und so „die Kontrolle über die Erhebung, Auswertung und Nutzung von personenbezoge- nen Daten in ein inklusives Verfahren zur kollektiven Entscheidungsfindung einbetten“ (ebd., p. 123). Suffizienz, Digitalität und digitaler Kapitalismus 119 Die Infrastrukturen der Digitalität beruhen nicht auf Vielfalt, sondern auf der Macht weniger Unternehmen, die nicht nur als Monopole, sondern als „proprietäre Märkte“ zu verstehen sind (Staab 2020, S. 29); also als Märkte, die ihrer eigenen Logik, ihren eigenen Zielen und ihrer eigenen Vernetzheit folgen. Mehr noch: Der digitale Kapita- lismus kann als neue Form der Planwirtschaft verstanden werden (Beverungen 2021, S. 95). Die großen IT-Konzerne wie Amazon seien es, „die heute unsere ökonomischen Zukünfte planen, indem sie versuchen, unsere Bedürfnisse zu antizipieren und beein- flussen und die Zirkulation von Waren darauf auszurichten“. Der Markt des digitalen Kapitalismus basiert auf Zukunftsvisionen; die Warenlager von Amazon heißen viel- versprechend „fulfillment center“ und geben an, dass Bedürfnisse gestillt werden, von denen niemand weiß, sie demnächst zu haben. Der Ursprung dessen ist in frühen ky- bernetischen Überlegungen zu „Kontrolle, Information, Automatisierung und Netzwer- ken“ und einer Koppelung mit neoliberalen Zielen zu finden. Dies mündet in der „Ent- eignung“ durch Algorithmen und Maschinen und deren Kontrolle über das chaotische System der Lagerung etwa bei Amazon (ebd., S. 98 f.). In den Lagerhäusern werden die Waren nicht mehr nach einer Logik der Waren sor- tiert, sondern algorithmisch gesteuert und sind dadurch nur über Computerprogramme auffindbar. Die dabei zentral verwendete Sprache sind Strichcodes (Beverungen 2021), die den dauerhaften „Fluss von Datenströmen“ ermöglicht und Waren wie Menschen jeweils lokalisieren und somit effizient einsetzen können. Durch andauernde Datenströme und die Lokalisierung und Evaluierung entsprechen- der Leistungskennzahlen entsteht ein totalitäres Überwachungsregime. Die Wirtschaft ist datengetrieben und die wertvollsten Unternehmen betreiben als Kerngeschäft die „Kontrolle von Datenströmen“ (Piétron 2021, S. 110). Sie schieben sich als „Vermittler zwischen Anbieter- und Käuferseite“, gewinnen Daten, mit denen sie den Markt be- spielen und Entwicklungen planen. Kein Lebensbereich ist davon befreit: Online-Ein- zelhandel, Übernachtungen, Taxi, Lieferdienst und Lebensbereiche wie Bestattungen, Reinigungs- und Pflegedienste, Rechtsberatungen, Handwerkertätigkeiten, Musik und Bildung sind eingenommen. Via „Machine-Learning-Technologie“ werden die Daten ausgewertet und ermöglichen so eine „weitreichende Vorhersagemacht über das Ver- halten ganzer Gesellschaften“. Als Folge bleiben „tiefgreifende soziale, ökonomische und demokratische Verwerfungen“ (ebd., S. 111). Diese werden durch die Steuerung der monopolistischen Plattformen verschärft hin zu einer „radikalen Form der Markt- steuerung“, indem etwa darüber automatisiert entschieden wird, „welche Nutzergruppe welche Nachrichten zu Gesicht bekommt, welcher Dienstleister den Auftrag erhält oder welcher Anbieter ganz oben in der Suchliste erscheint“ (ebd., S. 114). Erneut wird dazu aufgerufen ein Gegenzeichen zu setzen. „Reverse engineering“ meint die Aneignung der Strukturen des digitalen Kapitalismus (bspw. Logistik und Planung) um „sie für eine egalitäre, ökologisch rationale Zivilisation um[zu]widmen“ (Beverun- 120 Nina Grünberger gen 2021, S. 96). So ließe sich das „algorithmische Steuerungspotenzial öffentlicher Plattformen in den Dienst der sozialökologischen Transformation stellen“. So wie Ama- zon oder Google bestimmte Angebote prominenter platzieren, so könnten Regulierun- gen dazu verhelfen jeweils nachhaltigere Angebote zu präferieren; „statt Nutzer zum Mehrkonsum zu stimulieren, könnten Anreize für umweltbewusstes Verhalten gesetzt werden“ (Piétron 2021, S. 120). Dabei sei zweierlei hervorgehoben: Zum Ersten gilt es zu betonen, dass es jeweils nur Anreize für ein umweltbewussteres Handeln sein können, die aber gleichzeitig ein selbstverantwortetes und reflektiertes Entscheiden auf Basis eines Verstehens der Problematik notwendig macht. Zum Zweiten, dass auch hierin das Problem der BNE sichtbar wird, dass normativ ein bestimmter Entwurf einer Zukunft für nachkommende Generationen propagiert und dann dessen Umsetzung durch Anreizsysteme unterstützt werden würde. Conclusio: Herausforderungen für die Medienpädagogik Fast schon absurd mutet es an, angesichts der beschriebenen digitalkapitalistischen Strukturen ein individuelles suffizientes Medienhandeln zu propagieren. Was aber ist dann die Aufgabe von Medienpädagogik und inwiefern betrifft all das den Bildungs- kontext? – Wie beschrieben haben sich die großen IT-Unternehmen schon längst in staatlichen Bildungseinrichtungen etabliert und sind von dort nur schwer wegzuden- ken (Hug/Madritsch 2021). Eine medienpädagogische Aufgabe liegt also auch darin auf die Bedeutung und Macht dieser IT-Monopole zu verweisen, die Entwicklungen des Digitalen Kapitalismus zu beobachten und zu reflektieren und für die pädagogische Praxis allenfalls Alternativen (etwa in Form von Open-Source-Angeboten) zu eröffnen (ebd. S.23 f.). Dies kann erneut nur mit der Unterstützung staatlicher und überstaatli- cher Organisationen erfolgen, damit regionale IT-Unternehmen mit dem Anspruch so- zial, ökonomisch und ökologisch nachhaltig zu agieren eine reale Chance haben. Denn: „Google, Amazon, Microsoft, Apple, Facebook etc. [...] intervenieren zusehends in konsumentenzentrierte Infrastrukturdienstleistungen wie Gesundheit, Bildung, Mobi- lität, Logistik, Telekommunikation und Nahversorgung mit alltäglichen Gebrauchsgü- tern, aber auch in den Industriesektor“. Entstanden sind „gewaltige, marktübergreifende Konglomerate [...], die die Aufmerksamkeit der Nutzer[:innen] vollständig an sich bin- den“. Die monopolartigen Plattformen sind die „zentralen Schnittstelle zur Außenwelt“ der Nutzer:innen (Beverungen 2021, S. 115). In Analogie könnte man überspitzt formulieren: Microsoft, Google und Apple avancie- ren zur Basis schulischer Medienbildung und Digitaler Grundbildung, da so gut wie alle Prozesse über deren Infrastrukturen erfolgen. Dies bezeichnet Niesyto (2017, S. 4 f.) als systematische Unterhöhlung von Bildungsanstrengungen: Medienbildung könne dann Suffizienz, Digitalität und digitaler Kapitalismus 121 sich noch so sehr anstrengen und den enormen Einfluss digitalkapitalistischer Struktu- ren dennoch nicht zurückdrängen. Selbstsozialisation in medialen Welten durch Heran- wachsende muss jedenfalls mit der Vermittlung einer kritischen Perspektive gegenüber diesen Strukturen einhergehen und mit Anregungen für kreativ-konstruktive und sub- versive Formen der Entwicklung neuer Ideen im Umgang mit den oder im Kapern der Strukturen des Digitalen Kapitalismus ergänzt werden. Mit Blick auf schulische Lehrpläne zu Themenfelder um Digitale Grundbildung oder Bildung in einer digital-vernetzten Welt ebenso wie mit Blick auf tertiäre Curricula im Bereich der Pädagogik und Lehrer:innenbildung gilt es – wie schon häufig gefordert – Fragen einer informatischen Bildung und Medienbildung konsequent zusammen zu denken. Nur ein Verstehen der Grundarchitektur und -logik der digital-technologischen Umwelt ermöglicht eine reflektierte, kritische und kreative Medienbildung. Gleichzeitig bedarf es zusätzlich einer konsequenten Verbindung einer informatischen Grundbildung und Medienbildung mit Inhalten und didaktischen Ansätzen der BNE und der Politi- schen Bildung. Denn nur ein Verstehen und Nachvollziehenkönnen der weitreichenden Implikationen der digital-technologischen Infrastruktur auf die Umwelt und das soziale Gefüge ermöglicht – erneut – einen reflektierten, kritischen und kreativen Umgang mit und eine Teilhabe an der Digialität. Dabei sind die Grundprinzipien und die allgemeinen didaktischen Leitlinien der genannten Disziplinen nahezu verwandt: Entlang der Analyse sozio-kultureller und medialer Muster geht es im Rahmen medien- pädagogischer Kontexte darum Subjektivierungsprozesse in der Digitalität zu begleiten und insbesondere das „Offensein für Widerständigkeiten und die Unterstützung der Ar- tikulation von eigensinnigen Vorstellungen“ zu bestärken sowie „Räume für ein Denken in Alternativen zu befördern“ (ebd., S. 23f). Hierfür bedarf es didaktischer Konzepte sowie Lehr-Lernmaterialien, um dies etwa in der Schule entsprechend thematisieren zu können. Dies kann über die Vermittlung der Materialität und Dematerialisierung von digitaler Technologie bspw. in Form von De- und Rekonstruktion digitaler Ge- räte erfolgen. Derartige Lehr-Lernmaterialien werden zunehmend entwickelt und zur freien Nutzung bereitgestellt. Einen guten Überblick bieten Demmler/Schorb 2021. Im Rahmen eines partizipativen Projekts mit Schüler:innen sind die Lehr-Lernunterlagen ÖHA! für die Primar- sowie Sekundarstufe 1 entstanden (Döbrentey et al. 2021). Die online-verfügbaren Materialien des F3_Kollektives #digital_global fokussieren explizit „Machtkritische Bildungsmaterialien zur Digitalisierung“ (https://www.digital-global. net/). Und auf einigen Seiten3 werden aktuelle Angebote und Materialien kuratiert. Jedenfalls: Das Propagieren bestimmter Suffizienzstrategien für das individuelle Me- dienhandeln ohne kritische Analyse bestehender gesellschaftlicher und ökonomischer 3 Eine hierfür hilfreiche Website ist etwa das Portal Globales Lernen (https://www.globaleslernen. de/de/fokusthemen/fokus-digitalisierung-und-globales-lernen/bildungsmaterialien). 122 Nina Grünberger Strukturen kann nicht Ziel der Medienpädagogik sein. Wissenschaftliche Auseinander- setzung und medienpädagogische Theoriebildung sowie pädagogisch-praktische Szena- rien sollten ihren Ursprung jeweils in einer kritischen Analyse „medialer Strukturmuster im Kontext gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse“ (ebd., S. 5) haben. In der pädagogischen Praxis gilt es das Thema in der Komplexität und Vernetztheit an- schaulich, ersichtlich und letztlich mit allen Sinnen greifbar zu machen. Literatur Beverungen, Armin (2021): Kybernetischer Kapitalismus? In: Daum, Timo; Nuss, Sabine (Hrsg.): Die unsichtbare Hand des Plans: Koordination und Kalkül im digitalen Kapita- lismus. Berlin: Dietz Verlag, S. 95-109. Bonfiglio, Fransesco (2021): Vision and Strategy, gaia-X. Gaia-X European Association for Data and Cloud AISBL. 16. Dezember 2021. Abgerufen unter: https://gaia-x.eu/sites/ default/files/2021-12/Vision%20%26%20Strategy.pdf [Stand vom 23-01-2022]. 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Wissenschaftlich alles Andere als überzeugend und getrieben von einem geradezu un- erschütterlichen normativen Bewusstsein wurden unter dem Rubrum Ideologiekritik Ver- dammungsurteile quasi in Serie gefällt. Resultat waren Entlarvungsrituale, die mit enormer Zuverlässigkeit das Erwartbare bestätigten und so zu erstaunlich geringen Erkenntnissen führten. Die Cultural Studies setzten diesen Gestus mit gebremsten Schaum und ziemlich überschaubaren normativen Inventaren fort. Die notorische Echauffiertheit der Kritischen Theorie und der Cultural Studies wich nur allmählich einer vergleichsweise schnell vor- übergehenden Phase einigermaßen rationaler Auseinandersetzung mit dem Objekt. Der normative Impuls jedoch erwies sich als erstaunlich zäh und überlebensfähig: Die ka- tegorische Kritik schlug um in einen kaum minder blinden Positivismus, der noch die sim- pelsten ästhetischen Kabalen medienindustrieller Produktionsformen zu feiern sich an- schickte und zugleich sich jeglichen kritischen Reflex versagte. Die Heroisierung selbst der banalsten medialen Praxisformen passt nur zu gut zu solch gnadenlosem Positivismus. Dass dann dieser wiederum in eine ebenso blind laufende Kritik umschlagen konnte, ver- wundert schon weniger, gehört das Ganze doch zu jenen theoretischen Mechaniken, die die Medienwissenschaften in ihren Anfängen noch als Ideologieproduktion denunziert hatte. Die beschränkten normativen Inventare der Cultural Studies wurden mit einem normativen Verve und Rigorismus vorgetragen, der unüberhörbar deutlich machen sollte, dass es wirk- lich um etwas ginge, wie partiell und randständig die jeweiligen Phänomene, für die man die Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 126 Rainer Leschke Patronage übernahm, auch sein mochten. Angesichts einer solchen Fachgeschichte ist es dann ausgerechnet wieder Kritik, die Not tut – nun allerdings eine Kritik der eigenen Normativität. 1. Kritik als Theorieform Die Medienwissenschaften gehören zu den wenigen Disziplinen, an deren Beginn die Verachtung oder zumindest die Kritik ihres Gegenstandes stand. Die Beschäftigung mit den Medien gehorchte über weite Strecken einem deutlich kritischen Impuls, sie war motiviert im apokalyptischen Diskurs über einen durch Massenmedien verursachten kulturellen Niedergang und getragen von dem Versuch, diesen mit allen Mitteln zu ver- hindern. Wissenschaftlich alles Andere als überzeugend und getrieben von einem gera- dezu unerschütterlichen normativen Bewusstsein wurden unter dem Rubrum Ideologie- kritik Verdammungsurteile quasi in Serie gefällt. Resultat waren Entlarvungsrituale, die mit enormer Zuverlässigkeit das Erwartbare bestätigten und so zu erstaunlich geringen Erkenntnissen führten. Die Cultural Studies setzten diesen Gestus mit kaum weniger gebremstem Schaum vor dem Mund und ziemlich überschaubaren normativen Inventa- ren fort. Die notorische Echauffiertheit der Kritischen Theorie und der Cultural Studies wich nur allmählich einer vergleichsweise schnell vorübergehenden Phase einigerma- ßen rationaler Auseinandersetzung mit dem Objekt. Der normative Impuls jedoch erwies sich als erstaunlich zäh und überlebensfähig: Die kategorische Kritik schlug um in einen kaum minder blinden Positivismus, der noch die simpelsten ästhetischen Kabalen medienindustrieller Produktionsformen zu feiern sich anschickte und zugleich sich jeglichen kritischen Reflex versagte. Die Heroisie- rung selbst der banalsten medialen Praxisformen passt nur zu gut zu solch gnadenlosem Positivismus. Dass dann dieser wiederum in eine ebenso blind laufende Kritik umschla- gen konnte, verwundert schon weniger, gehört das Ganze doch zu jenen theoretischen Mechaniken, die die Medienwissenschaften in ihren Anfängen noch als Ideologiepro- duktion denunziert hatte. Die beschränkten normativen Inventare der Cultural Studies wurden mit einem normativen Verve und Rigorismus vorgetragen, der unüberhörbar deutlich machen sollte, dass es wirklich um etwas ginge, wie partiell und randständig die jeweiligen Phänomene, für die man die Patronage übernahm, auch sein mochten. Angesichts einer solchen Fachgeschichte ist es dann ausgerechnet wieder Kritik, die Not tut – nun allerdings eine Kritik der eigenen Normativität. Kritik als Theorieform 127 2. Die kritische Kritik1 Kaum jemand wird der Kritischen Theorie eine gewisse Autorität in Bezug auf kriti- sches Denken absprechen wollen. Dabei gibt es durchaus eine Ambivalenz zwischen dem theoretischen Begriff der Kritik und jener Praxis der Kritik, die quasi als Abfall- produkt durch die Feuilletons und politischen Diskurse geisterte und die eine ebenso enorme wie eigenständige Wirksamkeit entfaltete. Dabei zeichnet sich der theoretische Begriff von Kritik zunächst einmal durch eine erstaunliche Harmlosigkeit aus: Kritik meint nämlich kaum etwas Anderes als eine peinlich genaue Überprüfung von Vermö- gen, Fähigkeiten und Zusammenhängen. Es geht also nur darum, auf dem eigentlichen Element des Denkens, der Reflexion, zu beharren und diesem zu seinem theoretischen Recht zu verhelfen. „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht ab- weisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufge- geben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“ (Kant 1781, S. 11) Kant beginnt seine Kritik der reinen Vernunft mithin zugleich mit der Notwendigkeit wie mit dem Paradox der Kritik. Die konkrete Definition von Kritik lautet dann wie folgt: „Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkennt- nisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung so wohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien.“ (Kant 1781, S. 13) Auf Kants Kritik basiert letztlich zumindest dem Gestus nach die Kritische Theorie. Allerdings ist Kants Begriff der Kritik nicht moralisch. Er wird es erst, wenn er mit 1 „Also die Kritik und die Kritiker sind zuerst zwei ganz verschiedene, außereinander stehende und handelnde Subjekte. Der Kritiker ist ein andres Subjekt als die Kritik, und die Kritik ein andres Subjekt als der Kritiker. Diese personifizierte Kritik, die Kritik als Subjekt, ist ja eben die ‚kritische Kritik‘, gegen die die ‚Heilige Familie‘ auftrat. ‚Die Kritik und die Kritiker haben, solange sie sind, die Geschichte gelenkt und gemacht.‘“ (Marx & Engels 1969 [1845], S. 93; kursiv i. Org.) 128 Rainer Leschke der Aufklärung2 und d.h. mit Politik zusammengerührt wird, was im Prinzip nicht ganz falsch ist, weil bekanntlich Kant das selbst unternommen hat: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschulde- ten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Ver- standes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Auf- klärung.“ (Kant 1784, S. 481) Moralische Kritik, vor allem, wenn sie sich in dieser Deutlichkeit unversöhnlich gibt, sorgt dafür, dass etwa Schiller, der von der theoretischen Kritik nicht allzu viel verstand, sich gegen den Rigoristen der Moral wenden zu müssen meinte, indem er eine ästhe- tisch motivierte Variante der Kritik des Moralismus lieferte. Es gibt also, was häufig übersehen wird, bereits bei Kant einen dreifachen Kritik-Be- griff: nämlich den von immanenter, epistemologischer und normativer Kritik. Und ge- rade diese triadische Struktur der Kritik wird von der Kritischen Theorie aufs Vehemen- teste bespielt. Wenn mit einigem Recht angenommen werden darf, dass die immanente Kritik Bestandteil jeglicher theoretischen Bemühung ist, dann können die immanente und epistemologische Herausforderung angesichts von Horkheimers „Die traditionel- le und die kritische Theorie“ und Adornos (1966) „negativer Dialektik“ einigermaßen fraglos als erfüllt angesehen werden. Ganz anders sieht es hingegen mit der moralischen Kritik aus, die die Folie für den negativen Start3 der Medienwissenschaft bilden sollte. Denn die Medienwissenschaft startet vor diesem Hintergrund unter dem Rubrum von „Aufklärung als Massenbetrug“, wie der Untertitel des die Medien betreffenden Kapitels der „Dialektik der Aufklärung“ die Sache auf den Begriff zu bringen sucht. Von dieser konstitutiven kritischen Negati- vität sollten sich die Medien im Horizont der Frankfurter Schule nicht mehr erholen und diese Negativität bestand zunächst einmal darin, dass die Medien noch etwas Anderes reproduzierten als Kunst. Horkheimer und Adorno hatten eine Politik der geliehenen 2 „Der Aufklärer Kant, der die Gesellschaft aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit sehen wollte, und der Autonomie, also Urteil nach eigener Einsicht im Gegensatz zur Heteronomie, zum Gehorsam gegen fremd Anbefohlenes lehrte, hat seine drei Hauptwerke Kritiken genannt.“ (Adorno 1969, S. 11) 3 Für den euphemistischen Aufschlag hat bekanntlich McLuhan gesorgt, was in Europa allerdings erst ab Mitte der 80er Jahre wahrgenommen werden sollte. Kritik als Theorieform 129 und damit nicht mehr zu begründenden Normen betrieben. Die Trennung von „Wert und Forschung“ (Horkheimer 1937a, S. 29), die Horkheimer als Ausdruck notwendiger Entfremdung philosophischer Terminologie interpretiert, markiert zugleich den Kern der Schwierigkeiten bei der Konstruktion einer kritischen Theorie: „Wenn das Aufstellen von Theorien im traditionellen Sinn einen gegen andere wissenschaftliche und geistige Tätigkeiten abgegrenzten Beruf in der gegebenen Gesellschaft ausmacht und von historischen Zielsetzungen und Tendenzen, in die solches Geschäft verflochten ist, selbst gar nichts zu wissen braucht, folgt die kritische Theorie in der Bildung ihrer Kategorien und allen Phasen Ihres Fortgangs ganz bewußt dem Interesse an der ver- nünftigen Organisation der menschlichen Aktivität, das aufzuhellen und zu legitimieren ihr selbst auch aufgegeben ist. Denn es geht ihr nicht nur um Zwecke, wie sie durch die Lebensformen vorgezeichnet sind, son- dern um die Menschen mit all ihren Möglichkeiten. Insofern bewahrt die kritische Theorie über das Erbe des deutschen Idealismus hinaus das der Philosophie schlechthin; sie ist nicht irgendeine Forschungshypothese, die im herrschenden Betrieb ihren Nutzen erweist, sondern ein unablösbares Moment der historischen Anstrengung, eine Welt zu schaffen, die den Be- dürfnissen und Kräften der Menschen genügt.“ (Horkheimer 1937b, S. 58) Die Kritische Theorie bezieht dabei ihr normatives Material aus den Inventaren der Auf- klärung. Der Rückgriff auf einen solchen Fundus ist bequem und geschickt zugleich, denn der Aufwand einer normativen Grundlegung von Theoremen ist bekanntlich enorm und kann auf diesem Wege einigermaßen elegant umgangen werden. Zugleich werden normative Allianzen geschmiedet und eine Anschlussfähigkeit gesichert, die andernfalls durchaus fraglich gewesen wäre. Dabei hält die Melange von deutschem Idealismus und Marxscher Sozialphilosophie beinahe für jeden etwas vorrätig, sodass kaum einer, der einigermaßen guten Willens ist, sich den normativen Zumutungen zu entziehen vermag. Eigentlich ist es nur die enorme Erfassungsbreite des normativen Kalküls, die die Frankfurter Schule von den handelsüblichen, aber erheblich einseitiger interessierten Konstruktionen unterscheidet. Das epistemologische Problem, das man sich auf die- sem Wege zwangsläufig einhandelt, wird durch die epistemologische Arbeit selbst dabei wenigstens einigermaßen in Waage gehalten und diese Balance wird sie grundlegend von den weiteren normativen Konstruktionen und Legitimationsversuchen von Kritik unterscheiden. Dass vor dem Horizont einer solchen normativen Grundlegung die Medien, sofern sie sich populärer Unterhaltung und damit dem Kommerz verschrieben haben, kaum Gnade finden können, versteht sich von selbst. Die Differenz von Medien und Kunstsystem 130 Rainer Leschke wird dabei zugleich normativ kodiert und diese normative Kodierung sorgt dafür, dass die Funktionsweisen des Mediensystems nur begrenzt zum Gegenstand der Analyse werden können. Medien sind konstitutiver Teil eines Verblendungszusammenhangs, der für die Stabilität an sich und d.h. für normativ unhaltbare Zustände sorgt. Dabei ist es keineswegs falsch, dass das Mediensystem durch einen ‚affirmativen Charakter‘ gekennzeichnet ist, allerdings bleibt offen, ob dieser zwangsläufig einen entsprechend reaktionären Bias aufweisen muss. Medienanalyse auf einer solchen Basis betätigt sich als Hermeneutik des Grauens und der Unterdrückung und Exerzitien auf diesem Felde gehörten zu den ritualisierten denunziatorischen Fingerübungen, die Adorno der Me- dienerziehung anempfahl. Gerade die Annahme, dass es sich um ein systematisches Problem des Mediensystems handelte, ließ diese rituellen Decouvrierungsübungen ebenso zuverlässig wie treffsicher werden. Die Ideologiekritik des Mediensystems hatte zwangsläufig immer Recht, solange sie sich nur nicht anheischig machte, erklären zu wollen, wie Massengesellschaften anders kulturell funktionieren können sollten. Die In- differenz des Mediensystems gegenüber den polit-ökonomischen Organisationsformen von Sozialsystemen fällt auf die rituellen Praktiken der Kritik selbst zurück und lässt sie in einem bezeichnenden Sinne systematisch unwahr werden. In dem Moment, in dem Medien in die Infrastruktur von Sozialsystemen diffundieren, wird die normative Hermeneutik entweder zur Sozialkritik oder aber sie wird irrelevant, führt sie doch den Zeitstempel der Aufklärung nach wie vor mit sich. Sobald sich aber die negative Dialektik des Mediensystems erst einmal erschöpft4 hat, gibt es wieder die Chance zur Positivierung des inkriminierten Objekts: Nämlich auf Grundlage einer an McLuhan geschulten affirmativen Verehrung des Mediensystems, die Kritik gar nicht erst zulässt. McLuhan kennt weder die schlecht gelaunte kritische Kritik der Frankfurter Schule, noch die moralisch verstärkte subversive Kritik des Me- diensystems der Cultural Studies, die den populären Kulturen partout revolutionäres Potential ablauschen will. Zugleich fehlt ihr jegliches Bewusstsein eines Mangels epis- temologischer Arbeit und d.h. von Kritik als Theorieform. Die zunehmende Moralisie- rung von Kritik, gleich ob sie affirmativer oder subversiver Natur sein soll, geht daher zugleich mit einer strukturellen Verkürzung von Kritik einher. 4 Die ritualisierte Denunziation des affirmativen Charakters des Mediensystems sorgt mit ihren ziemlich erwartbaren Erkenntnissen und einem notorischen Mangel an Überraschungen vergleichsweise schnell für einen nachhaltigen Rückgang des Interesses. So setzt die Positivierung des Mediensystems in der Medienwissenschaft bereits zu Beginn der 80er Jahre des 20. Jhs. ein. Kritik als Theorieform 131 3. Kritik als Ritual oder die heilige Dreifaltigkeit der Cultural Studies Auch der gnadenlosen Positivierung des vormals Negativen gelingt es systematisch nicht, ohne einen normativen Impact auszukommen: Sie intensiviert und fokussiert vielmehr den normativen Impuls noch zusätzlich. Dennoch bleibt die normative Basis einigermaßen vertraut, denn entstanden ist auch sie im Weichbild der Frankfurter Schu- le. Nachdem das revolutionäre Subjekt spätestens in Faschismus, Monopolkapitalismus und Stalinismus abhanden gekommen ist, läuft der normative Auftrag der polit-ökono- mischen Grundlegung des Sozialen quasi ins Leere. Es fehlt schlicht der Adressat. Trotz eines aus der Intensivierung sozialer Unterschiede sich normativ ableitenden Imperativs einer einigermaßen radikalen sozialen Veränderung erwies sich das Proletariat in nahezu allen Sozialsystemen faktisch als ein revolutionärer Totalausfall (vgl. Marcuse 1972, S. 12). Es decouvrierte sich im Gegenteil als ebenso probate wie willige Stütze der jewei- ligen Unterdrückungsmaschinerie. Insofern war das Proletariat in allen wesentlichen Hinsichten schlicht reaktionär. Dem normativen Gebot ist mithin der Adressat abhanden gekommen, d.h., die Revolution fiel aus.5 Die Produktivkräfte sprengten keineswegs das System, wie die Theorie es vorgedacht hatte, sondern die Verbindung von sozio-öko- nomischer Bestechung und Produktivkraftsteigerung erzeugte eine erstaunlich stabile Trägerschaft für ein nach wie vor repressives System. Die soziale Verelendung6 fand trotz aller sozialen Unterschiede nicht statt und die Partizipation am Unterdrückungs- zusammenhang erwies sich meist als deutlich erfolgversprechender als eine Revolte auf verlorenem Posten. Die geradezu verzweifelte Suche nach einem revolutionären Subjekt führt Marcuse weg von den ökonomistisch beschränkten Konstrukten des traditionellen Marxismus: 5 „Hier [in der westlichen Welt; Anm. d. Verf.] gibt es keine neuere Revolution, die rückgängig gemacht werden müßte und es steht auch keine bevor.“ (Marcuse 1972, S. 8) „Zusammenfassend kann man sagen: der höchsten Stufe der kapitalistischen Entwicklung entspricht in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ein Tiefstand revolutionären Potentials.“ (Marcuse 1972, S. 11) 6 Die Substitution der unmittelbar zwingenden Verelendung, die zu unmittelbaren revolutionären Konsequenzen führen sollte, durch eine „relative [...] Verelendung“ oder „kulturelle Verelendung“ (Marcuse 1972, S. 24) lässt deutlich werden, dass derartige Hilfskonstruktionen das Paradigma selbst letztlich nicht retten können, da ihnen die unmittelbare Nötigung und damit die Dynamik abgehen. „Von den drei Eigenschaften, die nach der Marxschen Theorie die Arbeiterklasse zum potentiellen revolutionären Subjekt machen (1. Sie allein kann den Produktionsprozeß zum Stillstand bringen; 2. bildet sie die Mehrheit der Bevölkerung und stellt 3. in ihrer ganzen Existenz die Negation des Bestehenden dar), trifft nur noch die erste Eigenschaft auf jenen Teil der amerikanischen Arbeiterklasse zu, […]. Aber die Marxsche Konzeption schließt die Einheit jener drei Eigenschaften ein […].“ (Marcuse 1972, S. 49 f.) 132 Rainer Leschke „Die Bekundung eines nicht an Konkurrenz orientierten Verhaltens, die Ablehnung grobschlächtiger ‚Virilität‘, das Entlarven der kapitalistischen Arbeitsproduktivität, die Bejahung der Sensibilität und Sinnlichkeit des Körpers, der ökologische Protest, die Verachtung des falschen Helden- tums der Weltraumeroberungen und Kolonialkriege, die Emanzipations- bewegung der Frauen […], die Ablehnung des anti-erotischen, puritani- schen Kults steriler Schönheit und Gepflegtheit – all diese Tendenzen tra- gen zum Abbau des Leistungsprinzips bei.“ (Marcuse 1972, S. 41) Damit sind zugleich die potentiellen Protagonisten einer gesellschaftlichen Verände- rung angesprochen. Der Verlust des von Marxscher Theorie einst imaginierten großen revolutionären Subjekts verwies stattdessen an die Ränder des erstaunlich stabilen Systems, das seine theoretisch prognostizierte Implosion längst überlebt hatte: Einge- sammelt werden nun quasi als Ersatz alle, die von Herrschaft ausgenommen, die nicht integriert und marginalisiert sind. Diese Marginalisierten, die nun für materialistische Konzepte aushelfen sollten, mussten bis dato weitgehend ohne theoretische Repräsen- tation auskommen und sie kommen auch bei Marcuse über den Status eines Surrogats nicht hinaus. Sie dienen dem Reparaturbetrieb für ein theoretisches Paradigma, dessen Beschreibungsleistung offenkundig erodiert ist. Die normative Konstruktion, die mit einer Aufwertung des vormals Marginalisierten operiert, dient der Kompensation eines paradigmatischen Mangels: Moral wird damit zum theoretischen Reparatur-Kit. Damit aber ändert sich nicht nur der Gestus, son- dern vor allem der Zusammenhang der beiden Modi der Kritik: Diente bei Kant der normative Impuls vor allem noch der Durchsetzung eines Paradigmas, wobei das Para- digma selbst weder infrage gestellt, noch von der Normativität affiziert war, so hatte die Frankfurter Schule die kantische Trias von immanenter Kritik, epistemologischer Arbeit und normativem Anspruch nicht nur beibehalten, sondern sie avancierte zum konstitutiven Teil des Konzepts, das aufgrund der Verschränkung von Normativität und Epistemologie sich damit teilweise von seiner Beschreibungsleistung verabschiedete. In diesem Abschied von der Erklärungsleistung des sozialphilosophischen Paradigmas, die mit einem gegriffenen, vordringlich normativ konstruierten Objekt operiert, statt „im Ausgang von diesen tatsächlichen Bedingungen“ (Eco 1964, S. 18; kursiv i. Org.) ihre Paradigmen zu entwickeln, eröffnet sich zugleich der Raum für eine Trennung von epistemologischer und theoretischer Arbeit, die einigermaßen fatal enden sollte. Die Möglichkeit des Rückzugs auf eine reine Normativität gehört mithin zu den problema- tischen Erblasten der Frankfurter Schule, an die die Cultural Studies andocken sollten. „Nicht Theorie als der Wille zum Wissen, sondern Theorie als eine Reihe umkämpfter, lokalisierter, konjunktureller Wissenselemente, die in einer Kritik als Theorieform 133 dialogischen Weise debattiert werden müssen. Aber auch als eine Praxis, die immer über ihre Intervention in einer Welt nachdenkt, in der sie etwas verändern, etwas bewirken könnte.“ (Hall 2000, S. 50 f) Indem Hall das theoretische Terrain zum Kampfgebiet erklärt, substituiert er die ar- gumentative Auseinandersetzung durch eine normative. Es genügt dann, die richtigen normativen Standards zu teilen, um auch theoretisch Recht zu haben. Der Vorzug einer derartigen normativen Übercodierung liegt darin, dass die Ergebnisse immer schon feststehen, wenn sie nur normativ ‚korrekt‘ sein wollen. Das Erstaunliche bei dieser normativen Wende ist, dass sie noch nicht einmal das normative Inventar selbst stellt, sondern dies wird von Marcuse und seinen als marginalisiert identifizierten revolutio- nären Rändern der Sozialsysteme bezogen. Die Cultural Studies haben ihre epistemolo- gische Grundlegung gleichsam outgesourct, sodass sich die Leistung ihres Ansatzes auf eine normativ vorcodierte Hermeneutik populärer Medienprodukte reduziert. Zugleich bleiben die Cultural Studies normativ deutlich konservativer als etwa Marcuses eini- germaßen desillusionierte Analyse der amerikanischen Arbeiterklasse: Die Kritik der Frankfurter Schule an der Massenkultur muss von daher wenn schon nicht systematisch, dann zumindest empirisch umgewertet werden. „Dennoch hat das ursprüngliche Programm der Kritischen Theorie schwerwiegende Mängel, die eine radikale Rekonstruktion des klassi- schen Modells der Kulturindustrie erforderlich machen. Diese müßte eine konkretere umd (sic!) empirisch ausgerichtete Analyse der politischen Ökonomie der Medien und des Prozesses der Kulturproduktion sowie eine umfassende empirische und historische Erforschung der Konstruktionen der Medienindustrie und ihrer Wechselwirkung mit anderen sozialen Ins- titutionen umfassen.“ (Kellner 1995, S. 345) Die heilige Dreifaltigkeit von Gender, Race und Class gibt den Takt vor, was heißt, dass sie in jedem Fall wiedergefunden werden muss. Die Cultural Studies begeben sich also auf die Suche nach dem subversiven Potential der Kulturindustrie und ihrer Akteu- re. Die banale Tatsache, dass es, nimmt man Marcuses Analyse wenigstens einigerma- ßen ernst, sich schlicht um eine kontrafaktische Normativität handelt, wird dabei nach Kräften ignoriert. Wenn allerdings diese konstruktionsbedingte Diskrepanz zwischen normativem Anspruch und empirischem Befund nicht als Indikator für ein Scheitern des eigenen normativen Projektes gewertet wird, dann formiert es selbst das Telos der wissenschaftlichen Arbeit: Die ritualisierte Medienkritik der Frankfurter Schule, die in noch jedem Produkt der Kulturindustrie den Verhängniszusammenhang der kapitalis- tischen Totalität aufblitzen sah, wird substituiert durch die kaum minder ritualisierte 134 Rainer Leschke Affirmation des normativen Inventars von Gender, Race und Class.7 Die normative Rol- le rückwärts in Richtung einer Orthodoxie, die die Kritische Theorie längst aufgrund leidvoller Erfahrung verabschieden musste, basiert allein auf einem kontrafaktischen normativen Imperativ: Das Unterdrückte kann nicht anders denn gut sein. Insofern ist der Anschluss der Cultural Studies an die Kritische Theorie einigermaßen paradox: Sie übernehmen die theoretische Grundlegung und verabschieden sich damit aus der episte- mologischen Diskussion, sie übernehmen die von Marcuse identifizierten Surrogate für ein revolutionäres Subjekt, bleiben dennoch einigermaßen sentimental dem traditionel- len revolutionären Subjekt verpflichtet. Was auf diesem Wege verloren geht, ist jedoch eine epistemologische Grundlegung der Argumentation. Ersetzt wird das durch eine normativ aufgeladene Dogmatik. Wenn im Übergang von der Frankfurter Schule zu den Cultural Studies die theoretische Arbeit durch schlichte moralische Auffassungen substituiert werden, dann stellt sich die Frage, wie die Zirkulationsfähigkeit einer solchen weitgehend theorielosen Vorgehens- weise im Wissenschaftsapparat überhaupt aufrechterhalten werden konnte. Nun sind ideologisch überdeterminierte Hermeneutiken im Wissenschaftssystem we- niger ungewöhnlich, als es das Selbstbild von Wissenschaft vielleicht nahelegen mag. So haben bislang noch alle ideologischen Fundamentalismen religiöser oder politischer Provenienz solche Hermeneutiken provoziert und es gelang ihnen auch stets, diese für eine gewisse Zeit im Wissenschaftssystem zirkulieren zu lassen, allerdings war ihre Verweildauer immer an die soziale Geltung des jeweiligen ideologischen Konzepts ge- koppelt. Zunächst einmal geht es den Cultural Studies um die Positivierung des nicht zuletzt von der Frankfurter Schule Inkriminierten, also eine Umwertung jener Werte einer ästheti- schen Tradition, die von der Kritischen Theorie einigermaßen in Ruhe gelassen worden waren: Dem Konsum massenmedialer Produkte wird dann subversives Potential ab- gerungen und den couch potatoes so etwas wie Souveränität und Aktivität nachgesagt. Hall, Morley und Fiske können sich insofern deutlich schlechter von den Illusionen über das revolutionäre Potential der Arbeiterklasse trennen als etwa noch Marcuse. Der normative Imperativ, der dem Ganzen unterlegt wird, besteht darin, dass der Unter- drückte und das Opfer in jedem Fall normativ gut sein müssen. Auf diesem Wege wird dann – gelegentlich ziemlich bemüht – Material zur Rettung einer sozio-politischen Norm herbeigeschafft und damit ein Imago aufrechterhalten, für das sich ansonsten nur schwer noch Indizien finden lassen. Die Strategie kontrafaktischer normativer Unter- 7 Die Idee, dass einem solchen normativen Ersatzprojekt eine ähnliche Enttäuschung folgen könnte wie dem ersten revolutionären Subjekt, das sich als strukturkonservativ und reaktionär erwiesen hat, scheint bei den Cultural Studies noch nicht einmal dem Ansatz nach auf, wiewohl genau dieselbe Ernüchterung geradezu vorprogrammiert ist. Kritik als Theorieform 135 stellungen verfügt dabei über eine gewisse Tradition, ist sie doch in so ziemlich allen binär operierenden, normativ determinierten sozio-kulturellen Konzepten zu finden, die durch eine systematische Hermetik gekennzeichnet sind. Dabei ist das Riskante an sol- chen Konzepten gerade jene prinzipielle normative Unterstellung, der dann die Analyse zu folgen hat. Diese grundlegende Präsupposition wird dabei regelmäßig nicht zum Gegenstand der Überlegungen, sondern sie wird zumeist mit einer gehörigen Portion Pathos einfach deklariert oder, wie es sich für einen Imperativ gehört, schlicht gefordert. Damit entzieht sie sich auch der wissenschaftlichen Überprüfung. Die Identifizierung der normativen Passung wird so zum Kern der Operationen: Die Analyse des Materials fällt demgemäß zurück. „Diese Betrachtungsweise führt dazu, daß alle kulturellen Erfahrungen einander schlichtweg gleichgesetzt werden. Die populistische Annahme lautet, daß der Wert aller populärkulturellen Güter und Dienstleistungen gleich ist (...) und alle ihre eigenen Widerstandsformen haben.“ (Frith 1991, S. 196 f.) Bei der Annahme einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller kulturellen Handlungen handelt es sich um eine der Präsuppositionen, die ein normatives Vorurteil installieren, das dann die potentiellen Resultate möglicher Analysen weitestgehend präjudiziert. Das Schicksal derartiger normativer Präsuppositionen besteht wesentlich darin, dass es sich durchweg um erwünschte Zustände handelt, für die die Realität bestenfalls noch Indi- zien bereithält. Die Analyse muss sich auf derartige Indizien fokussieren, was zwangs- läufig auch der Empirie Grenzen setzt. Der Kontakt mit dem Gegenstand muss sich naturgemäß auf homöopathische Dosen beschränken. Darüber hinaus verweist die Präsupposition der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller kulturellen Manifestationen auf ein grundlegend ahistorisches Denken: Denn die Idee, wonach Theorien und ihre Objekte einen Zeitstempel8 tragen, der die Grundlage einer historischen Epistemologie darstellt, verhält sich natürlich antagonistisch zur Präsuppo- sition der schrankenlosen Gleichwertigkeit, wodurch epistemologische Dynamiken ihr Momentum verlieren und die Einsicht in solche historischen Entwicklungen prinzipiell verwehrt bleibt. Normative Hermeneutiken leben von der Vehemenz ihrer normativen Behauptung, also ihrem gesetzten Imperativ, und hier ist prinzipiell jede Annahme denkbar. Der herme- 8 Was die Postkolonial Studies mit Verve zu ignorieren suchen, ist der Zeitindex von Theorie: Es gibt eine Kritik der Aufklärung, es gibt eine Kritik der Moderne, aber eben keinen Feudalismus und keine Vormoderne, welche Marx noch recht präsent waren und daher auch theoriekonstitutiv wirkten. 136 Rainer Leschke neutische Akt selbst ist aber weder innovativ, noch fällt er auch nur der Form nach über- raschend aus: Alles bleibt dem normativen Vorurteil, also der Setzung, überlassen und der Vollzug selbst stellt im Wesentlichen hermeneutische Routine dar, nämlich als for- male Regel normativ geleiteter Interpretationen. Dass diese die Zugehörigkeit zu e inem geisteswissenschaftlichen Wissensmodus quasi in ihrer Konstruktion mitführen, ist be- kannt. Neben den normativen Hermeneutiken, deren Verbleib im Wissenschaftssystem selbst zunächst einmal politisch gesichert werden muss, setzen die Cultural Studies auf die Empirie. Sofern auf diesem Wege die Daten für die normativen Vorurteile nach- geliefert werden, ist der Verbleib im Wissenschaftssystem also einigermaßen gesichert. Allerdings emergieren zugleich auch Empirien zweiter Wahl, die keine Repräsentativität ihrer Aussagen geltend machen können, und das funktioniert nur, sofern sie auch über einen entsprechenden normativen Begleitschutz verfügen. Derartige Deskriptionen und Untersuchungen von Einzelfällen, die eigentlich ausschließlich für heuristische Bemü- hungen angedacht waren, erfahren dann eine ziemlich ungeschützte Verallgemeinerung. Dabei ist die normative Botmäßigkeit stets das Ausschlaggebende bei der Beurteilung und Einordnung und zugleich Voraussetzung der angeschlossenen Generalismen. Ein derartiges Verfahren führt zu einer Verschiebung der wissenschaftlichen Urteilskraft, denn die Verallgemeinerung ist selbst nicht mehr Gegenstand der kritischen Vernunft. Systematisch wächst durch die Intrusion normativer Momente der Konformitätsdruck auf wissenschaftliche Aussagen. Dabei betrifft die normative Konformität nahezu aus- schließlich die Inhalte und nicht die Paradigmen. Paradigmatische Selbststeuerungslo- giken im Wissenschaftssystem sind einigermaßen bekannt und es ist klar, dass es ihnen im geisteswissenschaftlichen und bedingt auch im sozialwissenschaftlichen Bereich systematisch an einer szientistischen Rigidität gebricht und eine Koexistenz differieren- der Paradigmen gang und gäbe ist. Dieser paradigmatische Liberalismus wird jedoch durch einen paradigmatischen und substantiellen Konformismus abgelöst, wodurch es zu einer Auseinandersetzung differierender Konzepte und Positionen gar nicht erst kommen kann, denn bei normativen Urteilen handelt es sich immer zugleich um Aus- schließungsoperationen. Dass eine solche binärlogische normative Unterwerfung nur funktioniert, wenn man die paradigmatischen und epistemologischen Ansprüche ent- sprechend herunterschraubt, liegt in der Logik der Sache. Auch wissenschaftshistorisch lässt sich zuverlässig festhalten, dass Zeiten mit vergleichsweise hohem normativen Druck kaum günstige Rahmenbedingungen für wissenschaftliche Dynamiken gewesen sind. Wenn aber das Wissenschaftssystem ein auf Originalität und Innovation gestelltes System ist, dann verhalten sich normative Interjektionen zwangsläufig hemmend und beschränkend. Zugleich fungieren Normen als kompensatorische Maßnahmen gegen paradigmatische Ansprüche und Obligationen. Man hat es mithin mit einem Entlastungskonzept von epistemologischer Grundlegung zu tun, das zu diesem Zweck die epistemologische Ent- Kritik als Theorieform 137 wicklung stillstellt. Derartige Entwicklungen lassen sich ansonsten nur bei gealterten Paradigmen feststellen, sodass wenigstens die Hoffnung bleibt, dass man es in den Geis- teswissenschaften nur mit einer synchronen Alterung der vorhandenen Paradigmen zu tun habe und so etwas wie ein kollektiver Paradigmenwechsel anstehe. Damit wäre das Eindringen normativer Ansprüche ins Wissenschaftssystem ein Indikator für einen Be- darf an epistemologischer Dynamik, nicht aber die Dynamik selbst. 4. Marodierende Moralisten Die normativen Hermeneutiken der Cultural Studies haben das Terrain für eine Freiset- zung normativer Ansprüche ohne jegliche epistemologische Kontrolle bereitet. Dabei hat sich der Postkolonialismus zu einem der zentralen Akteure dieser moralischen Nor- mierung des gesellschaftlichen Diskurses gemausert. Durch die Moralisierung des wissenschaftlichen Feldes, die im Übrigen nur in den Kultur- und Sozialwissenschaften überhaupt Anklang zu finden scheinen,9 werden die Effekte moralisierender Kritik nun auch auf diesem Terrain salonfähig, die bis dahin ei- nigermaßen vermieden werden konnten. So werden etwa Person und Argument gleich- gesetzt, was – nach der Logik des moralischen Diskurses – beim negativen Ausschluss eines Arguments zugleich die Person zum Abschuss freigibt. Die dem normativen Urteil inhärente Logik der abstrakten Negation schreitet dann konsequent von der Negation eines Arguments fort zum Ausschluss der Person und befeuert eine Cancel Culture, die sich bislang noch an Statuen austobt. Dass damit eine der zentralen Grundlagen wissen- schaftlicher Kritik erodiert, kümmert die normativ beseelten Akteure und wissenschaft- lichen Amateure wenig: Sie folgen der Logik der Denunziation und einer normativen Urteilskraft, wie sie regelmäßig gegen Häretiker gleich welchen Typs vorgebracht wird. Epistemologisch wird das Ganze mit einem charakteristischen U-Turn abgestützt: Die eifrige Kritik an Aufklärung und Moderne10 dispensiert zugleich von jenem szienti- fischen Rest, über den die Cultural Studies wenigstens in Teilen noch verfügten, so- fern sie sich nicht auf normative Hermeneutiken reduzierten. Für das rein moralische Agieren sind die szientifischen Obligationen ohnehin hinderlich. Das erklärt dann die charakteristische Ignoranz jenen politischen und epistemologischen Strukturelementen 9 Eine dekolonialisierte Naturwissenschaft scheint genauso wenig Sinn zu machen wie eine ‚deutsche‘ Physik. 10 Die Postkolonial Studies operieren mit charakteristisch begrenzten historischen Horizonten, d. h., der Verhängniszusammenhang beginnt allererst mit Aufklärung und Moderne. Das vergleichsweise geringe Wissen um den europäischen Feudalismus schließt unangenehme Vergleiche aus, die die normativen Präsuppositionen erheblich ramponieren könnten. 138 Rainer Leschke gegenüber, von denen sich die Aufklärung absetzte, was dazu führt, dass der reflektierte Blick etwa auf die historische Funktion von Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft, über den deren schärfster Kritiker Marx noch wie selbstverständlich verfügte, schlicht verloren ging. Die moralisierende Emphase tendiert zum totalitären Gedanken, der dem notorischen Dialektiker Marx erst vom Stalinismus mühsam beigebracht werden soll- te. Dass Orte jenseits der Aufklärung prekär sind und zumeist autoritär oder totalitär ausfallen, gerät zwangsläufig unter die Räder der moralischen Entrüstungsrituale. Den moralisierenden Amateuren mangelt es genau an jener Totalitarismuskritik, die noch die Kritische Theorie motivierte, was zugleich erklärt, warum sie so erschreckend simpel ausfallen können. Normativ regulierte Hermeneutiken treten mit dem Versprechen auf, die Erklärung aufgrund ihrer charakteristisch limitierten Sinninventare stets einfach zu machen, was dazu führt, dass sie sich in der Regel vorzugsweise wissenschaftlichen Amateuren andienen. Dass dabei Kritik zwangsläufig in moralischen Furor mündet, ver- dankt sich der charakteristischen epistemologischen Verknappung, die zu den Kollate- ralschäden der Verabschiedung der Aufklärung gehört. Wie alle partikularistischen Positionen in moralisierenden ideologischen Diskursen, die die eigene Normativität zu universalisieren trachten, kennt der postkoloniale Impetus genau zwei mögliche Positionen: nämlich die der Betroffenheitseliten und die der para- sitären Moralisten. Beide sind durch ihr Verhältnis zum Opferkapital11 gekennzeichnet: Die Betroffenheitseliten versuchen ein genealogisches Repräsentationsverhältnis zu Opfergruppen nachzuweisen. Das erklärt dann auch die für wissenschaftliche Diskurse außergewöhnliche Bedeutung der biographischen Ableitung.12 Eine derartige Kopplung von Person und Argument war allenfalls für die autoritativen Diskurse der Vormoderne denkbar. Insofern erscheint ihre moralisch aufgeladene Wiederkehr alles Andere als zu- fällig. Glückt die biographische Ableitung13 und versorgt sie im Idealfall ihren Protago- nisten mit der entsprechenden Dosis Heroismus14 und dem Ethos des Widerstands (Hall 11 Diese wird durch die historische Akkumulation von Leid bei spezifischen sozialen Gruppen gebildet und es wird realisiert dadurch, dass Repräsentationsverhältnisse angenommen werden, die das Opferkapital dann auf bestimmte Akteure transferieren. 12 So starten nahezu alle Darstellungen des Postkolonialismus mit den Biographien der für wichtig erachteten Matadore. Das Heldennarrativ dient dann als Ausweis der Legitimität der Repräsentation und substituiert eine ansonsten erforderliche wissenschaftliche Begründung des Geltungsanspruchs des jeweiligen Arguments. Der biographische Diskurs fungiert durchweg als Begründung des theoretischen Zugriffs (Hall 1985, 56 ff.; Hall 1996, 8 ff.). 13 Theoriearbeit fungiert in derartigen Kontexten als Verarbeitung persönlicher oder empathisch geteilter oder imaginierter Erfahrung, sie operiert mit Opferethos als normativem Kapital und wacht eifersüchtig über eben dieses Kapital. 14 „Ich komme zurück auf den tödlichen Ernst intellektueller Arbeit. Es ist eine todernste Angelegenheit. Ich komme zurück auf den entscheidenden Unterschied zwischen akademischer und intellektueller Arbeit; sie überlappen sich, sie bauen aufeinander auf, sie speisen sich voneinander, die eine gibt Kritik als Theorieform 139 2000, 49), dann ist nicht nur die Repräsentation augenscheinlich unter Beweis gestellt, sondern man kann sich praktischerweise eine wissenschaftl iche Begründung des Gel- tungsanspruchs des eigenen Arguments schenken. Die richtige Biographie substituiert damit die mühselige und im betreffenden Fall wenig aussichtsreiche epistemologische Arbeit, handelt es sich doch um die Legitimation von Partikularinteressen, was in prin- zipiell universalistisch verfassten Umgebungen grundsätzlich problematisch ist. Dabei muss insbesondere vergessen gemacht werden, dass die Rekonstruktion einer Reprä- sentationslogik vor allem deshalb erforderlich ist, weil man es mit Opfern bestenfalls zweiten Grades zu tun hat und man dem Harvard-Professor den Opfer-Status nicht mehr unbedingt ansieht. Das Opferkapital lässt sich mittels entsprechender genealogischer Repräsentationslogiken in akademisches Kapital transferieren. Dabei verdoppeln die Betroffenheitseliten die Opferposition: Neben der privilegier- ten Repräsentation des Opfers ‚opfern‘ sie sich selbst durch die Repräsentation für das Opfer, also durch ein Tun für andere, indem sie etwa den herrschenden Paradigmen des jeweiligen Faches entsagen. Dass es sich bei diesem ‚heroischen‘ Opfer um eine schlichte Strategie akademischer Differenzproduktion und eine Strategie des Selbstmar- ketings handelt, wird dabei nicht realisiert. Im Übrigen gelingt eine solche Strategie der Differenzproduktion ohnehin nur in sozial- und geisteswissenschaftlichen Kontexten. Betroffenheitsinduzierte Theoriebildung funktioniert zwangsläufig als Strategie norma- tiv regulierter Kettenbildung,15 d.h., der Opferposition werden charakteristische Wer- te zugeschrieben, die dann als Binäroppositionen gehandhabt werden und das theore- tische Feld umreißen sowie den Feind bestimmen. Die Binäroppositionen selbst sind sakrosankt und werden quasi durch das Opfer nobilitiert. Damit sind sie zugleich gegen Kritik immunisiert: Kritisieren hieße, das Opfer zu bestreiten oder zu relativieren, in der Opferlogik ein klares No-Go. Normative Kritik denkt nicht nur unverschämt in eigener Sache, sie schließt vor allem jede Kritik daran aus. Sie verweigert sich argumentativer Negation, indem sie sie systematisch in ein normatives Off katapultiert, das sich nor- mativ gegen Kritik zu immunisieren sucht. Bei der Zusammenstellung ihrer Ketten an einem die Mittel, die andere zu tun. Aber sie sind nicht das Gleiche. Ich komme zurück auf die Schwierigkeit, eine genuin kulturelle und politische Praxis zu institutionalisieren, die das Ziel hat, eine organische, intellektuelle politische Arbeit zu ermöglichen, die nicht versucht, sich in die übergreifende Metaerzählung kanonisierten Wissens innerhalb der Institutionen einzuschreiben. Nicht Theorie als der Wille zum Wissen, sondern Theorie als eine Reihe umkämpfter, lokalisierter, konjunktureller Wissenselemente, die in einer dialogischen Weise debattiert werden müssen. Aber auch als eine Praxis, die immer über ihre Interventionen in einer Welt nachdenkt, in der sie etwas verändern, etwas bewirken könnte.“ (Hall 2000, 50f.) 15 Hier lassen sich signifikante Ähnlichkeiten zu Konzepten der Medienontologie etwa bei McLuhan beobachten, was bedeutet, dass das epistemologische Niveau der Argumentation denkbar flach ausfällt. 140 Rainer Leschke Binäroppositionen gehen sie augenfällig hoch eklektizistisch16 vor und das wird mög- lich, weil sie durch kein wie auch immer gedachtes Paradigma17 gebunden sind, denn die normative Basisunterscheidung hat dessen Funktion übernommen. Der Ausschluss von Kritik generiert die Hermetik18 der jeweiligen Ansätze: es handelt sich insofern um epistemologische Insellösungen. Noch problematischer als bei den Betroffenheitseliten fällt die Beweisführung einer Geltung von Repräsentationslogiken bei den parasitären Moralisten aus: Die Biographie als Ressource zur Verschaffung von Opferkapital fällt in diesen Fällen ja grundsätzlich aus. Von daher muss sie durch besondere normative Vehemenz und äußerst geringe To- leranz gegenüber anderen Normenkonzepten substituiert und stets aufs Neue unter Be- weis gestellt werden: Die Intensität des normativen Rigorismus erhöht sich durch diesen Legitimationsdruck systematisch. Die selbst nicht Betroffenen müssen sich daher ähn- lich wie Konvertiten durch eine forcierte Intoleranz und entsprechende Aggressivität auszeichnen. Diese charakteristische Unversöhnlichkeit schränkt zugleich die gedank- liche Flexibilität ein, ähnlich wie man es ansonsten von populistischen und religiösen Kontexten her kennt: Kritik schlägt unter solchen Bedingungen zwangsläufig in mo- ralischen Furor um. Und für diesen gilt nach Sloterdijks „zivilisationsdynamische(m) Hauptsatz“ (Sloterdijk 2015, 87) das Folgende: „Es wird ständig mehr empörungsbereite moralische Sensibilität heran- gezogen, als sich durch den Hinweis auf ständigen Strukturwandel der Mißstände beruhigen läßt.“ (Sloterdijk 2015, 89) Der parasitäre Moralismus lädt die Mechaniken des Opferkapitals zusätzlich mit einer forcierten Schuldlogik auf: Alle, die zu abweichenden Urteilen und Positionen gelan- gen, werden mit dem Verdacht der Mitschuld überzogen, was unter impliziter Reakti- vierung des Konzepts der Erbsünde mit der nötigen historischen Haltbarkeit versorgt wird. Die charakteristische Entkopplung von Schuld und Täterschaft verstärkt die Wirk- samkeit des Schuldmotivs und weitet deren Erfassungsradius signifikant aus. Dabei ist das gleich mitgelieferte Erlösungskonzept einfach: Die Freisprechung erfolgt nach nor- 16 Es handelt sich dabei vornehmlich um einen theoretischen Eklektizismus, der insbesondere über charakteristische historische Ausblendungen verfügt. Dies gilt nicht zuletzt für historische Ausblendungen. 17 Das ermöglicht wildeste Theoriekonglomerate von Marx, Lukács, Gramsci und diverse Spielarten der Psychoanalyse bis zum Poststrukturalismus reicht, die von der Frage nach einer Kohärenz grundsätzlich dispensiert sind, da die Kopplung über eine Strukturhomologie normativer Oppositionen erzeugt wird, die argumentativ nicht erst begründet werden muss. 18 Diese Muster weisen frappierende Ähnlichkeit zu Fankulturen auf, die bekanntlich ein schlechter Ratgeber für einigermaßen zuverlässige Analysen sind. Kritik als Theorieform 141 mativer Unterwerfung automatisch. Ein entsprechendes Bekenntnis sorgt für die erfor- derliche Befreiung von der unterstellten Erbsünde, ohne die richtige Konfession ist die Lage jedoch aussichtslos. Der Einzug derartiger normativer Logiken ins Wissenschafts- system ist durchaus in der Lage, die paradigmatischen Dynamiken durcheinanderzu- wirbeln, weil damit die Rahmenbedingungen des Systems geändert werden. Das, was das Wissenschaftssystem seit der Moderne ausdrücklich zu verhindern suchte, nämlich die vormoderne Bindung von wissenschaftlichen Aussagen an ein vorgängiges Terrain normativer Geltung wird augenscheinlich zu reaktivieren versucht. Insofern kommen drei Momente im parasitären Moralismus zusammen: die normengeleitete Beschrän- kung des Terrains wissenschaftlicher Analyse, die Exklusion unerwünschter Resultate mittels eines Konzepts der Zuschreibung von Schuld und die Substitution von wissen- schaftlicher Richtigkeit durch normative Geltung. Wenn dann der parasitäre Moralis- mus noch mittels der Schuldunterstellung,19 die für alle abweichenden Positionen vor- gehalten wird, für den nötigen normativen Druck sorgt, dann ist nahezu jegliche para- digmatische Exklusion normativ gerechtfertigt. Und genau hier liegt der Ursprung der Cancel Culture. Die parasitäre Normativität von „enthusiastische(n) Radikale(n)“ (Spivak in: do Mar Castro Varela; Dhawan 2020, S. 188) und Aktivisten substituiert Argumentation durch moralische Urteile zweifelhafter Güte aber unzweifelhafter Rigidität. Das konstitutive Problem des parasitären Moralis- mus, dass es sich stets um einen Moralismus zweiter Hand handelt, muss dann durch zusätzliche moralische Aufladung und eine parasitäre Epistemologie, die für die nötige Entlastung sorgt, kompensiert werden. Die parasitäre Epistemologie funktioniert da- bei im Anschluss an den Poststrukturalismus im Wesentlichen über die Herabsetzung von Kompatibilitäts- und Konsistenzforderungen und die Tilgung des Zeitindexes von Theorieangeboten. Die charakteristische epistemologische Schwäche moralischer Theoriebildung und de- ren Kompensation durch moralisches Kapital, vorzugsweise durch Opferkapital,20 pro- voziert wie bei den meisten Kapitalien einen Streit um die Vorherrschaft, d.h. hier um das Opferkapital bzw. das größte Opfer. Im Streit um das Opferkapital gibt es allenfalls so etwas wie Regeln, es ist vielmehr ein wildes Terrain und dort geht es bekanntlich hemdsärmelig zu. Opferkapital lässt sich weder teilen noch verrechnen, ist es defini- tionsbedingt ebenso einzigartig wie ungeheuerlich. Die Herabsetzung konkurrierenden Opferkapitals gehört daher zu den Standardroutinen der parasitären Moralisierung. Da 19 Vgl. etwa den Eurozentrismus-Vorwurf gegen Marx (Hall 1996, 39). 20 Denn dieses Opferkapital ist vermittels seiner normativen Außerordentlichkeit prinzipiell inkompatibel und entzieht sich damit zugleich auch der wissenschaftstheoretischen Kritik. Kritik setzt Vergleichbarkeit voraus und die ist prinzipiell ausgeschlossen und dieser Ausschluss wird durch normatives Pathos affirmiert. 142 Rainer Leschke die normative Determination möglichen Wissens die wissenschaftliche Auseinander- setzung durch normative Konkurrenz und Bedeutsamkeit substituiert und das Opfer- kapital eine solche normative Determinante mit Handlungsanweisung liefert, verfügt Opferkapital über einen vergleichsweise hohen akademischen Tauschwert. Denn die normative Bedeutsamkeit avanciert zum quasi gleichberechtigten Rechtsgrund für den Geltungsanspruch wissenschaftlicher Aussagen. Insofern gilt die größte Aufmerksam- keit dem Opferkapital: je mehr Opferkapital akkumuliert werden kann, je singulärer das Opfer selbst dargestellt zu werden vermag, umso mehr Geltung kann man – wenigstens in dieser Logik – beanspruchen. Der zutiefst religiöse Kern dieser Begründung von Gel- tung ist offenkundig und nebenbei bemerkt hat sich bereits Heine über solche religiösen Subtexte lustig gemacht. Die Logik des Opferkapitals gehorcht dabei einer elementar ökonomischen Rationalität und entfaltet alle erwartbaren Logiken der Expropriation, bei deren Erklärung man von Begriffen des Marketings nach Kräften Gebrauch zu machen vermag. Die Debatte um die Einzigartigkeit des Opferstatus und damit die verfügbare Höhe des Opferkapitals, die etwa in der Debatte um die Vergleichbarkeit von Antisemitismus und Kolonialismus aufstößt, ist so schlicht der Versuch, ein Alleinstellungsmerkmal und damit das mit Ab- stand und vor allem von allen anderen denkbaren und wirklichen Opfern grundsätzlich uneinholbar größte Opferkapital für sich zu reklamieren. Das Interesse an dem Allein- stellungsmerkmal und einem Monopol auf dem Markt der Opferkapitalien hängt damit zusammen, dass angenommen wird, dieses Monopol lasse sich in ein epistemologisches Monopol konvertieren, sodass das Opferkapital geradezu zwangsläufig akademische Rendite abwirft. Insofern ist – hat man doch nicht viel mehr als die Exploitation des Op- ferkapitals – der Streit zwischen den unterschiedlichen historischen Opfergruppen vor- herbestimmt. Der strukturelle Antisemitismus, der den Postcolonial Studies zweifellos zu Recht vorgeworfen wird, ist daher nichts Anderes als folgerichtig: Es handelt sich um den Versuch, das reklamierte Opferkapital möglichst effektiv zu nutzen, und das funk- tioniert nur bei einer unangefochtenen Alleinstellung. Bei den Postcolonial Studies und ihrer Schwundform, der Cancel Culture, handelt es sich um klassische Mechanismen von kapitalinduzierter Expropriation, nun allerdings auf der Basis von Opferkapital. Der gelegentlich laut vorgetragenen Kapitalismuskritik liegt insofern ein geradezu ironisches Selbstmissverständnis zugrunde: Die empörte Klage gegen eine kapitalge- steuerte Ökonomie ist getrieben von einem vehementen Interesse an der möglichst ef- fizienten Verwertung des eigenen Kapitals. Systematisch liegt so ein gedoppeltes Aus- beutungsverhältnis vor, nämlich die Ausbeutung der Opfer durch ihre Kapitalisierung und die ungefragte Aneignung des so gewonnenen Kapitals sowie die epistemologische Ausbeutung durch die Ausnutzung fremder Normen für die Geltungsansprüche eigener Diskurse. Beides ist wenig appetitlich und in hohem Maße egozentrisch, also so, wie gute Kapitalisten agieren. Kritik als Theorieform 143 Postkoloniale Konzepte altern dabei paradigmatisch vergleichsweise schnell: da es sich um normenregulierte Hermeneutiken handelt, sind die jeweiligen Sinnzuschreibungen und die korrespondierenden Normenkonzepte stets singulär und das bedeutet, sie kön- nen nur geteilt oder verworfen werden. Sobald die Sinnzuschreibungen jedoch verwor- fen und die normativen Implikationen nicht mehr akzeptiert werden, ist das Konzept selbst erledigt. Da Moralen mit dem arbeiten, was Hegel eine abstrakte Negation nennt, sind prinzipiell nur zwei Zustände denkbar. Dabei ist diese Negation nicht nur abs- trakt, sondern vor allem tot, nämlich statisch und undynamisch im Gegensatz zu jener von Hegel beschworenen Dialektik. Moral mit ihren Binäroppositionen stellt daher eine erschreckend einfache Form der Reflexion dar, ja streng genommen kann noch nicht einmal von so etwas wie reflexiver Moral die Rede sein: Es reicht eine schlichte Wert- setzung und schon kann der Vernichtungsfeldzug beginnen. In diesem Sinne sind nur äußerst begrenzte epistemologische Entwicklungen denkbar. Die moralisierte Theorie- bildung tendiert daher zur Setzung und d.h., sie bleibt notwendig statisch. 5. Die normative Präformation und Monopolisierung der Kritik Die normativen Dichotomien organisieren Kritik entlang einem vorher festgelegten Binärschema. Dabei ist Kritik qua abstrakter Negation dem Schema immer schon ein- geschrieben: Das normativ Exkludierte ist auch ein prädestinierter Gegenstand der Kri- tik. Der parasitäre Moralismus kann daher gar nicht anders als kritisch sein, da doch die Ausschließungsoperation zu seinen grundlegenden Handlungen, wenn nicht gar zu ihren einzigen Handlungsoptionen gehört. Zugleich gibt es eine charakteristische Limi- tierung von Kritik, denn Kritik kann aus dem Binärschema nicht heraustreten. Das aber heißt, dass eine epistemologische Kritik, ist sie doch nicht durch die normative Setzung gedeckt, prinzipiell undenkbar ist. Moralisierende Kritik ist zwangsläufig substantiell, es ist die Kritik konkurrierender Normen. Ethisch entspricht eine solche Vorgehensweise allenfalls noch der Frühmo- derne,21 d.h., die Diskussion konkurrierender Normenansprüche ist spätestens seit Kant obsolet. Danach operiert kein ernsthaftes ethisches Modell mehr mit konkreten Wert- mustern, sondern mit Verfahren. Die Moralisierung von Theorien katapultiert diese zwangsläufig auf das theoretische Niveau der Frühmoderne zurück. Die epistemolo- gische Diskussion verabschiedet sich so von moralisierender Kritik, allenfalls noch als Störfaktor mag sie ankommen. 21 Argumentiert wird ungefähr auf dem Niveau der ethischen Überlegungen John Lockes. 144 Rainer Leschke Moralisierende Kritik ist nicht nur durch die moralische Setzung selbst limitiert, sie wird zugleich als ein Herrschaftswissen gehandhabt, zu dem der Zugang streng reg- lementiert ist. Kritik wird – und das ist integraler Teil der normativen Strategie – so systematisch monopolisiert, indem sie an Repräsentationslogiken22 gebunden wird. Das entspringt einer geradezu klassischen Kapitallogik: Die normative Opposition – etwa die von Kolonialisierung und Dekolonialisierung – wird an Eigentumsrechte gebunden, d.h., sie bleiben – je nach der Binäropposition, um die es im Einzelfall geht, – bestimm- ten Ethnien, Rassen, Klassen, Völkern oder Geschlechtern vorbehalten. Es geht also schlicht um einen Streit um normative Ressourcen: Die Betroffenheitseliten wehren sich gegen die Expropriation ihres Opferkapitals durch die parasitären Moralisten. Sämtliche Sprechverbote und Reflexionsverbote gehorchen einer solchen Logik: Es geht um die Monopolisierung von Normen und die Dominierung von Diskursen. 6. Die Logik der parasitären Moral Nachdem Medien sich sukzessive zu Elementen einer gesellschaftlichen Infrastruktur entwickelt haben, finden sich normativ ausgerichtete Diskursanalysen sowie die Lek- türeroutinen normativer Hermeneutiken und damit der kritisch interpretierende Impuls gleich welcher Ausrichtung gleichsam systematisch marginalisiert: Kritik, die an der Zeit ist, ist daher zwangsläufig epistemologische Kritik an medialen Infrastrukturen. Das aber bedeutet, dass alle moralisierende Kritik keinen schlechteren historischen Zeitpunkt hätte erwischen können, ist sie doch grundlegend anachronistisch. Die normativen Hermeneutiken, gleich ob sie kritischer oder postkolonialer Provenienz sind, haben zwar immer Recht, sie sehen sich jedoch zunehmend marginalisiert, weil sie an die Probleme medialer Formen nicht heranreichen. Hinzu kommt, dass der Horizont normativer Hermeneutiken und Diskursanalysen durch die leitende Binäropposition systematisch verengt ist: medienästhetische, medientechnische oder aber medienhisto- rische Fragestellungen sind aus dieser Perspektive gar nicht erst modellierbar. Der Nor- mativität ist die Hermetik und die Limitiertheit des interpretatorischen Verweisungs- zusammenhangs eingeschrieben und aus dieser konstitutiven Hermetik kann man sich auch durch die Forcierung des normativen Anspruchs nicht freistrampeln. Der normati- ven Analyse gelingt es daher nicht, sich aus den binären Verweisungszusammenhängen zu befreien und d.h., dass McLuhans Konzentration auf die Form der Medien erneut einzufordern ist. Es geht um eine Kritik der Form als medialer Form, die grundlegend über das Beklagen irgendwelcher Biases, die moralisch inkriminiert werden können, hi- 22 Vgl. den ‚Fall‘ Dana Schutz in Rauterberg (2018, S. 23 ff.). Kritik als Theorieform 145 nausgeht. Es stehen daher Fragen an, die die Logiken des Medialen ohne vorauseilende moralisierende Kurzschlüsse auf die des Sozialen oder Ästhetischen abzubilden versu- chen und dabei ein Terrain für epistemologische Überlegungen eröffnen. Ohnehin schließen sich Normativität und epistemologische Arbeit, sofern es nicht dar- um geht, strukturelle Biases nachzuweisen, tendenziell aus. Normativ überdeterminierte Epistemologien sind so bestenfalls noch Epistemologien zweiter Hand. Und für diese Epistemologien zweiter Hand gilt, dass es bei ihnen ausschließlich um Passung und Anschlussfähigkeit geht. Eine Subversion der konstitutiven normativen Setzung durch epistemologische Reflexion ist konstruktionsbedingt ausgeschlossen. Die Unterwerfung epistemologischer Arbeit unter einen normativen Imperativ ist fatal, zwingt sie doch die parasitäre Epistemologie nicht nur in die strukturelle Limitiertheit von Binäropposi- tionen, sondern sie beschneidet zugleich ihre mögliche Dynamik und Wirksamkeit. Die wenigen epistemologischen Versuche sind auch durch rigide Selektivität und eine charakteristische Laxheit in Bezug auf Konsistenzforderungen gekennzeichnet. Das moralische Vorurteil sucht sich so ein Sammelsurium von epistemologischen Versatz- stücken insbesondere des Poststrukturalismus zusammen, die dem normativen Impera- tiv quasi angegliedert werden. Eine Kritik der nomadisierenden Normativität wird so zuverlässig vereitelt. Damit wird zugleich jeder Diskurs verweigert, geht es doch nicht mehr um Argumentation, sondern um Anerkennung eines moralischen Vorurteils. So kennt die normativ echauffierte Epistemologie Viveiros de Castros (Viveiros de Castro 2019) nur zwei prinzipielle Verhaltenszustände: nämlich normative Unterwerfung oder abstrakte Negation und die befindet sich im Zweifel immer auf der falschen Seite und wird insofern geächtet. Die normative Überdetermination von theoretischen Kohärenzen fungiert auch hier als argumentative Entlastung: Eigentlich müssen sich Epistemologien entweder am Materi- al beweisen oder aber sie müssen ihre gesteigerte Erklärungsleistung demonstrieren. De Castro fühlt sich berechtigt, beides zu unterlassen, weil er die beanspruchte normative Geltung umstandslos auf die von ihm imaginierte Patchwork-Epistemologie transferiert und so das Opferkapital in epistemologische Geltung zu konvertieren sucht. Bei dem epistemologischen Material, an dem sich die parasitäre Epistemologie bedient, handelt es sich vor allem um die negativen Epistemologien des Poststrukturalismus. Die sind hinreichend dispers und fragmentiert, um sowohl die normative Unterordnung als auch die wilde Kombinatorik qua binärer Kettenbildung zuzulassen. Dabei geht es zunächst einmal um Differenzproduktion im politischen Raum und im akademischen Markt. Die Logiken, die dabei Verwendung finden, bedienen sich des üblichen medialen Repertoires, allerdings versuchen sie, die mediale Aufmerksamkeits- ökonomie durch eine zusätzliche normative Aufladung zu verstärken. Dazu passt auch das heroische Narrativ des Aktivismus. Dabei sind die Interventionen vor allem öko- nomisch interessant. Es geht um die einigermaßen rabiate Durchsetzung von Partikular- 146 Rainer Leschke interessen, die vor den Universalisierungsansprüchen der Aufklärung nur wenig Gnade gefunden hätten. Solchem rabiaten Partikularismus und epistemologischen Kahlschlag der Postcolonial Studies gilt es mittels nicht minder rigider epistemologischer Kritik und d. h. ziemlich prosaischer theoretischer Arbeit zu widerstehen. Literatur Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1969): Kritik. In: Derselbe: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 10-19. Eco, Umberto (1964): Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkul- tur. Frankfurt a. M.: Fischer. Hall, Stuart (1985): Signification, Representation, Ideology: Althusser and the Post-Struc- turalist Debates. Critical Studies in Mass Communication, 2(2), S. 91-114. Hall, Stuart (1996): Introduction. Who Needs ‘Identity’? In: Hall, Stuart & Du Gay, Paul (Eds.): Questions of Cultural Identity. Thousand Oaks: Sage, S. 1-17. Hall, Stuart (2000): Das theoretische Vermächtnis der Cultural Studies. In: derselbe: Cul- tural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften 3. Hamburg: Argu- ment Verlag, S. 34-51. Horkheimer, Max (1937a): Traditionelle und kritische Theorie. In: derselbe: Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 12-56. Horkheimer, Max (1937b): Nachtrag. In: derselbe: Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 57-64. Horkheimer, Max & Adorno, Theodor W. (1969 [1944]): Dialektik der Aufklärung. Frank- furt a. M.: Fischer. Kant, Immanuel (1781): Kritik der reinen Vernunft. Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. W. Weischädel Bd. II, Wiesbaden: Insel Verlag 1956. Kant, Immanuel (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Mo- natsschrift, Bd. 4, S. 481-494. Kellner, Douglas (1995): Media culture: cultural studies, identity and politics between the modern and the postmodern. London / New York: Routledge. Marcuse, Herbert (1972): Konterrevolution und Revolte. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhr- kamp. Marx, Karl (1969 [1845]): Die Deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philoso- phie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner und des deutschen Sozia- lismus in seinen verschiedenen Propheten. In: Marx, Karl & Engels, Friedrich: Werke, Band 3. Berlin/DDR: Dietz Verlag, S. 5-530. Kritik als Theorieform 147 Rauterberg, Hanno (2018): Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus. Berlin: Suhrkamp. Sloterdijk, Peter (2015): Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne. Berlin: Suhrkamp. Viveiros de Castro, Eduardo (2019): Kannibalische Metaphysiken. Leipzig: Merve. Von der negativen Ökologie zur De-struktion der Medizin Hans-Martin Schönherr-Mann Zusammenfassung Medizinisierung und Ökologisierung orientieren sich an der Gesundheit. Sie berufen sich auf wissenschaftliche Einsichten. Die Medizin ist dabei in die Rolle des Souveräns avanciert. Die Ökologie eifert dieser nach. Wenn man dagegen die wissenschaftskritischen und sprachphilo- sophischen Einsichten des späten Wittgenstein berücksichtigt, dann dürfte sich die Ökologie nur negativ auf die Grenzen jeglichen Wissens um Natur beschränken, woran sich auch die Medizin erinnern müsste. Insofern wäre das Prinzip der Gewaltenteilung vonnöten, das die Macht der Medizin de-struiert. Auch die Medizin weiß sokratisch nur, dass sie nichts weiß. 1. Medizinisierung aus der Perspektive Rousseaus „Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten.“ (Rousseau 1977b, S. 61) Diese berühmten Worte am Anfang von Du Contrat social realisierten sich nirgendwo so eindringlich wie global als in den diversen Ausnahmezuständen 2020 und 2021. Das könnte man auch noch für den darauf folgenden Satz geltend machen: „Manch einer glaubt, Herr über die anderen zu sein, und ist ein größerer Sklave als sie.“ Der medizinische Souverän ist an den Mast der Herrschaft gebunden, um Rousseaus komplexeren Sinn mit der Dialektik der Aufklärung zu vereinfachen. Denn interessanter ist Rousseaus Antwort auf die zweite der beiden folgenden Fragen: „Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann sie recht- mäßig machen? Ich glaube, dass ich dieses Problem lösen kann.“ Rousseau referiert damit auf seine Kulturtheorie und Anthropologie: Zwar ist der von Natur aus friedliche Mensch durch die Kulturentwicklung egoistisch geworden. Er liegt damit in seinen ei- genen Ketten, gerade auch jener, der sich für einen Herren hält. Würde man ihn naturnah erziehen, dann würde man ihn vor den Ketten seines Egoismus bewahren. Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 150 Hans-Martin Schönherr-Mann Die Lage, würde das gelingen, beschreibt Rousseau bereits 1755: „Auf welch unbegreifliche Art und Weise hat man das Mittel gefunden, die Menschen zu unterjochen, um sie frei zu machen? Um im Dienste des Staates die Güter, die Hände, das Leben selbst aller ihrer Mitglieder ein- zufordern, ohne sie zu zwingen und ohne sie zu befragen? Ihren Willen an ihre eigene Zustimmung zu ketten? Ihre Einwilligung gegen ihre Verwei- gerung durchzusetzen und sie zu zwingen, sich selbst zu bestrafen, wenn sie tun, was sie nicht tun sollten?“ (Rousseau 1977a, S. 19) Für Rousseau verdankt sich das den Gesetzen, die ein weiser Gesetzgeber erlässt, bei- spielsweise auch eine Volksversammlung, in der Einstimmigkeit herrscht, weil die Menschen naturnah erzogen wurden und daher alle Einzelwillen dem allgemeinen Wil- len entsprechen. Was bleibt am Menschen jenseits kultureller Depravation noch vergleichsweise natür- lich? Sein Körper! Jedenfalls wenn man ihn in seiner Allgemeinheit und nicht in seiner Besonderheit betrachtet. Was wäre ein wissenschaftliches Wissen, das sich nicht den kulturell erzeugten Egoismen unterwirft? Das Wissen um diesen Körper! Wenn die Me- dizin das richtige Wissen um den Körper besitzt, dann käme ihr die Rolle des weisen Gesetzgebers zu – wenn man Rousseau etwas metonymisiert. Aber es wäre keine abwegige Interpretation. Denn Rousseau gilt ja nicht nur als Vorden- ker der Demokratie vor allem durch seinen Begriff des Volonté générale und durch die davon abgeleitete Idee des Gemeinwohls. Doch diese ist nicht frei von totalitären Im- plikationen. Individualität lässt er nicht zu, damit auch keine individuelle Mündigkeit. Mit Rousseau entspräche die große gesellschaftliche Zustimmung zum Ausnahmezu- stand 2020 just der Einsicht, dass die Medizin das richtige Wissen um die natürlichen Körper hat und dass die von ihr geforderten Maßnahmen somit die richtigen Gesetze sind, wie es die Corona-Politik propagiert: Der individuelle Mensch ist frei geboren und muss daher seine Ketten als sein eigenes Interesse anerkennen, sodass sich seine Mün- digkeit allein in der Zustimmung zu den Maßnahmen der Experten realisiert. Aber kann es unter demokratischen Bedingungen eine achtzigprozentige Zustimmung geben? Das klingt doch eher nach sowjetischen Verhältnissen – Rousseau nicht so fern. Dazu hat sicherlich die Einheit der großen Massenmedien beigetragen, die wahrschein- lich sogar weitgehend freiwillig die regierungsamtliche Corona-Politik unterstützen. Denn wenn es eine letzte Wahrheit gibt, wozu sollte Kritik dann noch gut sein? Von der negativen Ökologie zur De-Struktion der Medizin 151 2. Gesundheit als ökologische Orientierung Um so mehr darf man sich wundern, dass solche Maßnahmen auf Zustimmung stoßen und der Widerstand dagegen marginal bleibt. Denn diese Verwunderung hat einen be- sonderen, womöglich einen überraschenden Grund. Betroffen sind nämlich höchstens noch ganz wenige aus jenen Generationen der Weltkriege, die sich weitgehend als Untertanen verstanden und für die der Gehorsam gegenüber staatlichen Maßnahmen selbstverständlich war, noch dazu, wenn es sich um den Ausnahmezustand handelt, der für diese Generationen noch als Ernstfall gilt. Betroffen sind vielmehr jene Generationen, die die diversen Emanzipationsprozesse seit den sechziger Jahren nicht nur miterlebten, die vielmehr diese sogar wesentlich mitge- tragen haben. Emanzipation hieß dabei nicht nur Teilhabe, sondern vor allem Mündig- keit und Selbstverantwortung; verbunden mit einer kritischen Einstellung gegenüber der Politik, von der man sich nichts mehr vorschreiben lassen wollte. Das Schlagwort vom aufrechten Gang machte die Runde. Als Ernstfall galt der Frieden, also der Rechts- zustand. Warum unterwerfen sich dann gerade diese Generationen den Corona-Maßnahmen kritiklos, genauso wie viele Generationen ihrer mal aufmüpfigen Kinder, nicht zuletzt jene Initiative mit dem Namen Fridays for Future. Gerade diese Bewegung, die auch unter dem gegenwärtigen Ausnahmezustand öffentliche Aktionen durchführt, unter- wirft sich brav den Corona-Zwängen, scheint es bei Fridays for Future überhaupt kei- ne kritische Haltung gegenüber diesen Maßnahmen zu geben, die gerade das Demons- trationsrecht massiv und menschenrechtsverletzend einschränken. In der Tat kommt man hier zu des Pudels Kern, nämlich auf ein Zusammenspiel von Ökologisierung und Medizinisierung. Denn warum lässt sich nicht nur diese Gruppierung diese Maßnahmen gefallen? Liegt das daran, weil für Klima- und Umweltschützer die Natur einfach wichtiger ist als die Kultur oder die Menschenrechte? Dabei sind ökologische Parteien an ihren Anfängen auch mal als Vertreter der Menschenrechte aufgetreten. Ist heute angesichts der postu- lierten Dramatik der Klimaentwicklung das Thema Menschenrechte für die Ökologen einfach kein Thema mehr? Klimaaktivisten könnten sich von Menschenrechten in ähn- licher Weise in dem von manchen geforderten Klimanotstand massiv gestört fühlen. Ha- ben Ökologen kein Problem mit dem Ausnahmezustand 20/21, weil dieser vorzeichnet, wie ein ökologischer Ausnahmezustand realisiert werden könnte? Obwohl man in den letzten Jahren in den ökologischen Bewegungen eine gewisse Kon- zentration auf die Klima-Politik beobachten kann, die zu einer verschärften monokausa- len Interpretation des Weltgeschehens führt, bleiben solche Argumente eher äußerliche Berührungspunkte zwischen einer Medizinisierung bereits vor dem Corona-Ausnahme- zustand und dem Prozess der Ökologisierung. 152 Hans-Martin Schönherr-Mann Vielmehr kann man seit den siebziger Jahren eine Annäherung zwischen Ökologie und Medizin beobachten. Vorläufer dieser Entwicklung ist, dass Gesundheit eine zentrale Rolle in der Sozialpolitik spielt. Medizin gilt als eine soziale Leistung, die der Staat allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stellen soll, gehört sie gemeinhin zu einer guten Regierungsführung. In Kreisen linker Gesundheitspolitiker erhoffte man sich gar von einem solidarischen Gesundheitssystem entsprechende Rückwirkungen auf die Ge- sellschaft. So glaubte vor 20 Jahren der Ärzte-Vertreter Ellis Huber noch: „Ein erneuertes Gesundheitswesen wird zum Hoffnungsträger für die Ge- sellschaft zwischen globalen Kapitalmärkten und individualisierter Aus- lieferung an Not und Krankheit; zum Motor also für eine neue Solidarität und neue Gemeinschaftlichkeit.“ (Huber 2000, S. 286) Letztlich waren diese Hoffnungen vergebens. Stattdessen wurde umgekehrt das Gesund- heitsbewusstsein vom Umweltbewusstsein befeuert, in dem sich häufig eine Angst vor Krankheit und eine Suche nach Gesundheit ausdrückt. Das war schon ein Thema bei der Anti-Atomkraft-Bewegung Anfang der siebziger Jahre, nämlich die gesundheitsgefähr- dende atomare Strahlung im Normalbetrieb von Kernkraftwerken. Strahlung avancierte zu einem nicht bloß auf Kernenergie konzentrierten gesundheitlichen Bedrohungssze- nario vom Radiowecker bis zur Wasserader – die Esoterik spielt dabei auch fleißig mit. Im Grunde geht es in der Ökologie jenseits ihrer biologischen Herkunft denn auch weni- ger um die Natur als solche, also um den Naturschutz, als vielmehr darum, dass Natur- schutz die Lebensbedingungen der Menschen hinsichtlich von deren Gesundheit ver- bessert. Das gute Leben, auch das lustbetonte, das viele Leute in den sechziger Jahren umtrieb, spielen dabei keine Rolle mehr. Hedonismus gilt daher vielen als so unsozial wie umweltfeindlich. Dergleichen – auch Menschenrechte – kann keine Bedeutung mehr haben, wenn in der so benannten Klimakatastrophe gar apokalyptisch die Existenz der Menschheit auf dem Spiel steht. Dann kann es ja nur noch um das nackte Überleben und nicht um die Lebenskunst erfüllten Daseins gehen. Wie bemerkt doch Hannah Arendt 1964: „Wir können uns ohne weiteres eine Welt vorstellen, die weder Gerechtigkeit noch Freiheit kennt, und wir können uns natürlich weigern, uns auch nur zu fragen, ob ein Leben in solch einer Welt der Mühe wert sei“ (Arendt 2000, S. 328), ob es Sinn macht, dem nack- ten Leben zu huldigen. Nein, es wird diesem tierischen Leben fleißig als natürlichem gehuldigt, umso mehr in Zeiten der Corona-Politik. Sicher waren in den siebziger Jahren die Klagen über verunreinigte Gewässer und Bö- den wie auch über die weit verbreitete schlechte Luft in der westlichen Welt berech- tigt. Doch notorisch werden damit gesundheitliche Folgen verbunden, nicht schlechte Lebensumstände, die verändert werden sollen, um das Leben lebenswerter, nicht un- Von der negativen Ökologie zur De-Struktion der Medizin 153 bedingt gesünder zu machen. Vieles hat sich hinsichtlich dieser Umweltprobleme zwi- schenzeitlich gebessert, was zu einem angenehmeren, abwechslungsreicheren Leben führt, worüber indes kaum geredet wird. Als wenn man die Gesundheit gar nicht genug schützen kann und als wenn die Gesund- heit der einzige Wert im Leben wäre, wie man es auch in der Medizin und besonders unter der Corona-Politik ständig propagiert. Hier spielen Ökologisierung und Medizini- sierung des Lebens seit den siebziger Jahren Hand in Hand, sodass die ökologisch fun- damentierte Gesundheit zur zentralen ethischen Orientierung avanciert, die alle anderen wie Menschenrechte oder gar ein erfülltes Leben abdrängt. 3. Die Relativität wissenschaftlichen Wissens Die Ökologie verstärkt dabei einen anderen Trend in der Medizin, der sich in der Corona-Politik massiv bemerkbar macht. Um 1970 herum, als die Ökologie ihren so- zialen Take-off erlebte, war man sich in vielen Bereichen der Naturwissenschaften durchaus bewusst, dass empirische Wissenschaften kein definitives Wissen produzieren, sondern höchstens relative Wahrheiten, die sich ändern können. Das betrifft auch die Physik, die immer als die Krone objektiver Wissenschaft gilt, die Natur erfasst, wie sie wirklich ist. Doch dem hält Werner Heisenberg entgegen: „Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst.“ (Heisenberg 1955, S. 18) Einsteins Relativitätstheorie hatte zuvor demonstriert, dass alle naturwissenschaftliche Erkenntnis abhängig ist von den Instrumenten und Begriffen, mit denen man sie ge- winnt. Naturwissenschaft erfasst also nicht die Natur an sich, sondern nur so wie sie dem Wissenschaftler zugänglich ist. Die Grundlagenkrise der Mathematik um 1930 führte außerdem vor, dass die Mathema- tik kein widerspruchsfreies System ist, für das man sie zuvor hielt, sodass sie auch als Grundlage von Naturerkenntnis aus dieser Perspektive fragwürdig wird. Vor allem aber weist Edmund Husserl in seiner Krisis-Schrift, die um 1936 entsteht, daraufhin, dass Galilei einer Illusion aufsaß, als er behauptete, dass das ‚Buch der Natur in mathema- tischer Schrift‘ geschrieben sei. Dazu fällt Husserl das konsequente Urteil, das man all jenen hinter die Ohren schreiben müsste, die heute behaupten, die Mediziner hätten das wahre Wissen um ein Krankheitsereignis: 154 Hans-Martin Schönherr-Mann „Das Ideenkleid ‚Mathematik und mathematische Naturwissenschaft‘, oder dafür das Kleid der Symbole, der symbolisch-mathematischen Theorien, befasst alles, was wie den Wissenschaftlern so den Gebilde- ten als die ‚objektiv wirkliche und wahre‘ Natur die Lebenswelt vertritt, sie v erkleidet. Das Ideenkleid macht es, dass wir für wahres Sein neh- men, was eine Methode ist – dazu da, um die innerhalb des lebenswelt- lich wirklich Erfahrenen und Erfahrbaren ursprünglich allein möglichen r ohen Voraussichten durch ‚wissenschaftliche‘ im Progressus in Infinitum zu verbessern: die Ideenverkleidung macht es, dass der eigentliche Sinn der Methode, der Formeln, der ‚Theorien‘ unverständlich blieb und bei der naiven Entstehung der Methode niemals verstanden wurde.“ (Husserl 1954, S. 51) Ergo keine Wissenschaft, auch keine Naturwissenschaft – und die Medizin erfüllt nur in einem sehr kleinen Bereich überhaupt naturwissenschaftliche Ansprüche – liefert adäquates Wissen von ihren Gegenständen, sondern schafft ihre Gegenstände perfor- mativ durch ihre Methoden, ihre Instrumente wie ihre Begriffe, mit Michel Foucault ge sprochen, durch ihre Dispositive, nach Niklas Luhmann autopoietisch. Bereits zuvor stellt Alfred North Whitehead in seinen Werken The Concept of Nature aus dem Jahr 1920 und Principles of Relativity aus dem Jahr 1922 das herrschende wis- senschaftliche Verständnis der Materie und damit das Verständnis der Natur als identitä- re Substanz in Frage, indem er von Natur als Ereignissen und deren Zusammenhängen spricht. Damit antizipiert er Heideggers Verständnis von Ereignis: Das Sein zeigt sich nur im Ereignen. Nach Whitehead realisiert Natur somit nicht ein allgemeines Wesen; ihr wahrer Kern birgt nicht die angeblich in Raum und Zeit vorliegende Materie mit dieser inhärenten Gesetzlichkeiten. Wenn man nach der Natur fragt, wie sie wirklich vorliegt, wie sie ist, dann präsentiert sie sich in unendlich vielen, aber höchst realen einzelnen Ereignissen, nicht in einer ide- alen wissenschaftlichen Vorstellung. So schreibt Whitehead in Der Begriff der Natur: „Wenn wir überall nach Substanz Ausschau halten sollen, sollte ich sie in Ereignissen finden können, die sozusagen die elementarste Substanz der Natur sind.“ (Whitehead 1990, S. 18) Ereignisse setzten sich aus Teilen zusammen, die ihrerseits gleichfalls ein- zelne Ereignisse verkörpern. Man kann sie auch in andere Zusammenhänge versetzen. Das Ereignis verwickelt sich dabei auch äußerlich in andere Ereignisse. In Wissenschaft und moderne Welt heißt es 1925: „Das Ereignis ist, was es ist, weil es eine Vielheit von Beziehungen in sich selbst vereinheitlicht.” (Whitehead 1949, S. 162) Auch aus den wissenschaftstheoretischen und sprachphilosophischen Debatten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergibt sich, dass es keine unverrückbare, adäquate naturwissenschaftliche Erkenntnis gibt, dass diese vielmehr immer relativ und abhängig Von der negativen Ökologie zur De-Struktion der Medizin 155 von den Methoden bleibt. Die Natur lässt sich somit nicht erfassen, wie sie wirklich ist, sondern immer nur aus sprachlicher Perspektive verstehen. Zudem besteht zwischen Aussagen und Sachverhalten keine Identität, im Gegenteil. Einerseits erschütterten diese Einsichten das marxistische wie das empiristische Ver- ständnis, Natur und Welt durch eine erfolgreiche Praxis richtig verstehen zu können. Andererseits führte das freilich zu einer gewissen Verunsicherung: Die Religionen er- klären die Welt nicht mehr, was aber auch den modernen Naturwissenschaften nur noch relativ gelingt, was sich zudem ständigen Paradigmen-Wechseln ausgesetzt sieht. Daher stellt Thomas S. Kuhn 1961 einen kontinuierlichen Fortschritt in Frage: „Paradigma- wechsel veranlassen die Wissenschaftler tatsächlich, die Welt ihres Forschungsbereichs anders zu sehen.“ (Kuhn 1973, S. 123) Auch die modernen Naturwissenschaften ent- hüllen nicht zunehmend ihre Gegenstände, sondern sehen sie immer wieder in einem anderen Licht. 4. Die Angst machende platonische Lüge Auch auf diese wissenschaftliche wie kulturelle Verunsicherung erschien die Ökologie Anfang der siebziger Jahre vielen als eine Antwort, die die Menschen wieder in den Zu- sammenhang mit der Natur setzt und die überhaupt die Natur endlich richtig versteht, nämlich Natur aus ihren Zusammenhängen heraus. Letzteres war in der Biologie sicher ein neues erweiterndes Erklärungsmodell – mehr aber auch nicht. Man muss sich wun- dern, wie eine biologische Subdisziplin zu einer Weltanschauung avanciert, die es durch- aus mit Religionen, aber auch mit den modernen Wissenschaften aufnimmt. Denn das ändert natürlich nichts an der Relativität ihres Wissens, ja auch nicht an ihrem Obsku- rantismus in Form vermeintlich ganzheitlichen Denkens. Trotzdem verhieß Ökologie für viele, dass man diesem Relativismus nicht mehr ausgesetzt sei, wobei ich mich durch- gängig auf einen Ökologie-Begriff beziehe, der die äußere Natur zum Gegenstand hat. So insistiert in der Debatte über Corona die Medizin auf ihrer Wissenschaftlichkeit. Kri- tikern oder Abweichlern in den eigenen Reihen wirft man Unwissenschaftlichkeit vor, was die Politik gebetsmühlenartig wiederholt. Dieser bleibt damit gar nichts Anderes übrig als den medizinischen Diskurs als hegemonial anzuerkennen, sodass die Politik keine Souveränität gegenüber der Medizin besitzt. Dazu trägt auch die Ökologie bei. Hätte sich in der Ökologie dagegen ein so skeptisches wie wissenschaftskritisches Ver- ständnis entwickelt, ließe sich die Ökologie nicht als Hilfstruppe der Medizin benutzen. Aber die Ökologie ist ob ihres Gesundheitsbewusstseins originär an der Medizin orien- tiert und wird von dieser beseelt. Das erlebt man gerade in der Klima-Debatte, in der man sich ständig auf wissenschaft- liche Einsichten beruft, ohne auch nur die geringste Relativierung dieser Einsichten 156 Hans-Martin Schönherr-Mann anzuerkennen. Dabei wird just in der Klima-Debatte – aber längst nicht nur dort – pri- mär mit Prognosen operiert, die natürlich unsicher sind, nämlich keine Aussagen über Geschehenes, sondern Mutmaßungen über Ungeschehenes. Anstatt dass man Prognosen als das begreift, was sie sind, nämlich höchstens Aussagen über Wahrscheinlichkeiten, also über Ungewisses, folgt man dem von Hans Jonas propagierten apokalyptischen Prinzip, diesem Ungewissen den ontologischen Status des Gewissen zu verleihen. Er schreibt: „Wir gingen davon aus, dass die Ungewissheit aller Fernprognosen, die im Gleichgewicht ihrer Alternativen die Anwendung der Prinzipien auf die Tatsachensphäre zu lähmen scheint, ihrerseits als Tatsache zu nehmen ist, für deren richtige Behandlung die Ethik ein selber nicht mehr ungewisses Prinzip haben muss.“ (Jonas 1984, S. 76) Nicht nur dass man sich nach Jonas apokalyptisch am worst-case-Szenario orientieren muss. Bewusst soll man sogar alle Ungewissheiten dabei verdrängen. Dass es sich dabei um eine Lüge handelt, das wird im vermeintlichen Dienst am Überleben der Menschheit von Jonas nicht nur eingeräumt, sondern auch noch gefordert, somit für gut befunden. Das ist nicht nur jener missverstandene Machiavellismus, der darunter den Einsatz un- lauterer Mittel zu hehren Zwecken versteht. Das ist vielmehr die platonische Lüge und somit der Kern von dessen Machtpolitik, wenn Platon in der Politeia schreibt: „Es scheint, dass unsere Herrscher allerlei Täuschungen und Betrug werden anwenden müs- sen zum Nutzen der Beherrschten.“ (Platon 1958, S. 181, 459c) Was macht die Corona- wie die Klima-Politik anderes? Es ist schon erstaunlich, dass man die modernen Naturwissenschaften einerseits auf eine wissenschaftliche Lüge gründet, wenn man behauptet, sie würden die Natur erfas- sen, wie sie wirklich ist. Und dass man andererseits das mit einer Politik verwickelt, die sich im Sinne Machiavellis darauf stützt, die Menschen dadurch zu lenken, dass man durch Lügen Furcht erzeugt. Und das gilt für Ökologie und Medizin heute gleicher- maßen und im engen gegenseitigen Austausch. So apokalyptisch wie machiavellistisch verstehen sie sich blendend. 5. Von der Wissenschaftskritik zur negativen Ökologie Dieses Zusammenspiel beruht dabei auf einer Vergessenheit der kritischen Selbstrefle- xion der Naturwissenschaften, wie sie von Einstein über Heisenberg und Kuhn bis zu Paul Feyerabend reicht. Sprachphilosophisch stützt sich die Analyse dieser Seinsverges- senheit auf Max Webers Wissenschaftslehre, auf Wittgensteins Philosophische Unter- Von der negativen Ökologie zur De-Struktion der Medizin 157 suchungen und auf Adornos Negative Dialektik. Weber erkennt, dass wissenschaftliche Begriffe den realen Sachverhalten nicht entsprechen, auf die sie sich beziehen, sondern idealtypische Konstrukte bestimmter Aspekte sind, um die es in ihnen geht. Er insistiert auf dem „Grundgedanken der auf Kant zurückgehenden modernen Erkenntnis- lehre, dass die Begriffe vielmehr gedankliche Mittel zum Zweck der g eistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind und allein sein können […].“ (Weber 1973, S. 208) So antizipiert er bereits 1904 in seinem Objektivitäts-Aufsatz den von John Austin 1962 eingeführten Begriff der Performanz, dass man mit Sprache handelt, sodass Begriffe nicht ihre Gegenstände spiegeln, vielmehr formen. Damit wird in Anlehnung an Kant alle Objektivität subjektiv oder mit Luhmann autopoietisch. Die heutigen Naturwis- senschaften, die politische Ökologie wie die Medizin hätten sich das ins Stammbuch schreiben müssen wie auch, dass man aus deskriptiven wissenschaftlichen Sätzen keine normativen ableiten kann. Zudem dürfen Wissenschaften den Menschen nicht vor- schreiben, wie sie zu leben haben. Wissenschaftlich kann man daher auch aus Ökologien keine technisch praktischen, ge- schweige denn ethisch praktischen Schlüsse ziehen. Ökologie als Naturzusammenhang verstanden heißt dann vor allem, dass man nicht weiß, was Natur ist. Die Ökologie wird damit negativ. Dabei stütze ich mich auf die Sprachphilosophie des späten Wittgensteins, der seiner eigenen Abbildtheorie aus dem Tractatus logico-philosophicus widerspricht, nach der Sätze Sachverhalte spiegeln. Die Sprache entwickelt vielmehr eine eigene Dynamik und gestaltet damit die Lebensform. Jedenfalls kann man mit der Sprache nicht die Natur erfassen, wie sie ist, sondern nur so, wie man nun mal über sie spricht. So heißt es in den Philosophischen Untersuchungen: „Glaub nicht immer, dass du deine Worte von Tatsachen abliest; diese nach Regeln in Worte abbildest! Denn die Anwendung der Regel im besonderen Fall müsstest du ja doch ohne Führung machen.“ (Wittgenstein 1984, S. 373 Nr. 292) Diese Einsicht in den unendlichen Regelregress, nach der man Sprache nicht nach Regeln spricht, lassen auch alle wissenschaftlichen wie politischen Bemühungen darum schal werden, die Sprache zu reglementieren – man denke daran, dass man Corona nicht als Grippe bezeichnen darf. Eine reflexive Ökologie der Natur müsste sich daher um so mehr darüber klar werden, dass man ökologisch nicht die Natur erfasst, wie sie ist, sondern nur so wie man sie verstehen will. Daraus folgt, dass man Natur nicht versteht; wird die Ökologie sprach- philosophisch reflektiert bloß negativ, sollte sie vorführen, dass alles ökologische Natur- verstehen zur Einsicht ins Nichtverstehen führt. 1989 habe ich im S. Fischer Verlag in 158 Hans-Martin Schönherr-Mann der Reihe Perspektiven dazu ein schmales programmatisches Bändchen veröffentlicht: Von der Schwierigkeit Natur zu verstehen – Entwurf einer negativen Ökologie. Begrifflich lehne ich mich damit an Adornos Konzept der negativen Dialektik an. Wäh- rend die Dialektik in der marxistischen Tradition, aber auch in jener Hegels von der Durchschaubarkeit und Beherrschbarkeit der Welt ausgeht, weist Adorno dieser nach, dass der Begriff seine Gegenstände niemals vollständig zu erfassen in der Lage ist, so dass das auch nicht durch eine soziale Praxis kompensiert werden kann, die den Weg in eine humanere Zukunft ebnen soll. Adorno schreibt: „Erkenntnis besitzt nicht, wie die Staatspolizei, ein Album ihrer Gegenstände. Vielmehr denkt sie diese in ihrer Vermitt- lung: sonst beschiede sie sich bei der Deskription der Fassade.“ (Adorno 1970, S. 204) Zwar kritisiert Adorno die nominalistische Position, die aus allen Gegenständen Zei- chen macht. Begriffe beziehen sich auf Nichtbegriffliches, nicht nur auf andere Be- griffe wie in der Zeichentheorie von de Saussure. Aber dieses andere des Begriffs bleibt auch anders und lässt sich mit dem Begriff nicht gleichsetzen, identifizieren. Wenn man Adornos Idee des Nichtidentischen auf die Ökologie überträgt, dann müsste Ökologie darauf achten, dass sie die Natur nicht adäquat erfasst, sie also mit ihren Begriffen ne- gativ gegenüber dem Begriffenen bleibt. Wenn man dagegen die Übereinstimmung von Gegenstand und Begriff unterstellt, dann gleitet man in dogmatisches Denken. Das was Adorno im Folgenden dem Marxismus entgegenhält, lässt sich auf die heutige Ökologie wie auf die Corona-Politik übertragen: „Der praktische Sichtvermerk, den man aller Theorie abverlangt, wurde zum Zensurstempel. Indem aber, in der gerühmten Theorie-Praxis, jene unterlag, wurde diese begriffslos, ein Stück der Politik, aus der sie hinaus- führen sollte; ausgeliefert der Macht.“ (Adorno 1970, S. 144) Eine Praxis wird zur Wahrheit bzw. zur Theorie, die sich damit in den Fängen der Poli- tik verheddert – freilich im Fall der Medizin selbst zur begriffslosen Macht avanciert. Bereits Weber hatte recht: Eine Wissenschaft, die Politik machen will, transformiert sich in Dogmatismus und Ideologie. Eine Ökologie, die sich zur Wahrheit erklärt, an- statt dass sie sich als reflexiv und selbstkritisch versteht, wenn sie überhaupt ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden will, wird zur neuen Religion, mögen das ihre radikalen Anhänger auch goutieren: Man muss an die Klimakatastrophe glauben. Doch wenn man sich bewusst so verhält, wie es Jonas fordert, entlarvt man die Apokalypse als das, was sie ist – eine biblische Geschichte. Einer Ökologie, die das Verhältnis zwi- schen Mensch und Natur eruieren möchte, bleibt daher gar nichts Anderes als negativ zu werden. Von der negativen Ökologie zur De-Struktion der Medizin 159 6. Von der Illusion einer De-struktion der Medizin Stattdessen verkündet die Ökologie letzte Wahrheiten, die sogar den Ausnahmezustand rechtfertigen. Die Philosophie ist in großen Teilen Steigbügelhalter einer Medizinisie- rung der Politik. So behält Paul Feyerabend zwar mit seinen kritischen Worten aus dem Jahr 1976 recht, die erst 2009 posthum veröffentlicht wurden. Aber auch eine frühere Veröffentlichung hätte wohl schwerlich verhindert, dass seine daran anschließenden Hoffnungen zerstoben: „Seite an Seite mit der großen Masse des orthodoxen wissenschaftlichen Betriebs, der sich mehr und mehr in ein business verwandelt und der von unglücklichen, furchtsamen, aber eingebildeten Sklavenseelen vorwärts- gestoßen wird, erhebt sich ein Unternehmen, in dem Mittel wissenschaft- licher Forschung nicht zum Aufbau klarer, objektiver Systeme, sondern zur Schöpfung eines Prozesses verwendet werden, der Mensch und Natur zu einer höheren, aber keinesfalls totalitären Einheit verschmilzt.“ (Feyerabend 2009, S. 324) Nein, eine andere wissenschaftliche Entwicklung, auf die auch Ernst Bloch in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung hofft, eine Allianztechnik mit Natur als Subjekt, ist weit und breit nicht in Sicht. In der Corona-Politik hat sich die Medizinisierung der mo- dernen Gesellschaft massiv verstärkt. Nicht nur dass die Medizin zu einer Art Wächter- rat wie im Iran avanciert und Herr über den Ausnahmezustand wurde, nach Carl Schmitt damit der eigentliche Souverän ist. Ungeheure Summen an Finanzmitteln werden be- reits in das Medizinsystem gepumpt und die Forderungen nach noch mehr Ressourcen reißen nicht ab. Insofern muss ich meine eigenen Konzepte einer negativen Ökologie wie einer De- struktion der Medizin wohl einer illusionären Hoffnung im Stile Feyerabends zurech- nen. Trotzdem bleibt philosophisch gerade deshalb nichts Anderes zu tun, als solche Perspektiven aufzuzeigen, nämlich warum die Medizinisierung die große Gefahr für die moderne Gesellschaft ist. Im Stil der negativen Ökologie geht es darum, die heute behauptete Wissenschaftlich- keit zu relativieren. Das meiste des medizinischen Wissens in der Geschichte der letzten drei Jahrhunderte musste korrigiert werden. Gerade ob ihrer Anwendungsorientierung greift Medizin zwangsläufig auf empirisch keineswegs hinlänglich sicherbares Wissen zurück. Selbst Letzteres entfaltet primär einen performativen Charakter, beschreibt nicht vorsichtig, sondern erklärt vermeintlich und schafft damit die Fakten erst, die es angeblich entdeckt. 160 Hans-Martin Schönherr-Mann Die Konsequenzen sind freilich weitreichende, die analysiert werden müssen, um we- nigstens den gedanklichen Weg einer De-struktion der Medizin bzw. eines Abbaus des Prozesses der Medizinisierung zu skizzieren, was sich als Verlängerung der negativen Ökologie auch als negative Medizin bezeichnen lässt, aber philosophisch nicht viel mehr als einen Reflexionsprozess fordert, der Aufklärung als Weg zur individ uellen Mündigkeit zum Ziel hat. 7. Der medizinisch realisierte Gesellschaftskörper Rousseaus Trotz oder wahrscheinlich gerade wegen ihres mangelnden wissenschaftlichen Funda- ments – Medizin und Politik ähneln sich in ihren pragmatischen Orientierungen – avan- ciert die Medizin zum Zentrum der staatlichen Politik gegenüber der Bevölkerung. Sie konstruiert die Gesundheit nach ihren Vorstellungen, die aber mit staatlichen Interessen eng verbunden sind. Dabei geht es allemal nicht um individuelle Interessen. Das be- schreibt Foucault 1977 in Die Geburt der Sozialmedizin: „Für die kapitalistische Gesellschaft war vor allem die Bio-Politik wich- tig, das Biologische, das Somatische und das Körperliche. Der Körper ist eine bio-politische Wirklichkeit; die Medizin ist eine bio-politische Stra- tegie.“ (Foucault 2003b, S. 275) Nicht durch Zufall wurde das Krankenversicherungssystem von Bismarck eingeführt, weil sich seine Generäle über die schlechte Gesundheit ihrer Rekruten aus dem Proleta- riat beklagten. Und bis heute geht es in der Medizin darum, das Bevölkerungswachstum zu lenken. Die Schwangerschaft wird durch und durch medizinisch kontrolliert. Dabei gaukelt die Medizin der Betroffenen vor, alles das geschehe aus Sorge um dieselbe und lockt diese damit in ihre Arme. Wie stellt Foucault 1976 in Krise der Medizin oder Krise der Antimedizin? fest: „In den meisten Fällen zwingt sich die Medizin dem Individuum, ob es nun krank ist oder nicht, als Akt einer Autorität auf.“ (Foucault 2003a, S. 65) Es gilt als uneinsichtig, sogar als gefährlich, wenn es den medizinischen Vorgaben nicht folgt. So verbinden sich medizinische mit politischen Interessen seit dem 17. Jahrhundert bis heute und sie werden sowohl von den sozialen wie den ökologischen Bewegungen be- feuert. Nicht nur in der Corona-Politik gilt das, was Foucault 1979 in Die Gesundheits- politik im 18. Jahrhundert feststellt: „Der Arzt wird, wenn schon nicht in der Kunst des Regierens, dann zu- mindest in der des Beobachtens, des Korrigierens und Verbesserns des so- Von der negativen Ökologie zur De-Struktion der Medizin 161 zialen ‚Körpers‘ und seiner Erhaltung in einem permanenten Gesundheits- zustand, zum großen Ratgeber und großen Experten.“ (Foucault 2003d, S. 921) Als Experte, der sich auf eine Wissenschaft stützt, ist der Arzt vielmehr zum Souverän avanciert, der über den Ausnahmezustand entscheidet und die Menschenrechte aufhebt. Dadurch entsteht ein Maßnahmenstaat, während in anderen Bereichen der Normenstaat weiter existiert – eine wegweisende Unterscheidung, die Ernst Fraenkel 1938 für das NS-Regime prägt. Im Maßnahmenstaat befindet man sich im Ausnahmezustand – und zwar primär gegen- über den Individuen mit ihren individuellen Rechten und Interessen, die man dann poli- tisch aufheben kann und die Individuen einer systematischen medizinischen Kontrolle unterwerfen, wie es die verantwortlichen Mediziner fordern – man denke nur an die Hygieneregeln, die auch noch 2021 ständig verlängert werden und die man versucht mit den Interessen der Betroffenen zu verknüpfen. So hat sich die politische Macht der Medizin seit dem 17. Jahrhundert massiv erweitert, schreibt Foucault 1963 in Die Geburt der Klinik: „Es kann keine Medizin der Epidemien geben, die nicht durch eine Polizei ergänzt wird: man muss die Bergwerke und die Friedhöfe überwachen. […] Aber letzten Endes, […] finden sich die Pathologie der Epidemien und die der Arten vor denselben Anforderungen, nämlich vor der Not- wendigkeit, einen politischen Status der Medizin zu definieren und auf Staatsebene ein medizinisches Bewusstsein herzustellen, mit der Aufgabe ständiger Information, Kontrolle und Zwangsdurchsetzung.“ (Foucault 2005, S. 42) Zwar werden Foucaults Worte durch die Corona-Politik bestätigt. Aber das Problem reicht viel weiter und vor Corona zurück, eben in die Medizinisierung von Gesellschaft und Politik. Mit keiner anderen Verwaltungstätigkeit vermag die Politik so weitreichend in das individuelle Leben der Menschen einzugreifen. Wenn Giorgio Agamben 1995 analysiert, dass der Gegenstand der Politik der Körper, das nackte Leben ist, dann voll- endet er die gedankliche Bewegung, die Rousseau beschleunigt, die indes auf Thomas Hobbes zurückgeht, wenn für diesen der Zweck des Staates primär in der Lebenssi- cherung besteht, war diese im 17. Jahrhundert auch noch weniger ein medizinisches Problem als ein rein polizeiliches. So schreibt Foucault 1978: „Der ‚Gesellschaftskörper‘ ist nun keine bloß juristisch-politische Me- tapher mehr (wie man sie etwa im Leviathan findet), sondern erscheint 162 Hans-Martin Schönherr-Mann als biologische Realität und als ein Bereich medizinischen Eingriffs.“ (Foucault 2003c, S. 567) Sowohl Hobbes als auch Rousseau können den Gesellschaftskörper nur metaphorisch mit einem organischen Wesen vergleichen. Bei Rousseau beruht darauf seine zentrale Theorie des Volonté générale, die sich jetzt durch Medizinisierung als biologisch ver- meintliche Wirklichkeit präsentiert, im nackten Körper das Objekt ihrer Begierde findet – und damit dem Totalitarismus in einem so medizin- wie wissenschaftsgläubigen Zeit- alter alle Optionen eröffnet. 8. Der medizinisch enteignete individuelle Körper Vom politischen Standpunkt einer partizipatorischen Demokratie, vom rechtlichen einer menschenrechtsbasierten Verfassung und vom individuellen einer selbstverantwortli- chen Mündigkeit ergibt sich daraus die Schlussfolgerung einer De-struktion der Me- dizin, deren Macht als Wächterrat beendet werden muss. Das hat Ivan Illich in seinem wegweisenden Buch Die Nemesis der Medizin 1975 in die Worte gefasst: „Die etablierte Medizin hat sich zu einer ernsten Gefahr für die Gesund- heit entwickelt. Die lähmenden Folgen, die eine von professionellen Stan- desorganisationen ausgeübte Kontrolle über das Gesundheitswesen hat, erreichen mittlerweile die Ausmaße einer Epidemie.“ (Illich 1981, S. 9) Die Pandemie – jede Grippe ist eine Pandemie – ist eine andere, nämlich das global vernetzte System der Medizinisierung, die in allen Staaten eine politisch lenkende Rolle spielt. Sie trägt wesentlich dazu bei, den sozialen Prozess der Individualisierung zu stoppen, die Bestrebungen nach individueller Emanzipation zu marginalisieren und politisch die Demokratie zu einer Farce zu degradieren. Aus dem politischen Subjekt ist jener nackte Körper geworden, der keine Stimme mehr hat, um medizinisch das Wort zu erheben. Der auf den gefährdeten wie gefährlichen Körper reduzierte Mensch wird da- mit seines Körpers enteignet. Dadurch wird sein Geist unterworfen, nämlich als Diener dieses nackten Körpers. Illich schreibt: „Während der letzten Generationen hat das ärztliche Monopol über das Gesundheitswesen sich unkontrolliert ausgedehnt und unser Recht an unse- rem eigenen Körper beschnitten. Den Ärzten hat die Gesellschaft das aus- schließliche Recht übertragen, zu bestimmen, was Krankheit ist, wer krank ist oder sein darf und was für ihn getan werden soll.“ (Illich 1981, S. 12) Von der negativen Ökologie zur De-Struktion der Medizin 163 Wer an seinem Körper kein Recht hat, der hat kein Recht gegen diese Enteignung die Stimme zu erheben, sitzt er andernfalls einem antiwissenschaftlichen Denken auf, das nichts Anderes als Verschwörungstheorie sein kann. Dann darf man nicht mehr genea- logisch Wissen und Macht in Verbindung bringen. Medizinisierung, Corona-Politik und Ökologisierung bekämpfen nicht nur das genealogische, sondern selbstredend jedes ideologiekritische Denken. Daraus ergibt sich die totale Abhängigkeit der Individuen von der Medizin, die doch über sich selbst eigentlich am besten Bescheid wissen, die auch jede Menge Wissen über Krankheiten haben. Nicht nur dass der beschworene Körper die meisten Krank- heiten selber heilt – eine Einsicht, die in den siebziger Jahren noch in der Medizin verbreitet war –, wer sich nicht medizinisch betreuen und bevormunden lassen will, der muss sich selbst heilen und darf dazu mal auf eine Medizin zurückgreifen. Wie schreibt Illich: „Die Überzeugung der Menschen, sie könnten ohne ärztliche Hilfe mit ihrer Krankheit nicht fertig werden, verursacht mehr Gesundheitsschäden, als die Ärzte je anrichten könnten, indem sie den Leuten ihre Wohltaten angedeihen lassen.“ (Illich 1981, S. 69) Die Regierungstätigkeit des modernen Staates leitet Foucault aus dem Pastorat ab, in dem der Priester wie der Schäfer seine Gläubigen als Herde hütet, sich dabei an der Herde als Ganzes orientiert und gleichzeitig jedes einzelne Schaf überwacht: Schwarze Schafe können die Herde verderben. Das Leben des Individuums unter solchen Um- ständen orientiert sich an der Medizin und unterwirft sich ihr, verheißt man ihm dadurch ein möglichst langes Leben, bald ein ewiges wie die Religion. Das beschreibt Illich mit den Worten: „Lebenslange ärztliche Beaufsichtigung […] macht das Leben zu einer ununterbrochenen Folge gefährlicher Altersstufen, von denen jede ihre eigene Form der Bevormundung braucht. Von der Wiege bis ins Büro, vom Ferienlager des Club Méditerranée bis ins Leichenschauhaus wird jede Alterskohorte durch ein Milieu konditioniert, das definiert, was für die einzelnen Altersgruppen als Gesundheit zu gelten hat. […] Das Kran- kenhaus, diese moderne Kathedrale, überragt eine hieratische Umwelt von Gesundheitsgläubigen. […] Für Arme wie Reiche wird das Leben zu einer Pilgerfahrt, deren Kreuzwegstationen – Sprechzimmer und Wartezimmer – zurück zum Ausgangspunkt führen: in die Krankenstation.“ (Illich 1981, S. 95) 164 Hans-Martin Schönherr-Mann 9. Fazit – Durch Gewaltenteilung zur negativen Medizin in 1500 Jahren Diesen Prozess der Medizinisierung zu de-struieren, also abzubauen, darum müssen sich zumindest jene bemühen, die ihren einzigen Halt im Leben nicht in der Medizin sehen wollen. Das kann man mit Odo Marquard auch etwas profaner formulieren. Und zwar wäre an das Prinzip der Gewaltenteilung zu erinnern, das Marquard aus dem poli- tischen Bereich heraus auf die Lebenswelt ausdehnt. Er schreibt 1988: „Die politische Gewaltenteilung ist nur ein spezieller Fall jener durchgän- gigen Gewaltenteilung der Wirklichkeit, von der der skeptische Zweifel ein anderer spezieller Fall war und ist: beide gehören zur individuogeneti- schen Wirksamkeit der umfassenden Buntheit der menschlichen Lebens- wirklichkeit.“ (Marquard 2004, S. 84) Freilich gerät die politische Gewaltenteilung auch in der westlichen Welt seit langem unter Druck und wird tendenziell eher abgebaut als realisiert. Das gilt allemal für die Trennung von Legislative und Exekutive. Aber auch die Judikative ist keinesfalls politisch unabhängig. Trotzdem wäre Gewaltenteilung ein Prinzip, das alle Bereiche des Lebens betrifft, die Familie, das Gender-Verhältnis, die staatliche Verwaltung, die Ökonomie und ganz be- sonders die Medizin. Erstens muss diese ihre Souveränität gegenüber der Politik auf- geben, was eine Modifikation der Notstandsgesetzgebung erforderlich macht. Zweitens muss sie ihre Autorität gegenüber den Menschen als totalitär einsehen, die sie nicht mehr nur als nackte Körper betrachten darf, sondern als autonome mündige Personen. Vieles ist dazu nötig, allemal eine Umgestaltung des Krankenversicherungswesens wie eine Reduktion seiner Leistungen, die die Kosten ins Unendliche treiben, was nur durch einen Massenbetrieb eingehegt werden kann, dem sich alle gleichermaßen ausliefern. Da sich aber viele Menschen ihren Anschluss an die Medizin wünschen, dürfte es ein langer Prozess mit offenem Ausgang sein. Die Medizin hat die Rolle der Religion in der Menschenführung übernommen – darauf weisen Foucault und Michael Walzer hin. Wenn man sie mal mit der Entwicklung des Christentums vergleicht, dann befindet man sich jetzt etwa im Zeitalter der Patristik – der Islam ist da schon weiter –: Die Medi- zin konsolidiert sich gerade als souveränes Herrschaftssystem. Dann muss man wohl noch 1500 Jahre warten, bis eine neue Aufklärung zu einer Säkularisierung führt. Wie man in der Französischen Revolution aus Kirchen Markthallen machte, dürften dann die Hospitäler in Sozialwohnungen umgewandelt werden – aber wahrscheinlich mit angeschlossenen Krankenstationen wie auf Kreuzfahrtschiffen – man erinnere sich an Federico Fellinis E la nave va. Von der negativen Ökologie zur De-Struktion der Medizin 165 Literatur Adorno, Theodor W. (1970): Negative Dialektik (1966), Frankfurt/M.: Suhrkamp. Arendt, Hannah (2000): Wahrheit und Politik (1964). In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (1968). 2. Aufl. München: Piper, S. 327-370. Feyerabend, Paul (2009): Naturphilosophie (1976). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2005): Die Geburt der Klinik – Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (1963). 7. Aufl. Frankfurt/M.: S. Fischer. Ders. (2003a): Krise der Medizin oder Krise der Antimedizin? (1976). Schriften in vier Bänden – Dits et Ecrits Band III 1976–1979, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Ders. (2003b): Die Geburt der Sozialmedizin (1977). Ebd. Ders. (2003c): Die Entwicklung des Begriffs des ‚gefährlichen Menschen‘ in der forensi- schen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts (1978). Ebd. Ders. (2003d): Die Gesundheitspolitik im 18. Jahrhundert (1979). Ebd. Heisenberg, Werner (1955): Das Naturbild der heutigen Physik. Hamburg: Rowohlt. Huber, Ellis (2000): Heilkunst in der postindustriellen Gesellschaft. 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Wissenschaftler*innen aller Disziplinen finden sich hinter einer gemeinsamen Charta, Kommunikations- und Hand- lungsrichtlinien zusammen. S4F setzt sich aktiv ein für die Abschwächung der Klimakrise und die Anpassung an nicht mehr vermeidbare Veränderungen durch sie sowie den Schutz der biologischen Artenvielfalt und die Einhaltung der Ziele für nachhaltige Entwicklung. Mittels Wissenstransfer wird auch an der Erreichung von Nachhaltigkeit innerhalb der Hochschulen, sowie in Richtung Schulen, Politik und Gesellschaft gearbeitet. In diesem Artikel wird erörtert, ob Wissenschaft sich gesellschaftlich engagieren soll – und wenn ja, wie. Es wird anhand von verschiedenen Konzepten beschrieben, wie Aktivismus oder gewerkschaftliches Engagement in der Wissenschaft gelebt werden kann, wird und wurde. Zudem wird die Podiumsdiskussion der Tagung „Medien – Wissen – Bildung 2021“ an der Universität Innsbruck kritisch einge- ordnet. Einleitung Laut Duden (2022) ist Aktivismus ein „aktives Verhalten bzw. ein [fortschrittliches], zielstrebiges Handeln“. Karl Popper definiert Aktivismus als „Die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens.“ (Popper 1974, S. 7). Aktivismus bedeutet also nicht, dass man sich zwangsläufig an etwas ketten muss, wie ab und zu angenommen wird. Es heißt vielmehr, dass man etwas nicht passiv hinnimmt. Demzufolge möchten Klimaaktivist*innen das Nicht-Handeln der Politik bei den öko- logischen Krisen und der Klimaungerechtigkeit nicht hinnehmen. Angelehnt an das ers- Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 168 Lara Leik te Axiom von Paul Watzlawicks Kommunikationstheorie (Watzlawick et al. 2011), dass man nicht nicht handeln kann, lässt sich argumentieren, dass auch die Entscheidung, das Nicht-Handeln der Politik hinzunehmen, eine Entscheidung ist.1 In über 99% der wissenschaftlichen Publikationen2 in peer-reviewed Publikationsorga- nen besteht Einigkeit darüber, dass der Klimawandel menschengemacht ist (Mark Lynas et al. 2021). Die Klimawissenschaftler*innen, sind sich auch darin einig, dass dringend gehandelt werden muss. Wie gehandelt werden muss, wird hingegen unterschiedlich ausgelegt. Noch unterschiedlicher ausgelegt wird, wie die Wissenschaft zu einer gesell- schaftlichen Transformation beitragen kann, darf, sollte oder muss. Angesichts der drohenden ökologischen Krise einfach „nur“ die Fakten auf den Tisch zu legen ist vielen Wissenschaftler*innen zu wenig. Zudem sind sie dem Druck der Ge- sellschaft ausgesetzt, die oft mit einer „so, liebe Wissenschaft, wir haben hier ein Pro- blem oder Krankheit – forscht das mal weg.“ (Hans Joachim Schellnhuber 2020, S. 3) Haltung an die Wissenschaft herantritt (Hildebrandt/Raether 2020). Sie möchten in die Gesellschaft und in die Politik hineinwirken, um die ökologischen Krisen – im Beson- deren die Klimakrise und die Krise um den Biodiversitätsverlust – besser verständlich zu machen und zu einer nachhaltigeren Entwicklung beizutragen. Wie die Wissenschaft in die Gesellschaft wirken kann, wird genauso unterschiedlich gesehen wie die Frage, ob sie es überhaupt sollte. Dazu kommt, dass die meisten Wissenschaftler*innen neben ihrem wissenschaftlichen Dasein auch noch Menschen sind. Das mag wie eine über- flüssige Anmerkung erscheinen, ihre Bedeutung wird aber hoffentlich im Folgenden deutlicher. Wie geht ein*e Wissenschaftler*in also damit um, wenn er oder sie Vater oder Mutter ist? Kann sie oder er dann noch so leicht den Standpunkt vertreten, einfach „nur“ die Fakten auf den Tisch zu legen und es der Menschheit zu überlassen, ob sie damit etwas tun möchte oder nicht? In der abschließenden Podiumsdiskussion der Tagung „Medien – Wissen – Bildung 2021: Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik (MWB 2021)“ im September 2021 an der Universität Innsbruck, in der ich als Rednerin geladen war, wurden genau diese Fragen diskutiert. Während einer Podiumsdiskussion muss schnell geantwortet werden. Die Antworten sind daher intuitiver, emotionaler und polarisierender, als sie in einem wissenschaftlichen Diskurs stattfinden würden. Es werden eher Vorurteile reproduziert und es bleibt weniger Zeit zur Reflexion seiner eigenen Stellung. Der nachfolgende Text ist ein Versuch, wissenschaftliche Grundlagen für diese Diskussion nachzureichen und das Gesagte kritisch zu würdigen, sowie zur Reflexion der Diskussion aber auch der eigenen Vorurteile einzuladen. 1 Für die meisten Menschen in Europa, dadurch dass wir einen Zugang zu Bildung und Informationen haben. 2 Datensatz von 88.125 klimabezogenen Artikeln seit 2012. Scientists4Future 169 Die folgenden Kapitel und Beschreibungen der Scientists4Future (S4F) beruhen auf meinen Erfahrungen und meinem Verständnis der S4F. Die Bewegung kann von an- deren anders interpretiert werden. S4F ist eine Bewegung, die von der Pluralität der Engagierten lebt. Zudem möchte ich erwähnen, dass Nachhaltigkeit für mich nicht nur die ökologischen Betrachtungsweisen einschließt (Klima- und Biodiversitätskrise), son- dern ebenso die sozialen und ökonomischen Aspekte. So kann nicht von einer nachhal- tigen Lösung gesprochen werden, wenn sie zwar CO2-neutral aber nicht sozial gerecht ist oder Minderheiten nicht einschließt. Scientists4Future Die Klimakrise ist beängstigend. Nicht nur für Aktivist*innen und schon betroffene Menschen im globalen Süden (MAPA – Most affected People and Areas), sondern auch für Wissenschaftler*innen, die sich mit den Themen in ihrer Forschung auseinanderset- zen, sowie für Wissenschaftler*innen aller Disziplinen. Noch dazu wird von der Wis- senschaft erwartet, Lösungen für die drängendsten Probleme unserer Zeit zu finden. Wie wird der*die einzelne Wissenschaftler*in dieser Erwartung gerecht? Ein Weg ist der „universitäre Klimaaktivismus“. S4F unterstützt die Ziele von FridaysForFuture (FFF) und trägt dazu bei, die Bewegung zu legitimieren. S4F selbst setzt sich dafür ein, eine wissenschaftsbasierte Klimapolitik zu erreichen. Seit der Gründung der Initiative in Deutschland im März 2019 durch Gregor Hagedorn, als Reaktion auf die Demonstra- tionen der FFF, hat sich S4F zu einer großen Bewegung entwickelt. Wissenschaftler*in- nen aller Disziplinen, ob Klima-, Sozial- oder Naturwissenschaften, werden von S4F hinter einem gemeinsamen Ziel vereint. Mehr als 27.000 Wissenschaftler*innen haben die initiale Stellungnahme unterzeichnet (Hagedorn et al. 2019). Vereint hinter einer gemeinsamen Charta (Charta Scientists4Future 2021), einem Kommunikations- und Handlungskonsens, agiert S4F international, vor allem aber im deutschsprachigen Raum. S4F Österreich setzt sich seit 2019 für die Abschwächung der Klimakrise und die Anpassung an nicht mehr vermeidbare Veränderungen durch sie, den Schutz der Biodiversität und die Einhaltung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen ein. Ebenso liegt ein Fokus auf der Erreichung von Nachhaltigkeit durch Wissenstransfer wissenschaftlicher Erkenntnisse innerhalb der Hochschulen sowie in Richtung Schulen, Politik und in die Gesellschaft. Das Rückgrat von S4F sind Wissenschaftler*innen und Studierende aus allen Bereichen, Disziplinen und Professionsstufen, die sich durch ehrenamtliches En- gagement in regionalen und thematischen Arbeitsgruppen aktiv einbringen. Sie unter- stützen die FFF vor Ort bei Klimastreiks, ermöglichen den Zugang und die Verbesserung der Zugänglichkeit zu strategischen und wissenschaftlichen Ressourcen, organisieren 170 Lara Leik öffentliche Vorträge und führen Faktenchecks zu relevanten aktuellen Themen in Me- dien und Politik durch. Dabei bietet diese Vernetzung nicht nur den Aktivist*innen von FFF die Möglichkeit zur Vernetzung, sondern auch den Wissenschaftler*innen unterei- nander. Die Vernetzung an den eigenen Institutionen und Disziplinen wie auch darüber hinaus bringt neue Ideen, Projekte und gleichgesinnte Menschen zusammen. Allerdings gibt es auch eine Kehrseite: Die Zeit, in der sich Wissenschaftler*innen eh- renamtlich oder im Sinne der Third Mission einbringen, fehlt an anderer Stelle – wie beim Schreiben von Papern oder Anträgen. Ohne zu tief in die Kritik an dem jetzigen Wissenschaftssystem einzugehen,3 liegt es auf der Hand, dass kurze Verträge mit vielen Unsicherheiten, unrealistische Arbeitsaufteilungen usw. kein nachhaltiges Arbeiten be- günstigen und wenig zu einer gesamtgesellschaftlichen Transformation beitragen. Des- halb ist es auch eine Art Privileg, die Zeit, das Geld und das Wissen zu haben, um sich über seine Anstellung an einer Hochschule hinaus oder im Sinne der Third Mission an Hochschulen bei den S4F einzubringen. Genau dieser letzte Punkt verdeutlicht aller- dings auch die Wichtigkeit sich politisch zu engagieren, dass es kein Privileg bleibt, sich erstens für den Wissenschaftsweg entscheiden zu können und weiters seine Forschungs- ergebnisse in die Lehre und die Gesellschaft einfließen lassen zu können. Wissenschaftler*innen und Expert*innen der S4F wollen auch als diese wahrgenom- men werden, nicht primär als Aktivist*innen. Ich selbst besetze hier eine Doppelrolle. Ich war zuerst Aktivistin bei FFF und bin dann durch eine Stelle an der Universität Salzburg dazu gekommen, Wissenschaftler*innen untereinander zu vernetzen und den Austausch mit der Gesellschaft zu fördern. Das beinhaltet auch, dass ich zuerst die S4F Salzburg und anschließend die S4F Österreich aktiviert habe. Daher werde ich vermut- lich aktivistischer eingeschätzt als Kolleg*innen der S4F mit einem Professor*innenti- tel oder einem wissenschaftlich-forschenden Profil, obwohl wir gemeinsam an Themen arbeiten. Wissenschaft und Aktivismus Die folgenden Beispiele und Prinzipien sowie wissenschaftlichen Grundlagen sollen helfen, verschiedene Blickwinkel auf die Wissenschaft und ihren Kontakt mit der Ge- sellschaft zu erklären. Hierbei geht es darum, aus unterschiedlichen Gesichtspunkten das Verhältnis von Aktivismus und Wissenschaft zu erörtern. Ob ein*e Wissenschaft- ler*in als solche*r zum Beispiel mit den FFF zusammen demonstrieren geht, muss je- de*r für sich selbst entscheiden und kann und will ich niemandem vorschreiben. 3 Darüber könnte man einen eigenen Beitrag verfassen. Scientists4Future 171 Reduktion der Komplexität Das fossile Zeitalter hat den Menschen eine bis dahin unvorstellbare Mengen an Ener- gie gegeben. Dies hat erstens zu einem massiven Bevölkerungswachstum geführt, und zweitens dazu, dass man mit sehr vielen dieser Menschen überall auf der Welt kommu- nizieren kann. Dadurch wird die Menge an zur Verfügung stehenden Informationen und auch Ablenkungen immer mehr, führt also zu einer erhöhten Komplexität. All jene In- formationen, die für einen selbst nicht relevant sind, aber nicht klar von den relevanten zu trennen sind, bezeichnet Niklas Luhmann als Rauschen. Er sagt weiter, dass die Ge- sellschaft zur Reduktion der Komplexität (angesichts des Rauschens) in verschiedene Subsysteme zerfallen ist (Luhmann 2009; Baraldi et al. 1999, S. 26 f. und 56 f.). Gerade in der digitalen Welt und den sozialen Netzwerken geht alles sehr schnell und eine „Message“ muss innerhalb von Sekunden überbracht und interessant gemacht wer- den, sonst scrollen die Rezipierenden weiter. Es braucht also kurze klare Aussagen, um Menschen auf ein Thema aufmerksam zu machen. Genau hier fängt das Problem vieler Wissenschaftler*innen an, die ihre Forschung in die Gesellschaft tragen möchten. Ein anderes Problem stellen die Vorurteile dar, mit denen jede einzelne Person konfron- tiert wird, seien es rein äußerliche Vorurteile oder Vorurteile aufgrund des Bildungs- standes oder des Berufs. Ein Vorurteil Wissenschaftler*innen gegenüber könnte zum Beispiel sein, dass sie immer kompliziert und lange reden würden und nicht aus ihrem Elfenbeinturm kommen. Dadurch wird eine (wissenschaftsfremde) Person vielleicht von Anfang an denken, sie verstehe die Wissenschaftler*in ohnehin nicht, weil er/sie ja so kompliziert rede. Ein weiteres Problem ist, dass ein Verständnis von Wissenschaft in breiten Teilen der Gesellschaft fehlt. Solange jemand die Prozesse hinter wissenschaftlichen Aussagen, Reviews etc. nicht kennt, hat auch die Aussage eine andere Wirkung oder kann falsch interpretiert werden. Als Beispiel die Zahl aus der Einleitung: „nur“ 99% der publizier- ten wissenschaftlichen Publikationen schreiben den Klimawandel den Menschen zu; dass 99% für die Wissenschaft eine enorm hohe Prozentzahl ist, die eine hohe Wahr- scheinlichkeit widerspiegelt, wissen hingegen viele nicht. Bildung als transformatorischer Prozess Aber wie geht man im Bildungsbereich als Hochschule4 mit der Tendenz um, dass in der heutigen (digitalen) Gesellschaft eher die Komplexität reduziert wird, als dass die Kom- plexität angesprochen und ihr entgegengetreten wird? Bildung als gewünschter trans- 4 Mit Hochschule sind im Folgenden Hochschulen sowie Universitäten gemeint. 172 Lara Leik formatorischer Prozess sollte genau das Gegenteil bewirken. Bildungsprozesse sollten eine Steigerung des Welt- und Selbstverständnisses zum Ziel haben. „[Bildungsprozesse sind] als Prozesse der gesellschaftlich auferleg- ten Problembearbeitung‘ zu begreifen […], die also auf soziokulturelle Heraus forderungen reagieren, die mit den bisher zur Verfügung stehen- den Mitteln nicht angemessen bewältigt werden können.“ (Marotzki 1990, S. 52) Bildung wird traditionell als wünschenswert empfunden und gefördert. Eine Ausbil- dung soll einen Zuwachs an Wachstum (Growth) und Erfahrung (Experience) mit sich bringen. Bildungsprozesse bewirken weiters, laut Nohl und Dewey, dass die erlernten Handlungsalternativen nicht nur zu Veränderungen von Gewohnheiten (Habits) füh- ren, sondern sogar das Selbst und die Umwelt mit transformieren (Adjustment). Aber gibt es Kriterien, nach welchen Normen ein Bildungsprozess ablaufen soll? Dürfen die Normen der jetzigen Gesellschaft, eigene Vorstellungen von der Zukunft oder einem zukunftsfähigen Leben den Bildungsprozess begleiten oder beeinflussen? Hans-Christoph Koller benennt Transformationen als Bildungsprozess, die nicht in die Richtung gehen, andere Diskursarten zum Schweigen zu bringen, sondern die sich des- sen bewusst sind, dass ihr Prozess noch nicht zu Ende ist und weitergeht. Auch nennt er als Kriterium, bislang nicht Artikulierbares artikulierbar zu machen (Koller 2016, S. 157 ff.). Einig sind sich zumindest die Klimawissenschaften und die Klimabewegungen, dass ein Weiter-wie-bisher nicht möglich ist. FFF und weitere Gruppen fordern einen System- wandel: „System Change, not Climate Change.“ Wie also sollten Klimawissenschaft- ler*innen auf die globalen Herausforderungen der Klimakrise reagieren? Neue Medien, Schreibweisen und Kommunikationstechniken lernen zu können kann nur ein Teil da- von sein. Ein weiterer Teil dieses Prozesses kann sein, mit auf Demonstrationen zu ge- hen, Demonstrierende zu beraten oder ihnen Workshops anzubieten.5 Ein Beispiel wäre das streikende Klassenzimmer der FFF Austria. In Abbildung 1 sieht man Helga Kromp-Kolb bei einem Vortrag über die Klimakrise und Nachhaltigkeit als Teil des Streiks. Zu dieser Art Streik konnten ganze Klassen als Lehrstunden fahren und somit nicht nur etwas Neues zu den ökologischen Krisen ler- nen, sondern auch, was politisches Engagement heißen kann. 5 Siehe Problem der Arbeitsverhältnisse an Universitäten und Hochschulen im Abschnitt „Scientists4Future“. Scientists4Future 173 Abbildung 1: Helga Kromp-Kolb beim Streikenden Klassenzimmer 2018 in Linz. Credits Lara Leik für FridaysforFuture Linz (eigene Fotografie) Die FFF Bewegung macht auf all ihren Streiks nicht nur auf die Klimafakten aufmerk- sam, sondern ebenso auf die globalen Ungerechtigkeiten, bekennt sich gegen Rassis- mus, Sexismus und solidarisiert sich mit den Menschen im Globalen Süden (MAPA), der Bevölkerung der Ukraine sowie der LQBTQ Community und vieles mehr. Wenn möglich, geben sie eben diesen Gruppen wortwörtlich eine Stimme auf ihren Streiks. Sie halten als Schüler*innen und Student*innen Vorträge, diskutieren mit Politiker*in- nen und Entscheidungsträger*innen. Kurzum, sie bilden sich zu politischen Menschen weiter, zu Personen mit Teilhabe an der Welt. Ob dieses Engagement schlussendlich als Bildung(-sprozess) zu bewerten ist, kann ich hier nicht beantworten. Was ich aber sagen kann, ist, dass sich hier Menschen, ob Schüler*in oder Wissenschaftler*innen, mit so- zialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen beschäftigen und dadurch nicht nur selbst wachsen, sondern auch ihr Selbst und ihr Umfeld transformieren. 174 Lara Leik Funktionale Differenzierung der Gesellschaft Um unsere kognitiven Belastungen zu reduzieren, versuchen wir, bewusst und unbe- wusst, die Komplexität unserer Umwelt zu verringern. Dadurch wird alles, was wir wahrnehmen, in verschiedene Kategorien, Subtypen und Subsysteme unterteilt. Diesen Unterteilungen fallen dann weiters verschiedene Vorurteile, Erwartungen und Normen („Codes“) zu. Diese Subsysteme betrachten das Gesamtsystem „Gesellschaft“ aus an- deren Perspektiven und mit anderen Normen. Die Wissenschaft als eines solcher Sub- systeme beurteilt nach dem Schlüssel „wahr“ oder „nicht wahr“, für die Politik ist die Differenz zwischen „mächtig“ und „nicht mächtig“ ausschlaggebend für Handlungen und Bewertungen, und die Wirtschaft sieht die Differenz reich oder arm. Je nachdem, in welchem Subsystem man sich befindet, gibt es also verschiedene Normen, dazu kommt ein jeweils typischer Habitus, also wie man spricht, wie man aussieht, wie man sich ver- hält, was man tut und was nicht (Luhmann 2009; Baraldi et al. 1999, S. 26 f. und 56 f.). Klimawissenschaftler*innen müssen also zusätzlich zu ihrem Wissenschaftssubsystem auch das der Politik und der Wirtschaft als wichtige Umwelten berücksichtigen. So ist es nicht verwunderlich, dass im Intergouvernemental Panel on Climate Change (IPCC) Wirtschaftswissenschaftler*innen mitarbeiten mit der Hoffnung, die Klimafakten und Modelle in das Wirtschaftssystem übersetzen zu können und andersherum.6 Zudem wird der IPCC in eine „News and Policy Makers“ Edition übersetzt, um weiter in die media- len und politischen Systeme wirken zu können. Den wissenschaftlichen Autor*innen des IPCCs sind die Normen dieser Schreibformen aus ihrem System zunächst nicht bekannt, sie machen Lernprozesse durch. Ein*e Wissenschaftler*in kann entweder versuchen, mit wissenschaftlichen Daten und Fakten aus dem System herauszutreten und sich den Regeln („Codes“) eines anderen Systems anzupassen. Oder aber man wartet, bis zum Beispiel Journalist*innen aus dem Medien-Subsystem die Forschungsergebnisse der Wissenschaft in ihr System überset- zen, in dem es um Neuigkeitswert und nicht in erster Linie um Wahrheit geht. Hier wäre die ideale Zwischenlösung der Wissenschaftsjournalismus, der aus beiden Welten kommt, aber leider noch zu selten die Norm ist. Leider bleibt so den meisten Wissenschaftler*innen kaum eine Möglichkeit, aus dem Wissenschaftssystem hinauszuwirken. Die Motivation, aus seinem System zu wirken, muss aber nicht denselben Hintergrund haben. So können Wissenschaftler*innen z.B. mit Schüler*innen oder Steakholdern aufgrund ihres eigenen Dringlichkeitsgefühls der Klimakrise zusammenarbeiten wollen, oder aber auch, weil es ihnen Spaß macht, ihr Wissen weiterzugeben. Zusätzlich zu den hier aufgeführten sprachlichen Hürden, kom- 6 Was nicht heißen soll, dass Wirtschaft gleich Kapitalismus gleich immer klimaschädlich ist. Scientists4Future 175 men die schon angesprochenen prekären Verhältnisse und der Zeitmangel der Wissen- schaftler*innen hinzu. Hier ist es hilfreich, eine Gruppe oder eine Möglichkeit wie S4F zu haben, bei der man Unterstützung bekommt. Zudem kann man sich dort mit Gleich- gesinnten umgeben, sich vernetzen und zusammen an Aktionen und Lösungen arbeiten, wie man am besten in der Lehre oder der Gesellschaft über z.B. die Klimakrise spricht. Das Problem oder die Tatsache, aus seinem System hinauszuwirken und seine „Codes“ übersetzen zu müssen, ist allerdings kein Problem, das nur in der Wissenschaft vorhan- den ist. Auch Ärzt*innen müssen dies täglich beim Patient*innenkontakt tun. Zu den Positivbeispielen, wie man aus seinem System heraus Menschen erreicht und über die Klimakrise spricht, zählt der Papst, der die Dringlichkeit der Fakten des IPCCs in sein religiöses System übersetzte, als er die Enzyklika „Laudato sí“ schrieb. Diese Übersetzungen, ob vom Papst oder der Wissenschaftler*in, sind notwendig, um die Komplexität der Klimakrise nicht nur zu reduzieren, sondern auch in andere Sub- systeme zu tragen, in denen deren Codes verwendet werden. Wissenschaftler*innen der S4F treten oft an Medien und Journalist*innen heran mit der Bitte um Übersetzung und Aufnahme ihrer Themen in das Mediensubsystem. Je nach- dem, aus welchem Subsystem man kommt, werden einem allerdings verschiedene At- tribute mitgegeben und an die Person werden auch verschiedene Erwartungen gestellt. Wenn man nun also als Wissenschaftler*in und Aktivist*in auftritt, werden einem ver- schiedene Attribute zugeschrieben, die oft nicht miteinander vereinbar sind. Wie stark Wissenschaftler*innen als Aktivist*innen auftreten, ist jeder selbst überlassen. Es gibt Wissenschaftler*innen, die als Expert*innen bei Podiumsdiskussionen für ihren The- menbereich erscheinen. Es gibt Wissenschaftler*innen, die das Thema Klimawandel und Nachhaltigkeit in ihren Lehrauftrag einbetten. Und es gibt Wissenschaftler*innen, die mit auf Demonstrationen gehen oder einen S4F Sticker an ihre Bürotafel kleben. Es gibt auch Wissenschaftler*innen, die zivilen Ungehorsam leisten, aber dazu später mehr. Bei den ForFuture (FF) Allianzen gibt es viele Untergruppen, wie zum Beispiel die ArtistsFF, Scientists4F, StudentsFF, ReligionsFF und viele mehr (FridaysForFuture: Al- lianzen 2022). Eine Sonderrolle hat hier die FFF Bewegung, die versucht, in alle mög- lichen Subsysteme zu wirken. Sie haben Outreach Gruppen, die sich mit verschiedenen Subsystemen beschäftigen, seien es die Politik, die Medien, die Wirtschaft und das Ge- samtsystem, also die Gesellschaft an sich. Zudem geht die FFF Bewegung einen Schritt weiter und fordert mit ihrem Spruch „System Change not Climate Change“ eine Ver- änderung der Subsysteme. Dadurch, dass die FFF eine Bewegung sind, müssen sie sich nicht selbst eine Leitdifferenz geben. Sie können vielmehr aufzeigen, dass sie als Men- schen aus verschiedenen Subsystemen in verschiedenen Subsystemen wirken wollen. Aber auch Wissenschaftler*innen kommen aus verschiedenen Subsystemen. Sie kön- nen zum Beispiel auch Eltern und/oder Sportler*innen sein oder aus verschiedenen Län- 176 Lara Leik dern und gesellschaftlichen Kreisen kommen. So wird jede Person nicht nur als Wissen- schaftler*in gesehen, sondern ist auch mit anderen Attributen ausgestattet. Diese alle zu vereinen ist die Kunst des oder der Einzelnen (Luhmann 2009; Baraldi et al. 1999, S. 26 f. und 56 f.). Einige Stimmen fordern allerdings, dass sich Wissenschaftler*innen auf ihre Kompe- tenzen beschränken und die journalistische Arbeit den Menschen mit journalistischer Kompetenz überlassen sollen. Ich stimme dem zu, dass ein Artikel besser wird, wenn hier Hand in Hand zusammengearbeitet wird. Allerdings bin ich der Meinung, dass auch Wissenschaftler*innen Medientrainings absolvieren können sollten. Dies wird bei den S4F angeboten, um den Wissenschaftler*innen, die es möchten, die nötigen „Werk- zeuge“ in die Hand zu geben, um in die anderen Subsysteme hineinzuarbeiten. Es gibt Wissenschaftler*innen, die finden, dass ihr Wissen auch mit Verantwortung ein- hergeht. Eine Verantwortung, die bedeutet, nicht nur Publikationen über nachhaltige Entwicklung, die ökologischen Krisen oder Nachhaltigkeit zu schreiben, sondern mit- anzupacken, die Gesellschaft in Richtung sozialer Nachhaltigkeit zu transformieren. Wissenschaftler*innen sind allerdings auch nur Menschen, die verschiedene Hinter- gründe und Lebenserfahrungen haben und dadurch jeweils anders auf die globalen Herausforderungen reagieren. Situiertheit der Wissenschaft Zumindest seit den 70er Jahren ist die Situiertheit der Wissenschaft Gegenstand einer Debatte, die in der Wissenschaft geführt wird. Die Situiertheit der einzelnen Wissen- schaftler*innen zu reflektieren entwertet allerdings nicht die Wissenschaft, sondern ist ein fester Bestandteil davon. Aus dem Grund, dass ein*e einzelne*r Wissenschaftler*in nicht vollends objektiv sein kann, gibt es Review- und andere kommunikative Prozesse. Donna Haraway (1988 und f. J.), die diese Debatte aufgebracht hat, spricht darüber, dass die Objektivität jene Haltung einer Menschengruppe sei, die in der Mehrheit sei und daher ihr Wissen als neutral ansehe. Dieses Wissen könne aber für eine Minderheit nicht neutral sein. Sie bezieht sich in ihrem Artikel auf das Privileg einer partiellen Perspekti- ve beziehungsweise eines körperlosen Standpunkts, der dadurch zu einer unwiderlegba- ren Wahrheit wird. Donna Haraway sagt damit, dass ein*e einzige*r Wissenschaftler*in kein universelles Wissen habe, sondern immer von einer gewissen Subjektivität geprägt sei. Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass unterschiedliche Wissenschaftler*in- nen unterschiedlich auf eine globale Herausforderung reagieren. Der Wunsch, sich über seine Disziplin hinaus zu vernetzen und wissenschaftliche Kommunikation zu bet reiben, ist Teil der Wissenschaft selbst. Dass Diskussionen bei S4F unter einem wissenschaft- Scientists4Future 177 lichen Mindeststandard – einer Charta – geführt werden, ist daher kein religiöses Motiv (wie dies etwa bei der angesprochenen Podiumsdiskussion diskutiert wurde), sondern ein geteiltes Grundverständnis der teilnehmenden Wissenschaftler*innen hinsichtlich der Ausgangslage der Klimawissenschaften. Die Charta der S4F gibt Sicherheit, auf wissenschaftlich gesicherter Basis zu arbeiten. So steht in der Charta: „Wir halten es für essentiell, eine Allianz zu bilden, die weit über die Spezialist*innen der Klima- und Biodiversitätsforschung, der Nachhal- tigkeits-, Sozial- und Ingenieurwissenschaften hinausgeht. Wir werden keine nachhaltige Zukunft erreichen, ohne dass wir beispielsweise Fragen politischer Partizipation, Bildung, Geschlechtergerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit (einschließlich Klimagerechtigkeit) einbeziehen. Um die geschichtlich beispiellosen Probleme der Menschheit zu lösen, benötigen wir die Fähigkeiten, Erfahrungen und Erkenntnisse aller Disziplinen.“ (Charta Scientists4Future 2021) S4F ist also nicht als eine Art Religion und Glorifizierung einzelner Wissenschaftler*in- nen zu sehen, sondern als Austausch zwischen verschiedenen Disziplinen von engagier- ten Wissenschaftler*innen innerhalb eines Selbstverständnisses. In diesem Selbstver- ständnis geht es also auch darum sich innerhalb von verschiedenen Disziplinen auszu- tauschen, neue Forschungsergebnisse einzubauen und gerade eben nicht die eine wahre Lösung bei der Bekämpfung der Klimakrise zu haben, wie es bei einer Religion wäre. Karl Popper (22005) grenzte erstmals 1934 die Wissenschaft von der Pseudowissen- schaft und Religion mit dem Falsifikationismus ab, indem er formulierte, dass Wissen nur so lange gültig sei, bis man es widerlegt. So sind auch die Lösungen zur Bekämp- fung der Klimakrise keine unumstößliche Wahrheit, wie es in der Religion der Fall wäre, sondern werden weiter erforscht und falsifiziert. Selbst die Charta der S4F DACH wird immer wieder von Wissenschaftler*innen aus dem deutschsprachigen Raum über- arbeitet7 und steht zur Diskussion offen. Eine Charta im Sinne einer Selbstverpflich- tung ist auch bei anderen Wissenschaftler*innen oder Projekten nicht unüblich. Die bekannteste Charta ist wahrscheinlich die Charta der Menschenrechte der UN (Vereinte Nationen, 1945). Zuletzt geht es nicht darum, einzelne Wissenschaftler*innen im Sinne eines Personen- kults zu feiern, sondern vielmehr interdisziplinäre Wissenschaftler*innen untereinander zu vernetzen, sowie ihren Austausch mit der Gesellschaft zu fördern. Dabei wird be- rücksichtigt, dass jede*r der S4F selbst seine/ihre Situiertheit hat und versucht, diese 7 Zum Beispiel bei dem S4F DACH Online Symposium am 5. und 6. Juni 2020 178 Lara Leik so zu nutzen, dass verschiedene Wissenschaftler*innen verschiedene Zugänge zu Sub- systemen der Gesellschaft haben. Boundary Work Auch die These des „Boundary Work“ (Gieryn 1983) ist in der Wissenschaft seit den 80er Jahren ein Bestandteil der wissenschaftlichen Debatten. In dieser Konzeption wird die Abgrenzung von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft fokussiert, in früherer Zeit ging es vor allem um die Abgrenzung zur Religion. Boundary Work wird von Wis- senschaftler*innen geleistet, um Wissenschaft zu definieren. Denn die Abgrenzung z wischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft ist nicht eindeutig. Die Attribute, die der Wissenschaft gegeben werden, sind abhängig von der spezifischen Disziplin, in der man arbeitet, aber auch von den Zielen, die man erreichen möchte, sowie der jeweiligen Abgrenzungsarbeit zur Nicht-Wissenschaft. „The boundaries of science are ambiguous, flexible, historically changing, contextually variable, internally inconsistent, and sometimes disputed.“ (Gieryn 1983, S.792) (Klima-)Wissenschaftler*innen, unter anderem der S4F, versuchen sich dieser Abgren- zungsarbeit zu stellen. Sie stellen sich der Herausforderung, der Gesellschaft nicht nur ihre Forschungen und deren Ergebnisse zu erklären, sondern auch, wie sie zu diesen gekommen sind und wie diese zu deuten sind. Sie müssen also ihre Botschaft klar und deutlich vortragen, im selben Satz, aber auch wieder darauf aufmerksam machen, dass die Wissenschaft keine klaren Botschaften bieten kann. Modelle, Fakten und Zahlen werden nicht von einer oder einem Wissenschaftler*in entdeckt, sondern entstehen aus kommunikativer Zusammenarbeit verschiedener, idealerweise interdisziplinärer Wis- senschaftler*innen und Instituten. Die Vorstellung, es gäbe den oder die eine Wissenschaftler*in, der oder die sein/ihr perfektes Modell mit einer perfekten Lösung gegen den Klimawandel erforscht hätte, ist eine extreme Reduktion der komplexen Zusammenhänge. Greta Thunberg hat dies – bewusst oder unbewusst – verstanden, indem sie den Spruch „listen to the science“ (oder auch „trust the science) und nicht „listen to the scientists“ als einen Appell der FFF Bewegung an die Politik richtete. Hier lohnt ein genauerer Blick: Greta Thunberg fordert das Politik-Subsystem auf, sich mit dem Wissenschaftssubsystem und dessen Codes ernsthaft auseinanderzusetzen, in der Sprache der Systemtheorie eine „struktu- relle Kopplung“ einzugehen. Dies ist aber, weil die Codes verschieden sind, für beide Subsysteme herausfordernd. Scientists4Future 179 S4F entstand als Reaktion auf die FFF Appelle an die Politik, auf die Wissenschaft zu hören. Daher stellen sich die Wissenschaftler*innen dieser Aufgabe, sich verschiede- nen Subsystemen zu nähern und eine wissenschaftsbasierte Klimapolitik zu fördern. S4F orientiert sich also nicht daran, selbst eine Ideologie zu bedienen oder zu werden, s ondern genau diese Abgrenzungsarbeit (Boundary Work), die den Kern der Abgren- zung des Subsystems Wissenschaft bildet, zu leisten. Kritische und engagierte Wissenschaft In der Geographie gibt es die Unterteilung zwischen kritischer und angewandter Geo- graphie. Markus Hesse (2020) stellt diese Unterteilung infrage und vertritt die Position, dass es keine Unterteilung der Wissenschaft in kritisch und nicht kritisch geben sollte. Geograph*innen, die sich der angewandten Geographie anschließen, seien nicht auto- matisch unkritisch und säßen in einem Elfenbeinturm, wie es so oft der Wissenschaft angekreidet wird. Dies gilt auch umgekehrt: „Like ,applied‘ geographers, critical geographers want to make a difference.“ (Blomley 2006, S. 92) Der Ruf nach Praxisorientierung und Impact der Wissenschaft fordert eine Auseinan- dersetzung mit den realen Problemen der Welt (real-world problems) sowie den wis- senschaftlichen Problemen (scientific problems) also den zugrundeliegenden Erkennt- nisfragen und der wissenschaftlichen Generalisierung. Auf der einen Seite gibt es die Kritik, dass die Sozialwissenschaften politisch keine Rolle mehr spielen würden, auf der anderen Seite muss sich die Wissenschaft dem Setting von Markt und Wettbewerb entgegenstellen. Dieser fordert nützliche und praktisch verwertbare Ergebnisse. „Womöglich hatte der Druck zu mehr Impact sogar eine mobilisieren- de Wirkung für die Forschung in Richtung Gesellschaft. Die Beispiele der Fridays for Future sowie vor allem der Scientists4Future bieten eine Lesart, die gesellschaftspolitisches Engagement mit wissenschaftlichem Sachverstand und kommunikativer Vermittlung durch die Forschung ver- knüpft.“ (Hesse 2020, S. 276) Die Bewegung der S4F würde laut Hesse eine Neubestimmung der Grenze zwischen Politik und Wissenschaft fordern. Es sei aber kein Widerspruch, wissenschaftliche A nalysen und die daraus folgenden möglichen Konsequenzen in die Praxis zu über- setzen. 180 Lara Leik In einem Interview wurde Joachim von Braun (Agrarökonom) gefragt, ob es seine wis- senschaftliche Unabhängigkeit beeinträchtigen würde, wenn er wisse, dass seine Ergeb- nisse weitreichende politische Entscheidung beeinflussen würden. Er antwortet darauf mit einem klaren „Nein“. Armut und Hunger seien sein Forschungsgebiet und aus sei- ner Sicht wäre es wissenschaftlicher Voyeurismus, wenn man nicht daran interessiert wäre, das Problem zu lösen. Es steht also nicht im Konflikt – oder zumindest schließt es sich nicht aus – an einem Problem unabhängig zu forschen und gleichzeitig die Lösung politisch umsetzen zu wollen. In demselben Interview spricht Ina Schiefer- decker (Informatikforschende, die in die Politik wechselte) darüber, dass sich noch mehr Wissenschaftler*innen auf Umsetzungsfragen einlassen müssten. Ihr zufolge müsse die Wissenschaft auch Rollen anderer Systeme besser verstehen. Sie wünscht sich eine An- näherung der Wissenschaft mit den Medien und der Politik, die oft komplexe Sachver- halte auf wenige Sätze herunterbrechen müssten (Hildebrandt/Raether 2020). Jürgen Kocka (ehem. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) Prä- sident) sagte 2019 einerseits, dass er angesichts der Komplexität der Klimakrise dafür plädiere, dass sich Wissenschaft gesellschaftlich engagiert und einmischt. Er mahnt al- lerdings auch, Forscher*innen sollten nicht zu Propagandist*innen für parteipolitische Ziele werden. Er sagt weiter, „Prinzipien der Wissenschaftlichkeit in Absetzung von der Logik der Medien und des politischen Kampfs“ werden (2019, S. 277) bestehen bleiben müssen. Er bevorzugt also demnach eher einen kritischen, distanzierten Blick der Wis- senschaft auf gesellschaftspolitische Fragen. Allmendinger und Wilkoszewski (aus der Leitung der WZB) sind allerdings der Meinung, Wissenschaft müsse sich zu „brennen- den gesellschaftlichen Fragen artikulieren“ (ebd.). Sie sehen das Engagement weniger als Propaganda, sondern als „Schulterschluss über die Fachgrenzen hinweg“ (ebd.). Sie gehen sogar noch weiter und nennen die Unterstützung solcher Kampagnen wie die S4F, bei denen Wissenschaftler*innen mit anderen gesellschaftlichen Akteur*innen zu- sammenarbeiten, „als einzig wirksames Mittel, um notwendige Reformen anzustoßen“ (ebd.). Als Grundvoraussetzung für die Wissenschaft sehen sie die Transparenz der Me- thoden und Verfahren der Erkenntnisgewinnung. Hesse (2020) schließt mit der These, dass die beiden Meinungen nicht diametral zueinanderstehen müssen, sondern vielmehr mit der wissenschaftlichen Sozialisierung und dem individuellen Denkstil zu erklären seien. Wie weit kann die Wissenschaft gehen? Einigen Wissenschaftler*innen gehen die S4F nicht weit genug. Sie leisten zivilen Un- gehorsam, um sich Gehör zu verschaffen. ScientistsRebellion entstand aus Kritik an dem Prozess des IPCC. Nicht die Wissenschaftlichkeit wird kritisiert, sondern die Dis- Scientists4Future 181 krepanz zwischen Wissen und politischem Nicht-Handeln. Nana Maria Grüning als Mitgründerin der ScientistsRebellion beschreibt die internationale Gruppe als eine von Menschen, die eine wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen haben. Sie sagt weiters, dass genau diese Menschen darauf trainiert wurden, Fakten zu checken und zu evaluie- ren und sieht dies als ein Privileg, das auch Verantwortung mit sich bringe. Scientists- Rebellion seien gegründet worden, da sämtliche Versuche der Wissenschaft, wie das Beraten von Regierungen und weitere Wissenschaftskommunikation, nicht zu evidenz- basiertem politischen Handeln geführt habe. Daher hat sich eine Gruppe von Wissenschaftler*innen, die beteiligt waren, den IPCC Report zu schreiben, als ScientistsRebellion zusammengeschlossen und die Originalfas- sung des Kapitels Summary for Policymakers and Chapter 1 (ScientistRebellion 2021) noch vor der offiziellen Veröffentlichung publiziert. Dies sei geschehen, um das Kapitel ohne Verzögerung und politisches Einwirken der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stel- len. ScientistsRebellion besteht aber auch über die Veröffentlichung des Berichts des Weltklimarats hinaus weiter. Sie rufen Wissenschaftler*innen zu zivilem Ungehorsam auf. Zudem fordern sie die Wissenschaft auf, nach außen nicht mehr neutral zu agieren, sondern die Gefahren der ökologischen Krisen zu benennen und auch emotional zu be- greifen. Nana Maria Grüning spricht die Wut aus, die viele Klimawissenschaftler*innen in sich tragen. Sie fragt sich auch, was es für eine Botschaft sein solle, wenn gerade die, die am meisten über die Krisen wissen, weiterleben würden wie bisher? Sie ist sich si- cher, dass man mit Integrität besser handelt und dadurch nur an Respekt gewinnen kann (Neubauer 2022, Podcast Min. 40). Fazit Angenommen, Klimawissenschaftler*innen wären in der Vergangenheit richtig verstan- den, gehört und in das journalistische Medium übersetzt worden, dann würde es eine Bewegung wie S4F nicht geben müssen. Wissenschaftler*innen von S4F warten nicht auf die Einladung der Medien, ihre Erkenntnisse in die Öffentlichkeit zu tragen, lehnen diese aber auch nicht ab. Ganz im Gegenteil freuen sich die meisten über die Chan- ce, mit Journalist*innen zusammenzuarbeiten und ihre Themen in andere Subsysteme übersetzen zu dürfen. Die Zusammenarbeit wird nicht nur angenommen, sondern auch bewusst eingefordert, indem S4F wie auch das Climate Change Centre Austria (CCCA) mit Stellungnahmen oder wichtigen Erkenntnissen direkt an die Medien herantritt und um Zusammenarbeit anfragt. Die Wut und/oder Angst oder andere Gefühle, die Aktivist*innen antreibt, treibt ge- nauso auch Wissenschaftler*innen an, die sich tagtäglich mit den Themen der ökolo- gischen Krisen oder den SDGs beschäftigen. Wichtig ist hier, dass wissenschaftliche 182 Lara Leik Forschungsergebnisse trotzdem objektiv und faktenbasiert überprüft werden. Dazu hat S4F nicht nur eine Faktenchecker*innen-Gruppe, sondern auch ein Fachkollegium. Die Ergebnisse in der Forschung haben uns aber auch gelehrt, dass Erkenntnisse durch zu- fälligen Fund oder aber die Motivation des Forschenden sehr wohl vorkommen. So wäre es falsch, die Situiertheit der oder des einzelnen Wissenschaftler*ins nicht anzu- sprechen. Denn jeder Wissenschaftler*in ist auch ein Mensch, eine Mutter oder Vater, Bruder oder Schwester, Freund, Kind usw. und möchte das in einer lebenswerten Zu- kunft bleiben. Ganz abgesehen davon, dass es evolutionär nicht von Vorteil wäre die Klimakrise so weit voranschreiten zu lassen, dass das Aussterben der Menschheit nicht nur eine Möglichkeit in weiter Ferne, sondern Sicherheit wird. S4F gibt also Wissenschaftler*innen und Menschen in der wissenschaftlichen Ausbil- dung die Möglichkeit sich zu engagieren, politisch zu wirken, Kontakte zu knüpfen, sich über ihre neusten Forschungsergebnisse auszutauschen oder sich einfach über Gefühle und Ängste, die man bei den ökologischen Krisen zurecht haben kann, anzuvertrauen. Einladung zum Engagement Sie möchten Ihre Stimme als Wissenschaftler*in nutzen? Tragen Sie sich in unserer Kontaktliste ein und wählen Sie selbst, ob Sie über die Eintragung hinaus aktiv sein möchten.: https://at.scientists4future.org/mitmachen/ Jede Eintragung hilft uns, die Stimme der Wissenschaft für mehr Klimaschutz zu stärken. Literatur Baraldi, Claudio; Corsi, Giancarlo & Esposito, Elena (1999): Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. 3. Aufl. Frankurt/M.: Suhrkamp. Charta der Scientists4Future DACH (2021): Abgerufen unter: https://de.scientists4future. org/ueber-uns/charta/ [Stand vom 02-12-2021]. 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Damit ist die Klimakrise auf verschiedenen Ebenen eine besonders vor- aussetzungsvolle Problematik, die nicht zuletzt jede und jeden Einzelnen unserer westlich ge- prägten Gesellschaft aber auch der Welt insgesamt betrifft. Der Beitrag entwickelt drei Blick- winkel auf ökologische Krisen im digitalen Zeitalter, indem 1) Berechnungen als Grundlage für das Digitale diskutiert werden, 2) soziale Bewegungen im Kontext der Klimakrise und mit Bezug auf die Logik der Berechnung dahingehend betrachtet werden, inwiefern sich digitale Diskursräume und mediale Praktiken der Sichtbarmachung der Klimakrise abzeichnen und 3) wie sich die beiden zuvor eingenommenen Blickwinkel auf die erziehungswissenschaftliche Grundproblematik von Bildung beziehen lassen. Einleitung Während dieser Beitrag verfasst wird, befinden wir uns gut zwei Jahre in einer Pan- demie. Die globale Krise um COVID-19 hat den Alltag auch heute noch nach wie vor fest im Griff und wirkt sich weltweit auf das gemeinsame Miteinander der Menschen aus. Dank digitaler Technologien und der globalen Vernetzung können Menschen trotz räumlicher Distanz soziale Nähe erfahren. Smartphones und andere Rechner helfen, um die Kommunikation mit Familie, Freund:innen, Kolleg:innen und anderen Men- schen aufrecht und sich so ein Fenster zur Welt offen zu halten. Die digital vernetz- ten Architekturen, das ist hier deutlich geworden, haben einen großen Einfluss auf die Art und Weise, wie Menschen die Welt unter den pandemischen Rahmenbedingungen Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 188 Dan Verständig wahrnehmen. S oziale Medien spielen hierfür eine wichtige Rolle, denn sie bieten uns Raum zum niederschwelligen Austausch und geben vielen Menschen eine Stimme, um sich öffentlich mit den eigenen Anliegen zu positionieren und medial zu artikulieren. Die Pandemie hat wie ein Brennglas-Effekt historisch gewachsene Entwicklungen be- tont und Tendenzen der sozialen Aushandlungen verschärft, was in der Konsequenz zur Überlagerung von Interessen in öffentlichen Debatten und Aushandlungen führt. Der digitale Wandel verstärkt jedoch schon länger die weitere Ausdifferenzierung von Positionen und Werteverständnissen. Die Pluralisierung von Werten und Einstellun- gen, wie sie schon in der Moderne diagnostiziert wurde, ist damit auch heute noch ein Thema, das man paradoxerweise als gesamtgesellschaftliche Herausforderung beschreiben kann. Es ist insofern ein wichtiges Thema, weil es im Zusammenhang mit technologischen Entwicklungen rund um die Digitalisierung gerade dann rele- vant wird, wenn Fragen der Gerechtigkeit und Verantwortung adressiert werden und auch wenn die Pandemie und die Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 genau diese Fragen besonders polarisierend hervorgebracht haben, sind sie bei den Ausein- andersetzungen um die Klimakrise schon lange vor der Pandemie ein inhärenter Be- standteil der kontroversen Positionierungen und Debatten. Die Klimakrise ist präsent und verschärft sich mehr und mehr, dennoch ist sie für viele Menschen nicht direkt greifbar, ihre Abschätzungen sind Prognosen auf Basis von Berechnungen, die durch Expert:innenwissen hervorgebracht werden und nicht zuletzt über die Politik in die Gesellschaft zurückfließen. Damit ist die Klimakrise auf verschiedenen Ebenen eine besonders voraussetzungsvolle Problematik, die nicht zuletzt jede:n Einzelne:n des globalen Nordens, aber auch der Welt insgesamt betrifft. Es ist eine globale Heraus- forderung, die sich durch ihre Vielschichtigkeit und Komplexität auszeichnet. Wie wir ökologische Krisen wahrnehmen, hängt stark von der Art und Weise ab, wie über diese Krisen gesprochen wird. Digitale Technologien greifen hier in zweifacher Hinsicht in diese Prozesse ein. Sie sind mit all ihren Affordanzen einerseits die Grundlage der vermittelten Kommunikation und damit Möglichkeitsraum zur Aushandlung, Infor- mationsbeschaffung und Diskussion. Andererseits bilden sie nicht nur Diskurse und Informationen ab, denn digitale Technologien sind getrieben von Algorithmen, ar- beiten mit Daten und laufen auf vernetzten Infrastrukturen, die schon in ihrer Be- schaffenheit hochgradig performativ sind und damit nicht nur die Art und Weise, wie die Menschen die Welt sehen repräsentieren, sondern die Welt selbst sprichwörtlich machen. Der Beitrag widmet sich dieser hier skizzierten Problemlage und wirft drei Blickwinkel auf ökologische Krisen im digitalen Zeitalter, indem 1) Berechnungen als Grundlage für das Digitale diskutiert werden, 2) soziale Bewegungen im Kontext der Klimakrise und mit Bezug auf die Logik der Berechnung dahingehend betrachtet werden, inwiefern sich digitale Diskursräume und mediale Praktiken der Sichtbarmachung der Klimakrise Bildung – Bewegung – Berechnung 189 abzeichnen und 3) wie sich die beiden zuvor eingenommenen Blickwinkel auf die er- ziehungswissenschaftliche Grundproblematik von Bildung beziehen lassen. Berechnung Algorithmen, Big Data und Künstliche Intelligenz zählen zu den bemerkenswerten tech- nologischen Entwicklungen der letzten Jahre und auch wenn diese Konzepte nicht neu sind, so haben sie durch gesteigerte und vernetzte Rechenleistung eine neue Qualität erfahren. Alle diese Konzepte basieren auf dem Grundgedanken der Berechnung. Die Algorithmen, von denen hier die Rede ist, sind meist datengetrieben. Das heißt, dass die Systeme Berechnungen auf Basis von strukturierten und unstrukturierten Daten vorneh- men und Ergebnisse ausgeben, die dann interpretiert werden. Daten sind damit nicht nur für die Ein- und Ausgabe relevant, sondern auch die Grundlage für die Neumodellierung und Re-Konfiguration der algorithmischen Systeme, die in ganz unterschiedlichen Kon- texten unseren Alltag prägen. Diese Form von Algorithmen und Berechnungen haben auch Auswirkungen auf die Software, von der hier gesprochen wird. Software bildet die Grundlage für eine Vielzahl von Computern, mit denen die Menschen direkt interagie- ren, beispielsweise über die Notebooks oder Smartphones, doch zunehmend haben wir es mit Maschinen zu tun, die unsere Umwelt umgeben und mit denen wir nicht direkt interagieren. Insofern die dafür entwickelte Software so konzipiert ist, dass Maschinen miteinander interagieren und kommunizieren, entzieht sie sich unserer Wahrnehmung, wenngleich sie uns stets über Datenerhebungen unterschiedlicher Art gewissermaßen beobachten. Sei es die Überwachung von öffentlichen Räumen durch die Erfassung und Auswertung von Bewegungsdaten, um Verkehrsleitsysteme zu optimieren oder die automatisierte und sensorgestützte Erhebung von Daten zum Grad der Luftverschmut- zung. Damit wird gewissermaßen ein Kreislauf beschrieben, der sich über vernunftge- leitete, objektive und evidenzbasierte Zusammenhänge darstellt. Datengetriebene Verfahren können vielfältig sein, es kann sich um Muster in Bilddaten, um Audioaufnahmen oder heterogene Datensets handeln, doch die gemeinsame Grund- lage bleiben arithmetische Berechnungen und damit Zahlen. Sie sind objektiv, nachvoll- ziehbar, lügen nicht und neutral. Die Berechnung von Zahlen folgt den arithmetischen Gesetzen und ist damit eindeutig. 1°C bleibt 1°C und auch wenn man mit den richtigen Zahlen, den richtigen Methoden zu den richtigen Ergebnissen kommt, dann ist doch die Frage, welche Schlüsse man aus diesen Ergebnissen zieht und wann es sich um gefühlte Temperaturen handelt. Chun (2015) beschreibt in diesem Zusammenhang auch die Ver- wässerung von Kausalität und Korrelation. Zahlen sind stets in Deutungshorizonte eingeflochten, die grundlegend eine arithme- tische Ordnung der Relationen in Raum und Zeit evozieren (vgl. Rebiger 2005). Sie 190 Dan Verständig erlauben damit eine Komplexitätsreduktion und Abbildbarkeit von Wirklichkeit, die auch die Herstellung von Orientierung beeinflussen. Die Repräsentation der Zahlen wird dabei von einer zumindest zweigeteilten Plausibilisierungslogik getragen, wie sie Duttweiler und Passoth (2016) entlang der Selbstvermessungsthematik pointiert hervorheben: Zum Ersten verweisen „Kurven, Statistiken, Tabellen oder Kuchendia- gramme dezidiert auf Wissenschaftlichkeit“ und zum Zweiten suggerieren „(stilisierte) Bilder und Grafiken […] die vermeintlich unmittelbare Repräsentation der Wirklich- keit“, was eine kaum hinterfragte Evidenz hervorbringt (ebd., S. 13). Das Vertrauen in Zahlen bringt zugleich auch alle Probleme mit, die seit jeher an die Logik der Zahlen gebunden sind. Heute ist es nicht nur die Blindheit gegenüber der Menge an Daten, sondern vielmehr die steigende Unsichtbarkeit der Genese der Zahlen, die mit ihrer Präsenz und ihrer Repräsentationsmodi, die sich als eine fortwährende Herausforde- rung für die Einzelnen aber auch Organisationen darstellt. Die Erfassung, Auswertung und Repräsentation von digitalen Daten in unterschiedlichen Lebenslagen und Kon- texten, die Datafizierung, wie sie von Cukier und Schönberger (2013) benannt wird, ist damit ein Grundproblem der Digitalisierung, wenn man medienpädagogische Kate- gorien, wie einen souveränen und verantwortungsvollen Umgang mit den Daten und der Technik in den Blick nimmt. Je mehr sich die Datafizierung vollzieht, desto schwe- rer ist es, zu erkennen, dass allein die Entstehung oder Produktion von Daten keines- wegs frei von Interpretationsleistungen sind, ebenso wenig sprechen die Zahlen und Daten für sich selbst, denn sie sind letztlich ein Resultat verschiedener Prozesse, die sich selbst der Sichtbarkeit entziehen. Doch genau damit entfalten sie ihre besondere Wirkmacht, denn Daten sind hochgradig performativ, wie Matzner (2016) im Kontext von Big Data und der Überwachung mit Butler begründet herausgearbeitet hat. Daten sind damit in Macht- und Herrschaftsrelationen eingebettet, wie D’Ignazio und Klein (2020) aus einer intersektionalitätstheoretischen Perspektive herausheben. Die ver- schiedenartigen Praktiken der Generierung, Aufbereitung, Verarbeitung und Visuali- sierung von Daten erfordern demnach eine kritische Auseinandersetzung, um Antwor- ten auf strukturelle Diskriminierungen, soziale Ungleichheiten und Machtasymmetrien zu geben. Diese Auseinandersetzung, so die Autorinnen, lässt sich auf unterschiedliche Weise realisieren. Das Spektrum reicht von der Sammlung alternativer Daten, über die kritische Reflexion bestehender Datensätze, um Leerstellen zu finden und offenzule- gen, bis hin zur Vermittlung von datenfeministischen Perspektiven, um einerseits den- jenigen Menschen einen Zugang zu den komplexen Verflechtungen datenwissenschaft- licher Zusammenhänge zu geben, die technisch weniger affin sind sowie andererseits Expert:innen zur Reflexion über die Implikationen von spezifischen Datenpraktiken für soziale Konstellationen zu ermöglichen. Die Ratio ist in diesem Zusammenhang ambivalent und hat eine lange kulturelle Ent- wicklung erlebt, die weit über den Vernunftgebrauch der Aufklärung hinausreicht. Die Bildung – Bewegung – Berechnung 191 kulturelle Logik der Berechnung (Golumbia 2009), wie sie heute diskutiert wird, ist von einer langen Entwicklung geprägt, die neben der technischen Perspektive immer auch vom Versprechen des Rationalismus begleitet und von einer Rhetorik des Fort- schritts durch Berechnung aus Wissenschaft und Wirtschaft getragen wurde. Die Ver- bindung dieser Linien lässt sich an den Arbeiten der Informatiker:innen der ersten Ge- neration, wie Weaver, von Neumann, Turing und Wiener zurückverfolgen, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg den Rationalismus mit der Logik der Berechnung erneut zusammengebracht haben. Hieraus ist nach Golumbia (2009) ein Mythos ent- standen, der sich in einer neoliberalen Rhetorik und im Denken über Computer aus- zeichne. Demnach würden Menschen Empowerment alleine durch die Nutzung von Rechentechnik erfahren und sich neue Freiheiten durch das demokratisierende Poten- tial der Berechnung einräumen. Doch die Implementation der Berechnung steht dieser Rhetorik diametral gegenüber, sie verschärft Ungleichheitsverhältnisse und sorgt für die Herausbildung von Machtzentren, die vor dem Hintergrund von Data Mining, Per- sonalisierung und Effizienzsteigerung in erster Linie den Unternehmen zugeschrieben werden (vgl. ebd., S. 130f.). Computer und die Logik der Berechnung dienen damit weniger der Herausbildung einer gerechteren Gesellschaftsstruktur, ihr Einsatz ist eher denen dienlich, die diese Architekturen kontrollieren und steuern. Damit ist der Kreis von Akteur:innen recht eingeschränkt, was zur Folge hat, dass die kritische Reflexion über diese Zusammenhänge keine punktuelle, sondern vielmehr gesamtgesellschaft- liche Aufgabe ist. Die Hybris der Naturwissenschaften wurde schon von Weizenbaum (1978) kritisch be- trachtet, als er sich mit dem Grundverständnis des menschlichen Denkens sowie der Kommunikation und der algorithmischen Informationsverarbeitung befasst hat. Men- schen lösen Probleme anders als Maschinen und demnach sollten einige Problemlösun- gen für Menschen reserviert sein und nicht der Maschine übertragen werden, so Wei- zenbaums Kernargument. Die Maschinen, wenn sie richtig funktionieren, vollziehen automatische Abläufe und arbeiten autonom, wenn sie berechnen. Dabei folgen sie nicht nur den Anweisungen und Regeln, sie sind bereits in ihrer Existenz und Architektur die Verkörperung von Gesetzmäßigkeiten, die bei Computern über die Software, also die Rechenprogramme, abgebildet wird. Software wird von Menschen geschrieben, was zur Folge hat, dass Werte oder Weltbilder in die Software eingeschrieben sind, viel- mehr aber noch, dass durch einen kleinen Kreis von Akteuren die Diversität an ihre Grenzen stößt und dementsprechend andere Werte und Ansichten auf die Welt nicht ein- geschrieben sind. Eine differenzierte Betrachtung von Software ist im Zusammenhang von datengetriebenen Verfahren von einiger Bedeutung, denn es geht bei diesen Sys- temen nicht mehr ausschließlich um die implementierten Werte und Vorstellungen der Entwickler:innen, sondern vielmehr um die Art der Daten und die Eingelassenheit in die räumlich-materiellen Kontexte und damit um den Umgang mit den Daten, wie es von 192 Dan Verständig D’Ignazio und Klein (2020) hervorgehoben wurde. Die Raumdimension wird beson- ders dann relevant, wenn man bedenkt, dass gewisse (urbane) Architekturen inzwischen vollständig auf Software ausgerichtet sind, also erst dann in ihrem Raumkonzept voll aufgehen, wenn die Software funktioniert (Kitchin und Dodge 2011). Der Check-in am Flughafen ist von der funktionsfähigen Software abhängig, ebenso die Streckenüber- wachung der Bahn, aber auch die Supermarktkassen rechnen inzwischen in vernetzten Systemen. Funktioniert die Software nicht, herrscht Stillstand und gerade im Hinblick auf das Design von Smart Cities ist ein kritisches Bewusstsein über die ökologischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen relevant. Eine vernunftbegründete Aushandlung über die Wirkweisen der digitalen Technologien ist nicht im Spannungsfeld von Effizienz oder Suffizienz zu finden, sondern vielmehr in der Reflexion über die Technologien an sich, denn mit Bridle (2018) gesprochen, kann die Antwort auf den technologischen Komplexitätszuwachs nicht einfach noch mehr Technologie sein, sondern müsse eine Reflexion zur Gestaltung bestehender Zusam- menhänge erfolgen. Bridle (2018) widmet sich in seiner Arbeit auch dem Klima und ar- gumentiert unter Rückbezug auf die Klimakrise und die apokalyptischen wissenschaft- lichen Erkenntnisse dahingehend, dass die Auswirkungen der Technologien, die uns umgeben, global sind. Die Auswirkungen sind potenziell katastrophal und resultieren aus der Unfähigkeit, die turbulenten und vernetzten Ergebnisse unserer eigenen Erfin- dung zu verstehen. Die Technologien, die uns umgeben, stellen damit die Ordnung der Dinge auf den Kopf, indem sie erst durch Berechnungen und Automatisierungen eigene Ordnungen hervorbringen. Die von Bridle (2018) entwickelte Perspektive auf das neue dunkle Zeitalter ist im Grunde ein Appell an die Befähigung dazu, diese Komplexität zu erfassen und die Welt in ihren Zusammenhängen neu zu denken und somit anders zu verstehen. Die Welt anders zu verstehen heißt dann auch, dass man die oftmals un- sichtbaren digitalen Strukturen und ihre Wirkweisen auf das Soziale zunächst sichtbar machen muss, um sie beurteilen zu können. Doch Transparenz allein genügt nicht. Es ist an der Zeit, das Verhältnis von Berechnung und Vernunft abermals kritisch zu hinter- fragen. Hannah Arendt (1957) hat hinsichtlich des modernen Wissenschaftsverständ- nisses einen gefährlichen Hang zur Reduktion von Komplexität und zur Ersetzung des kritischen Urteils durch bloßes logisches Rechnen kritisiert. Arendts Kritik ist heute aktueller denn je. Bewegung Am 20. August 2018 startete Greta Thunberg in Stockholm ihren Schulstreik für das Klima. In Deutschland und weltweit gingen vor der Pandemie seit September 2018 mehrere Millionen Menschen jeden Freitag auf die Straßen, um sich für eine Politik Bildung – Bewegung – Berechnung 193 einzusetzen, die der Klimakrise Rechnung trägt. Die globale Klimaschutzbewegung Fridays For Future (FFF) hat sich in kurzer Zeit formiert und auch über Hashtags wie #fff, #fridaysforfuture, #climatechange, #climateaction formiert. Doch das ist nur ein Ausschnitt. Die Debatte um den Klimawandel ist weitaus größer zu fassen und dement- sprechend finden die Diskurse über diese ökologische Krise an vielen Stellen in unter- schiedlichen Ausprägungen statt. Betrachtet man beispielsweise die Entwicklung von der Skepsis hin zur Leugnung der Klimakrise (Weart 2011) und die organisierte Szene der Klimaleugner:innen, dann setzt sich diese vor allem aus Think Tanks und politischen Akteuren zusammen, die insbe- sondere die digitalen Öffentlichkeiten als Bühne nutzen, um sich selbst mit den eigenen Ansichten auch strukturell mehr Reichweite zu verschaffen. Ihnen ist nach Dunlap und McCright (2011) gemein, dass sie sich in neoliberaler Rhetorik vor allem gegen eine staatliche Regulierung zur Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen aussprechen. Sie sind davon geprägt, dass sie insbesondere konservative Teile der Zivilgesellschaft und Politik, hier vor allem weiße Männer, ansprechen und auf größere Zustimmung stoßen, jedoch mehrere Parameter, wie beispielsweise der sozioökonomische Status oder die Herkunft eine Rolle spielen (McCright und Dunlap 2011a, 2011b; McCright et al. 2014; Björnberg et al. 2017). Mit Bewegung möchte ich in diesem Beitrag allerdings noch auf einen anderen Aspekt hinweisen und zwar die Entwicklung der gesellschaftlichen Formationen und ihr Ver- hältnis zur Wissenschaft. Dies schließt unmittelbar an die Klimabewegung an, denn die Gegenströmungen zum Klimawandel, über den bereits in den 90er Jahren wissen- schaftlicher Konsens herrschte, sind geprägt von Mechanismen und Taktiken der Des- information (Lewandowsky 2021), Manipulation (Spencer 2011), aber auch von Ver- schwörungstheorien (Hansson 2017). Ein für diese Betrachtungen relevantes Beispiel ist die Climategate-Affäre. Im November 2009 wurden bei einem Hackerangriff auf das Klimaforschungszentrum der University of East Anglia im Vereinigten Königreich Do- kumente von Forscher:innen der Climatic Research Unit (CRU) gestohlen und geleakt, um den Eindruck zu erwecken, dass die Berechnungen zur Klimakrise falsch seien. Der Datendiebstahl erfolgte über einen geplanten und abgestimmten Angriff durch Skepti- ker:innen und Leugner:innen des Klimawandels. Der Vorfall ereignete sich kurz vor der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen, sorgte im Internet für besondere Aufmerksamkeit und fand auch in den internationalen Medien Erwähnung. Für die Klimaleugner:innen waren diese Dokumente ein Beleg dafür, dass es keinen Klimawandel gäbe und weiter noch die wissenschaftlichen Methoden und damit die Wissenschaft an sich grundsätz- lich in Frage gestellt würde. Wenn nun Algorithmen und Berechnungen eine immer größere Rolle in gesellschaftli- chen Zusammenhängen spielen, dann genügt es nicht mehr, sich die medialen Praktiken an der Oberfläche anzusehen, um die teilweise impliziten Aushandlungen umfänglich 194 Dan Verständig rekonstruieren zu können. Genau dies macht Mark Marino (2020) in seinem Einfüh- rungsband zu Critical Code Studies, indem der Autor Teile des geleakten Quellcodes (u.a. briffa_sep98_e.pro) zur Auswertung und Darstellung von Klimadaten analytisch vor dem Hintergrund einer kritischen Hermeneutik betrachtet und ins Verhältnis zu den Daten, den sozialen, kulturellen und politischen Kontexten setzt, um so die Aus- wirkungen von Code auf die gesellschaftlichen Diskursfelder um die Klimakrise und das Climategate analytisch zu erfassen. Dabei kontextualisiert er den Quellcode auch im Hinblick auf die politische Lage, die sich durch den Wechsel der Bush-Regierung zur Übernahme der Präsidentschaft durch Barack Obama, aber auch andere politische Strömungen vor und nach dem Wechsel der Präsidentschaft in den USA, auszeichnet (Marino 2020, S. 113). Der Code wird von Marino insgesamt betrachtet und aus unter- schiedlichen Perspektiven beleuchtet, mit verschiedenen medialen Artefakten gewisser- maßen archeologisch erkundet und Zeile für Zeile gelesen. Dabei spielen auch Kom- mentare eine wichtige Rolle. Die Kommentare im Quellcode geben Auskunft über Aus- handlungsprozesse, die im Moment der Ausführung des Skriptes bedeutungslos werden. Marino stellt damit einen interpretativen Vorgang heraus, der sich an das von Doug- lass (2011) formulierte code reading „in the wild“ orientiert und der damit die Bedeu- tungszuweisungen prozesshaft heraushebt. Dies betrifft auch das Spiel mit den Zahlen (Marino 2020, S. 117), denn im Mittelpunkt der Debatte über Climategate steht eine Passage im Code, die die Temperaturen über eine Reihe von Jahren im zwanzigsten Jahrhundert anpasst. Um es klar zu sagen: Der Code passt die Temperaturen auf der Grundlage von Proxy-Daten, der maximalen Latewood-Dichte (mxd), nach oben oder unten an, je nach Vorzeichen der Anpassung (positiv oder negativ). Damit steckt Marino die Grenzen und Reichweiten der Interpolation und Datengenese ab, wodurch wissen- schaftlich begründet und kulturtheoretisch gerahmt das Vertrauen in wissenschaftliche Methoden wiederhergestellt werden könnte. Indem neben dem Code ebenso geleakte Mails betrachtet werden, kann der Code gezielt zu den sozialen Aushandlungsprozes- sen im Entstehungsprozess oder der Arbeit mit den Daten befragt werden. Es wurde beispielsweise die Formulierung „trick“ von Verschwörungstheoretiker:innen aufge- griffen. Dies kontextualisiert Marino (2020) wie folgt: “This use of the word trick became another piece of red meat for climate change conspiracy theorists. Here was a climatologist admitting to using deception, caught red-handed, although apparently the ‘trick’ Jones was referring to was using twenty years of directly measured temperatures rat- her than proxy data (Heffernan 2010). In other words, the trick was not a deception but a method for moving to measured temperatures rather than proxy data when that data was not reliable. Trick here carries the sense of clever technique rather than foul play.” (ebd., S. 118) Bildung – Bewegung – Berechnung 195 Die Climategate-Affäre ist ein Beispiel dafür, dass Quellcode und Daten eine spezifische Domäne verlassen und in den gesellschaftlichen Mainstream gelangen. Dies hatte zur Folge, dass die Menschen, die auf die Daten aufmerksam gemacht wurden, ihnen eine andere Bedeutung zugewiesen haben und Kontextualisierungen nur teilweise erfolgen konnten. In der Konsequenz fanden Dekontextualisierungen statt, die das Material aus dem Zusammenhang gerissen haben und diese fehlerhaften Interpretationen haben sich abermals verbreitet. Man könnte jetzt festhalten, dass hier der Streisand-Effekt einge- treten ist und der Code falsch gelesen wurde. Vielleicht könnte man auch so weit gehen und die Forderung zur Notwendigkeit von Medien- bzw. Datenkompetenz oder Coding Literacy (Vee 2017) aufzustellen, um grundlegende Kontextualisierungsleistungen im digitalen Zeitalter überhaupt erst zu ermöglichen. Doch damit bliebe zunächst unklar, ob darüber überhaupt ein kritisch-reflexives Verhältnis zu den Technologien, die uns umgeben, hinreichend hergestellt werden kann, oder ob die mächtige Faszinationskraft und damit die affirmative Logik der Berechnung nicht überwiegt. Eine solche Forderung ließe sich im Rahmen medienpädagogischer Projekte fallbezogen zumindest thematisie- ren, da entlang einer strukturierten Diskussion dieser medialen Artefakte auch soziale, kulturelle und politische Rahmenbedingungen thematisiert gemacht werden können. Dies betrifft auch die weiteren Implikationen des technologischen Fortschritts, die sich anhand des Rebound-Effekts und einer vermeintlichen Effizienzsteigerung (Santarius und Soland 2016), Degrowth und den umwelt-ethischen Konsequenzen (Thomay 2020) sowie den Produktionsbedingungen und ihren post-kolonialen Zusammenhängen (Pa- rikka 2015) beschreiben lassen. Dementsprechend ist hier das Denken über diese Zusammenhänge immer in Bewegung. Forschungspraktisch bietet eine genauere Betrachtung des Codes und der Daten einen guten Einblick in die zwischenmenschlichen Zusammenhänge, die vom Quellcode aus- gehen, sie geben Auskunft über die Kontingenz seiner Bedeutung und in die Art und Weise, wie Code von Zielgruppen interpretiert wird, die unerwartet und unbeabsichtigt damit konfrontiert werden. Marino (2020) hält hierzu fest: “Analyzing culture through code will include discussions of race and ethnicity, gender, sexuality, socioeconomic status, political representation, ideology, et cetera— […] because the walls of a computer do not remove code from the world but encode the world and human biases.” (Marino 2020, S. 46) Die Hacker:innen der Climategate-Affäre veröffentlichten sowohl den Code als auch die E-Mails der Forscher:innen, woraufhin einige Personen des öffentlichen Lebens, wie der britische Politiker Lord Lawson und die Autoren des Telegraph James Deling- pole sowie Christopher Booker behaupteten, dass der Klimawandel eine Lüge sei. Die 196 Dan Verständig Analyse von Code und anderen Texten hebt hervor, nach welchen Regeln soziopoliti- sche Kontexte der Bedeutungszuweisung strukturiert werden. Es wird zudem deutlich, wie wichtig es ist, dass sich Wissenschaftler:innen in den öffentlichen Diskurs einbrin- gen, die sich mit der kritischen Analyse von Code und Technologie auskennen. Mit dem Begriff der Bewegung habe ich kursorisch verschiedene Linien gebündelt, die sich schließlich auf Bildung beziehen lassen. Einerseits wird am Beispiel um Climate- gate schnell deutlich, dass es sich um ausdifferenzierte soziale Bewegungen handelt, die sich mit der Klimakrise auseinandersetzen und dabei direkt mit dem Code und den digi- talen Technologien interagieren, Grenzen überschreiten und Daten verändern, um so die Öffentlichkeit zu manipulieren. Fridays for Future ist eine weitere Bewegung, die jüngst viel Popularität gewonnen hat und sich weitestgehend im zivilgesellschaftlichen Rah- men bewegt. Sie steht den Klimaleugner:innen gewissermaßen als Protestbewegung kollektiv formiert gegenüber. Wie viele soziale Bewegungen findet sie sowohl auf der Straße statt als auch im digitalen Raum und zwar in vielfältiger Weise. Klimabewegun- gen zeichnen ein komplexes Bild von teilweise polarisierenden Praktiken. Dementspre- chend ist die Betrachtung von Protestbewegungen im Netz, insbesondere im Hinblick auf die Herausbildung einer öffentlichen Meinung, sofern man dies überhaupt noch ein- fordern kann, von einiger Relevanz für die Erziehungswissenschaft. Ein tiefergehendes Verständnis über die individuellen und kollektiven medialen Praktiken kann empirisch begründet Einsichten über die Konstellationen der Menschen geben, die sich in diesem Feld engagieren und ihre Sicht auf die Welt teilen. Bildung Inzwischen gibt es einige wertvolle Arbeiten, die Nachhaltigkeit und Digitalisierung im Verhältnis zu Bildung verhandeln. Damberger (2021) setzt sich beispielsweise im Rekurs auf eine kritische Pädagogik mit den Grenzen und Reichweiten einer gestalte- rischen Entfaltung von Bildung für Nachhaltige Entwicklung auseinander und macht in einer dialektischen Argumentationsstruktur auf die dem Bildungsbegriff immanenten Freiheitspotenziale aufmerksam, die entgegen der Systemdynamiken laufen. Grünberger (2020) stellt den Verantwortungsbegriff in den Mittelpunkt und thematisiert damit die aktuell häufig in den Medien zirkulierende und von der Politik ins Spiel gebrachte Eigen- verantwortung, die sich auch in Abhängigkeit zu interpersonalen Praktiken vollzieht. In diesem Beitrag soll entlang der Berechnung an den Vernunftgebrauch und entlang der Bewegung auf die opake Dynamik des Digitalen abgezielt werden. Will man aus den zuvor skizzierten Blickwinkeln der Berechnung und Bewegung die wesentlichen Punkte hinsichtlich ökologischer Krisen herauskristallisieren, dann wer- den zwei Tendenzen deutlich, die für Bildung relevant sind. Es handelt sich um den Bildung – Bewegung – Berechnung 197 kontinuierlichen Komplexitätszuwachs, der sich gesamtgesellschaftlich und global ab- zeichnet. Dieser stellt Menschen individuell oftmals unberechenbar vor Herausforde- rungen, was zu Irritation und der Befragung der eigenen Routinen führen kann. Damit wird eine Anschlussfähigkeit an die transformatorische Bildung und formale Bildungs- theorie ermöglicht, bei der die Transformation des Selbst- und Weltverhältnisses im Mittelpunkt steht (Marotzi 1990, Jörissen und Marotzki 2009). Bridle (2018) spricht davon, die Welt zu verstehen und das ist nur dann möglich, wenn wir sowohl die Tech- nologien als auch ihre Wirkweisen auf das Soziale verstanden haben. Die Logik der Berechnung hat grundlegend Einfluss darauf, wie wir Menschen die Welt wahrnehmen und wie wir uns unter der digitalen Bedingung bewegen. Das führt nicht nur zur Re- duktion von Komplexität, sondern auch zu emergenten Formen der Auseinanderset- zung mit Welt, die einen weiteren Komplexitätszuwachs darstellen. Die Menschen sind ständig dazu aufgefordert, sich in diesen Systemen souverän zu bewegen und gleich- zeitig müssen sie ihnen entkommen, wenn sie nicht mehr funktionieren. Die steigen- de Komplexität beeinflusst ganze soziale Gruppierungen und Organisationen. Im Netz formieren sich soziale Bewegungen mehr und mehr über algorithmische Systeme und im direkten Spiel mit den technologischen Infrastrukturen. Dies trägt dazu bei, dass die indivi duellen Anliegen andere schon rein quantitativ überlagern und damit die Sicht- barkeit der anderen Positionen gemindert bis ausgeblendet wird. Die verschiedenen Interessensgruppen und Akteure treten nicht selten mit dem Anspruch auf, ihre Positio- nen in der Öffentlichkeit zu artikulieren. In der Konsequenz treffen hier verschiedene, nicht selten konträre Positionen aufeinander, was zu komplexen Aushandlungsprozes- sen führt, die – wenn sie in digitalen Öffentlichk eiten stattfinden – grundlegend von den Metriken der Vermessung und damit einer affirmativen Logik geprägt sind, denn es zählt dann, wie vielen Menschen die eigene Position gefällt und wie viele die jewei- ligen Positionen gesehen, geklickt und kommentiert haben. Ein Argument als solches rückt unter den Bedingungen der künstlichen Verknappung durch Zeichen- oder Zeit- begrenzungen potenziell in den Hintergrund gerückt, da die Metriken keine qualitative Aussagekraft mehr haben müssen. Zahlen werden dabei durch ihre Repräsentation und Einbettung in komplexe rechenbasierte Systeme zu einer eigenen Sprach- und Diskurs- form mit spezifischen Grammatiken und Semantiken des Digitalen. Kurzum: Soziale Medien folgen der Logik der Messbarkeit. Die Vermessung von sozialen Beziehungen und ihren Verhaltensweisen ist die Grundlage für die Geschäftsmodelle dieser Dienste. Sie bestärken eigene Ansichten und erlauben es den Menschen Dissens zu umgehen oder auszublenden. Eine zweite Tendenz, die ich hervorheben möchte, ist die Opazität der digitalen A rchitekturen und damit die steigende Undurchsichtigkeit der Technologien und ih- rer Wirkweisen. Einerseits sind Algorithmen nicht sichtbar – wir sehen die materiel- len Endgeräte und blicken in die uns anstrahlenden Displays, doch die dahinterliegen- 198 Dan Verständig den Prinzipien sind meist undurchsichtig und damit bleibt es eine methodische und methodologische Herausforderung zu erforschen, wie Algorithmen die Konstruktion von Selbst- und Weltverhältnissen beeinflussen und wie nicht. Die Herausforderung liegt auch in den zuvor dargestellten Konstellationen über die teils weitgefassten An- sätze, die sich mit Digitalisierung und Nachhaltigkeit befassen. Ein einfaches Beispiel hierfür ist die Tatsache, dass ein Großteil des Datenverkehrs im Internet Videodaten sind (Cass 2014). Es wäre nun leicht zu sagen, dass dieser Traffic im Sinne der Nachhaltig- keit und Suffizienz reduziert werden sollte, doch es wird etwas komplizierter, wenn man die verschiedenen strukturellen Abhängigkeiten in den Blick nimmt und fragt, wie sich der Videotraffic tatsächlich zusammensetzt. Dies hätte zur Folge, dass man Ana- lysen und Auswertungen der Internetpakete machen müsste und im Hinblick auf die Problematik der Netzneutralität (Berners-Lee 2011; Marsden 2011) ergeben sich hier einige Konsequenzen, die sich im Spannungsfeld von Regulierung und Innovationskraft verorten und damit die eigentliche Fragestellung in den Hintergrund rücken lassen. Es lohnt sich daher Algorithmen, Daten und die technologischen Infrastrukturen in ihrer soziopolitischen Einbettung zu betrachten. Algorithmische Systeme im Hinblick auf die medialen Praktiken zu analysieren und Code als kulturelle Einlassung zu lesen, kann zu einem besseren Verständnis sowohl der technischen als auch der sozialen und kulturel- len Implikationen beitragen. Bildungstheoretisch ist dies deswegen interessant, da man hier analytisch und empirisch an die medialen und algorithmischen Artikulationen herangehen gehen kann, um so einerseits Erkenntnisse über die individuellen Bedeutungszuweisungen unter der digi- talen Bedingung zu bekommen. Gleichzeitig lässt eine strukturtheoretische Betrach- tung auch Überlegungen dahingehend zu, wie sich die Menschen ausgehend von den Daten und Berechnungen über die Maschinen definieren. Bildungspraktisch sind die Auseinandersetzungen mit rechenbasierten Architekturen und ihren Bewegungen eben- so bedeutsam und gefragt. Hier können medienpädagogische Angebote und Projekte dazu beitragen, die Komplexität des Digitalen didaktisch strukturiert zu reduzieren, um Verstehensprozesse über die teils impliziten Zusammenhänge zu begünstigen und Re- flexionsräume über die Macht- und Herrschaftsverhältnisse von Algorithmen und Daten zu schaffen. Medienpädagogik würde damit nicht nur auf mediale Entwicklungen re- agieren, durch eine strukturtheoretische Dekonstruktion könnten damit auch zukünftige Entwicklungen abgeschätzt und emergente Möglichkeitsräume im Sinne von Lern- und Bildungspotenzialen antizipiert werden. Bildung – Bewegung – Berechnung 199 Fazit Der Beitrag hat sich in drei Blickwinkeln mit der Klimakrise als globale Herausforde- rung befasst und dabei den digitalen Wandel in einer anderen Form konturiert, als dies bislang im Diskurs der Fall ist. In einschlägigen Beiträgen werden Spannungsverhält- nisse zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit entlang von normativen Zielkate- gorien und moralischen Wertevorstellungen auch in medienpädagogischer Hinsicht ver- handelt (Lange und Santarius 2018; Grünberger 2020). Dabei stehen nicht selten Fragen im Mittelpunkt, ob Digitalisierung der Treiber für Nachhaltigkeit ist oder umgekehrt Nachhaltigkeit die Digitalisierung voranbringt. Da die Berechnung und damit auch die Rhetorik der Ratio tief in unsere Gesellschaft eingelassen sind, wurde in diesem Beitrag zunächst die Frage in den Mittelpunkt ge- stellt, wie diese Faktoren auf die Wahrnehmung von Welt einwirken und welche Akzen- te hier für eine Konturierung von Orientierungsmustern unter der digitalen Bedingun- gen gesetzt werden können. Die hier beschriebenen Probleme um die Klimakrise sind so komplex, dass selbst die Reduktion auf die drei Blickwinkel eine noch sehr weite Kon- turierung der Herausforderungen für die individuelle Herstellung von Orientierung aber auch kollektive Handlungsentwürfe geben. Die Klimakrise ist ein globales Problem, welches eine Leerstelle definiert, die sich aufgrund ihrer Vielschichtigkeit nicht füllen lässt. Am Beispiel zur Climategate-Affäre konnte jedoch kursorisch aufgezeigt wer- den, wie Software und Code in diesem Zusammenhang Gegenstand der Analyse wer- den können. Code als kulturellen Text zu lesen bietet der erziehungswissenschaftlichen Medienforschung und der Medienpädagogik eine Grundlage, um die komplexen Ver- flechtungen und impliziten Aushandlungsprozesse gegenstandsbezogen zu a dressieren. Literatur Berners-Lee, Tim (2011): Net Neutrality: This is serious. In: Martínez, Jorge P. (Hrsg.): Net Neutrality: Contributions to the Debate. Madrid: Fundación Telefónica, S. 155–158. Björnberg, Karin E.; Karlsson, Mikael; Gilek, MMichael & Hansson, Sven O. (2017): Cli- mate and environmental science denial: A review of the scientific literature published in 1990–2015. Journal of Cleaner Production, 167, 229–241. https://doi.org/10.1016/j. jclepro.2017.08.066 Cass, Stephen (2014): The age of the zettabyte Cisco: The future of internet traffic is video [Da- taflow]. IEEE Spectrum, 51(3), 68–68. https://doi.org/10.1109/MSPEC.2014.6745894 Chun, Wendy H. K. (2015): On Hypo-Real Models or Global Climate Change: A Challenge for the Humanities. 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Dieser Beitrag zielt darauf ab, einen ganzheitlichen Blick auf die Digitalisierung an Schu- len zu werfen und dabei sowohl ökologische als auch soziale Aspekte entlang des gesamten Produktlebenszyklus – vom Abbau der notwendigen Rohstoffe, über Produktion, Nutzung und Entsorgung – anzusprechen sowie pädagogische Potentiale und Grenzen des Einsatzes digitaler Medien zu diskutieren. Dabei wird immer wieder und abhängig vom Zugang zu ent- sprechenden Daten exemplarisch auf den Einsatz mobiler digitaler Endgeräte rekurriert, die im Unterricht eingesetzt werden. Der Artikel schließt mit Überlegungen zur Rolle von Digitaler Bildung in Schulen und dem Desiderat, die beiden Konzepte Digitale Bildung (DB) und Bil- dung für Nachhaltige Entwicklung (BNE), die sich sowohl auf aktuelle als auch auf zukünftige globale Herausforderungen beziehen, im Sinne von zukunftsfähigen Prozessen synergetisch zu denken. Einleitung Die „digitale Transformation“ verändert unsere Gesellschaft. Getrieben von einem Wechselspiel aus technologischen Entwicklungen, Veränderungen im Wettbewerb, der Marktdominanz globaler Technologieunternehmen und dem digitalen Konsumver- halten (Verhoef et.al. 2021) durchdringt Digitalität alle Lebensbereiche. Sie verändert den privaten und beruflichen Alltag und eröffnet vielfältige neue Möglichkeiten, bei- spielsweise in Bezug auf aktive Teilhabe, Kommunikation, schöpferische Prozesse, Zusammenarbeit oder Bildungsprozesse. Sie wird oft „als gewaltiger Umbruch be- Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 204 Helga Mayr & Reinhold Madritsch zeichnet, der auf unsere Gesellschaft zukommt und dem es sich anzupassen gilt“ (Hauff/ Reller 2020). Gleichzeitig ist sie mit negativen Begleiterscheinungen verbunden: mit Fake News, der Ausbeutung natürlicher Ressourcen bei Produktion und Nutzung, mit nicht-nachhal- tigen Lieferketten, die mit unfairen und umweltschädigenden Produktionsweisen ver- bunden sind und einer nach wie vor ungelösten Entsorgungsproblematik, um nur einige zu nennen. Die genannten Beispiele zeigen, dass die digitale Transformation je nach Perspektive als große globale gesellschaftliche Herausforderung, Gefahr oder eben als Chance gesehen werden kann (Jacob 2019). Im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung – einer weiteren großen Herausforderung im 21. Jahrhundert – stellt sich die Frage, wie es gelingt, Digi- talisierung statt für die Optimierung von Marktbeziehungen und Wettbewerbsprozessen (Buss et. al. 2021) für die Gestaltung einer zukunftsfähigen Gegenwart und Zukunft einzusetzen, und zwar so, „dass sie als Hebel und Unterstützung für die große Trans- formation zur Nachhaltigkeit dienen und mit ihr synchronisiert werden kann“ (WBGU 2019). Das Leitbild nachhaltiger Entwicklung (NE) zeichnet dabei einen Entwicklungs- pfad innerhalb der planetaren Grenzen (Steffen et.al. 2015) und unter Sicherstellung sozialer Standards (Raworth 2015) für alle Menschen auf der Erde vor. In diesem Beitrag wird versucht, durch die Brille einer NE einen ganzheitlichen Blick auf die zunehmende Digitalisierung an Schulen am Beispiel von mobilen Endgeräten zu werfen und Desiderate für eine kritisch-emanzipatorische digitale BNE sowie Forde- rungen an (politische) EntscheidungsträgerInnen abzuleiten. Theoretischer Hintergrund Aufgrund der Bedeutung, die Prozesse der Digitalisierung sowie der nachhaltigen Ent- wicklung in der (formalen) Bildung spielen, die in diesem Beitrag synergetisch zusam- mengeführt werden sollen, werden die jeweiligen theoretischen Hintergründe kurz vor- gestellt. Nachhaltige Entwicklung Das Konzept der „Nachhaltigkeit“ geht historisch auf die deutsche forstwirtschaftliche Tradition des 18. Jahrhunderts zurück. Die Überlegung, dem Wald nur so viel Holz zu entnehmen, wie nachwachsen kann (Grober 2013, Pufé 2017), wurde 1972 im Club-of- Rome-Bericht Die Grenzen des Wachstums (Pufé 2017) auf die Notwendigkeit eines weltweiten Gleichgewichtszustandes (Fathi 2019) übertragen. Seit den 1980er Jahren Tablets an Schulen: Fluch und Segen? 205 wird „Nachhaltigkeit“ vor allem als Prozess einer „nachhaltigen – im Sinne von zu- kunftsfähigen – Entwicklung“ verstanden (ebd.). Der im Jahre 1987 veröffentliche Bericht Our Common Future (Vereinte Nationen 1987; Pufé 2017) prägte das heute noch vorherrschenden Nachhaltigkeitsverständnis: „Eine dauerhafte Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegen- wart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (Hauff 1987, S. 46)1. Die Definition beinhaltet sowohl inter-, als auch intragenerationale Gerechtigkeit mit dem Ziel, die Bedürfnisbefriedigung der Menschen heute und in Zukunft sicherzustellen. Aus dieser stark anthropozentrisch ge- prägten Perspektive wird der Natur kein Status als eigenes Rechtssubjekt zugestanden. Sie wird geschützt, um das Überleben der Menschen zu sichern (Kirchhoff 2020). Eng daran angelehnt ist das Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit, bei dem die drei Dimensionen Ökonomie, Ökologie und Soziales gleichberechtigt nebeneinanderste- hen (Pufé 2017). Eine Entwicklung ist nach diesem Modell nachhaltig, wenn alle drei Perspektiven gleichermaßen berücksichtigt werden. An diesem Modell wird kritisiert, dass bereits zwei Säulen genügen, um das Dach zu tragen (ebd.) oder dass die isolierte Betrachtung der Teilbereiche Ökologie, Ökonomie und Soziales die Vorstellung unter- stützt, „dass sich ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit unabhängig voneinander realisieren lassen“ (Grünwald/Kopfmüller 2012). Abbildung 1: Drei-Säulen-Modell, Dreiklang-Modell und integratives Nachhaltigkeitsdreieck im Ver- gleich (eigene Darstellung H.M. nach Pufé 2017; Oberrauch et al. 2020) Mit dem Modell des integrativen Nachhaltigkeitsdreiecks (Abb. 1, rechts) wurde ver- sucht, diese Kritik abzufangen: alle drei – gleichwertigen – Bereiche werden als Ganzes betrachtet (Pufé 2017). Auch dieses Modell geht grundsätzlich von der Gleichwertigkeit der Dimensionen aus (Grünwald/Kopfmüller 2012; Oberrauch et.al. 2020), vernachläs- 1 Siehe dazu auch Vereinte Nationen (1987, S. 16). 206 Helga Mayr & Reinhold Madritsch sigt jedoch, dass es die natürlichen Bedingungen sind, die den Rahmen für soziales und wirtschaftliches Handeln bilden (Brand 2019, S. 88). Vorrangmodelle, die der ökologi- schen Dimension einen Vorrang einräumen (Abb. 2, links und mittig), vernachlässigen allerdings wiederum die Gerechtigkeitsfrage (Oberrauch et al. 2020). Abbildung 2: Vorrang- und Leitplankenmodell der Nachhaltigkeit (eigene Darstellungen H.M. nach Griggs et al. 2013; Hofmann 2018; Oberrauch et al. 2020) Das Leitplankenmodell versucht, dieses Defizit auszugleichen, indem mit planetaren Grenzen für das Ökosystem (Steffen et al. 2015, S 736 ff.) und den universellen Men- schenrechten (Hoffmann 2018) oder sozialen Mindeststandards (Raworth 2015) Gren- zen für das soziale System definiert werden. Der verbleibende Korridor steckt den so- zio-ökonomischen Handlungsspielraum ab (Oberrauch et al. 2020; Raworth 2015). Die Anwendung des Leitplankenmodells auf Digitalisierungsprozesse führt konsequenter- weise zur Forderung, bei Produktion, Nutzung sowie Entsorgung sowohl ökologische Grenzen als auch gesellschaftliche Aspekte, wie beispielsweise Menschenrechte durch- gängig zu berücksichtigen (WBGU, 2019). Angesichts bestehender Praktiken bei Produktion, Nutzung und Entsorgung digitaler Endgeräte, des prognostizierten fortschreitenden Digitalen Wandels und dem damit ein- hergehenden notwendigen Bedarf an Energie und anderen Ressourcen, aber auch in An- betracht nach wie vor unbeantwortet gebliebener ethischer Fragen stellt diese Forderung allerdings eine immense Herausforderung dar (von Hauff/Reller 2020; WBGU, 2019). Digitalisierung Dabei wird die digitale Transformation an sich bereits als Herausforderung wahrgenom- men: Im Sinne von digitization kann der rein technische Prozess der Überführung nicht- digitaler Informationen sowie Ressourcen in digitale gemeint sein oder – im Sinne von digitalization – der Prozess, digitale Informationen bzw. Ressourcen für die Gestaltung Tablets an Schulen: Fluch und Segen? 207 der Welt zu nutzen oder bestehende Prozesse zu ändern (Gobble 2018; Zhao et al. 2020). Digitalization fokussiert auf die Auswirkungen des digitalen Wandels auf gesellschaft- liche und ökonomische Praktiken und Machtverhältnisse sowie auf individuelle Hand- lungsoptionen (Zhao et al. 2020). Digitalisierung wird auch als Produkt der menschli- chen Kultur verstanden. Sie tangiert die Lebensweise wie auch die Wahrnehmungs- und Gestaltungsform des Individuums, indem sie die menschliche Praxis bes timmt (Rat für Kulturelle Bildung, 2019). Ganzheitlich betrachtet geht es beim Digitalen Wandel daher nicht nur darum, die di- gitale Infrastruktur auszubauen und organisationale Prozesse oder Lehr- und Lernsze- narien zu digitalisieren, sondern den Prozess der Digitalisierung im Sinne einer NE zu gestalten und dabei die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung öko- logischer und sozialer Leitplanken zu sichern. Damit es gelingt, die Potentiale der Di- gitalisierung für die Gestaltung einer lebenswerten Gegenwart und Zukunft zu nutzen, liegt die Forderung nahe, Menschen zu Mündigkeit in einer digitalen Welt zu befähigen (WBGU 2019; Felderer/Breu 2018) – BNE kann diesen Prozess unterstützen. Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) Denn gerade BNE zielt im Sinne eines emanzipatorischen Ansatzes (Wals 2011; Vare/ Scott 2007; Stoltenberg/Burandt 2014; Wals/ Jickling 2002) darauf ab, Menschen zu befähigen, eine zukunftsfähige Welt mitzugestalten (Barth 2021; Stoltenberg/Burandt 2014). NE wird dabei als „individueller gesellschaftlicher Such-, Lern- und Gestal- tungsprozess“ verstanden und BNE als eine Bildung, die die Fähigkeit von Menschen zu Selbst- und Weltreflexion fördert und darauf abzielt, sie in der Entwicklung von Orientierungs-, Urteils- und Handlungsfähigkeit zu unterstützen (Stoltenberg/ Burandt 2014). Bereits 1992 wurde auf globaler Ebene die Bedeutung von Bildung für eine nachhaltige Entwicklung hervorgehoben (UN 1992) und in weiterer Folge immer wieder bekräftigt und politisch legitimiert, beispielsweise mit der von 2005 bis 2014 dauernden BNE- Dekade (UNESCO 2014a), dem darauffolgenden fünfjährigen Weltaktionsprogramm (UNESCO 2014b) sowie dem nahtlos anschließenden UNESCO-Programm Educa- tion for Sustainable Development: Toward Achieving the SDGs, kurz ESD for 2030 (UNESCO 2017, 2020). Das Programm ESD for 2030 zielt darauf ab, BNE in Bildungseinrichtungen strukturell zu verankern und BNE an die Erreichung der 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung, den Sustainable Development Goals (SDGs) zu koppeln (UNESCO 2020). BNE folgt dabei einem ganzheitlichen Ansatz, der Bildungseinrichtungen wie Schulen oder Hoch- schulen in ihrer Gesamtheit erfasst (Michelsen 2015) und damit neben dem Unterricht 208 Helga Mayr & Reinhold Madritsch und der Lehre weitere Aspekte wie bspw. Partizipation auf organisatorischer Ebene, die Beschaffung oder den Energie- und sonstigen Ressourcenverbrauch auf betrieblicher Ebene umfasst. Digitale Schule, Nachhaltige Entwicklung und BNE: eine Synthese Sowohl im Zusammenhang mit BNE als auch mit digitaler Bildung wird eine struk- turelle Verankerung in Bildungseinrichtungen gefordert (UNESCO 2014b). Mit dem Masterplan Digitalisierung sind die ersten Schritte gesetzt (BMBWF 2022). Dabei be- steht der Eindruck, dass der Digitalisierung im Bildungsbereich ein höherer Stellen- wert zugesprochen wird als einer BNE, was sich in der Integration in Curricula, Ent- wicklungsplänen oder Strategien manifestiert. Die Bedeutung der Digitalisierung wird im deutschsprachigen Raum beispielsweise durch den Masterplan für die Digitalisie- rung im Bildungswesen in Österreich (BMBWF 2022) oder dem Digitalpakt Schule in Deutschland (BMBWF 2022) und auf der europäischen Ebene durch den Aktionsplan für digitale Bildung (Europäischen Union 2021) untermauert. Stoltenberg und Michel- sen (2020) führen das unter anderem darauf zurück, dass Digitalisierung als „innova- tiv“, „fortschrittlich“ und „unabdingbar“ scheint. In Österreich wird die Digitale Schule (https://digitaleschule.gv.at/) anhand eines 8-Punkte-Plans umgesetzt. Ziel ist es, bis 2024 in allen Schulen digital unterstütztes Lehren und Lernen sowie innovative Lehr- und Lernformate gut verankert zu haben. In der Vision der Digitalen Schulen (BMBWF) werden unter anderem angesprochen • der Aufbau digitaler Kompetenzen, die das Lernen mit digitalen Medien, das Lernen über digitale Medien und über die Funktionsweise der digitalen Welt um- fasst, • die Nutzung der Möglichkeiten der Digitalisierung für einen individualisierten und differenzierten Unterricht oder der Teamarbeit und • der Anspruch, technologische Angebote stets in den Dienst der Pädagogik zu stellen. Der in der Abb. 3 dargestellte 8-Punkte-Plan beinhaltet unter anderem die Geräteinitia- tive „Digitale Endgeräte für SchülerInnen“. Beginnend mit dem Schuljahr 2021/22 wurden an Schulen, die sich zu einer Digitalen Schule entwickeln möchten, digitale Endgeräte an SchülerInnen der 5. und 6. Schul- stufe (ab 2022/23 jeweils der 5. Schulstufe) ausgegeben. Laut BMBWF sollen die päd- agogischen und technischen Voraussetzungen für den IT-gestützten Unterricht und für SchülerInnen die gleichen Rahmenbedingungen in Bezug auf den Zugang zu digitaler Bildung geschaffen werden. Letztere umfasst „sowohl die Vermittlung digitaler Kom- Tablets an Schulen: Fluch und Segen? 209 Abbildung 3: Der 8-Punkte-Plan des BMBWF (https://digitaleschule.gv.at/#8punkteplan) petenzen und das Erlernen des richtigen Umgangs mit mobilen Devices sowie den opti- malen Einsatz dieser Geräte für bessere Lernchancen“ (BMBWF 2021). Abgesehen vom Aspekt, dass Kompetenzen nicht vermittelt, sondern nur erlernt und damit in Bildungsprozessen in ihrer Entwicklung unterstützt werden können, ergeben sich in Hinblick auf die Entwicklung digitaler Kompetenzen unter Verwendung digitaler Endgeräte unterschiedliche Anknüpfungspunkte, von denen hier einige exemplarisch beleuchtet werden. Abbildung 4: Mögliche Themen im Zusammenhang mit digitalem und BNE Kompetenzerwerb (eigene Darstellung) 210 Helga Mayr & Reinhold Madritsch Unter der Lupe: das Tablet entlang seines Produktlebenszyklus Zum Lernen ÜBER digitale Medien gehört der Blick auf den gesamten Produktlebens- zyklus von der Entwicklung über die Produktion und Nutzung bis zur Entsorgung bzw. – im Idealfall – Wiederverwendung. Aussagekräftige Informationen, beispielsweise in Bezug auf den ökologischen und sozialen Fußabdruck im gesamten oder in Teilen des Produktlebenszyklus sind kaum bzw. nur fragmentarisch zu finden. Ein Umstand, der nicht wirklich überrascht. In die komplexen und hochgradig vernetzten Prozesse sind viele verschiedene globale „Player“ involviert, was eine Bewertung erschwert. Zudem haben viele involvierte AkteurInnen aufgrund von ökologisch und sozial fragwürdigen Geschäftspraktiken durchaus ein Interesse an intransparenter Information und Kom- munikation. Nachhaltigkeitsberichte sind – falls überhaupt vorhanden – mit Vorsicht zu genießen, da Unternehmen verständlicherweise versuchen, ein positives Image zu vermitteln (Burckhardt 2012). Oft wird nur ein Ausschnitt der komplexen globalen Wertschöpfungsketten dargestellt und bewusst bestimmte ökologisch und/oder sozial fragwürdige Praktiken von Zulieferfirmen ausgeblendet. In einem im Jahr 2010 erschienenen Artikel How Green is My iPad versuchten Go- leman & Norris herauszufinden, ob ein konventionelles Buch oder ein e-Reader am Beispiel iPad umweltfreundlicher ist. Sie verweisen eingangs darauf, dass bestimmte Informationen, z.B. technische Details zur Produktion der Bildschirme nicht öffentlich zugänglich sind und daher nur geschätzt werden können und schränken den Vergleich auf die e-Reader-Funktion ein. Auch wenn der Artikel bereits in die Jahre gekommen ist und bei neueren Generationen an iPads eine umweltfreundlichere Produktion angestrebt wird (Apple 2021a), zeigt das Beispiel sehr gut die unterschiedlichen Aspekte auf, die zu berücksichtigen sind bzw. wären. Rohstoffgewinnung, Produktion und Transport Dazu gehören die verwendeten Rohstoffe, unter anderem metallene wie Kupfer, Gold, das aus Coltan gewonnene Tantal oder „Seltene Erden“ (Binnewies et.al., 2019). Immer wieder berichten Medien oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs) darüber, wie die für digitale Geräte benötigten Rohstoffe gewonnen werden: In den Coltan-Minen des Kongos arbeiten Kinder, die Goldminen in Brasilien vergiften Flüsse und Menschen mit Arsen, für Kupferminen in Peru werden ganze Dorfgemeinschaften zwangsumge- siedelt. Aus diesen Rohstoffen werden u.a. Leiterplatten, SIM-Karten und Kondensa- toren hergestellt und das meist in China von unterbezahlten ArbeiterInnen unter men- schenunwürdigen Bedingungen, gezwungen zu Überstunden, ohne Schutzkleidung und mit Lohnabzug im Falle, dass sie Fehler machen. (Hofmann 2022; Seidler 2019). Tablets an Schulen: Fluch und Segen? 211 Große globale Konzerne oder Staaten aus Europa, Nordamerika, China oder Australien sind diejenigen, die Minen in Ländern in Afrika, Lateinamerika oder Asien betreiben und dort unter Einsatz von Hochtechnologie Rohstoffe abbauen und den Großteil des Gewinns abschöpfen. In (Bürger-)Kriegsgebieten verdienen bewaffnete Gruppen mit, in anderen mitunter korrupte EntscheidungsträgerInnen (Rojas Arango 2022) Die in den Minen tätigen FacharbeiterInnen stammen oft aus den Stammländern, in denen die globalen Konzerne beheimatet sind, der lokalen Bevölkerung bleibt meist nur ein kleiner Anteil an der Wertschöpfung. Neben dieser industrialisierten und hoch technologisierten Form des Bergbaus gibt es noch eine zweite: artisanal mining oder Kleinbergbau, informell organisiert und mit (lebens-)gefährlichen, gesundheitsgefähr- deten und menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen für meist junge Männer oder Kin- der (Rojas Arango, 2022) Zu den sozial fragwürdigen Praktiken gesellen sich ökologische Kollateralschäden, von denen einige kurz angesprochen werden: der Verbrauch von Ressourcen wie Energie und Wasser für Gewinnung und Raffination der Erze (Reller 2019), wobei der überwie- gende Teil der Energie aus fossilen Quellen stammt und damit den Klimawandel weiter anheizt. Der Wasserverbrauch, der mitunter die Wasserknappheit verstärkt und auch die nicht sachgemäße oder fehlende Wassernachbereitung, führt zur Kontaminierung der Natur (von Hauff/Reller 2020) und zur Gefährdung des Lebensraumes und damit der lokalen Bevölkerung und aller Lebewesen (Calistri et al. 2012). Produktion Aber nicht nur die Gewinnung der für ein iPad notwendigen Ressourcen, sondern auch dessen Produktion ist mit negativen ökologischen und sozialen Wirkungen verbunden, von denen exemplarisch einige kurz erläutert werden. Laut einer Studie von Greenpeace (2017) entstehen ca. 70 – 80 % des gesamten CO2-Fußabdruckes, den ein Personal Com- puter im Zuge seiner gesamten Lebensspanne hinterlässt, im Herstellungsprozess. Bei Tablets wird es ähnlich sein, auch wenn die Bezifferung aufgrund der fehlenden Daten- lage schwierig ist. Golemann & Norris (2010) gaben für die Produktion eines eReaders 100 Kilowattstunden fossiler Energie oder 66 Pfund (ca. 30 kg) CO e22 an. In einem Blog beziffert Jens Gröger (2020) die Treibhausgasemissionen bei der Produktion eines Lap- tops mit 63 kg CO2e pro Jahr, was vor allem auf den Einsatz von Prozesschemikalien zur Rohstoffgewinnung und Verarbeitung sowie den Energieaufwand bei der Halbleiter- fertigung zurückzuführen ist. 2 CO2e = CO 2 - Äquivalente = Maßeinheit zur Vereinheitlichung der Klimawirkung der unterschied- lichen Treibhausgase. 212 Helga Mayr & Reinhold Madritsch Golemann & Norris (2010) verweisen zudem auf gesundheitliche Risiken für die am Produktionsprozess beteiligten Menschen, beispielsweise indem diese toxischen Ma- terialien ausgesetzt sind. Es sind hauptsächlich Stickstoff und Schwefeloxid, die zu Asthma oder chronischem Husten führen können und das Kindersterblichkeitsrisiko erhöhen. Bei der Produktion eines iPads waren 2010 die Gesundheitsrisiken 70-mal so hoch wie bei der Produktion eines gedruckten Buches, aktuelle Daten dazu fehlen allerdings. Nach eigenen Angaben ist Apple (2021a) mit seinen Bürogebäuden und Apple-Stores bereits CO2-neutral und möchte bis 2030 die CO2-Neutralität in der gesamten Wert- schöpfungskette erreichen, weiter an der Müllreduktion arbeiten sowie menschen- würdige Arbeit sicherstellen (Apple 2021b). 2014 erklärte Apple zudem, in Zukunft auf Rohstoffe zu verzichten, die in Konfliktregionen gefördert werden. In diesem Zu- sammenhang ist allerdings anzumerken, dass 2010 in den USA der Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act verabschiedet wurde, der den Umgang mit Konfliktmineralien in der Demokratischen Republik Kongo (DRK) adressiert (Rüttinger/Griestop 2015). 2021 trat zudem die EU-Konfliktmineralienverordnung in Kraft: Unternehmen, die bestimmte mineralische Rohstoffe in die EU einführen, müs- sen dafür Sorge tragen, dass es durch ihre Beschaffungspraktiken zu keinen Konflikten oder Menschenrechtsverletzungen kommt (Küblböck 2021). Aber: Sowohl der Dodd- Frank Act, der sich lediglich auf die DRK bezieht, als auch die EU-Konfliktmineralien- verordnung haben nur einen eingeschränkten Geltungsbereich und schwache Durch- setzungsmöglichkeiten (ebd.). In einer 2017 durchgeführten Bewertung von 17 Herstellern von Elektronikprodukten anhand der Kriterien (1) Energiequellen bei der Herstellung, (2) Recyclingfähigkeit der Materialien, (3) Unbedenklichkeit der Chemikalien und (4) Reparaturfähigkeit erreichte Apple hinter Fairphone immerhin den zweiten Platz, vor allem aufgrund seiner Aktivi- täten in Bezug auf die Verwendung erneuerbarer Energiequellen sowie dem Vorhaben, in Zukunft nur mehr recycelte Rohstoffe verwenden und CO2-neutral produzieren zu wollen – auch wenn die Geräte nach wie vor nur schwer zu reparieren sind und jedes Jahr Must-have-Modelle vorgestellt werden (Cook/Jardim 2017; Greenpeace 2017). Greenpeace berichtet in der Studie generell von mangelnder Transparenz in Bezug auf die Lieferkette, aber auch von der Praktik einer geplanten Obsoleszenz (Global 2000 2022) als Strategie von Herstellern, darunter Apple, die Funktionszeit absichtlich zu verkürzen. Darüber hinaus fehlt den Herstellern nach wie vor das Verständnis für die Dringlichkeit, das Elektronikmüll-Thema konsequent und transparent anzugehen. Eine seit März 2021 geltende EU-Richtlinie soll bestimmte Produkte langlebiger und ein- facher zu reparieren machen, wobei die als besonders ressourcenintensiv und kurzlebig geltenden Smartphones und Laptops vorerst nicht darin erfasst sind (Pramer 2021). Im Gespräch ist derzeit ein in Frankreich bereits seit 2021 umgesetzter EU-weiter Repa- Tablets an Schulen: Fluch und Segen? 213 rierbarkeitsindex, aus dem unter anderem die Zahl der Arbeitsschritte hervorgehen, die nötig sind, um einzelne Komponenten auszutauschen oder ob Reparaturanleitungen zur Verfügung gestellt werden (Floemer 2021; Gajek 2021). Apple hat 2021 ein Self-Ser- vice-Reparaturprogramm vorgestellt, das sich in einem ersten Schritt auf iPhone-Mo- delle (12 + 13) bezieht und später auf weitere Produkte ausgerollt werden soll (Mearian/ Krokoszinski 2021). Transport Das Thema Transport wird an dieser Stelle nur am Rande gestreift. Auch dazu fehlen verlässliche Daten, allerdings listet Apple (2021c) in seiner Supplierlist auf 17 Seiten 98 % (ca. 200) seiner Lieferanten, die in den unterschiedlichsten Ländern beheimatet sind. Entlang des gesamten Produktlebenszykluses finden, beginnend mit dem Abbau von Rohstoffen bis zur Übergabe an die/den NutzerIn, unzählige Transportbewegungen statt, die wiederum Treibhausgasemissionen verursachen. Ein Fokus auf Treibhausgasemissionen und Elektronikmüllproblematik vernachlässigt den Blick auf weitere ökologische und soziale Kriterien, beispielsweise auf Arbeitsbe- dingungen der Menschen, die die digitalen Endgeräte herstellen. In How We Work With Suppliers (Apple, 2021d) finden sich Informationen zu CSR-Maßnahmen, beispielswei- se dem 2005 entwickelten Apple Supplier Code of Conduct und die Supplier Responsi- bility Standards mit Kriterien für Arbeitsbedingungen in den Produktionsstätten der Zu- lieferfirmen, die bspw. den Standards der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte (UNGPs) entsprechen. Der Kodex wurde 2012 von der Produktion auf den Dienstleistungsbereich ausgedehnt und wird laut Angabe des Unternehmens laufend weiterentwickelt. Soweit die Angabe des Konzerns. Inwiefern soziale Mindeststandards entlang der gesamten Wertschöpfungskette tatsächlich gewährleistet sind, ist aufgrund der fehlenden Daten- lage und der Komplexität der Prozesse nicht feststellbar. Nutzung Auch bei der Nutzung eines iPads werden Ressourcen in Form von Energie benötigt, wobei der Verbrauch von Nutzungsintensität und der verwendeten Software/Applikatio- nen abhängt und ob das Gerät tatsächlich ausgeschaltet ist oder sich nur im Ruhemodus befindet, wenn es nicht verwendet wird. Wird ein Laptop bei einer elektronischen Leis- tungsaufnahme von 32 Watt vier Stunden pro Tag genutzt, entstehen 25 kg CO2e pro Jahr. Dazu kommen weitere Treibhausgasemissionen durch die Übertragung von Daten, 214 Helga Mayr & Reinhold Madritsch z.B. durch Videostreaming (4 h/Tag: 62 kg CO2e pro Jahr), dem Upload von Fotos (z.B. 10 Fotos für soziale Netzwerke pro Tag: 1 kg CO2e pro Jahr) und der Aufrechterhaltung und Wartung der für unseren digitalen Lebensstil notwendigen Rechenzentrums-Infra- struktur, der mit ca. 400 Kilowattstunden elektrische Energie bzw. 213 kg CO2-Emis- sionen pro Jahr zu Buche schlägt oder Google-Anfragen, die bei durchschnittlich 50 Suchanfragen pro Tag 26 kg CO2-Emissionen pro Jahr verursachen (Gröger 2020). Zum Vergleich: Bis 2050 müssen die Treibhausgas-Emissionen pro Kopf unter einer Tonne liegen, um die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu halten (Bilharz 2019). Neben der Frage nach der Höhe des Energieverbrauchs stellt sich jene nach der Herkunft der Ener- gie und ob diese aus fossilen oder erneuerbaren Quellen stammt. Abgesehen vom Aspekt des Energie- und Ressourcenverbrauchs bedeutet jede Kauf- und Nutzungsentscheidung immer auch eine Bestärkung und weitere Einzementierung der Macht von IT-/Softwarefirmen wie Apple, Amazon, Microsoft, Google oder Face- book, die sich zudem durch Steuertricks und Gewinnverschiebungen vor ihrer gesell- schaftlichen Verantwortung drücken (Bernau 2017). Auf politischer Ebene gab es dazu kürzlich einiges an Bewegung: das EU-Parlament hat mit dem Ende 2021 verabschiede- ten Digital Markets Act (DMA) zur Regulierung großer Tech-Konzerne auf dem Euro- päischen Markt einen ersten Schritt gesetzt (EU 2019). Im Zusammenhang mit dem Einsatz digitaler Medien für Lehr- und Lernprozesse sind nun aber noch weitere Aspekte interessant, die nachfolgend thematisiert werden. Digitale Werkzeuge ersetzen weder Lehrkräfte noch Inhalte „Um den Zugang der Schülerinnen und Schüler zu einem eigenen Lerngerät sicherzu- stellen, ist ab dem Schuljahr 2021/22 die Ausstattung der 5. und 6. Schulstufe mit digi- talen Endgeräten geplant.“ (Ohlenschläger 2020) steht in der Aussendung des BMBWF. Damit startet die größte Hardwareinitiative für EndnutzerInnen im Bereich Schule in Österreich. Stolz informierte die im August 2021 für Digitalisierung zuständige Präsidi- alsektionschefin des BMBWF Iris Rauskala die Öffentlichkeit über die Ausstattung von 150.000 Schülerinnen und Schüler der fünften und sechsten Schulstufe mit günstigen Laptops und Tablets (Andraschko 2021). Trotz der Euphorie ob der Endgeräte bleibt der 8-Punkte-Plan Antworten in Hinblick auf einen sinnvollen pädagogisch-didaktischen Einsatz schuldig. Das Vorhandensein digitaler Medien wirkt sich nicht per se positiv in der Lehre aus (vgl. Kerres 2018) und führt nicht automatisch zu einer Neugestaltung oder Modernisierung des Unterrichts (Pfeffer et al. 2005). Freilich hat die aufkommen- de Covid-Pandemie die Aktivitäten rund um die fehlende digitale Ausstattung befeuert und Verantwortliche zusätzlichem Druck ausgesetzt. Ohne die notwendigen Verände- rungsprozesse ist es, trotz des Zugangs zu digitalen Endgeräten allerdings fraglich, ob Tablets an Schulen: Fluch und Segen? 215 die angestrebten Innovationen erreicht werden, unter anderem deshalb, da neue Technik von den Betroffenen grundlegend infrage gestellt wird, wenn diese nicht zur Steigerung des erhofften Lernerfolgs führt (vgl. Pfeffer et al. 2005). Die Bereitstellung von Hardware ist vergleichsweise einfacher durchzuführen als die Umsetzung des notwendigen Change-Prozesses der PädagogInnen, damit diese in der Lage sind, SchülerInnen in ihrer Entwicklung hin zu digitaler Mündigkeit/Kompetenz (Simon/Wawrzyniak, 2020) zu unterstützen. Digitale Bildung ist mehr als zu lernen, Programme und Geräte zu bedienen. Schon Baacke (1997, S. 96 ff.) definierte die Mediennutzung als nur eine von vier Dimensionen der Medienkompetenz. Positiv zu er- wähnen ist die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven in Bezug auf „Betrach- tungsgegenstände“ des aktuellen Lehrplans für die Digitale Grundbildung. Grundlage dafür ist das Frankfurt Dreieck, das sich mit der technologisch-medialen, der gesell- schaftlich-kulturellen und der Interaktionsperspektive den Inhalten nähert (Pasternak 2019). Allein die Präsenz digitaler Medien kann den Unterricht nicht ersetzen. Mobile Endge- räte, auch wenn sie mit entsprechender Software ausgestattet sind, ersetzen keine Päda- gogInnen. Vielmehr ist es eine Frage des didaktischen Konzeptes, das dazu geeignet ist, Lernerfolge zu ermöglichen (vgl. Kerres 2018) und das digitale Medien als Lernwerk- zeuge bzw. -materialien betrachtet (Herzig 2014), die es in Hinblick auf Wirkung und Wirksamkeit zu hinterfragen gilt. Folglich kann sich, eine methodisch-didaktisch gut aufbereitete Unterrichtsgestaltung vorausgesetzt, der Einsatz von Tablets/Notebooks im Unterricht in vielerlei Hinsicht positiv auf Lernprozesse auswirken. Mit Verweis auf unterschiedliche explorative Studien nennt Herzig (2014) Verbesserungen in den Bereichen Medienkompetenz, Ko- operation und Kommunikation oder Selbststeuerung. Galley und Mayrberger (2018) führen mit Verweis auf unterschiedliche Quellen an, dass der Einsatz digitaler Endge- räte didaktische Möglichkeiten erweitert, den Medieneinsatz vereinfacht und orts- und zeitunabhängiges Lernen, aber auch differenzierteres Unterrichten sowie den Zugang zu diversen Lerntools ermöglicht (Traxler/Kukulska-Hulme 2005). Aus bildungswissenschaftlicher Perspektive geht es um die Förderung eines verantwor- tungsbewussten und reflektierten Umgangs mit Medien (Herzig, 2014), der die Ausein- andersetzung mit den vorher beschriebenen Aspekten entlang der Wertschöpfungskette ebenso miteinschließt wie gesundheitliche Aspekte, potentielle Gefahren in sozialen Netzwerken, Fragen des Datenschutzes oder die Mitgestaltung einer lebenswerten Zu- kunft. Hier kann und muss digitale Grundbildung einen wertvollen Beitrag leisten. Dazu sind entsprechende didaktische Konzepte und Prozesse notwendig, die einen ganzheit- lichen Zugang ermöglichen sowie die Entwicklung von Kompetenzen, denen in Bezug auf eine nachhaltige Entwicklung eine besondere Bedeutung zukommt wie beispiels- weise ganzheitlich, systemisch, kritisch und visionär denken, emphatiefähig und kreativ 216 Helga Mayr & Reinhold Madritsch sein oder kollaborieren können (Rieckmann, 2018). Um dies zu erreichen bieten sich Denk- und Arbeitsweisen wie Design Thinking, forschendes, projekt- und (problem-) lösungsungsorientiertes Lernen oder Playful Learning an. Dies setzt allerdings voraus, dass alle SchülerInnen und LehrerInnen über ein entspre- chendes digitales Endgerät verfügen, die Bedienung möglichst ohne weitere Unterstüt- zung möglich und die notwendige Bandbreite vorhanden ist. Diese Voraussetzung sollte zwar mit der Hardwareinitiative erfüllt werden, wirft aber die Frage auf, warum nicht (auch) verstärkt auf bereits vorhandene Geräte zurückgegriffen wird. Immerhin ver- fügen laut JIM-Studie (2021) 94 % der Jugendlichen über ein Smartphone, 72 % über einen Laptop und immerhin 43 % über ein Tablet. Entsorgung Verschiedene Gründe besiegeln das Nutzungsende eines Tablets: es ist funktionsun- tüchtig, da irreparabel oder durch Softwareupgrades nicht mehr verwendbar, es wird nicht mehr gebraucht oder ein neues Modell wird gewünscht. Dabei kann die Entsor- gung eines Tablets wiederum drei unterschiedliche Verläufe nehmen: idealerweise wird es korrekt entsorgt und in den Recyclingprozess aufgenommen. Es kann aber auch in einem illegalen Recyclingprozess landen, meist in Ländern des globalen Südens, wo Ar- beiterInnen, oft Kinder, es händisch zerlegen und dabei einer Reihe von toxischen Subs- tanzen ausgesetzt sind. Schließlich kann das Tablet auch auf einer Mülldeponie landen. Laut der von den meisten OECD-Staaten unterzeichneten Basler Konvention dürfen gefährliche Abfälle, zu denen auch Elektromüll zählt, nicht in Länder des Globalen Süden exportiert werden, da dort die Infrastruktur für eine sachgerechte Entsorgung fehlt. Dennoch ist es nach wie vor üblich, Elektronikschrott falsch deklariert illegal aus der EU zu exportieren, beispielsweise nach Ghana. Nach einem Bericht von Südwind (Anane 2022) zerlegen in Ghana Menschen, unter ihnen Kinder und Jugendliche, mit bloßen Händen und ohne Schutzbekleidung Elektroschrott, zertrümmern mit Steinen Gehäuse und verbrennen Kabel, um an das Kupfer zu kommen. Sie verletzen sich und leiden aufgrund der giftigen Dämpfe unter Atemprobleme und Kopfschmerzen. Darü- ber hinaus werden aufgrund der unsachgemäßen Entsorgung Grundwasser und Umwelt verschmutzt, mit weitreichenden Folgen für die lokale Bevölkerung. Der Elektroschrott-Müllberg wächst laut Anane (2022) dreimal so schnell wie jener mit „normalem Müll“, was unserem vorherrschenden Wirtschaftssystem geschuldet ist und sich in vorherrschende Produktions- und Konsumweisen widerspiegelt. Tablets an Schulen: Fluch und Segen? 217 Fazit und Ausblick Anhand von digitalen Endgeräten, die in Bildungsprozessen eingesetzt werden, wurde exemplarisch versucht, Risiken und Herausforderungen, die mit Produktion, Nutzung und Entsorgung im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung verbunden sind, herauszu- arbeiten. Ihnen stehen Potentiale einer Digitalisierung entgegen, die einen zukunftsfä- higen Entwicklungspfad unterstützen könnten, die allerdings bis dato nicht im notwen- digen Ausmaß ausgeschöpft werden (Von Hauff/Reller, 2019, Stoltenberg/Michelsen, 2019, WBGU 2019). Ganzheitlich betrachtet eröffnet sich gerade durch die Verwendung digitaler Endgeräte die Chance, sowohl mit als auch über digitale Medien zu lernen und dabei sowohl Sys- temwissen als auch Orientierungs- und Handlungswissen (Stoltenberg/Michelsen 2020) in Bezug auf Digitalisierung im Kontext von BNE zu erwerben (Birkelbach et al. 2019). Systemwissen umfasst dabei das Verständnis für technologische Zusammenhänge, tech- nisches Wissen sowie das Wissen um soziale, kulturelle und ökologische Folgen der Di- gitalisierung. Orientierungswissen beinhaltet die Reflexion von Potentialen, aber auch gegenläufigen Funktionen der Digitalisierung. Dabei geht es um die Auseinanderset- zung mit dem digitalen Wandel und seiner Treiber, mit Machstrukturen, mit den ökono- mischen, sozialen, ökologischen und kulturellen Aspekten digitaler Technologien oder dem Hinterfragen der individuellen Techniknutzung. In Bezug auf Handlungswissen und Digitalisierung geht es schließlich darum, mit Hilfe von digitalen Medien an realen Problemstellungen, Aufgaben oder Phänomenen zu lernen und dabei deren Potentiale zu nutzen. Mit Blick auf BNE für 2030 (UNESCO 2020) bieten sich sowohl beim Ler- nen mit als auch über digitale Medien unzählige Anknüpfungspunkte zu den SDGs an. Ein Einsatz von mobilen Endgeräten im Unterricht muss sich dabei stets an einem me- dienpädagogischen Konzept orientieren und von entsprechend ausgebildeten Pädago- gInnen begleitet sein. Das Frankfurter Dreieck bietet einen „überfachlichen Orientie- rungs- und Reflexionsrahmen“, der die integrative Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven auf gewählte Betrachtungsgegenstände einfordert (Brinda et. Al., 2019) und den es in den Kontext einer kritisch-emanzipatorischen BNE zu stellen gilt. Dazu gehört die kritische Auseinandersetzung mit den Dynamiken einer globalen Bildungs- industrie (Hug/Madritsch 2020), die mit attraktiven Unterstützungsangeboten für Bil- dungseinrichtungen aufwartet. Sie werden mit dem Verlust der Kontrolle über Daten, Hard- und Software und dem Abfließen begehrter UserInnendaten bezahlt und verstär- ken die Alternativlosigkeit bei der Geräteauswahl. Dabei müssten bei Beschaffung, Betrieb und Nutzung durchgängig Nachhaltigkeits- kriterien berücksichtigt bzw. von Lieferanten deren Einhaltung und von der Politik entsprechende gesetzliche Regelungen eingefordert werden. Im Moment erfüllt kein Anbieter mobiler Endgeräte mit Ausnahme des Fairphones den Anspruch, nachhaltig 218 Helga Mayr & Reinhold Madritsch zu produzieren. Es stellt sich daher eher die Frage nach dem geringeren Übel – wer produziert weniger schädlich als andere. Bei der Beschaffung sollten daher unbedingt Alternativen zur flächendeckenden Versorgung mit neuen Endgeräten angedacht wer- den: vom Gebrauchtgerätekauf über Miete, Reparatur bis hin zur Verwendung von Ta- blets der SchülerInnen (bring your own device). Auch in Bezug auf die verwendete Software können Alternativen im Sinne von Green und Sustainable Software (Podder et al. 2020) gewählt werden, wie dies der Verein OSOS Austria (www.linuxbildung.at) ge- fordert oder in Schleswig-Holstein in der Verwaltung und Schulen geplant ist (Dierking/ Wölbert 2022). Der Betrieb sollte dabei möglichst energiesparend mit Ökostrom erfolgen. Abschließend bleibt der (fromme) Wunsch, dass die notwendige gesellschaftliche Transformation im Sinne einer (B)NE gemeinsam mit der digitalen Transformation ge- dacht wird. Literatur Andre, Martin; Oberrauch, Anna & Zöttl Melanie (2020): Ein Donut, der alle satt macht? Durch visuelle Datenanalyse mit GeoGebra und Gapminder nachhaltige Entwicklung greifbar machen. In: Kapelari, Suzanne (Hrsg.): Vierte „Tagung der Fachdidaktik“ 2019 Interdisziplinäre fachdidaktische Diskurse zur Bildung für nachhaltige Entwicklung. Innsbruck university press, S. 45–80. Anane, Mike (2022): Verboten? Wen kümmert’s? 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This article introduces the Synergy Model of Critical Thinking as an offer for higher education and school teachers alike to explain critical thinking as well as to reflect on their own and others perceptions of critical thinking. The Model shows that critical thinking results when knowledge, skills, dispositions and norms, values and emotions interplay when dealing with a subject or an object to take a position and this process is controlled by intellectual standards and self-regulation. Introduction In many countries, critical thinking (CT) is considered a core aspect of democracy and an education ideal (ten Dam/Volman 2004; Facione 1990; Jiménez-Aleixandre/Puig 2022; Polizzi, 2020). Dealing with urgent social development issues in the areas of health, nature, and ecology requires CT, a basic scientific education, and an understanding of the nature of science (Ernst/Monroe 2004; Hofreiter et al. 2007; Mogensen 1997; Puig et al. 2021; Yacoubian 2015). Moreover, promoting CT is fundamental to counteract the spread of fake news and conspiracy theories in the context of socially highly relevant issues, such as ecological crises, and to ensure evidence-based decision-making (Feuer- stein 1999; Jahn/Kenner 2018; Jiménez-Aleixandre/Puig 2012; LeCompte et al. 2017; Machete/Turpin 2020; Puig et al. 2021). It is therefore a declared educational goal of Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 226 Susanne Rafolt & Suzanne Kapelari formal educational institutions, such as schools and universities, that learners actively experience CT in order to be able to apply it autonomously in different contexts (Jahn/ Kenner 2018; Puig et al. 2019; Rafolt et al. 2019). It is particularly important to integ- rate CT in teacher education, since teachers are encouraged to promote CT in students by acting as role models, supporting their students in CT practice and giving feedback on their CT development (Ab Kadir 2017; Facione 1990; Lorencová et al. 2019). For this, teachers need a clear idea of CT. However, CT is difficult to grasp and existing explanations are either too brief or too expansive to help lay people, such as teachers and students, to develop a holistic understanding of CT (Hatcher 2000; Larsson 2017; Schmaltz et al. 2017). This paper presents a theory-based Synergy Model of Critical Thinking (SMCT) to explain CT. Moreover, the SMCT can be used as a framework to reflect and discuss information, attitudes and ideas within a given context as well as in- dividual perspectives on CT. This paper discusses how the SMCT can support teachers and learners in dealing with CT as a basis for classifying information in the context of ecological crises. The Synergy Model of Critical Thinking (SMCT) The discourse about what CT means and what characterises critical thinkers has been going on for centuries. The scientific discourse of the last 30 to 40 years, especially in the fields of psychology and philosophy, shows that CT is understood as a complex interplay of a large number of skills and dispositions that contribute to getting a well- founded picture of a situation, but also to reflect on and question one’s own position (Rafolt et al. 2019). The Synergy Model of Critical Thinking (SMCT) reflects this de- cades-long discourse (Rafolt 2021). It is based on the synopsis of academic literature on CT, published in English since 1980, particularly in the fields of philosophy and psychology (e.g., Ennis 2018; Facione 1990; Halpern 2014; Kuhn 1999; Lipman 1988; Paul/Elder 2014). Literature in the field of education was studied as well (e.g., Bailin et al. 1999), however, literature that reflects the concepts of criticality or critical pedagogy (cf., e.g., Davies 2015) was not included. The literature was studied from a science edu- cation perspective (Rafolt 2021) and relates to scientific principles, such as rationalism and scientific reasoning. However, it also includes personal (subjective) characteristics that critical thinkers are aware of. The SMCT (Fig. 1) visualises ideal-typical CT as a complex interplay of interconnected elements, which cannot be clearly distinguished from one another and do not necessarily build on one another: intellectual standards; knowledge and experience; dispositions, motivation and attitudes; norms, values and emotions; skills; and self-regulation. Critical Thinking in Teacher Education Matters to Face Ecological Crises 227 Fig. 1: The Synergy Model of Critical Thinking (Rafolt 2021, p. 80) The SMCT shows that critical thinkers engage with an object or subject, such as a problem or an assertion. This results in an individual, changeable, and possibly only temporary positioning (e.g., a standpoint, a decision, actions). Critical thinkers rely on knowledge and experience (Ennis 2018). They develop and use relevant skills, for example, by/when researching (synthesis), defining (determination), arguing (discus- sion), judging (evaluation), and drawing conclusions (interpretation) (Facione 1990; Halpern 2014; Paul/Elder 2014). CT dispositions ensure that critical thinkers are mo- tivated and live a certain attitude. For example, they strive for knowledge, rationality, expertise and truth and are open, courageous, creative, curious, responsible, self-con- fident, modest, and frustration-tolerant (Bailin et al. 1999; Ennis 2018; Halpern 2014; Kuhn 1999; Paul/Elder 2014). Critical thinkers also are aware of their own and others values and emotions and deal with individual and societal norms. Moreover, they un- derstand the values of CT, which are reflected in CT dispositions, intellectual standards and self-regulation (see below), and that CT is a value in itself (Bailin et al. 1999). It is important to understand that CT is goal-oriented and criteria-based. Intellectual stan- dards (correctness, clarity and precision, relevance and significance, autonomy, fairness and neutrality, logic and rationality, and breadth and depth) (Paul/Elder 2014) and self- regulation (e.g., Facione 1990; Kuhn 1999; Lipman 1988) guide the involvement with an object or subject and affect all other elements, including the position that is taken. In the course of self-regulation, critical thinkers engage in empathy, perspective taking and self-reflection, recognise mistakes and shortcomings, and adapt their thought patterns, attitudes, and actions. 228 Susanne Rafolt & Suzanne Kapelari The SMCT as a framework to discuss media-effective ecological crises Hereinafter, the elements norms, values and emotions, dispositions, knowledge, and self-regulation (in the context of knowledge as well as dispositions) are discussed as examples to show what (future) teachers and students should pay attention to when promoting CT while engaging with media content on ecological crises. Norms, values and emotions Teachers need to explain that critical thinkers research, organise, question, and discuss norms, values, and emotions. Students do not only need to understand the meaning of these norms, values, and emotions but also how they interact in science and in society (Lipman 1988; Paul/Elder 2014). Especially with regard to ecological crises, emotions play an important role (Hufnagel 2022; Neckel/Hasenfratz 2021). Görg (2011) states, “the gap between the societal capacity to transform the natural environ- ment and the lack of capacity to control our impact on that environment – and the repercussions of that lack for societies – is one of the major contradictions of contemporary societies” (p. 43). This tension between helplessness and dependence as well as the will and power to shape and use nature is one reason why ecological crises can trigger strong emotions (cf. Neckel/Hasenfratz 2021). The way in which traditional or popular media and so- cial media present sustainability and environmental protection issues reflects the pola- risation of society on ecological crises. Mass media use “apocalyptic language” und refer to “threats to human wellbeing” posed by ecological crises (Case et al. 2015, p. 397). This shows that alarm calls from the scientific community are taken seriously and communicated by the mass media. In order to develop CT, teachers could ask their stu- dents to discuss the effects of this apocalyptic language on people’s behavior and how strong emotions might impact peoples’ positioning in the context of ecological crises. For instance, they could discuss whether using such language could also lead people to turn away from the challenges associated with ecological crises. Moreover, teachers should support students to reflect on how values and emotions might influence their own position and that of others (Paul/Elder 2014). For example, when students learn about the importance of nutrition in the context of ecological crises and explore why insects do not play a greater role as food sources, they could discuss why the idea of eating insects triggers disgust in some people, even though they rationally understand that doing so would be healthy and conserve resources (cf. Kornher et al. 2019). Furthermo- Critical Thinking in Teacher Education Matters to Face Ecological Crises 229 re, students could discuss how norms regulate social coexistence (e.g., animal rights) and the scientific genesis of knowledge (e.g., traceability; see Nature of Science, e.g., Lederman/Lederman 2019). For example, they could explore local, regional, and global norms that are intended to regulate climate-friendly and climate-damaging behaviour, discuss on what values these norms are based and reflect on what emotions these norms might evoke in different people. Dispositions and self-regulation Teachers and learners should understand that they cannot examine complex issues in the context of ecological crises with a quick Internet search. Instead, they need to expe- rience that CT is not easy and requires a deep commitment to develop a well-founded position. This can be exhausting or frustrating. Ideal-typical critical thinkers seek to think and act in a truth- and goal-oriented way; they strive persistently for information that is differentiated, well-founded, rational as well as reason-based; and they want to gain expertise to offer a knowledge-based solution to a given problem (Paul/Elder 2014; Facione 1990; Halpern 2014). When students negotiate media content on ecological crises, they should be made “aware that media texts embody certain political and ideo- logical positions and have political effects“ (Kellner 1995, as cited in Carvalho 2007, p. 240). When students analyse social media content, they could discuss what attitudes the person who wrote the post might hold or what interests he or she might pursue. However, it can be difficult to fathom attitudes or interests of individuals who spread information on social media, especially if they remain anonymous. In general, develo- ping CT dispositions and analysing possible dispositions of others are big tasks for both students and teachers. We therefore believe that one goal should be to sensitize students to ask themselves consistently what motivation and attitude they have towards a subject or an object and to what extent this influences how they deal with the topic (see self-re- gulation). Likewise, students should be instructed to deal seriously with others and in doing so, change their perspectives and show empathy. In order to promote perspective taking and empathy, students could discuss how people differ in their attitudes towards ecological crises, such as climate change, as identified by Kuthe and colleagues (2019). For example, while the Paralyzed do not act in a climate-friendly manner because they feel very uneasy and helpless, the Uninvolved do so because of a lack of interest and/or ignorance (Kuthe et al. 2019, pp. 176-177). Students could reflect on whether they find themselves or people with whom they interact (or whose claims they are analysing) in one of these groups and discuss group dynamics, possible underlying values, and moti- vational aspects and how these can affect individual perceptions. 230 Susanne Rafolt & Suzanne Kapelari Knowledge and self-regulation Social media, including Twitter, Instagram, Facebook, and YouTube, are the primary source of information for people, especially for young people (Fergie et al. 2015; Leder- man/Lederman 2016). Therefore, students need to understand that current media de- velopment requires them more than ever to think critically (Jahn/Kenner 2018; Mache- te/Turpin 2020; Polizzi 2020; Puig et al. 2021). In this process, teachers are responsible to support students by selecting suitable sources and subject content, moderating discus- sions, evaluating student statements and actions, and giving feedback (Lorencová et al. 2019). However, students should not be given the impression that they should distrust all media. Both traditional media and social media provide platforms for all citizens, inclu- ding scientists and activists, to reach a large audience and share knowledge and opinions with others (Carvalho 2007; Chapman/Greenhow 2019; Höttecke/Allchin 2020; Pearce et al. 2015; Polizzi 2020). However, students should negotiate how social media reinfor- ce political polarisation (Höttecke/Allchin 2020; Jahn/Kenner 2018; Yarchi et al. 2021) and help misinformation and conspiracy theories to reach a wide audience (Jahn/Kenner 2018; Puig et al. 2021; Sharon/Baram-Tsabari 2020). Moreover, students could discuss possible intentions and goals of different media. Respectable media and journalists use and communicate evidence-based information. They do not obtain information from any scientist or give equal space to all opinions or explanations, regardless of whether this information or these opinions and explanations are justified or not, but they reflect the scientific consensus (cf. Nichols 2017). Students need to understand that there is no authority or generally accepted quality assurance process that could act as a gatekeeper to false or misleading information which is disseminated in social media (Höttecke/ Allchin 2020; Polizzi 2020). However, regardless of whether scientists use social media to spread information or reputable media to explain the scientific consensus, simplifica- tions are usually required to make the causes of certain phenomena, possible consequen- ces, and recommendations for action accessible to citizens (Carvalho 2007). Students should reflect on how simplifications of complex and unpredictable environmental and health issues (cf. Zeyer 2021) carry the risk of consciously or unconsciously multiply- ing misunderstandings and misinformation. Students should understand that ideal-typi- cal critical thinkers determine their own level of knowledge and that of people with whom they interact or from whom they obtain information. In doing so, critical thinkers check the origin and significance of the information and are experienced in dealing with sources and argumentation strategies (cf. Jiménez-Aleixandre/Puig 2012). For example, climate change deniers claim that global warming is not real, human behaviour is not responsible for it, the warming is not as bad as portrayed, the vast majority of climate scientists cannot be trusted, and alterations to stop global warming do not work (any longer) (Cook 2020). False claims like these can be disproved by scientific evidence Critical Thinking in Teacher Education Matters to Face Ecological Crises 231 and scientific consensus (Jiménez-Aleixandre/Puig 2012). Especially in the context of social media, it is important to support students to classify and evaluate discussions, claims and individual experiences or perceptions in the light of the scientific consensus. In order to be able to do all of this, teachers and students must understand the principles of reaching a scientific consensus, which includes academic dissent, and how scien- tists work (Schmaltz et al. 2017; Yacoubian 2015). Moreover, they need to understand that critical thinkers constantly ask themselves whether they know enough and whether their information is coherent with the scientific consensus, but also that they accept the fact that the level of knowledge might expand or facts might change and reflect on their own shortcomings (see above, self-regulation) (Kuhn 1999; Kuhn/Modrek 2021). Students could explore how scientific journals and other media present information and how techniques of science denial (cf. Cook 2020) are applied on these media. Teachers should explain that they cannot find true factual structures, but examine individual ways of presenting scientific content on complex issues, such as ecological crises, which are based on a consensus of a scientific community. This insight can be confusing or even disturbing. Students should understand that in order to be able to deal with this situation in everyday life, a lay person must be able to rely on certain sources. Otherwise, every piece of information has to be checked. This process requires in-depth knowledge on a variety of topics and highly developed skills. Therefore, educators and learners need to understand that they can only practise CT within certain limits. They should be made aware that they do not have the resources (e.g., time, knowledge, skills, access to data) to cover all topics in depth and breadth, check all the information for correctness, pene- trate every phenomenon in its causes and implications or analyse all proposed solutions to their last consequences. Especially in the context of everyday classroom learning and teaching, it seems important to us that teachers and students alike experience to trust certain institutions and their ways of gaining knowledge (cf. Winch 2003). Laypeople do not necessarily need to question and test established knowledge, such as the fact that an increased atmospheric concentration of carbon dioxide leads to a rise in temperatu- res on earth and acidification of the oceans (cf. Owens et al. 2021). However, teachers should provide students with evidence-based and trustworthy sources of information. On the subject of climate change, for example, they can find several offers that provide relevant information and facts in a clear and concise manner (cf. Climate Change Centre AUSTRIA 2022). Teachers need to explain that discussions in which only little know- ledge of the facts is negotiated are irrelevant and counterproductive. Moreover, as di- scussed above, student should address the role of emotions, values, norms, attitudes and interests. In this context, students need to understand that a person does not achieve this goal simply by expressing his or her opinion. Otherwise they might think that everyone who expresses his or her opinion thinks critically, regardless of the knowledge base on which it is formed. When analysing a social media claim, students could discuss its 232 Susanne Rafolt & Suzanne Kapelari relevance and possible impact. They could reflect on why some contributions are more valuable than others in the discourse on ecological crises and why this judgment has nothing to do with restricting people from expressing their opinions. Teachers should help students to classify criticisms expressed by different scientists in the context of a scientific discourse in terms of their relevance for the formation of a scientific consen- sus. For example, if a scientist comments on an issue although it is not his or her area of expertise, this contribution is not as relevant as contributions from scientists who have been studying and researching this issue for years. Students should also reflect on why criticisms made by laypeople (e.g. journalists, politicians, experts in other disciplines) do not have the same relevance and scope. Individual citizens, societies and political de- cision-makers do not always bear the same responsibility (Malmberg/Urbas 2019) and laypeople do not have the same sovereignty of interpretation as, for example, climate scientists (cf. Nichols 2017). The SMCT as a starting point to reflect on and discuss perceptions of critical thinking For any support measures to be effective, educators and learners need a context-specific, clear and holistic understanding of CT. In addition, teachers and their students need a shared understanding of CT to observe and articulate learning progress explicitly and use the term CT judiciously. Due to the complex and culturally conditioned nature of the construct CT, however, it can be interpreted differently and sometimes assigned to diametrically opposed thought and decision-making processes (Rafolt et al. 2019; Jahn 2013). When promoting CT, educators and learners should not follow their gut feeling as to what CT means, but resort to well-founded theoretical concepts in order to gain a holistic understanding of CT. The SMCT (Fig. 1) can help to talk to each other about ideas or concepts and to think about their deeper meaning together. The SMCT therefore serves to sharpen one’s own ideas of CT and to counteract an undifferentiated unders- tanding. The latter is demonstrated, for example, when rejecting well-founded informa- tion just to position oneself against the mainstream opinion, taking a stand against the scientific consensus or simply questioning facts is equated with CT. Such an understan- ding neglects the complexities of thought involved in CT. When conflicting ideas about CT collide or the goals and usefulness of CT itself are questioned (cf. Hoy 2004), the SMCT can provide a framework for discussing the importance of individual aspects of CT and how they interact with each other. It does not provide a final definition of CT, but it is a way to show what processes CT includes and how challenging it is. Critical Thinking in Teacher Education Matters to Face Ecological Crises 233 Conclusion Teachers need support on how to promote their students’ CT especially when negotia- ting ecological crises with their students. The SMCT could be used in teacher education to practice CT in the context of ecological crises, for example, by discussing informa- tion provided in different (social) media, including diametrically opposed statements made by individual scientists, fake news and conspiracy theories. Norms, values, and emotions play an important role in negotiating ecological crises (cf. Hufnagel 2022; Neckel/Hasenfratz 2021). However, these aspects are not addressed adequately in most of the existing CT explanations (Lombard et al. 2020; Thayer-Bacon 2000). The SMCT provides a framework for teachers and students to engage with norms, values, and emo- tions, as well as dispositions, knowledge, skills, and self-regulatory aspects that are essential to CT. In addition, (future) teachers could use the SMCT to reflect on their understanding and perceptions of CT. This is essential for teachers to act as role models, provide their students with feedback and, thus, support their students in developing CT (Ab Kadir 2017; Facione 1990; Lorencová et al. 2019). References Ab Kadir, M. Akshir (2017): What teacher knowledge matters in effectively developing critical thinkers in the 21st century curriculum? Thinking Skills and Creativity, 23, pp. 79–90. Bailin, Sharon; Case, Roland; Coombs, Jerrold R. & Daniels, Leroi B. (1999): Conceptuali- zing critical thinking. Journal of Curriculum Studies, 31 (3), pp. 285–302. Carvalho, Anabela (2007): Ideological cultures and media discourses on scientific know- ledge: Re-reading news on climate change. 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Den Wenigsten sind dabei die sozio-ökologischen Implikationen der Digitalität bewusst: Rohstoffabbau, Produk- tionsprozesse unter arbeitsrechtlich problematischen Umständen, CO2-Emmissionen durch Energieaufkommen und Recycling oder die Entsorgung digitaler Geräte haben weitreichende Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Die thematische Verbindung von Nachhaltigkeit und Digitalität wird zunehmend auch in unterschiedlichen Bildungskontexten aufgegriffen. Der vorliegende Beitrag gibt Einblicke in zwei deutschsprachige Lehr-/Lernmaterialien für die Pri- marstufe, die ökologische Nachhaltigkeit entlang des Lebenszyklus von Smartphones themati- sieren. Die Analyse der Materialien erfolgt unter Berücksichtigung didaktischer Überlegungen der Medienpädagogik und einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Einleitung Die Digitalität, also die weitreichende „Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter“ (Stalder 2016, S. 17) prägt unser Leben, unser In-der-Welt-Sein und unser Beziehungsverhältnis zur Umwelt. Dabei ist insbesondere das Smartphone zu einem steten Begleiter geworden. Das Erler- nen eines kritisch-reflexiven Umgangs mit digitalen Medien wird auch im schulischen Bereich immer stärker verankert, wie sich etwa am Lehrplanentwurf des ab dem Schul- jahr 2022/23 in Österreich in der Sekundarstufe I eingeführten Pflichtgegenstandes Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 240 Silja Topfstedt, Katja Schirmer, Nina Grünberger & Klaus Himpsl-Gutermann „Digitale Grundbildung“ zeigt, in dessen Mittelpunkt die Entwicklung von Kompeten- zen steht, „um digitale Artefakte zu erkunden, kritisch zu hinterfragen, verantwortungs- voll zu nutzen und zu gestalten“ (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2022, S. 3). Die Frage des Einsatzes digitaler Medien in der Schule wird ebenso häufig diskutiert wie die Frage nach notwendigen Literacies oder Skills. Weni- ger häufig findet sich eine Auseinandersetzung mit Fragen sozio-ökologischer Implika- tionen der Digitalität: Aufgrund des hohen Energie- und Ressourcenaufkommens durch digitale Technologien (vgl. Lange et al. 2020) hat die Digitalität gravierende negative Auswirkungen für Mensch und Umwelt. Unter den aktuell gegebenen Bedingungen sind der Rohstoffabbau, die Produktionsbedingungen und die Entsorgung digitaler Ge- räte weder umweltgerecht noch nachhaltig. Dabei wird vielfach eine vertiefende Aus- einandersetzung bezüglich der Verknüpfung von Digitalisierung mit Nachhaltigkeit und umweltbewusstem Handeln in gesellschaftlichen und bildungspolitischen Diskursen eingemahnt (als Überblick dazu siehe Demmler/Schorb 2021). Soll Schule diese The- men auch in der Praxis aufgreifen, stellt sie dies vor eine Herausforderung (Zobl 2020, S. 2–3). Noch fehlt es in der pädagogischen Praxis an einer systematischen Themati- sierung des Nachhaltigkeitsaspektes in Verbindung mit Fragen der Medienpädagogik und der Informatischen Grundbildung (Barberi et al. 2020, S. 2). Zudem erfordert das eine intensivere „interdisziplinäre Vernetzung [der Schul- und Medienpädagogik] mit didaktischen Konzepten wie der ‚Bildung für nachhaltige Entwicklung‘“ (ebd.). Eine solche enge Vernetzung und eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Frage der Umsetzung in der Schule braucht es insbesondere hinsichtlich zweier miteinander ver- bundener Gesichtspunkte: Einerseits, weil sich gegenwärtig eine Hochkonjunktur in der Nachhaltigkeitsdebatte zeigt, die Gefahr laufen könnten eher einem „Greenwashing“ und einer Feigenblatt-Diskussion zu dienen, als tatsächlich nachhaltige Transformation zu evozieren. Und andererseits, weil eine Übersetzung von Nachhaltigkeitsanliegen bei weitem nicht bei der Entwicklung und „Implementierung“ von Lehr-Lernmaterialien in der Schule stehen bleiben kann, sondern Schule und Unterricht etwa auf Ebene der Be- deutung von Inhalt, Leistungsüberprüfung oder dem Rollenverständnis von Lehrenden und Lernenden diskussionswürdig wird. Viele Nutzende digitaler Medien sind sich weder der Ausmaße ihres ökologischen Fuß- abdrucks (vgl. Gröger 2020) noch der Notwendigkeit einer nachhaltig(er) gestalteten Digitalisierung bewusst. 2019 veröffentlichte der Wissenschaftliche Beirat der Bundes- regierung Globale Umweltveränderungen in Deutschland, kurz WBGU, das Gutachten „Unsere gemeinsame digitale Zukunft“, das ein umfassendes Konzept für eine digita- lisierte Nachhaltigkeitsgesellschaft darstellt und auf die vielfachen Implikationen auf- merksam macht, die die Digitalisierung quer durch alle Lebensbereiche nach sich zieht (vgl. WBGU 2019). Dass es ökologischer Handlungsalternativen bedarf, reflektieren inzwischen auch viele Jugendliche, insbesondere mit Fokus auf die Smartphone-Nut- Digitalität, Nachhaltigkeit und Bildung. Analyse zweier didaktischer Angebote 241 zung (Buchegger/Summereder 2020, S. 2-3). Als Unterstützung dieser Reflexionsbe- reitschaft sind für die Altersgruppe der 10- bis 18-Jährigen in den letzten Jahren bereits eine Vielzahl an Unterrichtsmaterialien zu den Themen Digitalität und Nachhaltigkeit entstanden (einen guten Überblick bietet Demmler/Schorb 2021). Für die Primarstufe oder die Elementarpädagogik sind die Angebote hingegen rar. Ebenso fehlt bislang eine systematisch-analytische Zusammenschau der aktuell vorhandenen Materialien. Der vorliegende Beitrag stellt hier einen ersten Schritt dar. Dabei werden zwei Lehr- Lernmaterial-Angebote genauer analysiert. Das ist zum Ersten das Arbeitsbuch „Was hat mein Smartphone mit Umweltschutz zu tun?“ (vgl. Döbrentey-Hawlik et al. 2021), welches vom Zentrum für Lerntechnologie und Innovation (ZLI) der Pädagogischen Hochschule Wien in einem partizipativen Prozess mit Schüler:innen, Lehrkräften und weiteren Partnerinstitutionen im Rahmen des Projektes „ÖHA!“ erstellt wurde (vgl. Grünberger et al. 2021). Auf der zugehörigen Webseite finden sich zahlreiche ergänzen- de multimediale Materialien wie die ÖHA!-App, das Arbeitsbuch für die Sekundarstufe 1, AR-Elemente, übergreifende Materialien, das Lehrendenhandbuch sowie Lösungs- hefte (vgl. ÖHA! Ein Mit-Mach-Projekt der PH Wien, 2021). Zum Zweiten wird das Arbeitsmaterial „Ein Handy auf Reise“ als Bildungsangebot des deutschen Bundes- umweltministeriums (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit 2020a) analysiert. Dieser Analyse ist eine Einführung in die Themen (institutionelle) Bildung, Digitalität und Nachhaltigkeit vorangestellt. Betont sei an dieser Stelle, dass der Analysefokus auf das Design, den Aufbau und die Inhalte der Lehr-Lernmaterialien gelegt wird und somit eine empirische Erforschung des Einsatzes der Materialien in der unterrichtlichen Pra- xis sowie etwaige kurz-, mittel- und langfristige Lern- und Bildungserfolge auf Seiten der Lernenden noch aussteht. Digitale Grundbildung und Medienbildung in der Schule Digitale Medien werden in Bildungskontexten einerseits als Werkzeuge des Lehrens und Lernens eingesetzt und stehen andererseits als Lerninhalt im Zentrum des unter- richtlichen Geschehens. Schule und Unterricht widmen sich also in unterschiedlicher Weise digitalen Medien: Bildung über, in, mit, an Hand, durch, wegen, trotz (?) Medien (Döbeli Honegger 2017). Lernende setzen sich mit Technik und Geräten auseinander und erwerben entsprechende Fähigkeiten und damit wesentliche Kompetenzen für ein Leben in der Digitalität. Dies zeigt sich etwa auch an den Lerninhalten des Faches Sach- unterricht im Primarstufenbereich: Im österreichischen Lehrplan zum Gegenstand Sach- unterricht ist festgehalten, Primarstufenschüler:innen „fachspezifische Arbeitstechniken zu vermitteln und [sie] zu sachgerechtem und verantwortungsbewusstem Umgang mit 242 Silja Topfstedt, Katja Schirmer, Nina Grünberger & Klaus Himpsl-Gutermann Stoffen und technischen Geräten anzuleiten“ (Bundesministerium für Bildung, Wissen- schaft und Forschung 2012a, S. 86). Die Verwendung technischer Devices, damit ver- bundene mögliche Gefahren im Umgang, ein verantwortungsvoller Gebrauch (2012a, S. 90) und umweltgerechtes Handeln in Bezug auf Beseitigung und Recycling be- stimmter Stoffe (2012a, S. 101-102) sollen im Unterricht thematisiert werden. Auch im Deutschlehrplan für die deutschen Bundesländer Berlin und Brandenburg ist postuliert, dass die Schüler:innen sich mit ihrer technisierten Umwelt kritisch auseinandersetzen. Durch Demontage, Analyse und Bau technischer Geräte sowie Kommunikation, Arbeit und Programmierung von und mit (digitalen) Medien soll technische und informatische Grundbildung sowie Medienbildung schon ab der ersten Schulstufe sichergestellt wer- den (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie 2017, S. 25-26). Auch digitale und informatische Grundbildung sowie Medienerziehung sind in Öster- reich und Deutschland schon seit vielen Jahren in den Lehrplänen formuliert. In Öster- reich ist es der aktualisierte Grundsatzerlass Medienerziehung (vgl. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2012b), welcher die Grundlage für die Er- reichung der Ziele schulischer Medienbildung darstellen soll. In Deutschland ist die Grundlage all dieser Bemühungen die KMK-Strategie „Bildung in einer digital ver- netzten Welt“ (vgl. Kultusministerkonferenz 2016). Die Aneignung einer umfassenden Medienbildung steht dabei jeweils im Vordergrund. Eine weitere Verbindlichkeit für die praktische Umsetzung der Vorgaben für Digitale Grundbildung, einer „Schlüsselqua- lifikation für die Teilhabe an der modernen Gesellschaft“ (vgl. Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort 2020), verleihen die digi.komp-Kompetenzmo- delle in den Schulstufen 4, 8, 12 und P für Pädagog:innen (vgl. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2005, vgl. auch Carretero et al. 2017). Ihr Ziel ist es, ab der ersten Schulstufe einen Aufbau digitaler Kompetenzen vorstellbar, vermittel- bar und umsetzbar zu machen. Der Katalog „Bildung in der digitalen Welt“ der Kulturministerkonferenz in Deutsch- land gilt häufig als Referenzpunkt und basiert selbst auf mehreren Kompetenzrahmen (Brandhofer/Wiesner 2018, S. 8). Er betont die Notwendigkeit, „das Lernen mit und über digitale[n] Medien und Werkzeuge[n] bereits in den Schulen der Primarstufe [zu] beginnen“ (ebd., S. 11). Dass Schule „die Erscheinungsformen der Digitalisierung unter verschiedenen Perspektiven“ noch stärker in den Blick nehmen muss, drückt sich auch in der eindringlich formulierten Dagstuhl-Erklärung (Gesellschaft für Informatik e.V. 2016) und dessen Weiterentwicklung im Frankfurter-Dreieck (Gesellschaft für Informa- tik e.V. 2019) aus: In allen Unterrichtsfächern müsse digitale Bildung integriert und aus technologischer, gesellschaftlicher, kultureller und anwendungsbezogener Perspektive betrachtet werden, um Schüler:innen zu einem selbstbestimmten, kritisch-reflexiven Umgang mit digitalen Geräten zu befähigen (ebd., S. 2). Digitalität, Nachhaltigkeit und Bildung. Analyse zweier didaktischer Angebote 243 Nachhaltigkeit und Digitalität In den letzten Jahren werden vermehrt Stimmen lauter, die einen schädlichen Einfluss der Digitalität auf die Umwelt dokumentieren (vgl. Saferinternet.at, S. 6). Auch der be- reits erwähnte WBGU „betrachtet das Thema Digitalisierung aus einer Nachhaltigkeits- perspektive, die sich explizit auf das Fundament einer kritisch reflektierten Aufklärung und die Achtung der Menschenwürde bezieht“ (WBGU 2019, S. 31), und sieht einen „Megatrend“ (ebd. , S. 31), den es zu steuern gelte. Bezogen auf den Brundtland-Bericht Our Common Future (1987) veröffentlichte der WBGU 2019 mit „Unsere gemeinsame digitale Zukunft“ schließlich eine Skizzierung der digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft und wies unter anderem auf die Notwen- digkeit von Rahmenbedingungen für nachhaltige Digitalisierungsprozesse hin. Es feh- le weltweit noch an Mechanismen, die das Thema Digitalisierung und Nachhaltigkeit zusammenhängend und systematisch aufbereiten (ebd., S. 339). Der Bildungspolitik komme jedenfalls die bedeutsame Aufgabe zu, den Erwerb von „Fähigkeiten der so- zialen Interaktion, Empathie, Kreativität und eine schnelle Auffassungs- bzw. Anpas- sungsfähigkeit [zu ermöglichen...], weniger jedoch die Vermittlung von Detailwissen“ (ebd., S. 425). Hierfür müsse der Fokus verstärkt auf einer Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte liegen und dass diese digitale Lehr-/Lernmittel in Form von Open Educatio- nal Resources (OER), digitalen Zeitschriften und Lernplattformen in ihren Unterricht integrieren und didaktisch verwenden können (ebd., S. 244). Der Zusammenhang von Digitalisierung und nachhaltiger Entwicklung steht auch im Zentrum des Aktionsplans „Natürlich. Digital. Nachhaltig“ des deutschen Bundesmi- nisteriums für Bildung und Forschung (2019). Geschaffen werden sollen die Grund- lagen für nachhaltige digitale Innovationen, digitale Technologien sollen nachhaltiger gemacht und digitale Innovationen entwickelt und angewendet werden, um die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDGs) zu erreichen (ebd., S. 3). In jener 2015 verabschiedeten Agenda verpflichteten sich die Mitgliedstaaten im Kern für die Arbeit an 17 nachhal- tigen Entwicklungszielen bis zum Jahr 2030 (vgl. United Nations Development Pro- gramme 2019). Für die Erreichung jener Ziele gilt die Bildung für nachhaltige Entwick- lung als Schlüsselinstrument und zeichnet sich durch ihre allgemeine Relevanz für alle Lernenden, eine Lernendenaktivierung sowie ihre Anregung zu reflexiven, kritischen Denkprozessen aus. Das Ziel ist kurzum die Absicht, verantwortungsvolle Nachhaltig- keitsbürger:innen heranwachsen zu lassen (Rieckmann 2018, S. 6 ff.). Dafür braucht es Bildungsprozesse, deren Didaktik sich durch Handlungsorientierung und Transforma- tion auszeichnet (Rieckmann 2021, S. 12). Wie dies in der Primarstufe anhand von ausgewählten Lehr-/Lernmaterialien umgesetzt werden kann, wird im Folgenden dargelegt. 244 Silja Topfstedt, Katja Schirmer, Nina Grünberger & Klaus Himpsl-Gutermann Analyse von Lernmaterialien zu Nachhaltigkeit und Digitalität Im Zuge einer Bachelorarbeit (vgl. Topfstedt 2022) an der Pädagogischen Hochschule Wien wurden zwei Lehr-/Lernmaterialien zu Nachhaltigkeit und Digitalität analysiert, deren Methodik und Ergebnisse im Folgenden in einer verkürzten Fassung wiederge- geben werden. Forschungsmethodik bei der Analyse Für die Analyse wurde zu den Themen Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Bildung und ihren Kausalitäten sowie allgemeinen Gestaltungskriterien für Schulbücher und Ar- beitsblätter ein dreiteiliger Kriterienkatalog deduktiv abgeleitet (ebd., S. 14), der mit einer an Mayring angelehnten Methode einer qualitativ orientierten Textanalyse ein- gesetzt wurde (Mayring/Fenzl 2019, S. 633). Die drei Kriterienbereiche lauten Inhalt und Aktualität des Themas, Lernprozess und Aufbereitung sowie Layout, Struktur und Textgestaltung. Analyse des Materials „Was hat mein Smartphone mit Umweltschutz zu tun?“ Den im Rahmen des Projekts „ÖHA!“ an der Pädagogischen Hochschule Wien erstell- ten Lehr-/Lernmaterialien für die Primarstufe und Sekundarstufe 1 (vgl. Döbrentey- Hawlik et al. 2021) wurde 2021 die Comenius EduMedia-Medaille verliehen, da sie sich als digitale Bildungsmedien durch herausragende pädagogische Inhalte und Ge- staltung auszeichnen (vgl. Gesellschaft für Pädagogik, Information und Medien e. V. (GPI) 2021). In einem partizipativen Prozess von Projektbeteiligten aus Hochschule, Schule und weiteren Projektinstitutionen sind vielfältige Materialien entstanden. Im Mittelpunkt steht ein Arbeitsbuch für die Volksschule, welches darauf abzielt, bei Kin- dern der Primarstufe ein Verständnis für die „Entwicklung, Herstellung, Verwendung und Entsorgung“ (Döbrentey-Hawlik et al. 2021, S. 6) des Smartphones zu entfalten und ihnen den Zusammenhang dieser Themen mit Klima und Umwelt zu verdeutli- chen (vgl. ebd., S. 6). In den fünf Kapiteln Technologieentwicklung, Rohstoffgewin- nung, Herstellung, Mediennutzung sowie Entsorgung und Recycling deckt es inhaltlich mehrere Bereiche des Lehrplans Sachunterricht der Volksschule ab. So werden etwa der Erfahrungs- und Lernbereich (kurz: ELB) Wirtschaft durch die Thematisierung der Rohstoffgewinnung (S. 20) oder auch der ELB Natur durch die Erklärung des Roh- stoffbegriffs (S. 21) berührt. Integrierte QR-Codes leiten zu ergänzenden Inhalten im Videoformat oder zu Augmented-Reality-Elementen über (S. 53). Die Verwendung au- Digitalität, Nachhaltigkeit und Bildung. Analyse zweier didaktischer Angebote 245 diovisueller Unterrichtsmittel entspricht sowohl dem Grundsatzerlass Medienerziehung (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2012b, S. 5), als auch dem Kompetenzmodell digi.komp4 (vgl. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2016). Außerdem nimmt das unter einer Creative-Commons-Lizenz CC0 (Public Domain) ste- hende ÖHA!-Arbeitsbuch Bezug auf Strategiepapiere wie „Unsere gemeinsame digitale Zukunft“ des WBGU und dessen Handlungsempfehlung, „angesichts der in vielen Be- reichen exponentiell steigenden Nutzungen digitaler Technologien und Anwendungen, die auch immer mehr Bereiche des Alltags umfassen, [...] [der] Eingrenzung des je- weiligen ökologischen Fußabdrucks eine hohe Priorität [einzuräumen]“ (WBGU 2019, S. 195). So wird auf mehreren Arbeitsblättern der Begriff des ‚ökologischen Fußabdrucks‘ und die Bedeutung von tatsächlichen und idealen CO2-Emissionen eines jeden Menschen pro Jahr erläutert (vgl. Döbrentey-Hawlik et al. 2021, S. 42 ff.). Mit dem Arbeitsblatt 0.2 (S. 8) wird an die Lebenswelt der Schüler:innen angeknüpft, indem diese zum Nach- denken darüber angeregt werden, wie viele digitale Geräte von ihnen verwendet und wofür diese konkret genutzt werden. Auf Arbeitsblatt 4.1 werden die Schüler:innen auf- gefordert, zur Reflexion der eigenen Nutzung digitaler Geräte ein Medientagebuch zu führen (S. 39). Bezüglich des Lernprozesses zeichnet sich das ÖHA!-Arbeitsbuch durch seine sinnvol- le Komplexitätsreduzierung und seine Einbettung in den Bereich Bildung für nachhalti- ge Entwicklung aus. Mittels eines Brainstormings zu den fünf Stufen des Lebenszyklus eines Handys wird zunächst an das Vorwissen der Lernenden angeknüpft (Arbeitsblatt 0.1, S. 7). Ihre Erfahrungen stehen im Zentrum: So werden sie etwa dazu ermuntert, über das Wunschhandy nachzudenken (S. 16) oder die Menge an Rohstoffen in einem Smartphone zu schätzen (S. 22). Weiters werden die Schüler:innen immer wieder dazu aufgefordert, mit ihren Mitschüler:innen über die Themen Digitalität und Umweltschutz zu diskutieren (S. 32) und, auch über den Klassenverband hinaus, mit ihren Eltern und Lehrende in einen diskursiven Austausch zu treten. Der Lernprozess ist stets ganzheitlich, entweder durch Brainstorming oder einleitende Fragen: Wie hat man vor dem Handy telefoniert (S. 10)? Was ist den Schüler:innen in Bezug auf Kinderarbeit bekannt (S. 20)? In Kapitel 4 (Mediennutzung) soll im Internet nach dem ökologischen Fußabdruck unterschiedlicher Länder recherchiert, das Ergeb- nis in gezeichnete Füße geschrieben und auf ein Arbeitsblatt geklebt werden (S. 44). Einige der Aufgaben sind differenziert gestellt und berücksichtigen heterogene Lern- stände. So haben die Schüler:innen die Wahl, ihr Wunschhandy zu zeichnen oder es zu beschreiben (S. 16), bei der Beschriftung einer Weltkarte können Atlas oder Internet zu Hilfe genommen werden (S. 33) und der Lösungsweg, um herauszufinden, woraus die Einzelteile Display, Leiterplatine, Akku, Mikrofon und Lautsprecher bestehen könnten, 246 Silja Topfstedt, Katja Schirmer, Nina Grünberger & Klaus Himpsl-Gutermann ist offen (S. 36). Auch auf dem Arbeitsblatt „AR Element – Mediennutzung und Strom- verbrauch“ sind die Schüler:innen aufgefordert zu eruieren, wo sich die Daten während des Streamings befinden könnten (S. 46), und es gibt keine feste Vorgabe dafür, wie sie zu einer Lösung gelangen. Diverse Arbeitsblätter regen im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) dazu an, zu reflektieren und Sachverhalte kritisch zu hinterfragen: In welche Richtung könnte sich das Smartphone in der Zukunft weiterentwickeln und wie kann das Thema Umweltschutz miteinbezogen werden (S. 10)? Welche Apps verwenden sie selbst gerne (S. 16)? Welche Fragen haben die Schüler:innen zur Rohstoffgewinnung (S. 27)? Vor- und Nachteile verschiedener Handymarken sollen überlegt (S. 35) und die Zusammensetzung des eigenen ökologischen Fußabdruckes hinterfragt werden (S. 43). In Bezug auf Layout, Struktur und Textgestaltung des ÖHA!-Arbeitsbuches ist eine übersichtliche Strukturierung sowie eine gute Lesbarkeit gegeben. Die Arbeitsblätter sind sprachsensibel aufbereitet und abwechslungsreich gestaltet. Informationstexte wer- den mit Aufgaben kombiniert und Fachbegriffe erklärt. Die Arbeitsanweisungen sind eindeutig formuliert, außerdem ist für die Schüler:innen ausreichend Platz für das Auf- schreiben ihrer Gedanken vorgesehen. Analyse des Materials „Ein Handy auf Reise“ Das Material „Ein Handy auf Reise“ ist Teil des Wochenthemas „Smart! Aber fair?“ (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit 2020b) und in den ausgearbeiteten Unterrichtsvorschlag „Die abenteuerliche Reise eines Handys“ eingebettet. Es wurde im Februar 2020 von ‚Umwelt im Unterricht‘, dem Bildungsan- gebot des deutschen Bundesumweltministeriums, veröffentlicht und ist „am Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sowie am Orientierungsrahmen der Kultusministerkonferenz für den Lernbereich Globale Entwicklung“ (vgl. Schreiber et al. 2016) orientiert. Es umfasst die Arbeitsblätter „Ein Handy auf Reise: Von der Ent- stehung bis zur Entsorgung“ und „Ein Handy auf Reise: Einmal um die Welt“. Ein Download der Arbeitsblätter ist auf der Webseite möglich (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit 2020a). Auch bei diesem Lehr-/Lernmaterial setzen sich die Primarstufenschüler:innen inhalt- lich mit dem Lebenszyklus eines Handys auseinander: Woher stammen seine Rohstoffe, wo erfolgt die Herstellung und wo wird das Gerät später entsorgt (vgl. ebd.). Eine nach- vollziehbare Anknüpfung an Rahmenlehrpläne deutscher Bundesländer und die darin beschriebene technische Perspektive des Sachunterrichts ist vorhanden. Durch die The- matisierung von Herstellung und Produktion des digitalen Gerätes wird ein Bezug zu Arbeitswelt und Arbeitsstätten hergestellt (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend Digitalität, Nachhaltigkeit und Bildung. Analyse zweier didaktischer Angebote 247 und Familie 2017, S. 25). Außerdem erfolgt eine Betrachtung aus geographischer Per- spektive des Sachunterrichts: einerseits durch die Beschäftigung mit einer Weltkarte, durch welche die Lernenden „eine Vorstellung von Nähe und Ferne“ (ebd., S. 24) ent- wickeln und durch die Arbeit mit Kartenmaterial ihre Methodenkompetenz ausbauen (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit 2020c), an- dererseits, weil sich die Schüler:innen mit einem „nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen in Zusammenhang mit verschiedenen Lebenssituationen [...]“ (Senatsver- waltung für Bildung, Jugend und Familie 2017, S. 25) beschäftigen. Des Weiteren knüpft das Material an den Orientierungsrahmen für den Lernbereich glo- bale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (Schreiber et al. 2016, S. 115–116) und an die Strategie der deutschen Kultusministerkonferenz 2016 an: Die Schüler:innen setzen sich mit den „Auswirkungen der weiter voranschreitenden Digitalisierung [...] bei teilweise global vernetzten Produktions-, Liefer- und Dienstleis- tungsketten“ auseinander (Kultusministerkonferenz 2016, S. 9). Unter Creative- Com- mons-Lizenz stehend, entspricht Umwelt im Unterricht damit als freies Lern- und Lehr- material (OER) den Zielen offener Bildung. Die Informationen über die Gefahren des Rohstoffabbaus und schlechte Arbeitsbedin- gungen sind mit dem Hauptgutachten des WBGU „Unsere gemeinsame digitale Zu- kunft“ verbunden, das vor Umwelt- und Gesundheitsschäden durch Rohstoffextraktion in den Herkunftsländern warnt (WBGU 2019, S. 184). Das inhaltlich sinnvoll reduzierte Material bleibt an einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) orientiert, weil die Schüler:innen die gelernten Inhalte abschließend kritisch hinsichtlich sozialer Ge- rechtigkeit und Folgen für Mensch und Umwelt bewerten sowie Ideen entwickeln, wie Verbesserungen gelingen und vor allem welche verantwortungsvolle Rolle sie im Sinne der Nachhaltigkeit selbst einnehmen können (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Na- turschutz und nukleare Sicherheit 2020d). An ihr Vorwissen wird insofern angeknüpft, als dass die Arbeitsmaterialien Teil des bereits erwähnten Unterrichtsvorschlags „Die abenteuerliche Reise eines Handys“ und in das Wochenthema „Smart! Aber fair?“ integriert sind. Die Lernenden stehen im Zen- trum; sie werden zu kritischen Denkprozessen angeregt. Der Lernprozess ist aufgrund des geringeren Materialumfangs nicht so ganzheitlich möglich wie mit dem ÖHA-Ma- terial. Allerdings werden die Schüler:innen zu vielfältigen Unterrichtshandlungen auf- gefordert: Sie lesen, schneiden, sortieren, kleben, lesen sich gegenseitig vor (Arbeits- blatt „Ein Handy auf Reisen: Von der Entstehung bis zur Entsorgung“) und arbeiten mit Weltkarte und Atlas. In „Ein Handy auf Reisen: Einmal um die Welt“ müssen dem ersten Arbeitsblatt entnommene Begriffe in die Karte eingesetzt werden. Eine differen- zierte Aufgabenstellung liegt allerdings nicht vor. Hinsichtlich des Layouts und der Struktur ist festzuhalten, dass es sich um herunter- ladbare und bearbeitbare Worddokumente handelt. Ein Zerschneiden des Arbeitsblattes 248 Silja Topfstedt, Katja Schirmer, Nina Grünberger & Klaus Himpsl-Gutermann ist intendiert. Im Sinne der Sprachsensibilität (vgl. Wildemann/Fornol 2016) eignen sich die Schüler:innen fachliches Wissen beispielsweise über das Sortieren der Textab- schnitte oder das Eintragen von Begriffen in die Weltkarte an. Die Arbeitsanweisungen sind meist präzise formuliert und die jeweiligen Überschriften wurden passend ge- wählt. Insgesamt weisen die Arbeitsblätter neun Bilder in schwarz-weiß auf, deren Lizenzen ausgewiesen sind. Die Weltkarte ist hingegen in Blau und Grün illustriert. Da neben dem Lesen, Schneiden, Sortieren, Kleben und farbigen Ausmalen schriftlich nur die zehn Ländernamen in die Weltkarte eingetragen werden sollen, ist kein weiterer Platz für Schüler:innenantworten oder -notizen vorgesehen, aber auch nicht notwendig. Fazit Die digital-vernetzte Welt prägt unseren Alltag. Die Digitalität umfasst unseren gesam- ten Lebensberiech und so auch Schule. Es liegt auf der Hand, dass dies Implikationen für die pädagogische Praxis etwa im Bereich neuer Lerninhalte, aber noch viel mehr für didaktische Überlegungen mit sich bringt. Wie im Rahmen dieses Beitrags sowie mit Verweis auf die genannten Quellen gezeigt wurde, liegt ein zentraler Themenkomplex in der Verbindung von Fragen um Nachhaltigkeit, der Nutzung digitaler Technologie und einer schulischen Medienbildung. Diesbezüglich zeichnet sich mehr und mehr ein Diskurs ab, der sich auch in der Entwicklung von Lehr-/Lernmaterialien für den schuli- schen Kontext wiederfindet. Dabei kann sowohl der Diskurs als auch das pädagogische Material eher als „Fleckerlteppich“ denn als systematische Erarbeitung oder Analyse des Themenkomplexes bezeichnet werden. Der vorliegende Beitrag ist ein erster Schritt einer systematischen Analyse bestehender Lehr-/Lernmaterialien an der thematischen Nahtstelle von Nachhaltigkeit, Digitalität und Medienbildung bzw. Digitaler Grundbildung. Dieser erste Schritt kann sowohl hin- sichtlich der Verfeinerung des methodischen Settings und der Analysekriterien als auch einem größeren Umfang der analysierten Materialien weiter ausgebaut werden. Zudem könnte eine weitere empirische Erforschung die Fragen des unterrichtlichen Einsatzes durch die Lehrenden sowie kurz-, mittel- und langfristig auf Lern- und Bildungsoutco- mes auf Seiten der Lernenden fokussieren. Für die hier analysierten Unterlagen kann abschließend festgehalten werden: Sowohl das Arbeitsbuch „Was hat mein Smartphone mit Umweltschutz zu tun?“ (vgl. Döbren- tey-Hawlik et al. 2021) als auch das Arbeitsmaterial „Ein Handy auf Reise“ (vgl. Bun- desministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit 2020a) zeichnen sich durch ihre Vorreiterrolle aus, indem sie Lernende zwischen 6 und 10 Jahren (im Falle von ÖHA! bis zu 14 Jahren) den Lebenszyklus eines Smartphones nahebringen und sie Digitalität, Nachhaltigkeit und Bildung. Analyse zweier didaktischer Angebote 249 auf diese Weise frühestmöglich für das so aktuelle wie drängende Thema nachhaltige Digitalität sensibilisieren. Aufgrund seines Umfanges gehen die Inhalte des Arbeits- buchs „Was hat mein Smartphone mit Umweltschutz zu tun?“ des Projektes ÖHA! mehr in die Tiefe, sodass ein umfassenderer Lernprozess stattfinden kann als beim Arbeits- material „Ein Handy auf Reise“. Das Material von Umwelt im Unterricht wurde jedoch aus dem Unterrichtsvorschlag und Wochenthema herausgelöst betrachtet und analysiert. Von einem ganzheitlicheren, umfassenderen Lernprozess kann daher insgesamt ausge- gangen werden. Beide Lehr-/Lernmaterialien tragen jedenfalls dazu bei, den Lernenden wie auch den Lehrenden im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) eine kritische, reflexive, diskursive und gleichzeitig kreative Erarbeitung der Themen Digitalität und Nachhaltigkeit zu ermöglichen und können so einen Beitrag für mehr nachhaltigkeits- bewusste Bürger:innen der Zukunft leisten. Der – nachhaltige – Erfolg und die Sinn- haftigkeit der Materialien wird aber letztlich darin begründet sein, wie die Lehrenden die Materialien im Unterricht integrieren. Dabei liegt es auf der Hand, dass es nicht ausreichend ist ein Arbeitsblatt für eine Unterrichtseinheit zu diesem Thema durchzu- arbeiten. Lohnender und nachhaltiger wäre es die Materialien für längere, umfassendere und lebensweltbezogene Projektarbeiten in Form co-kreativer Forschungsprojekte von Lehrkräften und Schüler:innen einzusetzen. 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Mikroorganismen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst – Ein Potpourri Judith Ascher-Jenull, Barbara Imhof, Daniela Mitterberger, Tiziano Derme, Carolin Garmsiri & Heribert Insam Zusammenfassung Aus Mikroorganismen hat sich alles Leben entwickelt, und alle Lebensprozesse sind von Interaktionen mit Mikroorganismen abhängig. Nichts geht ohne sie, alles ginge ohne Mensch. Gar stellt sich die Frage, wer wir sind, 1013 menschliche Zellen plus 1,3x1013 mikrobielle Zellen ergeben das menschliche Holobiom. Das Ganze gilt es zu wahren, um nicht das Uns zu verlieren. Die Faszination, Universalität und das visionäre Potential der Mikrobiologie wurden im Rahmen der MWB Konferenz 2021 in Form eines Potpourris von rezenten Werken aus Forschung & Kunst-Kollaborationen zwischen dem Institut für Mikrobiologie der Universität Innsbruck und InterNationalen PartnerInnen aus Kunst und Architektur, u.a. der Universität Innsbruck, ETH Zürich und der Universität für Angewandte Kunst, Wien, präsentiert, auch als Vorgeschmack auf das upcoming Science Center MikrobAlpina-MikroMondo. Forschung & Kunst & Architektur Das Thema der MWB 2021 Konferenz „Ökologische Krisen und Ökologie der Kritik“ hat uns inspiriert, die, frei nach Willy Verstraete, „potentielle Bewältigung der Super- Challenges des 21. Jahrhunderts durch die angewandte mikrobielle Ökologie“, anhand einiger rezenter Art & Science Projekte zu veranschaulichen und die Faszination und das Potential unserer mikrobiellen Welt generell zu verbreiten. Transdisziplinäre Projekte zwischen Mikrobiologie und Architektur ermöglichen neue Formfindungen (Derme und Ascher-Jenull, 2021), nachhaltige Materialien durch Recycling (Derme und Ascher- Jenull, 2021) oder Upcycling (Derme, 2021) qualitativ hochwertiger organischer (z.B. Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 254 Judith Ascher-Jenull et al. Hanfstreu, Holzspäne, Kaffeesatz) und mineralischer Abfallstoffe (z.B. Marmorstaub), und neue Sicht-Blick-Denkweisen (https://cocorporeality.net). Als Beispiel von Biowerkstoffen der Zukunft, aber auch bereits der Gegenwart, wurde ein Prototyp eines Myco-Composite-Biowerkstoffs präsentiert (Abb. 1). Hanfstreu wurde mit einer Körnerbrut des Austernseitlings Pleurotus ostreatus inokuliert, in eine Form gepresst und inkubiert; das mit dem Pilz-Myzel durchwachsene Substrat wurde anschließend getrocknet und stellt ein Bio-Material mit Eigenschaften eines High-Tech Materials dar: hohes Isolierungspotential, atmungsaktiv, feuerfest, wasserabweisend, 100% biologisch abbaubar; durch das Recycling von organischen Abfallstoffen kann dieser Biowerkstoff mit negativem CO2-Abdruck hergestellt werden. Abbildung 1: Prototyp aus Biokomposit-Werkstoff (Substrat: Hanfstreu; Myzel: Pleurotus ostreatus; J. Bernath) mit getrocknetem Fruchtkörper von Pleurotus salmoneo-stramineus; links im Bild: Winogradskysäule „Fast ein Planet im Kleinformat“ (Credit: MWB 2021, J. Ascher-Jenull). Im Rahmen der MWB Konferenz 2021 wurde auch ein Ergebnis eines Formfindungs- Projektes präsentiert. Prototypen, deren Formen mittels Hanfseilen festgelegt wurden, konnten durch Pilze aus der Gattung der Seitlinge (Austernseitling, Pleurotus ostreatus) in stabile Strukturen mit dynamischer Anmutung verwandelt werden (Abb. 2, 4). Die „Active Forms of Matter“-Objekte sind das Ergebnis der gleichnamigen, im WS20/21 erstmals an der Universität Innsbruck angebotenen interdisziplinären Lehrveranstaltung, geleitet von Tiziano Derme (Experimentelle Architektur; Marjan Colletti) und Judith Ascher-Jenull (Mikrobiologie; Heribert Insam). Die eindrucksvollen Abschlussarbeiten der Architektur-Studierenden beeindrucken durch „zukunftsweisendes biologisches Design“ (Derme und Ascher-Jenull, 2021; Ascher-Jenull, 2021). Mikroorganismen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst – Ein Potpourri 255 Abbildung 2: Austernseitling-Hanfseilprototyp „layers&lamellae“ (K. Bauer und V. Kammerlander) der transdisziplinären LV Active Forms of Matter (Derme und Ascher-Jenull, 2020) (Credit: J. Ascher- Jenull). Ein anderes Projekt von Tiziano Derme, Digital Marble, in Kollaboration mit dem Institut für Mikrobiologie, befasst sich derzeit mit dem Upcycling von Laaser Marmorstaub, der beim Marmorabbau in großen Mengen als Nebenprodukt anfällt. Durch das Binder Jetting-Prinzip wird Marmorstaub mit einer Flüssigkultur des Bakteriums Sporosarcina pasteurii inokuliert, welches mittels des Enzyms Urease Harnstoff (Urea) metabolisiert und Calciumcarbonat als kristallines Stoffwechselprodukt ausscheidet, welches als Bindemittel agiert. Durch diese bakteriell induzierte Calcit-Präzipitation (Biozementierung) gekoppelt mit Robotertechnik-getriebenem 3D-Druckverfahren wird „neuer Marmor“ hergestellt, der als nachhaltiger Baustoff in der Architektur Einsatz finden soll (Derme, 2021). Unter den Universal-Genies der Mikroorganismen verbergen sich auch potentielle Game- Changer in Bezug auf die vom belgischen Mikrobiologen Willy Verstraete formulierten 3 Super-Challenges des 21. Jahrhunderts (1) Klimawandel, (2) Energiekrise und (3) das Nachhaltige Ressourcenmanagement, welche mit Hilfe der angewandten mikrobiellen Ökologie gemeistert werden können. 256 Judith Ascher-Jenull et al. Damit beschäftigt sich unter anderem auch das Science Center MikrobAlpina- MikroMondo (www.mikrobalpina.org), derzeit in Realisierung mit der Betriebshygiene- Firma Hollu in Zirl. Dessen Hauptmission ist es, die positiven Aspekte und den Einfluss unserer mikrobiellen Welt auf den Menschen an die Öffentlichkeit zu tragen und somit die Faszination der Formen und die Vielseitigkeit der Anwendung der Mikroorganismen zu vermitteln. Neben den mikrobiellen Universalgenies, die uns mit Lebensnotwendigem versorgen, wird auch der Hauptprotagonist der aktuellen Pandemie, das SARS-CoV-2 Virus, von allen Seiten inspiziert, bis hin zu dem am Institut für Mikrobiologie Innsbruck entwickelten, epidemiologischen Frühwarn- und quantitativen Nachweis-System im Abwasser (Amann et al., 2022). Das Potential transdisziplinärer Projekte für neue Blickweisen, Denkweisen und Formen der Kommunikation wurde am Beispiel des aktuellen FWF-Projektes CoCorporeality – Responsive spaces in the era of biomediality vorgestellt (https:// cocorporeality.net). Das künstlerische Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der nonverbalen Kommunikation zwischen Mensch und lebendigem Material mit dem Ziel, eine interaktive Protoarchitektur zu schaffen. Interaktion, die durch menschliche Emotionen und Wahrnehmung angeregt wird, findet somit über verschiedene Raum- und Zeitskalen hinweg statt. Diese asynchronen Aktionen zwischen Mensch und Mikroorganismen werden durch eine technologische Schnittstelle, die die Augenbewegungen des/r BetrachterIn aufnimmt, vermittelt. Dieses Eye-Tracking- System kann von einer Person getragen werden und verortet die Person. Durch die Pupillenveränderung können Emotionen und der Betrachtungswinkel detektiert werden. So können menschliche Reaktionen auf die Betrachtung der Mikrobenaktivität wie Veränderungen in Farbe, Geruch, Bewegung und Wachstum wahrgenommen werden. Im Rahmen der MWB 2021 Konferenz wurden zwei Video-Installationen von Experimenten, die im Projekt CoCorporeality entstanden sind, „E-Feeder“ und „Eye- Tracking“, gezeigt (Abb. 3). E-Feeder Der E-Feeder ist eine Plattform für die Interaktion zwischen Mensch und Mikroorganismen. Mit Hilfe einer Webcam können Besucher über menschliche Emotionen nonverbal mit Mikroorganismen kommunizieren, ein kompliziertes Unterfangen, da die Wahrnehmungssysteme von Menschen und Mikroben sehr unterschiedlich sind, und eine direkte Kommunikation daher nahezu unmöglich. Mikroorganismen kommunizieren hauptsächlich mittels chemischer Botenstoffe, indem sie Signalmoleküle aussenden, um andere Organismen anzulocken oder zu vertreiben. Menschen können mit Mikroben interagieren, indem sie deren Umweltbedingungen Mikroorganismen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst – Ein Potpourri 257 verändern und dadurch eine mikrobielle Reaktion auslösen. Dieser Ansatz wurde für die E-Feeder-Installation gewählt, die erstmals auf dem Angewandte Festival 2021 (Universität für Angewandte Kunst, Wien) präsentiert wurde. Im E-Feeder sind alle wesentlichen Merkmale der Kommunikation zwischen Mensch und Mikroorganismen vereint: • menschliche Wahrnehmung und Reaktion; • mikrobielle Wahrnehmung und Reaktion; • Hardware zur Ermöglichung mikrobieller Umweltveränderungen und zur Auf- zeichnung derer Reaktionen und • Anwendungen des maschinellen Lernens, die es ermöglichen, die Lücke zwischen den unterschiedlichen Kommunikationskanälen zu schließen. Abbildung 3: CoCorporeality – Videoinstallationen, Eye Tracking und E-Feeder (Credit: MWB 2021, J. Ascher-Jenull). Beim E-Feeder werden menschliche Emotionen von (virtuellen) Besuchern durch Gesichts und Emotionserkennung gesammelt und analysiert. Dafür wird maschinelles Lernen (ML), künstliche Intelligenz (KI) und ein automatisierter Algorithmus 258 Judith Ascher-Jenull et al. verwendet, welcher Gesichtsausdrücke wie glücklich, traurig, überrascht und wütend, in Echtzeit erkennt. Jeder Gesichtsausdruck ist mit einer bestimmten Reaktion der E-Feeder Maschine gekoppelt. Unter diesen Aktionen ist zum Beispiel die Zugabe einer Indikatorsubstanz, Zugabe von Lactose oder das Aktivieren einer UV-Lampe. All diese Aktivitäten des E-Feeders und in Verbindung damit auch die Emotionen der Besucher beeinflussen so die mikrobiellen Kulturen. Durch die Aktivität des E-Feeders wird das Wachstum der Bakterien daher entweder gefördert oder gezielt (partiell) verändert. Das Bakterienwachstum wird für das menschliche Auge sichtbar gemacht, indem Indikatoren verwendet werden, die mikrobiell induzierte Farbveränderungen anzeigen. Die ausgewählte Indikatorsubstanz X-gal färbt die lebenden Zellen blau, eine weitere, reine Laktose, färbt sie rot. Die ausgewählte mikrobielle Spezies ist das Darmbakterium Escherichia coli, das sich unter günstigen Bedingungen alle 20 Minuten teilt und (auch) für seine Robustheit in Labor-Umgebung geschätzt wird. Eye Tracking Im Projekt CoCorporeality wird das Eye-Tracking-Gerät als Kommunikationsgerät eingesetzt und ermöglicht dem Betrachter, eine Beziehung zwischen Bakterien und anderen nicht menschlichen Subjekten einzugehen. Die nonverbale Kommunikation erfolgt über den Blick, der eine psychologische Beziehung zwischen Menschen und den anderen Protagonisten der CoCorporeality herstellt. Der Blick beinhaltet bewusste als auch unbewusste Prozesse der Kodierung und Entschlüsselung. Blickrichtung und -häufigkeit sind Beispiele für bewusste Prozesse. Pupillenerweiterung, Blinzelrate und Fixierungsmuster sind Beispiele für unbewusste Prozesse. Das Eye-Tracking-Gerät registriert über zwei Kameras den Blickwinkel (Blickrichtung) und die Bewegung des Auges. Eine Kamera ist auf das Auge gerichtet und eine Kamera fokussiert den Raum. Der Abgleich zwischen beiden Kameras, gefolgt auf eine Kalibrierung der Position beider Kameras auf die Position des Auges definiert die Augen-Position und -Bewegung. Um die exakte Position des Auges und den Standort einer Person im Raum zu definieren, verwendet dieses Eye-Tracking Gerät zusätzlich ein eigenständiges simultanes Lokalisierungs- und Kartierungsgerät. Eine exakte Lokalisierung des betrachteten Objekts wird – basierend auf dem Schnittpunkt zwischen dem Augenvektor und einem registrierten 3D-Modell des Raumes – ermöglicht. Im Falle des Projekts CoCorporeality kann so aufgezeichnet werden, auf welche Bakterienkulturen der Betrachter gerade blickt, wie sich beim Betrachten die Pupillen verändern oder wie oft ein Augenblinzeln entsteht. Mit Hilfe dieser Schnittstelle kann eine messbare Beziehung des Betrachters zur mikrobiellen Umwelt hergestellt werden. Mikroorganismen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst – Ein Potpourri 259 Eine andere Installation der Konferenz zeigt unsere Mikrobielle Welt, für die stellvertretend insgesamt 45 Protagonisten (Reinkulturen) – Bakterien und Pilze – im wahrsten Sinne des Wortes ins Rampenlicht gestellt wurden (Abb. 4). Die gezeigten Mikroorganismen sind die Basis der Forschungsschwerpunkte einiger Arbeitsgruppen des Instituts für Mikrobiologie, Universität Innsbruck (U. Peintner und B. Urban; S. Zeilinger, G. Walch), wie z.B. die biologische Schädlingsbekämpfung (H. Strasser, H. Embleton, M. Zottele; Biological-Pest-Control, BiPesco: https://www.uibk.ac.at/ bipesco/). Abbildung 4: Rechts: Mikroorganismen im Rampenlicht: Agarplatten mit Reinkulturen von Bakterien und Pilzen, die Basis einiger Forschungsschwerpunkte am Institut für Mikrobiologie, Universität Innsbruck. Mitte: Flüssigkultur von Cyanobakterien (Abb. 5). Links: Auswahl der gezeigten Abschlussarbeiten der interdisziplinären Lehrveranstaltung Active Forms of Matter (links oben: „layers&lamellae“, K. Bauer & V. Kammerlander; links unten: „lostinloops“, J. Höck & R. Pischl) (Credit: MWB 2021, J. Ascher-Jenull). Am Beispiel der Winogradsky-Säule (Abb. 1) wurde „Fast ein Planet im Kleinformat“ präsentiert, basierend auf dem vom russischen Mikrobiologen und Pflanzenphysiologen Sergei Winogradsky (1856-1953) formulierten Konzept geochemisch aktiver Bakterien, die in der Lage sind, anorganische Verbindungen zu oxidieren und daraus Energie und Kohlenstoff zu beziehen. Es handelt sich dabei um ein in sich geschlossenes, dynamisches Recycling-System, das mit Energie aus Licht angetrieben wird. Es finden 260 Judith Ascher-Jenull et al. sich Mikro-Lebensräume für Algen und Cyanobakterien (Abb. 4, 5; ein weiterer CoCorporeality-Protagonist), Nichtschwefel- und Schwefelpurpurbakterien, Grüne Schwefelbakterien, Sulfat-Reduzierer und viele mehr. Die Aktivitäten des einen Organismus ermöglichen einem anderen zu wachsen und umgekehrt, Symbiosen und andere Interaktionen entstehen sowie auch mikrobielle Sukzessionen. Jede Schicht der Säule ist von unterschiedlichen Arten von Mikroorganismen kolonisiert und repräsentiert die wesentlichen biogeochemischen Stoffkreisläufe, die unseren Planeten charakterisieren. Cyanobakterien (Abb. 5) haben vor 3,7 Milliarden Jahren die Erdatmosphäre geschaffen und somit den Grundstein für das Leben auf unserem Planeten gelegt. Aus Mikroorganismen hat sich alles Leben entwickelt, und alle Lebensprozesse sind von Interaktionen mit Mikroorganismen abhängig. „Nichts geht ohne sie, alles ginge ohne Mensch“ (H. Insam). Abbildung 5: Cyanobakterien – Synechocystis PCC 6803 – charakterisiert durch photosynthetisch produzierte Chlorophyll-Pigmente und Sauerstoff (Mitte), sowie ihrer Fähigkeit zu lichtorientierter Fortbewegung (positive Phototaxie; rechts) (Credit: CoCorporeality, J. Ascher-Jenull). CoCorporeality – Cyanobacteria: Carolin Garmsiri, Heribert Insam, Judith Ascher-Jenull. Special thanks to Rainer Kurmayer for providing the cyanobacterial strain. Transdisziplinäre Forschung hat unter verschiedensten Aspekten ein zukunftsweisendes Potential. Die Kombination von Mikrobiologie & Kunst nimmt darunter eine Sonderstellung ein, jene der künstlerischen Freiheit. Diese Freiheit – auch zur (positiven) Provokation – sollte genutzt werden, um auf gravierende, unser aller Zukunft bestimmende Probleme aufmerksam zu machen und somit „ein Morgen“ zu ermöglichen, im „Einklang und Respekt“ (Ascher-Jenull, 2021) gegenüber allem organischen und nicht organischen Material unseres Planeten. Mikroorganismen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst – Ein Potpourri 261 Literatur Amman, F; Markt, R; Endler, L; Hupfauf, S; ..., ...; Nägele, F; Mayr, M; Rauch, W; Wagner, A.O; Insam, H; et al. (2022): Viral variant-resolved wastewater surveillance of SARS-CoV-2 at national scale. Nature Biotechnology, https://doi.org/10.1038/s41587- 022-01387-y. Ascher-Jenull, Judith (2021): Mikroorganismen: die Architekten von gestern, heute und morgen. Gastbeitrag zum APA-Thema: Kunstvoll forschen. https://science.apa.at/ gastbeitrag/mikroorganismen-die-architekten-von-gestern-heute-und-morgen/ Derme, Tiziano & Ascher-Jenull, Judith (2021): Active Forms of Matter: https://www.uibk. ac.at/newsroom/zukunftsweisendes-biologisches-design.html.de Derme, Tiziano (2021): Aus Staub gebaut. Zukunft Forschung, 02/21, pp. 14-15. https:// diglib.uibk.ac.at/download/pdf/6786707; https://www.uibk.ac.at/newsroom/zukunft- forschung-dezember-2021.html.de. Präsentierte Projekte (https://cocorporeality.net): E-feeder: Minovski, D., Mitterberger, D., Derme, T.; Artificial Intelligence, Machine Vision: Gasser, M.; Living material: Yousefi, N., Weiland, K., Gutierrez, T., Tibu, P.; Support: Imhof, B., Hoheneder, W., Koops, K. Eye-Tracking: Mitterberger, D., Tibu, P.; Artificial Intelligence, Machine Vision: Gasser, M.; Support: Imhof, B., Derme, T. Kurzbiografien der Mitwirkenden Judith Ascher-Jenull, Mag. Dr., ist Mikrobiologin, nach 15 Jahren an der Uni Florenz, an der Uni Innsbruck mit Forschungsschwerpunkt in der molekularen Umweltmikrobiologie (Boden; Totholz; extrazelluläre DNA) und an der Angewandten Wien. Insam und Ascher- Jenull verstehen die Annäherungen von Mikrobiologie und Kunst als Beschleuniger auf dem Weg zum Mikrobenzoo MikrobAlpina, wobei sie derzeit durch die Bio-Bachelorstudentin Carolin Garmsiri unterstützt werden. Thomas Ballhausen, Dr. phil., Autor, Literaturwissenschaftler und Filmhistoriker; Mitglied der Redaktion der „medienimpulse“. Aktuelle Arbeits- und Forschungsschwerpunkte um- fassen u.a. Texttheorie, Critical Heritage Studies sowie Literatur und/als Künstlerische For- schung. Wissenschaftliche und literarische Veröffentlichungen, zuletzt erschien „Transient. Lyric Essay“ (2020). Andreas Beinsteiner, Dipl.-Ing. Dr., Philosoph und Informatiker, unterrichtete u.a. an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Innsbruck und Wien; gegenwärtige Arbeitsschwer- punkte: Theorien des Digitalen (insbesondere mit Blick auf Macht und Subjektivierung), Kritik der agency, Sprache und Sinn nach dem affective turn. Tiziano Derme, MA Arch., ist Architekt und Medienkünstler und interessiert sich für die Beziehung zwischen neuartigen Materialien und Performativität. Er ist Co-PI des Projekts CoCorporeality und arbeitet als Assistent und Doktorand an der Universität Innsbruck mit dem Schwerpunkt auf neue Fertigungstechniken und Materialpraktiken. Carolin Garmsiri, Bsc., ist Masterstudentin der Mikrobiologie an der Universität Inns- bruck. Die Mitarbeit am FWF-Projekt CoCorporeality fand im Rahmen ihres Bachelor- abschlusses statt. Derzeit schreibt sie ihre Masterarbeit am Institut für Neurobiochemie, Biocenter Innsbruck im Bereich der Neurodegeneration und Neuroregeneration. Nina Grünberger, Prof.in, PhD; Technische Universität Darmstadt. Aktuelle Forschungs- schwerpunkte liegen im Bereich Bildung in der Digitalität, Digitalität und Nachhaltigkeit und Bildung im Digitalen Kapitalismus. Andreas Beinsteiner, Nina Grünberger,Theo Hug und Suzanne Kapelari (Hg.): Ökologische Krisen und Ökologien der Kritik © 2022 innsbruck university press, ISBN 978-3-99106-086-4, DOI 10.15203/99106-086-4 264 Kurzbiografien der Mitwirkenden Klaus Himpsl-Gutermann, Dr. phil, MSc; Pädagogische Hochschule Wien; Leiter des Zentrums für Lerntechnologie und Innovation (ZLI), Hochschulprofessor für Professions- forschung mit Schwerpunkt Lifelong Learning; Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft (GMW). Theo Hug, Dr. phil., Professor für Erziehungswissenschaft am Institut für Medien, Gesell- schaft und Kommunikation der Universität Innsbruck mit Schwerpunkt Medienpädagogik und Kommunikationskultur, Sprecher des interfakultären Forums Innsbruck Media Studies an der Universität Innsbruck. Barbara Imhof, Dr.in M.Sc. Mag.a Arch.in, ist eine international renommierte Weltraum- architektin und Designforscherin. Ihre Projekte beschäftigen sich mit dem Leben mit be- grenzten Ressourcen und ressourcenschonenden Systemen. Als Co-PI von CoCorporeality forscht sie unter anderem an der Integration und Transformation von biologischen Systemen in architektonische Anwendungen. Heribert Insam, Professor für Mikrobiologie an der Universität Innsbruck, ist umtriebig bei Biomethanisierung und Bodenmikrobiologie. Seine Forschung, stets im Kontext mit der Mitigation der Klimakrise, setzt auch auf ökoverträgliche Abwasserepidemiologie statt mil- lionenfacher Individualtests. Timo Kaerlein, Dr., Akademischer Rat am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Uni- versität Bochum, aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Theorie, Geschichte und Ästhetik von In- terfaces; Infrastrukturen und Praktiken des Urban Sensing; Körper- und Medientheorien. Suzanne Kapelari, Univ.-Prof., Mag., Dr., MA, Department of Subject-Specific Education, University of Innsbruck, Professional Development, Teaching and Learning Outside the Classroom, Education for Sustainable Development, Critical Thinking, Language-Sensitive Biology Education. Lara Leik, BSc, Universität Salzburg, Nachhaltigkeitsvernetzung und Scientists4Future Salzburg Beauftragte. In ihrer Position vernetzt sie Wissenschaftler*innen miteinander über Disziplinen und Institutionen hinaus und fördert den Austausch mit der Gesellschaft. Sie schloss ihr Staatsexamen zur Gesundheits- und Krankenpflegerin in Heidelberg ab und studierte Molekulare Biowissenschaften an der Universität Salzburg sowie der Johannes- Kepler-Universität Linz. Kurzbiografien der Mitwirkenden 265 Rainer Leschke, Prof. Dr., Medienwissenschaftler an der Philosophischen Fakultät der Uni- versität Siegen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen insbesondere im Bereich der Medienthe- orie und der Medienphilosophie. Weblink: http://www.rainerleschke.de/ Reinhold Madritsch, Mag. rer. soc. oec., ist seit 2019 Bereichsleiter für Digitalisierung im Institut für Digitalisierung, Bildung für nachhaltige Entwicklung und Qualitätsentwicklung an der Pädagogischen Hochschule Tirol. Er lehrt in den Lehramtsstudiengängen „Primar- pädagogik“, „Information und Kommunikation“ und „Spezialisierung Medienpädagogik“ an der PHT und LFU Innsbruck. Arbeitsschwerpunkte: Medienpraxis und Mediendidaktik. Helga Mayr, MMag.a rer. soc. oec. leitet seit 2019 den Bereich Bildung für nachhalti- ge Entwicklung im Institut für Digitalisierung, Bildung für nachhaltige Entwicklung und Qualitätsentwicklung an der Pädagogischen Hochschule Tirol. Sie lehrt in den Lehramts- studiengängen „Primarpädagogik“ und „Berufspädagogik“ und ist Dozentin an der Univer- sität Innsbruck. Arbeitsschwerpunkte: Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), Design Thinking und Digitalisierung im Kontext von BNE. Daniela Mitterberger, MA Arch., ist Architektin und Forscherin mit einem starken Interes- se an neuen Medien, der Beziehung zwischen Mensch und Körper, digitaler Fabrikation und neuen Technologien. Sie ist Co-PI des Projekts CoCorporeality und Doktorandin und A&T Ph.D. Fellow am Lehrstuhl für Architektur und Digitale Fabrikation an der ETH-Zürich. Alexandre Monnin, PhD, ist Scientific Director des Origens Media Lab, Professor an der ESC Clermont BS, Ko-Initiator (mit Diego Landivar) der Closing Worlds-Initiative und Director des MSc-Programms „Strategy and Design for the Anthropocene“ in Kooperation mit der Strate School of Design in Lyon. Carsten Ochs ist seit 2014 Postdoc an der Universität Kassel, Fachgebiet Soziologische Theorie, wo er von April bis September 2020 die zugehörige Professur vertrat. Derzeit im Forschungsprojekt „Demokratieentwicklung, Künstliche Intelligenz & Privatheit“, vorher in versch. Forschungsprojekten an der TU Darmstadt. Promotion am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) der Justus-Liebig-Universität Gießen, Master-Stu- dium „Interactive Media: Critical Theory & Practice” am Centre for Cultural Studies, Gold- smiths College/London, Grundstudium der Kulturanthropologie & Europäischen Ethnolo- gie, Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seit rund 20 Jahren empirische Erforschung, theoretische Bestimmung und breit gefächerte Lehre zur soziodigitalen Transformation. 266 Kurzbiografien der Mitwirkenden Christoph Pirker, Jahrgang 1973, absolvierte das Kolleg für Grafik Design an der Gra- phischen in Wien. Neben verschiedenen Projekten und Veröffentlichungen als Grafiker und Illustrator sind Comics sein wichtigstes Medium. Im Rahmen von Workshops und Kursen Kindern und Jugendlichen Comiczeichnen beizubringen, ist das wichtigste Element seiner Arbeit. So entstehen unterschiedliche Workshop-Formate in Kulturzentren, an der Volks- hochschule, im Kulturservice des Landesschulrates und anderen Veranstaltern in Tirol. Susanne Rafolt, Mag., PhD, Department of Subject-Specific Education, University of Inns- bruck, Critical Thinking, Socioscientific Issues, Science|Environment|Health, Professional Development. Antoinette Rouvroy, Dr.in der Rechtswissenschaften, ist ständige wissenschaftliche Mit- arbeiterin beim Belgischen nationalen Wissenschaftsförderungsfonds (FNRS) und leitende Forscherin am Forschungszentrum für Information, Recht und Gesellschaft (CRIDS) an der Universität Namur. Ihre gegenwärtigen, interdisziplinären Forschungsinteressen drehen sich um das Konzept der algorithmischen Gouvernementalität. Unter diesem an Foucault ange- lehnten Neologismus untersucht sie die semiotisch-epistemischen, politischen, rechtlichen und philosophischen Implikationen des computational turn. Sebastian Sierra Barra ist seit 2018 Professor für Organisationsentwicklung an der Evan- gelischen Hochschule Berlin. Seinem Magister-Studium der Politik- und Sozialwissen- schaften an der Goethe Universität Frankfurt am Main folgte eine Promotion am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie über „Digitale Praxen“. Akademische und außerakademische Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind Mensch-Medien Ko-evolution, Digitalisierung, Infrastrukturen, Ökonomien. Katja Schirmer, Mag.a., Pädagogische Hochschule Wien, AHS-Lehrerin in Wien; Digitale Grundbildung, Digitales Lernen. Hans-Martin Schönherr-Mann, Prof. Dr. phil. Dr. rer.pol.habil; Geschwister-Scholl-Insti- tut für politische Wissenschaften der Univ. München; Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Bildungs- und Medienphilosophie, Poststrukturalismus, Existentialismus. Sy Taffel, Dr. Senior Lecturer in Media Studies and co-director of the Political Ecology Research Centre at Massey University, Aotearoa-New Zealand. He is the author of Digital Media Ecologies (Bloomsbury 2019). His research focuses on digital technology and the environment, political ecology and digital technology, automation and digital labour. Kurzbiografien der Mitwirkenden 267 Silja Luisa Topfstedt, Mag. phil., Pädagogische Hochschule Wien; Lehrerin in Wien, Kinderbuch- und Schulbuchautorin (Veröffentlichungen im G&G Verlag Wien, Verlag E. Dorner GmbH und weitere), Studierende des Lehramts für die Primarstufe an der Pädagogischen Hochschule Wien. Daniela van Geenen, wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB „Medien der Kooperation“ an der Universität Siegen, aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Critical Data Studies, Software, Device and Infrastructure Studies; (Daten-)Praktiken, soziomaterielle Organisation und Wertvorstellungen des Urban Sensing. Dan Verständig, Prof. Dr.; Universität Bielefeld. Seine Forschung ist auf die Analyse von Lern- und Bildungsprozessen im Horizont digitaler Medialität fokussiert. Einen besonderen Schwerpunkt nehmen dabei bildungstheoretische Anschlüsse an den kreativen Umgang mit digitalen Technologien in medienpädagogischen Handlungsfeldern ein. Die COVID-19-Pandemie hat in den letzten zwei Jahren vieles verändert, unter ande- rem auch die Wahrnehmung ökologischer Krisen. Das betrifft nicht nur ökologische Dimensionen von Umweltschäden, Klimaentwicklung, Biodiversität und Nachhaltig- keitsdefizite aller Art, sondern auch metaphorische Anwendungen des Ökologie- Begriffs. Wenn zum Beispiel von einem digitalen Klimawandel, von Datafizierung von Kommunikationsökologien, von post-demokratischen Dynamiken politischer Ökologien oder von kommerzialisierten Medienökologien im digitalen Kapitalismus die Rede ist, dann werden auch damit häufig krisenhafte Entwicklungsdynamiken assoziiert. Der Band zielt darauf ab, Beschreibungen ökologischer Krisen und deren Auswirkungen mit kritischen Analyse-, Beschreibungs- und Handlungsperspekti- ven zu verschränken. Er ist interdisziplinär ausgerichtet und beinhaltet theoretische Überlegungen, normative Analysen und Beispiele der Erprobung von praktischen Konzepten und pädago gischen Materialien.