Vom vermessenen zum verbesserten Menschen? Life- logging zwischen Selbstkontrolle und Selbstoptimierung Stefan Selke Abstract In sozial erschöpften Gesellschaften nehmen ambivalente Phänomene zwischen Selbstkontrolle und Selbstoptimierung zu. Lifelogging, die digitale Selbstvermessung und Archivierung von Le- bensdaten, verändert als disruptive Technologie die kulturelle Matrix der Gegenwartsgesellschaft. Nach einer Einführung in die Grundtypen von Lifelogging werden die zentralen Selbstverzwe- ckungsprinzipien erläutert, die in der Idee konvergieren, das eigene Leben ständig unter Beweis stellen zu müssen. Darauf aufbauend werden einige Pathologien des Quantifizierens erläutert, die verdeutlichen, wie es letztlich zur Kommodifizierung (Warenwerdung) des Menschen kommt. Der fehlerhafte Mensch und die Angst vor Kontrollverlust Als die ehemalige DDR-Eiskunstläuferin und Olympia-Goldmedaillengewinnerin Katarina Witt in einem Interview nach den Parallelen zwischen der Stasi und der NSA gefragt wurde, bejahte sie die Parallelen, fügte aber eine zeitdiagnostische Beobachtung hinzu: „Was ich aber noch bedenklicher finde als die NSA […] sind die vielen Informa- tionen, die Milliarden von Menschen freiwillig jeden Tag rausgeben über Handy, über WhatsApp, über Fotos, die sie ins Netz stellen. Ich finde es gefährlich, dass es Leute gibt, die wissen, was du isst, wie viele Schritte du am Tag gehst, was für einen Puls du hast, wann du ins Bett gehst – und dieses Wissen zu Geld ma- chen.“ (Witt 2015) Witt spricht von Lifelogging, dem Trend zur umfassenden digitalen Selbstvermessung und Lebensprotokollierung. Digitale Selbstvermessung ist eine Form der Suche nach dem eigenen gesellschaftlichen Ort und der technikgetriebene Umgang mit den eigenen Ängsten. Die Lust an der boomenden digitalen Selbstverdatung korrespondiert vor allem mit der Angst vor Kontrollverlust in mo- dernen Gesellschaften. Gefahren werden in (berechenbare) Risiken und (erwartbare) Sicherhei- ten zerlegt, um so die Beherrschbarkeit der Welt zu suggerieren. Das ist so lange tröstlich, bis sich (immer wieder) zeigt, dass die Berechnungsparameter versagen und die Erwartungshori- zonte zu offen sind. Diese Sehnsucht nach Kontrolle beruht auf einer generalisierten Angststö- rung, meist unbegründeter Furcht oder einem ostentativ vorgetragenen „Leiden an der Welt“. Fast entsteht der Eindruck dass „German Angst“ zu einem Kulturgut avanciert, mit der sich fast jede Form der Kontrolle, auch der Selbstkontrolle, legitimieren lässt. 132 Stefan Selke Lifelogging als Black Box des Lebens Lifelogging ist personalierte Informatik. Mit dem Sammelbegriff werden vielfältige Formen der digitalen Erfassung, Speicherung und Auswertung von Lebensdaten und Verhaltensspuren (sog. „lifelogs“) eines Menschen benannt. Damit ist der Versuch verbunden, menschliches Leben in Echtzeit zu erfassen, möglichst viele Verhaltens- und Datenspuren aufzuzeichnen und zum späteren Wiederaufruf vorrätig zu halten (Selke 2010, S. 107f.). Die dabei genutzten Technologien reichen von miniaturisierten Kamera- und Sensortechniken, tragbaren Datenauf- zeichnungssystemen („tracking“, „wearable computing“) und Smart-Watches in der Verbin- dung von Apps bis hin zur Echtzeit-Datenübertragung und immer preisgünstigeren Speicher- technologien (z.B. Cloud Computing). Die eigentliche Innovation von Lifelogging besteht jedoch in der automatischen und im Alltag unbemerkten Datenerfassung („capturing“). Unauf- dringliche digitale Technologien ermöglichen es inzwischen, kontinuierlich und passiv Daten zu sammeln, ohne diesem Prozess zu viel Aufmerksamkeit widmen zu müssen. Der Logger wählt dabei nicht mehr aus, denn das System erfasst permanent und ohne Filterung verschiede- ne Daten (z.B. biometrische Körperdaten, Ortsdaten, Zeitstempel oder Bilder) und erzeugt auf diese Weise eine „digitale Aura“ der Person (Hehl 2008). Lifelogging kann somit als eine pas- sive Form digitaler Selbstarchivierung verstanden werden. Ausgerechnet das Pentagon startete ein Projekt, das zum Namensgeber von Lifelogging avan- cierte. Verteidigungsexperten der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) fanden Interesse an den neuen Möglichkeiten der digitalen Lebensprotokollierung und suchten nach Anregungen für ihr Projekt LifeLog, in dem es darum ging, den Soldaten der Zukunft mit Sensoren auszustatten. Ziel der DARPA-Forscher war es, alle Aktivitäten eines Soldaten zu erfassen, um dem Kommando eine bessere Übersicht zu ermöglichen. Die Lifelogs sollten zudem als Grundlage für spätere Computersimulationen dienen. Die Militärs und die beim Pentagon beschäftigten Forscher waren fest von der Nützlichkeit von Lifelogging überzeugt. „Every soldier a sensor“, bedeutete, dass Soldaten eine am Helm angebrachte, hochauflösende Mini-Kamera nutzen, dazu zwei Mikrofone (eines für die Spracherfassung und eines zur Erfassung von Umgebungsgeräuschen), ein GPS- Ortsbestimmungssystem sowie Beschleunigungssensoren an verschiedenen Stel- len des Körpers und an der Waffe. Ein General drückte es so aus: „Ich möchte, dass Soldaten permanent die eigene Umwelt scannen […]. Ich will, dass sie wach sind.“ (Magnuson 2007, Übersetzung: St.S.) Dieses Nutzungsszenario enthält bereits den Keim der Lifelogging-Philosophie, denn für Sol- daten in Krisengebieten gibt es keine überflüssigen Informationen. Jedes Detail könnte wichtig sein. Nur wenn alles erfasst wurde, kann jede Einsatzlage detailliert beurteilt werden. Vom militärischen Kontext wurde diese Idee auf zivile Einsatzspektren übertragen. Alle Daten sind wichtig. Jedes Detail könnte der Schlüssel zum Gesamtverständnis des eigenen Lebens sein. In unserer sozial beschleunigten Zeit lautet die Grundannahme, dass nur derjenige die Zukunft aktiv gestalten kann, der in der Lage ist, informierte Entscheidungen zu treffen. Vom vermessenen zum verbesserten Menschen? 133 Je mehr Daten dazu als Grundlage vorhanden sind, desto besser. Stellt man sich eine „Black Box“ vor, die alle nur denkbaren Daten über das eigene Leben enthält, so kommt dies einer Definition von Lifelogging recht nahe. Jim Gemmell, einer der modernen Schamanen der Lifelogging-Bewegung und Programmierer der komplexen Lifelogging-Software MyLifeBits nutzt die Analogie, um das Prinzip von Lifelogging zu erläutern. Und tatsächlich wurde die erste Lifelogging-Kamera nach einem Fahrradunfall durch eine Mitarbeiterin von Microsoft Research erfunden, die sich an nichts mehr im Zusammenhang mit dem Unfall erinnern konn- te. Sie wünschte sich daher ein Gerät, das automatisch alles in ihrer Umgebung aufnahm und speicherte. Auf diese Weise würde man das eigene Leben jederzeit „zurückspulen“ und „nach- sehen“ können. Jim Gemmell weitet diese Idee aus und will Menschenleben so auslesen, wie Flugsicherheitsinspektoren Flugdatenschreiber. Erst füllt sich die „Black Box“ selbständig im Reiseflug des Lebens und dann liefert ihr Inhalt detaillierte Antworten auf die zentralen W- Fragen des Lebens: Was passiert wo mit wem und wie habe ich darauf reagiert? Der Inhalt der Black Box soll ein möglichst objektives Abbild des gelebten Lebens sein. Lifelogging ist damit das Versprechen, aus den ruinösen Gewohnheiten in ein besseres Leben ausbrechen zu können. In der Black Box soll sich mathematisches Kalkül mit zweckrationalem Denken zu erfolgreichen Verhaltensänderungen verbinden. Mit der Quantifizierung des eige- nen Lebens beginnt eine Expedition in die letzten noch unerschlossenen Gebiete des Ichs. Das Versprechen von Lifelogging besteht genau darin, unser Leben unter der Regie der Black Box zu einem permanenten Optimierungsprojekt zu machen, bei dem wir uns selbst beobachten, er- kennen und verändern, zum Zweck der Effizienzsteigerung. Diese moderne existenzielle Kal- kulation basiert auf der Vorstellung, dass der Körper störungsfrei zu funktionieren hat und die eigene Existenz sich nutzenmaximierend entwerfen lässt. Es geht, in einem Satz, um die tech- nische Rationalisierung und Kontrolle unseres Lebens. Die Black Box ist eine ideale Projekti- onsfläche für den Wunsch nach Ordnung, Struktur, Sicherheit und Selbstverbesserung eines als strukturell fehlerhaft begriffenen Menschen. Leben und Sterben mit der digitalen Aura Quer durch alle Anwendungsfelder ziehen sich immense Heilsversprechen. Teils als Manifest verfasst bilden sie die „Philosophie“ eines Lifelogging-Jahrzehnts, an dessen Ende der neue Mensch stehen soll (vgl. Wolf 2010 und Bell 2010). Das Spektrum von Lifelogging- Anwendungen ist umfassend (vgl. ausführlich Selke 2014) und lässt sich stark vereinfacht in sechs Typen einteilen. Der erste Typ hat Gesundheitsmonitoring zum Ziel. Dabei geht es darum, in Echtzeit biometri- sche Daten am eigenen Körper zu vermessen und damit eine präventive Lebensführung zu ermöglichen. Beispiele hierfür sind Schrittzähler (zur Vermessung der Aktivität), Vibrations- gurte (zur Vermessung der richtigen Sitzhaltung) oder Kalorienvermessung (zur Einhaltung einer Diät). In diesen Bereich gehören auch verschiedene (nicht sehr differenziert entwickelte) Verfahren, Emotionen und Stimmungen zu vermessen („mood tracking“). Komplementär zum Gesundheitsmonitor hat der zweite Typ das kollaborative (also gemeinsame) Heilen zum Ziel. 134 Stefan Selke Selbstvermesser dieser Kategorie folgen kuratorischen Motiven, da sie bereits an einer chroni- schen oder seltenen Krankheit leiden. Auf speziellen Plattformen vergleichen sie die Wirkung von Medikamenten oder Therapien und kontrollieren so die Versprechungen der Pharmain- dustrie. Während es bei den ersten beiden Typen der Selbstvermessung darum geht, Körperdaten (Schritte, Puls, Kalorienverbrauch, Schlafqualität etc.) zu vermessen, zielt der dritte Typ auf die Nachverfolgung des Aufenthaltsorts von Personen durch GPS oder Funkzellenorten ab und vermisst Ortsdaten. So lässt sich feststellen, wo sich eine (gesuchte) Person zu einem definier- ten Zeitpunkt befindet. Diese Form von Lifelogging wird deshalb auch Human Tracking ge- nannt. In diese Kategorie gehören daher alle Formen der unbemerkten Ortserfassung von Per- sonen (Ehefrauen/-männer, Kinder, Mitarbeiter), Tieren (z.B. Jagdhunden) und Objekten (z.B. Fahrschulautos, Paketdienste) sowie die automatische Visualisierung des Aufenthaltsortes auf einer digitalen Karte (z.B. auf dem Smartphone oder Tablets). Bei der Idee der digitalen oder ausgelagerten Gedächtnisse handelt es sich um den vierten Typ von Lifelogging, bei dem visuelle Daten (Fotos, Videos) im Mittelpunkt stehen, die gleichwohl durch beliebig viele andere Daten „kontextualisiert“ werden können. Die Sehnsucht nach dem umfassenden Lebensarchiv kann auch auf die Zeit nach dem Tod ausgeweitet werden. Der fünfte Typ zielt auf nicht weniger als auf digitale Unsterblichkeit ab. Erreicht werden soll dies entweder durch digitale Lebensgeschichten (sog. „Rememories“), durch digitale Avatare oder im Extremfall durch die Übertragung des eigenen Bewusstseins in einen Datenspeicher. Der sechste Typ umfasst avantgardistische Arten der Selbstvermessung und treibt die Idee der totalen Transparenz durch Fetischisierung auf die Spitze. Dies kommt einem digitalen Exhibi- tionismus gleich. Rob Spence, Steve Mann und Hasan Elahi sind prominente Forscher und Aktivisten, die mit ihren jeweiligen Projekten zur totalen Transparenz auf die Möglichkeiten von Sousveillance aufmerksam machen. Im Gegensatz zu „Surveillance“ (Überwachung bzw. Kontrolle von oben) geht es bei „Sousveillance“ um „Wachsamkeit von unten“. In Sous- veillance-Szenarien schützen sich Logger, indem sie möglichst ununterbrochen ihren eigenen Standort und eigene Aktivitätsspuren aufzeichnen sowie diese in Echtzeit veröffentlichen. Für gefährdete Personen (z.B. politisch verfolgte Regimekritiker, kritische Künstler oder Aktivis- ten) ergibt sich auf diese Weise die Chance, einen persönlichen „digitalen Schutzschirm“ oder ein „digitales Alibi“ zu erstellen. Eine informierte Öffentlichkeit kann jederzeit den Aufent- haltsort und den Verbleib dieser Personen verfolgen. Sousveillance hat damit den gegenteiligen Effekt wie Repression und Überwachung, d.h. es erzeugt Empowerment und Transparenz. Selbstverzweckungsprinzipien – das eigene Leben unter Beweis stellen Lifelogging ist eine disruptive Technologie, die sich in unterschiedlichen Anwendungsfeldern – von medizinischer Versorgung bis zur Gestaltung von Arbeitsplätzen, von der Betreuung von Senioren bis zur Organisation des Privaten – dadurch auszeichnet, dass sie mit bestehenden Wertvorstellungen bricht (Coupette 2014). Vertreter der Consultingbranche jubeln bereits, dass Vom vermessenen zum verbesserten Menschen? 135 neue „Business-Cases“ zur Förderung der „Joint-Value-Creation“ entstehen, die im Kern da- rauf beruhen, aus den Informationen, die die Sensorik dem Selbstvermesser zur Verfügung stellt, adäquate Verhaltensänderungen abzuleiten – die sich u.a. in neuen Konsumakten mani- festieren (Scheuch 2014, S. 23). Die Vermessungsmöglichkeiten, die sich aus der reinen Sen- sorik ergeben, sind nur die Vorstufe zur Ausführung eines „Plans“, der den eigentlichen Mehrwert bringt – das eigene Leben ständig unter Beweis stellen zu können. Kontingenzreduktion – Die Welt kleiner und simpler machen Lifelogging kann übergreifend als digitales Sinnbasteln verstanden werden. Daten sind dabei die Deiche der digitalen Gesellschaft. Sie schützen vor dem jähen Einbruch des Unbekannten und Unvorhergesehenen. Sie sind eine Reaktion auf eine „flüssige Moderne“ (Baumann 2012), in der Individuen ständig exogene Veränderungen und Einflüsse hinnehmen müssen, die sie nicht beeinflussen können. Aus der Resignation vor dem gefühlten Kontrollverlust moderner Risikogesellschaften in der Form globaler Krisen resultiert eine Hinwendung zu denjenigen Feldern, die als endogen beherrschbar erscheinen. So kommt es zu einer Inversion der Perspek- tive auf das Innere und Kleine, also das Beherrschbare. Wir leben in einer Nebenfolgengesellschaft, die von grenzenlosen bzw. entgrenzten „wicked problems“ (Brewer 2013, S. 198) dominiert ist. Der gleichzeitig stattfindende Vertrauensver- lust in (politische) Institutionen und der Verzicht auf die Idee der Selbststeuerungsfähigkeit moderner Gesellschaften führen nicht nur dazu, dass die Gesellschaft immer mehr zu einem Labor für High-Tech-Experimente und zu einem Platz für „Freiland- und Menschheitsexperi- mente“ (Beck 1990) wird. Die gegenwärtig boomenden Diagnosen zur individuellen (Ehren- berg 2004) und sozialen (Lutz 2014) Erschöpfung verdeutlichen vielmehr, dass es eine unge- stillte Sehnsucht nach positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen gibt, um damit die (öffentlich wahrnehmbaren) negativen Unwirksamkeitserfahrungen zu kompensieren. Wenn auf nichts mehr Verlass ist und man nicht mehr weiß, wo man den Hebel ansetzen soll, dann beginnt man am besten bei sich selbst. Da es Superman nur im Comic gibt, bleibt als Strategie vor allem der Rückzug auf die Maßstabsebene des Beherrschbaren. Diese korrespondiert mit der Erfahrung des eigenen Körpers und des eigenen sozialen Nahraums. Auf beides haben wir noch „Zu- griff“. Es geht bei Lifelogging also eher um die Suche nach einer Strategie der Lebensbewältigung als um Selbstoptimierung. Kontingenz – also die Wahrnehmung eines „Es-könnte-immer-auch- ganz-anders-sein“ zwingt dauernd zum Umgang mit offenen Möglichkeiten. Indem die Welt in der Maßstabsebene des Beherrschbaren vermessen wird, findet eine Verinnerlichung (Endoge- nisierung) desjenigen Risikomanagements statt, das in der „Welt draußen“ nicht mehr gelingt. Diese privatisierte Kontingenzreduktion (Krause 2005) bewirkt, dass der Glaube daran, mit Zahlen das Chaos bändigen zu können, ansteigt und die Illusion der Beherrschbarkeit wieder- gewonnen wird. Digitale Selbstvermessung ist also zunächst übergreifend eine Form der Kontingenzreduktion. Der Rückzug auf die Maßstabsebene des eigenen Körpers als Form der datengetriebenen Er- 136 Stefan Selke fahrung von Selbstwirksamkeit schafft genau das Gefühl von Orientierung, das ansonsten ver- loren gegangen ist. Beherrschbarkeit des eigenen Lebens erscheint als das Wichtigste, weil kein Mensch mehr (böse) Überraschungen erleben möchte. Die Illusion der Vermessbarkeit (von fast allem) ist vielleicht das letzte Mittel gegen unsere „transzendentale Obdachlosigkeit“ (wie dies 1916 Lukács nannte). Dem Verlust der metaphysischen Geborgenheit setzen Selbst- vermesser vertrauensvoll bunte Balkendiagramme, deskriptive Statistiken und letztlich eine Logik entgegen, die sich in der hypnotisch redundanten Sinnformel erschöpft, dass sich Selbst- erkenntnis durch Datenmassen steigern ließe. So lautet der Claim der sogenannten Quantified Self Bewegung: „Self-knowledge through numbers“. Korporales Kapital – Investitionen in den Körper Durch den Rückzug auf die Maßstabsebene des Beherrschbaren erhält der eigene Körper fast automatisch einen anderen Status. Er wird zur Baustelle und die an ihn gebundene Gesundheit zur Ersatzreligion. Der Einzelne wird z.B. zum Manager seiner Gesundheit, so wie er auch schon im Bereich der Wirtschaft zum Unternehmer seiner selbst geworden ist (Bröckling et al. 2000). In einer Gesellschaft, der die Erwerbsarbeit ausgeht, kann Gesundheitsmonitoring als Ersatzarbeit betrachtet werden. Zu den von Pierre Bourdieu differenzierten Kapitalsorten (ökonomisch, sozial, kulturell) tritt eine neue Kapitalsorte hinzu. Wird der Körper zum Lifestyle-Produkt und zum Tempel ver- klärt, kann von korporalem Kapital gesprochen werden (Schröter 2009). Gesundheit und Fit- ness gelten heute „als Symbol für Körperdisziplin und Attraktivität“ (Schröter 2014, S. 32), Komponenten also, die in der heutigen Gesellschaft zu Status und Macht führen können. Leben kann als Projekt beschrieben werden, in dessen Körperkapital regelmäßig investiert werden muss, um der Austauschbarkeit vorzubeugen. Der gesunde, schöne sowie trainierte Körper wird zum Symbol der Gesundheit und gilt als Voraussetzung, um in der Gesellschaft als nütz- lich angesehen zu werden (Schröter 2014, S. 32 Dass man in seinen Körper investiert, erkannte schon 1929 der Soziologe Siegfried Kracauer in der Beobachtung der vielen Schönheitssalons in Berlin. In seinem Klassiker Die Angestellten (Kracauer, 1930, S. 25) resümiert er, über die Ursachen des Booms – und findet eine bis heute gültige Erklärung: „Der Andrang zu den vielen Schönheitssalons entspringt auch Existenzsorgen, der Ge-brauch kosmetischer Erzeugnisse ist nicht immer ein Luxus. Aus Angst, als Altware aus dem Gebrauch zurückgezogen zu werden, färben sich Damen und Herren die Haare, und Vierziger treiben Sport, um sich schlank zu erhalten.“ Den Menschen ging es vor allem um den Erhalt der eigenen Marktfähigkeit. Um Körper an- schaulich funktionsfähig zu erhalten, eignen sich vielfältige Arten der Investition: Pflegende Kosmetika ebenso wie Anti-Aging-Produkte; Sport- und Fitnessprogramme ebenso wie Social- Egg-Freezing. Der natürliche Körper wird deshalb zu einem bearbeitbaren Material, das in einer Reparatureinstellung sichtbar behandelt wird. Erst durch demonstrative Gesundheit, also durch äußere Symboliken, kann das korporale Kapital gesellschaftlich bewertet werden. „Kör- Vom vermessenen zum verbesserten Menschen? 137 per werden trainiert und therapiert, rehabilitiert und repariert, sozial diszipliniert und ästhetisch modelliert“ (Schröter 2009, S. 252). Der Körper wird somit, wie Gesundheit, zu einem kontinuierlich dynamischen Prozess, dessen Symbolwert immer wieder verbessert werden muss. Innerhalb einer sich immer weiter verbrei- tenden Präventionslogik (Kühn 1993 und Lengwiler 2010) wird die Investition in Körperkapi- tal zu einer alltäglichen, individuellen und eigenverantwortlichen Aufgabe, deren Nichterfül- lung mit Sanktionen einhergeht. Das Leben wird zum Projekt und der Körper wird zum Objekt. In der Selbstvermessungsszene finden sich tatsächlich viele Beschreibungen, die darauf schließen lassen, das gerade ein neues Menschenbild entsteht: das mechanistische und funktionalistische Bild eines in Einzelteile zerlegbaren Körper-Objekts, das man bei Defekten selbst repariert oder in entsprechende Repa- raturwerkstätten bringt. Die Lust an der digitalen Selbstkontrolle durch Selbstvermessung er- wächst dabei (psychoanalytisch argumentiert) aus dem Gebot des Triebverzichts. In einer Ge- sellschaft, in der die Leitwerte Schlankheit, Sportlichkeit, Gesundheit, Produktivität und Effek- tivität sind, ist Triebverzicht tatsächlich rational, weil nur durch den Verzicht die eigene soziale Position gesichert oder markiert werden kann. Dies schafft den Nährboden für eine exklusive Lebensform, die als Wohlstandsasketismus bezeichnet werden kann. Verzicht erfolgt nicht mehr aus Mangel, sondern aus Einsicht in die Aussagekraft der Daten. Dadurch verändert sich auch das Wissensgefüge in Richtung einer Überbetonung von know- how bei gleichzeitigem Verlust von know-why. Die technisch mögliche Kategorisierung äuße- rer und selbst innerer Zustände (etwa durch „mood tracking“) macht deutlich, dass prinzipiell alle biologischen Zustände hierarchisiert, entkontextualisiert und dadurch sozial vergleichbar gemacht werden können. Jede Form der digitalen Spurensicherung erweist sich damit als Form des praktischen Umgangs mit dem Körper. Selbstvermessung wird damit zu einem „Fenster in den Körper“, der durch Naturalisierung von einem Subjekt zu einem Objekt mutiert. Auf Deu- tungswissen und alternative Lesarten wird immer weniger Rücksicht genommen, je häufiger die selbst erhobenen Daten auf eHealth-Plattformen zum Vergleich bereit stehen und sich de- zentrale, selbstregistrative Datenpraktiken mit zentralen, administrativen Sozial-, Gesundheits- oder Konsumstatistiken vermischen. Durch den Mangel an Deutungs- und Interpretationsfä- higkeit kommt es aber letztlich zu einer normalisierenden Selbstverdatung und Homogenisie- rung gesellschaftlicher Praktiken, die eine übergreifende Sinnorientierung vermissen lassen. Konkurrenzmentalität – Wer vergleicht, verliert Menschen sorgten sich schon immer um ihre Marktfähigkeit. Heute ahnen wir, dass wir ständig als Lebendbewerbung unterwegs sind und uns in allen Belangen des Lebens steigern können oder müssen. Karriere und Erfolg brauchen Anpreisung, wobei das Wissen um das eigene „Ich“ zur Pflichtübung wird – so erklärt sich die Leitformel der Quantified Self-Bewegung „Self-knowledge through numbers“ als Triumph des neoliberalen Denkens im Alltag (Stark 2014). Denn unter modernen Wohlstandsbedingungen zu leben bedeutet, sich unter Wettbe- werbsbedingungen selbst so zu konfigurieren, als wäre man eine Maschine, die optimal funkti- 138 Stefan Selke oniert. Die Konkurrenz- oder Wettbewerbsgesellschaft basiert auf dem Leistungsgedanken, der gleichwohl zu einer Ideologie verkümmerte, weil so gut wie niemand mehr an Leistungsge- rechtigkeit glaubt (Distelhorst 2014). Die Unsicherheit im Umgang mit dem Leistungsbegriff führt zu einem Rückzug auf eine einfa- che Steigerungslogik, die dann aber auf so gut wie jedes Phänomen anwendbar ist: „Joggen wird zur Leistung, ebenso wie Sightseeing oder das verfügbare Repertoire an Sexpositionen.“ (Distelhorst 2014, S. 13) Nicht nur Räume werden von diesem Leistungsgedanken okkupiert, auch das Denken. In allen nur denkbaren Bereichen des Lebens sind Nützlichkeitsdenken, Kosten-Nutzen-Analysen und Effizienzberechnungen gegenwärtig. Dies mündet in einer fol- genreichen Ausweitung des Begriffs selbst. Leistung wird zunehmend deckungsgleich mit dem Vollzug des Lebens selbst. Zwar war die Sphäre der Ökonomie in der Industrialisierung mit ihrem von außen auferlegten Leistungsdruck auf den ersten Blick betrachtet verheerend, doch ließ sie zumindest noch private Refugien und Zonen der häuslichen Ruhe übrig. Gegenwärtig dringt die Logik der Ökonomie in jeden Winkel des eigenen hybriden Lebens ein. Die Folge: „Heute hat also keiner jemals wirklich frei.“ „Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint: Trotz aller Errungenschaften […] leben wir in einer stärker ausgeprägten Leistungsge- sellschaft als die Minenarbeiter des vorletzten Jahrhunderts.“ (Distelhorst 2014, S. 12). Leistung wird also in allem gesucht, was quantifizierbar ist. Und das sind immer mehr Aspekte des eigenen Lebens, die damit automatisch einem Verwertungsprinzip unterliegen. Wenn Leis- tung in der Konkurrenzgesellschaft trotz der Indifferenz des Begriffs zum Organisationsprinzip des Sozialen wird, dann gilt Berechenbarkeit als idealtypischer Ausdruck dieses Prinzips. Die Daten des Lifeloggers ermöglichen dabei Feedbackschleifen und sind die Grundlage dafür, die eigene Leistung zu verbessern. Egal welches konkrete Ziel im Vordergrund steht, immer be- deutet es eine durch Daten gelenkte Selbstbezogenheit und damit eine gesteigerte Individuali- sierung. Der Soziologe Niklas Luhmann (1993, S. 154) behauptete gar, dass sich moderne Menschen nur durch ständige Selbstbezüglichkeit erkennen könnten, weil die äußeren Erken- nungsmerkmale, die einstmals soziale Positionen und Zugehörigkeiten anzeigten, immer selte- ner und brüchiger geworden seien. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass Selbstvermessung ja nichts anderes bedeutet als die Modellierung von Menschen unter Rückgriff auf physikali- sche Gesetzmäßigkeiten – und damit eine Naturalisierung und Verdinglichung von Menschen. Ein Beispiel dafür, das eigene Leben immer weiter unter Beweis stellen zu müssen, ist Über- wachung am Arbeitsplatz. Gegenwärtig werden Rationalisierungsformen noch weiter rationali- siert. Im Post-Taylorismus werden nicht nur einzelne Handbewegungen von Arbeitern am Fließband gestoppt, vielmehr wird der ganze Mensch vermessen. Der Wirtschaftsexperte Ja- mes Wilson spricht in diesem Zusammenhang etwa von „Physiolytics“, d.h. dass sich die Vermessung der Arbeitenden überall dort verbreiten wird, „wo es darum geht, die Leistung zu steigern“ (Wilson 2013, S. 9). Im Unterschied zu Taylor vermessen sich die Arbeitnehmer diesmal selbst. Supermarktketten wie Tesco oder der Internetgigant Amazon sind Beispiele für Unternehmen, die Laufstrecken ihrer Mitarbeiter detailliert vermessen. Die überwachten Men- schen sind gestresst, weil sie ständig mit der Aufdeckung eines Fehlverhaltens und konkreten Bestrafungen rechnen müssen. In Anlehnung an eine Regel aus dem Baseball heißt es z.B. bei Vom vermessenen zum verbesserten Menschen? 139 Amazon „Three strikes, and you’re out“ (Vanessa 2013). Lifelogging am Arbeitsplatz geschieht auch mit Einwilligung des Arbeitnehmers gerade nicht freiwillig, da dieser sich in einem Ab- hängigkeitsverhältnis zum Arbeitgeber befindet. Kritiker ziehen deshalb Vergleiche zur klassi- schen Sklaverei. Der Geograf Jerome Dobson (2003, S. 51) spricht von „Geoslavery“ und meint damit eine Praxis, den Aufenthaltsort und die Leistung eines anderen Menschen heimlich zu überwachen. „Teil des Begriffs ist, dass der Herr in der Lage ist, jede Bewegung des Skla- ven nach Zeitpunkt, Position, Geschwindigkeit und Richtung zu überprüfen.“ Kommensuration – Das Ganze und seine Teile Es stellt sich die Frage, warum Selbstvermessung so wirksam und für viele Praktiker so faszi- nierend ist, wie in diesem Beispiel angedeutet: „Erhebend ist das Gefühl, die Linien in der grafischen Darstellung sich verschmelzen zu sehen, also eine Übereinstimung vom subjektiven Selbstbild und Realbild zu haben.“ (Pauk 2014, S. 43) Wie kommt es zu solchen euphorischen Kommentierungen? Lifelogging basiert auf Kennzahlengläubigkeit und der Verwechslung des Ganzen mit seinen Teilen. Der Glaube an die prinzipielle Vermessbarkeit von fast allem ist eine smarte Ideologie, „die ihre Macht aus der Inszenierung eines allgegenwärtigen Scheins der Objektivität bezieht“ (Distelhorst 2014, S. 19). Die Quantifizierung selbst beinhaltet ein Kontrollelement. Sie ist letztlich nichts anderes als ein Nützlichkeitsnachweis mit Feedbackfunktion in Echtzeit. Doch dabei kommt es zu logischen Brüchen, die an einem Beispiel verdeutlicht werden können. Als Goethe, hochbetagt, gefragt wurde, ob er ein glückliches Leben gehabt hatte, antwortete der Dichter: „Ja, ich hatte ein sehr glückliches Leben. Aber ich kann mich an keine einzige glückliche Woche erinnern.“ (zit.n. Baumann 2014, S. 66). Das Zitat verdeutlicht das Problem der Kommensuration, den Fehler, qualitative Eigenschaften in quantitative Werte zu transformieren und damit messbar und ver- gleichbar zu machen. Bei der Selbstvermessung tritt es in gesteigerter Form auf. Die Verfah- renslogik der Vermessung erzwingt, völlig heterogene Daten zu einem Gesamtbild zusammen zu setzen, die oft genug in einem Widerspruch zu lebenspraktischen Bezügen stehen. Einzelne vermessbare Aspekte eines Ganzen (Arbeit, Glück, Gesundheit) werden mit den Einzelwerten verwechselt. Digitale Selbstvermessung ist anfällig für derartige Kategorienfehler. Je mehr Einzelaspekte sich vermessen lassen, desto eher treten das Messen selbst und damit auch das Bewerten in den Vordergrund. Die eigentlichen Ziele werden von den Mitteln der Datenerfas- sung dominiert. Diese gestörte Zweck-Mittel-Balance und die damit einhergehende Normie- rung von beinahe allem ist eine der augenfälligsten Paradoxien, die mit Lifelogging verbunden ist. Daten verwandeln komplexe Persönlichkeiten in numerische Objekte. Vermessung macht im Extremfall aus gesunden Menschen kranke Konsumenten. Kommerzialisierung – Daten als Rohstoff der Zukunft Einer der Treiber für Lifelogging ist das unter Kostendruck stehende Gesundheitswesen. Ein „Digital Health Consultant“ bei einer Münchner Unternehmensberatung prophezeit, dass die 140 Stefan Selke regelmäßige Vermessung von Körperwerten fester Bestandteil der Präventionslogik im Ge- sundheitswesen werden könne (Leipold 2015, S. 35). Doch ist Selbstvermessung dafür der richtige Weg? Denn Lifelogging liefert Lebensdaten als Rohstoffe für kommerzielle Anwen- dungen. Kommerzialisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass diese Daten nach markt-förmigen Gesichtspunkten verwertet werden. Um in Märkten zu navigieren, werden Kennzahlen benötigt, keine Intuition oder Erfahrung. Als Folge davon leben wir in einer Hitpa- raden-Gesellschaft, in der wir ständig und überall von Smilies, Listen, Evaluationen und Ran- kings umgeben sind, die uns (angeblich) helfen, den eigenen gesellschaftlichen Ort zu bestim- men. Gelockt werden Konsumenten dabei mit Rabatten. Die Düsseldorfer Sparkassen Direkt- Versichung erprobt seit Anfang 2014 ein sogenanntes Scoring-System. Dabei werden kostenlos Telematik-Boxen in private Pkws eingebaut, die automatisch alle 20 Sekunden Fahrdaten an eine Zentrale übermitteln. Auf der Basis von vier zentralen Kriterien (Tempo, Stadtfahrt, Nachtfahrt und Beschleunigung/Bremsen) wird ein Wert ermittelt, der dem Nutzer im besten Fall einen Rabatt von fünf Prozent auf die Jahresversicherungspolizze einbringt (Leipold 2015, S. 38). Neben der Vermessung von Fahr- und Arbeitsleistungen fällt als Anwendungsfeld vor allem das Gesundheitswesen auf. Die Meldung, dass Generali, einer der fünf größten Erstver- sicherer in Deutschland, Gesundheits- und Fitnessdaten seiner Kunden auswerten und für ein Incentive-Programm nutzen will, ruft erste Kritik von Verbraucherschützern hervor. Die Versi- cherung kündigte an, ein Rabattprogramm für diejenigen Kunden anzubieten, die ihre gelogg- ten Gesundheitsdaten transparent machen. Neben dem Zweifel an den Rabatten und Gutschei- nen, die auf digitaler Selbstvermessung und Selbstdokumentation, beruhen, stellen sich beim Geschäftsmodell von dacodoo weitere Zweifel. Das Unternehmen bietet den Service, basierend auf individuellen Einzelwerten einen kollektiven „Healthscore“ für ganze Belegschaften von Firmen zu errechnen, aus dem sich dann der Versicherungsbeitrag für die Betriebskrankenkas- se ergibt. Lifelogging scheint dabei den Zeitgeist zu repräsentieren. Nach einer Studie des Markt- forschungsunternehmen Yougov können sich 32 Prozent der Bundesbürger vorstellen, gesund- heits- und fitnessbezogene Daten zu messen und mit der Krankenversicherung zu teilen, damit sie Vorteile erhalten. Jeder fünfte Befragte kann sich die digitale Vermessung der eigenen Kinder vorstellen. Allerdings haben die meisten auch ein Gespür für die Schattenseiten der transparenten Selbstvermessung – 73 Prozent der Befragten denken, dass bei einer Verschlech- terung des Gesundheitszustandes die Versicherung mit einer Beitragserhöhung reagiert. Und sogar 81 Prozent glauben, dass ihre Daten auch für andere Zwecke verwendet werden.1 Und dabei liegen sie nicht verkehrt. Als besonders bedenklich wird derzeit der verstärkte Trend zum An- und Verkauf persönlicher Daten durch Dienstleister wie Data Fairplay gesehen, die Firmenkunden mit den Privatdaten Einzelner zum Konsumverhalten, zur Freizeitgestaltung und vielen weiteren Themen versorgen. Datenschutzorganisationen befürchten, dass einzelne private „Datenzulieferer“ sich einzig und allein aus einer finanziellen Notlage heraus zur Preis- 1 https://d25d2506sfb94s.cloudfront.net/r/19/Studienflyer_Quantified_Health.pdf [Stand vom 04.04.2015] Vom vermessenen zum verbesserten Menschen? 141 gabe ihrer Daten entscheiden könnten. Problematisch sind daran nicht nur Datenschutzaspekte. Schon jetzt integriert die Health-App von iOS8 Daten von Drittanbietern und führt z.B. Ver- messungswerte wie Blutdruck, Herzfrequenz und verbrauchte Kalorien zusammen. Die IT- Sicherheitsfirma Symatec untersuchte in ihrer Studie How safe is your quantified self? 2014 verschiedene Anwendungen und kam zu einem ernüchternden Ergebnis: Datenschutz und Nutzersicherheit scheinen einer Vielzahl von Anbietern im Bereich der digitalen Selbstvermes- sung egal zu sein. Fitness-Apps korrespondieren ohne Wissen des Nutzers im Schnitt mit fünf Domains. Meistens handelt es sich dabei um Marktingfirmen, die sich mit Targeting und Tra- cking spezialisiert haben, also Nutzerprofile erstellten und vermarkten.2 In veränderten Vorstellungen von Privatheit zeigt sich, wie sich Selbstverzweckungsprinzipien auf die kulturelle Matrix auswirken. Problematisch an Lifelogging ist die Tiefe der Informatio- nen, die „sehr viel über einen Menschen erzählen“ (Leipold 2015, S. 37). Privatheit setzt heute eine besondere Anstrengung voraus. „In den 50ern und 60ern sind wir davon ausgegangen: privat by default und öffentlich durch Arbeit. […] Man muss sich heute richtig anstrengen, um sich und sein Leben geheim zu halten. Wir haben also öffentlich by default und privat durch Arbeit.“ (Krcmar 2014, S. 12). Leben in der versachlichten Realität – Pathologien des Quantifizie- rens Der Preis für das Leben in der versachlichten Realität sind einige Pathologien, die der Logik der Vermessung anhaften. Im Kern geht es dabei darum, dass wir gerade dabei sind, unsere Vorstellungen darüber, was „normal“ ist, an selbst erfasste Datenreihen und softwaregestützte Auswertungssysteme zu delegieren. Verantwortungsverlagerung in technische Systeme Zu den vertikalen Formen der Kontrolle gesellen sich zunehmend auch horizontale Formen. Lifelogging schafft damit ein verdoppeltes Kontrollregime, das auf einer Abweichungssensibi- lität von „Sollwerten“ basiert. Die Zunahme von Verunsicherungsphänomenen scheint diese Kontrollneigung zu legitimieren und zu einer schleichenden Akzeptanz expliziter und implizi- ter Formen von Überwachung zu führen. Ein Beispiel dafür ist die Überwachung der Wohnräume von Senioren. Die Entwicklung tech- nischer Assistenzsysteme, die älteren Menschen mit eingeschränkten kognitiven, motorischen oder sensorischen Fähigkeiten in Alltagssituationen unterstützen und ihnen zu einem autono- men Leben verhelfen sollen, ist unter dem Begriff Ambient Assited Living (kurz: AAL) be- kannt. Die Integration technischer Assistenzsysteme in bestehende Pflege- und Betreuungsan- gebote erlaubt es den Unternehmen in dieser Branche, von dem demografischen Wandel zu 2 http://www.symantec.com/content/en/us/enterprise/media/security_response/whitepapers/how-safe-is- your-quantified-self.pdf [Stand vom 04.04.2015] 142 Stefan Selke profitieren (Georgieff 2008). Neben Notrufsystemen, die auch „stille Suchanfragen“ zulassen, ist das private Wohnumfeld inklusive persönlicher Lebensgewohnheiten längst von außen einsehbar. In „intelligenten“ Häusern dokumentieren sogenannte „Smart Meter“ den Ver- brauch eines Haushaltes bis auf die Ebene einzelner Geräte. Damit kann festgestellt werden, seit wann eine Person nicht mehr geduscht hat, wann sie ins Bett gegangen und aufgestanden ist und ob sie sich wie gewöhnlich einen Kaffee gekocht hat. Alltag wird in „Events“ eingeteilt und für digitale Messgeräte sichtbar gemacht. Abweichungen von einem als Standard definier- ten Normalprofil lösen einen Alarm aus, etwa wenn die Kaffeemaschine schon länger keinen Strom verbraucht hat und daraus der Schluss gezogen wird, dass „etwas nicht in Ordnung ist“. Berührungsempfindliche Badematten oder Teppiche messen, ob jemand (noch) steht oder (schon) liegt und aufwendige Video-Monitoringsysteme erkennen softwaregesteuert Stürze. Anbieter wie JustChecking oder RWE Smarthome überprüfen auf Wunsch den Aufenthalt von Personen in Räumen und lösen im Falle eines Unfalls eigenständig einen Alarm aus. Noch ist unklar, wo diese Entwicklung enden wird. Deutlich wird aber, dass sich das Veran- wortungsgefüge in Richtung sozio-technischer Systeme verschiebt. Menschliche Zuwendung und soziale Interaktion wird in das Feld der Technik ausgelagert. Diese Form der Lebensver- messung führt unter Umständen also gerade zur Abwendung vom Anderen und erzeugt eine Form technisch unterstützter Distanzierung. Wenn Überwachung nach außen hin einen Für- sorgecharakter erhält, dann gilt sie als moralisch unbedenklich. Übersehen wird allerdings oft, dass auch diese Art der Fürsorge ihren Preis hat. Das Motiv der „Überwachung als Fürsorge“ hat erkennbar seine Unschuld verloren. Gerade die „autonomen“ Techniken sind blind für menschliche Ziele. Die Sorge um den anderen kann nur sehr begrenzt an die Technik delegiert werden, ohne die notwendige Unmittelbarkeit der menschlichen Interaktion zu gefährden. Der Soziologe Zygmunt Bauman sprach in diesem Zusammenhang von „Adiaphorisierung“ (Baumann & Lyon 2013, S. 165), womit er die Befreiung des eigenen Handelns von moralischen Bedenken durch technische Geräte meinte. In letzter Instanz wird mehr Technik auch immer zu mehr Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit führen. Es ist das Gegenteil dessen, was Emmanuel Le- vinas mit dem „fürsorglichen Blick“ meint, der sich aus dem ganzheitlichen Verständnis des Menschen speist (Schnabl 2005). Ein ebenso großes Risiko liegt in der disziplinierenden Wir- kung der Technologien. Assistive Systeme können auch zu Entwürdigungsmechanismen wer- den, bei denen die Würde des Menschen sich zwischen den Funktionalitäten verflüchtigt. Die technisch assistierten Menschen gewinnen zwar Freiheitsgrade, bei Angehörigen steigt das Gefühl der Sicherheit, und sie gewinnen zusätzlich Lebensqualität zurück. Erkauft wird dieses gute Gefühl aber durch den Verlust an Privat- und Intimsphäre. Überwachung kippt in eine Form der Disziplinierung, die dem eigentlichen Ziel, ein selbstbestimmtes Leben im Alter zu fördern, paradoxerweise entgegensteht. Ökonomisierung des Privaten Eine weitere Pathologie besteht in der vollständigen Umbewertung menschlicher Arbeitskraft. Die Frage nach dem Maß verschiebt sich zur Frage nach dem messbaren Wert des Menschen. Vom vermessenen zum verbesserten Menschen? 143 Das gesamte ‚Ich’ wird mit seiner Arbeitskraft gleichgesetzt. Flexibilität, Engagement, Eigen- initiative und Freude sind mehr denn je grundlegende Bestandteile der Ware Arbeitskraft. Zu- nehmend wird der Begriff Leistung deckungsgleich mit dem Vollzug des Lebens selbst. Diese lustvolle Optimierung des eigenen Marktwertes können aber nicht alle Marktteilnehmer in gleicher Weise betreiben. Es gibt unterschiedliche Ausgangsbedingungen und Ressourcenaus- stattungen. Soziale Erschöpfung tritt dort auf, wo sich Gesellschaften vom „Verkauf der Ar- beitskraft“ verabschieden und zum „Verkauf der Persönlichkeit“ übergehen. Es sind exakt diese Erfahrungen der zugespitzten Verunsicherung und radikalisierten Kontingenz sowie die vollständige Ausrichtung an der eigenen Verwertbarkeit, die dafür sorgen, dass sich der Kapi- talismus Zugriff auf die gesamte Persönlichkeit verschafft. Vor diesem Hintergrund ist es fast zwingend logisch, dass als Leistung schlicht das anerkannt wird, was vermess- und berechen- bar ist oder scheint. Der Mensch wird zum numerischen Objekt. Das beginnt schon früh, in der Schule. Dort wird versucht Bildungserfolg auf einer Notenskala von 1 bis 6 abzubilden. Und erfolgreiche Schüler nennen Lehrer dann „Einser-Kandidaten“ – der Prototyp eines numerischen Objekts. Das Ausweichen auf Messbares wird aber gegenwärtig selbst maßlos. Einser-Kandidaten finden sich in der Ära der Selbstvermessung überall. Aber was gibt es über Menschen zu sagen, an denen alles zum Produktionsfaktor geworden ist? In jedem Lebensbereich kann der entspre- chende Messwert aus dem Gesamtphänomen Mensch herausgeschnitten werden – was zugleich das Gesamtphänomen Mensch zum Verschwinden bringt. Messung als Organisationsprinzip des Sozialen Ist der Mensch erst einmal zum numerischen Objekt geworden, dann kann die Vermessung des Lebens durch Lifelogging zum Organisationsprinzip des Sozialen erhoben werden. Messen und Vergleichen basieren dabei immer auf der Herstellung von Differenzen. Die gegenwärtigte Differenzempfindlichkeit manifestiert sich eher im Glauben an eine Besonderheitsindividuali- tät, die sich als Singularität zu Markte tragen lässt: in Bildungs-, Beziehungs- und Arbeits- märkte. Und immer tun wir so, als ob es dabei nicht um Gewinnen oder Verlieren ginge. Die Ausbreitung des ökonomischen Verwertungsprinzips innerhalb einer Ökonomie des Priva- ten führt dazu, dass sich eine neue Abweichungssensibilität etabliert, die einerseits zur Ver- mehrung oder gar Dominanz negativer Organisationsformen des Sozialen führt, andererseits zu einer fortschreitenden Nivellierung von Bedeutungsverhältnissen, die umgekehrt die Formulie- rung positiver sozialer Prinzipien zusehends erschwert. Wenn Berechenbarkeit und Vermess- barkeit als idealtypischer Ausdruck des Leistungsprinzips verstanden wird, dann verdinglicht sich das Soziale zusehends. (Qualitative) Bedeutungsverhältnisse werden nivelliert oder im Extremfall zum Verschwinden gebracht. Die Beziehungsgefüge werden sich daher in Richtung einer Umdefinition von Alltags- situationen und einer Abstraktion von Lebenssituationen unter dem Diktum der Daten verän- dern. Hierbei stehen vor allem Verdinglichungseffekte im Mittelpunkt. Das markanteste Bei- spiel dafür ist sicher die Vermessung der Liebe. Während John Gottman in seinem berühmten 144 Stefan Selke „Love Lab“ (Gottmann 2014) noch ganz auf analoge Vermessungstechniken setzte, um die Geheimnisse einer stabilen Paarbeziehung zu ergründen, werden heute mühelos Apps einge- setzt, um den eigenen „Bangability Score“ zu ermitteln oder in Kombination mit Google Glass sich selbst durch die Augen des Partners beim Sex zu beobachten. Um die Reichweite des Quantifizierungsparadigmas angemessen einzuordnen, muss man zum Bedeutungskern der Vermessung vordringen. Würden Daten das Vermessene nur beschreiben, wäre daran nicht viel auszusetzen. Aber aus deskriptiven Daten werden schnell vergleichende („normative“) Daten. Daten „übersetzen“ soziale Erwartungen. Die Erwartungen, die sich über Daten ausdrücken lassen, bestimmen den gültigen Korridor zwischen maximaler Perfektion und minimaler sozialer Respektabilität. Schon beim Übergang zur Neuzeit prägte Rousseau den Begriff perfectibilité, also die Fähigkeit des Menschen sich selbst zu vervollkommnen. Er beschrieb diese als unstillbare Neigung, sich selbst immer perfekter zu machen. Umgekehrt senken gerade der Umbau gesellschaftlicher Integrationsapparaturen („Sozialstaat“) mit seinen ganz eigenen Vermessungs- und Kontrollmethoden (z.B. zur Feststellung legitimer Bedürftig- keit) das Niveau der sozialen Respektabilität, so weit ab, dass ganze Bevölkerungsgruppen in Generalverdacht geraten und kollektiv stigmatisiert werden. Daraus lässt sich schlussfolgern: Vermessen führt immer zu (sozialen) Vergleichen und Ver- gleichen endet in sozialen Sortierungen. Auf diese Weise trägt die Selbstvermessung zu einer neuen moralischen Konformität bei und nivelliert gesellschaftliche Erwartungsmuster. Egal, ob uns Geheimdienste mit Antennen, Pflegedienstleister mit assistiven Technologien im eigenen Wohnumfeld, Krankenkassen beim Sport oder Dienstherren am Arbeitsplatz überwachen – die zentrale Frage wird in Zukunft lauten: Wie weit kann man von der „Norm“ abweichen und trotzdem noch „normal“ sein? Rationale Diskriminierung und Vor-Urteile Die Normativität der Daten, die letztlich nur soziale Erwartungen übersetzen, mündet schließ- lich in einer solidaritätszersetzenden Diskriminierung. Das Phänomen der rationalen Diskrimi- nierung ist eine der weitreichendsten Pathologien der Quantifizierung. Diese Form der Diskri- minierung basiert nicht auf rassistischen oder sexistischen Formen der Aberkennung eines sozialen Status, sondern auf vermeintlich objektiven und vor allem rationalen Messverfahren. Gleichwohl werden durch Software neue soziale Bewertungsmechanismen und damit digitale Versager und Gewinner produziert. Rationale Diskriminierung produziert neue Formen der Stigmatisierung und Repression durch die Einteilung in (meist binär codierte) Gruppen. So werden sortiert: Leistungsträger versus Leistungsverweigerer; Kostenverursacher versus Kos- teneinsparer; „Health-On“-Menschen (Gesunde) versus „Health-off“-Menschen (Kranke) so- wie Nützliche versus Entbehrliche. Es kommt zu einer Renaissance vormoderner Anrufungen von „Schuld“ im modernen Gewand der Rede von der „Eigenverantwortung“. Der Soziologe Loic Wacquant (2013) zeigt, dass wir längst mitten in einer Phase sind, in der kollektive Unsi- cherheiten auf allen Ebenen mit individuellen Strafen belegt werden. Lifelogging kann vor diesem Hintergrund auch als eine Art shame punishment verstanden werden, auch wenn dies nicht immer auf den ersten Blick offensichtlich ist. Vom vermessenen zum verbesserten Menschen? 145 So verkauft US-Unternehmen Fitbit (Weltmarktführer bei Fitnessarmbändern) seine ‚Tracker’ unter anderem an Firmen, die damit die Gesundheitsbemühungen ihrer Belegschaft „unterstüt- zen“. „Ganze Abteilungen konkurrieren bei der Jagd nach dem besten Healthscore“ (Leipold 2015, S. 38). Hinter dem Versprechen auf weniger Krankheitstage, die Senkung ge- sundheitsbezogener Kosten und der Steigerung der Mitarbeiterproduktivität steckt auch eine Form rationaler Diskriminierung, die Druck auf diejenigen ausübt, die sich suboptimal verhal- ten. Ethisch noch weitreichender als ex-post-Sortierungen sind ex-ante-Sortierungen, die auf der Basis mathematischer Modelle Vorhersagen über das Verhalten von Menschen machen – bevor dieses eintritt. Jeder, der den Film Minority Report kennt, wird sich wundern, dass das Science Fiction Szenario des Films inszwischen vielerorts Alltag geworden ist. In der extremsten Aus- prägung könnten Daten anzeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der jemand ein Verbrechen begehen wird, steigt – woraufhin er vorbeugend verhaftet wird. Bereits die Hälfte aller Bewäh- rungsausschüsse in den USA verwenden Verhaltensvorhersagen auf der Grundlage von Big- Data-Analysen. In ersten Städten der USA hat sich predictive policing durchgesetzt. In rund einem Dutzend Modellprojekten in den USA und Europa werden Big-Data-Analysen einge- setzt, um bestimmte Stadtteile, Straßen, Personengruppen oder sogar einzelne Personen gezielt zu überwachen, weil sie als anfälliger für ein Verbrechen eingestuft werden (Vlahos 2012). In Memphis werden mithilfe des Programms CRUSH (Crime Reduction Utilizing Statistical His- tory – Verbrechensbekämpfung mithilfe statistischer Auswertung historischer Daten) Wahr- scheinlichkeitsangaben darüber erstellt, in welchen Straßenzügen und an welchen Tagen die Polizei ihre Einsatzkräfte konzentrieren sollte. In Richmond kombiniert die Polizei Verbre- chensstatistiken mit zusätzlichen Daten, zum Beispiel den Auszahlungstagen des Lohns bei Unternehmen, großen Konzerten oder Sportveranstaltungen. Vorhersagen auf der Basis von Korrelationen sind eine sozialethische Herausforderung für die Gesellschaft, weil Personen allein aufgrund von Wahrscheinlichkeitsaussagen klassifiziert werden und dennoch konkrete Folgen in Kauf nehmen müssen. Daten aus einem Gesundheits- monitoring könnten die Wahrscheinlichkeit anzeigen, einen Herzinfarkt zu erleiden – worauf- hin sich die Krankenversicherung verteuert. Daten aus dem Konsumverhalten könnten anzei- gen, dass die Wahrscheinlichkeit sinkt, über eine ausreichende Kaufkraft zu verfügen – wo- raufhin der Hypothekenantrag abgelehnt wird. Daten aus dem Aktivitätstracking könnten zei- gen, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass ein Arbeiter in Zukunft weniger produktiv ist – woraufhin er gekündigt wird. Dies kann absurde Ausmaße annehmen. In den USA verursachen Schüler mit guten Noten statistisch weniger Verkehrsunfälle. Als Folge davon stiegen die Ver- sicherungsprämien für schlechte Schüler (Mayer-Schönberger &Cukier 2013, S. 202). In dieser digitalen Klassengesellschaft erodiert dann auf lange Sicht jegliches Solidargefüge auf der Basis rationaler Diskriminierung, wobei die digitalen Versager (also Menschen, die sich der Selbstvermessung verweigern oder deren Idealwerten nicht entsprechen) zunehmend auf der Basis neu zu etablierender Steuerungsmechanismen als „Verliererklasse“ aussortiert werden. Die Ausdifferenzierung von erbrachten Leistungen über Evaluationen, Kennziffern, Rankings oder Indizes führt einerseits zu einer Überdehnung des Informationsgehalts von Zah- 146 Stefan Selke len und Messreihen. Andererseits wird damit aber ein neues universalistisches Prinzip der Vergewisserung über Zukünfte (von Schülern, Mitarbeitern, Konsumenten, Partnern) einge- führt. Durch die Privatisierung von Big-Data-Ansätzen kommt es gerade im Gesundheitswesen zu einer Ablösung institutionalisierter Solidaritätsgefüge auf der Basis von Kollektivverträgen. An deren Stelle stehen zunehmend individualisierte Vertragsverhältnisse. Die kalkulatorische Vorhersage geringer Risiken geht dann mit individuellen Belohnungen und Sanktionen einher und umgekehrt. In einem Betrieb, der über einen kollektiven „Health Score“ (als Mittelwert aller Mitarbeiter) bei einer Betriebskrankenkassen eingestuft wird, kann es nicht lange dauern, bis sich Kollegialität verflüchtigt und in Druck auf Einzelne umwandelt, die sich durch „ab- weichendes Verhalten“ auszeichnen. Erschreckend ist, für wie selbstverständlich inzwischen individualisierte Schuldzuweisungen empfunden werden und wie rücksichtslos Vertreter des Risikoäquivalenzprinzips darin ein Allheilmittel zur ökonomischen Stabilisierung von Märkten sehen. Über den verobjektivierten Körper als Datenlieferant entscheidet die datengestützte Erfassung aller Lebensbereiche über Zugänge und Ausschlüsse, Vor- und Nachteile sowie soziale Anerkennung und Diskriminierung. Letztlich mündet dies in eine „Normalgesell- schaft“, die sich nur noch über die Einteilung in Risikogruppen, krisenhafte Milieus und Prob- lemgruppen steuern lässt. Der Mensch als Ware Erst wird der Mensch zum numerischen Objekt, letztlich aber zur Ware. Der Endpunkt in der Reihe dieser Selbstverzweckungsprinzipien ist die komplette Kommodifizierung des Men- schen, die Transformation des Menschen in eine fiktive Ware („fictitious commodity“, vgl. Polanyi 2014). Wir konsumieren also nicht allein Status anzeigende Produkte, sondern machen uns in Form einer Lebendbewerbung auch selbst zur Ware – und empfinden das gleichzeitig als Basis der eigenen Individualität. Wer sich selbst immer wieder auf den Markt bringen muss, trachtet danach, gut in Form zu sein. Selbstvermesser sind zugleich Werbende und beworbenes Produkt. Es ist eine still- schweigend als wertsteigernd empfundene Investition in den eigenen sozialen Status und die eigene Selbstachtung. Die zentrale Prüfung, die abzulegen ist, besteht darin, sich selbst als Ware zu konfigurieren. „‚Konsumieren‘ bedeutet heutzutage nicht mehr, sich Genussmittel zu verschaf- fen“, erläutert der Soziologe Zygmunt Bauman, „sondern in gesellschaftliche Zugehörigkeit zu investieren: […] in die eigene ‚Verkäuflichkeit‘; entweder man erwirbt Eigenschaften, für die bereits eine Nachfrage am Markt besteht, oder stülpt seinen vorhandenen Eigenschaften eine Warenform über, die Nachfrage zu erzeugen vermag.“ (Baumann & Lyon 2013, S. 47) Wer uneingeschränkt selbst für seine „Gebrauchsfertigkeit“ verantwortlich ist, heißt selbstver- ständlich alle Hilfsmittel und Werkzeuge willkommen, die dazu beitragen, den eigenen Betrieb störungsfrei aufrechterhalten zu können. Letztlich muss aber die Ökonomie und nicht die Vom vermessenen zum verbesserten Menschen? 147 Technologie der Selbstvermessung dafür haftbar gemacht werden, sich um jeden Preis das für sie geeignete „Menschenmaterial“ (Lutz 2014, S. 11) zu beschaffen. Damit ändert sich nach und nach auch das Bewusstseinsgefüge in Richtung einer neuen Sub- jektmodellierung. Noch nie verfügten Menschen über einen so tiefen Spiegel ihres Lebens. Lifelogging ist begleitet vom Versuch einer dauerhaften Momentorientierung und Überhöhung des Augenblicks bei gleichzeitiger Vorratshaltung der Daten für alle Ewigkeiten. Dieses Leben in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen verschiebt letztlich die Sinneswahrnehmung, fragmentiert das Alltagsbewusstsein und beraubt Letzteres um dessen synthetisierende Kraft, weil alle Eindrücke nur noch als „sinnlose“ Datenspuren nebeneinander vorliegen. Die neue Subjektmodellierung läuft auf einen Prozess der Umerziehung unseres Selbstverständnisses hinaus. Wenn eine Dublette des Menschen auf der Basis selbst erhobener Daten entsteht und in diesem Selbstverständnis gar die Möglichkeit des Weiterlebens als digitaler Avatar mitgedacht wird, dann zeigt sich spätestens, dass Angst die emotionale Grundierung des Selbstvermes- sungs-Booms darstellt. Latente Verlustängste (Gesundheit, Gedächtnis, Mobilität) un-terliegen fast allen Manifesten der Lifelogger. Die objektivistische Verformung der Subjektivität hat Folgen für uns alle: Der Mensch wird zum Konformisten, blind für die Möglichkeiten eigenen Denkens und vor allem autonomer Entscheidungen. Selbstvermessung total – Lifelogging als Bürgerpflicht? Das protokollierte Leben ist kein Selbstzweck. Lebensbewältigung und Selbstoptimierung sind keine finalen Ziele von Lifelogging. Disruptive digitale Transformationen zielen vielmehr auf die Auslagerung von Entscheidungen. Grundlage hierfür ist eine Entwicklung, die nicht von realweltlichen Fragestellungen ausgeht, sondern datengetriebene Prozesse in den Mittelpunkt stellt (Krcmar 2014, S. 10). Es geht also nicht darum, was Menschen brauchen, sondern darum, wie sich Daten (gewinnbringend) verbinden lassen. Zwar erzeugen wir immer öfter „Daten durch Taten“. Aber darüber hinaus gilt es zu fragen, wer denn in Zukunft auf Basis dieser Daten Entscheidungen über uns trifft. Lifelogging ermög- licht ein völlig neues Lebensgefühl. Zumindest dann, wenn man dem Visionär Gordon Bell (Microsoft) Glauben schenkt, der prognostiziert, dass sich die Bedeutung dessen verändern wird, was ein Mensch in Zukunft ist (Bell 2010, S. 4). Selbstvermessung und Selbstkontrolle sind nur Vorstufen einer Entwicklung, die in der Ära der Entscheidungsmaschinen enden wird. Entschieden wird über Feinde oder „Sozialschmarotzer“, über Faule oder Leistungsverweige- rer, Dumme, Arbeitsunfähige, Konsumunwillige. Aber rationale Diskriminierung ist keine Eigenschaft der Technik selbst. Dabei sollte bedacht werden, dass Maschinen von Menschen programmiert werden: Nicht die Technik überwacht Menschen, Menschen überwachen Men- schen. Dann aber stellt sich die Frage, wer über Pensum und Belohnung am Arbeitsplatz ent- scheidet, über Punkte und Rabatte für vorsichtiges Autofahren, über richtiges und präventives Gesundheitsverhalten und über fleißiges Lernen? Welche Welt- und Menschenbilder gehen in die Software ein? 148 Stefan Selke Eine mittlerweile unüberschaubare Anzahl von Anbietern vermarktet Technologien, die digita- le Selbstvermessung ermöglichen. Dabei weitet sich die Zone der maschinengetriebenen Ent- scheidungen stetig aus. Fast harmlos erscheint vor diesem Hintergrund ein Beispiel des bereits erwähnten Gordon Bell, der die Entscheidung darüber, ob er sich ein Eis gönnt, seiner digitalen ‚Black Box’ überlässt. Sie teilt ihm mit, ob er einen bestimmten „Schwellenwert“ des Kalori- enverbrauchs unterschritten hat und signalisiert ihm die „Freigabe“ für den Eiskonsum. Le- bensfreude findet also nur im mathematischen Korridor vorprogrammierter Angemessenheit statt. Dies führt zum Verlernen („de-skilling“) elementarer Kompetenzen, die eben auch eigene Entscheidungen betreffen. Ähnliches zeigt sich bei der App Ampelini (www.ampelini.de), die Kindern helfen soll, beim Überqueren einer Straße die richtige Entscheidung zu treffen. Eltern verlassen sich beim Baby-Logging mit Owlet (www.owletcare.com) auf die Kontrolle der Software („monitor you baby from your smarphone“). In diesen und in vielen anderen Fällen wird vor allem ein Zuwachs an Sicherheit versprochen. Während die Selbstvermessungsszene immer noch auf die „Killer-Applikation“ wartet, die Lifelogging endgültig zum (kommerziel- len) Durchbruch verhilft, weitet sich indessen die Vermessungszone aus: Sleep-Logging, Sex- Logging, Mood-Looging, Thing-Logging und Death-Logging sind bereits jetzt möglich. Kein Aspekt des Lebens bleibt ausgespart. Und damit stellt sich die Frage, was passiert, wenn Ma- schinen nicht nur simple Entscheidungen wie das Überqueren der Straße oder den Kauf einer Portion Eis beeinflussen, sondern auch komplexe Entscheidungen übernehmen. Für das Leben in der Perfektionskolonie werden immer raffiniertere Helfer entwickelt. Dabei stellt sich die Frage, wann die Maschinen uns erstmals auch ethische Entscheidungen, z.B. solche über Le- ben und Tod abnehmen werden (Rauner 2015). Die Heilsversprechungen der Lifelogging-Szene haben ihre Wurzeln unverkennbar in einem Soluntionimus kalifornischer Prägung, der davon ausgeht, dass sich für jedes Problem dieser Welt eine technische und pragmatische Lösung finden lässt (Mozorov 2013, S. 19ff.) Lifelog- ging passt in diese Denkhaltung. Es ist in diesem Zusammenhang aber mehr als eine Fußnote der Geschichte, dass einer der Mitbegründer der Quantified Self Bewegung, Kevin Kelly, zu- gleich einer der zentralen Ideengeber des Neoliberalismus ist. Kelly nutzte in seiner Stellung als Chefredakteur die Zeitschrift Wired als publizistische Plattform, um neoliberales Gedan- kengut voranzutreiben. Zudem legte er mit seinem einflussreichen Buch Neue Regeln für die New Economy die Prinzipien fest, die gegenwärtig in der Big-Data-Idee aufgehen. Der erste Satz dieses einflussreichen Buches lautete: „Niemand entgeht dem verwandelnden Feuer der Maschine.“ (zit. n. Schirrmacher 2013, S. 283.) Damit ist der Markt gemeint, der gerade die Welt und ihre Werte verschluckt. Lifelogging bringt Menschen dazu, ihr eigenes Leben markt- fundamentalistisch zu organisieren. Kelly, der mit Gary Wolf den neuen Selbstvermessungs- kult etablierte, verlangt, dass der Mensch „selbst zum Werkstück [wird], das seinen Wert erst durch Verarbeitung und Tausch bekommt.“ (zit.n. Schirrmacher 2013, S 227). Es scheint, als hätten die Anhänger der Quantified Self Bewegung das Kleingedruckte in den Manifesten ihrer Gurus nicht wirklich gelesen. Selbstvermessung bedeutet das Durchlaufen hochspezifischer Trainingseinheiten zum Erlernen und Erwerb kulturell prämierter, sichtbarer Eigenschaften. Die Trainingseinheiten sollen zur Selbstrationalisierung der Lebensführung beitragen. Was aber in diesen Trainingseinheiten Vom vermessenen zum verbesserten Menschen? 149 nicht mehr vorkommt, ist das Erlernen des Umgangs mit Überraschungen, Geheimnissen, Intuitionen und Kontingenz. Um in der neuen versachlichten Realität zu leben, braucht es Zweisprachigkeit: Zählen steht neben Erzählen, Messen steht neben Ermessen. Die Ambiva- lenz von Lifelogging lässt sich vielleicht am Besten an zwei bekannten Filmfiguren illustrieren. In der Serie Star Trek repräsentiert Mr. Spock die Verkörperung der Logik und des Rationalen – bis in die Körpersprache hinein. Captain Kirk hingegen verkörpert Unsicherheit und Emotio- nalität – eben das Menschliche. Der Versuch einer Gesamtdeutung des Phänomens Selbstver- messung kann also von der Diagnose ausgehen, dass wir mitten in der Aushandlung dessen sind, was in Zukunft ein Mensch ist oder zu sein hat. Es wird ein Wesen zwischen Mr. Spock und Captain Kirk dabei herauskommen. Literatur Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne & Lemke, Thomas (Hg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Baumann, Zygmunt (2012): Liquid Modernity. Cambridge: Polity. 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