Rundfunku nd Geschichte J\!fitteüungen des Studienkreises Rundfunk U11d G-eschichte Thomas Pc:gelo\v Kaplan „Eine i\Ietl1odc, der bei uns der gewünschte Effekt wohl versagt bleiben wird"? Erinnerungen an I\fassenmord und linksgerichtete Protestbew·egungen in amerikanischen und westdeutschen "Nachrichtensendungen 1968 - 197(J Ankt Hagedorn Der doppelte \X,'ese1nann oder wie der erste Intendant der Dcll.tschen Welle zum Gestapo-Spion erJdärt wurde Carsren Hdnzc/BcrnJ Schoch Musikfihne hn dokutnentarischen Format Zur Geschichte und Theorie eines Subgenre~ des Dokumentarfilms Thoma~ \Vilkc ,,Cotnc on, good 1-Iutus, the graves are not yct f'ull ... " Zur Rek:vanz, funktion und Repräsentation des Hatc-Radios im Film ,,Hotel Rwanda" Forum Dissertationsvorhaben Rezensionen Nr. 1-2/2012 • 38. Jahrgang IMPRESSUM Rundfunk und Geschichte ISSN 0175-4351 Selbstverlag des Herausgebers erscheint zweimal jährlich Zitierweise: RuG - ISSN 0175-4351 Herausgeber Studienkreis Rundfunk und Geschichte e.V. / www.rundfunkundgeschichte.de Redaktion dieser Ausgabe Alina Laura Tiews (verantw., E-mai: alina.laura.tiews@uni-hamburg.de) Melanie Fritscr1er (E-mail: 111elanie.fritscher@gescilichte.uni-freiburg.de) Dr. Daniela Pscheida (E-maii: pscheida@msx.tu-dresden.de) Dr. Sascha Trültzsch (E-mail: Sascha.Trueltzsch@sbg.ac.at) Dr. Thomas Wilke (E-mail: thomas.wilke@medienkomm.uni-halle.de) Layout und Endredaktion Frank und Margarete Keilacker Druck und Vertrieb Deutscher Philatelie Service GmbH, Wermsdo1i Redaktionsanschrift (ab Oktober 2012) Dr. Margarete Keilacker, Brunnenweg 3, 04779 Wermsdorf/OT Mal,lis Tel.: 034364/889858 E-Mail: m argarete. kei Ia cker@gmx.de Inhalt Aufsätze Thomas Pegelow Kaplan „Eine Methode, der bei uns der gewünschte Effekt wohl versagt bleiben wird“? Erinnerungen an Massenmord und linksgerichtete Protestbewegungen in amerikanischen und westdeutschen Nachrichtensendungen, 1968-1970 3 Anke Hagedorn Der doppelte Wesemann oder wie der erste Intendant der Deutschen Welle zum Gestapo-Spion erklärt wurde 23 Carsten Heinze und Bernd Schoch Musikfilme im dokumentarischen Format Zur Geschichte und Theorie eines Subgenres des Dokumentarfilms 32 Thomas Wilke „Come on, good Hutus, the graves are not yet full ...“ Zur Relevanz, Funktion und Repräsentation des Hate-Radios im Film „Hotel Rwanda“ 59 Forum Anja Richter / Golo Föllmer Radio and Society 2. Interdisziplinäre und internationale Konferenz 74 Margarete Keilacker Entstehung und Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Ostdeutschland Rundfunkhistorisches und medienpolitisches Symposium der Historischen Kommission der ARD 77 Dissertationsvorhaben Richard Oehmig Zwischen Adaption und Abwehr. Untersuchungen zu den Effekten des medialen Kulturtransfers am Beispiel des DDR-Fernsehens (1956-1991) 80 Anna Jehle Radio während der Trente Glorieuses: RTL und die Entwicklung der Konsumgesellschaft in Frankreich (1945-1981) 82 Katja Berg Europa als Kommunikationsraum? Transnationale Medienbeziehungen am Beispiel von Radio Luxemburg. 84 Tony Stoller Classical music on UK radio, 1945–1995 86 Anna Schwenke Wie klingen Radionachrichten? Sprechstil von Radionachrichten – Konstanz und Varianz 88 Clara Finke Vorüberlegungen zur Konstanz und Varianz von Morningshow-Moderationen im gegenwärtigen Radio 90 2 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Rezensionen Ute Daniel/Axel Schildt (Hg.) Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts (Edgar Lersch) 92 Yvonne Alisa-Maria Schleinhege Vom politischen Ereignis zur erlebten Geschichte. Historische Dokumentationen zum Mauerfall 1999 bis 2009. (Hans-Jörg Stiehler) 94 Nicole Karczmarzyk Der Fall tatort. Die Entschlüsselung eines Kultkrimis (Ingrid Brück) 94 Monika Röther: The Sound of Distinction. Phonogeräte in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Objektgeschichte (1957-1973). (Thomas Wilke) 97 Thomas Pegelow Kaplan „Eine Methode, der bei uns der gewünschte Effekt wohl versagt bleiben wird“? 1 Erinnerungen an Massenmord und linksgerichtete Protestbewegungen in amerikanischen und westdeutschen Nachrichtensendungen 1968-1970 Am Abend des 2. Januars 1970 rückten die „Evening News“ des Columbia Broadcas- ting Systems (CBS) mit Hilfe eines mehrstufigen Nachrichtenfilms einen afro-amerikani- schen Aktivisten in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Der Film zeigte einen Mann, der mit bedrohlich anmutenden Gesichtszügen auf einer Kundgebung in Chicago die Teilnehmer/innen darin anleitete, „I am a revolutionary“ zu skandieren. Wer unter den knapp 20 Millionen Amerikaner/innen, die an diesem Abend CBS eingeschaltet hat- ten, den Redner nicht identifizieren konnte, erfuhr durch einen Off-Kommentar, dass es sich um Fred Hampton, den stellvertretenden Vorsitzenden der Black Panther Party in Illinois, handelte. Das sich anschließende Filmfragment erfasste den aufgebahrten Leichnam Hamptons und lange Reihen von Trauernden. CBS-Moderator John Lau- rence setzte den Tod des 21-Jährigen – Polizisten hatten ihn Anfang Dezember 1969 um vier Uhr nachts im Bett seiner Wohnung erschossen – umgehend mit der in den letzten Wochen steigenden Zahl von getöteten Panthers und Polizisten in Verbindung. In direktem Anschluss an die Bilder von Hamptons Leichnam erschien ein kurzer Aus- zug eines Interviews mit David Hilliard, dem Panther-„Stabschef“. Vor dem Hintergrund eines Plakates, das eine „front against fascism“ postulierte, hielt ein kämpferisch ge- stimmter Hilliard unumwunden fest: „The United States government has a plan for ge- nocide against our party. They are not picking any bones about it. They are killing us in our sleep.“ CBS kontrastierte die Aussage sogleich mit Nahaufnahmen von sicher- gestellten Waffenarsenalen und zitierte FBI-Direktor J. Edgar Hoover mit den Worten, dass die Partei „the greatest danger to the internal security of the country“ sei. Hilliards Genozid-Referenz wurde dennoch gut vier Minuten später durch Interviewauszüge mit Charles Garry, einem weißen Panther-Rechtsanwalt, weiter ausgebaut und neu kontex- tualisiert. Wie Garry feststellte, wären die Panthers „justified to defend themselves (...) against (...) Gestapo policemen in a guerilla warfare manner. In much of the same way as the freedom fighters fought in Europe against the Nazi hordes. You can’t meet them on the battlefield. You kill them (...) as they did in Europe and you got to do that once the police state has moved in.“2 Außergewöhnliche Nachrichtenrelevanz Diese Vignette veranschaulicht zunächst die erhebliche Bedeutung, die führende ame- rikanische TV-Nachrichtenmacher linken und gerade schwarzen Protestbewegungen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre zuwiesen. Dieser Umstand wird noch dadurch verstärkt, dass dieses Nachrichtenthema eine mehr als zehnstufige Beitrags- folge aufwies und sich mit zehn Minuten Länge über ein Drittel der Sendung hinzog, 1 Programm „heute“ Nr. 38/70, 20. Februar 1970, ZDF Archiv Mainz. Die Forschungsarbeiten für diesen Beitrag wurden durch ein Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung ermöglicht. 2 „CBS Evening News“, 2. Januar 1970, Vanderbilt Television News Archive. 4 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 was im Zeitalter der Drei-Minuten-Clips durchaus selten geworden war.3 Dabei traten gerade die Protestsprachen dieser Bewegungen, insbesondere ihre Vorwürfe von Ge- nozid, besonders hervor. Verstärkt durch stetige Wiederholungen riefen diese Konstruk- tionen etwa unter dem afro-amerikanischen Fernsehpublikum kollektive Erinnerungen an eigene Leidensgeschichten hervor, die diese durch den starken Rückbezug auf den Nationalsozialismus und deutsche Gewaltverbrechen mit dem Leiden von Minoritäten auf dem europäischen Kontinent verband. Des Weiteren verdeutlicht die Vignette den rasch anwachsenden Visualisierungsgrad der Fernsehnachrichten, deren Bilder eige- nen Dynamiken folgten und sowohl Wortsprachen unterstützten als auch zuwiderliefen. Das rassistisch kodierte Bild Fred Hamptons etwa, das den Typ des die bestehende Ordnung bedrohenden schwarzen Revolutionärs in Szene setzte, diente gleichzeitig dazu, die sich anschließenden Genozidvorwürfe von Panther-Mitgliedern zu entkräften. Die Gewalt gehe primär von den Panthers, nicht aber von der Polizei aus. Schließlich werfen diese CBS-Verbal- und Bildsprachen ein bezeichnendes Licht auf die intensive Kritik, die aus Bewegungs- und Wissenschaftskreisen an der Darstellung von linksge- richteten Aktivist/innen in den Massenmedien geäußert wurde. David Hilliards Anklage, „no television in the world can distort that. I know you won’t play it back the way I am saying it, but I am saying it anyways. We are going to kill, because we have to kill to survive“, ist in dieser Beziehung treffend. Der Umstand, dass diese Hilliard-Aussage in die CBS-Nachrichtensendung vom 2. Januar Eingang fand, illustriert das Ausmaß der Kritik, dem die Nachrichtenredaktion mit diesem Schritt entgegenzuwirken suchte.4 Interaktionen von Fernsehnachrichten und linken Protestgruppen Dieser Aufsatz wendet sich den komplexen Interaktionen von Fernsehnachrichten und linken Protestgruppen während des Höhepunktes und beginnenden Scheiterns der Re- volten in den USA und Westdeutschland in den Jahren von 1968 bis 1970 zu. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Darstellungen von Massengewalt in Protestpraktiken und Nachrichtenprogrammen sowie deren Auswirkungen auf die sich verschiebenden Er- innerungskulturen in den beiden Ländern. Ebenso wenig wie die Protestbewegungen dieser Jahre lassen sich die Darstellungsformen von Nachrichtensendungen und deren Einfluss auf nationalstaatliche Rahmen reduzieren, weswegen dieser Beitrag insbeson- dere die Verbindungen von US-amerikanischen und westdeutschen Medien behandelt. Angesichts des fortwährenden amerikanischen Krieges in Vietnam und der Auseinan- dersetzung mit der NS-Vergangenheit im Anschluss an Auschwitz-Prozess und Ver- jährungsdebatte hatten Bilder und Begriffe von Massenverbrechen in den zeitgenös- sischen gesellschaftlichen und politischen Diskursen eine exponierte Stellung erlangt. Die Schwerpunktsetzung auf die Vereinigten Staaten von Amerika und die Bundesre- publik Deutschland ist schon deshalb naheliegend, weil die erfolgte Westwendung und Integration der Bonner Republik in das westliche und von den USA geführte Bündnis einen engeren Austausch zwischen den beiden Ländern und eine wachsende west- deutsche Orientierung an der Militär- und Wirtschaftsmacht USA bedingte.5 Die Sta- tionierung von über einer viertel Million US-Soldaten in der Bundesrepublik sicherte 3 Edward Jay Epstein: News from Nowhere. Television and the News. New York 1973 (Epstein 1973), S. 240. 4 CBS Evening News, 2. Januar 1970. Zur Medienkritik vgl. Jane Rhodes: Framing the Black Panthers. The Spectacular Rise of a Black Power Icon. New York 2007, S. 310-312. 5 Detlef Junker, Philipp Gassert und Wilfried Mausbach (Hrsg.): The United States and Germany in the Era of the Cold War. 1945-1990. 2 Bde. Cambridge 2010-2011. Pegelow Kaplan: „Eine Methode, der bei uns der gewünschte Effekt...“ 5 ebenso ein kontinuierliches Interesse an deutschen Fragen in Washington und Teilen der US-Gesellschaft, was sich auch in der Gewichtung und Themenauswahl in Fern- sehnachrichten niederschlug. Ende der 1960er Jahre hatte sich das Fernsehen als neues Leitmedium der postindus- triellen Wohlstandsgesellschaft in den Vereinigten Staaten und Westdeutschland fest etabliert. In den USA war diese Verschiebung zuungunsten von Printmedien und Ra- dio bereits in den 1950er Jahren erfolgt. Aufgrund des immensen Nachkriegsbooms und anschwellenden Konsumgütermarkts besaßen gegen Mitte dieser Dekade bereits 55 Prozent der US-Haushalte ein Fernsehgerät. In der Bundesrepublik setzte sich das neue Medium vergleichsweise langsam durch. Westdeutsche Haushalte erzielten erst 1965 einen Versorgungsgrad von 47 Prozent. Die Medienwissenschaft geht davon aus, dass die westdeutschen Fernsehanstalten vor 1974 kein umfassendes nationales Pub- likum erreichten.6 In den Programmabläufen und innerfamiliären Kommunikationsräumen nahmen gera- de die Fernsehnachrichten in beiden Ländern einen festen Platz ein. Insbesondere die Abendnachrichtensendungen etablierten sich als „wiederkehrende feste Nutzungsfor- men“, die die Lebensabläufe in vielen Familien nachhaltig beeinflussten. In den USA schalteten in urbanen Sendegebieten wie Los Angeles und Boston 1969 durchschnitt- lich 65 bzw. 69 Prozent der Haushalte allabendlich Nachrichtensender der großen Net- works ein. Im Jahr 1971 erreichten die Einschaltquoten für die Abendnachrichten der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepub- lik Deutschland (ARD) und des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) sogar bis zu 76 Prozent. In Welten eingeschränkten Nachrichtenflusses wirkten, wie Knut Hickethier aufzeigte, diese Nachrichtensendungen „in besonderer Weise als sinnstiftend und Ori- entierung schaffend.“7 Konzept der Erinnerungskultur Nachrichtensendungen der späten 1960er Jahre traten dabei aber nicht nur als ein die Wahrnehmung veränderndes Phänomen auf. Sie spielten auch eine bedeutende Rolle bei der Ausformung nationaler Erinnerungskulturen, die auch zu dieser Zeit be- reits von transnationalen Transfers geprägt waren. Das Konzept der Erinnerungskultur dient im Folgenden als Oberbegriff für eine Vielfalt von Praktiken und Medien kultureller Mnemotechniken, derer sich eine Gemeinschaft bedient, um sich spezifische Kompo- nenten der Vergangenheit ins Bewusstsein zu rücken und sich mit diesen ihrer kollekti- ven Identitäten zu vergewissern.8 Nachrichtensendungen lieferten zentrale Impulse für individuelle und kollektive Gedächtnisse des Fernsehpublikums und zirkulierten me- 6 Judith Keilenbach. Fernseh-Geschichte. Holocaust und Nationalsozialismus im amerikanischen und im bundesdeutschen Fernsehen. In: Elisabeth Domansky und Harald Welzer (Hrsg.): Eine offene Geschichte. Zur kommunikativen Tradierung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Tübingen 1999, S. 123; Peter Ludes: Vom neuen Stichwortgeber zum überforderten Welterklärer und Synchron-Regisseur. Nachrichtensendungen. In: Ders., Heidemarie Schumacher und Peter Zimmermann (Hrsg.): Informations- und Dokumentarsendungen. München 1994 (Ludes 1994), S. 32; Wulf Kansteiner: In Pursuit of German Memory. History, Television, and Politics After Auschwitz. Athens 2006 (Kansteiner 2006), S. 133-134. 7 Knut Hickethier: Geschichte des Deutschen Fernsehens. Stuttgart 1998 (Hickethier 1998), S. 265, 203, 205; Epstein 1973, S. 94-95. 8 Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff - Methoden - Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54. 2003, S. 554-555; Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. München 2006 (Assmann 2006), S. 274. 6 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 diale Konstrukte von Vergangenheit und Gegenwart, die in die Funktions- und Spei- chergedächtnisse bundesdeutscher und amerikanischer Gesellschaften eingingen. In dieser Hinsicht kamen sowohl der Sprache der Nachrichtensendungen, die, wie Aleida Assmann zu Recht betonte, als wichtigste Stütze des kollektiven Gedächtnisses zu gelten hat, als auch den gesendeten Bildern als materielle Hilfe dieses Gedächtnisses besondere Bedeutung zu. Der zunehmende Trend zur Visualisierung und der damit ein- hergehenden „visuelle[n] Strategie[n] der Beglaubigung“ in Nachrichtensendungen der 1960er Jahre unterstützte die Wirkungsmacht von Bildern und Filmfragmenten, auch wenn zeitgenössische Kritiker vermehrt den naiven Bildrealismus des Mediums gei- ßelten.9 Die Bild- und Sprachzeichen sowie deren einhergehende Erinnerungsimpulse wurden dabei auch verstärkt von zunehmenden kulturellen Transferprozessen geformt. Über Kooperationsverträge zwischen Fernsehanstalten wie CBS und dem ZDF und den damit einhergehenden Bilder- und Nachrichtenfilmtransfer sahen amerikanische und deutsche Nachrichtenkonsument/innen regelmäßig dieselben Bilder, die allerdings oft- mals ganz unterschiedliche Erinnerungen auslösten.10 Potential des Mediums Fernsehen Von Beginn an waren sich viele Aktivist/innen amerikanischer und westdeutscher Pro- testbewegungen des enormen Potentials des Mediums Fernsehen für die politische Agitation und Beeinflussung von gesamtgesellschaftlichen Erinnerungskulturen be- wusst. Todd Gitlin, ehemaliger Vorsitzender der amerikanischen Students for a Demo- cratic Society (SDS), verdeutlichte im Rückblick nochmals die immense „capacity of mass exposure“11 des Mediums. Selbst in den USA erreichte die Untergrundpresse der Protestbewegungen Ende der 1960er Jahre grob geschätzt nur eine Leserschaft von etwa 100.000, was lediglich einen Bruchteil des Millionenpublikums von „CBS Evening News“ ausmachte. Konsequenterweise inszenierten die Bewegungen verstärkt ihre Pro- teste in Formen, die einer möglichst breiten Rezeption durch die Nachrichtensendun- gen dienlich waren. Die Proteste stellten, wie Kathrin Fahlenbrach erneut aufzeigte, im „doppelten Sinn“ eine „Medienrevolte“ dar. Sie erfolgten „mit“, aber auch „gegen“ die Massenmedien. Viele Linksaktivist/innen blieben der Kulturkritik etwa Theodor Adornos verhaftet, die den Konformismus des Fernsehens und dessen Rolle bei der Bewahrung des gesellschaftlichen Status quo betonte. Wie David Hilliards Kritik bereits zeigte, wa- ren sich Protestierende der oftmals verzerrenden und sogar hetzerischen Darstellungen nur zu bewusst. Insbesondere in Westdeutschland rückten Aktivist/innen wiederholt Kampagnen gegen Massenmedien wie etwa die Produktpalette des Axel Springer Ver- lags in das Zentrum ihrer Aktivitäten. Die medienwissenschaftliche und kulturhistori- sche Forschung hat sich in den letzten Jahren wieder verstärkt diesem Themenbereich zugewandt.12 Mit theoretisch ausgefeilterem Instrumentarium bestätigen die meisten 9 Ebd., S. 242, 25, 28; Hickethier 1998, S. 375; Gertrud Koch: Film, Fernsehen und neue Medien. In: Volkhard Knigge, Norbert Frei, und Anett Schweitzer (Hrsg.): Verbrechen erinnern. München 2002, S. 432, 439; Gerhard Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Göttingen 2008 (Paul 2008), S. 28. 10 Ludes 1994, S. 25; Inge Münz-Koenen: Bilderflut und Lesewut. Die imaginären Welten der Achtundsechziger. In: Rainer Rosenberg, Ingeborg Münz-Koenen, Petra Boden und Gabriele Gast (Hrsg.): Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft, Literatur, Medien. Berlin 2000, S. 27. 11 Todd Gitlin: The Whole World Is Watching: Mass Media in the Making & Unmaking of the New Left. Berkeley 1980 (Gitlin 1980), S. 243-244. 12 Ebd., S. 2; Kathrin Fahlenbrach: Protestinszenierungen. Die Studentenbewegung im Spannungsfeld von Kultur- Revolution und Medien-Evolution. In: Martin Klimke und Joachim Scharloth (Hrsg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung. Bonn 2008, S. 20. Vgl. auch Stefan Aust: 1968 und die Medien. In: Edmund Jacoby und Joachim Faulstich (Hrsg.): 1968 - Bilderbuch einer Revolte. Frankfurt am Main 1993, S. 81-96. Pegelow Kaplan: „Eine Methode, der bei uns der gewünschte Effekt...“ 7 Arbeiten die Hauptthesen früherer Studien wie etwa Gitlins einflussreicher Untersu- chung, die nicht nur die Rolle von CBS bei der Schaffung zentraler „media frames“ für die politische Konstituierung der Neuen Linken hervorhob, sondern auch deren wichti- ge Rolle beim Scheitern der Bewegung verdeutlichte. So führte bereits Gitlin aus, wie CBS die Militanz der amerikanischen Protestbewegung deutlich überbetonte, durch die Zertifikation von Führungspersönlichkeiten selbst auf die Struktur der Proteste negativ Einfluss nahm und die Bewegungen zunehmend mit „diskreditierenden Bildern“ um- gab.13 Unter dem Eindruck politischer Misserfolge der Protestbewegungen und ihrer Zersplit- terung gegen Ende der 1960er Jahre hat die Forschung allerdings im Bereich der Fern- sehgeschichte das Scheitern der Medienkampagnen und politisch-kulturellen Vorhaben der revoltierenden Linksaktivist/innen überbetont. Am Beispiel von Genozidbildern und -sprachen zeigt dieser Aufsatz auf, wie Völkermorddispositive der Protestbewegungen in das Massenmedium Fernsehen Eingang fanden und auf diesem Wege begannen, Einfluss auf die Erinnerungskulturen in der Bundesrepublik und den USA zu nehmen. Dieser Ansatz modifiziert Ergebnisse neuerer Studien zur transnationalen und globalen Erinnerung an moderne Genozide wie etwa die Arbeiten von Daniel Levy und Natan Sznaider, die die Rolle der Studierenden- und Arbeiter/innen-Revolten der 1960er Jahre weitgehend marginalisiert haben. Darüber hinaus weitet dieser Beitrag den Blickwinkel vorliegender Arbeiten zu den Schnittstellen von Fernsehen und Erinnerung aus, indem er den Schwerpunkt auf Nachrichtensendungen anstatt die vielfach untersuchten Gen- res von Dokumentarfilmen und Fernsehspielen lenkt.14 Gerade Nachrichtensendungen mit ihrer Vielzahl wiederkehrender Bilder und Narrati- ve boten ihrem Publikum Gelegenheiten, ihre Erinnerungen an Massenverbrechen der näheren oder ferneren Vergangenheit neu zu gestalten. Anders als im Fall von Fern- sehspielen dieser Zeit gingen Nachrichtensendungen aber auch über entlastende Dar- stellungen gerade von NS-Verbrechen hinaus, wobei die Behandlung von Protesten linker Gruppierungen eine wichtige Rolle einnahm. Die folgende Untersuchung rückt die Abendnachrichten von CBS und des ZDF in den Mittelpunkt, die sich aufgrund ihrer Prominenz oder ihres Formats von den Konkurrenzsendungen abhoben und für das Publikum eine besondere Bedeutung hatten. Da die Bildrezeption und die Relevanz der Erinnerungsimpulse nicht zuletzt auch an die Autorität des Mediums gekoppelt waren, sind vorab einige Bemerkungen zu diesen Nachrichtensendungen vonnöten. Anfang der 1970er Jahre dominierten die „CBS Evening News“ den amerikanischen TV Journalismus, der mit weiteren nationalen Nachrichtensendungen wie den „Night- ly News“ der National Broadcasting Company (NBC), vormals Huntley-Brinkley Re- port, und den „Evening News“ der American Broadcasting Company (ABC) sowie zahlreichen lokalen Nachrichtenprogrammen weitaus dichter aufgestellt war als der- jenige Westdeutschlands. Seit September 1963 eröffneten die „CBS Evening News“ 13 Gitlin 1980, S. 183, 203, 3. 14 Kansteiner 2006, S. 140; Jeffrey Shandler: While America Watches. Televising the Holocaust. New York 1999, S. 41-79; Daniel Levy und Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt am Main 2007 (Levy und Snaider 2007), S. 117. 8 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 in halbstündigem Format um 18.30 Uhr das Abendprogramm.15 Produziert von Co- lumbia Broadcast System, einem der drei großen kommerziellen Networks des Lan- des, das seit 1927 zunächst Rundfunksendungen ausgestrahlt hatte, waren die „CBS Evening News“ dennoch nicht primär gewinnorientiert. Vielmehr zählten sie zu den „gemeinwohlorientierte[n] Flaggschiffe[n]“ des Unternehmens und operierten mit relati- ver Autonomie.16 Wie der Mutterkonzern in Manhattan angesiedelt, gehörten die „CBS Evening News“ in den Augen breiter Segmente des Fernsehpublikums zum Ostküsten- Establishment und in der Wahrnehmung politisch konservativ ausgerichteter Konsu- ment/innen sogar zur politischen „Linken“. Zur Rolle der CBS-Hauptnachrichtensendung Seit 1962 prägte Walter Cronkite wie kein anderer die CBS-Hauptnachrichtensendung, für die er die Positionen des „Managing Editor“ und „Anchorman“ einnahm. Wie Harry Reasoner, Roger Mudd und andere CBS-Anchormen vermittelte Cronkite dem Publi- kum in relativ lockerer und fast vertraulicher Form Zusammenhänge des komplexen Tagesgeschehens und fungierte keineswegs als bloßer Nachrichtensprecher. Vom Pub- likum alsbald als „Uncle Walter“ bezeichnet und mit einem erheblichen Vertrauensvor- schuss bedacht, erreichten die „Evening News“ erhöhten Realitätscharakter, den Cron- kite in seinem allabendlich wiederholtem Credo des „and that’s the way it is“ weiter zu steigern wusste. Seit dem Januar 1966 strahlte CBS die Nachrichtensendung in Farbe aus, was den Realitätseffekt von Film- und Bildsegmenten weiter vergrößerte.17 Hinter Anchorman Cronkite standen weit über den New Yorker Newsroom hinaus bis zu 1.400 Personen, die die Nachrichtentexte und -filme produzierten und zusammenstell- ten. Wenn auch auf der Textebene die Narrative von Agenturen wie Associated Press zentral blieben, arbeitete der CBS Newsroom diese nochmals um. Daneben unterhielt CBS News zahlreiche Übertragungswagen und Teams landesweit sowie eine steigende Zahl von Auslandsbüros, die die Sendung mit Nachrichten, Bildern und Interviews ver- sorgten. Aufgrund der geographischen Nähe zur Grenze der Warschauer Pakt-Staaten hatte gerade das CBS-Büro in Bonn eine exponierte Stellung inne. Wenn sich auch CBS-Korrespondenten wenig von Format und Organisation westdeutscher Nachrich- tensendungen beeinflussen ließen, beteiligten sie sich doch am Austausch von Nach- richtendiskursen und -bildern ihrer westdeutschen Kollegen.18 Im Gegensatz zur breitgefächerten amerikanischen Fernsehlandschaft der späten 1960er Jahre war die Palette an bundesrepublikanischen Nachrichtensendungen und Sendeanstalten übersichtlich und durch einen Dualismus von zwei öffentlich-rechtlichen Sendern, der ARD und dem ZDF, geprägt. „heute“, die tagesaktuelle Hauptsendung des 15 Im Jahre 1967 verdrängten CBS Evening News den Kontrahenten NBC als Marktführer im Bereich der Fernsehnachrichten und erzielten die gesamten 1970er Jahre hindurch die höchsten Einschaltquoten. Vgl. Gary Paul Gates: Air Time. The Inside Story of CBS News. New York 1978 (Gates 1978), S. 154; Epstein 1973, S. 86-87; Walter Cronkite. In: Horace Newcomb (Hrsg.): Encyclopedia of Television. Bd. 1. New York 2004, S. 631. 16 Peter Ludes: Von der gemeinwohlorientierten Dienstleistung zum Geschäft mit Show-Einlagen. Fernsehnachrichten in den USA und in der Bundesrepublik. In: Irmela Schneider (Hrsg): Amerikanische Einstellung. Deutsches Fernsehen und US-amerikanische Produktion. Heidelberg 1992 (Ludes 1992), S. 62. 17 CBS News. Television News Reporting. New York 1958, S. 25-31; Gates 1978, S. 206, 202; Erik Barnouw: Tube of Plenty. The Evolution of American Television. Oxford 1975, S. 401. 18 Ebd., S. 168; Ludes 1992, S. 61, 68; Gates 1978, S. 138; Irving E. Fang. Television News. Writing, Editing, Filming, Broadcasting. New York 1968, S. 35. Pegelow Kaplan: „Eine Methode, der bei uns der gewünschte Effekt...“ 9 ZDFs, ging parallel zum Programmbeginn der neuen Rundfunkanstalt im April 1963 auf Sendung. Zwar standen die „heute“-Nachrichten Ende der 1960er Jahre im Schatten der fest etablierten „Tagesschau“-Sendungen der ARD, aber bereits 1973 gelang es der „heute“-Redaktion zumindest kurzzeitig mit 37 Prozent der Einschaltquoten den ARD-Rivalen zu überrunden. Im Jahre 1970 begann die Abendausgabe von „heute“ um 19.45 Uhr und befand sich aufgrund der 30-minütigen Länge in direkter Konkurrenz zur kürzeren „Tagesschau“, die die ARD allabendlich von 20.00 bis 20.15 Uhr ausstrahlte. Eine Spätausgabe vor Sendeschluss fasste die Nachrichten der Hauptsendung noch- mals zusammen.19 „heute“ nach US-Vorbild Hinsichtlich des Formats und der Präsentation der „heute“-Sendung lehnten sich die ZDF-Nachrichtenmacher gleich in mehrfacher Hinsicht dezidiert an Vorbilder aus den USA an. Erstens beließ es die „heute“-Redaktion nicht bei einem bloßen Nachrich- tensprecher, der die Texte vom Blatt ablas, sondern stellte diesem einen Moderatoren zur Seite, was gegenüber dem Publikum den Teamcharakter der Nachrichtenprodukti- on herausstreichen sollte. In seiner Funktion, Nachrichten zu kommentieren und durch weitere Hintergrundinformationen verständlicher zu machen, ähnelten “heute”-Modera- toren den Anchormen von CBS. Die mit US-Sendungen vergleichbare Länge erlaubte es der „heute“-Redaktion, aus- führlichere Beiträge und Kommentare ihrer Moderatoren einzuflechten. Dabei über- wog das „Persönliche“ gegenüber der offiziösen, knappen Nachrichtenvergabe der „Tagesschau“.20 Moderatoren wie Hanns Joachim Friedrichs und Karl Heinz Schwab, die ausgebildete Journalisten waren, erreichten zwar nie den Einfluss eines Cronkite. Dennoch wiesen Kritiker schnell auf den Einzug trivialisierender amerikanischer „news shows“ hin und sahen in den Moderatoren eine Personifizierungsgefahr und Verwi- schung von Nachricht und Meinung.21 Zweitens erzielten die „heute“-Nachrichten einen auffallend hohen Visualisierungsgrad, der sich ebenfalls an US-Modelle anlehnte. Neben Bildfenstern und Grafiken, die die Ausführungen von Moderatoren unterstützen, verwandte die „heute“-Redaktion auch verstärkt Nachrichten im Film. In einzelnen Fällen füllten Nachrichtenfilme über zwei Drittel der Sendezeit aus. Zunächst noch in Schwarz-Weiß ausgestrahlt, übersah die „heute“-Redaktion die Umstellung auf Farbe im Frühjahr 1970. Wie Peter Ludes auf- zeigte, konnte das ZDF bei der graphischen Gestaltung zeitweise auf Ben Blank zu- rückgreifen, der zunächst bei CBS und ab 1962 bei ABC als Graphikchef tätig war. Eine Reihe von „heute“-Journalisten hatte auch in den USA gearbeitet und war mit Nachrich- tenformaten und der Arbeit der Fernsehredaktionen von CBS vertraut.22 19 Nicole Prüsse: Konsolidierung, Durchsetzung und Modernisierung. Geschichte des ZDF. Teil II (1967-1977). Münster 1997 (Prüsse 1997), S. 253-255; Ludes 1994, S. 27-29; Franziska Horsch und Marcus Schuster: Der tägliche 15-Minuten-Cocktail. In: Nea Matzen und Christian Radler (Hrsg.): Die Tagesschau. Zur Geschichte einer Nachrichtensendung. Konstanz 2009 (Matzen und Radler 2009), S. 60. 20 Prüsse 1997, S. 255; Das Programm im Jahr 1973. In: ZDF Jahrbuch 1973, S. 51; Programmchronik 1973, In: ZDF Jahrbuch 1973, S. 237. 21 Prüsse 1997, S. 255; Das neue Heute – die alte Tagesschau. Beobachtungen zu den Nachrichtensendungen von ZDF und DFS. In: Funk-Korrespondenz. H. 5(1969), S. 2. 22 Ludes 1994, S. 26; ders. 1992, S. 68-69; Hickethier 1998, S. 374. 10 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Im Gegensatz zum kommerziellen Privat-Network CBS war das ZDF als Produzent der „heute“-Nachrichten eine öffentlich-rechtliche Sendeanstalt, was sich in unterschied- lichen Aufträgen sowie abweichenden Publikumswahrnehmungen niederschlug. Als eine zentrale Länderanstalt hielt sich der Sender an die Vorgaben des Staatsvertrags aus dem Jahre 1961, der das ZDF auch der Kontrolle eines Fernsehrats unterwarf, der mit Vertretern führender Parteien und gesellschaftlicher Gruppen besetzt war. An dem sich aus dieser Konstellation ergebenden überparteilichen politischen Bildungsauftrag orientierten sich auch die ZDF-Nachrichtenmacher. Wenn auch die „heute“-Nachrich- ten anders als die politischen Magazinsendungen, wie das als linksgerichtet geltende „Panorama“, keine eindeutige politische Linie verfolgten, erwiesen sich die Redakteure der Hauptabteilung Tagesgeschehen und der Chefredaktion in der konfliktreichen politi- schen Kultur der späten 1960er Jahre doch durch Nachrichtenauswahl und Kommenta- re immer wieder als politisch motiviert. 1970 wertete die 59 Mitarbeiter/innen zählende Hauptabteilung das eingehende Film-, Agentur- und Korrespondentenmaterial sowie die Tagespresse aus und arbeitete es in Nachrichten um, die jeden Abend im Studio in Wiesbaden die Sendung ausfüllten. Dabei kamen auch oftmals CBS-Bildmaterialien und Texte aus dem ZDF-Korrespondentenbüro in der M-Street in Washington, D.C. zum Tragen, was den regen Transfer mit den USA weiter veranschaulicht.23 Mit der Eskalation der Revolten der Protestbewegungen im Jahre 1968—in der Bun- desrepublik etwa während der Osterunruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke und in den USA im Zuge der Ausschreitungen um die National Convention der Demokra- tischen Partei in Chicago im August—rückten deren Protagonist/innen erneut in den Mittelpunkt der Berichterstattung der Fernsehnachrichten. Die „CBS Evening News“ und „heute“-Sendungen setzten sich in Wort und Bild mit den Protestinhalten und -for- men der revoltierenden Linksaktivist/innen auseinander, die in ihrer antikapitalistischen, antiimperialistischen und Antikriegsausrichtung stetig Massenmordbilder und -narrative hervorstrichen. Zwei „heute“-Sendungen, die hinsichtlich ihrer Bildauswahl und Nachrichtentexte als exemplarisch für die Behandlung der Proteste gelten können, verdeutlichen diese Dy- namiken und die damit einhergehenden konkurrierenden Semantiken und Sehweisen von Protestierenden und Nachrichtenmachern. In der ersten Sendung, der Spätaus- gabe der „heute“-Nachrichten vom 13. April 1968, nahm die Behandlung der Unruhen mehr als die Hälfte der Sendezeit in Anspruch. Sie begann mit einer Zusammenfassung der Stellungnahme von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zu den fortwährenden Un- ruhen und behandelte dann Proteste gegen das Dutschke-Attentat in West-Berlin und Köln. Nach einem Kurztext zum Zustand Dutschkes widmete sich „heute“ erneut den Protesten – dieses Mal den Ostermärschen am Beispiel Duisburg – und schwenkte dann auf das eigentliche Kriegsgeschehen in Vietnam ein.24 Der Nachrichtenfilm zum Duisburger Ostermarsch, dessen 36 Sekunden der Durch- schnittslänge der anderen Beiträge entsprach, verdeutlichte die Spannungen im Ver- hältnis von „heute“-Texten und eingespielten Bildern der Protestierenden und ihrer Forderungen. Der Sprecher im Off hielt sich an einen eher sachlichen Text, der die „Kampagne für Abrüstung“ und die „außerparlamentarische Opposition“ als Akteure 23 Ludes 1994, S. 47; Prüsse 1997, S. 12-28; Anschriften. In: ZDF Jahrbuch 1973, S. 241. 24 Zuspielteile und Programm. „heute“ Spätnachrichten. 13. April 1968, ZDF Archiv, Mainz. Pegelow Kaplan: „Eine Methode, der bei uns der gewünschte Effekt...“ 11 identifizierte und für die behandelte Region eine Teilnehmer/innenzahl von etwa 15.000 ausmachte. Als Protestinhalte identifizierte der Text das Dutschke-Attentat, den „Krieg in Vietnam“, die Notstandsgesetzgebung und die Springerpresse. Die in der Hauptab- teilung Tagesgeschehen gestaltete Fassung hielt sich weitgehend an die Grundprämis- sen von Nachrichtentexten, die vor allem eine leichte Verständlichkeit und vermeintliche Sachlichkeit beinhalteten. Dementsprechend verzichtete der „heute“-Text zum Duis- burg-Protest auf eine Aufnahme der oftmals harschen Kritik, die die Protestierenden an der Ausübung staatlicher und militärischer Gewalt übten und die sie mit Begriffen wie „Massenmord“ oder gar „Genozid“ belegten. „Sprache“, wie es der damalige ARD-Redakteur Michael Abend formulierte, ist aber „auch Waffe“, die das Potential hat, Meinungen auszudrücken und etablierte politische Werte zu unterminieren. Und „bewaffnet“ war die Nachrichtensprache am 13. April durchaus. Der Vorbeitrag zu den Protesten in West-Berlin etwa benannte eine Waffen- vielfalt, die von „Totschlägern“ bis zu „Brandsätzen“ reichte. Der Text brachte diese aber nicht mit dem von den Studierenden kritisierten Kriegsgeschehen in Vietnam oder oftmals gewaltsamen Vorgehen der Polizei in Verbindung, sondern wies sie den Pro- testierenden selbst zu, die somit in den Augen des Fernsehpublikums als eigentliche Quelle von Massengewalt erschienen.25 Vielschichtigkeit der Grammatik und Zeichen von Film, Bildern und Sehpraktiken Parallel zum Text zu den Duisburger Ostermarschierer/innen spielte die „heute“-Redak- tion für die Spätausgabe einen Nachrichtenfilm ein, der bei der Darstellung der Protest- sprachen weitaus komplexere Bedeutungsebenen aufwies. Vertreter/innen der Visual Culture Studies und Visual History haben schon lange die Vielschichtigkeit der Grammatik und Zeichen von Film, Bildern und Sehpraktiken herausgearbeitet. Bilder, wie Gerhard Paul argumentierte, stellen vielfältige „kulturelle Kodierungen und mediale Transforma- tionen“ dar, „deren wichtigste Merkmale der Ausschnitt und die Perspektive sind“.26 In dem gesendeten Nachrichtenfilm zu Duisburg folgte die Kamera in Ausschnitten den Protestzügen. Im eigentlichen Hauptsegment bewegte sich die Einstellung von einem Close-up auf ein schwarzes Kreuz, das ein Protestteilnehmer vor sich her trug, zu einer Halbtotalen, die ein ganzes Feld von Holzkreuzen, die andere Ostermarschierer/innen in die Höhe hielten, erfasste. Die Perspektive ermöglichte es dem Fernsehpublikum, die Beschriftung der Kreuze leicht auszumachen. Während das Vorderste die Aufschrift „Vietnam“ trug, wiesen die Folgenden Namen wie „Lidice“, „Mauthausen“, „Treblinka“ und – mehr im Hintergrund – „Auschwitz“ auf. Andere Einstellungen bewegten sich in umgekehrter Richtung von der halbtotalen Erfassung der Protestierenden zu Großauf- nahmen der Transparente. Ein von drei Aktivist/innen mitgeführtes Transparent etwa schob in großen Lettern der Feststellung „Heute Dutschke!“ die Frage „Morgen wir?“ hinterher.27 25 Ebd.; Anna Wahdat: Die Welt im Zeitraffer. Die Sprache und das Sprechen. In: Matzen und Radler 2009, S. 157; Manfred Muckenhaupt: Fernsehnachrichten gestern und heute. Tübingen 2000, S. 58. 26 Irit Rogoff: Studying Visual Culture. In: Nicholas Mirzoeff (Hrsg.): The Visual Culture Reader. 2. Auflage. London 2002, S. 24-36; Gerhard Paul: Das Jahrhundert der Bilder. Die visuelle Geschichte und der Bildkanon des kulturellen Gedächtnisses. In: Paul 2008, S. 27. 27 Zuspielteile. „heute“ Spätnachrichten. 13. April 1968. 12 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Diese Wiedergabe von Protestbildern wich in zwingender Weise von den eigentlichen komplexeren Protestereignissen und Praktiken ab. Dabei verliefen die medialen Trans- formationen und Rezeptionen aber keineswegs linear. Die Fernsehbilder induzierten beim „heute“-Publikum ganz unterschiedliche kollektive Erinnerungen und Sinnzusam- menhänge. Für nicht wenige Zuschauer mag angesichts des sachlichen Sprechertexts die laute Bildsprache der Protestierenden, insbesondere die Gleichsetzung von NS- Vernichtungslagern und Vietnam, abstrus oder gar bedrohlich erschienen sein und Er- innerungen an Straßenpropaganda der 1920er und 1930er Jahre hervorgerufen haben. Für andere fand sich eine deutliche Parallele im menschlich herbeigeführten industriel- len Massenmord an Zivilbevölkerungen. Aus dem Blickwinkel dieser Zuschauer/innen verstärkten die „heute“-Bilder die Praktiken der Protestierenden. In der Tat deckte sich diese fluide Bildlichkeit teilweise mit den in sich nicht immer stimmigen Konstrukten der Ostermarschierer/innen. Ende der 1960er Jahre war für diese eine Gleichsetzung von Vietnam und dem in Vernichtungslagern wie Treblinka ausgeführten NS-Genozid an den europäischen Juden eine fest etablierte Praxis und wichtiges Instrument der Kritik an der amerikanischen Kriegspolitik und des vermeintlich fortwährenden Faschismus in der Bundesrepublik.28 Die Kreuze selbst richteten sich an ein überwiegend christli- ches Publikum, das zur Osterzeit der biblischen Geschichte von der Kreuzigung Jesu gedachte. Darüber hinaus halfen sie, Teile der christlichen Friedensbewegung weiter zu integrieren. Dass diese Vorgehensweise die eigentlichen jüdischen Opfer des NS- Rassenwahns, die unter der christlichen Symbolik kaum Platz fanden, trivialisierte oder gar verdrängte, nahmen die Protestierenden bestenfalls in Kauf. Als primäres, nament- lich eindeutig benanntes Opfer, wie auf dem abgebildeten Transparent zum Ausdruck gebracht, erschien indes Rudi Dutschke. Der Perpetuierung von Protestbildern und der damit verbundenen Induzierung kollekti- ver Erinnerungen durch „heute“-Nachrichtenfilme blieben dennoch deutliche Grenzen gesetzt. In der polarisierten und aufgeheizten politischen Kultur des Kalten Krieges, in der vielen, nicht nur konservativen Zuschauer/innen Dutschke als Marionette von Moskaus Gnaden erschien, konnte eine Präsentation des Studentenführers als Märty- rer kaum breiten gesellschaftlichen Anklang finden oder Teil eines „heroischen Opfer- gedächtnis“ werden. Wenn auch eine Universalisierung des Opferstatus, wie sie etwa in dem „Morgen wir?“-Slogan des Dutschke-Transparents zum Ausdruck kam, in der sich oftmals selbst mit Opferbegriffen umgebenen älteren Generation von Westdeut- schen kaum zu Unbehagen führte, rief doch die Parallelisierung von Massenmord- und Dutschke-Bildern Abwehrhaltungen hervor, die auch die von den Protestierenden beab- sichtigten Erinnerungen an deutsche Massenverbrechen unterminierte.29 Diese Mehrschichtigkeit in der bildlichen und sprachlichen Behandlung von Protestbe- wegungen und deren Potential bei der Verschiebung von Erinnerungsdiskursen zeigte sich auch in der zweiten exemplarischen Ausgabe der „heute“-Nachrichten, der Haupt- sendung vom 13. Dezember 1969. Ausgestrahlt ab 19.45 Uhr, setzte sich diese Sen- dung mit Protestmärschen gegen den Vietnamkrieg in West-Berlin und Frankfurt/Main 28 Kampagne für Abrüstung. „Vietnam-Report.“ Offenbach 1965, S. 3, 12, APO Archiv, Freie Universität Berlin und Kampagne für Demokratie und Abrüstung-Ostermarsch, München; „Gegen den Völkermord in Vietnam“. 1968. IfZ, ED 328/30; vgl. auch Hans Kundnani: Utopia or Auschwitz. New York 2009, S. 31-32. 29 Zur Universalisierung des Opferstatus durch die ’68er vgl. Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. München 1998. Zum heroischen Opfergedächtnis siehe Assmann 2006, S. 75. Pegelow Kaplan: „Eine Methode, der bei uns der gewünschte Effekt...“ 13 auseinander. Die Behandlung der Demonstrationen im letzten Drittel der „heute“-Nach- richten reflektierte bereits den fortwährenden Bedeutungsverlust der Protestbewegun- gen, die sich nach deutlichen Misserfolgen etwa bei der fehlgeschlagenen Verhinde- rung der Notstandsgesetzgebung im Zustand zunehmender Zersplitterung befanden. Der „heute“-Text zum 43-sekündigen Nachrichtenfilm zu den Ereignissen in West-Ber- lin nahm den Forderungen der Aktivisten sogleich ihre rhetorische Schärfe, indem der Sprecher sie etwa mit dem „Abzug der Amerikaner aus Vietnam“ zusammenfasste. Der Hinweis, dass „größere Zwischenfälle“ in Berlin nicht gemeldet wurden und ein „star- kes Polizeiaufgebot“ im folgenden Frankfurt-Segment „nicht einzugreifen“ brauchte, verlegte einmal mehr das Zentrum möglicher und realer Gewaltausübung in die Reihen der Protestierenden.30 Bildlich hingegen veranschaulichten die Einspielungen zu den Berlin-Protesten eine weitaus größere Komplexität bei der Darstellung von Massengewalt, die die Aussa- gen der Linksaktivist/innen mitunter dezidiert unterstützte. Bereits die erste Einstel- lung, die Plakate tragende Aktivist/innen im Laufschritt zeigte, führte Bilder vor, die Opfergruppen und Gewaltbegriffe deutlich ausweiteten. In der Totalen wurde zunächst ein Transparent-Text sichtbar, der „Freiheit für Bobby Seale“ einforderte. Der „heute“- Nachrichtentext, der das Fernsehpublikum explizit auf die Transparente hinwies, brach- te diese Agitation mit der „Solidarität mit der militanten Farbigen-Bewegung ‚Black Panther‘“ in Verbindung. Panther-Mitbegründer Seale befand sich nach den politischen Protesten um die Chicagoer National Convention des Vorjahres immer noch in Haft. Die Bedrohung ging in dieser Transparentenwelt nicht mehr von den Protestierenden, sondern von den Staatsorganen und speziell denjenigen der USA aus. Andere, in der Halbtotalen erfasste Plakattexte führten dies noch einen Schritt weiter, indem sie, wie schon in Sendungen des Jahres 1968, eine USA- und NS-Gleichsetzung vollzogen. Der Protesttext „US-Giftgas raus aus Deutschland“ brachte semantisch die Kampfmittel des US-Militärs mit den Mordpraktiken in den Vernichtungszentren des NS-Regimes in Verbindung, die in dem vielbeachteten ersten Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 in Frankfurt/Main breit thematisiert worden waren. Diese Gleichsetzungen hob die Nach- richtensendung auch akustisch hervor, da die vom ZDF verwandte magnetische Auf- zeichnungstechnik (MAZ) die Verwendung von Originalton wie etwa in diesem Segment das Skandieren der berüchtigten „USA, SA, SS“-Formel erlaubte. Freilich würde es zu kurz greifen, von einer linearen Aufnahme von Bildern und der von diesen beim Pub- likum ausgelösten Erinnerungen im Sinne der von den Protestierenden angestrebten politisch-kulturellen Deutungszusammenhänge auszugehen. Einzelne Einstellungen wiesen dann auch in gegensätzliche Richtungen. Die Verwendung einer Großaufnah- me, die die sich in Reihen bewegenden Stiefel der Protestierenden in Szene setzte, rief Verbindungen zum Militär oder gar der nazistischen SA hervor, deren Mitglieder auch zu Propagandazwecken durch Deutschland marschiert waren und die die Aktivist/innen durch ihre Sprechchöre den Fernsehzuschauer/innen selbst ins Gedächtnis riefen.31 Aus der Perspektive zahlreicher Aktivist/innen blendeten diese in zeitgenössischen ZDF-Nachrichtensendungen vielfach dargestellten Massengewaltbilder immer noch zu viele Komponenten der Genozidsprache der Protestbewegungen aus. Insbesondere 30 Zuspielteile und Programm Nachrichten. 13. Dezember 1969, ZDF Archiv, Mainz. 31 Ebd.; Rebecca Wittmann: Beyond Justice. The Auschwitz Trial. Boston 2005, S. 11, 98. 14 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 die Mitglieder der Solidaritätskomitees mit der Black Panther Partei, die Ende 1969 in Frankfurt und West-Berlin von zahlreichen ehemaligen SDSlern wie Karl-Dietrich Wolff gegründet wurden, perpetuierten eine radikalere Bild- und Verbalrhetorik, die sie im Austausch mit amerikanischen Panther-Mitgliedern weiterentwickelten. Die Komitees veröffentlichten etwa Broschüren mit übersetzten Panther-Texten, die die „barbarischen Lynchmorde an Tausenden schwarzer Männer und Frauen“, die Behandlung der „ame- rikanischen Indianer“, die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sowie den „feigen Massenmord in Vietnam“ allesamt als „Unterdrückung, Völkermord und Terror“ benann- ten. Wenn sich auch Wolff und die Komitees an den im ZDF dargestellten Protesten be- teiligten, fanden ihre Aussagen doch in den „heute“-Sendungen kaum Niederschlag.32 Dennoch war das Fernsehpublikum zuletzt durch die Berichterstattung zur Ermordung von Martin Luther King, Jr., für Bilder schwarzer Opfer zugänglich. Wenn auch den meisten Deutschen jenseits der Solidaritätskomitees und anderer linker Splittergruppen die Namen der von der US-Polizei erschossenen Panthers nicht bekannt waren, fügte sich das Seale-Porträt der „heute“-Sendung vom 13. Dezember 1969 doch in die sich weiterentwickelnden Opfernarrative der Erinnerungskulturen des Landes ein und ver- stärkte diese. „CBS Evening News“: Bilder von Opfern, Massensterben und Totengedenken Einen Monat zuvor hatten die „CBS Evening News“ sich ihrerseits Anti-Vietnamkriegs- demonstrationen – allerdings solchen im eigenen Land – zugewandt. Am 13. November 1969 begann die Nachrichtensendung mit der Berichterstattung von den dreitägigen Protesten in der US-Hauptstadt, an deren Anfang der vom Vietnam Moratorium Com- mittee und New Mobilization Committee to End the War in Vietnam (New Mobe) orga- nisierte knapp 40-stündige „March against Death“ von über 45.000 Protestierenden stand. Im Gegensatz zur Bundesrepublik wuchsen Antikriegsdemonstrationen in den USA nach wie vor zu immer größeren Massenveranstaltungen an, die an diesem No- vemberwochenende allein in Washington, D.C. weit über 500.000 Protestteilnehmer/ innen aus dem ganzen Land auf die Straße brachten.33 Weitaus ausgedehnter als die ZDF-Nachrichtensendungen präsentierten die „CBS Evening News“ Mitte November Bilder von Opfern, Massensterben und Totengedenken – das die New Mobe Organisa- tor/innen mediengerecht in den Mittelpunkt ihrer Protestpraktiken gestellt hatten –, die in selektiver Form ein breites Publikum erreichten. Mit einer Gesamtlänge von sieben Minuten dominierten die zwei zusammenhängenden und nur von einer Werbesequenz unterbrochenen Beiträge zu den Demonstrationen in D.C. die „CBS Evening News“ an diesem Donnerstag. Auch wenn Walter Cronkite die Sendung vom Kennedy Space Center in Florida aus eröffnete, wo er den anstehenden Abschuss von Apollo XII erwartete, war CBS mit Nachrichtenteams in der Hauptstadt präsent, deren Reportagen Anchorman Harry Reasoner vom New Yorker Studio aus einleitete. Der eingespielte Nachrichtenfilm zeigte den afro-amerikanischen CBS-Re- 32 Karl-Dietrich Wolff. Persönliches Interview, geführt vom Verfasser. Frankfurt/Main. 10. Mai 2010; Solidaritätskomitee mit der Black Panther Partei West-Berlin (Hrsg.): Aufsätze des Verteidigungsministers. In: USA Black Panther Party 1969-71, S. 6; APO Archiv, Freie Universität Berlin; Martin Klimke: The Other Alliance. Student Protest in West Germany and the United States in the Global Sixties. Princeton 2010, S. 120-121. 33 CBS Evening News. 13. November 1969. Vanderbilt Television News Archive; Tom Wells: The War Within: America’s Battle Over Vietnam. Berkeley 1994, S. 328-334; Simon Hall: Peace and Freedom. The Civil Rights and Antiwar Movements of the 1960s. Philadelphia 2005, S. 163-166. Pegelow Kaplan: „Eine Methode, der bei uns der gewünschte Effekt...“ 15 porter Hal Walker vor einem sich vorwärtsbewegenden Protestzug am Ausgangspunkt des Marsches in der Nähe von Arlington National Cemetery. Während Walker die Pro- testformen beschrieb, erfasste die Kamera Ausschnitte des sich auf dem Weg zum Weißen Haus befindenden Zuges. Jeder der Teilnehmer/innen, die sich in einem Drei- Sekunden-Takt hinter Walker in Bewegung setzten, trug, so der CBS-Mann, ein Schild mit dem „name of a Vietnam war dead or the name of a bombed out Vietnamese village or the names of the states from which these victims have come.“ Die Kamerabewegung erfasste sowohl die sich im Halbdunkel bewegenden Demonstrierenden als auch deren aufleuchtende weiße Schilder. So konfrontierten die CBS-Bilder das landesweite Fern- sehpublikum etwa mit einem Schild mit dem Aufdruck „Alabama 798 dead“. Plakate, die die Namen der von US-Streitkräften zerstörten vietnamesischen Dörfer erfassten, sparte CBS allerdings aus. Visuell ging es in den CBS News ausschließlich um ameri- kanische Tote und die vielschichtigen Bedeutungsebenen, die mit diesen einhergingen. Die einzelnen Protestierenden unterbrachen ihren ansonsten lautlosen Protest kurz vor dem Weißen Haus, wo sie, wie Walker anmerkte, „shout out the names they carry“, be- vor sie in Richtung des Kapitols weitergingen.34 In der CBS-Nachrichtensprache und -bildlichkeit erschienen Massensterben und -ver- brechen somit in auffallend abstrakten und zugleich universalisierenden Formen. In den abgebildeten Praktiken waren es die Toten, die, wie die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn feststellte, als „Inbegriff dessen, was erinnert werden muss“ erschienen.35 Die von CBS so evozierten Erinnerungsleistungen der Fernsehzuschauer/innen stellten diese Toten, bei denen es sich fast ausschließlich um US-GIs handelte, als „Opfer“ und kei- neswegs als Täter dar, die direkt das Leid großer Teile der vietnamesischen Bevölke- rung verursacht hatten. Allerdings hatten auch die weitgespannten Opferbegriffe der „Evening News“ ihre Grenzen. Sie fanden zum Beispiel keinen Niederschlag in dem sich anschließenden Kurzbericht über die Black Panthers in Chicago. Ganz im Gegenteil sti- lisierte CBS einen weiteren von der Polizei erschossenen Panther mittels der Bezeich- nung „sniper“ zum Täter und Ausgangspunkt der Gewalt. Selbst eine Untersequenz zu den Washingtoner Protesten, die sich mit „parade marshalls“ und deren Anleitung von Demonstranten zur Vermeidung von Gewalt beschäftigte, konstruierte die teilneh- menden Aktivist/innen keineswegs als mögliche Opfer von Polizeigewalt, sondern als potentielle Täter. Todd Gitlin interpretierte diese CBS-Berichterstattung von den Protesten in der US- Hauptstadt als repräsentativ für die vorherrschenden „media frames“, die einerseits stets Konflikte betonten und andererseits die Grenzen von gewalttätiger Minderheit und friedfertiger Mehrheit bei Antikriegsaktionen verwischten. Gerade die letzteren Ni- vellierungen deckten sich weitgehend mit dem vom Nixon White House perpetuierten Narrativ, das die Massenproteste diskreditieren sollte. Allerdings verbalisierte die CBS- Nachrichtensendung auch gleichzeitig zentrale Konstruktionen von Massenverbrechen, die insbesondere der New Mobe perpetuierte. Wenn auch die CBS-Bildsprache die Aufnahme von Plakaten mit den Namen zerstörter vietnamesischer Dörfer vermied, so strichen doch die Reportertexte vom 13. November deren Verwendung eindeutig hervor 34 „CBS Evening News“. 13. November 1969. 35 Eva Horn: Tod, Tote. In: Nicolas Pethes und Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Reinbek 2001, S. 579-582. 16 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 und trugen so zur Verbreitung der Protestsprache bei. Im Gegensatz zum radikalisier- ten amerikanischen SDS und dessen Weather Underground Fraktion verzichtete der New Mobe als eine lockere Koalition zahlreicher auch kirchlicher Antikriegsgruppen aber auf eine Verwendung von ausschweifenden Genozidvorwürfen. Die abgebildeten Trauerpraktiken sollten auch versöhnen und breitere Teile der US-Bevölkerung für die Beendigung des Vietnamkrieges gewinnen. Selbst gemäßigtere und nochmals durch CBS verwässerte Bilder konnten aber auch radikalere Erinnerungen hervorrufen. Die „Ordnung der Lebenden und Toten“ blieb in der Tat „immer fragil und bedroht“.36 Vielschichtige transnationale Transferprozesse Diese Fragilität zeigte sich bereits innerhalb weniger Tage nach dem Ende der Massen- proteste in Washington, D.C. Am 17. November erfuhr das US-Fernsehpublikum von Walter Cronkite, dass Überlebende eines „alleged (...) massace[r] (...) have claimed that an American infantry patrol sweeping through their village in March of last year executed more than 500 unarmed man, women and children.“ Ronald Ridenhour, der die Ereig- nisse in einem Brief an US-Präsident Nixon geschildert hatte, ging in dem sich anschlie- ßenden CBS-Bildinterview einen Schritt weiter, in dem der Veteran von einer „great, great number of the inhabitants of that village“ sprach, „who were murdered, who were slaughtered or massacred, killed (...) without provocation“ von einer US-Einheit.37 Die Behandlung der Verbrechen in My Lai durch CBS- und ZDF-Nachrichtensendungen veranschaulicht eindringlich, wie die Sender den Protestsprachen friedensbewegter lin- ker Aktivist/innen entgegensteuerten. Dabei zeigte sich auch, dass die Bildlichkeit und Textualität der Nachrichtensendungen – ähnlich wie die Protestsprachen selbst – das Resultat vielschichtiger transnationaler Transferprozesse waren.38 In den „CBS Evening News“ vom 20. November 1969 fiel die Behandlung der Gescheh- nisse von My Lai mit sechs Minuten und 40 Sekunden sogar zehn Sekunden länger aus als die Darstellung der Apollo XII-Mission, die CBS an diesem Abend noch als Erstes behandelte. Die zentrale Sequenz des mehrstufigen Nachrichtenbeitrags zu diesem „al- leged massacre“ in Vietnam waren zweifellos die Bilder von Ronald Haeberle, die dieser als Fotograf des 31st Public Information Office kurz nach dem „Search and Destroy“- Einsatz vor Ort gemacht hatte. Nach einer kurzen Einleitung durch Harry Reasoner, der als Quelle Clevelands Zeitung „The Plain Dealer“ angab, zeigten die „Evening News“ nacheinander fünf Schwarz-Weiß-Fotographien. Die Verwendung eines Zooms ermög- lichte es CBS etwa im ersten Bild die schmerzverzerrten Gesichtszüge einer vietname- sischen Frau und daran anschließend die Konturen des Leichnams eines Jungen her- vorzuheben. Am längsten zeigte das Nachrichtenprogramm das letzte Bild, das in den Folgejahren zu einer globalen Medienikone wurde und einen Feldweg mit toten, mitun- ter halbnackten Frauen, Kindern und Babys darstellte. Die schrittweise Verifizierung der auf den Bildern erfassten Ereignisse erfolgte in dem anschließenden Nachrichtenfilm. In diesem Beitrag befragte CBS-Mann Reasoner in Fort Dix Sergeant Michael Bernhardt, der während der Massentötungen vor Ort gewesen war. Im Zusammenschnitt stellte 36 Ebd., S. 580; Gitlin 1980, S. 226-27; Ron Jacobs: The Way the Wind Blew. A History of the Weather Underground. London 1997, S. 120. 37 CBS Evening News. 17. November 1969, Vanderbilt Television News Archive. 38 Vgl. Thomas Pegelow Kaplan: Genozidbegriffe und politischer Protest in den 1960er und 1970er Jahren. In: Martin Sabrow (Hrsg.): Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2010. Göttingen 2011, S. 55-68. Pegelow Kaplan: „Eine Methode, der bei uns der gewünschte Effekt...“ 17 Reasoner zuletzt die Frage nach der Tötungsart, worauf Bernhardt antwortete, dass die Dorfbewohner „gathered to a group and this group was in a ditch, bomb crater (...) of some type, herded there together in that ditch and then they were fired upon“.39 Linke Protest- und Antikriegsgruppen in den USA nahmen diese von CBS und anderen Sendern verbreiteten Bilder bereitwillig auf und integrierten sie in ihre politische Arbeit, in der sie sich wiederum an die Massenmedien wandten. Viele Aktivist/innen sahen in den Haeberle-Fotografien eine Bestätigung und Legitimation ihrer Opposition zum amerikanischen Krieg in Vietnam. Zügig über die Kriegsverbrechen-Rhetorik hinaus- gehend, benannte eine zunehmende Zahl von Protestierenden die Taten in My Lai als „Genozid“. Dabei griffen diese Linksaktivist/innen auch auf die mittels transnationaler Kommunikation weiterentwickelten Genozidsprachen internationaler Konferenzen, wie etwa dem mit amerikanischer Beteiligung in Skandinavien 1967 durchgeführten Rus- sell-Tribunal, zurück.40 Die CBS-Nachrichtentexte des ausgehenden Jahres 1969 hielten sich hingegen an die sprachliche Konstruktion des „alleged massacre“. Die Nachrichtenmacher von „CBS Evening News“ wandten sich dezidiert gegen eine Verbindung zu Massenverbrechen genozidalen Ausmaßes. Ihre konservativeren Konkurrenten von ABC sprachen zwar bisweilen in den Abendnachrichten von „Genozid“, aber sie verbanden diese Benen- nung sofort mit offiziellen Stimmen des kommunistischen Machtbereiches. So be- richteten die „ABC Evening News“ am 4. Dezember 1969 etwa, dass die sowjetische Parteizeitung „Pravda“ einen Vergleich von „Pinkville to the Nazi destruction of East European villages” gezogen hätte. Die Nachricht veranschaulichte somit eine weitere Ebene transnationaler Kommunikation, die in Fernsehnachrichten verhandelt wurde. In- direkt zeigte ABC darüber hinaus Parallelen zwischen offiziellen sowjetischen Stimmen und der Sprache der radikaleren Teile der amerikanischen Protestbewegungen auf. An- son Rabinbach hat treffend darauf hingewiesen, dass der bloße Begriff „Genozid“ der amerikanischen und sowjetischen Führung zu dieser Zeit als ein „Mittel gegenseitiger Verleumdung“ diente. ABC delegitimierte somit mittels der Assoziation mit der Sowjet- union den Sprachgebrauch linker US-Protestgruppen. Allerdings war allein schon die Weiterverbreitung der Haeberle-Bilder durch CBS bemerkenswert. Zahlreiche US-Tageszeitungsredaktionen etwa verweigerten den Abdruck, z.T. weil die Redaktionen die Bilder für gefälscht hielten. Neben den propagandistischen Dimensio- nen boten die Fotografien aber auch Erinnerungsanlässe, die bestehende Erinnerungen des Publikums an US-Kriegsführung und -Kriege überschreiben konnten. Im Zuge der sich wandelnden Holocausterinnerungen in den USA der 1960er Jahre sahen nicht nur Mitglieder amerikanisch-jüdischer Gemeinden visuelle Überschneidungen zwischen den My Lai-Bildern und Fotografien von Opfern der NS-Gewaltverbrechen. Weit über die Reihen linker Protestgruppen und ihrer Umfelder hinaus begannen Amerikaner/in- nen Fernsehbilder wie die Haeberle-Fotografien anders als das Nixon White House zu deuten.41 39 CBS Evening News. 20. November 1969, Vanderbilt Television News Archive; Lars Klein: My Lai. Die neuen Opferbilder des Krieges. In: Paul 2008 (Klein 2008), S. 372-375. 40 Dave Dellinger: Unmasking Genocide. In: „Liberation“, Dezember 1967/Januar 1968, S. 3, 12. 41 ABC Evening News. 4. Dezember 1969. Vanderbilt Television News Archive; Anson Rabinbach: Begriffe aus dem Kalten Krieg. Göttingen 2009, S. 62; Klein 2008, S. 375; Levy und Sznaider 2007, S. 134-137. 18 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Haeberle-Bilder im ZDF Mittels transnationaler Transferprozesse traten die Haeberle-Bilder auch in den bun- desdeutschen Fernsehnachrichten prominent hervor. Die „heute“-Ausgabe vom 2. De- zember 1969 stellte diese Bilder in die Sendungsmitte und ergänzte sie mit Filmmaterial von einem Interview mit dem Fotografen, das das ZDF direkt von CBS bezogen hatte. Die Hauptabteilung Tagesgeschehen transferierte ebenfalls das CBS-Vokabular vom „angeblichen Massaker“, fügte es aber auch in spezifisch innerdeutsche Bedeutungs- zusammenhänge ein. Dabei ging es nicht nur um die eigene Text- und Bildsprache des Senders, sondern auch darum, wie die „heute“-Redaktion die Verwendung der Haeberle-Bilder in den Genozidsprachen linker Gruppen darstellte. Bei der Behandlung von Anti-Vietnamkriegsdemonstrationen in West-Berlin griff „heute“ am 13. Dezember 1969 gleich mehrmals die Aneignung von My Lai-Rhetorik durch linke Gruppierungen auf. Die Haeberle-Bilder standen dabei im Mittelpunkt einer Nachrichtenfilmszene, die zwei ältere Frauen aus den Reihen der Demonstrierenden hervorhob. Die beiden Ak- tivistinnen trugen Großplakate, auf denen die Haeberle-Fotografien zum Zwecke des Genozidvorwurfs deutlich hervortraten. Die darauffolgenden Nachrichtenbilder zeigten ein Transparent, das diese Verbrechen in eine Reihe mit „Lidice“ und „Oradour“ und so- mit NS-Massenmorden stellte. Mittels eines Off-Kommentars erfuhr das ZDF-Publikum, dass es sich dabei um eine Kundgebung der Westberliner SED handelte. Im Kontext des Kalten Krieges wertete die Verbindung zu der im engen Verhältnis zum Ulbricht- Regime stehenden Partei diese Bilder und NS-Vergleiche in den Augen vieler west- deutscher Zuschauer/innen sofort ab. Darüber hinaus schlossen ZDF-Redakteure den Beitrag fließend an die Behandlung einer Demonstration von Restgruppen der Außer- parlamentarischen Opposition (APO) an, die zeitgleich ähnliche Verbindungen zwischen dem US-Krieg und Hitler-Deutschland hervorgestrichen hatte. Auch wenn sich die APO zu ihren Hochzeiten immer wieder gegen die Linie der DDR-Führung gewandt hatte, be- tonte die „heute“-Sendung dennoch Gemeinsamkeiten in Wort und Bild und untergrub das Potential neuer Erinnerungsimpulse.42 Die Redakteure der tagesaktuellen Hauptsendung des ZDF vom 20. Februar 1970 folg- ten in ihrem Kommentar der Linie der „heute“-Ausgabe vom 13. Dezember. Dennoch maß die Februar-Sendung in visueller Hinsicht den Antikriegsprotesten und -sprachen wesentlich mehr Bedeutung zu. Zunächst bündelte die Sendung die Darstellungsweisen und Erinnerungsschübe im Feld von Massenverbrechen in einem vereinfachten Dualis- mus, den die Redaktion gemäß des geltenden Anchorman-Formats mit eigenen Kom- mentaren versah. Im Wiesbadener Studio leitete „heute“-Moderator Karl Heinz Schwab einen insgesamt fünfminütigen Beitrag zu dem vom International Vietnamkomitee orga- nisierten Besuch eines 12-jährigen vietnamesischen Mädchens in der Bundesrepublik ein, das zu den wenigen Überlebenden von My Lai zählte. Bereits in der Anmodera- tion versuchte Schwab die Rezeption und Erinnerungssteuerung zu beeinflussen, in- dem er unterstellte, dass es dem Vietnamkomitee bei der Vorführung Vo Thi Liens als „Kronzeugin für Gräueltaten“ schlichtweg „um anti-amerikanische Propaganda“ ginge. Dem besonderen innerdeutschen Kontext entsprechend, fügte er hinzu, dass dieser Stil „gerade auch aus der DDR nur zu vertraut“ sei. In seinem Filmbericht zum Besuch des Mädchens griff Hans-Werner Conen diese „bewaffneten Worte“ wieder auf. „Die 42 Zuspielteile und Geplanter Sendeablauf für Frühnachrichten. 2. Dezember 1969. ZDF Archiv. Mainz; Programm- Spätnachrichten. 30. November 1969. ZDF Archiv, Mainz; Zuspielteile. „heute“. 13. Dezember 1969. Pegelow Kaplan: „Eine Methode, der bei uns der gewünschte Effekt...“ 19 Veranstalter“, so Conen, „nennen es Aufklärung, Information; für die anderen ist sie zum zweiten Mal ein Opfer, dieses Mal das der Propaganda.“ In seiner Absage wurde Conen noch deutlicher, charakterisierte den Auftritt als „Angriff auf das Gemüt“ und betonte, dass dieser „Methode (...) der [beim Fernsehpublikum] gewünschte Effekt wohl versagt bleiben wird“. Auf diese Weise versuchte der „heute“-Moderator noch direkter die Erinnerungsschübe des Publikums von den durch die Protestierenden intendierten Sinnzusammenhängen abzulenken.43 Die Bildsprache, die mit Conens Text interagierte, konnotierte die Protestpraktiken des Vietnamkomitees allerdings deutlich positiver und wies auf schwelende Erinnerungs- konflikte hin, die auf der Veranstaltung und in dem Nachrichtenbeitrag deutlich her- vortraten. Während Conen etwa von „Aufklärung, Information“ sprach, erschien ein Haeberle-Foto auf dem Bildschirm, das eine vietnamesische Frau kurz vor ihrer Er- mordung durch GIs zeigte. Im Gegensatz zu Conens Verbalkritik unterstrich gerade dieser Zusammenschnitt den Aufklärungsanspruch der Protestgruppen. Im Anschluss verharrte die Kamera in halbnaher Einstellung auf Vo Thi Lien, die mit den anwesenden Journalist/innen und Aktivist/innen ihre Erinnerungen teilte. Mit betrübtem Gesicht, was ihren Opferstatus weiter verstärkte, hörte das TV-Publikum einen kurzen Auszug ihrer Ausführungen. „Die Amerikaner haben“, so übertrug ein Übersetzer ihre Rede, „meine Oma und andere Verwandte meiner Familie und viele, viele Einwohner dieses Dorfes er- mordet.“ Weder in Bild noch Ton suchte die „heute“-Redaktion diese Aussage in Zwei- fel zu ziehen. Die abschließende Einspielung von Bildern eines späteren Treffens Vo Thi Liens mit Abgeordneten des linken Flügels der Regierungspartei SPD verlieh dem Erinnerungsbericht, den Bildern amerikanischer Massenverbrechen und schließlich den sich daraus ergebenden Erinnerungsimpulsen des Publikums weiteres Gewicht.44 Veränderung kollektiver Gedächtnisse Auch wenn „CBS Evening News“ und „heute“-Moderatoren wie Karl Heinz Schwab die textuellen und visuellen Konstruktionen der Protestbewegungen Ende der 1960er Jahren gezielt abschwächten, vermittelten beide Nachrichtenprogramme doch gerade auf visueller Ebene einen breiten Fluss von Bildern, die Kernaussagen der Aktivist/innen gerade in Bezug auf Massenverbrechen unterstützten. Insbesondere diese über Jahre währende Wiederkehr von Protestbildern löste beim Fernsehpublikum einschneidende Erinnerungsimpulse aus, die für die Veränderung kollektiver Gedächtnisse und der sich langsam verschiebenden Erinnerungskulturen einen zentralen Beitrag leistete. Dabei lösten die Bilder der Protestierenden, wie es Roland Barthes bezeichnete, eine komple- xe „Gegen-Erinnerung“ aus, die die Erinnerungsformen der Fernsehzuschauer/innen zu überlagern hatte. In diesem Zusammenhang waren die Bilder von Massenverbrechen nicht durch die abgebildete Massengewalt, sondern dadurch gewalttätig, dass sie „den Blick mit Gewalt ausfüllt[en].“ Wie die Form und Aussagen der Protestaktivitäten wa- ren auch die Bilder und Texte der Fernsehnachrichten und deren erinnerungsstützende Funktionen von transnationaler Kommunikation geprägt und nicht primär auf national- staatliche Rahmen reduzierbar. In den diskursiven Welten des Kalten Krieges bestan- den diese Verbindungen aus bundesrepublikanischer Sicht nach erfolgter Westbindung vor allem mit den Vereinigten Staaten. Die besprochene Aneignung und Verbreitung 43 Zuspielteile und Programm. „heute“ Nr. 38/70. 20 Februar 1970. ZDF Archiv Mainz. 44 Ebd. 20 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 der Haeberle-Bilder von den Opfern My Lais ist nur ein, wenn auch sehr prominentes Beispiel für diese Dynamiken. Insbesondere Antikriegsproteste – auch in der Filterung durch CBS und das ZDF – verstärkten Begrifflichkeiten von „Opfern“, „Zeugen“ und „Überlebenden“. In einer noch bedeutenderen Entwicklung trugen sie dazu bei, die- sen einen moralischen Status zu verleihen, der in den 1980er Jahren im beginnenden „Zeitalter der Zeugen“ zur dominanten Konstante in den Erinnerungsdiskursen wurde.45 Daneben bestanden aber auch weiterhin deutliche Unterschiede bei der Darstellung von Massenverbrechen durch Nachrichtensendungen in der Bundesrepublik und den USA. Gerade bei den Täterbildern blendete CBS einen radikaleren Diskurs, der auch amerikanische Polizisten in Chicago oder GIs in Vietnam als Massenmörder darstellte, aus. „CBS Evening News“-„media frames“ folgten stattdessen Bildern der vermeintlich gemäßigteren Teile der Friedensbewegung, die auch GIs wie beim „March of Death“ fast ausschließlich als Opfer konstruierte. „heute“ hingegen vermischte gerade auch auf visueller Ebene viel stärker diese Diskursfragmente mit denjenigen der Protestbe- wegungen und präsentierte nicht nur US-Täter, sondern auch Analogien zu dem, was sich allmählich als kohärenter Diskurs eines singulären deutschen Genozids an den europäischen Juden herausbildete. Gerade Ende der 1960er Jahre lieferten „heute“ und „CBS Evening News“ Bilder und Narrative, die das Fernsehpublikum in der Bundesrepublik und den USA mehr und mehr dazu bewegten, seine Erinnerungen an vergangene und gegenwärtige Massenverbre- chen zu modifizieren. Das Ergebnis dieser Prozesse entlud sich übermächtig in den Re- aktionen auf die NBC-Miniserie „Holocaust“, die zunächst 1978 in den USA und dann 1979 durch den Westdeutschen Rundfunk (WDR) in der Bundesrepublik ausgestrahlt wurde und den Judenmord zum Leitbegriff amerikanischer gesellschaftlicher Diskurse werden ließ.46 In Westdeutschland schrieben sich diese in den Jahren zwischen 1968 und 1970 begonnenen Prozesse in den Zuschriften und Anrufen, die 1979 beim WDR, einer ARD-Landesrundfunkanstalt, eingingen, weiter fort. Angesichts dieser jüngsten Bilderflut ordneten viele Zuschauer/innen ihre Erinnerungen neu, wobei sie allerdings auch auf die in den Vorjahren erfolgten Erinnerungsleistun- gen und die über Nachrichtenbilder vermittelten Impulse zurückgriffen. Viele, wie ein 38-jähriger Gießener in seiner Zuschrift, sprachen dezidiert von den „Opfern“ und der „Ermordung von mehreren Millionen Menschen“ durch die Deutschen. Dabei richteten Verfasser/innen nicht nur an sich, sondern auch an andere die stetige Mahnung, sich gegen jedwedes „Verschweigen und Vergessen“ zu wenden. Wie in der Erinnerungsfor- schung wiederholt dargelegt, beziehen Praktiken des Erinnerns in der Tat fortwährend ihre Gegenstände auf gegenwärtige Situationen. Andere Zuschriften verwiesen, gleich der in „heute“-Programmen der Vorjahre wiederholten Bilder der Anti-Vietnamkriegs- bewegung, auf die breiten Opfergruppen von „Völkermord“. Ein 45-Jähriger beispiels- weise sah keinen „Unterschied“ zwischen „einer unschuldig ermordeten Jüdin“ und „einer getöteten Vietnamesin“. Auch unter den Älteren, die während der NS-Zeit bereits erwachsen waren und die um 1970 noch die Mehrheit des Fernsehpublikums bildeten, kamen die evozierten Erinnerungen immer wieder auf die Opfer zurück. Für die Minder- 45 Annette Wieviorka: The Era of the Witness. Ithaca 2006; Roland Barthes: Die helle Kammer. Frankfurt/Main 1985, S. 102. 46 Aleida Assmann: The Holocaust – a Global Memory? In: Ders. und Sebastian Conrad (Hrsg.): Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories. Basingstoke 2010, S. 103. Pegelow Kaplan: „Eine Methode, der bei uns der gewünschte Effekt...“ 21 heit der Überlebenden der Lager, die in der Bundesrepublik verblieben war, galt dies ganz besonders. Ihre Konfrontation mit den Fernsehbildern löste erneut traumatische Erinnerungen an die Massenmorde insbesondere an Kindern aus. „Nicht das Feuer war so schlimm“, schrieb eine 59-jährige Frau aus Lünen über ihre Inhaftierung in einem Vernichtungslager, „sondern das Schreien der Kinder“.47 Neben dem Opferfokus nahmen Erinnerungen an die Täter beim Fernsehpublikum auch weiterhin einen zentralen Platz ein. Teilweise mehr als Abwehrhaltung in der Form äl- terer Diskurse gegen Kollektivschuldthesen, teilweise eher als Verpflichtung und poli- tisches Programm weiteten die Zuschauer/innen dabei Täterbegriffe bereitwillig aus. Eine 48-jährige Hagenerin fühlte sich an gegenwärtig verübte Massenmorde erinnert und stellte fest: „Heute ist es doch in Kambodscha und Vietnam.“ Ein 35-Jähriger warf die Frage auf, ob denn „die Amerikaner ihre Untaten in Vietnam auch so gründlich“ präsentierten und fügte ein breiteres Genozidverständnis in nationalistische Abwehrdis- kurse ein, die mitunter antisemitisch besetzt waren.48 In deutlicher Abgrenzung zu dieser Minderheit rechtsradikaler und neonazistischer Zu- schriften forderten andere im Hinblick auf Täterbilder zusätzliche „Parallelen zur Gegen- wart“ ein. Ein Kölner Zuschauer machte sich dafür stark, die „heutigen Beschimpfungen von Kommunisten“ ins Spiel zu bringen. Weitere Zuschauer hatten andere Erinnerungen an die Massenmorde an den europäischen Juden, die ebenfalls jenseits der Intentionen der Programmdirektoren und Nachrichtensendungen lagen. Sie hatten Bilder von der „Komplizenschaft des Kapitals im Dritten Reich“ und dem „maßgeblichen Anteil der Industrie an der Finanzierung des Krieges“ vor Augen, die in der derzeitigen Darstel- lungsform „verschleier[t]“ würden.49 Gegen-Erinnerungen Gerade in diesen Gegen-Erinnerungen und materialistischen Bedeutungsverschiebun- gen klingen nochmals die Protestsprachen linker westdeutscher und amerikanischer Aktivist/innen vom SDS bis zu den Black Panthers nach, die sowohl die „heute“-Nach- richten und „CBS Evening News“ in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren ab- gebildet hatten. Die Konstruktionen von Massenmord und Genozid dieser Protestbewe- gungen gingen nicht nur in die kommunikativen Gedächtnisse ihrer Mitstreiter/innen ein und verstärkten deren Gruppenidentitäten. Durch Nachrichtensendungen, die allabend- lich die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung vor den Fernsehgeräten zusammen- brachte, aufgegriffen, oftmals umgeformt und konträr kommentiert, lösten diese Bilder und Narrative auch in breiteren Bevölkerungsschichten Erinnerungen aus, die z.T. be- stehende kommunikative Gedächtnisse überlagerten. Ohne Frage waren der Aufnahme von linken Protestsprachen deutliche Grenzen gesetzt. Die Nachrichtenredaktionen von CBS und ZDF sahen in den Projekten der Protestgruppen „Methode[n]“, denen der „ge- wünschte Effekt(...) versagt bleiben wird“ und musste.50 47 Erika Brauns-Clemens und Wilhelm Vollmann: Spontane Zuschauerreaktionen auf Holocaust, S. 27, 31. In: WDR Archiv. Köln (Brauns-Clemes und Vollmann, WDR-Archiv), S. 5407; Heiner Lichtenstein und Michael Schmid-Ospach (Hrsg.): Holocaust. Briefe an den WDR. Wuppertal 1982, S. 20, 65; Kansteiner 2006, S. 139. 48 Ebd., S. 47, 38. Vgl. auch Lichtenstein. Briefe an den WDR, S. 63, 70. 49 Ebd., S. 24; Brauns-Clemes und Vollmann, WDR-Archiv, S. 38; Zuspielteile. Tagesschau. 29. Januar 1979. NDR Archiv Hamburg. Vgl. auch Aleida Assmann: Erinnerungsräume. 5. Auflage. München 2011. 50 Programm. “heute”, 20. Februar 1970. 22 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Dennoch zeigte sich ein deutlicher Einfluss der Protestierenden auf die Verbreitung von Opferbildern und den wachsenden moralischen Status von Überlebenden von Massen- morden in den beiden prominenten Nachrichtensendungen. Auch die Universalisierung von Massenmorden im Sinne der UN-Genozidkonvention und deren erneute Perpetu- ierung in transnationalen Kommunikationsräumen fand Widerhall in den Erinnerungs- praktiken der Bevölkerung, auch wenn diese seit Ende der 1970er Jahre zunehmend in Kontrast zu den Singularitätsdiskursen des nun als Holocaust benannten deutschen Massenmordes an den europäischen Juden in offiziellen nationalen Gedächtnissen der USA und Westdeutschlands traten. Ein primärer Blick auf Fernsehsender und -nachrichten als Vehikel des Scheitern der Protestbewegungen greift also zu kurz. Es bleibt festzuhalten, dass die über Jahre währenden Proteste linksgerichteter Gruppen mehr als bislang angenommen einen deutlichen Einfluss auf die Erinnerungskulturen und kulturellen Mnemotechniken West- deutschlands und der USA ausübten, mit denen sich Westdeutsche und Amerikaner/ innen kollektiven Identitäten und Orientierung versicherten. Schließlich transzendierten bereits vor der Entstehung globaler Holocaust- und Genozid-Gedächtnisse seit Ende der 1990er Jahre die von CBS- und ZDF-Nachrichtensendungen verbreiteten Bilder von Massenmord und die sie evozierenden Erinnerungen nationale Grenzen. Für diese Dynamiken waren auch linke Protestbewegungen der transatlantischen Welt von be- sonderer Bedeutung, die es auch in der antikommunistischen Ausrichtung westlicher Gesellschaften in Zeiten des Kalten Krieges mehr zu beachten gilt. Anke Hagedorn Der doppelte Wesemann oder wie der erste Intendant der Deutschen Welle zum Gestapo-Spion erklärt wurde In seinem im April 2011 erschienenen Buch „Enttarnt“ bezichtigt der Journalist Pe- ter Ferdinand Koch den ersten Intendanten des deutschen Auslandssenders Deutsche Welle (DW), Hans Otto Wesemann, ein Gestapo-Spion und Agent des sowjetischen Militärgeheimdienstes GRU gewesen zu sein. Hans Otto Wesemann habe im Auftrag der Gestapo im Jahr 1935 den bekannten jüdischen Publizisten Berthold Jacob in Basel entführt und an die Nazis ausgeliefert. Nach dem Krieg hätten die Russen Wesemann mit seiner Vergangenheit als Gestapo-Agent erpresst und zu einer Zusammenarbeit mit dem GRU bzw. dem KGB gezwungen, so Kochs Behauptung.1 Diese Thesen des ehemaligen Spiegel-Redakteurs Koch wurden in der Presse in Deutschland und auch in der Schweiz mit großem Interesse aufgenommen. In der Schweizer „Weltwoche“ prangte ein großes Foto von Hans Otto Wesemann mit der Unterschrift: „Sein Wesen gleicht dem eines Ungeheuers. Journalist Wesemann 1963.“2 Die FAZ kommentierte begeistert: „Bisher war kein fundierter Beleg für die Agententä- tigkeit Wesemanns überliefert, der von 1961 bis 1967 Intendant des deutschen Aus- landssenders war. Der einstige ‚Spiegel‘-Redakteur Koch erbringt ihn nun, befördert durch das Studium amerikanischer Geheimdienstakten.“3 Die Deutsche Welle selber reagierte reserviert, dementierte aber nicht: „Schon vor seiner Wahl zum Intendanten gab es Mutmaßungen, dass Wesemann in der NS-Zeit eine zweifelhafte Rolle gespielt habe“, so der Pressesprecher der Senders, Johannes Hoffmann. Die gegen ihn erhobe- nen Vorwürfe ließen sich jedoch auf der Grundlage der Informationen, die dem Sender vorlägen, nicht eindeutig klären.4 Die Behauptung, Hans Otto Wesemann habe für die Gestapo gearbeitet, ist nicht neu. Bereits kurz nach dessen Amtsantritt als Intendant der DW im Jahr 1961 machten ent- sprechende Gerüchte die Runde. Wesemann wies die Vorwürfe zurück. Er bot dem Leiter des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung und DW-Rundfunkrats- vorsitzenden Felix von Eckardt auch gleich einen möglichen Erklärungsansatz für die Entstehung solcher Anschuldigungen an, nämlich die Verwechslung mit einem Hans Wesemann: „Ich habe, obwohl ich ihn nie gesehen habe, schon damals mit diesem Namensvetter viel Freude gehabt, da sich alle möglichen Leute an mich wandten, und die Rückzahlung von Schulden verlangten, die jener gemacht hatte. Dann schwenkte er über ins Lager der Gestapo und betätigte sich dort als Agent provocateur, der 1934 den bekannten pazifistischen Schriftsteller Jacob aus der Schweiz nach Deutschland lockte. (…) Nach dem Kriege ist er untergetaucht und soll sich mit falschen Papieren in die USA abgesetzt haben. Sie können sich leicht vorstellen, welche Annehmlichkeiten mir diese Namensgleichheit bereitet hat, als nach Kriegsende erst die Sowjets und dann 1 Peter Ferdinand Koch: Enttarnt. Doppelagenten. Namen, Fakten, Beweise. Salzburg 2011 (Koch 2011), S. 103 ff. 2 Die Schweizer Gestapo-Affäre. In: „Die Weltwoche“, 20.4.2011. 3 Intendantenspion. Deutsche Welle lässt sich Zeit. In: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 14.4.2011. Die FAZ hat ihre Ansicht seitdem aber korrigiert und veröffentlichte einen Artikel, der auf den Recherchen der Autorin beruhen, vgl. Anke Hagedorn: Deutsche Welle. Der Intendant war nicht der Entführer. In: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 13.10.2011. 4 Vgl. schriftliche Stellungnahme von Johannes Hoffmann, 16.8.2011, E-Mail gegenüber der Verfasserin. 24 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 die Amerikaner nach Berlin kamen und nach derartigen Verbrechern fahndeten.“5 Of- fensichtlich gab sich von Eckhardt mit dieser Erklärung zufrieden, über weitere Schritte gegenüber Hans Otto Wesemann in dieser Angelegenheit ist jedenfalls nichts bekannt. Dennoch halten sich die Anschuldigungen gegenüber Wesemann bis in die heutige Zeit hartnäckig. Neben Koch vertritt auch der Publizist Erich Schmidt-Eenboom in seinem Enthüllungs- buch „Undercover – Der BND und die deutschen Journalisten“ die These, Hans Otto Wesemann habe den jüdischen Publizisten Berthold Jacob entführt.6 Doch wie sich aus zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen und Quellen zur Entführung von Berthold Jacob ergibt, war der Täter nicht Hans Otto Wesemann, sondern tatsächlich dessen Namensvetter Hans Wesemann. Die Geschichte der Entführung von Berthold Jacob ist hinlänglich bekannt: Der jüdische Publizist war wegen seiner kritischen Artikel ins Visier der Nationalsozialisten geraten und bereits 1932 aus Deutschland nach Frankreich emigriert.7 Sein alter Bekannter und ehemaliger Kollege bei der „Welt am Montag“, Hans Wesemann, versprach, ihm bei der Beschaffung eines neuen Passes zu helfen, und lockte ihn im März 1935 in die Schweiz. Nach einem gemeinsamen feucht-fröhlichen Mahl im Basler Lokal „Schiefes Eck“ fuh- ren Wesemann und Jacob in Begleitung zwei weiterer Männer in einem Auto los, angeb- lich zur Unterzeichnung wichtiger Papiere in eine Wohnung im Vorort Riehen. Doch der Weg wurde immer länger und plötzlich wurde Jacob vom Ausruf „Halt, Grenze!“ eines deutschen Beamten jäh aus seinem Schlummer gerissen. Als sich herausstellte, dass er keinen gültigen Pass besaß, wurde er festgenommen. Viel zu spät erkannte er, dass er von Wesemann in eine Falle gelockt worden war und seine Begleiter Gestapo-Agenten waren. Jacob wurde zwei Tage später in die Berliner Gestapo-Zentrale gebracht und dort unter Folter verhört. Hans Wesemann hingegen reiste entspannt mit seiner Geliebten für einen Kurzurlaub nach Italien. Doch das plötz- liche Verschwinden von Berthold Jacob sorgte für heftigen Wirbel: Tageszeitungen in Frankreich, Großbritannien und der Schweiz berichteten über den Fall. In allen Schwei- zer Polizeistationen lag bald eine Personenbeschreibung Hans Wesemanns samt Such- meldung vor. Bei seiner Rückkehr aus Italien wurden er und seine Begleiterin festge- nommen. Wesemann wurde in Basel vor Gericht gestellt und wegen Menschenraubs zu drei Jahren Haft verurteilt. Aus den Aussagen Wesemanns ging eindeutig hervor, dass die Entführung auf Schwei- zer Boden durch deutsche Beamte durchgeführt worden war. Der Schweizer Bundesrat forderte die sofortige Freilassung Berthold Jacobs. Adolf Hitler, der in seinem Urlaubs- quartier auf dem Obersalzberg über das amateurhafte Vorgehen der Gestapo informiert worden war, wies das Auswärtige Amt an, Jacob sofort an die Schweizer Behörden auszuliefern und dafür zu sorgen, dass die Affäre nicht noch weiter in den Medien breit- 5 Brief DW-Intendant Wesemann an BPA-Leiter von Eckardt, 20.7.1961, BArch B 187/14. 6 Erich Schmidt-Eenboom: Undercover – Der BND und die deutschen Journalisten. Köln 1998, S. 306-307. 7 Sein eigentlicher Name war Berthold Jacob Salomon. Als Jude und entschiedener Kritiker der illegalen Aufrüstung in der Weimarer Republik musste Jacob 1933 direkt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten außer Landes flüchten. Er verfasste aus Frankreich und aus der Schweiz wohl informierte Artikel über die deutsche Aufrüstung und wurde so zu einem der von den Nationalsozialisten meist gehassten und gesuchten Emigranten, vgl. Günther Deschner: Reinhard Heydrich. Statthalter der totalen Macht. München 1977 (Deschner 1977), S. 140 ff. Hagedorn: Der doppelte Wesemann 25 getreten würde.8 So kam Jacob im September 1935 zunächst wieder in die Schweiz. Wegen seines fehlenden Passes wurde er jedoch kurzerhand nach Frankreich ausge- wiesen, wo er 1939 festgenommen und interniert wurde. Auf der Flucht wurde Jacob 1941 von Portugal aus erneut von der Gestapo nach Deutschland verschleppt. Er starb 1944 an den Folgen seiner Internierung. Diese Zusammenfassung der Affäre Jacob basiert auf einer Reihe von teils sehr umfas- senden wissenschaftlichen Publikationen zu dem Fall. In all diesen Werken wird jedoch eindeutig „Hans“ und nicht „Hans Otto“ Wesemann als Entführer genannt. Der ältes- te ausführlichere Bericht über die Entführung von Berthold Jacob wurde unmittelbar nach der Entführung publiziert: In dem Buch „Das braune Netz. Wie Hitlers Agenten im Auslande arbeiten und den Krieg vorbereiten“ werden im Anhang die Affäre detailliert geschildert sowie Einzelheiten aus der Vita von Hans Wesemann ab 1926 nacherzählt.9 Die Entführung Jacobs und Wesemanns anschließende Verhaftung werden sehr aus- führlich beschrieben, mit dem Hinweis, dass dieser Fall „von allen Menschenraubfällen, die von der Gestapo im Ausland vollbracht worden sind, (…) n der öffentlichen Meinung der Welt das größte Aufsehen erregt, die breiteste Empörung“ hervorgerufen habe.10 Die Entführung ist in „Das braune Netz“ außerordentlich gut dokumentiert. Ausschnitte aus dem Vernehmungsprotokoll durch die Basler Staatsanwaltschaft, Kartenmaterial und Fotos von Hans Wesemann sowie der Gaststätte „Zum schiefen Eck“ bis hin zum Kennzeichen des Autos sind dem Bericht beigefügt. Als Komplizen von Hans Wese- mann werden Dr. Walter Richter, Hans Joachim Manz und Gustav Krause von der Ge- stapo benannt und deren Steckbriefe, die im Schweizer Polizeianzeiger am 25. März erschienen waren, abgedruckt.11 Seit dieser Publikation, die noch 1935 in der zweiten und dritten Auflage und ein Jahr später auf Französisch erschien, war der Fall Hans Wesemann hinreichend bekannt. Hinzu kamen noch zahlreiche Zeitungsartikel, die sich damit befasst haben.12 Die bislang ausführlichste Studie zum Fall Jacob legte 1972 der Schweizer Autor Jost Nikolaus Willi vor, der in einer über 400 Seiten langen Darstellung die Vorgeschichte, die Entführung selber sowie ihre Auswirkungen detailliert beschreibt.13 Willi stützt sich 8 Der Fall Jacob kam bei den Nürnberger Prozessen bei der Vernehmung von AA Legationsrat Freiherr von Bülow- Schwandte, Leiter des „Referat Deutschland“, das für die Judenpolitik zuständig war, zur Sprache. Dieser bestätigte, dass Hitler persönlich die Anordnung gegeben habe, Jacob an die Schweiz auszuliefern, beharrt aber darauf, dass das AA nicht involviert gewesen sei, auch wenn Schriftstücke bezüglich Wesemann und der Entführung Jacobs seine Unterschrift tragen, siehe Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll, Deutsches Zentralarchiv Nürnberger Prozesse Fall XI vom 24.6.1948, BStU, MfS, HA XX, 4989. 9 Das Buch wurde in Paris von den Editions du Carrefour veröffentlicht, einem von Willi Münzenberg gegründeten Verlag, der für viele der exilierten Schriftsteller und der illegalen Opposition im Deutschen Reich zum wichtigsten Verlag wurde. Der Autor oder die Autoren werden aus verständlichen Gründen nicht genannt, ebenso wenig wie die Herkunft der Informationen. Das Vorwort stammt von Lord Listowel, vermutlich dem 1906 geborenen Labour-Politiker William Francis Hare, 5. Earl of Listowel, Mitglied des House of Lords seit 1931. Dessen Vorwort ist vom 30. Juli 1935 datiert, also nur wenige Wochen nach der Entführung geschrieben (Listowel 1935). Ein Jahr später erschien das Buch in einer französischen Übersetzung von Henri Thies mit einem Vorwort von Berthold Jacob unter dem Titel „Le filet brun“ aber ohne Fotos. 10 Listowel 1935, S. 333. 11 Listowel 1935, Annex, ohne Seitenzahlen. 12 Im Jahr 1936 erschien auch ein Bericht des Schweizers René Sonderegger über die Auslandstätigkeit der Gestapo, in dem er ebenfalls den Fall Jacob ausführlicher behandelt. 1969 wurde die Entführung von Kurt Grossmann in seinem Werk über die deutsche Emigration während der NS-Zeit erneut aufgegriffen. 13 Jost Nikolaus Willi: Der Fall Jacob-Wesemann (1935/1936). Ein Beitrag zur Geschichte der Schweiz in der Zwischenkriegszeit. Bern 1972. 26 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 dabei auf zahlreiche von ihm gut dokumentierte Quellen. Er erhielt Zugang zu bis dahin gesperrten Akten in Schweizer Behörden und konnte darüber hinaus noch Augenzeu- gen, Zeitgenossen, Freunde und Bekannte Berthold Jacobs befragen. Berthold Jacob in der Redaktion der Zeitung „La République“ am Tag nach seiner Übergabe an die Schweizer Behörden. Aufnahmedatum: 18.09.1935, Straßburg (Quelle: bpk) Seit 2001 liegt auch eine ausführliche Biographie von Hans Wesemann vor. Das briti- sche Autorenehepaar James J. und Patience P. Barnes zeichnen dessen Lebenslauf detailliert mit zahlreichen Belegen nach.14 Sie geben auch erstmals Auskunft über den weiteren Lebenslauf von Hans Wesemann nach der Entführung von Berthold Jacob. Ihrer Darstellung zufolge endete dessen Biographie fast ebenso filmreif wie sie begon- nen hatte: Hans Wesemann setzte sich nach seiner Haftentlassung aus der Schweiz nach Venezuela ab. Doch auch den venezolanischen Behörden wurde Wesemann zu- nehmend lästig. Er wurde unter einem fadenscheinigen Vorwand festgenommen und nur nach seiner Zusicherung, das Land zu verlassen, wieder auf freien Fuß gesetzt. Wesemann und seine venezolanische Frau Carmen schifften sich daher im Juli 1940 in Richtung Nicaragua ein. Doch nachdem Wesemann durch Aufsehen erregende Ver- öffentlichungen – eine davon von Otto Strasser – als Gestapo-Agent benannt worden war, geriet er auch in den Fokus der nicaraguanischen Behörden und nach dem Kriegs- angriff auf Pearl Habor ins Visier der USA. Im Herbst 1941 wurde Hans Wesemann festgenommen, an die USA ausgeliefert und dort interniert. Fünf Jahre später bot ihm die US-Regierung die Freiheit unter der Bedingung an, dass er nach Deutschland aus- gewiesen werden würde. Wesemann fürchtete jedoch die Konsequenzen wegen seiner Gestapo-Mitarbeit. Er engagierte einen versierten Juristen, der eine Auslieferung ver- 14 James Barnes und Patience P. Barnes: Nazi Refugee Turned Gestapo Spy. Westport Connecticut 2001 (Barnes und Barnes 2001). Hagedorn: Der doppelte Wesemann 27 hindern konnte. Wesemann wurde schließlich im Juni 1948 von den US-Behörden frei- gelassen. Danach verliert sich seine Spur. Barnes und Barnes vermuten, dass er nach Caracas zurückging und dort als Lehrer tätig war. Jedenfalls starb Hans Wesemann dort am 23. Oktober 1971, wie seine Sterbeurkunde belegt.15 Die Geschichte der Entführung von Berthold Jacob ebenso wie der Lebenslauf seines Entführers Hans Wesemann sind also hinlänglich bekannt. Das Leben von Hans Otto Wesemann ist bislang noch nicht wissenschaftlich erforscht worden. Angaben zu sei- ner Person finden sich zum einen in dessen Personalakte im DW-Archiv ebenso sowie in dessen Promotionsakte im Archiv der Universität Halle. Aus diesen Angaben geht eindeutig hervor, dass es sich bei Hans Wesemann und Hans Otto Wesemann um zwei verschiedene Personen handelt. Hans Wesemann erblickte am 27. Februar 1895 in Nienburg an der Weser das Licht der Welt und wurde katholisch getauft. Er studierte und promovierte im Fach Germanistik an der Freiburger Universität. Er arbeitete zunächst als Redakteur für das SPD-Organ „Vorwärts“. Danach war er für zwei Jahre Korrespondent des sozialistischen Presse- dienstes in Genf. Seine Frauengeschichten machten Wesemann aber bald in den Augen der Genossen verdächtig, und er wurde 1928 von seinem Posten nach Deutschland zurückbeordert. Ein fiktives Interview mit Adolf Hitler in der „Welt am Montag“ bereitete seiner kurzen journalistischen Karriere im Reich ein Ende: Hans Wesemann setzte sich 1930 nach Argentinien ab. Doch auch von dort musste er nach diversen Affären wieder fliehen und kam 1932 nach London. Dort wurde er 1934 von der Gestapo angeworben und erhielt wenig später den Auftrag zur Entführung von Berthold Jacob. Hans Otto Wesemann wurde am 16. Februar 1903 in Frankfurt am Main geboren und war evangelisch. Er studierte von 1921 bis 1925 Rechts- und Wirtschaftswissenschaf- ten an den Universitäten München, Berlin und Halle, wo er auch promoviert wurde.16 Seine journalistische Karriere begann 1926 als Redakteur des „Wirtschaftsdienst“, spä- ter zog es ihn in die Automobilindustrie: Er wurde 1936 Direktor des Reichs-Kraftwagen- Verbandes Berlin. Daneben war er zunächst für die „Frankfurter Zeitung“ und ab 1940 für das Wirtschaftsressort der NS-Propaganda-Zeitung „Das Reich“ tätig.17 Diese von Mai 1940 bis April 1945 erscheinende nationalsozialistische Wochenzeitung sollte nach dem Worten von Max Amann, dem Reichsleiter für die Presse der NSDAP und Präsi- denten der Reichspressekammer, „die führende große politische Wochenzeitung sein, die das Deutsche Reich für In- und Ausland gleich wirksam eindringlich publizistisch repräsentiert.“18 Das Schreiben von Leitartikeln hatte sich Propagandaminister Goeb- bels vorbehalten, doch die übrigen Mitarbeiter waren vorwiegend Mitglieder der kultu- 15 Sterbeurkunde von Hans Wesemann, Sterberegister Gemeinde von Santa Rosalia, Caracas. Beglaubigt durch den Direktor der Friedhöfe in Caracas, Barnes und Barnes 2001, S. 176. 16 Vgl. Personalakte Hans Otto Wesemann, DW-Archiv sowie die Promotionsakte Hans Otto Wesemann, Nr. 659, 31.1.1929, Universitätsarchiv Halle, Rep. 23 P Nr. 659. Sowie der beigefügte kurze Lebenslauf und der Matrikelschein von Hans Otto Wesemann Nr. 618/23. 17 Peter Köpf: Schreiben nach jeder Richtung. Goebbels-Propagandisten in der westdeutschen Nachkriegspresse. Berlin 1995 (Köpf 1995), S. 48. 18 Rainer Rohrbach (Hrsg.): Bis zum letzten Atemzuge. Propaganda in der NS-Zeit. Texte und Materialien zur Ausstellung des Museumsverbundes Südniedersachsen. Göttingen 1995, S. 74. Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 28 rellen und wissenschaftlichen deutschen Elite.19 Der Erfolg von „Das Reich“ war sicher- lich der Tatsache geschuldet, dass die Zeitung nicht mit platter Propaganda operierte, sondern eher versuchte, mit subtileren Angriffen auf feindliche Gruppen oder Nationen einen stärkeren Einfluss auf das deutsche Bildungsbürgertum zu nehmen. Auch Hans Otto Wesemann schrieb keine offen antisemitischen oder hetzerischen Artikel. In seinen Beiträgen für den Wirtschaftsteil mokierte er sich etwa über die „verkitschte Massen- seele“ der Amerikaner20 und stellte deutsche Tugenden der amerikanischen Dekadenz entgegen, indem er hervorhob, dass Kriegsinserate, die für sparsamen Verbrauch in Kriegszeiten warben, versuchen würden, „wirtschaftliche Einsicht und nationale Diszip- lin in Köpfe zu pflanzen, die dafür längst verdorben sind.“21 Dass er für „Das Reich“ tätig gewesen war, hatte Hans Otto Wesemann im Fragebogen der Personalabteilung der DW selber angegeben, allerdings bezeichnete er seine Funk- tion dort nicht als eine leitende in der Wirtschaftsredaktion, sondern als „Mitarbeit“.22 Bis Mai 1945 war Hans Otto Wesemann Soldat (Kraftwagenfahrer). Zwischen Septem- ber 1945 und März 1946 war er Berater der „Transport-Division des Office of Military Government“ (OMGUS) in Berlin. 1946 wechselte er wie mehrere ehemalige Mitarbei- ter der Zeitschrift „Das Reich“ zum Berliner „Kurier“, einer von der französischen Be- satzungsmacht im Jahre 1945 lizenzierten Tageszeitung mit liberalem Einschlag und wurde dort stellvertretender Chefredakteur.23 Im Januar 1949 wurde er als Redakteur der Abteilung Politik und ab Juli 1949 als Redakteur für Wirtschaftsfragen beim NWDR angestellt. Nach seiner Tätigkeit als DW-Intendant wurde Hans Otto Wesemann Vor- standsvorsitzender der Stiftung Warentest.24 Koch wie Schmidt-Eenboom haben also die Lebensläufe von Hans Wesemann und Hans Otto Wesemann einfach miteinander verquickt, die sich daraus ergebenden Wi- dersprüche haben beide Autoren ebenso konsequent ignoriert wie den neuesten For- schungsstand zu diesem Fall. Schmidt-Eenbooms Darstellung der Entführungsge- schichte beschränkt sich auf zwei Seiten. Als Quelle für seine These gibt er lediglich an einer Stelle Günther Deschners Biografie von Reinhard Heydrich an.25. Deschner schildert darin ebenfalls die Entführung Berhold Jacobs, allerdings auch durch Dr. Hans Wesemann.26 Erich Schmidt-Eenboom ist so nah an seiner Quelle geblieben, dass er ebenso an einer Stelle von „Dr. Hans Wesemann“ und nicht von Hans Otto Wesemann spricht. Aber selbst dieser „Tippfehler“ hat bei ihm nicht dazu geführt, seine These zu überdenken und die Widersprüche zu erklären, die sich aus der Verblendung von Hans und Hans Otto Wesemann ergeben. Die ausführlichen Schilderungen der Entführung 19 Im umfangreichen Kulturteil schrieben u.a. Will Grohmann, Hans Havemann, Theodor Heuss, Werner Höfer, Karl Korn, der zeitweise Chef des Feuilletons war, Wilhelm Emanuel Süskind, Wolfgang Weyrauch. Den Bereich Wissenschaft und Bildung deckten u.a. Max Planck, Max Bense, Eduard Spranger und Benno von Wiese ab. Das Ressort Innenpolitik leitete der spätere Mitbegründer des Allensbacher Institutes für Demoskopie Erich Peter Neumann, bis er 1941 als Kriegsberichterstatter für „Das Reich“ vor allem im Osten eingesetzt wurde. 20 Hans Otto Wesemann: Verkitschte Massenseele. Kriegsinserate der Amerikaner. „Das Reich“. 13.8.1944, S. 5-6. 21 Ebd. 22 Vgl. Personalakte Wesemann, DW-Archiv. 23 Zu den beim „Kurier“ tätigen ehemaligen Mitarbeitern von „Das Reich“ siehe Köpf 1995, S. 48 ff. 24 Vgl. Biographie Hans Otto Wesemann, Kabinettprotokolle. Online unter: www.bundesarchiv.de/cocoon/ barch/0000/z/z1961z/kap1_10/para2_62.html (zuletzt abgerufen am 28.08.2012). 25 Deschner 1977, S. 140ff. Deschner wiederum beruft sich bei seinen Angaben auf Kurt Grossmanns Schilderung der Entführungsgeschichte Jacobs. 26 Deschner 1977, S. 142. Hagedorn: Der doppelte Wesemann 29 von Sonderegger und Willi mit den entsprechenden Angaben zur Vita von Hans We- semann, die so gar nicht zu der von Hans Otto Wesemann passen, ignoriert Schmidt- Eenboom. Hans Otto Wesemann (DW Archiv) Hans Wesemann Auch Peter Ferdinand Koch hält sich zunächst an den Lebenslauf von Hans Wesemann, den er relativ ausführlich bis zu dessen Verurteilung wegen der Entführung Jacobs im Jahr 1936 schildert. Koch stützt sich dabei im Wesentlichen auf zwei Quellen: zum einen auf Sondereggers detaillierte Schilderung der Aktivitäten des „Kopfjägers We- semann“ aus dem Jahr 1936 sowie auf die Beschreibung des Falls Wesemann durch Kurt Grossmann aus dem Jahr 1969. Koch gibt an, dass es auch Ermittlungsakten zum Fall Salomon/Wesemann aus dem Jahr 1935 im Bundesarchiv in Bern gäbe, behauptet jedoch, dass diese gesperrt seien, obwohl zahlreiche Forscher vor ihm Zugang dazu hatten.27 Die ausführliche Biographie von Hans Wesemann aus dem Jahr 2001 nutzt er interessanterweise nicht. Dass eklatante Unterschiede zum tatsächlichen Lebenslauf von Hans Otto Wesemann bestehen, ist ihm aber offenbar klargeworden. Doch er tut diese einfach als bewusstes Täuschungsmanöver Wesemanns ab und spricht von einer „geschönten Vita“.28 Um Hans Wesemanns Lebenslauf mit dem von Hans Otto Wesemann verschmelzen zu können, hat Koch einen durchaus kreativen Übergang gestaltet: Kochs Angaben zufolge hat Hans Otto Wesemann die Haftstrafe in der Schweiz nicht absitzen müssen, sondern sei „wegen guter Führung“ nach Venezuela abgeschoben worden. Von dort sei er dann nach Deutschland zurückgekehrt, als „ein brauner Leuchtturm, der nun gestählt in ‚sein‘ Drittes Reich heimkehrte“.29 Für diese Angaben fehlt verständlicherweise jeder Beleg. Nach seiner Rückkehr habe Wesemann sich dann zu einem „nationalsozialis- 27 Koch 2011, Anm. 6, S. 435. 28 Ebd., S. 197. 29 Koch 2011, S. 106. 30 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 tischen Wirtschaftsführer berufen“ gefühlt und für den Wirtschaftsteil der Goebbels- Zeitung „Das Reich“ geschrieben.30 Koch ignoriert nicht nur die neuesten Publikationen zu Hans Wesemann bzw. der Entführung von Berthold Jacob, er weicht an einigen Stellen sogar deutlich von der Forschungslage ab, bzw. fügt pikante Details ein, über deren Quellen er sich aus- schweigt.31 So berichtet er etwa über Wesemanns Flucht nach Argentinien, dieser habe sich in Buenos Aires von begüterten Witwen aushalten lassen, diese aber nach kur- zer Zeit verlassen: „Erst nahm er ihr Geld, dann räumte er ihre Schlafzimmer. Die Fol- ge: neun Haftbefehle.“32 Nach Kochs Angaben soll Hans Otto Wesemann auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland engen Kontakt zu SS-Größen gepflegt haben. Er und sein Freund John Brech, ehemals Chefredakteur des „Wirtschaftsdienst“ und seit 1939 Ressort-Chef der Wirtschaftsabteilung des Goebbels-Zeitung „Das Reich“ seien von der NS-Elite „hofiert“ worden. Beide hätten in ihren angrenzenden Wohnungen in Berlin-Wannsee für hohe SS-Ränge „eingedeckt“.33 Auch für diese Angaben führt Koch keinen Beleg an. Dass Wesemann John Brech kannte und vermutlich auch recht engen Kontakt zu diesem pflegte, liegt angesichts der Tatsache, dass beide bei der Zeitung „Das Reich“ im selben Ressort tätig waren, auf der Hand. Jedoch gibt es keinen Nach- weis für eine besondere Nähe zum NS-Regime: Über Hans Otto Wesemann gibt es kei- ne Angaben in der NSDAP-Mitgliedskartei des Document Center in Berlin. Er war nach eigenen Angaben lediglich Mitglied des Reichsverbandes der Deutschen Presse (1938 bis 1945) und der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) sowie im Reichsluftschutzbund (1940 bis 1944). Dass Hans Otto Wesemann keine besonders große Nähe zum NS-Regime gepflegt hat, zeigt sich auch daran, dass die Alliierten keine Einwände erhoben, als dieser beim NWDR angestellt werden sollte. Der Sender hatte sich wie in diesen Fällen üblich be- züglich einer eventuellen Belastung Wesemanns durch eine Anfrage an die „Broadcas- ting Laison Branch Cologne“ rückversichert. In einem Schreiben vom 19. Januar 1949 wurde von dieser bestätigt, dass es keine Einwände gegen eine Beschäftigung von Hans Otto Wesemann gab.34 Doch Peter-Ferdinand Koch geht noch weiter: Er bezichtigt den ehemaligen DW-Inten- danten, nicht nur ein Gestapo-Spion, Intimus von SS-Führungsoffizieren und Entführer Berthold Jacobs gewesen zu sein, sondern auch Agent des sowjetischen Militärge- heimdienstes GRU. 1948 sei Wesemann durch den kommunistischen Aktivisten Ju- lius Klepper angelockt und zu einem Treffen mit dem GRU-Führungsoffiziers Oberst Gennadij A. Borisow gebracht worden. Dieser soll Wesemann dann mit dessen Gesta- po-Vergangenheit konfrontiert und damit zu einer Mitarbeit mit dem sowjetischen Ge- heimdienst GRU erpresst haben: „Wenn er, Wesemann, eine Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Geheimdienst ablehne, werde das Material veröffentlicht.“35 30 Ebd. 31 Unterschiede gibt es unter anderem bezüglich der Anwerbung Wesemanns durch die Gestapo: Vgl. als geheim gekennzeichneten Brief von Bismarck vom 28.6.1934. Zitiert bei Grossmann 1969, S. 84 ohne Quellennachweis. 32 Koch 2011, S. 103. 33 Ebd., S. 107. 34 Vgl. Fragebogen „Broadcasting Liaison Branch Cologne“, 19.1.1949, Personalakte Wesemann, DW. 35 Koch 2011, S. 109. Hagedorn: Der doppelte Wesemann 31 Wesemann habe daraufhin die ihm diktierte Verpflichtungserklärung unterschrieben und in Erinnerung an die Entführung von Salomon Jacob, den Decknamen „Salomon“ erhalten. Damit sei Hans Otto Wesemann wieder „Handlanger“ gewesen, jetzt nicht mehr der Gestapo, sondern einer der GRU, so Koch.36 Er beruft sich dabei auf einen Be- richt von Borisow, ohne allerdings die Herkunft dieser Quelle anzugeben. Die Annahme, Hans Otto Wesemann sei dazu unter Androhung der Veröffentlichung seiner Gestapo- Mitarbeit gezwungen worden sein, ergibt jedoch wenig Sinn, da, wie bereits dargelegt, Hans Otto Wesemann nicht dieser Entführer war. Dem im Jahr 1976 verstorbenen Hans Otto Wesemann bleibt die öffentliche Verun- glimpfung seines Namens erspart, nicht jedoch seinen Angehörigen. Für alle anderen bleibt der unangenehme Nachgeschmack unsauberer journalistischer Arbeit von „Ent- hüllungsjournalisten“, die das unlautere Verhalten anderer aufdecken wollen, sich dabei aber selbst teilweise fragwürdiger Methoden bedienen. Anke Hagedorn schreibt derzeit ihre Dissertation über den deutschen Auslandsrund- funk Deutsche Welle (DW). Im Mittelpunkt der Untersuchung, die zum 60. Jubiläum des Senders 2013 erscheinen soll, steht die Entstehung und Entwicklung der DW im politischen Kontext. Diese spiegeln die innenpolitischen Konflikte in Deutschland wie auch die außenpolitische Entwicklung, und so ist die Geschichte der Deutschen Welle gleichsam ein Spiegel der Entstehung und Entwicklung der Bundesrepublik: Der Sen- der ist zum einen das Produkt eines Machtkampfes um die Rundfunkhoheit zwischen der Bundesregierung und den Landesrundfunkanstalten, die jahrelang heftig um die Aufgabe und Struktur des Senders debattierten. Zum anderen ist die DW eindeutig ein Kind des Kalten Krieges. Sie ist in einer Phase massiver Abgrenzungsbemühungen der jungen BRD gegenüber der DDR und dem übrigen Ostblock entstanden und hat ihre Rolle dementsprechend definiert. Das Ende des Kalten Krieges brachte auch die Not- wendigkeit einer inhaltlichen Neuorientierung der DW mit sich. Diese Entwicklung ist bis heute noch nicht abgeschlossen: Der Sender befindet sich gerade in einem umfassen- den Reformprozess, der vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Debatte über die Existenzberechtigung und die Rolle eines deutschen Auslandsfunks stattfindet. 36 Ebd. 32 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Carsten Heinze und Bernd Schoch Musikfilme im dokumentarischen Format Zur Geschichte und Theorie eines Subgenres des Dokumentarfilms Einleitung Ein Blick in die Auslagen großer Elektronikfachgeschäfte zeigt, dass der Markt für Mu- sikfilme und insbesondere für Musikdokumentarfilme als ein spezielles Genre des Mu- sikfilms exponentiell wächst.1 Mittlerweile gibt es in elektronischen Megastores ganze Abteilungen, die riesige Auslagen allein für dieses Filmgenre bereit halten. Darüber hin- aus existieren Produktionsfirmen und Vertriebe, die sich vor allem auf Musikfilme spe- zialisiert haben (so das amerikanische Independent-Label Plexifilm.Digital.Music.Film).2 Dabei haben Musikdokumentarfilme, die aus dem Bereich Rock/Pop kommen, einen großen Anteil an diesem Zweig, jedoch finden sich auch im Bereich der E-Kultur immer mehr dokumentarische Opern-/Ballett- oder andere klassische Konzertfilme. Die Über- tragung von Live-Konzerten der E- und U-Kultur im Fernsehen ist ein fester Bestandteil verschiedener TV-Programme. Auch synchrone Liveübertragungen großer Opernveran- staltungen in regionalen Kinos rund um den Globus sind heutzutage keine Seltenheit. Beinahe jede/r Sänger/in, Band oder Musikszene besitzt mittlerweile einen eigenen Mu- sikdokumentarfilm, mit dem die Rezipient/innen Informationen und Aufklärung über Mu- sik, persönliche Einstellungen, Hintergründe o. ä. erhalten. Die Möglichkeit, sich selbst „ins Bild zu setzen“, ist sicherlich auch der Verbilligung technischen Equipments im Zeitalter digitaler Filmaufnahmen geschuldet. Von der Handycam bis zur handlichen Vi- deokamera reichen die technischen Möglichkeiten zur relativ einfachen Herstellung mu- sikdokumentarischer Bilder. Musikdokumentarfilme werden somit nicht zwangsläufig an ein größeres Filmpublikum adressiert, sondern finden sich oftmals auch als Zusatz- DVD in Luxusausgaben von CD-Veröffentlichungen für einen überschaubaren Fanzirkel. Im Zeitalter der Handycam gelingt es auch kleineren und unbekannteren Künstlern rela- tiv problemlos, kostengünstige Filmaufnahmen von und über sich herzustellen. Ebenso gibt es auf Seiten der Fans unzählige mit der Handycam aufgenommene Konzertfrag- mente, die auf Plattformen wie YouTube zu sehen sind. Hier hat sich innerhalb kürzester Zeit ein unüberschaubares Archiv musikdokumentarischer Aufnahmen entwickelt. Grö- ßere und bekanntere Sänger/innen oder Bands verfügen mittlerweile nicht nur über eine Musikdokumentation, sondern haben eine Vielzahl von Konzertmitschnitten, biographi- schen oder thematisch anders gelagerten Filmen in ihren Verkaufsfächern stehen oder auf ihren Online-Seiten verfügbar. Musikfilme, Filme über Musik oder Musikfilme mit überwiegend dokumentarischen Filmbildern kommen so in unzähligen Varianten vor. Musikfilme, zu denen Musikdokumentarfilme gerechnet werden können, sind im All- gemeinen ein Filmgenre, das aufgrund seiner unterschiedlichen Formen und Inhalte schwer zu fassen ist.3 Obwohl auf auditiver Ebene die Klangästhetik der Musik als 1 An der Universität Kiel wird zurzeit im Bereich der Kieler Gesellschaft für Filmmusikforschung an einer Online- Enzyklopädie zu Rockumentaries gearbeitet, deren Umfang ständig wächst (online unter: http://www.filmmusik. uni-kiel.de/index.php, zuletzt abgerufen am 7.6.2011). Als Online-Zeitschrift stellt „Rock and Pop in the Movies“ Musik(dokumentar)filme in den Mittelpunkt des Interesses. 2 Online unter: www.plexifilm.com (zuletzt abgerufen am 7.6.2011). 3 Vgl. Georg Maas und Georg Schudack: Der Musikfilm. Ein Handbuch für die pädagogische Praxis. Mainz u.a. 2008 (Maas und Schudack 2008), S. 12. Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 33 gegenstandsloses, sinnliches Erfahrungsmedium im weitesten Sinne den zentralen Ge- genstand von Musikfilmen bildet und damit sämtliche Darstellungsformen inhaltlich wie formalästhetisch verbindet, kann diese auf vielfältige Weise präsentiert werden. Visuali- siertes Musiktheater (Opernfilme), Filmmusicals, Konzertfilme, Tourneefilme, Bandfilme, Doku-Soaps und Castingshows, Rockfilme, Mockumentarys, biographische Filme, Mu- siker in Spiel- und Dokumentarfilmen sowie Videoclips verweisen nur auf die wichtigsten Inszenierungen von Musik mit dokumentarischem Charakter im Film. Damit reicht die thematische Spannbreite von dokumentarischen Live-Aufnahmen, ethnographischen und historiographischen Untersuchungen von Jugend- und Musikkulturen über künst- lerisch-ästhetisch verdichtete Videos bis hin zu fiktiven Erzählungen, in denen Musik einen zentralen Stellenwert einnimmt. Oftmals treffen fiktionale wie dokumentarische Filmbilder in ein und demselben Artefakt aufeinander. Wie also können Musikdoku- mentarfilme von Musikfilmen sinnvoll unterschieden und weiter differenziert werden? Welche Unterschiede lassen sich im Bereich des Musikdokumentarfilms innerhalb ver- schiedener Sub-Genres ausmachen? Was ist überhaupt ein musikdokumentarisches Filmbild, was zeichnet es aus? Und schließlich: Welche Rolle spielt Musik a) als Gegen- stand der Darstellung und b) als assoziativer Soundtrack in Musikdokumentarfilmen? Eine erste Differenzierung verschiedener Darstellungsformen von Musik im Film kann entlang der Gattungsgrenzen Spiel- und Dokumentarfilm geleistet werden.4 Dieser Auffassung wollen die Autoren folgen. Interessanterweise haben sich viele namhafte Spielfilm- oder Dokumentarfilmregisseure wie Martin Scorsese, Clint Eastwood, Jim Jarmusch, Wim Wenders, Klaus Wildenhahn, Richard Leacock u.a. innerhalb ihrer Pro- duzentenkarrieren zwischenzeitlich dem Genre des Musik(dokumentar)films gewidmet. Offenbar übt dies einen besonderen Reiz aus. Während der Spielfilm vor allem fiktiv arbeitet und narrative Muster verwendet, Schauspieler einsetzt und mit den Fakten frei umgeht, ist der Dokumentarfilm an einer nicht- bzw. vorfilmisch zu beobachtenden oder zu rekonstruierenden Realität orientiert, die die Inhalte des Films referentiell außerhalb desselben verortet. Auf der anderen Seite sind es die Sehgewohnheiten und das Vor- wissen der Zuschauer/innen, die Musikdokumentarfilme erst als solche signifizieren, was durch die dokumentarfilmischen Paratexte wie Titel, Genrebezeichnung, Ankündi- gungen und Besprechungen kommunikativ zusätzlich unterstützt wird. Musikdokumen- tarfilme eröffnen einen anderen Zugang zum Gegenstand Musik als fiktive Spielfilme: „Dokumentationen bieten sich als Format daher in besonderer Weise an, den vielen verschiedenen Funktionen und Aggregatzuständen von Musik ein Gesicht zu geben, die Menschen dahinter zu zeigen und die Geschichten vorzustellen, die sich in diesen Zusammenhängen verbergen.“5 Die sozialkommunikativen Funktionen beider Filmgat- tungen unterscheiden sich grundsätzlich vor allem hinsichtlich ihres Mitteilungs- und In- formationscharakters: Der Spielfilm wird dabei traditionell eher der Unterhaltung zuge- ordnet, der Dokumentarfilm dagegen verspricht sachliche Aufklärung und Information. So stehen sich offenbar fantasievolle Imagination und nüchterne Betrachtung diametral gegenüber. Allerdings werden gerade bei einem Gegenstand wie Musik diese Grenzen durchbrochen, das Fiktionale wird dokumentarisch wie auch das Dokumentarische fik- tional wird. Beide Filmgattungen sprechen den Zuschauer zwar unterschiedlich an und 4 Vgl. Michael Custodis: Die Musikdokumentation. Typologische Bemerkungen (Custodis 2010). In: Peter Moormann (Hrsg.): Musik im Fernsehen. Sendeformen und Gestaltungsprinzipien. Wiesbaden 2010 (Moormann 2010), S. 67-82. 5 Ebd., S. 68. 34 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 verlangen von den Rezipient/innen differenzierte Wahrnehmungshaltungen, jedoch ist die innerfilmische Struktur oftmals von Uneindeutigkeiten geprägt. Die Grenzen zwi- schen Musikfilm und Musikdokumentarfilm sind fließend. Inwieweit eine Differenzierung in dokumentarische und fiktive Darstellungsformen des Musikfilms dennoch sinnvoll ist, soll in den nächsten Abschnitten diskutiert und an- hand von gattungsspezifischen Differenzierungen musikdokumentarfilmischer Formate aufgezeigt werden. Auch wenn im Zeichen hybrider Formate Mischformen eher Regel als Ausnahme sind, auch wenn möglicherweise filmhistorisch die Grenzen niemals klar zu ziehen waren, gibt es doch einige Differenzen, die es genauer zu betrachten gilt. Ausgehend von der Beobachtung, dass auf Authentizität und Hintergrundinformatio- nen aufgebaute Musikdokumentationen in den letzten Jahren eine bevorzugte und weit verbreitete Form der musikkulturellen Kommunikation geworden sind, möchten wir vor diesem Hintergrund den Begriff Musikdokumentarfilm näher beleuchten und fundieren. 1. Musikfilm und Musikdokumentarfilm: Theoretische Abgrenzungsversuche Spricht man von Musikfilmen als Oberbegriff, so umfasst dieser sämtliche Filmformen, in denen Musik eine zentrale Rolle spielt. Musikfilme kommen in fiktionalen und doku- mentarischen Formaten vor, sie reichen von biographischen Filmen über Opern-, Mu- sical- und Rockfilme bis hin zu Videoclips.6 Ist diese breit gefasste Definition schon unscharf genug, verwirren sich die musikfilmischen Genregrenzen noch weiter, bezieht man die ersten jugendlichen Rock‘n’Roll-Filme in die Bezeichnung Musikfilm mit ein. Jugend- als vorwiegend auf Musik beruhende Kulturen rücken dann in einen erwei- terten medialen Zusammenhang. So wären frühe sozialkritische Jugendfilme wie „Der Wilde“ (1953) mit Marlon Brando, „Die Saat der Gewalt“ (1955) mit dem Bill-Haley-Hit „Rock around the clock“ (1954) sowie „…denn sie wissen nicht, was sie tun“ (1955) mit James Dean ebenfalls diesem Genre zuzurechnen, ohne dass Musik hier eine hervor- gehobene Rolle spielte. Diese und andere frühe Musikfilme, weitgehend ohne Musik auskommend, zeigten eine rebellische Jugend, deren Protagonisten schnell in Habitus und Lebensstil einen globalen Vorbildcharakter annahmen.7 In den 1950er Jahren ent- standen so eine Reihe von Jugendfilmen, die weniger über die Musik, als vielmehr über ein gemeinsam geteiltes Lebensgefühl zu großen Erfolgen wurden. Frühe Musikfilme dieser Art stehen damit in einem engen Zusammenhang mit der Herausbildung von Jugendkulturen und trugen zu deren weltweiter Popularität bei. Dies hat sich bis heute nicht geändert. Musik im Film spielt dabei nur eine periphere Rolle, ist nicht zentraler Gegenstand des Films, sondern Ausdruck eines Lebensgefühls. Aber auch andere Filme ohne die Musik als zentralen Gegenstand werden unter dem Begriff Musikfilm diskutiert. So wird „Der Blaue Engel“ (1930) mit Marlene Dietrich so- wohl dem Genre Literaturverfilmung wie auch dem Musikfilm zugeordnet.8 Dietrich singt in dieser Verfilmung des Heinrich-Mann-Romans „Professor Unrat“ gerade einmal fünf Lieder, mit denen sie die Männer betört. Es bleibt eine offene Frage, ob schon al- lein deshalb dieser Film als Musikfilm zu bezeichnen wäre, oder aber ob man über die 6 Vgl. Maas und Schudack 2008. 7 Vgl. Jürgen Struck: Rock Around the Cinema. Spielfilme, Dokumentationen, Videoclips. Reinbek 1985 (Struck 1985), S. 9 ff. 8 Vgl. Maas und Schudack 2008, S. 15 f. Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 35 Bedeutung der Musik als dramaturgisches Element zu diskutieren hätte.9 Musik kann somit in verschiedener Weise thematisch werden: als Filmmusik oder aber als themati- scher Gegenstand. Definitionen Eine befriedigende Definition des Musikfilms allein über seinen Gegenstand Musik scheint angesichts dieser thematischen Vielfalt und Breite kaum erreichbar zu sein. Musik kann, muss aber nicht im Mittelpunkt des Musikfilms stehen und verdeutlicht so seine unscharfe und breite Verwendungsweise, überdies seine frühe Assoziation mit Jugendkulturen. Eine andere Möglichkeit, Musikfilme weiter sinnvoll zu systematisieren, legt die gattungsspezifische Differenzierung zwischen fiktiven und dokumentarischen Filmformaten nahe. Für eine derartige Unterscheidung sprechen die unterschiedlichen Bedingungen hinsichtlich der Produktion, des Films als Filmprodukt und der Rezeption beider Filmgattungen. Musikdokumentarfilme haben anders als in Musikfilmen Musik, Musiker, Bands, Konzerte oder ganze Musikkulturen zum Gegenstand. Diese Sujets sind auch vom Zuschauer als real existierend zu erkennen, was für den Musikfilm nur in- direkt gilt. Allerdings ist auch bei dieser Differenzierung zu bedenken, dass die Grenzen zwischen dokumentarischen und fiktiven Filmbildern fließend sind und in einem einzi- gen Film nicht selten beide Formen vorkommen, gerade dann, wenn Musikdokumen- tarfilme mit ästhetischen Gestaltungs- und Inszenierungsstrategien arbeiten, um ein Sinnbild für den Gegenstand Musik zu schaffen. Um Musikdokumentarfilme als eige- nes Genre des Musikfilms idealtypisch gegenüber diesem abgrenzen zu können, muss filmtheoretisch weiter ausgeholt werden und auf die Unterschiede zwischen Spiel- und Dokumentarfilm näher eingegangen werden. Dabei sollen nicht nur gattungsspezifische Unterschiede herausgearbeitet werden, sondern Musik im dokumentarischen Film als dramaturgische Form der Darstellung betrachtet werden. Nach Hickethier wird eine Darstellung zur Dokumentation, sobald sie ein „direktes Re- ferenzverhältnis zur vormedialen Wirklichkeit“ behauptet, und dies vom Zuschauer im Prozess der Rezeption so auch akzeptiert wird.10 Demgegenüber besteht im fiktiven Film kein zwingendes Referenzverhältnis zur Realität, die Geschichte ist in der Regel frei erfunden.11 Der Dokumentarfilm repräsentiert eine vorfilmische Realität, während der fiktive Spielfilm diese lediglich präsentiert – als etwas frei Erfundenes, jedoch im Prozess der Produktion vor der Kamera Stattgefundenes. Der Dokumentarfilm ist an- ders als der fiktive Spielfilm prinzipiell „wahrheitsfähig“.12 Zu unterscheiden ist dabei zwischen fiktiv und fiktional: Bei dem Begriff Fiktivität handelt es sich um frei erfundene Sinngebilde. Es sind damit bestimmte Existenzweisen von Gegenständen, Orten und Personen gemeint, die real nicht existieren; als Beispiel hierfür wären Sherlock Holmes, Don Quichotte oder das Land der Hobbits zu nennen. Im Zusammenhang des – mit dem Genre spielenden – Musikdokumentarfilms (mockumentary) wäre hier die nur für den Film entstandene Heavy Metal-Band „Spinal Tap“ zu nennen („This is Spinal Tap“, 1984). Jedoch kommen diese Gegenstände, Orte oder Personen in der Realität als 9 Vgl. ebd. 10 Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart 2007 (Hickethier 2007), S. 181. 11 Vgl. ebd. 12 Klaus Arriens: Wahrheit und Wirklichkeit im Film. Philosophie des Dokumentarfilms. Würzburg 1999 (Arriens 1999), S. 43 f. 36 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Fiktionen vor – und werden dadurch zu realen Gegenständen der gesellschaftlichen Kommunikation. Das Fiktionale hebt dagegen auf die gestalterischen Merkmale – die Darstellungsweise – ab; das auf diese oder jene Weise Dargestellte existiert real nicht, es ist aber auch nicht schlichtweg falsch.13 Das Fiktionale als gestaltetes Ergebnis ei- ner bestimmten Darstellungsweise ist so in seiner Art der Darstellung nicht existent, es kann jedoch durchaus reale Bezugskontexte aufweisen. So beruhen etwa musikfilmi- sche Biopics wie „Walk the Line“ (2005) über Johnny Cash oder „I’m Not There“ (2007) über Bob Dylan (in dem Dylan durch fünf verschiedene Darsteller/innen verkörpert wird) auf realen lebensgeschichtlichen Bezugskontexten, jedoch ist die dramaturgische Um- setzung und Inszenierung des Stoffes fiktional und hat sich nicht, wie der Dokumen- tarfilm, mit den Widerständen von Darstellungsproblemen und Zugangsschwierigkei- ten außerfilmischer Wirklichkeiten zu beschäftigen. Bezogen auf den Dokumentarfilm bedeutet diese Differenzierung: Sofern sich dieser als kunstlose oder rein beobachtete Wiedergabe von Realität versteht, kommen Fiktionalisierungen nicht vor bzw. sind per se ausgeschlossen; versteht sich aber der Dokumentarfilm als gestaltetes Produkt, so kann das Fiktionale durchaus Bestandteil der dokumentarischen Darstellungsweise sein.14 Im Kontext musikdokumentarischer Filme kommen beide Möglichkeiten vor: Als bloße ethnographische Beobachtungsfilme mit wenig gestalterischen Eingriffen und mit möglichst langen Filmsequenzen, wie etwa in „Thrash in Altenessen“ (1989), ein Musik- dokumentarfilm über die Essener Thrash Metal Band Kreator von Thomas Schadt oder aber „196 BPM“ (2003), ein Beobachtungsfilm über die Loveparade 2002 von Romuald Karmakar, der bei einer Länge von 60 Minuten mit nicht viel mehr als drei Schnitten auskommt; als inszenierte, visuell-rekonstruktiv arbeitende, komplex montierte Gestal- tung einer musikhistorischen Aufarbeitung von Bandgeschichten oder Musikszenen, wie etwa in „Joy Division“ (2007) von Grant Gee. Die Übergänge von reinen Beobachtungsfilmen zu gestalteten Dokumentarfilmen sind fließend. So ist „Slide Guitar Ride“ (2005) von Bernd Schoch ohne Zweifel ein Musik- dokumentarfilm über die schillernde Ein-Mann-Band Bob Log III aus Arizona; obwohl dieser Film weitgehend im Direct Cinema-Stil beobachtend arbeitet, werden einzelne Szenen, die so geschehen sind, über die jedoch kein Filmmaterial vorlag, durch Knet- animationen rekonstruiert. Beide Darstellungsformen sind also bloße Idealtypen und kommen in der Filmpraxis als reine Formen praktisch nicht vor, und doch nehmen wir als Zuschauer unterschiedliche Rezeptionshaltungen ein. Die intradiegetische, asso- ziative oder kontrapunktische Montage von Bild und Musik, mal sparsam dezent, mal exzessiv beschleunigt, ist immer eine Form der innerfilmischen Gestaltung. Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal von Dokumentarfilmen gegenüber Spielfilmen ist der Verzicht auf Schauspieler/innen: Die Protagonisten des Dokumentarfilms sind reale Personen, wohingegen der Spielfilm in der Regel auf Schauspieler und eine inszenierte Story setzt. Insofern wäre der biographische Film „Control“ (2007) von Anton Corbijn über die Gruppe Joy Division, insbesondere über das Schicksal ihres Sängers Ian Cur- tis, oder die genannten „Walk the Line“ und „I‘m Not There“ keine Dokumentarfilme, da sie mit Schauspielern arbeiten und einen narrativen Plot aufweisen – wenn dieser sich auch an den realen Begebenheiten orientiert.15 So sucht oder erkennt zwar der 13 Lutz Rühling: Fiktionalität und Poetizität. In: Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering (Hrsg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 2008, S. 25-51, hier: S. 29 ff. 14 Vgl. Arriens 1999, S. 37 ff. 15 „Control“ basiert vor allem auf der Auto-/Biographie von Deborah Curtis, 1996. Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 37 Zuschauer in den Schauspielern eine gewisse Ähnlichkeit in Aussehen und Habitus, er identifiziert bestimmte biographische und musikhistorische Kontexte, jedoch bleibt die Differenz durch das nachahmende Spiel des Schauspielers zur realen Person gewahrt. Das mimetische ,Als-Ob‘ erfährt seinen Höhepunkt, sobald das Spiel des Schauspielers an dessen eigene reale Identität rückangebunden wird, etwa: dass Schauspielerin X oder Schauspieler Y diese oder jenen MusikerIn ‚authentisch‘ verkörpere. Einen völlig anderen auratischen Eindruck erzeugt dagegen das ‚Original‘ als Identifikationsobjekt im Sinne eines ‚Das ist er/sie‘. Merkmale und Darstellungsformen des Dokumentarfilms Für Eva Hohenberger entsteht im Dokumentarfilm eine referentielle Vermittlungsproble- matik von Realität, die sie idealtypisch in fünf Ebenen unterteilt.16 Die „nichtfilmische Realität“ ist die Realität sui generis. Sie ist prinzipiell unendlich und nur über allgemei- ne Erkenntnistheorien systematisierbar. Die nichtfilmische Realität wird aber begrenzt durch normative Einschränkungen des Zeigbaren und Nichtzeigbaren zu einem gege- benen Zeitpunkt. Die „vorfilmische Realität“ ist die Realität vor der Kamera zum Zeit- punkt der Aufnahme (diese ist im Film selbst sichtbar oder wird über Kommentare und das Making-Of vermittelt). Sie gibt Auskunft über das Verhältnis zur nichtfilmischen Realität und ist das Ergebnis eines selektiven Auswahlprozesses eines Autors. Die „Re- alität des Films“ bezieht sich auf das Umfeld der dokumentarfilmischen Produktion. Dazu gehören die Organisation, die Finanzierung, Absichten und Arbeitsweise, Technik, Schnitt, Verleih, Werbung u.v.m. Sie bildet somit den Vollzugsrahmen eines Dokumen- tarfilmprojekts. Die „filmische Realität“ ist der Film als fertiggestelltes Produkt, wie er einem späteren Publikum vorgeführt wird. Sie stellt eine eigene und autonome Realität dar, die für den Zuschauer nicht hintergehbar ist. Die nichtfilmische, vorfilmische und die Realität des Films unterscheiden sich deutlich von ihr. Der Dokumentarfilm als fer- tiggestelltes Produkt führt im weiteren Verlauf ein Eigenleben, das sich zunehmend von seinen Produktionsbedingungen entfernt. Die spätere Entfaltung des Produkts Doku- mentarfilm in der „nachfilmischen Realität“ geschieht in den verschiedensten Rezepti- onskontexten, die denkbar heterogen sind, und von einer Vielzahl von Faktoren beein- flusst werden: Wer sieht was, wann, unter welchen Voraussetzungen und in welchen Vertriebskanälen? Der Zuschauer/innenkreis ist demnach keine black box oder passiver Empfänger, sondern Zuschauer/innen eignen sich je nach Erfahrungshintergrund, Vor- wissen und Präferenzen aktiv die dargestellten Filminhalte an. Zu den Rezeptionskon- texten der nachfilmischen Realität gehören aber auch Kritiken und Ankündigungen so- wie anschließende Sekundärliteratur. Die nachfilmische Realität verweist damit auf das Eigenleben von Dokumentarfilmen, die diese als kulturelles Artefakt in der Öffentlichkeit nachträglich entfalten – oder eben nicht entfalten. Um von den Zuschauer/innen als dokumentarisch erkannt zu werden, bedient sich der Dokumentarfilm der „Codes des Authentischen“, die beim Zuschauer den überindivi- duellen Eindruck von Authentizität des Dargestellten hervorrufen sollen.17 Hohenberger spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Aktivierung realitätsbezogener Sche- 16 Vgl. Eva Hohenberger: Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm. Ethnographischer Film. Jean Rouch. Hildesheim u.a. 1988, S. 28 ff. 17 Manfred Hattendorf: Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz 1999, S. 84. 38 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 mata“ beim Zuschauer, um den dokumentarischen Effekt zu erzielen.18 Diese setzen bereits in den paratextuellen Inszenierungen an, die den Dokumentarfilm als solchen bezeichnen oder andere nichtfilmische Referenzkontexte bemühen (durch entspre- chende Klappentexte auf der DVD, in Synopsen von Filmbesprechungen, durch Einsatz entsprechenden Bild- und Fotomaterials etc.). Durch derartige Ausweisungen wird dem potentiellen Zuschauer angezeigt, welche rezeptive Haltung er gegenüber dem Film einzunehmen hat. Die Haltung gegenüber einem Dokumentarfilm weist andere Merk- male auf als die gegenüber einem Spielfilm: „Der Zuschauer, der sich einen Dokumen- tarfilm ansieht, weiß genau, daß ihn nicht dasselbe Vergnügen erwartet wie bei einem Spielfilm. Für gewöhnlich hat er sich den Film auch nicht als Freizeitvergnügen zur Sti- mulierung der Lüste des Imaginären ausgesucht. Er ist sich vielmehr einer ernsten Ab- sicht bewußt, die wenigstens zum Teil durch die besonderen Konstitutionsbedingungen definiert wird“.19 Die dokumentarische Authentisierung einer innerfilmischen Darstellung wird nach Hat- tendorf über fünf Authentisierungsstrategien geleistet20: 1. Durch die Dominanz des Wortes, die die gezeigte Welt in ihrer Bedeutung festschreibt; 2. Durch die Dominanz der Bilder, die auf den Kommentar verzichtet und durch die Auswahl des Gezeigten die Intention des Zeigens bestimmt; 3. Durch ein ausgewogenes Verhältnis von Text und Bild, das sich durch seine Reflexion einer unmittelbaren Wiedergabe entzieht; 4. Durch die rekonstruierende Inszenierung, die sich meist aus der historischen Rekon- struktion unter Hinzuziehung authentischen Archivmaterials oder dem nachstellenden Reenactment ergibt; 5. Durch metadiegetische Inszenierung in Form von (selbst-)refle- xiven Einschüben, die sowohl Subjektivierungen wie Objektivierungen zur Folge haben können. Diese Einlassungen zeigen, dass Dokumentarfilmen eine Reihe von Merkmalen und Darstellungsformen zugeschrieben werden, die diese vom Spielfilm unterscheiden. Je- doch wird auch deutlich, dass diese Unterschiede weder auf ontologischen Fundamen- ten ruhen, noch in ihrer Differenz unverrückbare Relationierungen aufweisen. Vielmehr handelt es sich um kulturhistorisch variable Konventionen, die diese Differenzen mar- kieren und verändern. Somit verändern sich im Laufe der Zeit auch die Auffassungen darüber, was als „dokumentarisch“ und was als „fiktiv“ erachtet wird. Die Vielzahl der heutigen Mischformen von Docusoap bis Pseudo-Dokumentation (scripted reality) zeigt die zunehmende Auflösung ehemaliger gattungsspezifischer Grenzverläufe. Diese spie- len bis in den Bereich des Musikfilms/des Musikdokumentarfilms hinein. Im Zuge post- strukturalistischer und dekonstruktiver Perspektivverschiebungen werden die Fragen nach kategorialen Bestimmungsgrößen wie Dokumentation und Fiktion neu gestellt. Diese Verschiebungen gehen zurück bis zu den Frühformen des Films zu Beginn des 20. Jahrhunderts.21 Abschließend sollen diese theoretischen Ausführungen auf die Dif- ferenzierung von Musikfilm und Musikdokumentarfilm übertragen werden. 18 Eva Hohenberger: Dokumentarfilmtheorie. Ein historischer Überblick über Ansätze und Probleme. In: Eva Hohenberger (Hrsg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms. Berlin 2006 (Hohenberger 2006), S. 20 f. 19 William Howard Guynn: Der Dokumentarfilm und sein Zuschauer (1980/90). In: Hohenberger 2006, S. 247. 20 Hickethier 2007, S. 185. 21 Vgl. Gary D. Rhodes und John Paris Springer (Hrsg.): Docufictions. Essays on the Intersection of Documentary and Fictional Filmmaking. Jefferson u.a. 2006. Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 39 Musikdokumentarfilm Der Musikdokumentarfilm ist ein filmisches Phänomen, das als Genre der Gattung Do- kumentarfilm zuzurechnen ist, seine Ursprünge aber gleichzeitig im Musikfilm hat. Sein Gegenstand liegt hauptsächlich in der nichtfilmischen Realität. Er bezieht sich auf ein- zelne Musiker, Bands oder ganze Musikszenen und nimmt für sich in Anspruch, Infor- mationen, Anschauungen und Wissen über Musik und deren Kulturen diskursiv und „authentisch“ nah zu vermitteln. Es dominiert hier meist das erklärende Wort gegenüber Musik und Bild. Zum Musikdokumentarfilm gehören des Weiteren einzelne Konzertauf- zeichnungen, Tournee-Dokumentationen oder die Darstellung von großen Musikfesti- vals (rockumentaries). Musikdokumentarfilme finden sich in vielfältiger Form vor allem im Bereich der Pop- und Rock-Kultur, jedoch sind dokumentarische Filmaufnahmen auch im Bereich der klassischen Musik-Kultur – dort vor allem als Live-Mitschnitte be- deutender Opern oder Tanzaufführungen – zu finden. Fraglich ist, inwieweit das Musik- video als dokumentarisch bezeichnet werden kann – als Dokument seiner Zeit oder aber hinsichtlich seiner innerfilmischen Struktur; ebenso diskutabel ist, ob Musikmockumen- tarys wie „This is Spinal Tap“ (1984) dem Musikdokumentarfilm zugeordnet werden können. Hier verschwimmen die gewohnten Grenzlinien zwischen nichtfiktionalem und fiktionalem Film, da die Band Spinal Tap zunächst zwar im Film ein reines Kunstprodukt verkörperte, nach dem anschließenden Erfolg jedoch als ‚richtige’ Band mit CDs und Auftritten in Erscheinung trat. Dokumentarisch ist der Musikdokumentarfilm wie alle Filme in mehrfacher Hinsicht: Er dokumentiert musikalische Ereignisse vor der Kamera mit den ihm eigenen Mitteln zum Zeitpunkt ihres Geschehens, er arbeitet dokumentarisch-rekonstruktiv an der histori- schen Darstellung und Aufarbeitung musikkultureller Phänomene durch Verwendung von Archivmaterial und schließlich ist jeder Musikdokumentarfilm filmhistorisch ein (me- dienästhetisches wie inhaltliches) Dokument seiner Zeit. Die beobachtende Darstellung von Musikszenen und -kulturen rückt den Musikdokumentarfilm in die Nähe ethno- graphisch-visueller Studien, jedoch sind die ästhetischen Codes oftmals von diesem abweichend. Ein wesentliches Kennzeichen des Musikdokumentarfilms und dessen künstlerische Herausforderung ist die ästhetische Transformation eines sinnlichen Mediums, der Mu- sik, in ein anderes sinnliches Medium, den Film. Die Möglichkeiten der musikdokumen- tarischen Darstellung sind denkbar vielfältig, werden jedoch heutzutage in populärer Form oft von Interviewfilmen getragen, in denen der filmkünstlerische Aspekt nachran- gig behandelt wird. Während Musik als begleitende Filmmusik ein wichtiges Element des Spiel- und Dokumentarfilms ist, rückt Musik als Zentralthema im Musikdokumen- tarfilm in den Mittelpunkt der filmischen Arbeit. Es ist unschwer von der Hand zu weisen, dass Musikdokumentarfilme einen wichtigen Bestandteil des Pop-/Rock- und jugendkulturellen, aber auch des klassischen Musik- marktes ausmachen: Sie dienen als kommunikatives Verständigungs-, Informations- und Verbreitungsmedium sowie Merchandising-Instrument verschiedener Sänger/ innen, Bands, Musikszenen und Musikkulturen; sie lassen breite globale Massen an musikalischen Einzelereignissen partizipieren; sie tragen zur Visualisierung und Ästheti- sierung von Musik bei; sie konservieren und rekonstruieren die Entwicklungsgeschich- 40 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 ten von Bands, Musikszenen und Musikkulturen; sie haben Erinnerungs- und Gedächt- nisfunktionen; sie dienen zur Herstellung kollektiver Identitäten; sie geben Einblicke in Jugend- und Musikkulturen; sie haben Domestizierungsfunktionen, in dem sie das Unberechenbare, Kritische und Ungestüme von Jugend- und Musikkulturen massen- medial zähmen, in dem sie es vertraut machen. Musikdokumentarfilme bieten so aus genannten Gründen ein Feld film- und kulturwissenschaftlicher sowie soziologischer Analysen. Differenzierungen Angesichts der Unübersichtlichkeit und der unscharfen Kriterien zur Bestimmung des Begriffs Musikfilm erscheint die Differenzierung in fiktive Musikfilme und nicht-fiktive Musikdokumentarfilme ein lohnenswertes Unternehmen, um das dokumentarisch-in- formative vom fiktiv-erfundenen Filmbild abzugrenzen. Obwohl Inszenierung, Narration und Dramaturgie – die wesentlichen Kernmerkmale des fiktiven Films – ebenso Gestal- tungselemente des Musikdokumentarfilms sind, um das Charakteristische von Musik im Bild darstellen zu können, ist weiterhin am Dokumentarischen als Darstellungsform festzuhalten. Schon allein die weiteren Differenzierungen, wie wir sie exemplarisch in Punkt 3 vornehmen werden, verdeutlichen, dass das Genre des Musikdokumentarfilms sich in eine Vielzahl weiterer Sub-Genres unterteilen lässt.22 Damit wollen wir keine neuen gattungsspezifischen Ontologien aufstellen, oder gar fragwürdig gewordene Genre-Grenzen neu setzen, sondern verfolgen vielmehr das Ziel, Kriterien zur Unter- scheidung des dokumentarischen und des fiktionalen Musikfilmbildes zu finden und auf dieser Grundlage den unterschiedlichen Charakter der Genres zur Diskussion stellen. Ein Musikfilm wie „Moonwalker“ (1987) von Jerry Kramer, Jim Blashfield und Colin Chil- vers bleibt trotz des sich selbst spielenden, realen Protagonisten Michael Jackson fiktiv, umgekehrt ist selbst eine psychedelische Filmcollage wie „MC5: Kick Out the Jams“ (2005) von Leni Clair und Cary Loren, die mit assoziativen und farbästhetischen Ver- fremdungen die Band MC5 live in Szene setzt, ein dokumentarischer Film. Eine Unter- scheidung von Musikfilmen und Musikdokumentarfilmen verspricht unserer Auffassung nach eine stärkere Systematisierung des Gegenstands. Auf der Kommunikationsebene gibt es eine Reihe weiterer Gründe zur Differenzierung beider Darstellungsformen. Der wichtigste Grund liegt wohl in den unterschiedlichen sozialkommunikativen Vermittlungsfunktionen.23 Während der Musikdokumentarfilm aufklären, beobachten und informieren will, dabei Einblicke in unbekannte Welten und Perspektiven bietet und letztlich zeit-/räumliche Begrenzungen von Musikkulturen zu überwinden versucht, steht der Spielfilm primär für eine konsumistische, austausch- bare und unterhaltende Kommunikationsform, auch wenn dieser durchaus informativ sein kann. Auch wenn der fiktive Musikfilm realitätsbezogene Kontexte aufweist, bleibt er oftmals Narrativierungen und Inszenierungen verhaftet, die gängige Klischees und Stereotype des Musiker- oder Bandlebens mit einem Schuss romantischer Dramatik reproduzieren. Zur Herausarbeitung der wesentlichen Unterschiede in der Lebensbild- produktion zwischen Musikfilmen und Musikdokumentarfilmen bietet sich eine Reihe 22 Einen ähnlichen typologischen Ansatz verfolgt Custodis (2010, wie Anm. 4, S. 67-82), der davon ausgeht, dass sich in Musikdokumentarfilmen Kernelemente wiederfinden lassen, die das Dokumentarische als Dokumentarisches ausweisen. Dieses Ziel erreicht der Artikel, so muss kritisch angemerkt werden, allerdings in keiner Weise und verliert sich in am filmischen Einzelfall orientierten Betrachtungen. 23 Hohenberger 2006, S. 20 f. Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 41 von Filmen an, die sowohl fiktional wie dokumentarisch denselben Gegenstand behan- deln, wie etwa im Fall Jerry Lee Lewis: Hier läge ein gattungsübergreifender Vergleich zwischen dem fiktionalen Musikfilm „Great Balls of Fire“ (1989) und dem Musikdoku- mentarfilm „Jerry Lee Lewis – The Story of Rock‘n Roll“ (2003) nahe. Musikdokumentarfilme bevorzugen per se einen anderen Zugang zur außerfilmischen Wirklichkeit als fiktionale Musikfilme. In Gestaltung, Ästhetik, Montage und Musikver- wendung weisen Musikdokumentarfilme andere Formen auf als fiktionale Musikfilme. Auch wenn Musikdokumentarfilme Fiktionalisierungen ihres Gegenstandes durchaus zulassen und oftmals nur durch sie zu ästhetisch anspruchsvollen Produkten werden – was bei der visuellen Transformation eines sinnlichen Mediums wie Musik nicht weiter verwunderlich ist – so bewegen sich diese Fiktionalisierungen in einem referentiell gänz- lich anderen Gestaltungsrahmen als im fiktionalen Musikfilm. Im folgenden Abschnitt wollen wir näher auf das Verhältnis von Musik und Film und den Einsatz von Musik im Dokumentarfilm eingehen. 2. Verwendungsweisen von Musik im Dokumentarfilm Im Jahr 1970 kritisierte Wim Wenders die Darstellung von Musik im Film. Für die Zerstö- rung des musikalischen Erlebnisses durch den Film machte er vor allem die „schnelle Montage der Bilder“, die „Reißschwenks und Zooms“ sowie die ständigen Überblen- dungen verantwortlich.24 Die Entfaltung der Musik als eigene Sprache im Zeitpunkt ihres Entstehens, im Idealfall „live“, werde nach Wenders geopfert zugunsten einer an- deren, der „psychedelisch gewordenen“ Filmsprache. Musik und Film entsprächen sich im modernen Musikfilm demnach keineswegs: „Das Dilemma der Musikfilme besteht also darin, eine Balance zu finden zwischen dem Rhythmus eines Songs oder einer ganzen Performance und der Dynamik ihrer filmischen Darstellung.“25 Im Musikdokumentarfilm wird Musik in mehrfacher Hinsicht zum Gegenstand der Dar- stellung. Musik ist zum einen klanglicher Bestandteil in Form der im Film verwendeten Musik, die in erster Linie aus der betrachteten Musikkultur als Filmmusik hinzugefügt wird. Unter Filmmusik wird dabei die Musik verstanden, die die Gesamtintention des Films unterstützen und zum Erleben des Films beitragen soll.26 Der Bereich der Filmmu- sik ist ein zentrales Thema der gesamten Filmgestaltung. So wird in den meisten ethno- graphischen Musikkulturdokumentationen auf Musik zurückgegriffen, die signifikant mit dieser in Verbindung steht und dadurch entsprechende Assoziationen beim Zuschauer auslöst. Jedoch ist dies nicht immer der Fall, wie etwa im Black Metal-Genrefilm „Until The Lights Take Us“ (2008) über die norwegische Szene, in dem elektronische Klänge mit einer sanften Frauenstimme die frostigen und klirrenden Eislandschaften Norwegens versinnbildlichen, aus denen heraus der Black Metal seine kalte Klangästhetik bezieht. Ein derart kontrafaktischer Einsatz von Musik im Musikdokumentarfilm kann irritierende Wirkungen beim Betrachter auslösen und dadurch die Filmbilder be- oder hinterfragen bzw. entrücken. Die Musik wird von außen an den Film herangeführt und hat epistemo- 24 Zitiert nach: Bernd Kiefer und Daniel Schössler: (E)motion Pictures. Zwischen Authentizität und Künstlichkeit. Konzertfilme von Bob Dylan bis Neil Young. In: Bernd Kiefer und Marcus Stiglegger (Hrsg.): Pop & Kino. Von Elvis zu Eminem. Mainz 2004 (Kiefer und Schössler 2004), S. 50-65, hier: S. 50. 25 Ebd., S. 51. 26 Vgl. Anselm C. Kreuzer: Filmmusik in Theorie und Praxis. Konstanz 2009, S. 18. 42 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 logische Wirkungen. Ton und Bild werden so gezielt in ein antagonistisches Verhältnis zueinander gestellt. Man spricht dann auch von einer „kognitiven Dissonanz“ in der Filmrezeption.27 Musik wird atmosphärisch-assoziativ. Filmmusik im Musikdokumentar- film, die sich nicht synchron aus der dargestellten Wirklichkeit der innerfilmischen Reali- tät ergibt, wie beispielsweise bei einem Live-Auftritt oder der Darstellung von Proben im Studio, bezeichnet man als „innere Realität“28: Sie entspricht einer Versinnbildlichung von Musik mit stark gestalteter Perspektive, die nicht an alltägliche Wahrnehmungsfor- men gebunden ist. Dazu gehören Zooms, Großaufnahmen, Fahrten, Zeitlupe, Vogelper- spektive, die damit das Wesen der Musik zum Ausdruck bringen und sich nicht intra- diegetisch ableiten lässt. Es handelt sich hierbei um eine Form des Musikeinsatzes, die sich nicht aus dem Filmbild selbst ergibt, sondern als Untermalung, als Assoziation, als Stimmung oder Atmosphäre dem Film von außen beigefügt wird. Die „innere Realität“ der dokumentarfilmischen Musik enthebt diese von Raum und Zeit und bricht diesen für die menschliche Wahrnehmung zwingenden Zusammenhang auf. Musik ist zum anderen visuell-thematischer Gegenstand des Musikdokumentarfilms. Es handelt sich hierbei um Fragen der Transformation eines klanglichen in ein bildliches Medium. Form- und Gestaltungsfragen von Visualisierungen der Musik sind kunstge- schichtlich notorisch und deren Entsprechung immer wieder diskutiert worden.29 Zwi- schen Musik und Bild besteht demnach eine enge innere Beziehung, die Gattungs- grenzen beider künstlerischer Artikulationsformen werden durch Transmedialisierungen zunehmend aufgelöst.30 So kann Musik symbolisch über Musikinstrumente, etwa die E-Gitarre oder das Mischpult, über bedeutsame Personen und Orte dargestellt wer- den, die unmittelbar zur Erzeugung von Musik, einem spezifischen Genre von Musik gehören. Diese stehen dann stellvertretend für eine Szene, eine Kultur, einen musikhis- torischen Zeitabschnitt oder eine bestimmte Art von Musik. Musik wird damit subjektiv oder gegenständlich im Filmbild verortet. Darüber hinaus gibt es auch andere transfor- mative Sinnentsprechungen der Musikdarstellung, etwa wenn die Schrifteinblendungen auf den Texttafeln in „Slide Guitar Ride“ (2005) den Schwingungen von Gitarrenseiten nachgeahmt werden. Musik kann aber auch als „äußere Realität“ im Filmbild erschei- nen. Dieser Einsatz von Musik entspricht der menschlichen Seh- und Hörerfahrung, die Einheit von Zeit und Raum bleibt erhalten. Es wird mit einem Minimum an film- technischer Gestaltung gearbeitet.31 Es besteht eine synchrone Ton-Bild-Relation wie beispielsweise bei der Darstellung eines Live-Konzerts. Der Einsatz von Musik unter diesem Aspekt ergibt sich gegenständlich aus der filmischen Abbildung und wird nicht aus dem Off an das Filmbild von außen herangeführt. Während die „äußere Realität“ des dokumentarfilmischen Musikeinsatzes die Wahrneh- mungsseite des Rezipienten als sinnliches Erkennen und rationales Erfassen berührt, bezieht sich die „innere Realität“ des dokumentarfilmischen Musikeinsatzes auf die 27 Ebd., S. 20. Zur kognitiven Dissonanz siehe auch Leon Festinger: A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford 1957. 28 Norbert Jürgen Schneider: Handbuch Filmmusik II. Musik im dokumentarischen Film. München 1989 (Schneider 1989), S. 23 ff. 29 Vgl. Peter Weibel: Von der visuellen Musik zum Musivideo. In: Veruschka Bódy und Peter Weibel (Hrsg.): Clip, Klapp, Bum. Von der visuellen Musik zum Musikvideo. Köln 1987 (Weibel 1987), S. 53-164, hier: S. 53. 30 Vgl. Ursula Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik. Bild-Musik-Sprache-Körper. Köln u.a. 2008 (Brandstätter 2008), S. 168 ff. 31 Vgl. Schneider 1989, S. 23. Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 43 Erlebnisseite als emotionale Einfärbung des Wahrgenommenen.32 Letztere ist deshalb die ungleich schwerer zu gestaltende Seite des dokumentarfilmischen Musikeinsatzes: „Bezüglich der ‚inneren Realität‘ eines Films ist die Musikfrage nur komplex zu beant- worten. ‚Innere Realität‘ ist kein nebuloser [sic!] Freiraum subjektiver Eigenwilligkeiten, wo jede Musikverwendung erlaubt ist (da die kontrollierenden Kriterien für das ‚Innen’ des Filmautors anscheinend fehlen). ‚Innere Realität‘ ist der Ort, an dem mit Nachdruck die Frage nach der Authentizität (der Glaubwürdigkeit, Echtheit) von Musik zu stellen ist“.33 Während also die „äußere Realität“ der Filmmusik an der alltäglichen Wahrneh- mung unseres Gehörsinns orientiert ist und damit realitätsnah ohne Probleme rezipiert werden kann, spricht die „innere Realität“ der Filmmusik unsere Fantasie und unser Assoziationsvermögen an. Musik fungiert in dieser Hinsicht als (kontrapunktisches) Er- kenntnismedium selbst, dessen Erkenntniswert sich erst aus dem Verhältnis zum Inhalt des Filmbildes ergibt. Schließlich ist Musik neben ihren klanglichen Qualitäten ein sprachlich-diskursives The- ma des Musikdokumentarfilms. Einerseits erfolgt die Diskursivierung auf der visuellen Ebene über die eingesetzten Bilder, andererseits über die narrativen Sprach- und Deu- tungsmuster der Experten. Die Diskurse müssen anschlussfähig an das Vorwissen der Rezipienten gebunden sein, um sie für diesen verstehbar zu machen. In dieser Hinsicht wird Musik zum besprochenen, letztlich rationalisierten Gegenstand. In der dokumen- tarfilmischen Reflexion einzelner Kulturen, Szenen oder Bands werden Interpretationen und Mythen durch Experten festgeschrieben und visuell domestiziert. Diese Experten entscheiden durch die ihnen zuerkannte Authentizität in hohem Maße über Entwick- lungsperspektiven und zeitliche/räumliche Ursprungserlebnisse in Musikkulturen und sie dominieren den herrschenden Diskurs. Insofern wird in derartigen Darstellungen nicht auf die Ähnlichkeit zwischen Sprache und Musik oder Musik als Sprache rekurriert, wie es die ästhetische Theorie tut,34 sondern rein auf deren begriffliche Wahrnehmung und Rekonstruktion. Kulturgeschichtlich oder szenespezifisch orientierte Musikdoku- mentarfilme mit informativem und aufklärerischem Gehalt unterwerfen dabei ihren Ge- genstand, die Musik, den diskursiv-sprachlichen Ausdeutungsweisen und rauben die- ser dadurch ein Stück weit ihren sinnlichen bzw. auratischen Gehalt: „Die weitgehend automatisierte Wahrnehmung, die auf die begriffliche Identifikation von Gegenständen und Eigenschaften zielt, führt letztlich zum Verschwinden der Welt und ihrer sinnlichen Anschauung. Aufgabe der Kunst ist es, die konventionalisierten Sichtweisen aufzu- brechen und damit die Wiedergewinnung sinnlicher Wahrnehmung zu ermöglichen.“35 Während frühere Musikkulturen Wert auf ausgefeilte visuelle Umsetzung innerer surrea- listischer Erlebniswelten legten und damit einen wichtigen Wesenszug von Musikkultu- ren der 1960/70er Jahre aufzeigten, sind heutige Musikerlebniswelten in hohem Maße kommerzialisiert und rationalisiert.36 Dies hat zur Folge, dass kulturgeschichtliche oder ethnographische Musikdokumentarfilme heutzutage über die einzelnen Genregrenzen hinweg nach ähnlichen narrativen Diskursmustern aufbereitet werden, um ein möglichst breites Publikum zu adressieren. Ob nun in „We Call It Techno“ (2008) oder „Heavy 32 Vgl. ebd., S. 28 f. 33 Ebd., S. 28. 34 Vgl. Brandstätter 2008, S. 165 f. 35 Ebd., S. 106. 36 Helmut Voullième: »..and Rock goes Online and CD-ROM – Rockmusik und interactive Medien. In: Dieter Baacke (Hrsg.): Handbuch Jugend und Musik. Opladen 1998, S. 421-438, hier: S. 421 f. 44 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Metal: Louder Than Life“ (2006): Beide Filme arbeiten mit ähnlichen chronologischen Mustern, Experteninterviews, Schnitten und Narrativen der historischen Darstellung. Beim musikdokumentarischen Film über die Techno-Szene kommt hinzu, dass diese ursprünglich eine bewusst bilderlose Musikkultur verkörperte, die auch die Autorschaft in der Musik negierte. Mittlerweile hat sich aber auch diese Überzeugung offenbar ge- wandelt und neben dem genannten „We Call It Techno“ (2008) eine weitere, rein nar- rative Dokumentation wie „The History of Electronic Music“ (2006) hervorgebracht, die in hohem Maße diese Musikkultur durch Experteninterviews subjektiviert. Im folgenden Abschnitt werden nun die Wurzeln des musikdokumentarischen Filmbildes dargestellt. 3. Die historischen Wurzeln musikdokumentarischer Filmaufnahmen Der erste Tonfilm der Filmgeschichte war ein Musikfilm, sofern man den Begriff in einem weiten Sinne begreift. „The Jazz Singer“ (1927) handelt vom Aufstieg des armen jüdi- schen Sängers Jakie Rabonwitz zum Broadway-Star. Obwohl im Film wenig gesungen und musiziert wird, ist der Gegenstand doch im musikalischen Kontext zu verorten und trägt biographische Züge, was sich bereits im Titel andeutet. Ist allein der musikkultu- relle Kontext entscheidend, so führt die Geschichte des Musikfilms noch weiter zurück und beginnt zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit wurden bereits Filme, deren Inhalt Musik darstellte oder sich auf Musik bezog, produziert. Einer der bekanntesten musikbiographischen Stummfilme stellt Carl Froehlichs „Richard Wagner. Ein kinema- tographischer Beitrag zu seinem Lebensbild“ (1913) dar.37 Erste musikdokumentarfilmische Aufnahmen tauchen zu Beginn der 1930er Jahre im Bereich des Blues auf. So beinhaltet der Kurzfilm „St. Louis Blues“ (1929), der vom RCA Phototone Studio als Vorfilm ähnlich der Wochenschauen gedreht wurde, eine Livesze- ne mit der Bluessängerin Bessie Smith an der Bar eines Restaurants, während sie den „St. Louis Blues“ singt.38 Dieses Lied, geschrieben von W. C. Handy, der gemeinsam mit Kenneth W. Adams das Drehbuch für den späteren Kurzfilm schrieb,39 war bereits 1925 äußerst erfolgreich von Bessie Smith und Louis Armstrong eingespielt worden. Schon zu dieser Zeit setzte eine musikdokumentarische Welle ein, die den weiteren Erfolg des Blues markierte. Der kurze Live-Ausschnitt in „St. Louis Blues“ trägt bereits Züge spä- terer Musikvideoclips, in denen die Künstler live vor der Kamera agieren und ihre Musik visualisieren. Dokumentarisch sind diese Aufnahmen insofern, als Bessie Smith und ihre Band sich selber spielen und als ,reale Künstler‘ im Film auftreten. Im Rahmen des Versuchs, populäre Musik im Bild festzuhalten, entstanden bereits Ende der 1920er Jahre eine Reihe von Bluesmusik-Aufnahmen im Studio, in denen Musiker/ innen ihre Lieder vor inszenierter Kulisse sangen und damit dem Blues ein Gesicht und einen visuellen Raum gaben. Die auditive Dokumentation von Blues- und Folk-Musik, die später Filme ergänzten, wurde vor allem durch Alan Lomax vorangetrieben, der seit Mitte der 1930er Jahre immer wieder zu Reisen aufbrach, auf denen er den Wurzeln der amerikanischen Folk-Musik nachspürte und diese einzufangen versuchte. Schon früh widmete sich der junge Lomax im Auftrag der Library of Congress in Washington dem Aufbau eines Archive of American Folk Song. Mitte der 1960er Jahre entstand unter 37 Vgl. Maas und Schudack 2008, S. 16 ff. 38 Vgl. online unter: http://www.youtube.com/watch?v=JpVCqXRlXx4 (zuletzt abgerufen am 7.6.2011). 39 Vgl. online unter: http://www.redhotjazz.com/stlouisblues.html (zuletzt abgerufen am 7.6.2011). Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 45 seiner Mitarbeit der Musikdokumentarfilm „Devil Got My Woman Blues At Newport“ (1966). Eine prominente Wiederverwertung früher und seltener Archivaufnahmen findet sich in Martin Scorseses Musikdokumentarfilmprojekt „The Blues“ (2003), in dessen Rahmen verschiedene Musikdokumentarfilme über die Wurzeln des Genres mithilfe verschiedener Regisseure entstanden. Der Tonfilm verhalf ab 1927 auch dem amerikanischen Musical-Film zum Erfolg. Da der frühe Tonfilm aus technischen Gründen nicht geschnitten werden konnte, arbeitete dieser mit langen Einstellungen des Bühnengeschehens.40 Gerle erkennt die Ursprünge der audiovisuellen Verarbeitung von Musik in dem Format der Musik- und Revuefilme, in denen die „Nummern“ vorgetragen wurden; exemplarisch hierfür werden von ihm auch die Cartoon-Filme Walt Disneys genannt.41 In Deutschland waren es Operetten- filme und Musikkomödien mit singenden Schauspielern, die in den 1930er und 1940er Jahren sehr beliebt waren. Trotz fiktionaler Rahmung können die von Stars gesungenen Lieder aufgrund ihres Bühnen-Aufführungscharakters als durchaus dokumentarisch be- zeichnet werden. Der Bereich des avantgardistischen Kunstfilms arbeitete schon in den 1920er Jahren zu filmischen Experimenten mit Ton und Bild.42 Ruttmann, Eggeling und Fischinger sind bekannte Medienkünstler ihrer Zeit, die eine ästhetische Entsprechung von Musik und Bild suchten. Diese Experimente waren inspiriert von Farbenhören und Musiksehen als künstlerischem Programm. Sie griffen damit die physiologischen und physikalischen Grundlagen der Synästhesie auf, wie sie bereits 1666 von Isaac Newton in Bezug auf die Ähnlichkeit von Farben und Tönen thematisiert worden waren. Seit dieser Zeit gab es von Seiten der verschiedenen Künste, Malern, Musikern, Dichtern und Wissen- schaftlern, immer wieder Versuche, das Hörbare zu visualisieren.43 Die Faszination von sichtbarer, visueller Musik und der Transformation von Musik in Farben und Formen bzw. Farben und Formen in Musik ließ Künstler und Wissenschaftler nicht mehr los. Bereits in der Antike finden sich Bebilderungen musikalischer Szenen und stellen einen Zusammenhang von Bild und Musik her.44 In den 1910er Jahren waren es als Vorläufer des Experimentalfilms die Futuristen, die in ihren Manifesten die Synästhesie von Musik und Bild beschworen. So schrieb Carlo Carrà 1912 in „Die Malerei der Töne, Geräusche und Gerüche“: „Wir futuristischen Maler erklären, daß die Töne, Geräusche und Gerü- che im Ausdruck der Linien, der Volumen und Farben in der Architektur eines Musikwer- kes Gestalt annehmen. Unsere Bilder werden also auch die bildnerischen Äquivalente der Töne, Geräusche, Gerüche (…) zum Ausdruck bringen“.45 Die Musikvideo-Ästhetik nimmt hier ihren Anfang. Die weiteren Entwicklungen früher Experimente zur Synäs- thesie von Bild und Musik finden sich heute aber auch in verschiedenen Inszenierun- gen von Klangbild-Künstlern, Installationen, multimedialisierten Konzertbühnen und in Musikdokumentarfilmen mit ästhetischem Anspruch.46 Für den Musikdokumentarfilm 40 Vgl. Maas und Schudack, 2008, S. 17 und S. 84 ff. 41 Vgl. Jörg Gerle: Der Musikclip im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit (Gerle 2010). In: Moormann 2010, S. 135 f. 42 Vgl. ebd., S. 136. 43 Vgl. Weibel 1987, S. 54 ff. 44 Vgl. Custodis 2010, S. 70 45 Carrà 1912, zitiert nach Weibel 1987, S. 60. 46 Vgl. ebd., S. 119 ff. 46 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 bieten diese Überlegungen zur Visualisierung von Musik wichtige Einsichten zur Insze- nierung und Gestaltung von Musik über die rein informative und aufklärende Ebene hin- aus: zur Herstellung musikalischer Sinnbilder. Ein erster Boom musikdokumentarischer Filmaufnahmen beginnt in den 1950er und 1960er Jahren mit der Popularisierung von Jugend- und Musikkulturen im damals neuartigen Leitmedium Fernsehen. Neben einer Reihe von fiktionalen Musikfilmen, in denen Musiker ihre Songs im Rahmen eines eher nebensächlichen Erzählplots selbst sangen und damit zu deren audiovisueller Verbrei- tung beitrugen, kamen bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die ersten Live-Aufnahmen von Stars vor der Kamera und einem tanzenden oder klatschenden Publikum auf. Hier- bei handelte es sich jedoch nicht um Musikvideos im eigentlichen Sinne, sondern um Auftritte von Künstlern, die mit einfacher Studiotechnik und wenig Kameras dokumen- tarisch eingefangen wurden.47 Ende der 1950er Jahre entsteht dann der erste länge- re Musikdokumentarfilm im Rahmen von Aufnahmen eines Jazz-Musikfestivals: „Eine Neuentwicklung im Rockfilm deutete sich mit JAZZ AN EINEM SOMMERABEND an. Es ist der erste abendfüllende Dokumentarfilm über ein Musikfestival und legte damit gewissermaßen den Grundstein für Filme wie MONTEREY POP oder WOODSTOCK. Seit 1954 fanden in Newport, Rhode Island, Jazzfestivals statt, auf denen populäre und noch unbekannte Musiker vorgestellt wurden. Die Dokumentation JAZZ AN EINEM SOMMERABEND entstand während des Festivals 1958“.48 Anders als der fiktive Mu- sikfilm versuchten Musikdokumentarfilme zunehmend, einzelne Musikereignisse fest- zuhalten und für ein breites massenmediales Publikum anschlussfähig zu machen. Als dokumentarisch sind auch die jugendmusikorientierten Fernsehsendungen der 1960er Jahre zu bezeichnen. Bei der „T.A.M.I. Show“ („Teenage Awards Music Interna- tional“) handelte es sich um den ersten großen Film, in dem Konzerte und Live-Auftritte aus verschiedenen Rock- und Popbereichen zusammengebracht wurden.49 Die Auf- nahmen zu dieser Show entstanden bei einem Konzert im Santa Monica Civil Audito- rium im Oktober 1964. Die musikalischen Darbietungen sind aufgrund der technisch eingeschränkten Möglichkeiten einfach und schlicht in Bild und Ton festgehalten, das Applaudieren und Kreischen übertönt oftmals die einzelnen Auftritte der Sänger/innen und Bands.50 Weitere musikdokumentarfilmische Live-Auftritte im Fernsehstudio finden sich in TV- Sendungen wie „Top of the Pops (BBC)“ (1964-2006) oder dem in Deutschland sehr populären „Beat-Club“ (1965-1972). Auch der „Musikladen“ (1972-1984) und „Disco“ (1971-1982) inszenierten Live-Auftritte von Sänger/innen und Bands, ebenso wie „For- mel Eins“ (1983-1987).51 Der deutsche Schlager fand sein populäres TV-Sendungsfor- mat in Dieter Thomas Hecks „Hitparade“ (1969-2000). Andere TV-Sendungen mit un- terschiedlichen Musikausrichtungen wären hier zu nennen. Seit Mitte der 1980er Jahre übernahmen dann MTV, seit den 1990er Jahren VIVA vor allem mit Videoclips, aber auch mit Live-Auftritten und anderen Darstellungsformaten die Vorherrschaft im Mu- sikfernsehen. MTV ist kürzlich in den Pay-TV-Bereich abgewandert und hat sein Pro- 47 Vgl. Maas und Schudack 2008, S. 297. 48 Struck 1985, S. 33. 49 Vgl. Greil Marcus: Rock Filme. In: Jim Miller (Hrsg.): Rolling Stone. Bildgeschichte der Rockmusik, Bd. 2. Reinbeck 1979 (Marcus 1979), S. 385. . 50 Vgl. Struck 1985, S. 64. 51 Vgl. Gerle 2010, S. 136 f. Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 47 gramm von einem Musikprogramm hin zu einem jugendlichen Dokusoap-Programm umgestellt. Direct Cinema Die „T.A.M.I. Show“ stand am Beginn einer Ära der Konzertfilme.52 Ende der 1960er Jahre entstanden die großen, bis heute stilprägenden dokumentarischen Rockumenta- ries „Woodstock“ (1970) von Michael Wadleigh, „Monterey Pop“ (1968) von Donn Alan Pennebacker und „Gimme Shelter“ (1970) von Albert und David Maysles. Alle drei Filme arbeiteten mit einer eigenen und neuen Form der ästhetischen Gestaltung: dem Direct Cinema bzw. Cinema Vérité. Diese neue ästhetische Gestaltungsform, die nicht zuletzt auf technische Entwicklungen in Richtung kleiner und handlicher 16mm-Kameras mit der Möglichkeit synchroner Tonaufnahmen zurückzuführen ist, war zuvor schon von Donn Alan Pennebacker erfolgreich im Tourneefilm mit Bob Dylan in „Don’t Look Back“ (1967) angewandt worden und setzte für den Musikdokumentarfilm neue Maßstäbe hin- sichtlich Nähe, Authentizität und Musikästhetik.53 Das Verfahren des Direct Cinema bzw. Cinema Vérité ist die bis heute wohl einflussreichs- te Form der musikfilmdokumentarischen Ästhetik, auch wenn sich bestimmte Klischee- bildungen darin bereits Ende der 1970er Jahre eingeschrieben hatten: „Und so wurden die Filme veröffentlicht, einer nach dem anderen, die meisten von ihnen übernahmen die Motive der Ausbeutungsfilme der fünfziger Jahre, ließen aber deren befreiende Vulgarität vermissen: du richtest eine Kamera auf einen Star, er sang, vielleicht murmelte er irgend- etwas hinter der Bühne, sprang in eine Limousine, sah geschafft aus, und die Leute zahlten, um das zu sehen.“54 Obwohl das Direct Cinema und das Cinema Vérité vor al- lem das Eintauchen und Einfangen musikalischer Ereignisse in möglichst realitätsnaher, dichter und authentischer Form verfolgen, ist dieses nicht mit einem falsch verstandenen Abbildrealismus zu verwechseln: Denn auch dem Direct- oder Vérité-Künstler geht es nicht nur um die bloße Dokumentation von Musik, ihrer Orte und Fans, sondern auch hier werden performative und ästhetisierende Elemente zu audiovisuellen Stilbildungen eingesetzt, wie sich dies etwa in Wadleighs Splitscreen-Verfahren zeigen lässt.55 Dieses Verfahren wurde jüngst von Jonathan Caouette in „All Tomorrow’s Party“ (2009), einem Konzertfilm über ein Alternative-Festival in Südengland, wieder aufgegriffen. So zeigen zwar Musikdokumentarfilme im Direct- oder Vérité-Stil Musiker und ihre Fans möglichst realitätsnah in ihren jeweiligen Wirklichkeiten, jedoch darf dabei die künstlerische Bildge- staltung, die einen Sinnüberschuss über das medial Dargestellte hinaus produziert, nicht aus den Augen verloren werden. Denn gerade hier offenbart sich die hohe Könnerschaft des/der Musikdokumentarfilmers/in, ein visuell schwer greifbares, sinnlich-emotionales Medium wie die Musik mithilfe filmischer Bilder unter Verwendung einer bestimmten Technik in eine ästhetisch anspruchsvolle und gleichzeitig informative und aufklärende Form zu bringen. Während sich dem fiktiven Musikfilm alle Freiheiten des Spielfilms eröffnen, hat sich der/die Musikdokumentarfilmer/in an den Widerständigkeiten musik- kultureller Wirklichkeiten abzuarbeiten und Sehgewohnheiten der Zuschauer zu berück- sichtigen, ohne in langweilige und belanglose Klischeebilder zu verfallen. 52 Vgl. Marcus 1979, S. 386. 53 Vgl. Kiefer und Schössler 2004, S. 50 f. 54 Vgl. Marcus 1979, S. 388. 55 Vgl. David Ehrenstein und Bill Reed: Rock on Film. London 1982, S. 78. 48 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Das Direct Cinema bzw. Cinema Vérité hat großen Einfluss auf ethnographische oder biographische Musikdokumentarfilme genommen. Alle großen Jugend- und Musikkul- turen verfügen mittlerweile über eine wachsende Anzahl an szene- oder bandtypischen Filmen. Auch kleine lokale Musikszenen schreiben sich filmisch immer häufiger ihre ei- gene Geschichte und ihren eigenen Entstehungsmythos an. Dadurch werden filmische Diskurse über Entstehung und Entwicklung von Jugend- und Musikkulturen in Gang ge- bracht. Der Markt an ethnographischen und musikhistoriographischen Musikdokumen- tarfilmen ist kaum mehr zu überblicken. Auf diesem Feld hat sich das Experteninterview als wichtige Form der musikkulturellen Artikulation herauskristallisiert, das in immer gleicher Art der Darstellung und unter Bemühung des immer gleichen Mythos des Ur- sprungserlebens inszeniert wird. Dennoch ist es nachvollziehbar, dass Musik als nicht- stoffliches Medium im Dokumentarfilm personifiziert wird, da dies die visuelle Verortung erleichtert.56 Zusätzlich wird dadurch die Attraktivität und der Interessantheitsgrad für den Zuschauer erhöht: „Die überwiegende Zahl von Musikdokumentationen nutzt Per- sonifikationen, um die Geschichte von Stücken zu erzählen, da leicht vorstellbar ist, wie viel attraktiver sich eine Komposition filmisch aufbereiten lässt, wenn prominente Künstler, ergriffene Zuhörer und engagierte Organisatoren ins Bild zu setzen sind“.57 So gleichen sich die diskursiven Geschichten über die Entstehung und den Beginn des Techno/der elektronischen Musik, des Punk, des Heavy Metal, des Hip Hop/Rap im Musikdokumentarfilm narrativ in erstaunlicher Weise. Immer wieder werden das hohe Potential an Kreativität, die auratische Dynamik des Neuen, die Interessantheit und Zu- kunftsoffenheit der zunächst kleinen und überschaubaren Szene, die Regionalität und Ortsgebundenheit lokaler Musikentwicklungen, die allmählich wachsende Verbreitung sowie ihre Trittbrettfahrer, der nun einsetzende Erfolg sowie die spätere Ausbeutung und Kommerzialisierung und die damit einhergehende Veränderung des Ursprungscha- rakters strukturell herausgestellt. Augenzeugen, Experten und Teilnehmer der Anfänge vermitteln ein hohes Maß an Au- thentizität, Verbindlichkeit der Aussage und Autorität. Die Glaubwürdigkeit in der Dar- stellung des unmittelbar Erlebten wird durch Experteninterviews somit erhöht. Damit beanspruchen sie Geltung ihrer Deutungen und Interpretationen und setzen musikkul- turelle Diskurse in Gang, die die Sicht auf ganze Szenen strukturieren und dominieren. So ähneln sich die Heavy Metal-Dokumentationen „Metal: A Headbangers Journey“ (2005) von Sam Dunn und „Heavy Metal: Louder Than Life“ (2006) von Dick Carruthers trotz unterschiedlicher Inszenierungsformen58 nicht nur in ihrer strukturellen Gestaltung der Inhalte, sondern es tauchen etwa mit Dee Snider der Gruppe Twisted Sisters auch dieselben Gesprächspartner auf. Mittlerweile finden sich für diese Musikkultur nicht nur überblicksartige Musikdokumentarfilme, sondern es werden mit „Death Metal: A Do- cumentary“ (2004) – auf dessen DVD-Klappentext es heißt: „The story of Death Metal is told by a variety of experts, all of whom have helped to shape the genre“ – von Bill Zebub, „Get Thrashed: The Story of Thrash Metal“ (2008) von Rick Ernst oder „Such Hounds, Such Hawks: Scenes From The American Hard Rock Underground“ (2009) von John Srebalus verschiedene Sub-Genres des Heavy Metal beleuchtet. 56 Vgl. Custodis 2010, S. 68. 57 Ebd., S. 78. 58 Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass Sam Dunn als Gesprächspartner überwiegend vor der Kamera agiert, während Dick Carruthers nicht im Film auftritt. Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 49 Heutzutage finden sich musikdokumentarfilmische Formate im Konzertbereich, als Feature oder Dokumentarfilme, als Reality-TV-Shows in Form der Dokusoap oder der Castingshow und als biographische oder ethnographische Szenefilme.59 Der Erfolg des Musikdokumentarfilms liegt nicht zuletzt an der Entwicklung neuer Medien (DVD), der Verbilligung technischen Equipments sowie der Möglichkeit neuer Vertriebskanäle durch das Internet. Hinzu kommt, dass trotz ihres großen Einflusses diese Entwicklun- gen nicht nur auf dem jugend- bzw. pop-/rockkulturellen Sektor durchschlagen, son- dern vor allem auch im klassischen Musikbereich zu finden sind.60 4. Musikdokumentarfilmische Subgenres Im Folgenden wollen wir einige Idealtypologien einzelner Subformen des Musikdoku- mentarfilms skizzieren. Dabei sollen die Differenzierungen vor allem thematisch-inhalt- lich begründet werden. Die Typologie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie wird der Komplexität ihres jeweiligen Gegenstandes ebenso wenig gerecht. Die Abwei- chung bildet wie bei allen Typologien die Regel. Beabsichtigt ist lediglich eine Anregung zur weiteren Diskussion. Die Zuordnung erfolgt aufgrund des inhaltlichen Schwerpunkts, wobei die Grenzen zu benachbarten Formen fließend sind. Die charakteristischen Krite- rien werden in aller Kürze dargestellt und sind weiter zu ergänzen bzw. zu modifizieren. Wir versprechen uns jedoch von einer ersten Typologie eine Differenzierung des kom- plexen Genres Musikdokumentarfilm. a. Konzertfilm (Rockumentary) Konzertfilme zeichnen sich prinzipiell durch ihren singulären und einmaligen Ereignis- charakter aus. Es handelt sich um Live-Aufzeichnungen von einem einzelnen Konzert- auftritt, teilweise auch um Zusammenschnitte mehrerer Auftritte einer Tournee (siehe auch Tourfilm). Im Mittelpunkt steht das Musikereignis selbst. Diese Form des Musikdo- kumentarfilms lebt von der „livehaftigen“ Aura des unmittelbaren Miterlebens und der Illusion des Dabeiseins. Das Miterleben ist allerdings visuell eingeschränkt und an die subjektive Perspektive des Filmemachers gebunden. Beinahe jede/r Sänger/in, jede Band verfügt über eigenes Live-Material. Hinzu kommt, dass auf der Plattform YouTube massenhaft Livemitschnitte existieren, die von Mu- sikbegeisterten oder Fans mittels Handykamera aufgezeichnet und eingestellt worden sind. Dadurch hat sich eine ganz eigene Art der Konzertästhetik entwickelt, die nicht an die konventionellen Formen gebunden ist und am ehesten dem realen Konzerterleben entspricht. Der professionalisierte und standardisierte Blick eines Filmteams wird damit subversiv unterlaufen. YouTube kann mittlerweile wohl als eines der größten amateur- haften Konzertfilmarchive bezeichnet werden. Konzertfilme zeigen Musiker/innen in ihren Live-Performances, aber auch die tanzen- den und jubelnden Fans gehören zum festen Bestandteil. Ebenso finden sich in Kon- zertfilmen auch der Auf- und Abbau der Bühne, Backstage-Aufnahmen, Interviews mit Fans, Personal und Musikern und weitere Informationen rund um das Konzertereignis. Diese Zusatzeinblicke sind jedoch nicht zwingend, es existieren auch reine Konzert- 59 Vgl. Mass und Schudack 2008, S. 136 ff. Dazu auch die entsprechenden Artikel in Moormann 2010. 60 Vgl. Michael Beyer: Im Dialog mit der Musik. Ästhetische Kategorien der Konzertaufzeichnung. In: Moormann, 2010 (wie Anm. 4), S. 147-154; Thomas Koebner: Der singende Mensch vor der Kamera. Notizen zum Opernfilm. In: Moormann 2010, S. 155-184. 50 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 mitschnitte ohne weitere Kontextualisierungen, die nur den Auftritt selbst fokussieren. Die Zuschauer bekommen im Konzertfilm direkt, unmittelbar und dicht die Musiker ins Blickfeld und erleben so das Konzertereignis aus Perspektiven, die in der realen Erfah- rung so niemals möglich gewesen wären. Der Konzertfilm lebt von der Intensität und Spannung der Performance und arbeitet mit abwechselnden Nah-, Total- und Groß- aufnahmen, die die Musiker in ihren schweißtreibenden Aktionen und ihrer Virtuosi- tät beobachten. Dadurch wird der Filmzuschauer in einen unmittelbaren Erlebnisraum gezogen. Konzertfilme ermöglichen die Teilhabe an vergangenen oder gegenwärtigen Musikereignissen und haben dadurch auch eine erinnerungskulturelle wie vergemein- schaftende Dimension. Meist leben derartige Konzertmitschnitte von der Selektivität des Filmbildes, das gesamte Bühnengeschehen, wie es sich in der realen Erfahrung darbietet, ist filmisch über einen längeren Zeitraum kaum spannungsvoll zu inszenieren. Daher ist es in einem Konzertfilm wichtig, Abwechslungen zu schaffen. Die Rhythmi- sierung der Schnitte setzt Bild und Musik oftmals in ein entsprechendes Verhältnis und sorgt so für Dynamik. Die Musik ist intradiegetisch und der „äußeren Realität“ entnom- men: Sie entspricht synchron dem im Filmbild Dargestellten. Die historisch wichtigsten Konzertfilme sind sicherlich „Woodstock“ (1970) von Michael Wadleigh und „Monterey Pop“ (1968) von D. A. Pennebacker, entstanden im Rahmen wichtiger Rockfestivals Ende der 1960er Jahre. Einen außergewöhnlichen Konzertfilm stellt beispielsweise auch „Awesome: I fuckin‘ shot that“ (2006) von den Beastie Boys dar, der aus der Perspektive einiger Fans gedreht wurde: Hierzu wurden vor dem Kon- zert Handkameras an Besucher verteilt, die an verschiedenen Plätzen dem Konzert bei- wohnten. So entstand eine Collage aus nahezu 50 verschiedenen Positionen. Ebenso ungewöhnlich ist ein Konzertmitschnitt der Punkrock-Band „The Cramps: Live at Napa State Mental Hospital“ (2003), der einen Liveauftritt in einer psychiatrischen Klinik von 1978 dokumentiert („a benchmark in public rock“, wie es auf dem Cover heißt), bei dem sich die Grenzen zwischen Musikern und Zuschauern im Verlauf des Konzerts zunehmend verschieben. Diese Art der politisierten Live-Performance pflegte bereits Johnny Cash, der einen Auftritt „At Folsom Prison“ (1968) ebenfalls als Konzertmit- schnitt veröffentlichte. Auch der Bluesmusiker B. B. King spielte 1972 ein Konzert im berühmt-berüchtigten New Yorker Sing Sing-Gefängnis, das mit den Insassen wie mit den Filmemachern Harry Wiland und David Hoffmann musikfilmdokumentarisch festge- halten wurde: „B. B. King at Sing Sing Prison“ (2008). b. Tourfilm Tourfilme haben ähnlich wie Konzertfilme musikalische Liveauftritte zum Gegenstand, jedoch dokumentieren sie zeitlich ausgedehnter auch den gesamten Ablauf einer Kon- zerttournee. Liveaufnahmen kommen oftmals nur am Rande und in selektiven Aus- schnitten vor. Dynamik und Bewegung sind darin nicht nur ein Element der eigentlichen Konzertauftritte, sondern bereits in der Struktur des Reisens angelegt. Der Tourfilm bedient in seiner dramaturgischen Form ein übergeordnetes Genre, nämlich das des Roadmovies. Geschriebene Roadmovies gibt es vermutlich seit Homers „Odyssee“. Eine andere Literatur, zweieinhalbtausend Jahre später, auf die sich viele Filmemacher stützen, ist die der Beatniks und besonders die des Jack Keruac. Sein Buch „On the Road“ ist das, wenn auch dem Jazz verbundene, doch den Rock´n`Roll puschende Buch einer Generation der Drifter. Ist es bei Keruac das ziellose Herumstreifen durch Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 51 die Staaten, so ist es bei Tourfilmen in der Regel doch der durch die vorfilmische Re- alität vorgegebene Verlauf einer im Vorfeld gebuchten Tournee, einer Band oder eines einzelnen Musikers. Allerdings stellt beispielweise der Film „Step across the boarder“ (1990) von Nicolas Humpert und Werner Penzel, der dem Musiker Fred Frith quer über den Globus scheinbar ohne festen Plan folgt und Musikerfreunde und das Spiel mit der Natur auf eine essayistische Weise porträtiert, eine seltenere Form des Musikers unterwegs dar. Einen Schub erhielt der Tourfilm – wie auch die gesamte dokumentarische Filmarbeit – in den 1960er Jahren durch die neuen technologischen Entwicklungen der tragba- ren 16mm-Kamera und der Möglichkeit, den Ton synchron aufzuzeichnen (Nagra). Wie bereits zuvor beschrieben, haben sich viele renommierte Filmemacher des Subgenres Musikdokumentarfilm bedient, um ihre musikalischen Vorlieben mit ihrer Profession, dem Filmemachen, verbinden zu können. So auch Jim Jarmusch bei seinem Film „Year of the Horse“ (1997) über eine Welttournee von Neil Young mit seiner Stammband Crazy Horse im Jahre 1996. Jarmusch verwebt in seinem Film Konzertaufnahmen der 1996er Tour mit Foundfootageaufnahmen früherer Touren in Backstage-Bereichen und Hotels. Ein weiteres strukturierendes Element des Films sind Gespräche mit den vier Bandmit- gliedern in einem undefinierbaren Raum (es könnte eine Küche sein, es könnte aber ebenfalls ein Backstage-Raum mit Waschmaschine sein). Er benutzt neben 16mm- Technik die Lofi-Ästhetik von Hi8 und Super8, um so der Rauheit und des Noise der Musik Neil Youngs nahe zu kommen. Wesentliche und immer wieder auftauchende Ele- mente bei Tourfilmen sind Interviews mit Fans, Fahrtbilder, Szenen in Bussen, Bahnen, Autos, Flugzeugen oder an Raststätten, Ein- und Auspacken von Instrumenten und Gepäck sowie Soundchecks. Vieles davon findet bei einem Konzertfilm (der lange Zeit nicht als künstlerischer Film betrachtet wurde) nicht statt und ist deshalb auch nicht zu sehen. Die dramaturgische Struktur richtet sich an der dramatischen Struktur des Ereig- nisses selbst aus. Es gibt einen klaren Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende. c. Produktionsprozess, Studiofilm Ähnlich dem Tour- und Konzertfilm erfüllen Filme über Herstellungsprozesse eine für den Dokumentarfilm ideale Vorgabe des dramaturgischen Ablaufes. Die Dreiaktstruktur ist bereits im Sujet angelegt. Herstellungsprozesse im Musikdokumentarfilm beschäftigen sich mit dem Bau von Instrumenten, öfters jedoch mit der Produktion eines Tonträgers (oder nur eines einzelnen Songs, wie bei Jean-Luc Godards „One Plus One“ (1968). Eine Band, ein/e Musiker/in geht ins Studio, um eine neue Platte aufzunehmen und diese anschließend zu promoten. Oftmals spielen hierbei die ökonomischen Bedingun- gen künstlerischer Arbeit eine große Rolle. Die Spannbreite ökonomischer Bedingun- gen einer Tonträgerproduktion ist durch die herausragenden Filme „On/Off The Record“ (2006) über die Entstehung der fünften Notwist-Studioproduktion und „Some Kind of Monster“ über die Entstehung der Metallica-Studioproduktion „St. Anger“ am besten zu verdeutlichen. Bei „On/Off The Record“ handelt es sich um einen Film von Jörg Adolph über die Aufnahmen der Gruppe Notwist zu ihrem 2002er Album „Neon Golden“. Adol- ph, wie auch Joe Berlinger und Bruce Sinofsky bei „Some Kind of Monster“, arbeiten im Direct Cinema-Verfahren, d.h. sie selbst führen keine Interviews mit den Protagonisten und versuchen generell auf zusätzliche Inszenierungen für die Kamera zu verzichten. Beide Filme passen sich dem Modus der jeweiligen Band auch in der Strukturierung 52 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 und Aufmachung der filmischen Erzählung an. So wird bei „Some kind of Monster“ zu Beginn des Films über Texttafeln in den bereits vorhandenen Megaerfolg der Band ein- geführt, um die Fallhöhe des Kommenden zu erhöhen. Im Laufe der Exposition, die den Film von hinten aufrollt (Journalisten wird das neue Album in einer Prelistening Session vorgeführt) gibt es auch einen rasanten Zusammenschnitt des Songs „Seek and Des- troy“ anhand einer chronologischen Reihung von Performances vom kleinen Club bis zum Megaevent vor Massenpublikum zu sehen. Das Filmen von Produktionsprozessen stellt auch gleichzeitig eine historische Dimensi- on dokumentarfilmerischen Schaffens dar. Egal, ob die Filme Erich Langjahrs über die Herstellung von Käse im schweizerischen Sennenland, die kleinen dokumentarischen Beiträge der Sendung mit der Maus nach dem Motto, „wie macht man denn eigent- lich...“, oder das Bauen eines Futtersilos in Klaus Wildenhahns „In der Fremde“ (1967), Arbeit und Handwerk, das Beobachten von Produktionsvorgängen war von Beginn der Filmgeschichte an ein wichtiges Sujet. Bei der Arbeit, bei einer Tätigkeit vergessen sich die Menschen; sie sind zu sehr auf ihr Tun fixiert, als das sie sich der Kamera bewusst werden könnten. d. Biopics, biographischer Musikdokumentarfilm Biopics sind sowohl fiktive wie auch dokumentarische Musikfilme, die das Leben be- kannter Sänger/innen oder Bands entwicklungs- und lebensgeschichtlich rekonstru- ieren. Obwohl der Filmstoff reale Grundlagen hat, ist er in eine fiktive Narration ein- gebunden. Biopics mit Spielfilmcharakter arbeiten mit Schauspielern und sind in ihrer thematischen Gestaltung relativ frei. Daher interessieren diese im Zusammenhang mit Musikdokumentarfilmen nur am Rande. Biographische Musikdokumentarfilme sind an einzelnen Sänger/innen und Bandge- schichten orientiert, sie haben eine auf die Musiker/innenbiographie orientierte Pers- pektive. Während in Einzeldarstellungen eine bestimmte Person und deren musikalische Entwicklung im Vordergrund stehen, sind es bei Bandbiographien die biographisch ver- bindenden Elemente mehrerer Lebensgeschichten. Als Quellen der Filmdarstellung die- nen Fotografien und Archivaufnahmen, die oftmals durch kontrastierende Interviews mit Familienangehörigen, Freunden und Bekannten sowie weiteren Weggefährten ergänzt werden. Die dokumentarische Rekonstruktion hängt im hohen Maße davon ab, ob die betrachtete/n Person/en noch leben oder nicht. Die Filmmusik ist sowohl als „innere“ wie „äußere“ Realität existent: Als „äußere“ Realität etwa bei historischen Liveaufnahmen, als „innere“ Realität zur klanglichen Untermalung, Spannungsbildung und als eigener Assoziationsraum, der oftmals auf das musikalische Werk der im Mittelpunkt stehen- den Musiker zurückgreift. Viele biographische Musikdokumentarfilme orientieren sich an bekannten traditionellen Erzählmustern von Lebensgeschichten („von der Wiege bis zur Bahre“), an Chronologien und an Erfolgsmustern des Auf- und Abstiegs. Oft werden der Innovationscharakter und damit die Biographiewürdigkeit herausgestellt. Erklärun- gen werden weniger visuell als sprachlich-diskursiv gegeben, das Filmbild übernimmt dann untergeordnete illustrative Funktionen. Zwei biographische Musikdokumentarfil- me mit unterschiedlichen Herangehensweisen zu ein und derselben Person finden sich etwa bei Lemmy von Motörhead, einmal porträtiert vom Hamburger Filmemacher Peter Sempel (2002), ein anderes Mal von Greg Olliver und Wes Orshoski (2011). Beide Filme Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 53 haben denselben Titel („Lemmy“), beide fokussieren das Musiker-Leben von Lemmy Kilmister, Gründer, Bassist und Sänger der Band Motörhead. Während jedoch der jün- gere Film mit viel Interview- und Archivmaterial einen klassischen biographischen Mu- sikdokumentarfilm repräsentiert, der das Informationsbedürfnis der Zuschauer bedient, arbeitet Peter Sempel eher visuell-assoziativ und zeigt Lemmy porträtierend in endlos erscheinenden Alltagssituationen, trinkend oder spielend, mal gereizt, mal verschlos- sen, jedoch ohne lineare oder kausale Erklärungen, ohne kontextuelle Informationen zu geben. e. Genrefilm (Musikkultur) Musikdokumentarische Genrefilme behandeln die Entstehungs- und Entwicklungs- geschichte von Musikkulturen. Sie rekonstruieren die Ursprünge und Ausbreitungen von Szenen und Kulturen und sind deshalb immer historisch ausgerichtet. Es handelt sich bei Genrefilmen gewissermaßen um eine Nabelschau. Neben Protagonisten und Gründungsfiguren tauchen weitere Musikexperten auf, die frühe Anfänge, Motive und Ursachen des Entstehens von Musikkulturen kraft Zeitzeugenschaft und eigener Akti- vitäten (v)erklären. Alle Genrefilme spielen mit einem Ursprungsmythos, der Kreativität, Dynamik, Idealismus und die Aura des Neuen und Unbekannten in einer Metanarration vereinigt. Meist handelt es sich um die Erfolgsgeschichte von früheren Subkulturen, die zum Zeitpunkt der Filmproduktion zumindest teilweise ein gewisses Renommee haben. Jedoch finden sich auch Darstellungen zu Subgenres oder Regionalkulturen größerer Musikkulturen, so etwa zum deutschen Hip Hop in „In the Lab – Der deutsche Hip Hop Dokumentarfilm“ (2009) von Engin Altinova, oder zum Thrash Metal als Spielart des Heavy Metal in „Get Thrashed – The Story of Thrash Metal“ (2008) von Rick Ernst. Umfassendere und allgemeine Dokumentationen zu den großen Jugend- und Musik- kulturen finden sich für den Heavy Metal in „Metal: A Headbangers Journey“ (2005) und „Global Metal“ (2008) als dessen globalisierte Fortsetzung von Sam Dunn, als Al- ternative „Heavy Metal: Louder than Life“ (2007) von Dick Carruthers. Der Punk wird relativ umfassend in „Punk Attitude“ (2007) von Don Letts behandelt. Techno-Kulturen sind das Thema der Genrefilme „We call it Techno“ (2008) von Maren Sextro und Holger Wick wie auch „The History of Electronic Music“ (2006) von Torsten Maasen und Arndt Pecher. Für den Hip Hop gibt es keinen aktuellen musikdokumentarischen Genrefilm, der global und allgemein das Phänomen betrachtet. Frühe semidokumentarische Filme wie „Wild Style“ (1982) von Charlie Ahearn, „Beat Street“ (1984) von Harry Belafonte sind frühe Formen der filmischen Darstellung, sie sind jedoch im engeren Sinne keine Musikdokumentarfilme, weil sie mit Bezug auf die außerfilmische Wirklichkeit arbeiten, in ihrem Darstellungsrahmen aber fiktional sind. Im Hip Hop gibt es vielmehr zahlreiche Einzeldarstellungen, oder – wie angedeutet – lokale Szenebetrachtungen wie „Here We Come“ (2007) von Nico Raschick zur Breakdance-Kultur in der ehemaligen DDR, der dokumentarisch angelegt ist. Für den Blues, der nicht als Jugendkultur gilt, liegt mit „The Blues: Collector‘s Box Edition“ (2004) von Martin Scorsese und anderen eine um- fassende Dokumentation vor. Genrefilme arbeiten vorwiegend mit Interviews, filmischen Archivaufnahmen und Foto- grafien. Die Musikentwicklung wird von ihren Wurzeln bis in die Gegenwart in Bild und Ton betrachtet, illustriert und systematisiert. Es handelt sich wie in vielen historischen Dokumentationen um medial komplexe Artefakte. Genrefilme diskursivieren ihren Ge- 54 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 genstand in Bild, Sprache und Musik und erheben hegemoniale Deutungsansprüche, die durch die Gestaltung der Filme und durch die hinzugezogenen Protagonisten ver- ankert wird. Systematisierungen in der musikdokumentarischen Rekonstruktion sind an einem chronologischen Zeit- und Themenstrahl orientiert. So rekonstruiert Sam Dunns „Metal“ (2005), eine für einen Musikdokumentarfilm ungewöhnlich große und aufwen- dige Produktion, alle relevanten Aspekte des Heavy Metal, wie sich den einzelnen Ka- piteln entnehmen lässt: So beginnt der Film mit den Ursprüngen des Heavy Metal, geht auf Sound und die musikalischen Wurzeln ein, behandelt das Umfeld, die Fans, Kul- tur, Zensur, Geschlechtsidentifikation und Sexualität, Religion und Satanismus sowie schließlich Tod und Gewalt. Damit sind sämtliche Themen, die den Heavy Metal als Musikkultur wie auch die gegen ihn erhobenen Vorurteile betreffen, verarbeitet. f. Ethnographischer Film Der ethnographische Musikdokumentarfilm beschäftigt sich mit dem kulturellen Umfeld von Musikkulturen im weitesten Sinne und weist daher Ähnlichkeiten mit dem Genrefilm auf. Musik steht nicht zwingend im Vordergrund und spielt oftmals nur am Rande eine Rolle, jedoch sind Musikkulturen sein Gegenstand. Der regionale und lokale Bezugs- rahmen wie im chinesischen Punk- und Rockdokumentarfilm „Bejing Bubbles“ (2008) von Susanne Messmer und George Lindt ist stark ausgeprägt oder steht im Mittelpunkt der Betrachtung. „Bejing Bubbles“ beschreibt den subkulturellen Kampf um Anerken- nung chinesischer Punk- und Rockanhänger und die Bedeutung dieser Musikkultur für die Jugend.61 Im ethnographischen Musikdokumentarfilm geht es so weniger um die historische Aufarbeitung von Musikkulturen als um deren spezifische Ausprägungen in einem örtlich begrenzten Kontext. Schon der Titel „Global Metal“ (2008) von Sam Dunn deutet den ethnographischen Anspruch dieses Films an. Sam Dunn reist nach seinem musikhistorischen Genrefilm „Metal: A Headbangers Journey“ in verschiedene Länder wie China, Indien, Brasilien, Israel u. a., um den Einfluss des Heavy Metal auf die regio- nalen und lokalen Jugendkulturen zu zeigen. Einen weiteren ethnographischen Blick auf die Musikkultur des Heavy Metal wirft etwa der von der südkoreanischen Regisseurin Sung Hyung Cho produzierte Film „Full Metal Village“ (2006) über das lokale, mittler- weile überregional bekannte Metal-Festival in Wacken. Dieses spielt allerdings nur am Rande eine Rolle, vielmehr stehen die Bewohner des kleinen norddeutschen Dorfes und ihre Befindlichkeiten, Einstellungen und auch Aktivitäten rund um dieses Musikspekta- kel im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. An diesem Beispiel verdeutlicht sich exempla- risch, was der interkulturelle Austausch, der „verfremdende Blick“ der Ethnographie in seiner filmischen Konkretion zu leisten in der Lage ist. Ein ähnlich orientierter ethnogra- phischer Heavy Metal-Film behandelt das lokale Vertriebsunternehmen Nuklear Blast Records, den größten unabhängigen Anbieter von Heavy Metal-Produkten, im schwä- bischen Donzdorf: „Heavy Metal auf dem Lande“ (2006) von Andreas Geiger zeigt das Miteinander von dörflicher Idylle und globalisierter Heavy Metal-Szene. Eine Musikdokumentation zwischen Tourfilm und ethnographischem Film stellt „Vaga- bundenkarawane“ (1979) von Werner Penzel dar. In dichten und mit wenig Sprache auskommenden Filmbildern wird die musikalische Reise der Krautrock-Band „Embryo“ von München nach Indien gezeigt. Auf ihrem Weg begegneten ihnen unterschiedliche 61 Lano, Carolin: Beijing Bubbles. In: Rock and Pop in the Movies 1, 2011. Online unter: http://www.rockpopmovies. de (zuletzt abgerufen am 10.10.2011). Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 55 lokale Musikkulturen, mit deren Musikern sie lange spirituelle Musiksessions abhielten, die in psychedelischen Bildern festgehalten werden. Der Film macht aber gleichzeitig auch die Strapazen und Schwierigkeiten der Reise deutlich. Nicht mit einem kulturellen Kontrast, sondern mit einer nationalen Lokalisierung ver- schiedener Klangwelten arbeitet der ethnographische Musikdokumentarfilm „UR-Mu- sig“ (1993) von Cyrill Schläpfer. Hier werden die musikalischen Wurzeln von Volksmusik der Innerschweiz sowie des Appenzellerlandes gezeigt. Natur, Klang, Mensch und Tier werden dabei in einen harmonischen Einklang gebracht. g. Fanfilm Der Fanfilm ist ein Musikdokumentarfilm über Fans im musikalischen Kontext. Die Mu- sik spielt nur am Rande eine Rolle, im Zentrum stehen vielmehr die Anhänger von Mu- sikkulturen oder das weitere Umfeld. Filmmusik ist kein zwingendes Element des Fan- films. Ein Klassiker (und von Nirvana-Sänger Kurt Cobain hochgeschätzter) Fanfilm mit nur 17 Minuten Laufzeit ist „Heavy Metal Parking Lot“ (1986) von Jeff Krulik und John Hayne. In diesem kurzen Fanfilm werden die Zuschauer eines Judas Priest-Konzerts kurz vor Beginn der Show auf einem Parkplatz des Veranstaltungsortes interviewt. Der Reiz dieses Films besteht in der Selbstinszenierung der teilweise recht angetrunkenen Fans vor der Kamera, die stellenweise die Regie übernehmen und sich vor der Kame- ra auf ihre Art und Weise stilisieren. Der Film zeigt aber auch die Selbstironie, die im Ausflippen der Heavy Metal-Fans gleichsam mitschwingt. Musikalisch unterlegt wird „Heavy Metal Parking Lot“ mit Titeln der Band Judas Priest, die am Ende kurz in ihrem Live-Auftritt gezeigt wird. Weitere, als Fanfilme zu bezeichnende Musikdokumentationen sind „Vinyl“ (2000) von Alan Zweig und „Groupies“ (1970) von Ron Dorfman und Peter Nevard. In „Vinyl“ spielt Musik nur als Aufnahme auf einer LP eine Rolle. Es geht nicht um die Musik selber, son- dern um die Manie des LP-Sammelns und was Sammler/innen im Innersten bewegt. Porträtiert werden Fans und ihre Marotte, riesige LP-Sammlungen aufzubauen. „Grou- pies“ dagegen ist ein früher Fanfilm über zumeist weibliche Obsessionen. „Groupies“ behandelt das Thema weibliche Fans, denen es um nichts anderes geht, als ihre Mu- sikidole ins Bett zu bekommen. Als Lifestyle des Rock gehören sie zum festen Ensem- ble im Tourbus und im Backstage-Bereich. Der Film zeigt und interviewt so berühmte Groupies wie Cynthia Plaster Caster. Ausblick Weitere dokumentarfilmische Idealtypen ließen sich bilden. So haben wir den Essay- film, der einen offenen, freien und in seinem Zugang zur nichtfilmischen Wirklichkeit ungewöhnlichen Umgang mit dem Thema Musikkulturen sucht, nicht behandelt. Eben- so wenig haben wir den Bereich der Mockumentarys und Pseudo-Dokumentationen untersucht, der mit dem Darstellungsformat Dokumentarfilm lediglich spielt und diesen in seiner Form aufbricht. Auch ließe sich möglicherweise von einem Idealtyp des Inst- rumentenfilms sprechen. Alle hier getroffenen Unterscheidungen stellen erste Versuche dar, der Hybridität des Musikdokumentarfilms gerecht zu werden und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 56 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Musikdokumentarfilme sind ein heterogenes Subgenre der Gattung Dokumentarfilm und Musikfilm, für das sich aufgrund seiner inneren Vielfältigkeit, aber auch aufgrund seiner vom fiktiven Film differenten Darstellungsformen eine genauere Auseinanderset- zung lohnt, auch wenn die Grenzziehungen nicht immer scharf getroffen werden und überdies im historischen Verlauf variieren können. Musik und ihre Kulturen stehen im Mittelpunkt. Der Reiz des Musikdokumentarfilms ist die Herstellung einer Beziehung zwischen Bild und Ton, ohne den außerfilmischen Bezug aus dem Auge zu verlieren. Das Motiv der Bewegung und Dynamik scheint hier ein verbindendes strukturelles Moment zu sein. Anders als im Musik(spiel)film, ist der Musikdokumentarfilm an eine nichtfilmi- sche (behauptete) Wirklichkeit referentiell gebunden, die auf der anderen Seite vom Zu- schauer als solche erkannt oder zumindest akzeptiert wird. Damit gewähren Musikdo- kumentarfilme „authentische“ und „reale“ Einblicke in Bereiche von Musikkulturen, die ansonsten unsichtbar blieben. Sie befriedigen voyeuristische Bedürfnisse von Fans und suggerieren, „live“ dabei zu sein und an Musikkulturen teilzuhaben. Das beobachtende Element von Entstehungs- und Entwicklungsprozessen spielt eine tragende Rolle. Dies schließt jedoch fiktionalisierende Eingriffe hin zur Abstraktion nicht aus. Während im Musik(spiel)film der fiktive narrative Plot um einen Star (verkörpert wiederum durch ei- nen weiteren Star, den Schaupielstar), einer „Lichtgestalt“ mit einer dramatischen Story, im Mittelpunkt steht,62 setzt sich der Musikdokumentarfilm den Widrigkeiten, Unvorher- sehbarkeiten und Diskontinuitäten realer Prozesse aus. In historischen Darstellungsfor- men werden dem Zuschauer komplexe mediale Rekonstruktionsversuche geboten, die auf Archivmaterial, Interviews, Fotografien und anderen realen Devotionalien beruhen. Damit erfüllen Musikdokumentarfilme vor allem sozialkommunikative und informative Aufgaben, ohne jedoch das ästhetisch-gestaltende Element zu vernachlässigen. Das Element der Teilhabe, Realbeobachtung und teilhabenden Integration des Zuschauers (suture) scheint gegenüber dem Musik(spiel)film ein wichtiges Unterscheidungsmerk- mal zu sein. Die Differenzierung verschiedener Formate des Musikdokumentarfilms konnte zeigen, dass eine sinnvolle Unterscheidung zwischen Musikfilm und Musikdokumentarfilm möglich ist. Unbenommen der theoretischen Auseinandersetzungen und Zweifel am Status dokumentarfilmischer Bilder, scheinen diese in kulturellen Rezeptionskontexten als Kommunikationsform zu funktionieren; dies lässt sich aufgrund der immensen Pro- duktionsvielfalt musikdokumentarischer Filme zumindest vermuten. Vor allem aufgrund seines anders gearteten Herangehens und der damit einhergehenden Filmästhetik scheint eine derartige Unterscheidung hilfreich, um Musikdokumentationen aus dem Bereich des allzu allgemein gefassten Genres Musikfilm zu entlassen und in den Be- reich des Dokumentarfilms zu überführen. Zu unterschiedlich erscheinen hier etwa do- kumentarische Live-Aufnahmen von durchdramaturgisierten Musikfilmen. Damit lassen sich die hier diskutierten Unterscheidungen in einem erweiterten Kontext in die derzeit intensiv geführten Auseinandersetzungen um den Dokumentarfilm verorten. Die kurze Darstellung einer Theorie des Dokumentarischen konnte zeigen, dass die kommunika- tiven Ausgangsbedingungen von Musikdokumentarfilm und Musikfilm sowie deren Re- zeption gänzlich andere sind. Was allgemein für Dokumentarfilme gilt, gilt insbesondere auch für Musikdokumentarfilme. Deswegen und aufgrund einer wachsenden Vielfalt 62 Frank Pawella: Lichtgestalt und tragischer Held. Inszenierungen und Ikonographien des Popstars im Musikfilm. Saarbrücken 2008. Heinze/Schoch: Musikfilme im dokumentarischen Format 57 musikdokumentarischer Themenfelder scheint uns eine weitere Differenzierung für die mediale Diskussion musikdokumentarischer Formate angezeigt. Literaturverzeichnis Klaus Arriens: Wahrheit und Wirklichkeit im Film. Philosophie des Dokumentarfilms. Würzburg 1999. 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King at Sing Sing Prison (2008) Beat Street (1984) Bejing Bubbles (2008) Control (2007) Death Metal: A Documentary (2004) Der Blaue Engel (1930) Devil Got My Woman Blues At Newport (1966) Der Wilde (1953) Die Saat der Gewalt (1955) …denn sie wissen nicht, was sie tun (1955) Don’t Look Back (1967) Full Metal Village (2006) 58 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Get Thrashed: The Story of Thrash Metal (2008) Gimme Shelter (1970) Global Metal (2008) Great Balls of Fire (1989) Groupies (1970) Heavy Metal auf dem Lande (2006) Heavy Metal: Louder Than Life (2006) Heavy Metal Parking Lot (1986) Here We Come (2007) I’m Not There (2007) In der Fremde (1967) In the Lab – Der deutsche Hip Hop Dokumentarfilm (2009) Jerry Lee Lewis – The Story of Rock‘n Roll (2003) Johnny Cash: At Folsom Prison (1968) Joy Division (2007) Lemmy (2002) Lemmy (2011) Metal: A Headbangers Journey (2005) MC5: Kick Out the Jams (2005) Moonwalker (1987) Monterey Pop (1968) One Plus One (1968) On/Off The Record (2006) Punk Attitude (2007) Richard Wagner. Ein kinematographischer Beitrag zu seinem Lebensbild (1913) Slide Guitar Ride (2005) Some Kind of Monster Step across the boarder (1990) St. Louis Blues (1929) Such Hounds, Such Hawks: Scenes From The American Hard Rock Underground (2009) The Blues: Collector‘s Box Edition (2004) The History of Electronic Music (2006) The Cramps: Live at Napa State Mental Hospital (2003) The Jazz Singer (1927) This is Spinal Tap (1984) Thrash in Altenessen (1989) Until The Lights Takes Us (2008) UR-Musig (1993) Vagabundenkarawane (1979) Vinyl (2000) Walk the Line (2005) We Call It Techno (2008) Wild Style (1982) Woodstock (1970) Year of the Horse (1997) Musiksendungen Beat-Club (1965-1972). Disco (1971-1982) Formel Eins (1983-1987) Hitparade (1969-2000) Musikladen (1972-1984) Top of the Pops (BBC) (1964-2006) Onlinequellen www.plexifilm.com. (7.6.2011). www.filmmusik.uni-kiel.de/index.php) (7.6.2011). www.youtube.com/watch?v=JpVCqXRlXx4. (7.6.2011). www.redhotjazz.com/stlouisblues.html. (7.6.2011). www.rockpopmovies.de (10.10.2011) Thomas Wilke „Come on, good Hutus, the graves are not yet full ...“ Zur Relevanz, Funktion und Repräsentation des Hate-Radios im Film „Hotel Rwanda“ 1. Einleitung Die Zahlen schwanken: Je nach Quelle gab es zwischen 800.000 und knapp einer Mil- lion toter Menschen in Rwanda in rund 100 Tagen: Angehörige der Tutsi-Minderheit: Männer, Frauen, Kinder und auch liberale Hutu.1 Das war das Resultat des gnadenlosen Vorgehens der militanten extremistischen Hutu-Milizen, bewaffneter Zivilisten und der Rwandischen Armee zwischen dem 7. April und Mitte Juli 1994 nach dem tödlichen Attentat auf Rwandas Präsident Juvénal Habyarimana. Eine westliche Intervention gab es aufgrund fehlender Interessen und Definitionsproblemen kaum bis gar nicht. Zudem hatte die seit 1993 stationierte, viel zu kleine und schlecht ausgerüstete UN- Truppe lediglich ein Mandat zur Friedenssicherung nach der Unterzeichnung des Frie- densabkommens in Arusha im August, und nicht zur Herstellung des Friedens oder zur Konflikt-Unterbindung.2 Die USA sahen den Gewaltausbruch als einen spontanen, tribalistischen und ethnischen Konflikt, nicht als eine geplante politische Stategie der Machtsicherung und sprachen letztlich von „Akten von Genozid“ – ein Genozid hätte nach der Genfer Konvention eine Intervention erfordert.3 Eine nicht unwesentliche Rolle spielte im Vorfeld und Verlauf des Geschehens in Rwan- da das Radio, insbesondere ab 1993 der private und regierungsnahe Hutu-Sender Radiotelevision Libré de Milles Collines (RTLM). Der Internationale Strafgerichtshof für Rwanda (ICTR) befand 2003 in der Aufarbeitung und Verurteilung des Geschehens unter anderem zwei Hörfunk-Journalisten und einen Print-Journalisten wegen Anstiftung zum Völkermord für schuldig.4 Damit machte das Gericht aus juristischer Sicht die medialen Effekte in Rwanda und der weitreichenden Auswirkungen von Medien deutlich, insbe- sondere über die möglichen Gefahren privater Medien in Prozessen demokratischer Übergänge und der potentiellen Gewalt durch Medien. Nicht nur in diesem Kontext, sondern auch durch die internationale Beschäftigung mit dem Zusammenhang Radio und Rwanda formulierte Scott Straus prägnant: „In short, radio has become a symbol 1 Die korrekte Schreibweise auf Kinyarwanda beinhaltet eigentlich Präfixe und lautet Umututsi/Umuhutu im Singular und Abatutsi/Abahutu im Plural. Diese bezeichnen einen Wirklichkeitsbereich und eine Zugehörigkeit, hier der Mensch. Im Folgenden wird die in der Literatur gängige Form Hutu und Tutsi verwendet. 2 Einige Soldaten kammen tatsächlich erst im Dezember in Rwanda an. Vgl. zusammenfassend Des Forges, Alison: Call to Genozide: Radio in Rwanda, 1994. In: Thompson, Allan: The Media and the Rwanda Genocide. London 2007, S. 41-54, hier: S. 43 f., ausführlich Prunier, Gérard 1998: Rwanda Crisis. History of a Genocide. 3 Einen kurzen, dafür luziden Überblick über die Entwicklung des Konflikts in Rwanda aus der Perspektive der Kolonialgeschichte gibt mit weiterführender Literatur Stockhammer, Robert: Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben. Frankfurt a. Main, S. 10-28. Zur Kolonialgeschichte Rwandas selbst vgl. Hans-Walter Schmuhl: Deutsche Kolonialgeschichte und Ethnogenese in Ruanda 1897-1916. In: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 307-334. Zur politisch-militärischen Situation Rwandas Anfang der 1990er Jahre und zu den Vorbedingungen, den Verlauf und den Auswirkungen des Völkermords vgl. die strukturierte Darstellung von Alison Des Forges: Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda. Hamburg 2002. 4 Vgl. hierzu die Akten des ICTR zur Anklage und Verurteilung von Ferdinand Nahimana: International Criminal Tribunal for Rwanda (ITCR) 2003: Trial Chamber 1. The Prosecutor v. Ferdinand Nahimana, Jean Bosco Barayagwiza, Hassan Ngeze. http://www1.umn.edu/humanrts/instree/ICTR/BARAYAGWIZA_ICTR-99-52/Judgment_&_Sentence_ ICTR-99-52-T.pdf. 60 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 of the genocide in Rwanda, and Rwanda has become a paradigmatic case of hate radio sparking genocide.“5 Der folgende Artikel problematisiert nun die Rolle des Radios in dem Spielfilm „Hotel Rwanda“ von 2004. Der Film basiert auf der wahren Geschichte des rwandischen Ho- telmanagers Paul Rusesabagina, der als Hutu während des Genozids über 1.200 Men- schen rettete. Mit der Konzentration auf die Hauptdarsteller in der filmischen Darstellung entsteht ein Spannungsfeld durch den Anspruch auf Authentizität der Geschichte und gleichzeitiger Ausschnitthaftigkeit und Dramatisierung der repräsentativen Darstellung. Damit reklamiert der Film für sich eine Zeugenschaft, die in der Art und Weise seiner Darstellung und Popularisierung zur Konstitution medialer Gedächtnisinhalte beiträgt. Das stellt ein spezifisches Erinnern bzw. einen medialen Zugang zu einer möglichen (kollektiven) Erinnerung über das Medium Film dar. Die Untersuchung von Radioreprä- sentation vor dem Hintergrund der (rundfunk-)historischen Gegebenheiten erfolgt zu- gleich mit einer Differenzierung zwischen dem Radio als medialem „Brandbeschleuni- ger“ des Genozids in Rwanda und der Integration des Radios im Film. Es geht hierbei also nicht darum, den Wahrheitsgehalt des Films respektive der Narrationen festzu- stellen, sondern um das Zusammenspiel von Radio und filmischer Narration vor dem Hintergrund eines medialen Gedächtnistransfers. Dieser Fokus gestattet es, Schluss- folgerungen zu einer filmischen Transformation des Radios zu formulieren und versteht sich so als ein Beitrag des interdisziplinären Forschungsverbundes Radioästhetik – Ra- dioidentität.6 Hierzu sind einige Vorbemerkungen notwendig: Im Folgenden geht es um das Radio und verschiedene manifeste Funktionalitäten. Diese resultieren aus dessen technischer, sozialer, kultureller und letztlich ästhetischer Konstitution bzw. Nutzung (Wahrnehmung): Information (Orientierung), Unterhaltung, Selbstverwirklichung, kollek- tive und individuelle Erinnerung, Lebenshilfe oder Mobilitätsbegleitung.7 Die in fiktiona- len Filmen eingebundene Darstellung von Medien oder Medienwirkungen thematisiert oftmals ein Spannungsfeld zwischen Körperlichkeit, Surrogaten und medialen Simu- 5 Straus, Scott 2007: What Is the Relationship between Hate Radio and Violence? Rethinking Rwanda's „Radio Machete“ In: Politics & Society. Online unter: http://pas.sagepub.com/cgi/content/abstract/35/4/609, hier: 610. (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012). In dieser empirischen Studie geht es um die medialen Effekte von RTLM zur Mobilisierung von Gewalt während des Genozids in Rwanda. Zum Zusammenhang von Massenmedien in Konfliktsituationen, medialer Koordination und staatlich gesponserter Propaganda vgl. Yanagizawa-Drott, David 2012: Propaganda and Conflict: Evidence from the Rwandan Genocide. Online unter http://www.hks.harvard.edu/fs/dyanagi/Research/ RwandaDYD.pdf. (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012) Zu den Bedingungen, unter denen Massenmedien in ihrer Bedeutung und Auswirkung so stark werden, dass sie ihre Zuhörerschaft mobilisieren können vgl. Pauli, Carol: Killing the microphone. When Broadcast freedom should yield to genocide prevention. In: Alabama Law Review, 2010,Vol. 61, Nr. 4, S. 665-700. Online unter http://www.law.ua.edu/pubs/lrarticles/Volume%2061/Issue%204/ pauli.pdf. (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012) Eine medien- und emotionshistorische Analyse der Gewaltformen und Eskalationsdynamiken von und durch RTLM unternimmt Karen Krüger: Programmierter Genozid? Das Radio und die mediale Erzeugung von Angst in Rwanda 1994. In: Bösch, Frank (Hrsg.) 2006: Medien und Emotion. Frankfurt/ Main: Campus, S. 387-406. Zur Problematisierung einer möglichen technisch-medialen Intervention durch die Abschaltung von RTLM findet sich bei Metzl, Jamie Frederic: Rwandan Genocide and the international law of radio jamming. In: The American Journal of international Law, 1997, Vol. 91, Nr.4, S. 628-651. Online unter http:// www.jstor.org/stable/2998097 (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012). Eine Einschätzung aus der Sicht eines als UN- Truppenkommandeur ins Geschehen involvierten Beobachters gibt Dallaire, Roméo: Shake Hands with the Devil. The Failure of Humanity in Rwanda. Toronto, 2003. 6 Vgl. hierzu http://radioaesthetics.org. Das Projekt verfolgt im Allgemeinen das Ziel, ein besseres und umfassenderes Verständnis von Radio als Ausdruck und Gestaltungskraft von (Alltags-) Kultur zu ermöglichen. 7 Mit der Integration in den Alltag kann Radio auch als eine mediale Form der kulturellen Vergemeinschaftung begriffen werden, die sich im Aneignungsprozess und im habitualisierten Gebrauch zwischen Institution und Nutzung immer wieder modifiziert. Diese allgemeinen Setzungen, die wiederum zu Voraussetzungen des Radios im Film werden, sind in der historischen Entwicklung, der Diffusion und dem Gebrauch des Radios bereits umfangreich beschrieben. Vgl. etwa Hagen, Wolfgang: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA. München, 2005. Sowie Scannell, Paddy: Radio, Television, Modern Life. Cornwall, 1996. Wilke: „Come on, good Hutus, the graves are not yet full ...“ 61 lationen. Das lässt sich – so die These – als eine reflektierte Integration von Medien und von jeweiligem Wissen über Medien betrachten. Medien bilden in der ästhetischen Kommunikation soziale Prozesse ab, die sie gleichzeitig hervorbringen, verstärken und deren wichtigstes Forum sie sind, zumindest in medial verfassten Gesellschaften. Da- mit erscheint Radio im Film doppelt kodiert, indem es einerseits außerfilmische Funk- tionen aufweist und andererseits ein stilistisches, dramaturgisches oder narratives Ele- ment innerhalb der filmischen Konstruktion darstellt. Filme, in denen Radio vorkommt, werden damit zu einer historisierenden Quelle für die Präsenz von Radioidentitäten im Film. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass das Radio als aufsteigendes Medium im 20. Jahrhundert mit seinen Wirkungsgraden, Identitätsangeboten und Funktionalitäten im Film beobachtbar wird.8 Für den Prozess der Filmrezeption wird angenommen, dass das Radio die filmische Realität nicht phänomenal irritieren darf und vom Rezipienten erkannt, zugeordnet, kontextualisiert und verstanden werden muss. Das Radio gehört in einem solchen Verständnis zum (medialen) Handlungshorizont der Protagonisten und zum (medialen) Verstehenshorizont der Rezipienten. Das führt zu weiteren Annahmen, die in der Analyse verifiziert werden sollen: Erstens gibt die Art und Weise der Ver- wendung von Radio im Film Aufschluss darüber, wie der mediale Gebrauch von Radio jeweils reflektiert wird. Zweitens unterliegt die Verwendung von Radio im Film dem me- dientheoretischen Remediation-Ansatz und kann so als eine mediale Doppelcodierung verstanden werden. Drittens bietet der Film damit die Möglichkeit (unter Berücksichti- gung der medialen Eigenlogik des Films), über das Selbstverständnis des Mediums im Medium zu reflektieren. Diese Überlegungen können keinesfalls Gegenstand einer ausschließlich filmästheti- schen Analyse sein, sondern die Analyse fokussiert sehr viel stärker filmische und au- ßerfilmische Kontexte.9 Anhand von „Hotel Rwanda“ soll dies nun verifiziert werden.10 Deshalb wird im Folgenden der Film kurz vorgestellt, im Anschluss das Vorkommen und die Verwendung des Radios analysiert und schließlich mit der tatsächlichen Rolle des Radios verglichen. 2. Der Film „Hotel Rwanda“ Der mehrfach ausgezeichnete und oscarnominierte Film „Hotel Rwanda“ (USA, GB, I, Südafrika, 2004; Regie: Terry George) erzählt die wahre Geschichte des Hotelmanagers und Hutu Paul Rusesabagina (Don Cheadle) im Hotel Mille Collines in Kigali, das der belgischen Fluggesellschaft Sabena gehört. Dieser übernimmt die Hotelleitung, nach- 8 Die Verwendung des Radios insbesondere im fiktionalen Film ist ganz offensichtlich und scheinbar unhinterfragt selbstverständlich. So ist das Radio in den unterschiedlichsten Filmen bereits in den 30er Jahren integriert, beispielsweise in Buster Keatons Grand Slam Opera von 1936, und zieht sich als mannigfaltiger filmischer Gegenstand bis in die Gegenwart. 9 Zum theoretischen und methodischen Zuschnitt eines solchen Vorgehens vgl. Trültzsch, Sascha: Kontextualisierte Medieninhaltsanalyse. Mit einem Beispiel zum Frauenbild in DDR-Familienserien. Wiesbaden, 2009. 10 „Hotel Rwanda“ sticht aufgrund seiner Popularität deutlich heraus, daneben stieg die Zahl der Filme, die sich mit dem Genozid beschäftigen, in den letzten Jahren an: „Shake hands with the devil“, USA 2007, Regie: Roger Spottiswoode, in dem es um den UNO-Truppen General Romeo Dallaire und seinen aus der gleichnamigen Buchveröffentlichung basierenden Erlebnissen geht. Die französische Produktion „Le jour où Dieu est parti en voyage“ von 2009, Regie: Philippe Van Leuwe, thematisiert die Flucht und das Überleben einer Tutsi-Frau, die während des Genozids ihre beiden Kinder verlor. In beiden Filmen kommt das Radio nicht vor, da die filmische Perspektive auf das persönliche Handeln fokussiert ist und dokumentarische Elemente hat. Ebenso sind noch „Shooting Dogs“ von 2005, GB, D Regie: Michael Caton-Jones, und „Sometimes in April“ von 2005, USA, GB, 2005 Regie: Raoul Peck, zu erwähnen. Eine vergleichende Analyse wird hier aus Platzgründen nicht vorgenommen. 62 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 dem der europäische Manager aufgrund der wachsenden Unruhen das Land verlässt. Nach dem Attentat auf Präsident Habyarimana am 6. April 1994 eskalieren die Ausein- andersetzungen. Bewaffnete Zivilisten und Hutu-Milizen der Interahamwe, der militan- ten Organisation der Regierungspartei MRND (Mouvement républicain national pour la démocratie et le dévelopement), errichten Straßensperren, durchkämmen Kigali und tö- ten gezielt Tutsi. Pauls Ehefrau Tatiana (Sophie Okonedo) ist eine Tutsi und damit eben- so wie Paul als liberal eingestellter Hutu gefährdet.11 Paul kann mit großem Aufwand seine Familie und Nachbarn retten und in das Hotel bringen. Dort sieht er sich vor akute Probleme gestellt: Die UN-Truppen evakuieren alle Ausländer, den vermeintlich letzten Schutz nach außen, Hutu-Milizen und bewaffnete extreme Hutus bedrohen durch ihre martialische Präsenz immer wieder das Hotel. Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab, die Trinkwasserzufuhr wird unterbrochen. Paul sorgt dafür, dass 1268 Flüchtlinge, die er in den 113 Gästezimmern und anderen Räumen des Hotels untergebracht hat, gerettet werden. Das gelingt letztlich in einem zweiten Anlauf, nachdem der erste von einem Hu- tu-Hotelangestellten an den Rundfunk verraten wurde. Alle Flüchtlinge werden schließ- lich mit Hilfe der UN unter der Leitung von Colonel Oliver (Nick Nolte) hinter die nahende Frontlinie zwischen der RPF (Rwandian Patriotique Front), den Milizen der Interahamwe und der Ruandischen Armee in ein Flüchtlingslager gebracht. 3. Das Radio in Rwanda Radiogeräte waren in Rwanda, einer von interpersonalen Formen oraler Kommunikation geprägten Gesellschaft, weit verbreitet, da sie vor allem auch in ländlichen Gegenden einen primären Zugang zu Informationen und Unterhaltung darstellten. Radio war Teil der Alltagskultur, da es zudem „die dreifache Barriere von Analphabetismus, geographi- scher Entfernung und fehlender Transportmöglichkeiten“12 überwand. Die rwandische Führung begann kostenlos Radiogeräte zu verteilen, 1991 verfügten 29 Prozent aller Haushalte über ein Radiogerät.13 Radio Television de Milles Collines (RTLM) wurde von nationalistischen Hutu gegründet und sendete seit dem 8. Juli 1993.14 Es ist wichtig zu wissen, dass RTLM zwar relativ schnell der populärste Sender im Land wurde und sowohl Hutu als auch Tutsi inklusive der RPF diesen hörten. Gleichzeitig betrieb jedoch die RPF von Kigali aus eine eigene lokale Station, Radio Muhabura, und neben Radio Rwanda waren ebenso internationale Sender wie BBC, RFI, Deutsche Welle und VoA zu empfangen. 1973 gegründet, war Radio Rwanda bis 1993 der offizielle und konkur- 11 Hasan Ngeze gab zwischen 1990 und 1995 die Zeitschrift Kangura, einem militanten Hutu-Blatt, auf Französisch und Kinyarwanda heraus und veröffentlichte dort im Dezember 1990 unter dem Titel Appeal tot he conscience of the Hutu die sogenannten zehn Gebote der Hutu. Das waren prägnante rassistische Äußerungen gegen die Tutsi. Bereits das "erste Gebot" machte die rassistische Abgrenzung deutlich: Da alle Tutsi-Frauen im Dienste ihrer Ethnie arbeiten würden, seien alle Hutu-Männer Verräter, die eine Tutsi heiraten würden, als Geliebte hätten oder sie in anderer Art und Weise protegieren würden. Vgl. ICTR 2003: S. 45 f. sowie Kaganda, Marcel: Kangura: the Triumph of Propaganda Refined. In: Thompson 2007: The Media and the Rwanda Genocide. London, 2007, S. 62-72. 12 Krüger 2006: S. 394. 13 Das ist ein Anstieg um 10,4 Prozent gegenüber 1978. 1991 differenzierte sich der Radiogerätebesitz in 27,1 Prozent der Haushalte in ländlichen Gebieten und 57, 9 Prozent der städtischen Haushalte. Zahlen zit. n. Krüger 2006: S. 395. 14 Vgl. zur medialen Situation in Rwanda ausführlich Chrétien, Jean-Pierre o. J.: Le génocide du Rwanda. In: Memorial de la Shoah. Online unter: http://www.memorialdelashoah.org/upload/medias/fr/A1_seltextes_157_chr_tien. pdf (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012), zu einer basalen Analyse der Bedeutung des Radios Kellow, Christine L., Steeves, Leslie: The Role of Radio in the Rwandan Genocide. Online unter: http://ics-www.leeds.ac.uk/papers/pmt/ exhibits/2192/Rwandaradio.pdf (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012), aktuell unter Einbezug der Printmedien, der internationalen journalistischen Beobachtung und der Verantwortung der Medien sowie der Rezeptionsgeschichte Thompson, Allan: The Media and the Rwanda Genocide. London, 2007. Wilke: „Come on, good Hutus, the graves are not yet full ...“ 63 renzlose staatseigene Radiosender, dem es nach dem Friedensabkommen von Arusha untersagt war, weitere Hasspropaganda zu verbreiten. Am 3. März 1992 sendete näm- lich Radio Rwanda ein Communiqué einer Menschenrechtsgruppe aus Nairobi, dass im Süden der Hauptstadt Kigali unmittelbar ein Überfall auf Hutu stattfände. Die Beamten vor Ort bestanden aufgrund der Radioansagen darauf, dass sich die Hutu bewaffnen und präventiv verteidigen sollten. Angeführt von Soldaten einer nahen Militärbasis und Interahamwe-Mitgliedern wurden mehrere hundert Tutsi attackiert und getötet.15 Dies veranlasste den Kreis um Präsident Habyarimana im April 1993, RTLM als privaten Radiosender zu installieren, der eine ungezwungene, lockere und junge Alternative zum offiziellen Sprachrohr der Regierung darstellen sollte. RTLM spielte populäre zaïri- sche Musik, Journalisten interviewten die Leute auf der Straße zu aktuellen Themen und über Call-Ins beteiligte sich die Öffentlichkeit an Radiosendungen.16 Karen Krüger bezeichnete die dem Sprachgebrauch der Bevölkerung angepassten Sendungen als „Kaffeehausgespräch, in dem beiläufig über Politik und das Tagesgeschehen geplau- dert wurde“.17 Zur wichtigsten Zielgruppe von RTLM gehörten arbeitslose Jugendliche und die Interahamwe Miliz. Nach dem Start von RTLM gab Radio Rwanda zugunsten von RTLM mehr und mehr eigene Frequenzen auf, RTLM trat an die Stelle von Radio Rwanda. Die Stellung des Senders schätzte Roméo Dallaire, der Kommandeur der UN- Truppen in Rwanda, folgendermaßen ein: „In Rwanda the radio was akin to the voice of God, and if the radio called for violence, many Rwandans would respond, believing they were being sanctioned to commit these actions.“18 4. Die Repräsentation des Radios in Hotel Rwanda Zusammenfassend kann vorausgeschickt werden, dass das Radio ein markanter Be- standteil ist, der bei „Hotel Rwanda“ vergleichsweise implizit verhandelt wird. Das Ra- dio kommt im Sinne einer relativen Häufigkeit insgesamt an neun Stellen direkt vor, in der absoluten Häufigkeit sind es bei einer Gesamtfilmlänge von knapp 118 Minuten insgesamt neun Minuten und 22 Sekunden. Der Einsatz des Radios im Film ist nicht willkürlich, sondern intentional. Die Radiobeiträge werden im Folgenden auf Englisch wiedergegeben, da die deutsche Synchronisation nicht nur in der inhaltlichen Überset- zung abweicht, sondern sprachlich andere Radiovorstellungen bedient, worauf später zum Teil noch eingegangen wird. Zudem ist Englisch neben Kinyarwanda und Franzö- sisch die dritte Amtssprache in Rwanda. Zu Beginn hört man über den Vorspann des Verleihs hinweg aus dem Off akustisch eine Radiosendersuche, die eine zeitliche Einordnung gestattet, indem eine amerikanische Radiosprecherin über die besorgniserregende Lage in Sarajevo und die Position Bill Clintons berichtet. Nach verschiedenen hörbaren Senderfetzen, die sich über eine ana- loge Wellensuche ergeben und verschiedenste internationale Sender nebeneinander stellt, verharrt die Sendersuche schließlich bei einem englischsprechenden Radiomo- 15 Jean-Pierre Chrétien hierzu: ”Le ton du message, sa répétition tout au long de la journée, constituent á un appel evident á la violence.” Chrétien, Jean-Pierre et al. 1995: Rwanda. Les medias du Génocide. Karthala. S. 56. Vgl. im Weiteren Des Forges 2007: S. 42 f. sowie der Installation und Rolle von Ferdinand Nahimana: Chrétien 1995: 61 f. Zusammenfassend: Krüger 2006: S. 395. 16 Einen kurzen Höreindruck von RTLM bekommt man untertitelt unter: Rwandan Genocide Project: http://www. youtube.com/watch?v=GeVa6U9yLCc 17 Krüger 2006: S. 397 f. 18 Dallaire 2003: S. 273. 64 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 derator, der auf eine rhetorische Frage antwortet: „When people ask me, good listeners, ‚Why do I hate all the Tutsi?‘, I say, ‚Read our history‘. The Tutsi were collaborators for the Belgian Colonists. They stole our Hutu land, they whipped us. Now they have come back, these Tutsi rebels. They are cockroaches. They are murderers. Rwanda is our Hutu land. We are the majority. They are a minority of traitors and invaders. We will squash the infestation. We will wipe out the RPF rebels. This is RTLM. Hutu power ra- dio. Stay alert. Watch your neighbours.“ Mit dieser radiophonen Einleitung in den Film wird über das Medium das Grundgerüst des Konflikts grob schraffiert, und zwar aus der propagandistischen Hutu-Perspektive und einer scheinbar alltäglichen Radiosituation heraus. Der Sachverhalt wird vom Moderator emotional unaufgeregt, eher nebensäch- lich und alltäglich angesprochen und erläutert. Die relevanten Positionen des Konflikts stehen in dieser kurzen Moderation ohne eine argumentative Begründung nebenein- ander und sind stereotyp verschlagwortet: die historische Herleitung des Konflikts, die Erhebung der Tutsi als Minderheit über die Hutu durch die belgischen Kolonialisten, die Verächtlichmachung als Kakerlake und deren nur natürliche Bekämpfung, die Dif- famierung als Mörder, die Gleichsetzung aller Tutsi mit der RPF, die Verbindung von RTLM und Hutu Power quasi als Station-ID und die potentielle Gefährlichkeit von Tutsi- Nachbarn. Sprachlich geht der Moderator von einer Ich-Position aus und wechselt in eine Die-anderen-und-Wir-Dichotomie über. Nach der Überblendung aus dem Schwarz des Vorspanns, die von einer weiteren Sendersuche begleitet wird, ist zeitgenössische populäre afrikanische Musik zu hören (Yvonne Chaka Chaka – Umqombothi, 1987). Diese begleitet Alltagsszenen in Kigali 1994 – dichter Verkehr auf den Straßen, Militari- sierung, Fahrzeugkontrollen durch bewaffnete Posten – scheinbar nondiegetisch. Erst in der Überblendung auf den Hauptprotagonisten Paul und seinen Fahrer Dube, der das Lied mitsingt, wird die Musik diegetisch und eine Verbindung zum vorher Gehörten her- gestellt, ohne dass dies allerdings zu einem Thema gemacht wird. Das zuvor Gehörte bleibt unwidersprochen und bekommt so ohne Kontextualisierung faktische Qualitäten. Der Wechsel der Musik vom Nondiegetischen zum Diegetischen ist unüberhörbar, da der Song erst in Studioqualität zu hören ist, dem Alltagsgeräusche beigefügt werden und schließlich im Auto ein typischer Autoradio-Sound zu hören ist, der sich dem Dia- log der beiden Insassen unterordnet und nicht mehr das Geschehen prägt. Der Song Umqombothi wird zu einem Radiosong. Nur wenig später fährt Paul erneut mit dem Auto und hört Radio mit einer Nachricht des Moderators (00:08:05): „This is RTLM Hutu power radio. I have a message for our pre- sident. Beware, do not trust the Tutsi rebels. Do not shake the hand that will stab you. They will trick you ...“ An dieser Stelle schaltet er entnervt weg und sucht einen neuen Sender, den er auch ohne längeres Suchen findet und in dem eine Frauenstimme ohne Sender-ID direkt anknüpft „... from Kigali, where tension is high as the deadline for the UN brokered Peace Agreement approaches.“ Das Radioprogramm wird so zu einem Narrativ, das die Zusammenhänge über die scheinbar kontingent-instantanen Nach- richtenfragmente nachvollziehbar und kohärent erscheinen lässt. Es wird zudem eine Senderpluralität im Land vorgestellt, die eine Berichterstattung aus Rwanda für eine in- teressierte Weltöffentlichkeit unterstellt respektive eine Beobachtung von außen auf das Geschehen in Rwanda miterzählt. Paul fährt schließlich am Abend des Attentats nach Hause und empfängt keinen Radiosender mehr im Auto, ein Schweigen im Äther macht sich breit, das von einer unheilvollen, nondiegetisch verwendeten disharmonischen Mu- Wilke: „Come on, good Hutus, the graves are not yet full ...“ 65 sik gerahmt wird, die sich zudem in eine Chaos vorbereitende, aufgelöste und zugleich unbestimmte Atmosphäre einpasst. Vom Attentat auf den Präsidenten erfahren Paul und seine Familie am nächsten Morgen zu Hause aus dem Radio. Die Nachricht wird medial vermittelt, es erfolgt hier eine Distanz durch eine vermeintlich mediale Aufbe- reitung des Ereignisses. Zugleich zeigt die im Bild sichtbare kollektive Rezeption die Ratlosigkeit von Paul und seiner Familie. Es ist wieder die gleiche Moderatorenstimme zu hören, die Paul bereits im Auto weggedreht hat, es muss sich demnach um RTLM handeln, ohne dass dies explizit gesagt wird (00:21:56): „Listen to me, good people of Rwanda, terrible news, horrible news. Our great president is murdered by the Tutsi cockroaches. They tricked him to sign their phony Peace Agreement.Then they shot his plane from the sky. It is time to clear the brush, good Hutus of Rwanda. We must cut the tall trees. Cut the tall trees now! Let us go to work, loyal Hutus. Find these traitors. Set up roadblocks.“ Screenshot „Hotel Rwanda“, Verkündung des Attentats auf den Präsidenten Die Stimme des Moderators wechselt vom Bedauern über das Attentat hin zu Wut und diabolischer Aggressivität, die langgezogen und apodiktisch agitiert. Paul hört mit der Aufforderung „We must cut the tall trees“ die Losung für den Beginn des Krie- ges, die ihm sein Cousin am Abend zuvor noch mitteilte und auf die er mit Unglauben und Beschwichtigung reagierte. Diese Losung insinuiert einen organisierten Erstschlag, dessen Anlass das Attentat auf den Präsidenten war. Zugleich unterstellt sie eine Co- dierung nach westlicher Vorstellung, die allerdings durch die bereits zu hörende Radio- propaganda konterkariert wird und eher lächerlich wirkt.19 „Let us go to work“ ist ein Euphemismus und tatsächlich benutzter Terminus für das Töten der Tutsi gewesen.20 Es findet sich hier im Weiteren über das Radio auch die Aufforderung, Straßensperren zu errichten, damit kein Tutsi entkäme. Deutlich wird neben den durch das Radio initiierten, 19 Aus den Transkriptionen von RTLM für den Vormittag des 7. April 1994 ist eine solche Form der Agitation nicht erkennbar, vielmehr Ratlosigkeit der Moderatoren und das Wissen, in eine schwierige Zeit zu steuern, in der der unbekannte Attentäter auf den Präsidenten der größte Feind ist. Erst am Nachmittag, nach dem Verlesen der Regierungserklärung und der Benennung neuer Minister durch den neuen Präsidenten Théodore Sindikubwabo, sowie der Beileids- und Loyalitätserklärung des Präsidenten der Liberalen Partei, Justin Mugenzi, wird der Ton durch Noel Hitimana und Georges Ruggiu deutlich schärfer und richtet sich gegen Inyenzi und Inkotanyi. 20 Aus der Anklageschrift des ICTR gegen Georges Ruggiu wird unter den konstatierten Radiowirkungen als erste folgende aufgeführt: „The media broadcast messages from the government to the population to ,go and work' sending the interahamwe militia to local areas to kill the Tutsis and incite the local people to kill their Tutsi neighbours.“ International Criminal Tribunal for Rwanda (ITCR): The Prosecutor oft he Tribunal against Georges Henri Yvon Joseph Ruggiu. Amanded Indictment. Case No: ICTR-97-32-I. Tanzania, 1998. Online unter: http://www.unictr.org/Portals/0/Ca se%5CEnglish%5CRuggiu%5Cindictment%5Cindex.pdf, hier S. 11 (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012) 66 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 jedoch nicht weiter gezeigten Anschlusshandlungen, die kollektive Radiorezeption und die Hilflosigkeit gegenüber den medial vermittelten Informationen. Eine weitere Form der kollektiven Radiorezeption findet sich wenig später im Hotel Mil- les Collines, als Paul in die Küche kommt und die Belegschaft vor einem Radio versam- melt ist und demselben Moderator nahezu erstarrt zuhört (00:37:43): „... and stop the Tutsi cockroaches who try to run from justice. The Tutsi cockroach judge, called the Makesa, is hiding at 4 Rue de Verdun ... And the traitor Kabulla and his cockroaches ...“ Screenshot „Hotel Rwanda“: Küchenpersonal beim Radio hören Diese Radiosequenz wird durch Pauls Aufforderung, das Radio auszuschalten und wie- der an die Arbeit zu gehen, unterbrochen. Gleichwohl ist dies eine wichtige Sequenz, da sie die Praxis von RTLM, Namen und Adressen von Tutsi im Radio bekannt zu geben, ohne weiteren Kommentar einführt. Nachdem die UN-Truppen alle Ausländer evakuiert haben und das Hotel scheinbar schutzlos ist, hören Paul und weitere Familienangehörige im Hotel einen Radio-Dialog eines offensichtlich amerikanischen Senders ohne weitere Identifikationen (01:04:03): „...Does the State Departement have a view as to whether or not what is happening could be a genocide? – We have every reason to believe that acts of genocide have occurred. – How many acts of genocide does it take to make genocide? – Alan, that’s just not a question that I’m in a position to answer. – Is it true that you have a specific guidance not to use the word ‚genocide‘ in isolation, but always to preface it with this word ‚acts of‘? Ahem, I have guidance which I try ... try to use as best as I can. Äh, I have ... There are formulations that we are using, that we are trying to be consistent in our use of ...‘ Dieser Dialog hat tatsächlich am 28. April 1994 stattgefunden, und zwar zwischen dem amerikanischen Journalisten Alan Elsner und der Pressesprecherin des Auswärtigen Amtes, Christine Shelley. Ihr semantischer Drahtseilakt und der Dialog bleiben hier unkommentiert als Teil eines Radioprogrammes und werden lediglich in zusammengeschnittenen Versatzstücken, die nicht dem tatsächlichen Verlauf entspre- Wilke: „Come on, good Hutus, the graves are not yet full ...“ 67 chen, integriert.21 Die nonverbale Reaktion des im Bild erscheinenden Hörers ist das Ausschalten des Radios ob des Gestammels von Christine Shelley, eine weitere Reak- tion unterbleibt und so wird ungesagt deutlich, dass eine Intervention seitens der USA oder der UN unmöglich wird. Eine für die filmische Narration elementare Radiopassage leitet das letzte Drittel des Films ein: Der erste Rettungsversuch der im Hotel befindlichen Tutsis durch die vor Ort befindlichen UN-Truppen wird durch einen Hutu-Hotelangestellten verraten. Pauls Familie ist mit auf dem Lastwagen, er entschied sich im letzten Moment, im Hotel zu bleiben und zweifelt nun, ob die Entscheidung richtig war. Screenshot „Hotel Rwanda“: Mitglieder der Interahamwe hören am Straßenrand Radio Der Verrat wird bildlich nur angedeutet und wiederum medial vermittelt, indem die rele- vanten Informationen über das Radio gesendet werden (01:26:00): „I say those Hutus who shelter the cockroaches are the same as cockroaches. They are all the same. Their fate should be the same. This is RTLM. The Tutsi cockroaches of the rebel army must be denied recruits. Come on, good Hutus, the graves are not yet full. Who will help us fill them? (...) Stand by your radios. I am hearing some urgent news. (...) latest news brothers. We have received reports of very important cockroaches and traitors trying to escape from the Mille Collines hotel. Gather up your weapon, stand by your radios, we will keep you informed. They are being smuggled away by United Nations ... (...) News has come to us that we have cowards in our own army who will not let us punish them. I am receiving more news, good Hutus. I have learnt that the traitor Rusesabagina’s cockroaches are on a truck. 10.000 Francs for their heads!“ Diese Se- quenz ist nicht durchgehend, sondern umfasst, von Pausen unterbrochen, vier Minuten und 15 Sekunden. Sie ist eine Parallelmontage zwischen den UN-Trucks und den im 21 VGl. hierzu Elsner, Alan: Excerpt from Atlantic Monthly, Sept. 2001. Online unter: http://www.alanelsner.com/ articles/rwanda.html. (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012) Interessanterweise kommt der gleiche Dialog sowohl in Shooting Dogs als auch in Sometimes in April vor, in Letzterem ungeschnitten und so vollständig. Zu der Einordnung des Genozids seitens der US-Regierung vgl. das Action Memorandum vom 20. Mai 1994 unter Issues for Decision: “Wether (1) to authorize Department officials to state publicity that „acts of genocide have occurred“ in Rwanda and (2) to authorize U.S. delegations to international meetings to agree to resolutions and other instruments that refer to ‘acts of genocide’ in Rwanda, state that ‘genocide has occurred’ there or contain other comparable formulations." United States Department of State: Action Memorandum: Has Genocide occurred in Rwanda? 20.05.1994. Online unter: http://www2.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB53/rw052194.pdf (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012) Weitere Dokumente dazu unter Ferroggiaro William 2001: Evidence of Inaction. A National Security Archive Briefing Book. In: The National Security Archive. Online unter: http://www2.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB53/press.html (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012) 68 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Hotel Verbliebenen. Dabei ergibt sich ein Spannungsaufbau aus dem Aufbruch vom Hotel, der Radiobegleitung, dem Verrat über Funk an das Radio, dem Rettungsversuch durch Paul über das Telefon sowie dem Stopp des Konvois und der Rettung durch die Miliz, die schließlich gegen die militanten Hutus vorgeht und den Konvoi rettet. In dieser Sequenz kommt es auch zum einzigen Kommentar in Bezug auf das Radio im ganzen Film durch Colonel Oliver: „That goddamn radio station.“ Dadurch wird offenbar, dass er das Radio auch hört, ebenso wie die sich am Straßenrand versammelnden Hutu und Mitglieder der Interahamwe. Die Form der Radiobegleitung, die ohne Musik ist, mutet einer Liveberichterstattung an, sie umschließt zudem den gesamten filmischen Raum, da keine Radiogeräte zu sehen sind, das Geschehen aber gleichsam auf das Radio re- agiert. Die Radiobegleitung produziert außerdem Kausalitäten, die bei näherer Betrach- tung widersprüchlich erscheinen: So wie in Echtzeit der Moderator über den Konvoi berichtet, rettet Paul quasi ebenfalls in Echtzeit den Konvoi durch sein Einwirken auf General Bizimunga und dessen Intervention. Diese wird ebenfalls live im Radio kom- mentiert. Das Aussetzen eines Kopfgeldes hingegen lässt einerseits eine nicht weiter geklärte persönliche Motivation des Moderators vermuten und bewirkt andererseits ein Herausstellen der einzelnen Person. Eine letzte kurze Radiopassage (01:33:20) berichtet schließlich zusammenfassend über den Exodus der Hutus aus den Gebieten, die durch die RPF-Rebellenarmee erobert wurden: „In Rwanda, humanitarian agencies report, that a rapid advance by the Tutsi Rebel army has sparked a mass evacuation of Hutu refugees towards to Congo. One aid worker described it as the largest refugee exodus in modern history.” Mit dieser Ein- schätzung wird nichts weiter über das Geschehen im Land berichtet, im Gegenteil, es verkürzt und reduziert zugunsten der Hauptaufmerksamkeit auf die Protagonisten des Hotels, denn durch den Vormarsch der RPF ist ein zweiter Rettungsversuch schließlich erfolgreich. Über den Filmverlauf wird hinsichtlich der Moderatorenstimme Folgendes beobacht- und hörbar: Zu Beginn führt ein männlicher Moderator in einem freundlich-bestimmten Ton in das Geschehen ein. Das Gesagte steht allerdings in einem Gegensatz zu der Art und Weise, wie es gesagt wird. Der Ton ändert sich im Verlauf, schon die nächste Ansage, die Warnung an den Präsidenten, erscheint als eine zwar ruhige, aber direkte Ansage, die verschwörerisch auf Zukünftiges verweist. In der nächsten Radiosequenz wird die Nachricht vom Tod des Präsidenten bekannt gegeben und zugleich das Signal für die Hutu, gegen die Tutsi vorzugehen. Die darauffolgende Radiosequenz enthält ver- störende, nichtidentifizierbare Signale und erreicht so einen Tiefpunkt: Aus dem Äther kommen weder Information noch Musik, eine Zäsur findet statt. Die darauffolgenden drei Radioeinsätze gehorchen einer Klimax: Erst werden Namen und Adressen bekannt gegeben, dann werden Tutsi-Frauen diffamiert und als Sexualobjekt der männlichen Hutu-Willkür freigegeben.22 Schließlich erfolgt der radiodramatische Höhepunkt des Konvoi-Verrats in Form der Liveberichterstattung. So steigert sich die namenlose Mo- deratorenstimme von RTLM, bis sie letztlich haßerfüllt, diabolisch und überprononciert die Tiraden in den Äther schleudert und gehorcht so einer Dramaturgie, die sich in die 22 Das wurde in die obige Beschreibung nicht mit aufgenommen, diese kurze Sequenz aus dem Off, die bildlich das Gesagte illustriert, ist allerdings ein Baustein im Gesamtbild des Hass-Radios (01:08:24): „Remember how those Tutsi women used to look down their long noses. ... I said taste these Tutsi whores before they die. Let them know what Hutu power is, my warriors. Think about it ...“ Wilke: „Come on, good Hutus, the graves are not yet full ...“ 69 Dramaturgie des Filmes einpasst.23 In einem Überblick ergibt sich folgende Integration innerhalb des filmischen Ablaufs: 1 00:00:23-00:01:35 Programmansage RTLM 2 00:08:06-00:08:27 Nachricht an den Präsidenten RTLM, Senderwechsel VoA 3 00:17:03-00:17:37 Unverständliches, opakes Autoradio 4 00:21:56-00:22:37 Tod von Habyarimana, Startsignal, RTLM 5 00:37:42-00:38:01 Küchenpersonal hört Namen und Adressen, RTLM 6 01:04:03-01:04:38 Christine Shelley, Act of Genocide vs. Genocide 7 01:08:03-01:08:32 Tutsi-Frauendiffamierung, RTLM 8 01:26:01-01:31:17 Verrat des Konvois, RTLM 9 01:33:20-01:33:35 Situation im Land, international, nicht identifiziert Tab. 1: Radiopräsenz im Filmverlauf 5. Kontexte und medientheoretische Verortung des Radioeinsatzes Auch wenn die absolute Zeit des Radioeinsatzes im Film überschaubar ist, nutzt der Film ganz elementar das Radio, um einerseits eine immersive Beziehung zum histori- schen Geschehen 1994 herzustellen sowie zu rahmen und um andererseits die filmische Narration zu beschleunigen und zu dramatisieren. Diese Beziehung entsteht durch die Nennung der Senderidentität RTLM, durch die Radioübertragung der Pressekonferenz des State Departements vom 28. April, durch die tatsächlich stattgefundene Nennung von Tutsi-Namen und Adressen. Gleichzeitig wird noch in der Exposition des Films die Radionutzung als Erklärungsangebot und Propagandainstrument wahrgenommen, doch stark vereinfachend relativiert. Paul und Dube kaufen zu Beginn bei dem Hutu- Großhändler George Rutagunda Bier für das Hotel ein, beim Einpacken fällt eine Kiste Macheten vom Gabelstapler, die George, der Paul für die Hutu-Sache gewinnen will, günstig aus China bekam. Im Anschluss entspinnt sich zwischen Paul und Dube im Auto folgender Dialog (00:04:48): „George Rutagunda is a bad man. I’ve heard him on the radio telling the Hutus to kill all the Tutsis. – Rutagunda and his people, they are fools. Their time is over soon. Anyway, this is business.“ Diese Sequenz ist aus mehre- ren Gründen aufschlussreich. Der bestehende Konflikt wird sehr stark vereinfacht und schematisiert, im Sinne eines „es sind halt böse Menschen“. Eine Aussage, dass die Hutus alle Tutsis töten, schien im Radio sendefähig zu sein. Paul ignoriert dies insoweit, als dass er sie einfach als Verrückte bezeichnet, deren Zeit bald vorüber sei – warum er dieser Auffassung ist, sagt er nicht.24 Ausserdem wird nicht gesagt, dass die als Groß- händler und Nationalist eingeführte Figur George Rutagunda zugleich eine historische 23 Dass das namenlose Moderieren eher unüblich war, zeigt Darryl Li ebenfalls mit einer Auswertung von RTLM- Sendemanuskripten vom 29. Mai 1994: “During an interview at a roadblock, a man once told Kantano that he and his colleagues had killed five inyenzi. After encouraging them to ,keep it up', Kantano asked: ,When testing if people like a radio station, you ask the following question: who are the speakers of that radio whom you know? Who are the RTLM speakers you know? ... If you do not know them that means that you do not like this radio'”. Li, Darryl: Echoes of Violence. Considerations on Radio and Genocide. In: Thompson, Allan: The Media and the Rwanda Genocide. London, 2007, S. 90-109, hier: S. 99. 24 In der deutschen Synchronisation werden George und seine Leute als „Schwachköpfe“ bezeichnet, was einer pejorativen Abwertung gleichkommt, die eine souveräne und konsequente Handlungsfähigkeit mit einem reflektierten Gewaltpotential per se ausschließt. 70 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 ist, nämlich der zweite Vizepräsident der Interahamwe-Milizen.25 Aus Pauls Sicht ist der Konflikt noch nicht so groß, als dass er das Geschäftliche dominieren könnte. Es besteht also kein Grund zur Sorge. Diese naiv anmutende Haltung und das Ausblenden eines seit 1959 latent schwelenden Konflikts werden weiter gestützt durch die im Film wahrnehmbare kritiklose Akzeptanz des im Radio Gehörten. An keiner Stelle erfolgt eine Distanzierung oder Relativierung, einzig der UN-Colonel schimpft im Zuge des Verrates auf die „goddamn radio station“. Dabei wird der situative Bezug stärker wahr- genommen, als dass die Aussage eine grundsätzliche Kritik darstellen würde – hier- für fehlen die Bezüge. Ein hieraus abzuleitender Nebenaspekt besteht in einer subtilen Feststellung: Der zivilisierte, massenmedial sozialisierte Weiße kennt die Mechanismen und Wirkungen von Massenmedien.26 Er kann diese auch aufgrund seiner ethnischen, sozialen und kulturellen Distanz reflektieren, der rwandische Radiorezipient erliegt dem Medium. Dieser holzschnittartigen Zuspitzung ist hinzuzufügen, dass die politische Führung um Präsident Habyarimana sehr gut um die propagandistische Wirkung des Radios seit 1992 wußte. Hieran schließt sich aktuell die empirische Fallstudie von David Yanagizawa-Drott an, die, von einem simplen Modell ethnischer Gewalt und Propa- ganda ausgehend, differenzierte Radio-Effekte während des Genozids insbesondere in ländlichen Gegenden untersucht. Dabei – so die Resultate – kam es zu sogenannten Spillover-Effekten, indem die Teilnahme an organisierter Gewalt in Dörfern höher ist, wenn die Einwohner in den umgebenden Dörfern eine gute Radioversorgung und damit auch eine auf Dauer gestellte Rezeption haben. Yanagizawa-Drott kommt im Weiteren aufgrund der erhobenen statistischen Daten zur Rundfunkabdeckung in Rwanda zu dem Ergebnis, dass „the empirical results show that the scale of propaganda appears to be important for more organized and coordinated forms of collective violence. (...) To- gether, these factors jointly caused RTLM broadcasts to increase levels of violence du- ring the Rwandan Genocide. The counterfactual estimates suggest that approximately 10 percent of the participation in the genocidal violence was due to the radio station’s broadcasts, and that almost one-third of the violence by militias, communal police, gen- darmerie and other organizations was caused by the same station.”27 Der Film aktiviert durch die Radiomoderationen aus dem Off sprachlich und inhaltlich bestimmte stereotype radiophone Darstellungen des Konflikts: Wachsamkeit gegenüber Nachbarn, diffamierendes Klassifizieren und Egalisierung von Tutsi und Mitgliedern der RPF, existentielle und permanente Bedrohung durch diese, so dass eine Gegenwehr letztlich präventiv das eigene Töten abwehrt, eine aufgeladene Sexualisierung, verein- nahmender und kollektivierender Gestus, die Relativierung des gewaltsamen Tötens sowie das Herausstellen einer historisch erfahrenen Ungerechtigkeit. Diese referieren auf tatsächliche Propaganda von RTLM in dieser Zeit. Mary Kimani nahm in ihrer Stu- die von 2007 eine umfangreiche Themenspektrum- und Contentanalyse von RTLM vor, 25 Vgl. Tribunal pénal international pour le Rwanda: Le Compte a rebours. 01.08.2002. (TPIR) Online unter: http:// www.crisisgroup.org/~/media/Files/africa/central-africa/rwanda/French%20translations/The%20International%20 Criminal%20Tribunal%20for%20Rwanda%20The%20Countdown%20French.pdf. S. 2 (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012) 26 Eine diese Vermutung stützende Beobachtung (00:12:56): Ein zur Beobachtung des Friedensabkommens im Hotel angekommener Kameramann fragt zwei an der Bar sitzende Frauen nach ihrer „Ethnie“– eine ist Hutu und eine ist Tutsi – und macht, ohne eine signifikante Unterscheidung festzustellen, schließlich der Tutsi-Frau ein Angebot für den Abend. In der Folge versucht er diese gegen Bestechung zu retten, was misslingt. Hier entspricht die filmische Narration der gängigen Hutu-Propaganda, indem unter anderem General Dallaire und die belgischen Soldaten der Verführungskraft der Tutsi-Frauen erlagen. Vgl. hierzu die Karikaturen der Zeitschrift Kangura in Geocide Archive. Online unter: http://www.genocidearchiverwanda.org.rw/index.php/Category:Kangura (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012) sowie Chrétien 1995. 27 Yanagizawa-Drott 2012: S. 27. Wilke: „Come on, good Hutus, the graves are not yet full ...“ 71 in der sie die transkribierten Manuskripte von RTLM kategorisierte, quantifizierte und anschließend auswertete.28 Dabei stellte sich heraus, dass das häufigste Sendeformat von RTLM der Monolog war (66,29 Prozent), gefolgt vom Interview (18,9 Prozent), was den Höreindruck der im Film verwendeten Radiopassagen stärkt. Die von zehn nament- lich erfassten und am häufigsten zu hörenden Moderatoren waren Kantano Habimana (33,51 Prozent), Valérie Bemeriki (16,88 Prozent), Gaspar Gahigi (14,72) und Ananie Nkurunziza (10,65 Prozent). Georges Ruggiu, ein mit extremen Hutu-Nationalisten sym- pathisierender belgischer Journalist, moderierte lediglich auf Französisch und hat im Gegensatz zu seinem Bekanntheitsgrad lediglich einen Anteil von knapp acht Prozent.29 Hinsichtlich des Framings von RTLM im untersuchten Sample zeigen sich aufschluss- reiche Ergebnisse: Kimani differenziert insgesamt 21 Unterkategorien aufrührerischen Contents. An erster Stelle (16,32 Prozent, i.e. 294 Nennungen) stehen Gräueltaten der Rwandian Patriotic Army, dem bewaffneten Flügel der RPF, gefolgt von Ermunterun- gen und Aufforderungen an Hutu, Tutsi zu bekämpfen und zu töten (13,99 Prozent, i.e. 252 Nennungen).30 Dem schließen sich direkte Aufrufe für die Ausrottung (9,16 Prozent) sowie Behauptungen an, dass die RPA die Macht im Land übernehmen und die Hutu- Mehrheit kontrollieren respektive unterwerfen wolle. Insgesamt macht Kimany lediglich 13,21 Prozent nicht-aufrührerischen Inhalts aus. Screenshot „Hotel Rwanda“: Chaos auf den Straßen Kigalis – Militante Hutu mit Radio und Machete In einer hier noch erwähnenswerten Kategorie wertet Kimani differenziert Warnungen und Direktiven aus, wonach mit einer Häufigkeit von 49,2 Prozent zur Vorsicht vor RPF, 28 Kimani, Mary: RTLM: The Medium that became a Medium for Mass Murder. In: Thompson, Allan: The Media and the Rwanda Genocide. London, 2007, S. 110-124. Die Datenbasis umfasste 99 Tapes mit variierender Länge: von 60 Minuten bis zu mehreren Stunden. Hinzu kam noch eine CD-Rom vom ICTR mit mehreren hundert Sendemanuskripten anderer Sender. Insgesamt umfasst das Datensample 72 Transkripte von RTLM in einer Länge von einer bis drei Stunden. Kimani 2007: S. 113 f. Eine umfangreiche Sammlung der transkribierten Sendungen von RTLM, Radio Rwanda und Radio Muhabura findet sich online auf der Seite des Montréal Institute for Genocide and Human Right Studies unter http://migs.concordia.ca/links/RwandaRadioTranscripts.htm. (zuletzt abgerufen am: 10.09.2012) In Daten, Umfang und Sprachen etwas abweichend aber ebenfalls umfangreich: Rwanda Files. 29 Carla de Ponte, die Chefanklägerin des ICTR über Georges Ruggiu: „Il est Européen, il n’est pas Hutu, il n’est pas Rwandais. (...) Vous vous rendez compte quel impact publicitaire, quel impact de notoriété, le fait qu’un journaliste européen passe le message qu’on a entendu?” Zit. n. Krüger 2006: S. 397. Zur Rolle von Ruggiu im Radio und seinem Verhältnis zu Ferdinand Nahimana und Valerie Bemeriki vgl. ICTR 2003: S. 176-179. 30 Karen Krüger differenziert nach einer Auswertung der Manuskripte die Gräuel-Behauptungen in insgesamt vier Kategorien: Massaker und Verstümmelungen mit Todesfolge, Blasphemie bzw. Schändung sakraler Orte; die Wiedereinführung der Feudalherrschaft sowie Kannibalismus. Krüger, Karen 2003: Worte der Gewalt: Das Radio und der kollektive Blutrausch in Rwanda 1994. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (10), S. 923–939, hier: S. 931. 72 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 RPA, Inkotanyi, Inyenzi und Tutsi gewarnt wurde.31 Das sind für das Sample 762 konkre- te Nennungen. Mitglieder der RPA zu verletzen oder zu töten, tritt mit einer Häufigkeit von 9,62 Prozent (149 Nennungen) auf, im Weiteren Personen, die als Helfer von Inyen- zi, dem kinyarwandsichen Ausdruck für Kakerlake, identifiziert wurden (5,75 Prozent), Inyenzi bzw. Tutsi direkt zu töten 3,55 Prozent.32 Vor dem Hintergrund der empirischen Zahlen zeigt sich, dass im Film auf einer inhaltlichen Ebene ausschnitthaft Elemente des Radioalltags reinszeniert werden. Der Film vereinfacht zugleich, indem immer wieder nur ein und dieselbe Moderatorenstimme zu hören ist. Damit gelingen eine eindeutige Zuordnung sowie die Abgrenzung zu internationalen Radioprogrammfragmenten über die Sprachebene. Hier schließen soziolinguistische Fragen an, die den Gehalt an Vari- anz, Dialekt, Soziolekt und Vergemeinschaftung integrieren.33 Das Radio wird im Film bis auf den Anfang nicht zum Musik hören genutzt und gerät so als Alltagsgegenstand nur komplementär ins Bild. Durch die vordergründige Wahrnehmung des Radios als In- formationsangebot, das zu Lasten der Unterhaltungsfunktion geht, kommt ein anderer Aspekt zum Tragen: Auch Tutsi hörten RTLM, um zu erfahren, ob sie, Nachbarn oder Familienangehörige gefährdet waren. 6. Fazit Der Zugang zum Geschehen in Rwanda 1994 bleibt allein über eine faktische Aneig- nung durch die Forschungsliteratur schwierig. Da der Westen bereits zum Zeitpunkt des Geschehens nur punktuell darauf reagierte, nicht nur, weil es geographisch weit weg und gesellschaftlich komplex war, sondern weil auch in Europa die Auseinander- setzungen in Jugoslawien zu der Zeit sehr viel näher einer politischen Begründung des Ausblendens Vorschub leisteten, ist auch das Erinnern oder die Präsenz des Genozids für den Westen nur eine Marginalie. Hier können fiktionale Filme Funktionen des kom- munikativen und kulturellen Gedächtnisses übernehmen, indem sie die Geschichte als ein zu behandelndes Objekt betrachten, das erzählbar wird. Aufgrund der Nähe zu den historischen Ereignissen ergibt sich ein Ausbalancieren zwischen der Inszenierung, der Authentifizierung durch Zeitzeugen und den wissenschaftlichen Forschungen. Die Re- levanz des Films wird unter anderem durch die Auszeichnungen markiert und verstärkt. Durch die Inszenierung des Geschehens und dem Berufen auf wahre Begebenheiten reklamiert der Film eine Zeugenschaft, die ihn als Speichermedium zum Archivar einer rezenten Vergangenheit macht.34 Der Film kann dabei durch die mediale Eigenlogik auf einen hohen Verdichtungsgrad und Emotionalisierung verweisen, inwieweit sich hier jedoch rationale Auseinandersetzungen anschließen, die mehr als nur die stimulierte emotionale Erregung reflektieren, bleibt offen. Für das Radio im Film heißt das in diesem Fall: Remediatisierungen helfen dabei, Kontextualisierungen herbei zu führen, ohne dass dies problematisiert werden muss. Das Vertrauen in eine mediale Vermittlung des Geschehens ist grundsätzlich größer als die Bereitschaft zu zweifeln, wenn die Narrati- on faktisch widerspruchsfrei und mit entsprechenden Belegstellen kohärent erscheint. 31 Zu den medialen Anstiftungen und Direktiven durch RTLM vgl. Des Forges 2007: S. 48-50. 32 Vgl. hierzu mit konkreten Beispielen im Rahmen der durch das Radio initiierten Razzien Krüger 2003: S. 935-937. 33 Eine solche hier nicht zu leistende Perspektivierung umschlösse dann auch den Zusammenhang von Haß und Performativität. Vgl. Butler, Judith 1995: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. 34 Assmann, Jan & Aleida: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Merten, Klaus/ Schmidt, Siegfried J./Weischenberg, Siegfried (Hrsg.) 1994: Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in Kommunikationswissenschaften. Opladen, S. 114-140, S. 119 ff. Wilke: „Come on, good Hutus, the graves are not yet full ...“ 73 Gleichwohl besteht die Gefahr der Vereinfachung, wenn ein singuläres Phänomen ver- alltäglicht erscheint und nicht problematisiert oder kontextualisiert werden kann. Innerhalb des Mediums Film wird auf der Grundlage der medialen Eigenlogiken das Selbstverständnis des Mediums Radio reflektiert. Das Radio fungiert einerseits in seiner außerfilmischen Existenz als etwas dazwischen Befindliches, es vermittelt mit einer eige- nen Bedeutungsebene, die in der Art und Weise des Gebrauchs zum Ausdruck kommt. Stark verdichtet durch das nur temporäre Vorkommen erfolgt hier gleichsam durch das Radio ein Agenda Setting, indem durch das Radio nicht nur der Handlungsrahmen skiz- ziert und die Geschichte vorangebracht wird, sondern durch die zwangsläufige The- menselektion und dem Hervorheben spezieller Topoi die innerfilmische Aufmerksamkeit und die des Rezipienten gelenkt wird. Teilaspekte bestimmter Wirkungsverläufe sind ebenfalls beobachtbar, soweit sie für die filmische Handlung von Relevanz sind: Ku- mulation, Anschwellen und Beschleunigung. Ebenso ist ein umfassendes Framing zu beobachten: Die Tutsi werden als Aggressoren dargestellt, die Hutu als in Notwehr be- findliche Opfer und Rwanda als ein demokratisches Land, dass sich gegen Rebellen zur Wehr setzen muss. Durch die mittlerweile konsensuell diskutierte Selbstverständlichkeit wird das Medium zwar unsichtbar, bleibt jedoch beobachtbar. Andererseits instrumen- talisiert der Film das Radio, indem es eine eigene dramaturgische Gestaltung innerhalb der filmischen Narration einnimmt, die Handlung kontextualisiert und vorantreibt. Hinzu kommt, dass durch die remediale Vermittlung von historischen respektive historisierten Kontexten über das Radio eine rezipierbare Distanz für den Filmzuschauer entsteht. Kausalitäten, die sich aus der faktischen Darstellung von RTLM ergeben, werden rati- onal und pragmatisch über die Sprache hergestellt und benötigen keine Bilder, die die Konsequenzen des Radios und damit eine lineare Medienwirkung illustrieren. Die außerfilmischen medialen Effekte von RTLM, die Rolle im rwandischen Alltag und während des Genozids, die in der Forschungsliteratur umfassend ausgewertet und do- kumentiert sind35, treten in „Hotel Rwanda“ zugunsten des Hauptprotagonisten Paul Rusesabagina in den Hintergrund. Dadurch – und durch eine stark vereinfachende westlich determinierte Perspektive auf den Konflikt – wird die unumstrittene und histo- risch verbürgte Leistung in ihrem Verständnis hinsichtlich der Umstände und der Pro- bleme im Jahr 1994 beschnitten. In dieser Hinsicht unterscheiden sich beispielsweise auch die Filme „Hotel Rwanda“ und „Sometimes in April“ von David Peck. Dieser ver- wandte für eine dichtere Beschreibung des Geschehens aus dem Film heraus und für eine immersive Vernetzung wirkliche Zeugnisse und Zugänge sowie Archivmaterialien. Peck selbst: „We had to find a way to keep reality and not make it too pretty. We had photos that we worked with. To create images that you’d really have seen. Real objects, real props. It could be put in a museum. Militia, military, radio roadblocks had their own specificity. The ID tags were exact replicas.“36 Der Realismus des Films „Hotel Rwanda“ und der Präsenz des Radios besteht in der Wiedergabe der grob konturierten äußeren Umstände und der faktischen Rettung von über 1.200 Menschen im Hotel Milles Colli- nes, nicht in der Kausalität, den Widersprüchlichkeiten und den situativen Gegebenhei- ten der Zeit. 35 Vgl. hierzu Mironko, Charles: The Effect of RTLM’s Rhetoric of Ethnic Hatred in Rural Rwanda. In: Thompson, Allan: The Media and the Rwanda Genocide. London, 2007, S. 125-135. Sowie: Chrétien, Jean-Pierre: RTLM Propaganda: the Democratic Alibi. In: Thompson, Allan: The Media and the Rwanda Genocide. London, 2007, S. 55- 61. 36 Audiokommentar auf der DVD, Peck 2005 Forum Radio and Society 2. Interdisziplinäre und ty, in der soziales gegenüber ökonomischem internationale Konferenz Kapital stark an Bedeutung gewinnt. Das 4./5.6.2012 in Lublin, Polen drückt sich für Bonini z.B. in Klout Score aus, einem System, dass anhand der Anzahl von Die gegenseitigen Beeinflussungen, Abhän- Postings in sozialen Medien die „digitale Re- gigkeiten und Verquickungen von Radio und putation“ eines Nutzers quantitativ ermittelt. Gesellschaft standen im Zentrum der Kon- Für Radioanbieter hat dies eine bedeutsame ferenz „Radio and Society 2“ im polnischen Konsequenz: Das quasi-öffentlich agierende Lublin. Zum zweiten Mal traf sich hier am 4. Publikum trägt mit seiner eigenen Reputation und 5. Juni 2012 eine kleine Auswahl interna- zur Reputation des Senders bei: „The digital tionaler, interdisziplinär zusammengestellter reputation of your public is your own digital Forscher, um sich historischen und aktuellen reputation!“ Fragen zum Radio in der Gesellschaft zu wid- men. In ihrer Begrüßung stellte die Veranstal- Die technische Evolution des Radios beleuch- terin Grazyna Stachyra fest, dass schon die tete Stanisław Jedrzejewski (Akademia Leona erste, 2010 durchgeführte Konferenz gezeigt Kozminskiego Warszawa) mit seinem Vortrag habe, dass die Rundfunkforschung zwar ver- zu RadioDNS. Jedrzejewski geht von der Tat- gleichsweise klein sei, aber aktueller denn sache aus, dass das Radio heute zunehmend je. Während bei der 2010er Konferenz der anders genutzt wird, sichtbar z.B. in der si- Schwerpunkt auf soziokulturellen Aspekten multanen Nutzung von Radio und Internet, die und sprachspezifischen Ausprägungen von heute schon bei etwa 40 Prozent liegt. Wäh- Radio lag, standen dieses Mal das Zusam- rend das „Hertzian Radio“ linear und in einer menspiel von multikulturellen Gesellschaften lean-back-Haltung rezipiert wurde, werden und Rundfunk sowie die Ästhetik des Radios digital verbreitete Angebote zunehmend non- im Vordergrund. linear (bis hin zu interaktiv) und lean-forward (bis hin zu mobil / on-the-move) genutzt. Je- Am ersten Tag dominierte die Frage nach drzejewski beschreibt RadioDNS als Techno- dem Verhältnis von Radionutzung und Ge- logie, die hybride Radio- und Internetinhalte sellschaft, insbesondere das Community verknüpfen und ihre optimale Nutzbarkeit ge- building durch Radio und die Diversität von währleisten kann. Zu den bereits entwickelten Radio in multikulturellen Gesellschaften. Da- RadioDNS-Applikationen gehören RadioVIS, bei beschäftigten sich viele Vorträge auch mit die Möglichkeit der Verknüpfung audiophoner aktuellen Herausforderungen, die das Radio Inhalte mit Bildern, RadioEPG, welches das im Prozess der Digitalisierung zu meistern Mitsenden von Programmübersichten und hat, um als Medium attraktiv und zeitgemäß Empfangsmöglichkeiten erlaubt, sowie Ra- zu bleiben. Insbesondere der erste Block bot dioTAG, ein simples Interaktionsprotokoll. Einblicke in allgemeine Veränderungen der Radiolandschaft und -kultur, die aus seiner Auch Guy Starkey (University of Sunderland) Verbreitung über das Internet resultieren. warf einen kritischen Blick auf die Auswirkun- gen der Digitalisierung auf Radioinhalte, und Tiziano Bonini (Università di Milano) widmete zwar im Kontext der Phänomene Globalisie- sich dem Community building im Internet un- rung und Ent-Lokalisierung.1 Diese Entwick- ter ökonomischer Perspektive. Er stellte dar, lung werde gerade im privaten Sektor, in dem wie die netztypischen Phänomene persis- sich Konzentrationsprozesse nationaler und tence, replicability, scalability und searchabili- internationaler Mediengruppen vollziehen, ty (nach Danah Boyd) das Verhältnis zwischen aus ökonomischen Gründen vorangetrieben. Sprechern und Hörern so weit verändern, Durch technische und strukturelle Maßnah- dass sich Gemeinschaften anders konstituie- men wie Automation, Voice Tracking, News ren: Das Publikum ist plötzlich öffentlich sicht- und Programming Hubs sowie durch die Un- bar, kann sich lautstark untereinander austau- abhängigkeit von geographischen Restrik- schen und ist damit zumindest anteilig keine imaginierte, sondern eine konkrete Communi- 1 Vgl. Starkey, Guy 2011. Local Radio, Going Global. Basingstoke. Forum 75 tionen mittels des Internets, dehne sich der Der Rolle von Nichtregierungsorganisationen Hörerkreis potentiell global aus. Da dies öko- im Rundfunksystem Polens widmete sich nomische Vorteile bietet, wird die regionale Urszula Doliwa (Uniwersytet Warminsko- Lokalität der Sender zunehmend durch nati- Mazurski). Kritisch erläuterte sie die bisherige onale und internationale Inhalte und Struktu- Beschränkung auf kirchliche NGOs als Ra- ren überlagert und zurückgedrängt. Entgegen dioproduzenten. Für den Ausbau dieses Be- der häufig fokussierten positiven Effekte der reiches müsse es erlaubt werden, (begrenzt) Digitalisierung der Medien zeigte Starkey auf, Werbung zu senden. dass beim Radio auch diverse negative Effek- te auf demokratische Partizipation und kultu- Der letzte Block des Tages war dem Schwer- relle Vielfalt auftreten. punkt der Multikulturalität gewidmet. Die Vorträge beleuchteten die Berücksichtigung Im zweiten Block wurden Vorträge zu sozio- multikultureller Zusammensetzungen von Ge- logischen Fragestellungen gebündelt. Ex- sellschaften im jeweiligen Rundfunksystem emplarisch wurde hier der Einfluss einzelner größtenteils deskriptiv anhand beispielhafter Gesellschaftsschichten auf die Radiopraxis Länder. So gab Mirosława Wielopolska-Szy- bzw. -landschaft beleuchtet. So hinterfrag- mura (Uniwersytet Slaski) einen kurzen Ein- te Jean-Jacques Cheval (Université de Bor- blick in das australische und in das kanadi- deaux III) die rundfunkpolitische Befreiung sche Rundfunksystem, illustrierte Magdalena des Radios die und daraus resultierenden Szydłowska (Uniwersytet Warminsko-Mazur- Veränderungen der 1980er Jahre in Frank- ski) die multikulturellen Facetten im staatli- reich und entwarf ein neues Bild des bislang chen Radio Polens mittels Hörbeispielen und nicht selten heroisierten Gegenstands. 1981 verdeutlichte Robert Rajczyk (Uniwersytet legalisiert, existierten in Frankreich 1985 be- Slaski) das verhältnismäßige Ungleichge- reits ca. 3.500 Radiosender, die sich dem My- wicht der Radioprogrammstunden für die je- thos zufolge zum größten Teil an die Landbe- weiligen Minderheiten in Rumänien zu ihrem völkerung wandten und programmlich auch tatsächlichen Bevölkerungsanteil. Abschlie- von ihr gestaltet waren. Tatsächlich, so stellt ßend präsentierte Lidia Pokrzycka (UMCS Cheval fest, waren aber 56 Prozent der Pro- Lublin) die Rundfunklandschaft Islands. grammmacher Akademiker, obwohl sie nur 6 Prozent der Landbevölkerung ausmachten. Die Diskussion verdeutlichte terminologische Und mit Felix Guattari stellt Cheval auch die und definitorische Unsicherheiten bzgl. der Qualität der Programminhalte in Frage, denn Verwendung des Begriffs „Minderheit“ und allzu oft sei hier ein „Radio-Narzismus“ zu hö- in Bezug auf die Multikulturalität einer Ge- ren gewesen, bei dem die Selbstpräsentation sellschaft. Stanisław Jedrzejewski brachte der Radiomacher („Hallo, du hörst gerade mir einen Gegenentwurf zu den erläuterten Sen- zu!“) über die Inhalte gestellt wurde. dekonzepten zu Sprache, der beim britischen „Channel 4“ praktiziert wird. Anstatt einzelne Anhand des Hörfunkprojekts „Radio Ethic“ Kulturen im Programm separat zu berück- verdeutlichte Dominique Norbier (Université sichtigen und dadurch medial zu isolieren, de Nice – Sophia Antipolis) anschließend die geht dessen Idee des „cultural esperanto“ Möglichkeiten eines verantwortungsvollen davon aus, nicht einzelne Milieus, sondern Umganges mit Medien- und Radioinhalten mehr oder weniger die gesamte Gesellschaft im Zeitalter der „convergence culture“ (nach einschließlich Immigranten als Adressaten Henry Jenkins). Durch die neuen (Unterhal- vorzusehen. tungs-)Medien verändert sich laut Norbier das „Protokoll“ des Radios, das sie als Struktur Der zweite Konferenztag war Forschungen sozialer, ökonomischer, kultureller und physi- gewidmet, die sich im weitesten Sinne mit in- scher Einflüsse und Aufgaben versteht. In der haltlichen und gestalterischen Aspekten des Folge verschiebe sich das Verhältnis von Pro- Radios beschäftigen. Daneben wurden auch duzierenden und Rezipierenden, und durch neue Ansätze für Forschungsmethoden bzw. die transkulturelle und multimediale Nutzung Herangehensweisen für deren Entwicklung von Inhalten käme es zu teils gravierenden vorgestellt. inhaltlichen Verschiebungen. Die Inhalte von „Radio Ethic“ seien daher personalisiert und Im ersten Block dominierten Fragen, die dem partizipativ. Gewährleistet werde dies durch Spannungsfeld „Mentale Bilder / Abbildun- seine multimediale Struktur, bestehend aus gen“, „das Bild vom Radio/-macher“ sowie dem Radiosender selbst, einer Internetplatt- den „Mechanismen der Identitätsbildung form, einer Online-Community und (Straßen-) durch Klänge“ entspringen. Angeliki Gazi (Cy- Aktionen. 76 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 prus University of Technology, Limassol) stell- Den strukturierten Einsatz der Stimme im te erste Überlegungen zu einem Forschungs- Programmfluss nahm Golo Föllmer (Martin- projekt zum Verhältnis von „visual and visible Luther-Universität Halle-Wittenberg) in den radio images“ vor, einer Ebene zwischen den Blick. Davon ausgehend, dass „channel iden- objektiv sichtbaren und den mentalen „Bil- tities“ sich maßgeblich durch den gezielten dern“ vom Radio und ihrer gegenseitigen Be- Einsatz von Stimme konstituieren, führte er einflussung. Ihrzufolge scheint es, als über- eine Reihe von Stimuli vor, die derart tech- lagerten die tatsächlich sichtbaren „visible nisch modifiziert waren, dass sie anstatt der images“ die mentalen „visual images“ und ursprünglichen channel identity zu einem an- beeinflussten somit die Klangwahrnehmung deren Sendertyp tendierten. Indem z.B. die und deren kognitive Verarbeitung. Stimme eines Kulturradio-Moderators gezielt schneller, höher und mit einem größeren me- Der tatsächlichen Visualisierung von Radio- lodischen Umfang erklang, neigte die Anmu- sendungen – anfänglich in (Programm-)Zeit- tung eher zu der eines Popradio-Moderators. schriften, später auch im Fernsehen – widme- Föllmer geht davon aus, dass anhand dieses te sich Karolina Albinska (Uniwersytet Łódzki), Vorgehens in Experimentalstudien „identity indem sie das Konzept der „Radiovision“ von marker“ für Radiostimmen identifiziert wer- seinen historischen Anfängen anhand ausge- den können, die bspw. auf spezifische Radio- wählter Beispiele vorstellte. So wurde bereits formate wie Kultur- oder Popradios hinweisen 1948 die NBC-Morning Show von Margaret und auch eine Erweiterung der Forschungs- McBride via „Radiovisor“, einem 6-Zoll-Bild- methodik darstellen. schirm, visualisiert. In der Diskussion wurden als aktuelle Beispiele die Chris Moyles Show Grit Boehme (Martin-Luther-Universität der BBC, Domians Telefon-Talk-Sendung Halle-Wittenberg) führte ihr Forschungsvor- beim WDR-Fernsehen und multimediale Bei- haben zur Stimmbeschreibung durch Laien spiele wie „Buntfunk“ von MDR Sputnik an- aus und präsentierte erste Ergebnisse. Zur gesprochen. Erweiterung der gegenwärtigen Ansätze ist es Ihr Wunsch, der Perspektive der Nutzer/ Eine semiotische Einführung in die Thematik Hörer innerhalb der Beschreibung und Be- der akustischen Identität und Identitätsbil- wertung mehr Platz zu geben, ohne dabei auf dung par excellence gab Madalena Oliveira schwer verständliche Beschreibungskriterien (Universidade do Minho) durch eine auf Hör- der Radiomacher und -forscher zurückzu- beispielen beruhende Präsentation. Dabei greifen. Stattdessen soll deren eigenes Vo- verwies sie auf die Qualität von Sound/Klang kabular genutzt werden. Boehmes Ziel ist die als Index auf Vorgänge oder Dinge, aber auch Entwicklung einer Methode und darin eines darauf, dass sie von sozialen Gruppen sym- Beschreibungsprofils, mittels dessen eine bolisch verändert werden. Stimmbeschreibung und Senderspezifizie- rung durch die Hörerschaft realisiert werden Der zweite Block wurde vom Thema „Ästhetik können. Dazu modifizierte sie das aus der der Stimme“ dominiert. Der Fokus lag auf den Psychologie stammende Verfahren des „re- klanglichen Potentialen bzw. der klanglichen pertory grid“. Ausgestaltung des Radios und hier insbeson- dere dem Stimmklang. Paulina Czarnek (Uniwersytet Łódzki) wid- Einführend stellte Emma Rodero (Universitat mete sich abschließend der Unterhaltungs- Pompeu Fabra – Barcelona) Methoden und funktion von humoristischen „call-outs“ im Untersuchungsergebnisse zur Idealstimme kommerziellen Radio Polens und deren ent- im Radio vor. Demnach zeichne sich in der sprechender stimmlicher Ausgestaltung. Wahrnehmung der Mehrzahl der Hörer die optimale Radiostimme durch eine klare In- Der letzte Block lässt sich thematisch kaum tonation, eine große Intensität und vor al- bündeln. Er beinhaltete verschiedene das lem eine relativ tiefe Stimmtonhöhe aus, die Spannungsfeld „Inhalt“, „Ästhetik“ und Glaubwürdigkeit und Zuversicht vermittelt. „Transmedialität“ tangierende Vorträge. Weiterhin ausschlaggebend für eine gute Wahrnehmbarkeit der Stimme und die Ver- Zunächst führte Joanna Bachura (Uniwersy- ständlichkeit des Gesagten sei neben der tet Gdanski) hörbar die Unterhaltungsfunktion Sprechgeschwindigkeit auch die Melodie des Genres Feature vor. Features ließen sich bzw. die Vermeidung von stereotypen oder per definitionem als „Faction“ bezeichnen – gar monotonen Mustern (im Deutschen die eine sich aus „fact“ und „fiction“ zusammen- sogenannte „Spreche“). gesetzte Wortschöpfung. Anhand einer Fall- Forum 77 studie verdeutlichte Bachura, dass Features aus dieser Perspektive als rein lokal-regiona- zwar einerseits echte Geschichten erzählen les Medium noch wichtiger. (fact), die spontan erzählt und dokumenta- risch aufgezeichnet werden. Andererseits Insgesamt bot die Konferenz eine ungewohnt seien Gesprächssituationen aber künstlich breite Palette von Vorträgen internationaler geschaffen (fiction) und z.T. gesprächsbeein- Experten und Nachwuchswissenschaftler flussend aufgebaut, so dass eine dramatur- und wartete mit einer spannenden Mischung gische Aufarbeitung des Rohmaterials statt- aus aktuellen Themen sowie neuen methodi- finde. schen und theoretischen Ansätzen auf. Das kleine Format begünstigte lebhafte Diskussi- Anja Richter (Martin-Luther-Universität Halle- onsrunden und einen regen Austausch auch Wittenberg) befasste sich mit dem ästheti- neben dem offiziellen Teil. Wir sind gespannt schen Potential der Programmstruktur von auf die nächste Ausgabe im Jahr 2014! Radiosendern. Die von ihr modifizierte Me- thode der „Sequenzanalyse“ (nach C. Åberg2) Zur Konferenz erscheint ein Tagungsband mit soll kategorisierbare Ergebnisse liefern, mit- ausgewählten Vorträgen. tels derer Eigenschaftsprofile formulierbar Anja Richter / Golo Föllmer werden, die die Klangästhetik unterschiedli- cher Radioformate typisieren lassen. In einer ersten Studie konnte sie zeigen, dass die Entstehung und Entwicklung des öffentlich- untersuchten Radiosender klar unterscheid- rechtlichen Rundfunks in Ostdeutschland bare Strategien des Programmarrangements Rundfunkhistorisches und medienpolitisches verfolgen. Desweiteren waren die durchge- Symposium der Historischen Kommission führten Sequenzanalysen geeignet, eine Fülle der ARD klangästhetischer Merkmale zu beschreiben, die bislang kaum beachtet werden. In einer Wer sich am 13. September im Berliner Haus folgenden, stark erweiterten Studie soll nun des Rundfunks umsah, konnte rbb-Intendan- untersucht werden, auf welche Weise die an- tin Dagmar Reim kaum widersprechen, die gewandten Strategien formatspezifisch zur mit der Tagung ein „Klassen-“ oder „Vete- klangästhetischen Ausbildung von „channel ranentreffen“ assoziierte. Da versammelten identities“ beitragen. sich sowohl ehemalige Intendanten (Michael Albrecht, Heinz Glässgen, Jobst Plog, Udo Eine Form der Verknüpfung von Radioidenti- Reiter, Hansjürgen Rosenbauer) als auch in tät und Gesellschaft stellte Grazyna Stachyra den 90er Jahren wirkende Politiker (Kurt Bie- (UMCS Lublin) mit dem Konzept des „Chari- denkopf, Lothar de Maizière, Manfred Stolpe, tainment“ (aus „charity“ und „entertainment“) Konrad Weiß) sowie zahlreiche Rundfunk- vor. Dabei verdeutlichte sie die Erweiterung schaffende, die inzwischen im Ruhestand der Moderator-Hörer-Kommunikation auf die leben. Schon in der Begrüßung hatte Prof. intermediale Ebene anhand einer exemplari- Dr. Heinz Glässgen, Vorsitzender der Histo- schen Kampagne und führte gleichzeitig die rischen Kommission der ARD, jedoch auch (kommerzielle) Wert-/Ausschöpfung von Mar- den Bogen zur Gegenwart geschlagen: Es kenwerten vor, welche einerseits durch das wäre gut, wenn politische Entscheider über Radio aufgebaut (Sender und Moderator) und die Gründe für die Existenz des öffentlich- andererseits durch medienübergreifend ver- rechtlichen Rundfunks nachdenken würden. knüpfte Inhalte geschärft werden. Den einleitenden Vortrag hielt Konrad Weiß, Abschließend warf Kazimierz Krzysztofek u.a. Leiter der Arbeitsgruppe Medien am (Uniwersytet w Białymstoku) einen kritischen „Zentralen Runden Tisch“ der DDR. Er wie- Blick auf die der Begriffsfindung zugrundelie- derholte die allseits bekannten Thesen von genden medialen Strategien. Ihmzufolge ist „in Ketten geschlagenen Journalisten“ und das Internet kein neues Subsystem der Me- „obrigkeitserlaubten Medien“ in der DDR, be- dien, sondern es integriert und transformiert klagte, dass sowohl das geplante Medienge- alle bisherigen Medien. Das Internet wird setz als auch das ausgearbeitete Rundfunk- demnach sowohl global als auch lokal be- überleitungsgesetz in Vergessenheit gerieten deutsam sein, und das (analoge) Radio wird und zeigte sich besorgt über gegenwärtige Eingriffe in die Medienarbeit. 2 Åberg, Carin 2001. Radio analysis? Sure! But now? In: Stuhlmann, Andreas. (Hrsg.). Radio-Kultur und Hör- Besonders während der ersten Diskussi- Kunst. Zwischen Avantgarde und Popularkultur 1923 - 2001. Würzburg. S. 83-104. onsrunde unter dem Titel „Vom staatlich ge- 78 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 lenkten Rundfunk der DDR zum öffentlich- Rundfunkanstalt hegte. Er hätte es den Jour- rechtlichen Rundfunk – Medienpolitische nalisten gewüscht, die aus der DDR kamen Weichenstellungen“ bekam die Veranstaltung und hofften, jetzt zeigen zu können, „was von Zuhörer/innen noch eine weitere Cha- Journalismus ist“. Für ihn bestand die Mög- rakterisierung verpasst: „Anekdotentag“. Die lichkeit einer föderalen „ostdeutschen ARD“, punktuellen Erinnerungen hörten sich zwar aber „das wollte die alte ARD nicht“. Uwe unterhaltsam an, aber nach mehr als 20 Jah- Kammann, Direktor des Adolf-Grimme-Insti- ren ist natürlich manches verblasst, anderes tuts, kommentierte: Ein großer ostdeutscher wird übererinnert. Hätten da nicht besser ei- Rundfunk hätte „vieles im Kräfteverhältnis der nige Thesen aus den nicht wenigen theoreti- ARD durcheinander gebracht“ und „vielleicht schen Aufarbeitungen dieser Zeit hinterfragt auch die Teilung zementiert“. Er wagte dann werden können? Was allerdings Prof. Dr. sogar eine Prognose: „Öffentlich-Rechtliche Ronald Frohne, derzeit Rechtsanwalt in New wird es in zehn Jahren so nicht mehr geben“. York, 1990 Stellvertreter des Rundfunkbeauf- Die Politik müsse Wege finden. tragten Rudolf Mühlfenzl, äußerte, übertraf alle Erwartungen: Als „wir“ (Mühlfenzl und Damit hatte er eigentlich schon den dritten seine Gruppe) im Herbst 1990 „einrückten“, Veranstaltungsteil eingeleitet, in dem die waren die alten Strukturen noch vorhanden, Zuhörer/innen dann wieder mit aktuell bren- wir kamen „völlig ohne Konzept“, nur mit Arti- nenden Problemen konfrontiert wurden. Titel: kel 36 des Einigungsvertrages. „Vom Osten nach Europa: Bedeutung und Leistungsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Das zweite Panel befasste sich mit „Der öf- Rundfunks in der Zukunft“. Problemsichten: fentlich-rechtliche Rundfunk nach der Wende Einfluss der Politik auf den öffentlich-rechtli- als Beitrag zur regionalen Identifikation und chen Rundfunk in Deutschland und anderen zur demokratischen Entwicklung im Osten“. Ländern, das Wirken der Europäischen Kom- Ein Streitpunkt: Wäre die Bildung einer ge- mission und die Anforderungen des Internets. meinsamen ostdeutschen Rundfunkanstalt Mitwirkende: Kurt Beck (Vorsitzender der eine Variante gewesen? Rundfunkkommission der Länder), Johannes Beermann (Sächsische Staatskanzlei), Lutz Prof. Dr. Kurt Biedenkopf, Ministerpräsident Marmor (NDR-Intendant), Andreas L. Paulus des Freistaats Sachsen 1990 bis 2002, be- (Bundesverfassungsgericht), Jean-Paul Phi- hauptete sofort: Für Sachsen sei das keine lippott (EBU-Präsident) und die Intendantin- Alternative gewesen, da Ostdeutschland kei- nen Monika Piel (WDR, ARD-Vorsitzende), ne Einheit war, sondern aus der Geschichte Dagmar Reim (rbb), Karola Wille (mdr). ein starkes Gefälle von Nord nach Süd exis- tierte. Sachsen wären nie mit Preußen zusam- Philippott beklagte Rückschritte bei der Ent- mengegangen. Prof. Udo Reiter, Gründungs- wicklung des öffentlich-rechtlichen Rund- intendant des Mitteldeutschen Rundfunks funks in südosteuropäischen Ländern und (mdr), unterstützte diese Meinung: Eine ge- in Portugal. Dessen Pfeiler (Ausbildung von meinsame ostdeutsche Rundfunkanstalt Journalisten, verbindliche rechtliche Vorga- hätte die „Architektur der DDR“ durcheinan- ben, die die staatliche Einflussnahme ein- dergebracht. Dem stimmte Prof. Jobst Plog, schränken sowie ein zuverlässiger finanzieller ehemaliger Intendant des Norddeutschen Rahmen) würden teilweise unterhöhlt. Brüs- Rundfunks (NDR) hinsichtlich Mecklenburg- sel, so Beck, habe die Tendenz, „vom öffent- Vorpommern zu. Das Land, das jetzt zum Be- lich-rechtlichen Rundfunk für alles Rechtferti- reich des NDR gehört, habe sich immer nord- gungen zu verlangen“. Und dann wieder der deutsch gefühlt und sei mit der gefundenen deutsche, „gestrige“ (Reim) Dauerstreit von Lösung „glücklich“. ARD und ZDF mit den Verlegern um die Nut- zung des Internets. „Setzt Euch zusammen!“, Anders sahen das Manfred Stolpe und Hans- forderte Beck wieder einmal. Er machte aber jürgen Rosenbauer. Stolpe, erster Minister- auch auf den europäischen Rahmen auf- präsident des Landes Brandenburg, hob die merksam: Ziel müsse sein, auf dieser Ebene gemeinsamen Interessen Ostdeutschlands „ein technologieneutrales, inhaltsorientiertes hervor. Insofern wäre für ihn eine gemein- Regelungskonzept zu verwirklichen, das we- same Anstalt diskutabel gewesen, „sie war nigstens qualitative Mindeststandards für die aber nicht realisierbar“. Prof. Dr. Hansjür- Verbreitung ausiovisueller Medien formuliert gen Rosenbauer, 1991 bis 2003 Intendant und auf Dauer gewährleistet.“ des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg Margarete Keilacker (ORB), offenbarte, dass er anfangs eine „gro- ße Sympathie für eine gesamtostdeutsche Dissertationsvorhaben Medienhistorische Forschungen kritisch und One of the central aims of the „Studienkreises fördernd zu begleiten, steht im Zentrum der Rundfunk und Geschichte“ (Association for Aufgaben des „Studienkreises Rundfunk und Broadcasting and History) has been to stimu- Geschichte“. Die Unterstützung des wissen- late research on topics in media history and schaftlichen Nachwuchses spielt dabei eine offer critical advice to current projects. Sup- ganz besondere Rolle. So veranstaltete der porting young scholars and Ph.D. students „Studienkreis“ seit Mitte der 1970er Jahre has played a focal role in this effort. One par- Examenskolloquien und führt seit 2007 in der ticular and long-standing form of assistance Lutherstadt Wittenberg – basierend auf einer is the annual workshop that brings together Call-for-Proposals-Ausschreibung – das „Me- young researchers for in-depth discussion of dienhistorische Forum“ für Absolventen und their work. The workshop started in the mid- Forschungsnachwuchs durch. Vor diesem 1970s and has since drawn attention from up- Hintergrund startete die Zeitschrift „Rundfunk and-coming media historians dealing with re- und Geschichte“ in der Ausgabe 1-2/2009 lated issues in their MA or Ph.D. theses. Since eine neue Rubrik. Promovierende erhalten 2007 this „Medienhistorische Forum“ (Media die Möglichkeit, ihre Dissertationsprojekte History Forum), which results from an annual zu medienhistorischen Themen vorzustellen, call for proposals, has been held in Luther- über Quellenrecherchen zu berichten und ih- stadt Wittenberg. Building on this tradition, ren wissenschaftlichen Ansatz zur Diskussion the journal „Rundfunk und Geschichte“ (Me- zu stellen. dia and History) has launched a new column in which Ph.D. students in media history can Die Redaktion freut sich, dass die Rubrik auf present their various projects and approa- große Zustimmung gestoßen ist und mit den ches. nachfolgenden Beiträgen ihre Fortsetzung findet. Auch Wissenschaftlerinnen und Wis- The editors were delighted that this column senschaftler aus nicht deutschsprachigen has met with great approval, and are pleased Ländern sind vertreten, die ihre Projekte in to continue it with the contributions that fol- Englisch vorstellen. Die Redaktion wünscht low. We also invite researchers from non- den Promovierenden ein gutes Gelingen ihrer German countries to put forward their pro- Forschungsarbeiten und lädt alle Leserinnen jects for discussion. The editorial staff wishes und Leser von „Rundfunk und Geschichte“ success to all the projects presented here and zur engagierten Diskussion der vorgestellten invites the readership of „Rundfunk und Ge- Projekte ein. Promovierende, die ihre Disser- schichte“ to offer engaged discussion on the tationsvorhaben in einer der nächsten Aus- projects presented. Ph.D. students or young gaben von „Rundfunk und Geschichte“ in researchers who are interested in submitting Deutsch oder in Englisch vorstellen möchten, a description of their projects either in Ger- wenden sich bitte an die Redaktion: alina.lau- man or in English are requested to address ra.tiews@uni-hamburg.de oder melanie.frit- themselves to the editorial staff: alina.laura. scher@geschichte.uni-freiburg.de. tiews@uni-hamburg.de or melanie.fritscher@ geschichte.uni-freiburg.de Redaktion / editorial staff 80 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Zwischen Adaption und Abwehr. In dieses Problemfeld eingebettet, verfolgt Untersuchungen zu den Effekten des die Dissertation das Ziel, aus kulturwissen- medialen Kulturtransfers am Beispiel des schaftlicher Perspektive die Effekte des DDR-Fernsehens (1956-1991) medialen Kulturtransfers auf das nationale Gesamtprogramm des DDR-Fernsehens zu Der internationale Programmtransfer zwi- untersuchen. Dabei sollen drei Leitfragen den schen West- und Osteuropa war eine beson- Schwerpunkt der Arbeit bilden: 1. Welche dere Erfolgsgeschichte. Dieser Befund ver- Bedeutung muss den fiktionalen Importpro- wundert nicht nur vor dem Hintergrund des grammen (Kino- und Fernsehfilm sowie Se- Ost-West-Konfliktes, auch die zum Teil viel- rien) beigemessen werden? 2. Welcher öko- fältigen Schwierigkeiten bei der Übertragung mische und kulturpolitische Stellenwert kam der Fremdprogramme in das Importland, dem DEFA-Außenhandel im System des in- insbesondere hinsichtlich der Inkompatibili- ternationalen Programmhandels zu? 3. Leis- tät der Sprache sowie mentalitätsgeschichtli- teten die fiktionalen Importprogramme einen cher Unterschiede, müssen zumindest für die Beitrag zu einer Infragestellung überkomme- Anfangsjahre verstärkt mitgedacht werden. ner kulturpolitischer Orientierungen der DDR- Offensichtlich gelang auch in der Hochphase Führung? des ‚Kalten Krieges‘ die Anschlussfähigkeit der Fremdprogramme nicht nur über die glo- Konkret in den Fokus gestellt wird vor allem bale Kommunizierbarkeit der visuellen Infor- die Zusammenarbeit mit den Ost- und West- mation, sondern maßgeblich über internatio- filmexporteuren gemäß der Kultur- und Film- nal bekannte Stars und durch stilistisch und verträge sowie in Kooperation mit dem DEFA- dramaturgisch publikumswirksame Stoffe. Außenhandel. Damit konzentriert sich der gewählte Zugang auf den Programmhandel, Das Forschungsfeld der inter- und transkul- der insbesondere im Hinblick auf den DEFA- turellen Kommunikation erkennt im Dialog Außenhandel sowohl ökonomische als auch und Austausch gleichberechtigter Partner kulturpolitische Interessen der DDR zu verei- eine Tendenz zur Konvergenz im Zeitverlauf, nigen und im Ausland zu vertreten hatte. Die jedoch stellt sich die Frage, wie gleichbe- Schwerpunktsetzung auf den DEFA-Außen- rechtigt die Partner wirklich waren. Muss in handel erscheint sowohl im Hinblick auf den der Rückschau nicht treffender von Trans- Forschungsstand als auch auf die Zielsetzun- kulturation oder Akkulturation im Sinne von gen der Arbeit besonders vielversprechend. „Überschreitung“ (Foucault) der „sozialisti- schen Nationalkultur“ in der DDR gesprochen Der DEFA-Außenhandel realisierte das Au- werden? So reflektierten führende Vertreter ßenhandelsmonopol der DDR auf dem Gebiet des Verbandes der Film- und Fernsehschaf- des Im- und Exports von Filmen. Dabei hat- fenden der DDR 1987 die Importpolitik des te er, wie ebenso alle anderen Volkseigenen Deutschen Fernsehfunks (DFF) und kamen zu Betriebe (VEB) in der DDR, eine Staatsplan- für sie alarmierenden Ergebnissen: Die Zahl auflage nach Stück, Umsatz und Gewinn zu ideologisch fragwürdiger Sendeformate aus realisieren. 1989 betrug das Exportvolumen dem kapitalistischen Ausland würde immer des Betriebes immerhin 8,5 Millionen Mark, stärker das DDR-Fernsehprogramm bestim- dem stand ein Importvolumen von 7,2 Mil- men, wobei die dominante Ausrichtung auf lionen Mark gegenüber. Dabei musste der kommerzielle Unterhaltungsfilme als beson- DEFA-Außenhandel zwischen den auf den ders problematisch eingestuft wurde. Das internationalen Märkten herrschenden Ge- Fernsehen der DDR drohe zu einer „Kopie“ setzen, einem engen finanziellen Korsett und des BRD-Fernsehens zu werden: „Vor dem den statischen kulturpolitischen Vorgaben Hintergrund dieser angeblichen Import- und balancieren. Programmpolitik des DDR-Fernsehens wer- den Fragen nach dem geistig-inhaltlichen Der Export von DDR-Produktionen ist in sei- Profil unserer sozialistischen Film- und Fern- ner Zielpluralität deutlich zu kennzeichnen: sehproduktion gestellt, werden zum Teil Politische, ökonomische und kulturelle Be- Zweifel am Sinn und an der Glaubwürdigkeit weggründe standen nahezu gleichberechtigt unserer politisch-ideologischen Orientierung nebeneinander und müssen auch in ihrer Wir- für das DDR-Filmschaffen geäußert“.1 kung im auswärtigen Programmkontext ana- lysiert werden. Bedeuteten sie im Exportland nur eine quantitative Erweiterung des natio- 1 Zentrales Parteiarchiv der SED, Büro Hager: nalen Angebots oder vielleicht auch einen Verband der Film-und Fernsehschaffenden vom 21.9.1987. Bundesarchiv Berlin. DY 30/35491, Bl. 6. Wechsel in ein anderes Diskurssystem? Dissertationsvorhaben 81 Der stetig wachsende Programmbedarf des grammtransferlogik des Fernsehens und die DDR-Fernsehens sowie die Einführung des damit einhergehende Eigendynamik dieses Farbfernsehens, maßgeblich verursacht Mediums. Im Rahmen des DFG-Teilprojekts: durch die Ausweitung des Medienangebotes „Grenzüberschreitungen. Internationaler Pro- infolge des Massenkonsums und die dadurch grammaustausch als interkulturelle Kommu- stetig ansteigenden (apolitischen) Zuschau- nikation zwischen West- und Osteuropa am erbedürfnisse nach Entspannung und Eska- Beispiel des DDR-Fernsehens“4 will das Pro- pismus konnte schon bald nicht mehr allein motionsvorhaben einen substantiellen Bei- durch Eigenproduktionen abgedeckt werden. trag zur Erweiterung dieser skizzierten For- Erforderlich wurde ein deutlicher Ausbau der schungsperspektive leisten. Handelsaktivitäten sowohl mit sozialistischen, aber auch kapitalistischen Ländern. Eine Nach Erarbeitung der organisationsge- Entwicklung, die zu einem signifikanten Be- schichtlichen Aspekte soll der Programmhan- deutungszuwachs des DEFA-Außenhandels del mit fiktionalen Medieninhalten – Kino- und führte. Propagandistisch gefärbte Exportfilme Fernsehfilme sowie Serien – einer quantitati- hatten mit massiven Absatzschwierigkeiten in ven und qualitativen Erhebung unterzogen den kapitalistischen Staaten zu kämpfen, wo- werden. Die Herausarbeitung der Entwick- hingegen die Einkaufspolitik aufgrund finan- lung nach Ländern, Genres, Themen und Su- zieller Engpässe zunehmend von pragmati- jets bildet dabei einen zentralen Aspekt der schen Gesichtspunkten geleitet sein musste. Untersuchung. Im Anschluss erfolgt auf der Nicht unterschätzt werden darf zudem der interpretativen Ebene die Auswertung nach unbedingte Wille der sozialistischen Macht- Schwerpunkten. Die Analyse erfasst schwer- haber nach internationaler Anerkennung und punktmäßig diejenigen Jahrgänge, die als be- der damit verbundenen gewünschten Wahr- deutsame historische Erinnerungsdaten be- nehmung als weltoffener und fortschrittlicher sondere Einblicke in politische und kulturelle Akteur auf der Weltbühne. Transformationsprozesse geben.5 Auch in der Länderauswahl erfolgt eine Konzentration auf Der Stellenwert von Massenmedien für die tragende Akteure, deren Austauschbeziehun- Generierung von kulturellen Identitäten sowie gen mit der DDR näher beleuchtet werden. Im als Faktor der interkulturellen Kommunikation Fokus stehen neben der Sowjetunion Polen ist in der Forschung unumstritten.2 Gut do- und die CSSR für Osteuropa sowie Großbri- kumentiert sind zudem der im Zuge von Me- tannien, Frankreich, Österreich und Italien für dialisierungsprozessen vollzogene Aufstieg Westeuropa. des Fernsehens zum Leitmedium in der DDR sowie die vor allem in den zahlreich vorhan- Auf der Basis dieser quantitativen Auswer- denen Überblickdarstellungen zum Ausdruck tungsergebnisse erfolgt die Auswahl und kommenden historischen Entwicklungslinien qualitative Analyse der Fallbeispiele. Einen der DDR-Mediengeschichte.3 Dagegen hat zentralen Analyseaspekt bildet die Diffe- die Forschung die internationalen Verflech- renzbestimmung der bis dato erzielten Aus- tungen des Programmtransfers insbesondere wertungsergebnisse. Denkbar sind u.a. die im Hinblick auf die osteuropäische Perspek- unterschiedliche Darstellung und Rezeption tive bis dato nur partiell aufgearbeitet. Ob- der sogenannten „Generalthemen“: der „Sieg gleich die Bedeutung von Fremdprogrammen über den Faschismus“, die „Große Oktober- für die nationalen Medienkulturen erkannt revolution“, die Maifeiertage sowie die be- wurde und darüber hinaus der Stellenwert der sonderen Ereignisse der Raumfahrt. Diese Massenmedien in der Phase des Ost-West- Beispiele illustrieren an einem singulären und Konflikts weitreichende Beachtung findet, damit überprüfbaren Fall die differierende liegt der Fokus jedoch zumeist auf dem Film Verarbeitung im Analysezeitraum. und vernachlässigt die vielschichtige Pro- 2 So u.a.: Jonathan Bignell und Andreas Fickers: A 4 Weitere Projektinformationen sind online zugänglich European Television History. Malden und Oxford 2008; unter www.zzf-pdm.de/site/mid__3410/ModeID__0/ Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen EhPageID__1002/813/default.aspx (zuletzt abgerufen Buchdruck zum Fernsehen. Frankfurt am Main 2011; am 28.08.2012). Ute Daniel und Axel Schildt (Hrsg.): Massenmedien im 5 Unter anderem sind dies die Jahre 1960-1962 Europa des 20. Jahrhunderts. Köln u.a. 2010. (Beginn der Intervision, Mauerbau); 1968/69 (Prager 3 Rüdiger Steinmetz u.a. (Hrsg.): Deutsches Frühling, Mondlandung, Farbfernsehstart), 1985- Fernsehen Ost. Eine Programmgeschichte des DDR- 1987 (Antritt Gorbatschows, Perestroika, Ende Fernsehens. Berlin 2008; Thomas Beutelschmidt: der Programmreformen) sowie Untersuchung Kooperation oder Konkurrenz? Das Verhältnis zwischen von Jahrgängen im Zehn-Jahres-Rhythmus Film und Fernsehen in der DDR. Berlin 2009. (1955/1965/1975/1985). 82 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Analog zu der These einer besonderen Form Siegeszug bereits in den 1930er Jahren und der „friedlichen Koexistenz“ durch massen- hatte sich in den 1950er Jahren als Alltagsme- medialen Austausch, liegt dem Vorhaben die dium etabliert.3 Es prägte so den Aufschwung Arbeitshypothese zugrunde, dass es im Ana- der Konsumgesellschaft in Westeuropa von lysezeitraum zu einer schrittweisen Durchset- Beginn an mit. zung des ökonomischen Prinzips bzw. der kapitalistischen Logik im Bereich des Pro- Auch der private Langwellensender Radio grammhandels kam, zusätzlich flankiert durch Luxembourg4 knüpfte nach der Wiederauf- die kulturellen Homogenisierungstendenzen nahme seines Programms 1945 an Vorkriegs- zwischen Ost- und Westeuropa. Die „sozia- traditionen an. Während die französischen listische Nationalkultur“ der DDR musste sich Privatsender durch die staatliche Monopoli- in einem Spannungsfeld aus „Cross-Culture“, sierung des Rundfunksystems von der Bild- Globalisierung und kultureller Diversifizierung fläche verschwunden waren, konnte Radio behaupten. Luxembourg durch die Ansiedlung in dem Richard Oehmig staatlich souveränen Großherzogtum seinen Sendebetrieb uneingeschränkt fortführen. Der kommerzielle Radiosender, dessen Mutterge- Radio während der Trente Glorieuses: RTL sellschaft CLT (Compagnie Luxembourgeoise und die Entwicklung der Konsumgesell- de Télédiffusion) von französischen Investo- schaft in Frankreich (1945-1981) ren dominiert wurde, suchte sein Publikum und seine Werbepartner über die Grenzen Lu- Der Massenkonsum in Westeuropa erfuhr xemburgs hinaus. Dies wurde für die Vertreter mit dem Einsetzen des sogenannten Wirt- der großen staatlichen Rundfunkanstalten zu schaftswunders eine rasante, gesamtgesell- einem wachsenden Ärgernis, verteidigten sie schaftliche Ausbreitung. Nach den entbeh- doch mittels ihrer Monopolstellung einen wer- rungsreichen Kriegsjahren ermöglichte die befreien Rundfunk mit Erziehungs- und Bil- Konsumkultur den Menschen nicht nur die dungsanspruch. Unter dem Motto „distraire Befriedigung materieller Wünsche, sondern et plaire“ setzte Radio Luxembourg in seinem bot ihnen einen attraktiven Lebensentwurf, Programm auf einen großen Musikanteil, auf der die individuellen Bedürfnisse in den Mit- Unterhaltung und Information und machte die telpunkt stellte. Der Warenkonsum und sich Publikumsnähe zum zentralen Prinzip seiner ausdifferenzierende Rituale des Konsumie- Programmgestaltung. rens eröffneten Möglichkeiten der Selbst- darstellung und eine neue Form der Selbst- Am Schnittpunkt von Mediengeschichte und wahrnehmung.1 Die gleichzeitig stattfindende Konsumgeschichte angesiedelt, möchte das Verbreitung der Massenmedien und die damit Promotionsvorhaben Radio als gesellschaft- einhergehende Medialisierung vieler Lebens- liches Massenmedium am Beispiel von RTL bereiche waren zentrale Bestandteile und reflektieren. Die Aktivitäten des kommerzi- wichtige Voraussetzungen für die Etablierung ellen Senders sollen im Hinblick auf die Ge- der Konsumgesellschaft. Diskurse über Le- schichte der Konsumgesellschaft bewertet bensstile, Trends und Moden und die daran und seine Bedeutung für die Medienkultur geknüpfte Konsumorientierung fanden nicht herausgearbeitet werden. Gegenstand der zuletzt in den Medien statt und wurden durch Untersuchung sind die Unternehmensstrate- sie vermittelt, sei es durch Tagespresse, Zeit- gien, die Programmgestaltung sowie die Re- schriften oder den Rundfunk. Während das zeption des Radiosenders. Der Fokus richtet Fernsehen in Frankreich allerdings erst ab sich auf die Entwicklungen in Frankreich. Es den 1960er Jahren Einzug in eine Vielzahl von 2 werden folgende Fragen gestellt:Haushalten hielt, begann das Radio seinen 1 Vgl. Hannes Siegrist: Konsum, Kultur und Welche Strategien verfolgte der Radiosender Gesellschaft im modernen Europa. In: Hannes vor dem Hintergrund seines kommerziellen Fi- Siegrist, Hartmut Kaelble und Jürgen Kocka (Hrsg.): nanzierungsmodells und welche unterschied- Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums, 18. Bis 20. Jahrhundert. lichen Interessen und Überlegungen prägten Frankfurt am Main und New York 1997, S. 29. 2 So stieg der Prozentsatz der französischen 3 1951 besaßen 65 Prozent der Haushalte in Haushalte, die mit einem Fernsehgerät ausgestattet Frankreich mindestens ein Radiogerät, 90 Prozent im waren, von 13,1 Prozent im Jahr 1960 auf 70,4 Prozent Jahr 1960. Vgl. Jean-Jacques Cheval: Les radios en im Jahr 1970. Vgl. Christian Delporte: Au miroir des France. Histoire, état et enjeux. Rennes 1997, S. 61. médias. In: Jean-Pierre Rioux und Jean-François 4 Bis zu seiner Umbenennung 1966 in RTL („Radio Sirinelli (Hrsg.): La culture de masse en France. De la Télévision Luxembourg“) hieß der Sender Radio Belle Époque à aujourd’hui. Paris 2002, S. 326. Luxembourg. Dissertationsvorhaben 83 die Programmgestaltung? Welche Wechsel- So wurde etwa das Sponsoring von Sendun- wirkungen bestanden zwischen den Akteuren gen Mitte der 60er Jahre als Werbeform aus des französischen Rundfunksystems und in- dem RTL-Programm verabschiedet. Das hing wieweit trieb RTL die Kommerzialisierung der nicht zuletzt damit zusammen, dass eine Ver- Medienkultur voran? Wie präsentierte sich mischung von Programminhalten und Wer- RTL nach außen und wie wurde der Sender bung nunmehr als hinderlich für das Image im gesellschaftlichen Diskurs wahrgenom- von RTL als unabhängigem Sender mit se- men? Wie reagierte RTL auf gesellschaftliche riösem Informationssegment galt. In dieser und politische Veränderungen und auf techni- Entscheidung spiegelt sich die aufkommende sche Neuerungen? Kritik an der Werbung als Manipulationsins- trument der Konsumgüterindustrie wider. Der Der untersuchte Zeitraum erstreckt sich von Frage nach dem evozierten Senderimage, der Wiederaufnahme des Programms 1945 der Marke RTL, soll anhand von Werbean- bis zur Aufhebung des staatlichen Rund- zeigen und -plakaten nachgegangen werden. funkmonopols 1981, wobei der Schwerpunkt Welche Mittel der Eigenwerbung wurden ge- der Analyse auf der von Jean Fourastié als wählt? Wer sollte mit den Werbebotschaften „Trente Glorieuses“5 bezeichneten Periode angesprochen werden? Wurden gesellschaft- liegt, jenen knapp drei Jahrzehnten zwischen liche Entwicklungen wie etwa jugendkultu- Kriegsende und der Ölkrise in den 70er Jah- relle Strömungen für Unternehmenszwecke ren. aufgegriffen? Die Untersuchung stützt sich auf unterschied- Schließlich wird der Versuch unternommen, liche Quellen. Anhand der Protokolle des Auf- die Rezipientenperspektive mit einzubezie- sichtsrates und der Geschäftsführung der hen. So wäre etwa interessant zu erfahren, CLT lassen sich die Unternehmensstrategien ob sich das angestrebte Image mit den Ein- im Wesentlichen nachvollziehen. Darüber hin- schätzungen der Hörerinnen und Hörer deck- aus geben die Broschüren für die Generalver- te. Zwar sind die Ergebnisse der Rezeptions- sammlungen der Anteilseigner Hinweise auf und Meinungsforschung mit Vorsicht zu unternehmensinterne Zielsetzungen. betrachten, doch erscheint eine Auseinander- setzung mit den erhobenen Hörerzahlen und Für eine Untersuchung der Programmge- Meinungsumfragen für das Dissertationsvor- schichte ist es wünschenswert, mit Pro- haben notwendig, um den Einflussgrad des grammaufzeichnungen arbeiten zu können, Senders ausmachen zu können. Darüber hin- doch sind Audio-Mitschnitte der RTL-Sen- aus soll die mediale Rezeption von RTL in den dungen lediglich bruchstückhaft überliefert. einschlägigen Presseorganen („Le Monde“, Ergänzend muss das Programm deshalb mit- „Le Figaro“) ausschnitthaft untersucht wer- hilfe von Rundfunkzeitschriften sowie dem den. Eine solche Auswertung verspricht Auf- hauseigenen RTL-Jahrbuch nachgezeichnet schlüsse hinsichtlich der gesellschaftlichen werden. Dabei sind sowohl einzelne erfolg- Diskurse über den Radiosender, aber auch reiche Sendungen und Formate als auch der über die Medienkultur in den Nachkriegsjahr- Programm-Mix insgesamt zu betrachten. Um zehnten in Frankreich insgesamt. die Sendungen auf einer inhaltlichen Ebene analysieren zu können, erscheinen diskurs- Ziel der Arbeit ist es, einen Beitrag zur Me- analytische Ansätze von Nutzen. dien- und Konsumgeschichte zu leisten und zwar am Beispiel eines kommerziellen Gibt es Auffälligkeiten in der Themendarstel- Akteurs im Bereich des Hörfunks, ein For- lung? Welche Themen werden ausgespart? schungsfeld, das innerhalb der deutschspra- Können für den Sender typische Normen oder chigen Mediengeschichte bislang noch we- Haltungen festgestellt werden? Wer kommt nig Aufmerksamkeit erfahren hat. zu Wort? Ein besonderes Augenmerk liegt auf Anna Jehle der Untersuchung der Werbung als wichtiger Programmkomponente. Hier interessiert ne- ben ihrem Anteil am Gesamtprogramm, wie sich die Machart und die Verwendung der Werbung wandelte. 5 Jean Fourastié: Les Trente Glorieuses ou la révolution invisible de 1946 à 1975. Paris 1979. 84 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Europa als Kommunikationsraum? Dabei richtete sich v.a. das deutschspra- Transnationale Medienbeziehungen am chige Radio Luxemburg von Anfang an be- Beispiel von Radio Luxemburg. wusst an eine junge Zielgruppe, aber auch gezielt an Hausfrauen, was gleichermaßen Radio Luxemburg samt seiner „vier fröhlichen einen Wandel in der Funktion des Hörfunks Wellen“ gilt in Deutschland für viele als das signalisierte. Denn die Idee, Zielgruppenpro- Kultradio der sechziger und siebziger Jahre gramme zu veranstalten, war in den fünfziger des vergangenen Jahrhunderts. Im Rahmen Jahren keineswegs selbstverständlich, sollte des DFG-geförderten Projekts „Transnationa- der Hörfunk als volkspädagogisches Instru- le Medienbeziehungen in Europa. Programm- ment doch prinzipiell alle Hörer/innen anspre- transfer und kulturelle Kommunikation durch chen, unterhalten und bilden.2 Neben diesem Radio und Fernsehen 1945-1990“ soll dieser Funktionswandel des Hörfunks im nationalen populäre Radiosender nun auch wissen- Kontext zeigte sich mit dem Eindringen der schaftlich erforscht werden. luxemburgischen Programmkonkurrenz in die nationale Medienlandschaft auch eine weite- Dabei gilt es, in einem vergleichend angeleg- re Leistung moderner technischer Rundfunk- ten Projekt den Beitrag dieses kommerziel- medien: Erstmals adressierten der Hörfunk len Rundfunkunternehmens zum Wandel der und später das Fernsehen breite Öffentlich- Medienkulturen in der Bundesrepublik und in keiten auch über nationale Grenzen hinweg Frankreich von den fünfziger Jahren bis Ende und entzogen sich so nationalstaatlichen Re- der siebziger Jahre zu untersuchen. Hierbei gulierungsversuchen. soll vor allem die postulierte Zäsur der späten sechziger, frühen siebziger Jahre in den Blick Damit öffneten sie über entsprechende Inhal- genommen werden, die häufig als Beginn te sowie durch die Zirkulation von Program- einer neuen Ära auf dem Weg der Verwestli- men und Formaten zumindest mittelfristig chung – von der ‚Klassenkultur‘ zur ‚Massen- die nationalen Horizonte ihres Publikums. kultur‘ – definiert wird. Es wird angenommen, Nicht zuletzt über Radio Luxemburg haben dass dieser Prozess eng mit der Verbreitung so die transnationalen (musik-)kulturellen audiovisueller (Massen-)Medien verknüpft Grundlagen der neu entstehenden jugend- war und maßgeblich von ihnen mit vorange- spezifischen Subkulturen ihren Weg aus dem trieben wurde. anglo-amerikanischen Raum in die übrigen westeuropäischen Länder gefunden.3 Das hier vorgestellte Dissertationsprojekt befasst sich vor allem mit dem Einfluss des Der potentielle Medien-Overspill, welcher luxemburgischen Programmanbieters Ra- hier unterstellt wird – d.h. die Empfangbar- dio Télévision Luxembourg, kurz RTL, auf keit ausländischer Programme aus und in be- die bundesdeutsche Medienlandschaft. Dies nachbarten Ländern –, hatte in diesem Falle scheint besonders relevant, weil die Einfüh- weniger Konsequenzen für das kleinere Land rung des deutschsprachigen Radios Luxem- Luxemburg, sondern v.a. für dessen größere burg im Juli 1957 ganz konkret die hiesigen Nachbarländer, hier der Bundesrepublik, de- öffentlich-rechtlichen Programmanbieter vor ren nationale Programmanbieter sich dieser große Herausforderungen stellte, die bis dato neuen ausländischen, aber gleichsprachigen quasi eine Monopolstellung im deutschen und v.a. privat-kommerziellen Programmkon- Mediensystem innehatten. So bezeichnet kurrenz stellen mussten.4 Als Bedrohung für Dussel die Epoche des Hörfunk-Presse-Du- die öffentlich-rechtlichen Programme wurde alismus in der Bundesrepublik mit dem Sen- dabei ganz besonders der vom Sender sym- destart von Radio Luxemburg als „prä-duale“ bolisierte Lebenswandel samt neuen Werten Phase des Rundfunks, „die konkret an der und Normen, wie Individualisierung, Kon- Konkurrenz zwischen Radio Luxemburg und sum und Hedonismus stilisiert, der aus dem den öffentlich-rechtlichen Anstalten SWF und WDR festgemacht werden könnte.“1 2 Christoph Hilgert: Auf der Suche nach dem jugendlichen Hörer. Zum Wandel jugendspezifischer Programmangebote im deutschen Hörfunk zwischen 1924 und den 1990er-Jahren. In: Deutschland Archiv 44 (2011), S. 6. 1 Konrad Dussel: Rundfunkgeschichte – Mediengeschichte – Zeitgeschichte. Der Rundfunk 3 Ebd.: S. 5. und die Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft. 4 Vgl. Uwe Hasebrink und Hanna Domeyer: Die In: Inge Marßolek und Adelheid von Saldern (Hrsg.): Konstruktion europäischer Fernsehpublika. In: Ute Radiozeiten. Herrschaft, Alltag, Gesellschaft (1924- Daniel und Axel Schildt: Massenmedien im Europa des 1960). Potsdam 1999, S. 45. 20. Jahrhunderts. Köln u.a. 2010, S. 134f. Dissertationsvorhaben 85 marktwirtschaftlichen Duktus Radio Luxem- und insofern Kultur produzieren und vermit- burgs resultierte. teln konnte.5 Um möglichen Wechselwirkungen und (me- Gleichermaßen kann davon ausgegangen dien-) politischen Konsequenzen nachzuge- werden, dass Radio Luxemburg zur Standar- hen, ist die Untersuchung auf unterschiedli- disierung transnationaler Medienlandschaf- che gesellschaftliche Ebenen ausgerichtet: ten beitrug und somit Institutionalisierungs- Auf der ersten Analyseebene sollen die unter- prozesse auf medialer Ebene in Gang setzte. nehmerischen Strategien von RTL im Hinblick Aus diesem Grund will die Dissertation auch auf die Einführung seines deutschsprachigen einen Beitrag zu der Fragestellung leisten, ob Hörfunkprogramms im Juli 1957 und dessen überstaatliche Medienanbieter wie Radio Lu- sukzessiven Ausbau untersucht werden. Die xemburg in der Lage sind, die Konstituierung zweite Analyseebene widmet sich der Wir- eines Kommunikationsraumes Europa6 mit kung des deutschsprachigen Radio Luxem- voranzutreiben. Dabei wird unterstellt, dass burgs als einzigem rein kommerziellen Pro- die Integrationsleistung transnationaler Mas- grammanbieter in der Bundesrepublik. senmedien weniger aus ihrer Themenbünde- lung oder Publikumszusammenführung re- Mit welchen strukturellen und inhaltlichen An- sultiert, sondern vielmehr aus der Schaffung passungen reagierten die etablierten öffent- ähnlicher Produktions- und Rezeptionsbedin- lich-rechtlichen Medienanbieter auf die kom- gungen über nationale Grenzen hinweg. merzielle Herausforderung? Kann hier von einer inhaltlichen Anpassung der Programme RTL als beispielhafter transnationaler Markt- und damit ggf. sogar von einer Übernahme führer scheint hierfür besonders prädestiniert spezieller Wertmaßstäbe gesprochen wer- zu sein, da er mit seinen unterschiedlichen den, die letztlich zur Unterminierung der ur- Sendezentralen eine überragende Macht- sprünglich antipopulärkulturellen Ausrichtung stellung besaß, die ihn dazu befähigte, trotz der etablierten öffentlich-rechtlichen Anbieter rechtlicher Regulierungsversuche die sozio- beitrug? Die politischen und gesellschaft- kulturelle und medienwirtschaftliche Entwick- lichen Reaktionen und Rezeptionen sollen lungsrichtung auch über nationale Grenzen schließlich auf der dritten Analyseebene re- hinweg weitgehend mitzubestimmen.7 konstruiert werden. Im Kontext der Bundes- Katja Berg republik sollen dazu – sofern möglich – Par- lamentsprotokolle, besonders aber auch das Medienecho in die Untersuchung einbezogen werden. Inwiefern sind die Programme von Radio Luxemburg hier selbst implizit oder ex- plizit zum Gegenstand gesellschaftlicher oder politischer Diskussionen geworden? Mit der Existenz Radio Luxemburgs wurden 5 Vgl. Otfried Jarren: Gesellschaftliche Integration durch Medien? Zur Begründung die nationalen Medienkulturen rückblickend normativer Anforderungen an Medien. In: Medien & also schon sehr früh mit der Frage nach so- Kommunikationswissenschaft, 48. Jahrgang (1/2000), ziokultureller Integration durch Massenme- S. 34f. Es liegt hier natürlich nahe, davon auszugehen, dien auf europäischer Ebene konfrontiert. dass RTL selbst weniger an transnationalen Hierbei wird unterstellt, dass der Sender die Integrationseffekten interessiert war. Vielmehr nutzte das Unternehmen die technischen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Integrationsmöglichkeiten Überschreitung nationaler Grenzen gezielt, um von den besonders auch deshalb beeinflusste, weil sich daraus ergebenden Marktchancen zu profitieren, er mit seiner jugendlichen Zielgruppenorien- was schließlich auch der Etablierung eines dualen tierung am Prozess gesamtgesellschaftlicher Rundfunksystems entspricht. Dennoch kann in diesem Modernisierung, Individualisierung und sei- Zusammenhang durchaus die Frage gestellt werden, ob der Ausbildung eines gemeinsamen Marktes auch nem Wertewandel erheblichen Anteil hatte Formen einer soziokulturellen Vergemeinschaftung folgen. 6 Die Komplexität des Begriffes kann im Rahmen dieser kurzen Vorstellung leider nicht tiefergehend erörtert werden. 7 Vgl. Stefan Müller-Doohm: Kulturelle Identität im Zeitalter der globalen Medienkultur. In: Reinhold Viehoff und Rien T. Segers (Hrsg.): Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Frankfurt am Main 1999, S. 91. 86 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Classical music on UK radio, 1945–1995 ciety in the UK during those years. It seeks to correct any false impressions which have It has been generally assumed by historians persisted in the absence of a comprehensive that the story of classical music on British ra- narrative history of the place of classical mu- dio since the Second World War was almost sic on UK radio as a whole. entirely that of the BBC’s cultural channel. Institutional histories of this period have usu- The research methodology is to examine a ally reported the introduction of the ground- wide range of primary sources. That includes breaking Third Programme in September programme listings and production logs for 1946, and then discussed how it subse- the whole of this period for all the BBC ser- quently navigated the challenges of providing vices, and original material available for the high-brow art music. That approach has been ILR and Classic FM output. Bournemouth adopted by almost all general and cultural University holds a unique archive of those studies, as well as the broadcasting histories programmes shared between the ILR stations such as Briggs’ long-dominant history of Brit- between 1976 and 1987. ish Broadcasting1 and Carpenter’s institution- al history of the Third Programme/Radio 3.2 Information is also available about concert programmes broadcast from mainland Eu- However, it is starting to become clear that, rope with the potential to be received in the in this respect, they are wide of the mark. UK, including from transmitters in Bremen Classical music formed a significant part of and Hamburg. These data will be supple- the output of the BBC’s two other main na- mented and amplified by interviews with key tional radio services, well beyond that of the players from those years, the extensive poli- designated cultural channel, from 1945 right cy files at the BBC’s Written Archive Centre up until the re-organisation of BBC radio into (WAC), unique access to the files of Classic generic national services at the start of the FM and some ILR stations, and the commer- Seventies.3 The BBC ran a full daytime Music cial radio regulator’s files. Programme between 1964 and 1970, which offered a constant diet of classical music Audience research data exists in different pitched at the middle-brow listener, but which forms for the whole of this period. The WAC has received almost no scholarly attention. has research results for every programme broadcast, drawn from the Daily Listening Following the BBC’s shift to generic radio Survey. Research conducted under the aus- channels from 1967 onwards, the key post- pices of the Joint Industry Committee for war watershed for UK radio came about in Radio Audience Research (JICRAR) between 1973 with the breaking of the BBC’s radio 1977 and 1991 offers a methodological cor- monopoly, and the arrival of private radio, rective to the BBC’s quirky in-house research, in the form of new Independent Local Ra- and from 1992 the Radio Industry Joint Au- dio (ILR) stations. These were commercial- dience Research (RAJAR) project supplies a ly-funded, but carried extensive public ser- commonly-accepted currency for examining vice obligations, including the broadcasting listening figures. of significant classical music programmes. Then, from September 1992, a national com- A new data-base will bring together these mercial channel, Classic FM, became a domi- listening figures, seeking to reconcile the nant provider of classical music. different data sources and research meth- odologies. That will permit consideration of This research project sets out to establish ac- who listened to the range of classical music curately the nature and content of all UK radio broadcasts, which can be correlated with broadcasts of classical music between 1945 the other new data-set, an examination on a and 1995; the institutions and arrangements sample basis of the actual output for these which enabled such broadcasts; who listened 50 years. to them; and what all that reveals about the relationship between culture, class and so- The resulting new history will provide a narra- tive of the events of these years, looking be- 1 Asa Briggs: The History of Broadcasting in the yond and challenging the existing accounts United Kingdom. Oxford 1979. of the history of the Third Programme. Initial 2 Humphrey Carpenter: The Envy of the World. London 1996. results make it clear that classical music radio in the UK has been much more varied and 3 Broadcasting in the Seventies. London: British Broadcasting Corporation 1969. multi-sourced than has been acknowledged Dissertationsvorhaben 87 generally. This in turn has meant that the tone British scholars, led by Williams and Hoggart, and style of classical music radio in the UK and including Rose and Carey9, have suc- has been more accessible and more demotic, cessfully challenged the notion of literature suggesting a significance for middle-brow as a high-bourgeois characteristic and pre- listening, and therefore for radio provision for serve, but the assumed bifurcation between the middle-brow consumers, which also chal- high-brow and low-brow music, equated with lenges established scholarship. serious and popular music, has been largely unchallenged by scholars, other than Doc- There are comparisons to be drawn with tor10 for the pre-war years. The reality of what what happened in other countries, includ- classical music was actually broadcast and ing the unexpected history of classical mu- where, and the consequent listening patterns, sic on pre-war American radio in Goodman’s suggests a re-evaluation is needed for music recent study.4 From that, interesting parallels just as much as for literature, and is likely to are starting to emerge about the significance show that the role of the middle-brow has of live music as distinct from gramophone been consistently undervalued. record programmes (to use the terminology generally in use through this period), the im- That in turn makes definitional work espe- portance of regulation in ensuring the avail- cially significant. It is not just a matter of es- ability of classical music output and its peda- tablishing a working definition for „classical gogical relevance. music“ for the purpose of the historical analy- sis. There is increasing evidence that the na- Live music broadcasts were a feature of all of ture of classical music, and the acceptance the UK radio platforms. The BBC orchestras,5 by producers and consumers of an agreed and those supported by other stations, are taxonomy at any given moment, is a reflex- significant both for the programmes they pro- ive process. The definition changes over time, vided and for how they identify the hugely im- and is affected by how each sequential defini- portant part which the broadcasters – and not tion is implemented by those producing and just the BBC – played as patrons of serious consuming radio broadcasts. music. The Promenade Concerts and smaller but locally important festival across the UK The nature of the „established canon“ of se- are also part of this picture. rious music, whose origins Weber11 traces back to the mid nineteenth century in West- The study will move on to consider what all ern Europe, similarly evolves, tied in with at- these data reveal about culture, class, taste titudes about how it is best broadcast. The and society in the UK during these years. hotly-debated question of broadcasting only Adorno’s seminal work on American radio6 short extracts from music works, such as a still stands largely unchallenged in the clas- single movement of a symphony, studied in sical music field. His theories, and those of Germany by Lüthje,12 is one current example his colleagues and contemporaries such as of how the public discourse changes. This Bourdieu and LeMahieu7 – and the equiva- thesis aims to provide an intellectual basis for lent but opposite approach of the Leavisite these debates, as well as an original narrative School8 – have undergone necessary revision history of fifty fascinating years of UK radio in respect of British literature and culture but broadcasting. not for serious music. Tony Stoller 4 David Goodman: Radio’s Civic Ambition. Oxford 2011. 9 Raymond Williams: Culture and Society 1780-1950. 5 Nicholas Kenyon: The BBC Symphony Orchestra. London 1967; Richard Hoggart: The Uses of Literacy. The First Fifty Years. London 1981. London 1967; Jonathan Rose: The Intellectual Life of the 6 Theodor W. Adorno: Essay on Music. Ed. Richard British Working Classes. London 2002; John Carey: The Leppert. London 2002. Intellectuals and the Masses. London 1992. 7 See: Pierre Bourdieu: Distinction. London 1984; D.L. 10 Jennifer Doctor: The BBC and Ultra Modern Music LeMahieu: Culture for Democracy. Oxford 1988. 1922–1936. Cambridge 1999. 8 Conservative British academics who argued for 11 William Weber: Music and the Middle Class. the study of a limited canon of English Literature. Aldershot 2004. Politically opposite to Adorno and the Frankfurt School, 12 Corinna Lüthje: Das Medium als symbolische they reached a parallel conclusion about the social Macht. Untersuchung zur soziokulturellen Wirkung von exclusiveness of high art. See, for example, F.R. Leavis: Medien am Beispiel von Klassik Radio. Norderstedt The Common Pursuit. London 1952. 2008. 88 Projekt Radio Aesthetics – Radio Identities Art und Weise, wie Nachrichten gesprochen werden, eine bedeutende Rolle. Folgendes Die folgenden Dissertationsvorhaben von Cla- Alltagsphänomen lässt sich beobachten: Ein ra Finke und Anna Schwenke sind Teilprojek- Radio läuft im Nebenraum. Durch die Wand te des interdisziplinären Forschungsprojektes verstehe ich nicht, was gesagt wird, aber ich Radio Aesthetics – Radio Identities. Beteiligt höre, wie es gesagt wird und kann mit großer sind Medien-, Kommunikations- und Sprech- Sicherheit sagen, dass es sich um Nachrich- wissenschaftler/innen der Martin-Luther-Uni- ten handelt. Dieser typische Sprechstil bzw. versität Halle-Wittenberg, der Humboldt-Uni- Klang oder Sound von Radionachrichten ist versität Berlin und des Hans-Bredow-Instituts Gegenstand der Dissertation.3 Hamburg. Das Projekt wurde 2011 gegründet und hat das Ziel, Relationen zwischen Pro- Der Sprechstil mündlicher Kommunikation duktionsstrategien der Radioschaffenden, wird in sprechwissenschaftlichen Untersu- Klangästhetik der Radioelemente und indi- chungen u.a. mit Hilfe von Kriterienkatalo- vidueller Nutzung und Wahrnehmung durch gen beschrieben.4 Sprechstilistische Kriterien Radiohörende zu untersuchen – in der Ge- sind: Melodiebewegungen, Sprechtonhöhe genwart, in der Vergangenheit und im inter- und Stimmklang, Betonung und Lautstärke, kulturellen Vergleich. Clara Finke und Anna Sprechtempo und Pausen, Artikulation und Schwenke analysieren die sprecherische Re- kommunikative Elemente (Ansprechhaltung, alisierung und den Klang von Programmele- Sinnbezug). Leicht modifizierte Varianten die- menten (Morningshow-Moderation und Radi- ser Kataloge werden auch für Feedback- und onachrichten). Fortbildungsmaßnahmen im Radio genutzt.5 Weitere Dissertationsvorhaben: Grit Böh- Problematisch dabei ist, dass die Kataloge me und Luise Gebauer präsentieren zwei bis dato empirisch nicht ausreichend gestützt verschiedene methodische Herangehens- und für die Beschreibung von ausdrucksstar- weisen zur Analyse von Wahrnehmung- und ken und emotionalen Äußerungen mit starken Beschreibungskategorien von Moderationen Merkmalsausprägungen und -differenzierun- aus Sicht der Hörenden. Anja Richter be- gen entwickelt sind. Radionachrichten gelten schäftigt sich mit dem ästhetischen Potential als stark normiert mit einem eng umgrenzten der Programmstruktur von Radiosendern und Gestaltungsspielraum und haben einen eher formuliert entsprechende Eigenschaftsprofile gering differenzierten Sprechstil mit typischen für unterschiedliche aktuelle Radioformate. Merkmalen wie hohem Sprechtempo, einem www.radioaesthetics.org. Sie werden später speziellen Sprechrhythmus, starker Akzen- vorgestellt. tuierung und geringer Melodiebewegung. Dennoch gibt es abhängig von Senderformat Wie klingen Radionachrichten? und/oder der Sprecherpersönlichkeit eine ge- Sprechstil von Radionachrichten – Kons- wisse Variationsbreite dieser sprecherischen tanz und Varianz Merkmale mit charakteristischen Unterschie- den.6 Im Vergleich zu anderen Programmangebo- ten werden Radionachrichten von den Hörer/ innen als eines der wesentlichen Elemente bewertet und genutzt.1 Radionachrichten 3 Der Einfluss von Verpackungselementen (Jingles) und der technischen Bearbeitung des kommen nicht nur ihrer Informationsfunktion Audiosignals (Stimmschlüssel) ist nicht Gegenstand nach, sondern sie übernehmen auch Funkti- der Untersuchung, wird aber innerhalb des onen der Strukturierung des Programm- und Forschungsprojektes diskutiert: Jörg Langguth: Tagesablaufs, der „Vermittlung von Ereignis- Stimmenmodulation im Radio – Bestandteil einer kontinuität und einem Gefühl existentieller Senderästhetik. Online unter: www.radioaesthetics.org (zuletzt abgerufen am 15.08.2012). Sicherheit“.2 Dabei spielt der Sprechstil, die 4 Vgl. u.a. Ines Bose: da sin ja nur muster. Kindlicher 1 Dietz Schwiesau: Nachrichten „im Sperrfeuer“ der Sprechausdruck im sozialen Rollenspiel. Frankfurt Wissenschaft – Die große Debatte um Radionachrichten am Main 2003; Beate Wendt: Analysen emotionaler und ihre Sprache. In: Ines Bose und Dietz Prosodie. Berlin 2007. Schwiesau (Hrsg.): Nachrichten schreiben, sprechen, 5 Vgl. u.a. Wolfgang Spang: Qualität im Radio. hören. Forschungen zur Hörverständlichkeit von Determinanten der Qualitätssicherung im öffentlich- Radionachrichten. Berlin 2011 (Bose und Schwiesau rechtlichen Radio in Deutschland. St. Ingbert 2006. 2011), S. 207 f. 6 Vgl. Sven Grawunder: Die Erforschung des 2 Gerlinde Mautner: Kommunikative Funktionen der Sprechens mittels Nachrichtenkorpora – Die Radionachrichten. In: Medienwissenschaft. HSK 15.3. Nachrichtenarche der ARD. In: Bose und Schwiesau Berlin und New York 2002, S. 2009. 2011, S. 158. Dissertationsvorhaben 89 Radionachrichten liefern Informationen, die Textvarianten einer fiktiven, aber realitätsna- beim ersten Hören verständlich sein müssen: hen Nachrichtensendung (fünf Meldungen, Sie müssen hörverständlich sein. Radiohö- Wetter, Verkehr) erstellt: ein leicht verständ- rer/innen haben im Vergleich zu Leser/innen lich (N1) und ein schwer verständlich ge- nicht die Möglichkeit zurückzublättern. Aus schriebener Text (N2). Inhalt und Aufbau der sprechwissenschaftlicher Sicht resultieren Texte sind jeweils identisch, die sprach- und die formalen Grundbedingungen für Hörver- textstilistischen Merkmale differieren hin- ständlichkeit aus dem wechselseitigen Zu- sichtlich Wort- und Satzlänge, Satzstruktur sammenhang zwischen dem Text und seiner oder Verwendung von Synonymen. Beide sprecherischen Realisierung.7 Dabei ist das Texte wurden deutschlandweit an öffentlich- hörverständliche Sprechen neben den „pro- rechtliche, private und freie bzw. nicht kom- fessionellen Reproduktionsfertigkeiten für merzielle Sender verschickt. Derzeit haben Texte“ der Sprecher/innen abhängig von der 100 Nachrichtensprecher/innen jeweils einen Textvorlage:8 Leicht verständlich geschrie- dieser Texte gesprochen und danach einen bene Nachrichten erleichtern hörverständli- Fragebogen mit Angaben zur Person, zur ches Sprechen und schwer verständlich ge- Sprechbarkeit und Realitätsnähe des gespro- schriebene Nachrichten erschweren dagegen chenen Textes, zur Aufnahmesituation sowie hörverständliches Sprechen. Diese Grund- zum Arbeitsalltag beantwortet. annahmen beanspruchen Plausibilität, die empirische Prüfung steht bislang noch aus. Grundlegende Methode der Dissertation ist die phonetische Analyse und der Vergleich Die Dissertation verfolgt zwei Ziele. Einerseits der Testnachrichten nach ausgewählten werden jene Grundannahmen zur Abhän- Merkmalen des Sprechstils: Sprechtempo gigkeit des Sprechens vom Text angesichts und Pausendauer, Akzentuierung, Melodie- verschiedener Nachrichtenformate und Spre- bewegungen, mittlere Sprechstimmlage so- cherpersönlichkeiten geprüft. Wie stark ist wie Stimmklang. der Einfluss des Textes auf die sprecherische Realisierung? Können vorhandene Regeln Die schriftliche Befragung der Sprecher/in- zum hörverständlichen Schreiben und Spre- nen dient der Analyse der sprecherabhängi- chen von Radionachrichten empirisch belegt gen Faktoren (Ausbildung, Erfahrung, Talent) oder müssen sie ggf. erweitert werden? bei der Realisation der Textvarianten (N1 und N2) sowie als Kontrollinstrument der Aufnah- Andererseits und gleichzeitig wird der Status mesituation und der Bewertung der gespro- Quo von Sprechstilen deutscher Radionach- chenen Sendung. Im Anschluss wird in einem richten erhoben und kategorisiert. Was sind Hörexperiment getestet, wie bzw. ob Hörer/ sender-, format- oder sprechertypische Merk- innen einen Formatbezug lediglich anhand male des Sprechstils? Oder: Lassen sich Ra- des Sprechstils der Radionachrichten erken- dionachrichten nur anhand ihres Sprechstils nen bzw. benennen können. bestimmten Radioformaten zuordnen? Die durch phonetische Analyse, schriftliche Zur Beantwortung dieser Fragen nutze ich Befragung und Hörexperiment ermittelten Testmaterial des Projektes „Hörverständlich- Merkmale und Merkmalsausprägungen wer- keit von Radionachrichten“.9 Ein Team von den auf Grundlage vorhandener Kriterien- Radionachrichtenredakteur/innen hat zwei kataloge neu systematisiert und können als Feedbackraster zur optimalen Beschreibung 7 Vgl. sprechwissenschaftliche Forschungen zur von Nachrichtensprechstilen im Radio bereit- Hörverständlichkeit von Radionachrichten: u. a. Hellmut gestellt werden. Geißner: Zum Verhältnis von Sprach- und Sprechstil bei Rundfunknachrichten. In: Hellmut Geißner (Hrsg.): Stichprobenanalysen der Testnachrichten Vor Lautsprecher und Mattscheibe. St. Ingbert 1991, S. zeigen erste Tendenzen: 84-98; Norbert Gutenberg: Schreiben und Sprechen von Radionachrichten. Frankfurt am Main 2005 (Gutenberg - Die Akzentuierung ist textunabhängig: Bei 2005). Aktuelle Forschungsansätze, Zwischenberichte N1 sowie bei N2 kommt es zu Akzenthäufun- und Ergebnisse sind nachzulesen in: Bose und gen. Existiert ein „nachrichtentypisches“ Ak- Schwiesau 2011. zentmuster? 8 Vgl. Norbert Gutenberg: Projektentwurf. In: - Sprechgliederung und Sprechtempo sind Gutenberg 2005, S. 12 f. textabhängig: N1 wird langsamer gesprochen 9 Vgl. Ines Bose et al.: Testmaterial zur und es werden mehr gliedernde Pausen ge- Hörverständlichkeit von Radionachrichten – setzt als bei N2. Theoretische und methodische Grundlagen. In: Bose und Schwiesau 2011, S. 15-79. 90 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 - Sprechtempo und Pausenlänge sind forma- Sendungskonzept beziehen lässt. Die Un- tabhängig: Im Privat- und Jugendradio wird tersuchung soll sowohl den Vergleich von generell schneller gesprochen als im öffent- Radiosendern untereinander erlauben, als lich-rechtlichen Inforadio. Entscheidend für auch den Vergleich der Selbstdarstellung ei- die Zuordnung „eher Info“ oder „eher Ju- nes Senders (z. B. auf der Internetseite des gend/Privat“ scheint dabei nicht die reine Senders: Angaben zur Hörerzielgruppe, zum Sprechrate zu sein (wie viele Silben pro Mi- Senderprofil, zu den Moderator/innen etc.) nute gesprochen werden), sondern wie häufig mit der jeweiligen Gestaltung, d. h. der Prä- Pausen gesetzt werden, z. B. sprechen eine sentation der Moderationen.1 Sprecherin Info und ein Sprecher Privat bei- de gleich schnell. Während dieser aber nur Media-Analysen2 der ARD und des ZDF zu- wenig und sehr kurze Pausen realisiert, setzt folge schalten die meisten Menschen das Ra- jene viele und relativ lange Pausen. dio zwischen 7 und 9 Uhr morgens ein. Die Sendungen, die zu dieser Primetime laufen, Außerdem scheint der souveräne Umgang zählen für jeden Sender als wichtigste Sen- mit Nachrichtentexten davon abhängig zu dungen und werden als Aushängeschild des sein, wie groß die Erfahrung als Sprecher/ Senders verstanden. Das jeweilige Sender- in ist. Ein Sprecher mit 34 Jahren Sprecher- profil, die sogenannte channel identity, wird erfahrung hat die gute Sprechbarkeit des in diesen Sendungen besonders deutlich de- schwer verständlich geschriebenen Textes monstriert. Ein Blick in die Radiopraxis zeigt, folgenderweise begründet: „Weil mich nichts dass sich Produzent/innen, Programmchefs mehr erschrecken kann. Ein Sprecher in mei- und Moderator/innen der Bedeutung von Pri- nem Dienstalter wird mit allem fertig“. metime-Sendungen und der Relevanz eines Anna Schwenke auf eine bestimmte Zielgruppe ausgerichte- ten Moderationsstils durchaus bewusst sind. Die Moderatoren-Personality stellt für Radio- Vorüberlegungen zur Konstanz und Vari- praktiker dabei das wichtigste Kriterium für anz von Morningshow-Moderationen im die Hörerbindung dar. Was aber ist die Mo- gegenwärtigen Radio deratoren-Personality? Wodurch zeichnet sie sich aus? Und wie individuell darf eine Mo- Radiomoderation stellt eines der konstitu- deratoren-Personality sein, wenn der jewei- tiven Elemente in Hörfunksendungen dar. lige Radiosender seine Formatvorgaben er- In Zeiten des medialen Umbruchs, verbrei- füllen will bzw. soll? In Redaktionssitzungen, tungstechnischer Veränderungen (Radio-on- auf Rundfunktagungen und in Diskussionen Demand, DAB+, Internetradio etc.) und eines wird meist nicht über eine Demonstration der großen Senderangebotes sind die einzelnen einzelnen Sendungskonzepte hinausgegan- Radiosender einer großen Konkurrenz aus- gen.3 Beschreibungen der Moderatoren-Per- gesetzt. Sie müssen somit noch stärker als sonality werden uneinheitlich vorgenommen bisher ein spezielles Profil haben und eine und daraus zu ziehende Konsequenzen sind konkrete Hörerzielgruppe ansprechen, um kaum greifbar. Offenbar existieren hier keine auf dem Markt bestehen zu können. Für die Verfertigung einer Senderidentität, um eine 1 Im interdisziplinären Forschungsprojekt „Radio konkrete Hörerzielgruppe anzusprechen und Aesthetics - Radio Identities“ befassen sich weitere um diese Hörergruppe langfristig an den Arbeiten mit der Planung und den technischen Sender zu binden, stellt das Programmele- Merkmalen des Produktionsprozesses sowie mit der Wirkung von Radiomoderationen auf die Rezipienten. ment „Moderation“ einen zentralen Faktor Eine Trennung von Produktionsprozess, Produkt und dar. Wie aber sind Moderationen gestaltet? Rezeptionsprozess ist nur in der Theorie möglich. Das Welchen Sprach- und Sprechstil vereinbaren Zusammenführen der verschiedenen Arbeiten erlaubt Programm- und Sendechefs mit ihren Mode- einen umfassenden Blick auf Radiomoderation im rator/innen? Durch welche Ansprechhaltung Gesamtkontext der genannten Trias. Online unter: www. radioaesthetics.org (zuletzt abgerufen am 15.08.2012). und welche Themen versuchen Moderator/ 2 Die aktuelle Media-Analyse 2012 Radio II wurde innen ihre Hörerzielgruppe zu erreichen? im Juli 2012 veröffentlicht; vgl. online unter: www. radiozentrale.de/site/994.0.html (zuletzt abgerufen am Ziel der Dissertation ist es, eine rhetorische 15.08.2012). und phonetische Beschreibung von Radio- 3 Dies bestätigte mir z. B. das Broadcast Symposium moderationen in gegenwärtigen Radiosen- 2012, welches im April in Berlin stattfand. Zum dungen vorzunehmen. Zudem soll geklärt diesjährigen Thema „The Morning never dies - der werden, ob sich die Gestaltung der Mo- Morgen macht den Tag“ stellten die größten und erfolgreichsten Morningshows in Deutschland ihre derationen auf das jeweilige Sender- bzw. Sendungen und ihre Moderatorenteams vor. Dissertationsvorhaben 91 kohärenten Begriffe und Konzepte. Die Un- Merkmale der einzelnen Moderationen in ei- tersuchung der aufgezeigten Desiderata ist nem Sprechausdrucksraster systematisiert, daher sowohl für die Wissenschaft als auch um Unterschiede und Gemeinsamkeiten ein- für die Praxis Ertrag bringend. zelner Radiosender darstellen zu können und besonders typische Sprechstile (z. B. inner- Bisherige Forschungsarbeiten zum Wortanteil halb einer Hörerzielgruppe) durch eine Häu- im Radio untersuchten vor allem inhaltsanaly- figkeitsverteilung der ermittelten Realisierung tische Aspekte mit den Schwerpunkten The- einzelner Sprechausdrucksmerkmale aufzu- menhäufigkeit, Verständlichkeit des Sprach- zeigen. stils und Beurteilung journalistischer Qualität.4 Zum Sprechstil liegen deutlich weniger Unter- Für die rhetorische Analyse existieren bis- suchungen vor. So wurde bisher auch zu den her keine Kategorien und Methoden, die für stimmlichen und sprecherischen Merkmalen die Untersuchung in der Dissertation über- eines auf eine bestimmte Zielgruppe ausge- nommen werden können. Daher wird aus richteten Moderationsstils kaum geforscht. rhetorischen Untersuchungen mit ähnlichen Zudem existieren keine umfangreicheren Un- Fragestellungen, aber vollkommen anderen tersuchungen, die die inhaltsanalytische Ana- Gegenständen, ein methodisches Vorgehen lyse mit einer phonetischen Untersuchung entwickelt und ein Analyseinstrumentarium verknüpfen und in Beziehung zueinander set- abgeleitet. Die rhetorische Analyse in der Dis- zen. Diese Verknüpfung soll im Dissertations- sertation hat somit in Teilen einen explorati- vorhaben stattfinden. ven Charakter. Die Untersuchungsmethode wird im Laufe der Arbeit entwickelt und er- Das Korpus für die geplante Untersuchung probt (d. h. qualitative Inhaltsanalyse sowie besteht aus authentischen Moderationsmit- Methodenvervollständigung und Erkenntnis- schnitten der Primetime. Untersucht werden gewinn im Zuge der voranschreitenden Ana- sowohl die konzeptionelle und strukturelle lyse). Ein Aspekt der rhetorischen Analyse Gestaltung der Moderationen (rhetorische ist die Untersuchung der Entwicklung eines Analyse) als auch die Präsentation, insbeson- Themas über einen ausgewählten Zeitraum, dere die sprachliche und stimmlich-spreche- die sogenannte Themenkarriere. Hierfür wird rische Gestaltung der Moderationen (phone- z. B. auf rhetorische Forschungsarbeiten zu- tische Analyse). rückgegriffen, die zur Themenkarriere in Ge- richtsverhandlungen6 vorliegen. Für die phonetische Analyse liegen in Sprech- wissenschaft und Phonetik bewährte Katego- Im Anschluss an die rhetorische und pho- rien und Methoden vor, die in dieser Dissertati- netische Analyse werden die zwei Untersu- on verwendet werden können. Eine Methode, chungsteile verknüpft. Es wird dargestellt, die hier für die auditiv-phonetische Analyse ob und wo ein Zusammenhang zwischen der verwendet wird, stellt das analytische Hören5 Behandlung des Themas und der stimmlich- dar. Die einzelnen Moderationsmitschnitte sprecherischen Umsetzung besteht. Zudem werden zunächst hinsichtlich ausgewählter wird erhoben, ob prototypische Moderatio- Merkmale des stimmlich-artikulatorischen nen (im Sinne von typischen Eigenschafts- Ausdrucks (Sprechgeschwindigkeit, Sprech- Clustern) auftreten. Außerdem werden aus spannung, Register, Tonhöhenumfang, mitt- den Analyseergebnissen Schlussfolgerungen lere Sprechstimmlage etc.) analysiert. An- für die Optimierung der Moderatorenausbil- schließend werden ausgewählte akustische dung gezogen. Korrelate der auditiven Beschreibung ermit- Clara Finke telt. Nach dieser auditiv-akustischen Analyse werden die stimmlichen und sprecherischen 4 Vgl. z. B. Wolfgang Spang: Qualität im Radio. Determinanten der Qualitätsdiskussion im öffentlich- rechtlichen Rundfunk in Deutschland. St. Ingbert 2006; Veronika Grandke: Der Bericht in Hörfunk-Nachrichten. 6 Vgl. Thomas Scheffer: The Duality of Mobilisation – In: Lutz-Christian Anders und Ines Bose (Hrsg.): Aktuelle Following the Rise and Fall of an Alibi-Story on its Way Forschungsthemen der Sprechwissenschaft 1. Frankfurt to Court. In: Journal for the Theory of Social Behavior am Main 2009, S. 129-143. 33, 3 (2003), S. 313-346; Kati Hannken-Illjes: Building 5 Vgl. u. a. Ines Bose: doch da sin ja nur muster. a Winning Team – The Development of Arguments Kindlicher Sprechausdruck im sozialen Rollenspiel. in Criminal Cases. In: Hans Hansen und Christopher Frankfurt am Main 2003. S. 91 f.; Wilhelm H. Vieregge: Tindale (Hrsg.): Proceedings of the OSSA-Conference Patho-Symbolphonetik. Auditive Deskription on Argumentation. Windsor, pathologischer Sprache. Stuttgart 1996, S. 1. Canada 2008, (CD-ROM). Rezensionen Ute Daniel/Axel Schildt (Hg.) Dazu mag die eingangs erwähnte transnatio- Massenmedien im Europa des 20. Jahr- nale Perspektive nicht unbedingt erforderlich hunderts. sein. Gleichwohl vermehrt und differenziert Industrielle Welt. Schriftenreihe des Ar- sich – schlicht formuliert – dadurch die Menge beitskreises für moderne Sozialgeschich- des ‚Anschauungsmaterials‘. Daniel/Schildt te, hrsg. von Andreas Eckert und Joachim gehen aber einen Schritt weiter und stellen Rückert, Bd. 77 fest, dass angesichts vielfach paralleler Ab- Wien: Böhlau Verlag 2010, 440 Seiten. läufe bei der Medialisierung in den einzelnen Ländern sowie gegebener technischer und Der anzuzeigende Sammelband hat einer- ökonomischer Verflechtungen der „medialen seits zum Ziel, die immer wieder kritisierte Entwicklung die trans- und internationalen Fokussierung historischer und damit auch Bezüge eingeschrieben“ seien (S. 12). Euro- kommunikations- und mediengeschichtlicher pa – anstelle einer globalen Betrachtung als Forschung auf die jeweilige nationalstaat- enger, umgrenzter Raum – wird nicht schon liche Begrenzung zu überwinden. Darüber als „handbuchartiger, fester Bezugsraum“ hinaus annoncieren die Herausgeber eine betrachtet. Vielmehr solle erörtert werden, grundlegende Skepsis gegenüber vorhan- wie die mediale Entwicklung eine territoriale denen Erkenntnissen zum Beitrag der Me- Bezugsgröße – wie eben Europa – zumindest dienentwicklung am ‚historischen Prozess‘. (mit-)konstituiert oder vielleicht auch nicht. Diese nimmt man zunächst überrascht, nach Daniel/Schildt hängen schließlich die Mess- einigem Nachdenken zustimmend zur Kennt- latte der Erwartungen an die Erträge des nis und ist gespannt auf die Ergebnisse der Bandes niedriger und sehen ihr Ziel erreicht, Beiträge. Nach wie vor – so Ute Daniel und wenn er als „Einstiegshilfe in ein noch unzu- Axel Schildt in ihrer sehr lesenswerten Einlei- reichend vermessenes Gebirge, die europä- tung – sei plausibles Wissen gering, was die ische Mediengeschichte des vergangenen Folgewirkungen der Ausbreitung der Mas- Jahrhunderts als Teil von dessen allgemeiner senmedien betrifft, d.h. inwieweit die „Pro- Geschichte“ diene. (S. 26). zesse quantitativer Steigerung Medien in ih- ren jeweiligen historischen Kontexten einen Vielleicht wäre ein auf die beschriebenen Fra- Bedeutungszuwachs – im Sinne eines grö- gestellungen zugeschnittener ausführlicher ßeren Folgenreichtums – verleihen“. Lapidar und kritischer Literaturbericht etwa der beiden stellen sie fest: „Ein kontinuierlicher Bedeu- Herausgeber, der darüber hinaus mehr oder tungszuwachs in diesen Hinsichten, also im weniger operationalisierbare Forschungsthe- Sinn zunehmender Geschichtsmächtigkeit in men formuliert, den hochkomplexen Ansprü- Bereichen des individuellen, politischen oder chen der skizzierten Fragestellungen dienli- gesellschaftlichen Lebens, [ist] weder plausi- cher gewesen (wobei hier noch nicht einmal bel noch nachweisbar“ (S. 12). Aufgabe der alle Ausdifferenzierungen vorgestellt wurden). (Geschichts-)Wissenschaft wäre also nach Denn die Autoren des Bandes bleiben über- wie vor herauszufinden, „was sich dadurch, wiegend hinter dem Reflexionsniveau der Ein- dass die Massenmedien ubiquitärer, globaler leitung zurück. Für sich genommen teilweise und immer schneller werden, in welcher Wei- interessante mediengeschichtliche Themati- se, in welchen Bereichen verändert und unter ken aufgreifend, stellen ihre Beiträge selten welchen Bedingungen und mit welchen Fol- einen expliziten oder impliziten Bezug zum gen dies geschieht“ (ebd., HV vom Rez.). Weil apostrophierten „Folgenreichtum“ her. Auch etwa Soziologie und systematische Kommu- die Frage nach der transnationalen Verflech- nikations- bzw. Medienwissenschaft ange- tung bzw. Koevolution der Medien wird selten sichts systemtheoretischer Konzeptualisie- entsprechend der Fragestellungen behandelt. rungen paradoxerweise zur Separierung der Die Durchsicht der Literaturverzeichnisse der Subsysteme tendierten, müsse Geschichts- einschlägigen Beiträge vor allem des dritten wissenschaft diese enger zusammen denken Teils des Bandes ergibt, dass die Autoren und Wechselwirkungen herausarbeiten. auf von ihnen verfasste, zwischen zwei oder mehreren Ländern vergleichende medien- Rezensionen 93 geschichtliche Arbeiten zurückgreifen, ohne die der Arbeitswelt bzw. die sich wandelnden dabei weitergehende Schlussfolgerungen im Relationen von Arbeit und Freizeit usw.), die Sinne der Ausgangsfragestellung zu ziehen. die Zeitstrukturierung von Hörfunk und Fern- sehen beeinflussen? Weiterführend in Bezug auf ein zu konstitu- ierendes mediales Europa erweisen sich die Unbefriedigend ist in dem Radiobeitrag auch Vergleiche zwischen medialen Entwicklungen die Identifikation von beabsichtigten Medi- in ‚Amerika‘ (das meint i.w.S. die USA) und enwirkungen und den ‚Folgen‘ der Rezepti- Europa. Mit Jörg Requates Zusammenstel- on. Dies gilt sowohl für die beiden deutschen lungen zur „‚Amerikanisierung‘ als Grundzug Diktaturen (Drittes Reich und DDR) wie auch der europäischen Medienentwicklung des 20. für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Jahrhunderts?“ mit Erarbeitung der grundle- Bundesrepublik. Dass vermittels des Radios gend unterschiedlichen Funktionszuweisun- „Volksgemeinschaft“ im nationalsozialisti- gen der Medien und Thomas Mergels ähnlich schen, sozialistische Gemeinschaft im real- gearteter Untersuchung der „Wahlkämpfe in sozialistischen Deutschland und „demokra- USA und Europa nach 1945“ kristallisieren tietheoretische“ Ziele in Westdeutschland (so sich – bei allen innereuropäischen Differen- etwa Konrad Dussel) gewünscht wurden, ist zen – gewisse gemeinsame Grundzüge einer unbestritten. Aber wurden sie auch erreicht? für den ‚alten‘ Kontinent charakteristischen Und wie kann das genauer belegt werden? Medienformation heraus. Hinsichtlich der transnationalen Aspekte be- gnügen sich von Saldern/Marzolek mit Hin- Zur „Geschichtsmächtigkeit“ der medialen weisen auf den grenzüberschreitenden Rund- Entwicklung im 20. Jahrhundert finden sich in funk während des Dritten Reiches und in den dem Band so gut wie keine Antworten über Jahren der Ost-West-Konfrontation. die Feststellung der „quantitativen Steige- rung“ der Medialisierung hinaus, d.h. zu der in Knut Hickethier zeichnet Grundzüge einer in immer weitere Lebensbereiche ausgreifenden Europa weitgehend parallelen und partiell in- massenmedialen Thematisierung und ‚Öf- terdependenten Entwicklung des Fernsehens fentlichmachung‘ sowie dem Eindringen der in Bezug auf Technik, Programmstrukturen Mediennutzung in den Alltag der Menschen, und Programminhalte – verständlicherwei- vor allem der Okkupation ihrer Freizeit. Wenn se in groben Zügen – nach. Das Fazit seiner es um „Folgen“ oder „Wirkungen“ geht, so ist Ausführungen ist die ernüchternde Fest- meist bei genauem Hinsehen erkennbar, dass stellung, dass trotz aller Verflechtungen das es um die Gleichsetzung von Kommunikator- Fernsehangebot von den jeweils nationalen erwartungen und tatsächlichen Folgewirkun- Kommunikationskulturen geprägt war und gen geht, womit die Frage der Wirkmächtig- bis heute bleibt, angesichts der sprachlichen keit eigentlich nicht beantwortet ist. Barrieren eine ‚europäische Öffentlichkeit‘ als Pendant zur transnationalen Integration Diese Problematik ist auch in den beiden Bei- im politischen und wirtschaftlichen Raum trägen des Bandes auszumachen, die sich nicht hergestellt wurde. Die „gesellschaft- mit dem Rundfunk beschäftigen: Adelheid liche (...) Bedeutung des Fernsehens“ (S. von Saldern/Ingrid Marszolek thematisieren 161-164) und damit seine „Wirkmächtigkeit“ die „Mediale Durchdringung des deutschen sieht Hickethier darin, dass das Fernsehen Alltags. Radio in drei politischen Systemen „durch seine Medialität zum Zentrum der (1930er bis 1960er)“ (S. 84-120), Knut Hi- Kultur“ wurde und es „ein gemeinsames Be- ckethier „Europa und die Wirklichkeiten der wusstsein von der Repräsentation von Welt“ Fernsehgesellschaft“ (S.149-175). Erstere erzeugt habe (S. 162). In Bezug auf seine wollen herausarbeiten, „wie und in welchem „langfristigen Wirkungen“ bleibt Hickethier Ausmaße es dem Radio gelang, sich in den mit Rückgriff auf die von Joshua Meyrowitz Alltag der Menschen einzuschreiben, deren formulierten doch recht im Allgemeinen: 1. Gewohnheiten zu beeinflussen“ (S. 84). Die die Verwischung der Grenzen zwischen Kind- Antworten können nicht überzeugen, insbe- und Erwachsenen-Sein, 2. die Emanzipation sondere die in Bezug auf Strukturierung der der Frauen und 3. die Entauratisierung der Zeit durch das Radio. Bestimmte nun die Politik (S. 163). zeitstrukturierende, weil an bestimmte Muster des Nacheinander gebundene Rundfunknut- Ob die mehrfach erwähnte Anfrage nach der zung (i.w.S.) mit ihrer Taktung und inhaltlichen „Wirkmächtigkeit“ der Medialisierung in Be- Schwerpunktsetzungen den Alltag oder sind zug auf Produktion und Rezeption (man den- es nicht vielmehr andere Vorgaben (vor allem ke etwa an enormen Zeitverbrauch für den 94 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Konsum der elektronischen Medien) sich je und Reenactments, Personen/Zeitzeugen, beantworten lässt? Skepsis bleibt angesagt Kommentar, Musik usw.). Auf diese Weise angesichts Schwierigkeiten, aus den Quellen werden sehr anschaulich und die verschie- mehr als allgemeine Vermutungen formulie- denen Thematiken mit einheitlicher Methodik ren zu können. Im vorliegenden Sammelband vergleichend die Erzählstrukturen und filmi- sind leider (noch) keine neuen Königswege zu schen Mittel herausgearbeitet. Die inhaltliche entdecken. Stimmigkeit oder Wahrhaftigkeit der Doku- Edgar Lersch mentationen spielt nur eine untergeordnete Rolle, und in der Tat würde sich eine medien- wissenschaftlich orientierte Analyse auch da- Yvonne Alisa-Maria Schleinhege ran verheben. Diesbezügliche Bemerkungen Vom politischen Ereignis zur erlebten Ge- und Wertungen der Autorin fallen daher auch schichte. Historische Dokumentationen sparsam aus. Neben dem Eigenwert, den zum Mauerfall 1999 bis 2009. diese Analysen aufweisen und dominieren- Trier: Kliomedia 2012 (= Geschichte und Kul- de Muster des heutigen dokumentarischen tur. Kleine Saarbrücker Reihe, Bd. 1), 220 Sei- Erzählens präzise zu beschreiben gestatten, ten versucht die Arbeit eine Art Trendbetrach- tung. Zu den wichtigsten Befunden in dieser Jubiläen, und ‚runde‘ Jahrestagestage ganz Betrachtung zählt die Autorin Individualisie- besonders, sind Hochzeiten des Geschichts- rung und Personalisierung von Geschichte fernsehens. Historische Dokumentationen und eine Kanonisierung von ausgewählten nehmen dann in den nationalen (und regiona- Archivbildern (S. 132ff.). So gut dieser Befund len) Vollprogrammen einen besonderen Platz in die Trends von Langzeitbetrachtungen zu ein, ja sie verdanken diesen Gedenkrhythmen passen scheint (siehe z.B. Lersch/Viehoff: Sendeplätze in der Hauptsendezeit, die sie Geschichte im Fernsehen. Berlin 2007), so ansonsten kaum beanspruchen können. Die erscheint es doch als glücklicher Umstand, Arbeit von Yvonne Alisa-Maria Schleinhe- dass die wenigen Fallstudien diese an um- ge, entstanden am Lehrstuhl für Kultur- und fangreicheren Datenbeständen gefundenen Mediengeschichte des Historischen Instituts Trends bestätigen. der Universität des Saarlandes, nimmt dabei Hans-Jörg Stiehler Dokumentationen in das Blickfeld, die dem – der medialen Aufmerksamkeit – ‚heimli- chen‘ Nationalfeiertag, dem Gedenken an Nicole Karczmarzyk den Mauerfall gewidmet sind bzw. in dessen Der Fall tatort. Die Entschlüsselung eines zeitlichen Umfeld ausgestrahlt wurden. Aus Kultkrimis den in den Gedenkjahren 1999, 2004 und Marburg: Tectum Verlag 2010, 110 Seiten. 2009 gesendeten Produktionen hat die Au- torin acht ausgewählt und einer systemati- Der Rezensent an sich ist – entgegen an- schen Analyse unterzogen. Sie entstammen derslautender Beteuerungen - nicht neutral. den Programmen von ARD („Als die Mauer Er hat, wie jeder andere, seinen Erwartungs- fiel. 50 Stunden, die die Welt veränderten“ – horizont. Ein Linguist hätte an diesem Buch 1999, „Der 9. November. Die Mauer ist weg“ vielleicht seine ungetrübte Freude gehabt. – 2004, „1989 – Schicksalstage im Oktober“ Da aber „Tatort“ vorne drauf stand, landete – 2009), des ZDF („Das Wunder von Berlin. 9. es auf dem Schreibtisch der Krimiexpertin. Im November 1989 – Der Fall der Mauer“ – 1999, Klappentext steht: „Fachwissenschaftliche „Wunder ohne Grenzen. Die Wende 1989“ – Leser und Tatort-Interessierte werden das 2004, „Der schönste Irrtum der Geschichte. Buch gleichermaßen mit Gewinn lesen.“ Was Wie die Mauer wirklich fiel“ – 2009) und von also erfährt der Krimifan über ‚seinen‘ „Tat- RTL („Herbstgeschichte“ – 1999, „Der letzte ort“? Sommer der DDR“ – 2009; jeweils von Spie- gel TV). Gemeinsam ist diesen Dokumentati- Leider erklärt Nicole Karczmarzyk ihm nicht, onen die Auseinandersetzung mit dem Ende warum man sich der Fernsehreihe auf ihre der DDR; in der inhaltlichen Breite weisen sie Weise nähern sollte. Das wiederum ist bei ge- jeweils unterschiedliche Zugriffe auf. nauer Betrachtung nicht erstaunlich, weil das Erkenntnisinteresse nicht primär beim Krimi Diese Analyse fußt auf den Sequenzen der oder „Tatort“ liegt. Vielmehr soll hier eine eta- Dokumentationen und zielt auf Merkmale blierte sprachwissenschaftliche Methode auf der Narration, die in den Dokumentationen ein populäres Beispiel angewendet werden. praktiziert werden (Einsatz von Archivbildern Ausgehend von Vladimir Propps Studie „Mor- Rezensionen 95 phologie des Märchens“ aus dem Jahr 1972 weise im Hinblick auf serielle Produkte oder möchte die Autorin eine „Grammatik des Tat- historische Entwicklungen bedingt oder gar orts“ erstellen, d. h. eine „Reihe von festen keinen Sinn macht. Andererseits kann es Narratemen aus denen sich jeder Tatort-Krimi durchaus ertragreich sein, Krimis im Hinblick konstituiert“ (S. 8). Im zweiten Schritt geht auf ihre thematischen und Werte transportie- es darum, die Strukturale Semantik von Al- renden Strukturen hin zu untersuchen, ohne girdas Julien Greimas „auf den Gegenstand alle bedeutungskonstituierenden Elemente, anzuwenden“ (S. 8). Beides macht die Auto- wie etwa Musik und Licht, zu berücksich- rin anhand eines Samples von 43, nach eige- tigen. Dass dies nur ein Schritt ist und kein nen Aussagen rein willkürlich ausgewählten, vollständiges analytisches Bild ergibt, ist klar. Folgen der Reihe aus den Jahren 2000 bis Erhellende Ergebnisse können – je nach Er- 2008.1 (Auf Seite 8 steht: „2000 bis 2006“, kenntnisinteresse – dabei aber sehr wohl aber in der Liste der ausgewerteten Folgen entstehen. Sie sind dann zwar vielleicht nur sind auch einige, die 2007 oder 2008 erstaus- Mosaiksteine im Gesamtbild, meiner Ein- gestrahlt wurden.) Aussagen aus der medien- schätzung nach allerdings durchaus zentrale. wissenschaftlichen Forschungsliteratur wer- den teils recht undifferenziert übernommen Nicole Karczmarzyk weist explizit darauf hin, oder aus dem Zusammenhang gerissen2; der dass es ihr nicht darum gehe, den idealtypi- Umgang mit Begrifflichkeiten ist teils etwas schen „Tatort“ zu finden; vielmehr wolle sie sorglos: So wird aus einer Fernsehreihe das die Konventionen des Formats erkennen, „Medium Film“; aus einem Format ein Syno- auch um Verfremdungen isolieren zu können. nym für Genre (u.a. S. 17). Die einführenden Aussagen zum Tatort fallen dem Ansatz der Autorin entsprechend recht Es geht also primär um methodische Ansätze allgemein aus. Im Zuge der Methodendiskus- aus der Texttheorie und darum, ob sich diese sion werden dann allerdings typische Krimi- auch auf audiovisuelle Produkte anwenden strukturen aufgegriffen und zu Märchenstruk- lassen. In gewisser Weise ist dieses Unterfan- turen in Beziehung gesetzt. Da wird es in der gen von vornherein zum Scheitern verurteilt, Tat für Krimiexperten interessant, handelt es da klar sein dürfte – und es ist der Autorin sich doch bei beiden Genres um hochgradig auch klar –, dass man einer Fernsehserie nur standardisierte Formen, die gleichwohl über bedingt beikommt, wenn man sie wie einen Jahrhunderte und alle gesellschaftlichen Ver- (erweiterten) Text behandelt. Sie reflektiert änderungen hinweg auf Interesse stoßen. dieses Problem, kann es aber natürlich nicht lösen: Ton-, Bild- und Plotebene gesondert Den „Tatort“ klassifiziert Karczmarzyk als Er- zu analysieren und am Ende zu vergleichen mittlungskrimi, in dem sowohl Suspense- als wäre zu aufwendig für ein größeres Sample auch Surprise-Elemente vorkommen und der und ist hier nicht angestrebt. Es ist ja die Crux im Wesentlichen dem klassischen Whodunit- differenzierter Verfahren allgemein, dass sie Schema folgt. Im Gegensatz zum Märchen bei größeren Samples schnell an forschungs- werde zumindest im untersuchten „Tatort“- pragmatische Grenzen stoßen und eine Be- Korpus keine klare Linie zwischen ‚gut‘ und schränkung auf nur ein Filmbeispiel beispiels- ‚böse‘ gezogen. Das bestätigt, was wir schon seit längerem wissen, nämlich dass sich im 1 Drei Folgen wurden allerdings bewusst ausgewählt; deutschen Fernsehkrimi im Laufe seiner vlg. S. 14. Geschichte die Zuordnungen von ‚gut‘ und 2 Etwa das Teilzitat von Knut Hickethier auf ‚böse‘ verändert haben.3 Ein Befund, der von Seite 15. Aus seiner Aussage, „Die Formatierung zentraler Bedeutung für die Genregeschichte des Fernsehfilms hat dazu beigetragen, dass er ist. Die allgemeine Struktur der Tatort-Reihe sich (…) künstlerisch anspruchsloser und dafür bestimmt Karczmarzyk folgendermaßen: Tä- formatbezogener und entschiedener in das Programm als einen unentwegten Erzählvorgang, als Flow des ter begeht Tat > Ermittler sucht Täter > Er- Sichereignens und des Zuschauens einpasst“ (in: mittler löst Fall (vgl. S. 21f.). Diesem einfa- Gottberg et al. 1999. Mattscheibe oder Bildschirm, S. chen Schema werden bestimmte Funktionen 215), wird bei Karczmarzyk die Aussage, dass sich der zugeordnet. Fernsehfilm – allgemein - „künstlerisch anspruchsloser und dafür formatbezogener“ gebe. Fragt sich noch: anspruchsloser als was. Die Autorin bevorzugt das Aktantenmodell Auf Seite 16 wird beispielsweise Peter Nusser zitiert von Aldirdas Greimas, da es universaler und mit einer Aussage über die „Wiederholung des zugleich handhabbarer sei als das von Propp. Gleichartigen“ von Krimiserien, die mit der Platzierung von Werbespots begründet wird. Gemeint sind hier offensichtlich Krimis, die im Vorabendprogramm 3 Vgl. Brück, Ingrid, 2004. Alles klar, Herr Kommissar? gesendet werden, was auf den „Tatort“ nicht zutrifft. Bonn. 96 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Weitere Vorteile des Modells sieht sie in der liegt jedem Tatort eine, für den Krimi typische Möglichkeit, auch abstrakte Größen als Ak- Isotopie, in Form einer binären Opposition tanten anzusehen sowie die Trennung von zugrunde. Diese Isotopie ist filmintern und Akteuren und Aktanten, die einen im Krimi beschreibt den grundlegenden Konflikt eines häufiger vorkommenden Wechsel der Akteu- jeden Polizeikrimis.“ (S. 66) Es ist die Binär- re berücksichtigt. Greimas’ sechs Aktanten opposition ‚Recht‘ vs. ‚Unrecht‘, die ergänzt Subjekt und Objekt, Adjuvant und Opponent, wird von der Opposition ‚moralisches Recht‘ Adressant und Adressat werden oppositionell vs. ‚moralisches Unrecht‘ (S. 66). Zu Recht zu einander in Beziehung gesetzt, was gut ordnet Karczmarzyk die Ergänzung den jün- zum Krimi passt, wo die zentrale Opposition geren Krimis zu (vgl. S. 67). Als weitere Iso- die von Täter vs. Ermittler ist. Die grundlegen- topie nennt sie „die serielle, die sich in erster de Isotopie sei im „Tatort“ (und das kann für Linie im Privatleben der Ermittler oder durch den Krimi allgemein gelten) „‚Recht‘ vs. ‚Un- die Ermittlerfiguren manifestiert und die Be- recht‘ oder auch ‚Gut vs. Böse‘“ (S. 27) – die sonderheiten der einzelnen Ermittler oder Er- eine am staatlichen Recht, die andere an der mittlerteams ausmacht. (…) Die dritte Ebene Moral orientiert. Als Adressant kann auch eine der Kohärenzbildung ist die der Anbindung abstrakte Größe wie der Rechtsstaat gefasst an Kontextwissen, das in jeder Folge ein an- werden; als Adjuvant etwa der Polizeiapparat. deres Thema bedienen kann. [Dabei] handelt es sich um eine filmexterne Bedeutung, da Um die narrative Struktur des Tatorts zu ana- häufig Themen aus aktuellen Debatten über- lysieren, nennt und beschreibt die Autorin eine nommen werden.“ (S. 66) Die drei Teil-Isoto- Reihe von Funktionen, die „nicht zwangsläu- pien können, so die Autorin, nebeneinander fig eine konkrete Handlung [beschreiben], vorkommen oder sich ergänzen. sondern die Essenz der Informationen, die den Zuschauern im Narratem vermittelt wer- Im weiteren Verlauf ihrer Untersuchung fasst den“ (S. 28). Die wichtigsten Funktionen im Karczmarzyk die vorher diskutierten Funk- „Tatort“ sind ihres Erachtens: „die Tatortbe- tionen zusammen, so dass beispielsweise gehung, der private Konflikt des Ermittlers, die privaten Konflikte der Ermittler nur noch der Wissensvorsprung des Zuschauers, die durch die Funktion E_PrivKon repräsentiert Befragung im Milieu, der Austausch zwischen werden. Diese werden sodann in Oppositio- den Ermittlern, die Erläuterung der Ermittlun- nen zusammengefasst, etwa „Die Tat (T_Tat) gen durch die Ermittler, die Ermittlungsrou- vs. Verhinderung Tat (E_VerhTat). Übrig blei- tine, sowie überraschenderweise der zweite ben nun 23 Funktionen bzw. 10 Funktionska- Tatbestand“ (S. 56). tegorien. Bemerkenswert aus Sicht der Krimiexpertin An der Folge des Bayerischen Rundfunks ist vor allem, dass der private Konflikt des „Nur ein Spiel“ von 2005 erprobt die Auto- Ermittlers inzwischen zu einer festen Größe rin schließlich ihre Anwendung der Modelle geworden ist. Dies mag aus heutiger Rezep- von Propp und Greimas auf die Tatort-Rei- tionserfahrung selbstverständlich erschei- he. Sie analysiert sie sowohl strukturell als nen, ist es aber mit Blick auf die historische auch inhaltlich. Ausführlich wird der jeweilige Entwicklung des deutschen Fernsehkrimis Handlungsbezug beschrieben und in Terme keineswegs. In den 1990er Jahren tauchte ‚übersetzt‘. Eine anschließende Bestimmung dieses Phänomen überhaupt erst auf und der Isotopien ergibt, dass die grundliegende ist im „Tatort“ zwischen 2000 und 2008 also Krimi-Isotopie ‚staatliches Recht‘ vs. ‚staatli- offenbar als feste Größe etabliert. Insgesamt ches Unrecht‘ (selbstverständlich) auch hier 36 Funktionen ordnet die Autorin dem jewei- vorhanden ist, ebenso deren Ergänzung ‚mo- ligen Milieu der wichtigsten Aktanten zu: dem ralisches Recht‘ vs. ‚moralisches Unrecht‘. Milieu des Ermittlers, des Opfers oder des Dazu kommen noch ‚finanzieller Reichtum‘ Täters. Dazu kommt jeweils das ‚Atmosphä- vs. ‚finanzielle Armut‘ sowie ‚sozialer Reich- rische Element‘. Dem Polizeikrimi gemäß tum‘ vs. ‚soziale Armut‘, die in die gesamte umfasst das Ermittler-Milieu mit Abstand die Handlung verwoben sind. meisten Funktionen. Dieses Ergebnis, wie überhaupt der Ansatz Auf der strukturellen Ebene möchte die Au- mit Gegensatzpaaren zu operieren, schließt torin nicht bleiben, deshalb befasst sie sich gut an Befunde an, die im Hallenser DFG-For- auch mit den Inhalten der Krimireihe. Sie geht schungsprojekt zum deutschen Fernsehkrimi dabei von drei Teil-Isotopien auf verschiede- generiert wurden. Ausgehend von Siegfried nen semantischen Ebenen aus: „Zum einen J. Schmidts Kulturbegriff, der Kultur als ein Rezensionen 97 „Programm zur Thematisierung, Bewertung Die Historikerin Monika Röther legt mit ihrer und normativen Einschätzung“4 des Wirk- in Aachen eingereichten Dissertation aktu- lichkeitsmodells einer Gesellschaft fasst, wur- ell eine umfangreiche und materialgesättigte den dort unter anderem die grundlegenden Studie vor, die sich mit Phonogeräten in der Dichotomien und deren Verknüpfungen für Bundesrepublik im Zeitraum von 1957 bis Krimiserien und -reihen untersucht. Dies sind 1973 beschäftigt. Dabei löst sich die für den vor allem: ‚gut vs. böse‘ + ‚legal vs. illegal‘ als Nichthistoriker etwas befremdend anmuten- Basisdichotomie des Krimis, sodann die Ver- de zeitliche Begrenzung relativ schnell auf, knüpfungen ‚gut vs. böse‘ + ‚verdächtig vs. handelt es sich doch hierbei um die „langen nicht verdächtig‘, ‚gut vs. böse‘ + ‚schuldig Sechziger Jahre“, einem in der neuesten Zeit- vs. nicht schuldig‘ sowie (ganz wichtig für die geschichte geläufigen Terminus in der histori- Genreentwicklung) ‚gut vs. böse‘ + ‚mächtig schen Einordnung von Umbruchsphasen. vs. machtlos‘. Mittels dieser Dichotomiever- knüpfungen lassen sich auch Thematisierun- Röther geht in ihrer umfangreichen und da- gen von finanziellem bzw. sozialem Reichtum bei klar strukturierten Studie davon aus, dass vs. finanzieller bzw. sozialer Armut beobach- Objekte sehr viel mehr zu bieten haben als ten und beschreiben. Solche Thematisierun- ihre technikgeschichtliche Darstellung oder gen verknüpfen in der Regel die eigentliche Einordnung in einen entwicklungsgeschicht- Krimihandlung mit einem übergeordneten ge- lichen Kontext. Die soziale Dimension, die sellschaftlichen Thema und zumeist die jus- sich multifaktoriell unter anderem aus dem tiziable mit der moralischen Ebene. Insofern wandelnden Design, der massenhaften Fer- kommt ihnen für die Beschreibung der Gen- tigung und Verbreitung, der diskursiven Ein- reentwicklung auf der inhaltlichen Ebene gro- bettung und letztlich auch aus der Nutzung ße Bedeutung zu. – Karczmarzyks Ergebnisse durch unterschiedliche Zielpublika ergibt, bestätigen bzw. ergänzen also zum Teil bis- steht sehr viel stärker im Fokus der Autorin: herige Forschungsaussagen. So hat sich am „Musikschränke, Stereoanlagen, Plattenspie- Ende für die Krimiexpertin die Lektüre dieses ler, Tonbandgeräte und Kassettenrekorder, Buches als sinnvoll erwiesen, ob das für den die sowohl in Konkurrenz als auch in Koexis- ‚gemeinen‘ Krimifan auch gilt, darf bezweifelt tenz den Konsumenten unterschiedliche Nut- werden. zungsangebote machten, sind Spiegel sowie Ingrid Brück Motor der einsetzenden Pluralisierung von Konsummustern, der Ausdifferenzierung von Zielgruppen und der Individualisierung per- Monika Röther sönlicher Lebenswelten während der ‚langen The Sound of Distinction. Phonogeräte in Sechzigerjahre‘, so die These dieser Arbeit“ der Bundesrepublik Deutschland. Eine Ob- (S. 3) jektgeschichte (1957-1973). Marburg: Tectum Verlag 2012, 506 S. Dafür skizziert sie sehr dicht den sozialhisto- rischen Hintergrund dieser Zeit in der Bun- Darstellungen zu technikgeschichtliche Ent- desrepublik, um schließlich darauf aufbauend wicklungen im Sinne einer linearen Fort- auf einer Nutzer- und Geräteebene die Zu- schrittsgeschichte und ihrer Alltagsdiffusion gangsvoraussetzungen, divergierende An- existieren mittlerweile zu nahezu jeder rele- eignungsangebote und -weisen aufzuzeigen. vanten technischen Erfindung. Ebenso wer- Diese sind stets in ein diskursiv ablaufendes den statistische Angaben hinsichtlich der Beziehungsgeflecht eingebunden und Röther Sättigung mit langlebigen Konsumgütern wie rekonstruiert die wechselseitigen Beeinflus- Fernseher, Radio, Phonogeräte etc. nicht nur sungen des heterogenen Zusammenspiels in Deutschland seit langem von entsprechen- luzide und kohärent. Dafür setzt sie im We- den (staatlichen) Institutionen erhoben und sentlichen auf vier Darstellungsperspektiven, wissenschaftlich ausgewertet. Dass dahinter indem sie als Erstes die ausgewählten Objek- ganz konkrete Auswirkungen auf Lebensver- te beschreibt, dann deren Vermarktung in den hältnisse, Stile, Konsumveränderungen ste- Blick nimmt, um sich anschließend dem sich hen, wird von verschiedenen Wissenschafts- ausdifferenzierenden Diskurs in Fachzeit- disziplinen spätestens seit Henri Lefebvres schriften und anderen Publikationen zu wid- wegweisenden Untersuchungen zum Alltag men. In einer vierten Perspektive untersucht in die Forschungsperspektive einbezogen. sie unterschiedliche Aneignungsweisen der Objekte. 4 Vgl. Schmidt, Siegfried, 1994. Kultur = Programm?. Bern, S. 28. 98 Rundfunk und Geschichte 1-2/2012 Da stellt sich natürlich das Problem der Quel- Kassettenrekorder vereint aus ihrer Sicht len, insbesondere für die Historikerin: Was ist „unbeschwerte Mobilität und unkomplizier- bei einem solchen Problemaufriss zugänglich te Intermedialität“. Überaus verdienstvoll ist und kann in welcher Form und in welchem der von Röther deutlich herausgestellte Zu- Umfang tatsächlich herangezogen und aus- sammenhang der zeitlich verzögerten Einfüh- gewertet werden. Monika Röther bindet um- rung der Stereofonie in der Heimgeräte- und fangreich Materialien des Deutschen Technik- Schallplattenproduktion und der Stereoaus- museums und der Gesellschaft der Freunde strahlungen im Rundfunk. der Geschichte des Funkwesens ein, ebenso objektbezogene Materialien, zeitgenössische In einer solchen umfassenden Rekonst- Diskurse der Akteure – Produzenten, Händler, ruktion deutet sich im Weiteren bereits das Kritiker, Nutzergruppen und ihre Fachpublika methodische Vorgehen an, das die Autorin in Form von Zeitschriften für Ton und Technik. wählt. Logisch nachvollziehbar sieht sie hier die notwendige theoretische Einbindung des Bemerkenswert ist die Integration von so Dispositiv-Konzepts, welches mittlerweile als genannten Phono-Erinnerungen als „medi- ein zumindest in den Medien- und Sozialwis- enbiographische Erinnerungen der Nutzer“, senschaften elaboriertes Theoriemodell gilt die die Autorin zum Teil über eine Homepage und methodisch vorteilhaft operationalisier- selbst erhoben hat bzw. in bereits existieren- bar ist. Wenn es nun auch in der Geschichts- den Foren vorfand. Damit können zeitgenössi- wissenschaft Eingang findet, dann zeigt das sche Diskurse nicht nur illustriert und flankiert auch die Belastbarkeit eines solchen Modells werden, sondern die Studie gewinnt dadurch und die Anschlussfähigkeit an Fragestellun- einen Mehrwert hinsichtlich einer integrativen gen anderer Disziplinen. Nutzungsgeschichte. Bei allen Herausforde- rungen, die mit einem solchen Vorgehen ver- Allerdings werfen die Herleitung und die no- bunden sind, werden nicht ausschließlich die minelle Integration des Begriffs für das vorge- Produzentensicht oder die manifesten Dis- legte Problemfeld einige Fragen auf, die die kursresultate rekonstruiert, sondern mediale, an und für sich schlüssige Verwendung des soziale und andere Praktiken lassen sich hier Dispositiv-Begriffs letztlich etwas ihrer Schär- kritisch rückkoppeln. fe berauben. So stellt der Bezug auf Jean- Louis Baudry und den ideologischen Effekt Röther beschreibt als Ausgangspunkt ihrer des Kino-Dispositivs eine Verkürzung dar, die Darstellung die existierenden Phonogeräte auch nicht mit dem fortführenden Konzept und ihren Stellenwert in den westdeutschen des Fernseh-Dispositivs von Knut Hickethier Wohnzimmern ab Mitte der 50er Jahre, um aufgelöst wird. Gerade in dieser Modellie- dann anhand der weiteren technischen Ent- rung, die andere Autoren wie Joachim Paech, wicklungen die Diversifikationsprozesse in Carsten Lenk und Thomas Steinmaurer in der musikalischen Geräte- und Bedürfnis- ihren Argumentationen aufgreifen, wird sehr produktion aufzuzeigen. Mit der Durchset- viel stärker auf ein – räumlich zu verorten- zung von Einzelgeräten verändern sich nicht des – Strukturmodell abgehoben, in dem sich nur tradierte Rezeptionsmodi, sondern mit einerseits Apparat und Subjekt mit entspre- ihnen ist unter anderem für die Jugend als chenden Effekten zueinander verhalten. vom Markt entdeckte Zielgruppe die Flucht aus dem elterlichen Wohnzimmer in andere Andererseits steht das historisierbare Dispo- selbstbestimmte Räume möglich. sitiv in einem Wechselverhältnis zur Gesell- schaft, das heißt, die diskursive Auseinan- Das trifft so für den Plattenspieler zu. Das dersetzung mit dem Dispositiv fördert erst Tonbandgerät ist für die Autorin „Instrument einmal die Stabilität und Dynamik desselben kreativer Intermedialität“, wenn hier über die zutage. Gerade dieser fruchtbare Zuschnitt Aneignungsweisen ein Diskurs entsteht, der des Modells – den Baudry allerdings nicht zwischen einer laienhaften und professionel- im Blick hatte – führt zu der methodischen len Verwendung der Tonbandgeräte unter- Differenzierung, ob die Verwendung des scheidet. Mit dem Entstehen des Rings der Dispositivkonzepts hier eine Forschungs- Tonbandfreunde wird dieser Prozess instituti- perspektive oder ein Forschungsstil ist, wie onalisiert. Aktuell angebunden ist die bereits Bührmann und Schneider treffend ausführ- in dieser Zeit intensiv geführte Diskussion um das Urheberrecht, die Frage nach Ver- antwortung beim ‚Raubkopieren‘ und den angemessenen Urheber-Vergütungen. Der Rezensionen 99 ten.1 Dass diese Unterscheidung durchaus den Cultural Media Studies integriert. In der notwendig ist, zeigt sich, wenn die Autorin in argumentativen Zusammenführung dieses ihrer „Arbeit die spezifischen Dispositive der Settings zeigt sich unter anderem deutlich ein Musikwiedergabegeräte in ihrer historischen Mehrwert. Entwicklung“ (S. 22) beschreiben will und zu- gleich „[d]as Konzept des Dispositivs [... die, Die vorliegende lesenswerte und anschaulich d. V.] Geschichte der Phonogeräte [struktu- illustrierte Studie zeigt sich trotz einiger text- riert], indem es die Fragen vorgibt“ (S. 23). lichen Längen in mehrerer Hinsicht erkennt- So wird zwar vom Rezensenten der Nutzen nisreich: So beschreibt Röther sehr detailliert des Dispositiv-Konzepts keinesfalls in Frage und luzide den Wandel der Musikwiedergabe gestellt, allerdings verschwimmt die mögliche von der räumlichen Disposition als Wohnzim- Grenzziehung bei einer additiven Anordnung: mer-Möbel hin zu einem mobilen Wiederga- Musiktruhen-Dispositiv, Stereoanlagen-Dis- begerät mit High Fidelity-Ansprüchen. Nicht positiv, Plattenspieler-Dispositiv, Tonbandge- mehr Repräsentativität im Sinne eines dis- räte-Dispositiv, Kassettenrekorder-Dispositiv tinkten Statussymbols ist das ausschlagge- etc. bende Kriterium, sondern Klangtreue, Mobi- lität und Verfügbarkeit. Allerdings findet sich Es wird auch nicht ganz schlüssig ausge- die beginnende Mobilisierung bereits in den führt, inwieweit mit einem neuen medien- miniaturisierten Grammophonen in den 20er technischen Angebot auch immer ein neues Jahren, erinnert sei hier beispielsweise an Medium vorliegen soll. Dies konstatiert die Entwicklungen wie die Kindergrammopho- Autorin beispielsweise für den Wechsel von ne oder das Schweizer Mikiphone. Das ist Musiktruhe zu Stereoanlage mit Verweis auf also kein Novum, das erst mit dem Platten- „die Dominanz des Klangs [und, d.V.] das spieler Anfang der 60er Jahre beobachtbar Gebrauchswertversprechen besonders gu- wird. Ähnlich ist die in den 60er Jahren ge- ter Klangqualität“ (S. 260) sowie “gesteigerte führte Diskussion hinsichtlich des kreativen Naturgetreue (sic!) der Klangwiedergabe“ (S. Aktivwerdens mit dem Tonbandgerät und 459). Zugleich konstatiert sie jedoch einen des eher passiven Musikkonsums durch den „grundlegenden Wandel in den Phonogeräte- Plattenspieler zu betrachten, wenn dies vor Dispositiven“ (S. 262). Neues Medium, neues dem Hintergrund der strategisch-diskursiven Dispositiv (nach einer Foucaultschen ‚strate- Auseinandersetzung zwischen Phonograph gischen Wiederauffüllung‘) oder neues Medi- und Grammophon geschieht. Dies sind je- en-Dispositiv? doch durchaus produktive medienhistorische Anschlüsse, die sich aus der substanzreichen Für ihre Arbeit integriert Röther schließlich Argumentationstiefe von Monika Röthers noch zwei weitere theoretische Ansätze: den Studie ergeben. sozialkonstruktivistischen Ansatz des mutual Thomas Wilke shaping, in dem die sozial relevanten Grup- pen, die bei der Einführung und Durchset- zung neuer Technologien beteiligt sind, in die nähere Betrachtung einbezogen werden. Zweitens wird das Setting durch das Konzept der Domestizierung mit deutlichem Bezug zu 1 Vgl. Bührmann, Andrea, Werner Schneider 2008: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld: transcript. Es ist auch nicht so, dass die Diskussion um das Dispositiv am Ende der 90er Jahre abgeschlossen war. Vgl. hierzu bspw. die 2003 besonders von Hamburg ausgehende und intensiv geführte Diskussion unter: http://www.slm.uni-hamburg.de/imk/tiefenschaerfe/ tiefenschaerfe_Winter2002_03.pdf sowie Hartling, Florian, Thomas Wilke 2005: Das Dispositiv als Modell der Medienkulturanalyse: Überlegungen zu den Dispositiven Diskothek und Internet. In: SPIEL: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft. Jg. 22 (2003 [2005]). H. 1. S. 1-37. Oder mit einer philosophischen Perspektive auf Subjektivierungsstrategien und deutlichem Bezug auf Michel Foucault: Giorgio Agamben 2008: Was ist ein Dispositiv? Zürich. RuG 3-4/2012 erscheint voraussichtlich im Januar 2013