IMAGE – Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft Ausgabe 3 vom 01. 01. 2006 Themenheft Bild-Stil: Strukturierung der Bildinformation Inhalt Hauptheft ............................................................................................................ 1-73 Martina Plümacher/ Klaus Sachs-Hombach ......................................................... 75 Einleitung Nina Bishara ............................................................................................................76 Bilderrätsel in der Werbung Sascha Demarmels ................................................................................................ 93 Funktion des Bildstils von politischen Plakaten. Eine historische Analyse am Beispiel von Abstimmungsplakaten Dagmar Schmauks ............................................................................................... 126 Rippchen, Rüssel, Ringelschwanz. Stilisierungen des Schweins in Werbung und Cartoon Beatrice Nunold .................................................................................................. 149 Landschaft als Immersionsraum und Sakralisierung der Landschaft Klaus Sachs-Hombach/ Jörg Schirra ................................................................... 175 Bildstil als rhetorische Kategorie Impressum ............................................................................................................192 [Inhaltsverzeichnis] Martina Plümacher/ Klaus Sachs- Hombach Einleitung Dass wir – zum Beispiel beim Blättern durch Bücher – in der Lage sind, auf den ersten Blick zu erkennen, ob Bilder bloß illustrieren, den Text auflockern oder ob sie zusätzliche Informationen liefern oder gar visuell Konzepte vermitteln –, diese Fähigkeit weist auf zweierlei hin: einerseits auf Bildmerkmale bzw. Bildstile, andererseits auf kognitive Strategien der Erfassung von Bildfunktio- nen. Eine der Aufgaben der Bildsemiotik besteht darin, das Verhältnis der jeweiligen Bildfunktio- nen zu den Bildmerkmalen bzw. Bildstilen zu bestimmen. Bei dieser Bestimmung lassen sich Bilder als komplexe Zeichen verstehen, die Betrachtern alle Elemente der Information gleichzeitig anbieten. Sie zwingen den Betrachter dabei nicht zu einer bestimmten Reihenfolge der Erfassung und Interpretation der Information. Durch verschiedenste Mittel der Bildgestaltung ist die Information in der Regel jedoch so strukturiert, dass eine nicht beabsichtigte Beliebigkeit der Interpretation ausgeschlossen oder minimiert wird. Der Frage, wie dies gelingt, wie also Bildinformationen durch den Bildaufbau strukturiert werden, widmen sich die Beiträge des Themenheftes. Klärungsbedürftig ist ihnen auch die Frage nach den verschiedenen Funktionen des Bildstils. Bild- stile können als ›Markenzeichen‹ und Identitätssymbole fungieren oder sind als Hinweis auf Au- torenschaft, Künstlergruppen etc. zu verstehen. In diesen Fällen strukturieren Stile nicht nur den informativen Wert des bildlich Dargestellten, sondern vermitteln Informationen über das Bild und seine soziale Funktion. Diese und weitere Fragen lieferten die Vorgaben einer Tagungssektion mit Titel »Bild-Stil: Struktu- rierung der Bildinformation«. Ausgerichtet von der Deutschen Gesellschaft für Semiotik fand diese Sektion im Rahmen des internationalen Kongresses für Semiotik (»Stil als Zeichen. Funktionen – Brüche – Inszenierungen«) vom 24. bis 26. Juni 2005 in Frankfurt / Oder statt. Das vorliegende Themenheft versammelt etliche der Beiträge dieser Sektion. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 75 [Inhaltsverzeichnis] Nina Bishara Bilderrätsel in der Werbung Abstract Both style and riddles share elements of surprise and deviation from expectancies. Pictorial ridd- les in advertising are especially suitable to show how pictures are processed and by which fea- tures they are interpreted. The analysis of five advertisements including opaque visual messages will differentiate stylistic devices relevant for the interpretation of the advertising message and the identification of the advertised product. Within the framework of Charles S. Peirce’s semiotics, this paper will argue that pictorial riddles in advertising are initially incomplete signs, as their object at first is not established and their interpretant remains open. Sowohl Stil als auch Rätsel weisen Elemente der Überraschung und des Erwartungsbruchs auf. Bilderrätsel in der Werbung eignen sich in besonderer Weise dazu, zu zeigen, wie Bilder erfasst und an Hand welcher Merkmale sie interpretiert werden. Am Beispiel von fünf Werbeanzeigen mit visuellen Botschaften, die opak bleiben, werden verschiedene Mittel der Bildgestaltung diffe- renziert, welche für die Interpretation der Werbebotschaft wichtig sind, da sie stilistisch relevante Hinweise auf die Identität der beworbenen Markenzeichen geben. Vor dem Hintergrund der Zei- chentheorie von Charles S. Peirce wird gezeigt, wie Bilderrätsel in der Werbung durch einen auf den ersten Blick fehlenden Objektbezug bzw. durch einen zuerst offenen Interpretanten zunächst unvollständige Zeichen bleiben. 1. Rätsel und Bild Denken wir an Rätsel, so assoziieren wir damit wahrscheinlich Kreuzworträtsel, Silbenrätsel und andere Rätselformen in diversen Rätselheften und Zeitschriften. Mit dem ursprünglich mündlich überlieferten Volksrätsel, das in verschlüsselter Weise geistliches und weltliches Wissen zur Auf- IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 76 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG gabe macht, haben diese modernen Rätsel in Hinblick auf Form, Publikum und Verwendungszu- sammenhang nur noch wenig gemeinsam (vgl. Weber-Kellermann 1953: 106). Dennoch soll im Folgenden der Begriff des Rätsels verwendet werden, wenn es um moderne Bilderrätsel in der Werbung geht. Das Wort Rätsel, das durch Martin Luther ins Hochdeutsche eingeführt wurde, stammt vom Verb »raten« ab und kann neben seiner heutigen Grundbedeutung auch im Sinne von »für etwas Sor- gen« sowie »eine Meinung oder einen Entschluss kundtun« verwendet werden. Ferner bedeutet es das Auslegen oder Lesen von Zeichen, früher speziell Runenzeichen (vgl. Petsch 1917: 1ff.; Weber-Kellermann 1953:107). So haben etwa im Englischen die Wörter riddle und to read das gleiche Etymon. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Rätseln erfolgte vor allem Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. In der Antike erörterte bereits Aristoteles das Wesen der Rätsel, das darin bestehe, dass »man Dinge sagt, die faktisch unmöglich miteinander zu verknüpfen sind« (Poetik 22).1 Rätsel seien demnach Metaphern »von verwandten aber auf den ersten Blick nicht offen zutage liegenden Dingen« (Rhetorik III; 11). Auf das breite Spektrum der Rätselforschung mit ihren vielfältigen Kategorisierungs- und Definitionsversuchen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Im Folgenden sollen lediglich die Unterscheidung zwischen den echten und so genann- ten Scheinrätseln (vgl. Abrahams & Dundes: 1973: 130; Weber-Kellermann 1953: 110f.) sowie das Wesen des Bilderrätsels (vgl. Bessler 1978; Schenk 1973) von Bedeutung sein. Im Gegensatz zum Scheinrätsel stellt das echte Rätsel meist eine mit einer zunächst verwirrenden Deskription verbundene Frage dar, welche zugleich die Antwort enthält.2 Ein echtes Rätsel ist also erratbar. Im Gegensatz dazu ist ein Scheinrätsel, zum Beispiel eine Weisheits- oder Wissensfra- ge3, auf externe Inhalte und das Vorwissen der Zuhörer angewiesen, oder es bietet, wie im Falle der Scherzfrage4 oder des Witzes5, eine völlig überraschende Lösung. Der Fragende eines echten Rätsels ist folglich eigentlich ein Wissender, und der Gefragte kann potenziell durch die in der Fra- ge und Umschreibung beinhaltete Antwort in den Kreis der Wissenden aufgenommen werden. Das Bilderrätsel stellt eine besondere Form des Rätsels dar. In ihm werden Bilder und andere Zei- chen miteinander verbunden aus deren Lautwert, geometrische Form oder räumliche Anordnung eine gedankliche Einheit zu erraten ist. Ursprünge finden sich in der Heraldik, in den so genannten 1 In vielen Übersetzungen der Poetik, z. B. der von Fuhrmann, wird diese Stelle wie folgt wiedergegeben: »Denn das Wesen des Rätsels besteht darin, unvereinbare Wörter miteinander zu verknüpfen und hiermit gleichwohl etwas Vorhandenes zu bezeichnen.« Nach dieser Übersetzung konstituiert sich das Rätselhafte auf der syntagmatischen Ebene, der Verknüpfung von Wörtern, und weniger in den den Dingen dazugehörigen Konzepten oder gar im situativen Kontext, in dem die Dinge im Rätsel geschildert werden. 2 Beispiel für ein echtes Rätsel: Ist die Reisezeit erst wieder da, steht u an u gedrängt vorm a. – Schulter / Schalter (zitiert nach Weber-Kellermann 1953: 106). 3 Beispiel für eine Weisheits- oder Wissensfrage: Wie heißt das erste Buch der Bibel? – Genesis. 4 Beispiel für eine Scherzfrage: Wer war der erste Kutscher? – Leid. Denn es steht geschrieben: ich werde mit Leid in die Grube fahren (Gen 37,35), zitiert nach Weber-Kellermann (1953: 108). 5 Beispiel für einen Witz: Was ist rot und grün und dreht sich? – Ein Frosch im Mixer. Die Antwort ist völlig willkürlich gewählt, genauso könnten sich auch Erdbeeren und grüne Äpfel im Mixer befinden. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 77 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG »redenden Wappen«, die schon zu Zeiten der Griechen und Römer geläufig waren (vgl. Schenk 1973: 13ff.). Besonders in der Renaissance wurde – hauptsächlich durch die Beschäftigung mit der ägyptischen Hieroglyphik – die schriftmäßige Verständigung durch das Bild wieder entdeckt und in Emblemen, Impresen und Devisen fortgesetzt (Schenk 1973: 20ff.). Im 17. Jahrhundert haben Bilderrätsel vor allem politische und religiöse Inhalte mit zumeist anonymen Absendern. Zu den Bilderrätseln zählen auch Vexier- und Zerrbilder, so genannte Anamorphosen, in denen nur die richtige Perspektive zum vollständigen Bild beiträgt. Ferner werden Traumbilder von Traum- deutern häufig wie Rebusbilder behandelt. Freud sieht im Aspekt der Verrätselung eine Beziehung zwischen Träumen und Rätseln, denn sowohl in Träumen als auch in Rätseln werde der eigentli- che Inhalt durch andere Inhalte und Zeichen ausgedrückt, die entschlüsselt und gedeutet werden müssen. Nach Schenk (1973: 58f.) sind im Wesentlichen drei Formen des Bilderrätsels zu unterscheiden: 1. Bilderrätsel, die sich aus Bild und anderen Zeichen zusammensetzen, etwa aus Schriftzeichen, Zahlen- oder Rechenzeichen etc., 2. reine Bilderrätsel sowie 3. reine Buchstabenrätsel in denen – anders als in der Schriftsprache sonst üblich – die räumliche Anordnung oder geometrische Form der Buchstaben von Bedeutung sind. Ein Beispiel ist die berühmte Einladung von Friedrich II an Voltaire:6 2. Bild und Bilderrätsel in der Werbung Das Bild in der Werbung ist ein motiviertes Zeichen. Es fungiert etwa als Ikon in der auf Ähnlichkeit beruhenden Darstellung eines Produkts (vgl. Nöth 1975), als indexikalisches Zeichen zum Zwe- cke der Bedeutungs- und Merkmalsübertragung (ibid.) oder als visuelle Metapher (vgl. Forceville 1995). Ferner stellen Bildgestaltung und Bildthemen ein wichtiges Mittel der Emotionalisierung, Aufmerksamkeitserregung und Kontaktaufnahme mit dem Rezipienten dar, zum Beispiel durch Schockbilder in der Werbung, subjektive Kameraeinstellungen, Bildparodien oder surrealistische Darstellungsweisen (vgl. Messaris 1997). Die Textsorte Werbung bedingt die funktionale Ausrich- tung der Bild- und Textelemente einer Werbebotschaft, hat sie doch zum Ziel, auf die beworbenen Produkte oder Dienstleistungen aufmerksam zu machen, über diese zu informieren und potenzielle Kunden zum Kauf und Konsum zu animieren. Die Bilder in der Werbung sind folglich immer Bilder, die für eine bestimmte Aussage geschaffen wurden und eine konkrete kommunikative Funktion erfüllen sollen. Sie sind Mittel zum Zweck, nie Selbstzweck. Als Bilderrätsel in der Werbung werden im Folgenden jene bildlichen Darstellungen in der Print- werbung bezeichnet, die weder in der bildinhärenten Botschaft noch in der Text-Bild-Relation 6 Zu lesen als: Venez sous p à sans sous ci, also: venez souper à Sanssouci. Voltaire soll wie folgt auf die Einladung geantwortet haben: »J a« (zu lesen als: j grand a petit, also: j’ai grand appetit). IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 78 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG einen auf den ersten Blick offensichtlichen Hinweis auf das beworbene Produkt, die Marke oder den Absender der Werbebotschaft beinhalten. Das heißt: das Rätsel betrifft die Werbebotschaft und das beworbene Produkt, nicht jedoch die Identifizierung des Textgenres Werbung an sich. Die rätselhafte Werbung bleibt in Bezug auf ihre darstellende oder verweisende Funktion innerhalb der Textsorte Werbung enigmatisch und bedarf eines höheren Dekodierungsaufwands seitens der Rezipienten. Auf Grund ihres Wissens um die funktionale Ausrichtung der Bilder in der Werbung sind die Rezipienten (im Idealfall) bemüht, die Bilder nach Anhaltspunkten zur Bildinterpretation zu durchsuchen, um sie schließlich bedeutungsrelevant zu dekodieren. Die Rezipienten wissen, dass das enigmatische Bild eine Botschaft beinhalten muss, weil die Werbung sonst zum Scheitern verurteilt wäre. Auf der anderen Seite geben die Werbemacher strukturierende Mittel der Bildge- staltung und -interpretation vor, um das Risiko des Unverständnisses und des Scheiterns auf der Rezipientenseite zu vermeiden. Folglich handelt es sich bei den Bilderrätseln in der Werbung in der Regel um echte Rätsel im oben eingeführten Sinn. Gelingt den Rezipienten der vollständige Dekodierungsprozess jedoch nicht, bleiben die Bilderrätsel selbstreferenzielle Zeichen, die sich nur auf sich selbst beziehen und folglich die primären Ziele der Werbung nicht erfüllen (vgl. Bishara erscheint). 3. Stil, Rätsel und Metapher Von den vielen Stildefinitionen7 wird im Folgenden eine Auffassung von Stil als Abweichung zu- grunde gelegt. Stil ist hier die Differenz zwischen einer erwarteten Form oder Norm und der tat- sächlichen Realisierung (vgl. Nöth 2000: 398). Das heißt: Die Erwartungen an ein Vorgegebenes werden durch die Abweichung nicht erfüllt. Die Abweichungen werden vor dem Hintergrund einer vereinbarten Norm bemessen. Für die vorliegende Untersuchung von Werbung dient die zuvor definierte referenzielle Werbebotschaft als Maßstab zur Bemessung der Abweichung in den Bil- derrätseln der Werbung. Zu diesem Maßstab zählen auch die Erwartungen an und bisherigen Erfahrungen mit der Textsorte Werbung, die von einem durchschnittlichen Rezipienten erwartet werden können. Der Auffassung von Stil als Abweichung liegt ein Prinzip der Hervorhebung (fo- regrounding) zugrunde. In diesem Zusammenhang gilt es, die Funktion der markierten Elemente zu erörtern. Im Sinne einer Abweichung von einer zu erwartenden Norm erörterte auch Aristoteles das Rätsel als stilbildendes Mittel. Er ordnet die Rätsel in seiner Rhetorik der metaphorischen Rede zu, die auf der Grundlage der Analogie eine »Abkehr von der allgemein gebräuchlichen Redeweise« be- wirkt und dieser »etwas Fremdartiges« verleihe (Rhetorik III, 2; Herv. N. B.). Aus gut formulierten Rätseln könne man passende Metaphern entnehmen, »denn die Metaphern geben Rätsel auf, so dass daraus einleuchtet, dass sie eine gute Übertragung darstellen.«8 Wenn also das Rätsel in der 7 Einen Überblick gibt Nöth (2000: 397ff.). Gauger (1995: 187ff.) geht der Geschichte des Wortes ›Stil‹, seinen Bedeutungswandlungen und Definitionen nach. 8 Grzybek (1987: 3) geht der Frage nach, ob jede Metapher und jede verfremdete Aussage ein Rätsel darstellt und umgekehrt jedes Rätsel eine Metapher oder Verfremdung beinhaltet. Er kommt zu dem Schluss, dass Metaphorizität »ein fakultatives, nicht aber notwendiges und unabdingbares Charakteristikum des Rätsels« sei. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 79 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG Alltagssprache einen Erwartungsbruch darstellt – denken wir an die Grice’sche Maxime der Mo- dalität, nämlich dunkle und ambige Redeweisen zu meiden – so stellt das Rätsel in der Werbung, gemessen an der typischen Werbebotschaft, ebenfalls ein Stilmittel, eine Abweichung, dar. Bevor auf die Analyse von Bilderrätseln in der Werbung eingegangen wird, sollen einige semioti- sche Grundlagen eingeführt werden, mit denen der Dekodierungsprozess der Rezipienten näher beschrieben werden kann. Der triadische Zeichenbegriff von Charles S. Peirce eignet sich hierfür in besonderer Weise. Eine wichtige Rolle spielen dabei die der Zeicheninterpretation zugrunde gelegte Stufenfolge der Erst-, Zweit- und Drittheit sowie der herzustellende Objektbezug und der Interpretant. 4. Semiotische Grundlagen »Nichts ist ein Zeichen, was nicht als Zeichen interpretiert wird« – mit diesen Worten formuliert Peir- ce (CP 2.308) die pragmatische Dimension des Zeichens, in der Interpretation und der (mensch- liche) Interpretant als Bedingung für Zeichenhaftigkeit gelten. Die Zeicheninterpretation ist auch das primäre Ziel der Werbung. Sie soll letztlich zu ökonomischen Handlungen führen: Potenzielle Kunden sollen der Werbung Aufmerksamkeit schenken, ihr Informationen über die beworbenen Produkte oder Dienstleistungen entnehmen und bestenfalls zum Kauf und Konsum animiert wer- den. Eine Werbeanzeige, die von den Rezipienten keinerlei Beachtung findet, kann diesen semio- tischen Prozess und die anschließende ökonomische Handlung nicht initiieren. 4.1 Die drei Universalkategorien Zeichen und semiotische Prozesse sind nach Peirce idealerweise durch drei Universalkategorien bestimmbar. Diese eignen sich, um die Stufen der Werberezeption zu beschreiben. Die Kategorie der Erstheit umfasst das bloße So-Sein undifferenzierter Möglichkeiten und Qualitäten, die noch ohne Referenz auf etwas sind. Auf dieser Stufe konstituieren die Text- und Bildelemente einer Wer- bebotschaft eigentlich noch gar keine Botschaft, da sie ohne Relation zu etwas wahrgenommen werden. Auf der zweiten Stufe, der Kategorie der Zweitheit, wird vom Betrachter eine Beziehung zwischen einem Ersten und einem Zweiten hergestellt. Das Erste ist die Werbebotschaft mit ihren Text- und Bildelementen, das Zweite ist das beworbene Produkt, eine Dienstleistung o.ä.. In der Kategorie der Drittheit wird die Werbebotschaft auf Grund von Gesetzmäßigkeiten, Erinnerungen oder Gewohnheiten als solche entschlüsselt. Die Werbung wird als Zeichen der Repräsentation und Signifikation interpretiert. 4.2 Zeichendefinition nach Peirce Für Peirce gehören Zeichen eigentlich nur der Kategorie der Drittheit an. Auf dieser Stufe definiert er das Zeichen als triadische Relation. Es setzt sich zusammen aus dem Repräsentamen, dem Objekt und dem so genannten Interpretanten: IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 80 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG Ein Zeichen oder Repräsentamen ist etwas, das für jemanden in gewisser Hinsicht oder Fähigkeit für etwas steht. Es wendet sich an jemanden, d.h., erzeugt im Geist dieser Person ein äquivalentes Zeichen oder viel- leicht ein mehr entwickeltes Zeichen. Das Zeichen, welches es erzeugt, nenne ich den Interpretanten des ersten Zeichens. Das Zeichen steht für etwas, sein Objekt. Es steht für dieses Objekt nicht in jeder Hinsicht, sondern im Hinblick auf eine Art Idee. (CP 2.228) Angewendet auf Werbung können die drei Zeichenkorrelate wie folgt bestimmt werden: Das Re- präsentamen, also das Zeichen im engeren Sinn, entspricht dem Werbekommunikat, zum Beispiel eine Printanzeige oder ein TV-Spot – nach Peirce (CP 2.230) das »wahrnehmbare Objekt«, das als Zeichen fungiert. Da es im Folgenden im speziellen um die Bilder der Werbung geht, stellt das Wer- bebild in der vorliegenden Betrachtung das Repräsentamen dar. Das unmittelbare Objekt ist das materielle, abstrakte oder ideelle Ding, welches die Werbung bewirbt, also ein konkretes Produkt oder eine Dienstleistung. Zum Objekt zählen des Weiteren die Erfahrungen und das Vorwissen der Rezipienten über das beworbene Produkt und über die Textsorte Werbung. Der Interpretant ist das bedeutungshafte Ergebnis, das im Geist des Rezipienten als Folge der Werbebotschaft erzeugt wird. Alle Ideen, Gedanken, Schlussfolgerungen, Eindrücke oder Handlungen, kurz: die Werbe- wirkung, konstituieren den Interpretanten im Semioseprozess. Die drei Korrelate des Peirceschen Zeichens sind für die Textsorte Werbung in der Form eines sich gabelnden Pfades in Abbildung 1 dargestellt. 5. Fallbeispiele Im Folgenden werden fünf Beispiele aus der aktuellen Printwerbung vorgestellt und hinsichtlich der Stufenfolge der Erst-, Zweit- und Drittheit und des triadischen Zeichens analysiert. Dabei werden formale und stilistische Mittel der Bildgestaltung sowie Dekodierungsmerkmale im Bilder- rätsel identifiziert. Abb. 1: Zeichenkorrelate in der Werbung IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 81 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG Abb. 2: Print Wirkt, aus: Focus 26, 2004: 173 Gemäß den anfangs vorgestellten Formen des Bilderrätsels setzen sich die ersten vier Beispiele der opaken Werbung aus Text- und Bildelementen zusammen. Während der Text in seiner Aussage jedoch eindeutig ist, wirkt das Bild als Rätsel. Im letzten Beispiel liegt eine reine Bildwerbung vor – wenn überhaupt noch von einem Werbebild im klassischen Sinne gesprochen werden kann. 5.1 Print Wirkt An Hand des ersten Werbebeispiels soll insbesondere die vorliegende Stildefinition als Abwei- chung von einer Norm veranschaulicht werden. In der Anzeige in Abbildung 2 nimmt ein nackter, männlicher, gut trainierter Oberkörper die Hälfte der Anzeigenfläche ein. Die Fotografie in schwarz- weiß verleiht der Anzeige eine gewisse klassische Ästhetik. Links neben dem Oberkörper sind in serifenloser Typographie mit abwechselnden Klein- und Großbuchstaben die Worte »Print Wirkt« wiederholt zu lesen. Sie stellen einmal – wie die Detailansicht in Abbildung 3 zeigt – in einem etwas größeren Schriftformat eine Art Überschrift zum Bild dar und einmal mit kleinerem Schriftformat eine Art Textbaustein oder Body Copy aus den sich wiederholenden Worten »Print Wirkt«. Sowohl die schwarz-weiß Fotografie im Gegensatz zum sonst üblichen Werbebild in Farbe als auch die gegen alle orthographischen Regeln abwechselnde Verwendung von Klein- und Großbuchstaben innerhalb eines Wortes sind in dieser Werbeanzeige stilkennzeichnend im Sinne einer Normabwei- chung. Bei den Lesern der Zeitschrift herrscht kein Zweifel darüber, dass es sich bei der doppelseitigen Abbildung um Werbung handelt, schließlich hebt sie sich gestalterisch und inhaltlich eindeutig Abb. 3: Detailansicht zu Abb. 2, Print Wirkt IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 82 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG von den sie umgebenden redaktionellen Texten ab. Unklar bleibt jedoch auf den ersten Blick, für welches Produkt geworben wird und welche Funktion der dargestellte Oberkörper einnimmt. Mit anderen Worten: Die Genreerwartungen der Rezipienten, nämlich in der Werbung leicht deko- dierbare Botschaften und deutliche Produkthinweise zu finden, werden nicht erfüllt. Aufschluss gibt lediglich das Motto »Print wirkt«. Die Rezipienten können aus dieser affirmativen Aussage schließen, dass es sich um Werbung für Werbung handelt mit der Botschaft, dass Printwerbung sehr erfolgreich und wirksam sei. Somit haben sie eine sinnvolle Interpretation der Printanzeige hergestellt, die die triadische Relation des Zeichens vollständig erfüllt: Die Anzeige ist das Reprä- sentamen, das sich aus Text- und Bildelementen zusammensetzt, das beworbene Objekt ist die Werbung und der Interpretant die Überzeugung, dass Printwerbung wirksamen sei. Bei dieser Zeicheninterpretation bleibt die Funktion der Abbildung eines männlichen Oberkörpers jedoch ungeklärt, da sie in keinem inhaltlichen Zusammenhang zur Werbung für Werbung steht. Das Motto »Print wirkt« liefert aber Anhaltspunkte, dass dieser Anzeige mehr zu entnehmen sein muss, behauptet es doch, die Wirksamkeit der Anzeigenwerbung zu beweisen. Aufmerksame Le- ser müssen hinter der Werbeanzeige – außer der Werbung für Werbung – eine weitere Botschaft vermuten, und auf Grund ihres Wissens um die Textsorte Werbung können sie erwarten, dass die Lösung innerhalb der Anzeige selbst liegt. Für jene Leser, die mit der aktuellen Marken- und Werbewelt gut vertraut sind, wird an Hand formaler und stilistischer Gestaltungsmittel der Wer- beanzeige ein Bezugstext sichtbar, auf den die Print-Wirkt-Anzeige referiert. Sowohl die Farbege- staltung (schwarz-weiß), die typographischen Merkmale (serifenlose Klein- und Großbuchstaben), das Textlayout (großformatige Überschrift, kleinformatiger Textkörper) und der Bildinhalt (nackter, männlicher Oberkörper) verweisen in indexikalischer Weise auf eine traditionsreiche Anzeigenreihe der Wäschefirma Mey (s. Abb. 4). Die schwarz-weiße Farbgestaltung, die Typographie, das Layout sowie das Bildthema sind folglich Merkmale, die die Originalkampagne kennzeichnen. Sie sind durch ihren kontinuierlichen Einsatz zum Symbol für die Marke Mey geworden. In intertextueller Weise macht die Print-Wirkt-Anzeige von diesen Stilelementen Gebrauch, und obwohl sie weder Originalfotos, Markenlogos oder Originaltexte verwendet, ist die Wiedererkennung für werbekun- dige Rezipienten gewährleistet. Mit Blick auf die eingangs erwähnte Definition von Stil als Abweichung von einer Norm enthält das vorliegende Beispiel sogar ein zweifaches Schema: Die Originalanzeige ist zwar mit herkömmli- Abb. 4: Originalanzeige von Mey, aus: Focus 19, 2003: 60f. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 83 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG Abb. 5: Opake Marlboroanzeige cher Werbung konsistent in Bezug auf die Tatsache, dass sie unter Nennung des Firmennamens (Mey) und mittels einer Werbebotschaft bestehend aus Text- (»Ein Waschbrett und etwas Wäsche – was gibt es Schöneres für Frauen?«) und Bildelementen (athletischer Männeroberkörper) ein- deutig für ein Produkt (Herrenunterwäsche) wirbt. Sie divergiert aber von der breiten Masse der Werbeanzeigen, indem sie eine schwarz-weiß Fotografie im Gegensatz zur Farbfotografie sowie ein unkonventionelles Schriftformat wählt, das gegen die Regeln der Orthographie verstößt. Mit diesen Stilmerkmalen ist wiederum die Print-Wirkt-Anzeige konsistent, dienen sie doch als An- spielung auf die Originalkampagne. Die Print-Wirkt-Anzeige setzt dagegen eigene Stilmerkmale in der Form einer Abweichung von typischer Werbung, zum einen durch ihre Rätselhaftigkeit und zum anderen in der Kopie eines bereits existierenden Werbetextes. 5.2 Marlboro Im Sinne einer Abweichung von konventioneller Werbung kann auch die Werbeanzeige in Ab- bildung 5 analysiert werden. In der folgenden Ausführung soll der Schwerpunkt jedoch auf den einzelnen Stufen der Dekodierung des Bilderrätsels liegen. An Hand bestimmter visueller Hinweise – eine Pferdemähne, Zügel, Sattel, Lasso, Blue Jeans und Chaps – kann der Leser in der Form des pars-pro-toto die Nahaufnahme eines auf einem Pferd sitzenden Cowboys vermuten. In der einen Hand hält er eine angezündete Zigarette. Durch die Platzierung des Textes in einer Zeitschrift be- steht bei den Rezipienten keinerlei Zweifel über die Textsorte, nämlich dass es sich um Werbung handelt. Allerdings müssen sie sich auf die Suche nach dem beworbenen Produkt begeben, denn sie wissen aus Erfahrung, dass dieses in Wort und/oder Bild Bestandteil einer jeden Werbeanzeige ist. Allein von der Bildinformation könnten die Rezipienten auf Jeanswerbung, Werbung für Ziga- retten, Qualitätsleder oder etwa Abenteuerurlaub schließen. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 84 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG Zum kulturellen Wissen der Rezipienten über die Textsorte Werbung gehört auch das Wissen, dass sich Werbung in aller Regel auf Relevantes beschränkt und es keine irreführende Ablenkung vom beworbenen Produkt gibt. Folglich können Jeans- und Lederwerbung sowie der Abenteu- erurlaub ausgeschlossen werden, weil für diese Produkte die Abbildung einer Zigarette nicht er- forderlich ist. Es liegt nahe, dass mit dem Bild eines rauchenden Cowboys Zigaretten beworben werden. Bestätigt wird diese Bildinterpretation durch zwei Bildunterschriften, die auf Grund recht- licher Bestimmungen in Deutschland zur Werbeanzeige gehören. Im Bildteil finden wir unten links den kleingedruckten Hinweis »Die Menge an Nikotin und Kondensat, die Sie inhalieren, variiert, je nachdem, wie Sie Ihre Zigarette rauchen«, und im weiß hervorgehobenen unteren Anzeigenteil lesen wir den für Tabakwerbung obligatorischen Satz: »Die EG-Gesundheitsminister: Rauchen ge- fährdet die Gesundheit. Der Rauch einer Zigarette dieser Marke enthält 0,8 mg Nikotin und 11 mg Kondensat (Teer). (Durchschnittswerte nach ISO).« Der Text in diesem Werbebeispiel gibt letztlich Aufschluss über die Interpretation des Bildes und die beworbene Produktkategorie Zigarette. Eine Objektrelation und ein Interpretant werden folglich hergestellt. Insofern stellt die Anzeige ein ech- tes Rätsel dar, da ihr die richtige Antwort entnommen werden kann. Allerdings stimmt dies nur mit einer Einschränkung, denn unklar bleibt, welche Zigarettenmarke hier beworben wird. Des Rätsels Lösung liegt allein in der Bildbotschaft dieser Anzeige. Die Rezipienten müssen wis- sen, dass die Zigarettenmarke Marlboro seit den 1950er Jahren mit der Figur eines Cowboys, dem so genannten Marlboro Man, und der Westernlandschaft des Grand Canyons wirbt. In der Wiederholung des ewig Gleichen sind diese Bilder selbst zum Mythos und zum Markensymbol geworden, so dass Marlboro in seinen Anzeigen gelegentlich ganz auf die Namensnennung und Abbildung der typischen weiß-roten Zigarettenschachtel verzichtet. Es handelt sich um eine durch langanhaltende Tradition getroffene Übereinkunft der Bildbedeutung. Durch die Wiederholung des immer Gleichen hat diese Marke einen eigenen Stil entwickelt, der die Identität von Marlboro in Abgrenzung zu allen anderen Zigarettenkampagnen und Tabakprodukten sichtbar macht. Abb. 6: Opake Silk-Cut-Anzeige, aus: Werler 1993: 15 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 85 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG 5.3 Silk Cut Ein sehr komplexes Bilderrätsel liegt in der Anzeige aus dem Jahr 1989 in Abbildung 6 vor. Wie bei der vorherigen verschlüsselten Marlboro-Werbung gibt der rechtlich obligatorische Text die- ser Anzeige sprachliche Hinweise auf die beworbene Produktkategorie Zigaretten (»Der Bundes- gesundheitsminister: Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit« etc.) nicht jedoch der Bildteil, in dem ein lila farbiges Seidentuch abgebildet ist, das einen Einschnitt aufweist, durch das ein weißer Untergrund zu sehen ist. Der Text stellt also den Objektbezug zum Produkt Zigaretten und die In- terpretation »Zigarettenwerbung« her. Die Marke bleibt wiederum ein Rätsel. Aufschluss kann nur noch im visuellen Teil der Anzeige vermutet werden. Was bedeutet das Bild, worauf verweist es? Die Leser müssen wissen, dass die Farben Lila und Weiß indexikalisch auf die Farben des Corpo- rate Identity der Zigarettenmarke Silk Cut verweisen. Haben die Leser diesen Bezug hergestellt, werden sie die Anzeige ferner als englischsprachiges Rebus entschlüsseln können, denn das ein- geschnittene lila Seidentuch visualisiert den Produktnamen Silk Cut in ikonischer Weise. Zu guter letzt können die Rezipienten, die über ein solides kunstgeschichtliches Wissen verfügen, über den Bildinhalt »aufgeschlitztes Tuch« eine Beziehung zu den perforierten Arbeiten des italienischen Künstlers Lucio Fontana herstellen, den dieser Bildstil kennzeichnet. Im Bilderrätsel der Silk-Cut-Werbung liegt also ein überaus komplexes Zeichen vor, in dem die Rezipienten verschiedene Stufen der Semiose durchlaufen. Je nach Vorwissen wird spezifiziert, ob die Rezipienten lediglich einen Objektbezug »Zigarettenwerbung« herstellen, ob sie über die farblichen Indexe die Marke konkretisieren, und ob über den Bildinhalt ferner ein Bezug zu den Ar- Abb. 7: Unterschiedliche Objekte und Interpretanten desselben Repräsentamen IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 86 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG Abb. 8: Opake VW- Anzeige, aus: Volkswagen Anzeigendatenbank, Nr. BE020USPR beiten Fontanas hergestellt wird. Dasselbe Zeichen (R1) kann je nach Kenntnisstand der Rezipien- ten bis zu drei verschiedene Objektrelationen (O1, O2, O3) hervorrufen und drei unterschiedliche Interpretanten generieren (I1, I2, I3). Dies ist in Abbildung 7 verdeutlicht. 5.4 VW Käfer Im vierten Werbebeispiel (Abb. 8) entsteht das Rätsel erst durch die Text-Bild-Beziehung. Die beworbene Produktkategorie ist der Anzeige durch verbale und visuelle Hinweise sofort zu ent- nehmen. Im Anzeigenfeld unten rechts verweist der Slogan »Drivers wanted« auf Transportmittel. Da im Englischen Fortbewegungsmittel zu Wasser und zur Luft durch einen ›captain‹ oder ›pilot‹ gesteuert werden, muss sich die Werbung notwendigerweise auf Automobile, Busse, Motor- oder Fahrräder beziehen. Das blaue Firmenlogo des Automobilherstellers Volkswagen neben dem Slo- gan (unten rechts) spezifiziert diese Interpretation. Ganz offensichtlich handelt es sich um eine Anzeige für Autos der Marke Volkswagen, insofern können die Rezipienten eine vollständige Wer- bebotschaft entnehmen. Eine weitere Bildunterschrift (unten links) teilt jedoch mit: »Seen at the mall«. Durch diese elliptische Formulierung wird die Neugier der Leser geweckt: Was wurde im Einkaufszentrum gesehen? Die Aufmerksamkeit gilt nun der Abbildung, doch diese stellt lediglich einen unspektakulären gefließten Fußboden dar, der einige Bruchstellen aufweist. Eine unvoll- ständig abgebildete Einkaufstasche ist in der rechten unteren Bildecke sichtbar. Das Motiv steht in keinem offensichtlichen Zusammenhang zu Volkswagen-Automobilen, und doch behauptet die Bildunterschrift, dass hier etwas zu sehen sei. Die Leser sind eingeladen, sich näher mit dem Rät- sel zu befassen. Bei längerer Betrachtung des Bildes werden sie feststellen, dass eine Bruchstelle in den Fliesen in der Bildmitte besonders prägnant ist und die typische Form des neuen Volkswa- gen Käfers aufweist. Wer allerdings die für dieses Fahrzeug typische Form nicht kennt, wird aus dem Anzeigenbild nicht schlau werden. Das beworbene Produkt, der neue VW Käfer, würde in die- sem Fall nicht konkretisiert werden können, so dass die Leser der Anzeige zwar ein vollständiges Zeichen entnehmen (»Werbung für Volkswagen Automobile«) nicht jedoch den intellektuellen und spielerischen Mehrwert der Botschaft erfassen können. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 87 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG Abb. 9: Einführungskampagne E.ON, aus: Der Spiegel 27, 2000: 64f. 5.5 E.ON Für das letzte Beispiel sei vorweg genommen, dass es sich um eine Einführungskampagne für einen neuen Dienstleister handelt und die Rezipienten zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Wer- bereihe auf keinerlei tradiertes Vorwissen um die Bildinhalte der Kampagne zurückgreifen konn- ten. Im Sommer 2000 waren deutschlandweit Anzeigen, Plakate und TV-Spots zu sehen, die aus- schließlich aus einer roten Fläche bestanden (Abb. 9). Kein einziger Hinweis gab Aufschluss über die Bedeutung, Herkunft oder Absicht der roten Fläche. Nur über die Textsorte herrschte Klar- heit, denn im Fernsehen erschien die rote Fläche innerhalb des Werbeblocks, in den Zeitschriften enthielt sie den Vermerk »Anzeige«, und die Plakate waren an den für die Außenwerbung vorgese- henen Plakatanschlagstellen angebracht. Die bloße Repräsentation der Farbe Rot, die auf nichts Konkretes in Raum und Zeit verweist und somit völlig offen in ihrer Bedeutung bleibt, ist nach Peirce ein klassisches Beispiel für ein rhematisches Qualizeichen, das gleich zweifach die Kategorie der Erstheit, des bloßen So-Seins exemplifiziert. Ein solches Zeichen, das ohne Bezug auf etwas bleibt, ist in jeder Hinsicht selbst- referenziell. Den Rezipienten kann es nicht gelingen, eine Objektrelation (Zweitheit) und einen triadischen Semioseprozess einzuleiten. Auf Grund kulturell geprägter Symbolik (Drittheit) kann Rot zwar als Farbe der Liebe, der Gefahr oder als Farbe bestimmter Parteien gewertet werden, die Werbung an sich gibt aber keinerlei Anhaltspunkte für eine Bedeutungszuweisung dieser Art. Auch ein Bezug zur monochromen Malerei, z. B. Monochrome Crimson von Claude Tousignant (1981), führt nicht zu einer Lösung. Mit anderen Worten: die Rezipienten stehen vor einem Rätsel, das – im Gegensatz zu den bereits besprochenen Werbebeispielen – keinerlei stilistische oder formale Bildmerkmale aufweist, die zur Interpretation des Bildes und der Werbebotschaft führen könnten. Weder ein Objektbezug (außer der bloßen Darstellung der Farbe Rot) noch ein vollständiger Inter- pretant (außer der verwirrenden Wirkung, die diese Werbeanzeige hervorruft) können hergestellt werden (s. Abb. 10). Was kann das Ziel einer solchen Werbung sein? Sie erregt in jedem Fall Aufmerksamkeit, weil sie sich von den üblichen Strategien und Mitteln der Werbung im Sinne einer Normabweichung IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 88 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG Abb. 10: Rätselhaftes Objekt und rätselhafter Interpretant in der selbstreferenziellen Werbung unterscheidet. Sie bedarf einer Folgekampagne, die die Auflösung des Rätsels mitteilt. Im vorlie- genden Fall wurde die rote Fläche des rhematischen Qualizeichens in einem zweiten Schritt durch den Firmennamen »E.ON« und das Motto »Neue Energie« ergänzt. Ziel der Werbenden war es, die Bevölkerung auf den neuen Konzern aufmerksam zu machen und die Farbe Rot mit der Firma E.ON zu assoziieren. 6. Dekodierungsmerkmale der Bildgestaltung An Hand der fünf Werbebeispiele, die von opaken Bildern Gebrauch machen, können verschie- dene stilistische und formale Mittel der Bildgestaltung festgehalten werden, die die Dekodierung der Bildinhalte und die Herstellung einer vollständigen Zeicheninterpretation strukturieren: In al- len Beispielen – mit Ausnahme des letzten – spielt die Text-Bild-Beziehung eine unterschiedlich stark ausgeprägte Rolle. In der Marlboro-Anzeige gibt der gesetzlich vorgesehene Warnhinweis Aufschluss über das Produkt, in der Silk-Cut-Werbung wird der Produktname bildhaft dargestellt, und in der VW-Anzeige lädt der Text ein, sich eingehender mit dem Bild auseinanderzusetzen. Des Weiteren spielen Farbgestaltung, Layout und Typographie eine herausragende Bedeutung für die Dekodierung der Rätsel, wie etwa das Beispiel Print-Wirkt zeigt. Die Rolle der Farbe für den Signifikationsprozess wurde in der Silk-Cut-Anzeige sowie in der E.ON-Werbung deutlich. Typisch für konventionalisierte Bilder in der Werbung sind unter anderem Werbefiguren, die durch lang- jährigen Gebrauch und stetige Wiederholung zum Symbol einer Marke werden. Das Beispiel des Marlboro Man verdeutlicht dieses Prinzip. In der VW-Anzeige ist es eine etablierte Form, die zur Dekodierung des Bilderrätsels führen soll. 7. Der Stil des Rätsels in der Werbung Wie die vorliegende Untersuchung am Beispiel von Bilderrätseln in der Werbung zeigt, sind zwi- schen Stil und Rätsel Affinitäten im Phänomen der Abweichung von einer Norm zu beobachten. Für die Textsorte Werbung trifft dies in zweifacher Hinsicht zu: Zum einen stellen Rätsel im Aristo- IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 89 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG telischen Sinn an sich schon Abweichungen von der Alltagssprache in Form von Metaphern dar. Im Hinblick auf Werbung wird zudem die auf Erfahrung basierende Erwartung der Rezipienten an eine leicht dekodierbare Werbebotschaft nicht erfüllt. Ihnen wird ein für die Gattung unüblicher Mehraufwand bei der Text- und Bildinterpretation abverlangt. Das Bild stellt durch seine Rätsel- haftigkeit ein nicht eindeutig motiviertes Zeichen dar, das zunächst weder semantisch konkret bestimmt werden kann noch einen vollständigen Zeichenprozess durchläuft. Somit weicht die rätselhafte Werbung in Form und Inhalt erheblich von der Standardwerbung ab und wird im Ext- remfall zum selbstreferenziellen Zeichen, das die primären Ziele einer Werbebotschaft überhaupt nicht zu erfüllen vermag und letztlich nur auf sich selbst verweist. Im triadischen Zeichen nach Peirce manifestiert sich Stil also dadurch, dass ein Korrelat des Zeichens (das Objekt und/oder der Interpretant) zunächst fehlt bzw. zunächst nicht transparent ist. Die Abweichung von der Norm dient in dieser Art der Werbung in erster Hinsicht der Erzeugung von Aufmerksamkeit. Es ist die Strategie der poetischen Semiose: Der von der Norm und den Er- wartungen abweichende Text zieht die Aufmerksamkeit der Leser auf sich und verlangt ein höhe- res Maß an Dekodierungsenergie. Assmann (1988) spricht von »wilder Semiose«: Durch Verstöße gegen die Norm, die etwas Unbekanntes und Unerwartetes mit sich bringen, wird die Aufmerk- samkeit der Leser auf die Materialität und Form des Textes gelenkt, so dass der Text als ästhetisch wahrgenommen wird. Im Gegensatz zum Lesen bezeichnet Assmann diesen langen, verweilenden Blick als Starren, das sich auf ein kompaktes, nicht weiter auflösbares Zeichen richtet. Dies, so Assmann weiter, »ist verantwortlich für Unübersetzbarkeit, Nicht-Mittelbarkeit, unerschöpfliche Vieldeutigkeit« (Assmann 1988: 241). Auch intellektuelles Vergnügen und eine Steigerung des Er- innerungswerts der Marke können durch enigmatische, rätselhafte Werbung erreicht werden. Die rätselhafte Werbung, die mit den Erwartungen an typische Werbung bricht, erzeugt für sich einen jeweils individuellen Stil. Der Erwartungsbruch gilt jedoch nur für die erste Bekanntschaft der Rezipienten mit dem noch nicht gelösten Werberätsel, denn auch das Rätsel und seine Lösung können – bei mehrfacher Wiederholung – zur Erwartung werden. Des Weiteren ist von verschiedenen Rätselstilen auszugehen. Während sich das Enigmatische im antiken Rätsel in der Aristotelischen Erörterung vor allem durch die Verknüpfung inkongruenter Wörter und Dinge konstituiert, kann das Rätselhafte am Beispiel der hier untersuchten Werbung ebenso in der Textsorte, den Bildern, der Text-Bild-Relation, der Farbgebung und Typographie sowie in anderen graphischen Details zu finden sein. Nicht allein das Rätselhafte konstituiert in der Werbung Stil. Im Rätsel unterscheidet sich die in- dividuelle Anzeige zwar von allen anderen Werbetexten und erregt somit Aufmerksamkeit, doch auch einzelne Kampagnen haben in der Wiederholung des immer Gleichen einen eigenen Stil, der ihre Identität in Abgrenzung zu allen anderen Kampagnen und Produkten sichtbar macht (siehe Marlboro). Im Gegensatz dazu verdeutlicht das Beispiel der roten E.ON-Anzeige die Stillosigkeit, denn die Farbe Rot reichte im ersten Schritt der Kampagne noch nicht dazu aus, die Identität des Konzerns zu enthüllen. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 90 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG Literatur Assmann, Aleida: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose. In: Gumbrecht, Hans Ulrich & Pfeiffer, K. Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt am Main [Suhrkamp Taschenbuch Verlag] 1988, S. 237-251 Abrahams, Roger D. & Alan Dundes: Riddles. In: Dorson, Richard M. (Ed.): Folklore and Folklife. Chicago [The University of Chicago Press] 1973, S. 129-143 Aristoteles: Poetik. Übersetzt von Manfred Fuhrmann. München [Heimeran] 1976 Aristoteles: Poetik. Übersetzt von Olof Gigon. Stuttgart [Reclam] 1964 Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt von Franz G. Sieveke. München [Fink] 1980 Bessler, Ulrike: Alte Bilderrätsel. Dortmund [Harenberg Kommunikation] 1978 Bishara, Nina: »Absolut Anonymous«: Self-reference in opaque advertising. In: Nöth, Winfried & Bishara, Nina (Hrsg.): Self-Reference in the Media. erscheint Forceville, Charles: Pictorial Metaphor in Advertising. London [Routledge] 1995 Gauger, Hans-Martin: Über Sprache und Stil. München [Beck] 1995 Grzybek, Peter: Überlegungen zur semiotischen Rätselforschung. In: Eismann, Wolfgang & Grzybek, Peter (Hrsg.): Semiotische Studien zum Rätsel: Simple Forms Reconsidered II. Bochum [Brockmeyer] 1987, S. 1-38 Messaris, Paul: Visual Persuasion. The Role of Images in Advertising. Thousand Oaks (Cal.) [Sage Publications] 1997 Nöth, Winfried: Semiotik. Eine Einführung mit Beispielen für Reklameanalysen. Tübingen [Max Niemayer Verlag] 1975 Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. 2. Auflage. Stuttgart [Metzler] 2000 Peirce, Charles S.: Collected Papers of C. S. Peirce (1931-1958). Ed. by Charles Hartshorne, Paul Weiss & Arthur Burks. Cambridge (MA) [Harvard University Press] – zitiert als CP Petsch, Robert: Das deutsche Volksrätsel. Strassburg [Karl J. Trübner] 1917 Schenk, Eva-Maria: Das Bilderrätsel. Hildesheim / New York [Georg Olms Verlag] 1973 Weber-Kellermann, Ingeborg: Über das Volksrätsel. In: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hrsg.): Beiträge zur sprachlichen Volksüberlieferung (Veröffentlichungen der IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 91 NINA BISHARA: BILDERRÄTSEL IN DER WERBUNG Kommission für Volkskunde, Bd. 2). Berlin [Akademie Verlag] 1953, S. 106-120 Werler, Herbert: Millionengrab Werbung. Die Sünden der Werber und die Fehler ihrer Auftraggeber. Stuttgart [Schäffer-Poeschel] 1993 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 92 [Inhaltsverzeichnis] Sascha Demarmels Funktion des Bildstils von politischen Plakaten. Eine historische Analyse am Beispiel von Abstimmungsplakaten Abstract The style of an image helps to organize the information contained in the image and depends, among other things, on the image structure. To uncover the image structure of vote posters, the basic patterns of the text have to be identified. Applying the results from the research in ad- vertising, the text patterns located in advertisments can be modified and transferred to political posters. Comparing posters from several countries shows that the style of the image may vary depending on cultures and traditions. Moreover, a change dependent on technical developments is recognizable. Another important aspect of the style of the image is the significance of colours, which are used to influence the recipient. The style of the image of (political) advertisment pos- ters does not only contain a persuasive (mostly emotionalizing) function. The ›social‹ function for instance is also a relevant factor. This function is enabled by arranging recipients into certain groups, which can be achieved through visualization. Symbols of identity are another recurring factor, like the Swiss emblem (the white cross on red ground) on vote posters from Switzerland. Regarding this symbol, a shift in the style of the image can be detected during the time period investigated (1848-2005). This shift is accompanied by political change. Up until the 1970s the Swiss Cross can only be found in its ›natural‹ form, white cross on red ground, conveying patrio- tism and demanding the cohesion of the confederation. In the 1970s, with increased influence of leftist parties, a new variation is added: by changing the colours and through ironic alterations of the Swiss Cross, conservative approaches are abandoned. A further variation occurs in the 1990s: The Swiss Cross serves again as a symbol of unity. The communicators now attempt to unite the IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 93 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … German and French speaking parts of Switzerland, because the political majorities in those two parts start to drift apart. Der Bildstil hilft bei der Strukturierung von Bildinformationen und hängt unter anderem auch mit dem Bildaufbau zusammen. Um diesen Bildaufbau von Abstimmungsplakaten herauszuarbeiten, müssen als erstes Textbausteine identifiziert werden, wobei man sich dazu der Ergebnisse aus der Werbeforschung bedienen kann, indem man die dort bereits definierten Textbausteine modifiziert und anschließend auf politische Plakate überträgt. Im Vergleich von Plakaten aus verschiedenen Ländern zeigt sich, dass der Bildstil abhängig von politischen Kulturen und Traditionen variieren kann. Außerdem lässt sich auch ein Wandel parallel zur technischen Entwicklung erkennen. Die Farbgebung ist ein weiterer wichtiger Aspekt für den Bildstil, weil dieser zur Beeinflussung der Rezipienten genutzt wird. Nebst der persuasiven (und damit meist emotionalisierenden) Funktion des (politischen) Werbeplakats verfolgt der Bildstil weitere Ziele. Wichtig ist etwa die ›soziale‹ Funktion. Sie kommt zustande, indem die Rezipienten zu bestimmten Gruppen zusammenge- schlossen werden; die Visualisierung kann dabei unterstützend wirken. Auch Identitätssymbole finden sich immer wieder, wie auf Schweizer Abstimmungsplakaten das Schweizer Wappen, das weiße Kreuz auf rotem Grund. Hier kann eine Veränderung im Bildstil innerhalb des untersuch- ten Zeitraums (1848–2005) ausgemacht werden, wobei dieser den sozialen Wandel begleitet. So kommt das Schweizer Kreuz bis in die 1970er Jahre nur in seiner ›natürlichen‹ Form, also weiß auf rot vor und verkörpert damit den Patriotismus, den Zusammenhalt der Eidgenossen. In den 1970ern, mit vermehrter Macht der politisch links orientierten Parteien, kommt eine neue Variante hinzu: Mittels Veränderungen in den Farben und durch ironische Spiele mit und am Schweizer Kreuz wird von dieser konservativen Haltung Abstand genommen. Schließlich folgt in den 1990er Jahren ein weiterer Schritt: Das Schweizer Kreuz wird erneut dazu genutzt, eine Einheit zu bilden. Dabei geht es den Kommunikatoren nun darum, die französische und die deutsche Schweiz wie- der zu vereinen, da die politischen Mehrheiten zwischen diesen beiden Gebieten je länger je mehr auseinanderklaffen. 1. Einleitung Seit der Geburt des Plakates im 15. Jahrhundert ist dieses, neben dem Einsatz als Werbe- und Informationsträger, immer auch für politische Zwecke eingesetzt worden, und trotz des immensen und stetig beschleunigten Medienwandels der letzten Jahre hält es sich tapfer im Kampf um die Aufmerksamkeit der Rezipienten in der Alltagshektik. Zwar hat sich – und das werde ich in diesem Aufsatz aufzeigen – der Bildstil der Plakate im Laufe der Zeit verändert. Dennoch oder vielleicht auch gerade deswegen kann man hier von einem alten, traditionellen Medium sprechen, das bis heute als Konkurrent zu allen anderen, neueren Medien in den meisten Kampagnen der politi- schen und der Produktwerbung zu bestehen vermag. Die Schweiz ist eine direkte Demokratie, in der, anders als in den meisten anderen Ländern, re- gelmäßig eidgenössische, also landesweite Volksabstimmungen durchgeführt werden. Dass es diese nirgendwo sonst in solchem Ausmaß gibt, ist wohl auch ein Grund dafür, dass diese Form der politischen Kommunikation bislang von linguistischen und semiotischen Disziplinen kaum un- IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 94 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … tersucht wurde. Meine Beobachtungen bezüglich der Schweizer Abstimmungsplakate lassen sich aber auch auf internationale politische Plakate übertragen, also auch auf Plakate, welche nicht einem Abstimmungskampf dienen. Verschiedene Aspekte müssen dabei gesondert betrachtet werden und können zum Teil nur im übertragenen Sinne verglichen werden. Dennoch scheinen sich im politischen Kontext bestimmte Bildstrukturen immer wieder und auch in verschiedenen Ländern zu finden. Es wird sich aber auch zeigen, dass die besonderen politischen Verhältnisse in der Schweiz zu besonderen Ausdrucksformen in der politischen Plakatkommunikation geführt haben und dass die verschiedenen politischen Traditionen unterschiedlich mit den Möglichkeiten der Plakatgestaltung umgehen. Es ergibt sich also ein Zusammenhang zwischen dem politischen System und dem Gestaltungsstil. Ich stütze mich bei meinen Ausführungen auf die bisherigen Ergebnisse meines Dissertationspro- jekts, in dem ich Schweizer Abstimmungsplakate untersuche, wobei ich mich insbesondere für die Strategien zur Emotionalisierung interessiere. Bisher habe ich feststellen können, dass sich diese Strategien seit 1898 – dem Jahr, aus dem die frühesten Abstimmungsplakate stammen, die ich habe ausfindig machen können – nur wenig verändert haben. Die aktuellen Realisierungen, das heißt, die konkrete Umsetzung von solchen Emotionalisierungsstrategien hat sich aber zum Teil stark verändert. Zunächst gehe ich auf die spezifische politische Situation der Schweiz und auf die Merkmale des Mediums Plakat ein. Daraufhin werde ich ein wichtiges Instrument zur Beurteilung des Bildstils auf Plakaten, die Textbausteine, vorstellen und dabei auch zeigen, wie sich der Bildstil im Vergleich von Plakaten aus unterschiedlichen Ländern manifestiert. Weiter werde ich aufzeigen, wie sich die Textbausteine im Laufe der Zeit durch Veränderungen in der Technik und in der Professionali- sierung der politischen Kommunikation gewandelt haben. Schließlich werde ich im Rahmen einer historischen Bildsemiotik Beispiele für Identitätssymbole betrachten und dabei insbesondere die Verwendung von Landesfarben, -wappen und nationalen Mythen erläutern. 2. Das politische System in der Schweiz In der Schweiz wird die Regierung (also der Bundesrat) nicht direkt vom Volk, sondern vom Par- lament gewählt. Das Parlament seinerseits wird alle vier Jahre, Kanton für Kanton, vom Volk ge- wählt. Auf das politische System der Bundesrepublik Deutschland übertragen entspricht ein Kan- ton in etwa einem Bundesland. Die Parteien müssen für jeden Kanton, in dem sie Kandidaten zur Verfügung haben, spezifisch Werbung machen, wenn sie die Kandidaten entsprechend fördern wollen. Das bedeutet, dass es keine landesweiten Wahlkampagnen für einzelne Politiker gibt, sondern dass sich die Personen-Wahlwerbung auf die einzelnen Regionen oder eben Kantone beschränkt. Landesweit wird nicht für Einzelpersonen, sondern allenfalls für Parteien oder (Wahl-) Listen geworben. Daneben gibt es pro Jahr etwa drei bis vier Abstimmungssonntage, an denen durchschnittlich über drei bis vier – aber auch bis zu zwölf – eidgenössische, also landesweite Vorlagen abgestimmt wird. Diese Vorlagen erstrecken sich über alle möglichen Sachthemen (z.B. Finanzvorlagen, Staatsverträge, Umweltschutz, Altersvorsorge usw.) und setzen sich zusammen aus Referenden zu Bundesbeschlüssen und -gesetzen sowie aus Volksinitiativen. Die Schweiz hat IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 95 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … also bedeutend mehr Praxis mit landesweiten Abstimmungskämpfen als mit Wahlkämpfen. Es ist mir kein anderes Land bekannt, in dem ähnlich viele Abstimmungen durchgeführt werden. 3. Das Medium Plakat Im öffentlichen Raum oft nur für Sekunden beachtet, muss die Botschaft von Plakaten im Allge- meinen und von politischen Plakaten im Besonderen kurz und prägnant sein, um sich in der Hek- tik des Alltags behaupten zu können. Leicht verständlich formuliert, muss sie bei den Passanten Aufmerksamkeit wecken, wobei ihr oft das visuelle Bild zu Hilfe kommt. Gerade bei komplizierten Vorlagen, die teilweise auch komplexes wissenschaftliches Wissen voraussetzen (z.B. Vorlagen über Gentechnik) und die zum Teil auch vom Rezipienten schwierige ethische Überlegungen ver- langen, wird das Plakat mit seinem beschränkten Raum herausgefordert. Dabei ist allerdings auch zu beachten, dass ein Abstimmungskampf immer in ganz verschiedenen Medien zugleich ausge- tragen wird, und sich die Sender einer Botschaft nicht auf das Plakat alleine verlassen müssen. Außerdem ist der Bund dazu verpflichtet, alle Bürgerinnen und Bürger in Form eines ›Abstim- mungsbüchleins‹, das dem Abstimmungsmaterial beiliegt, grundsätzlich und unvoreingenommen über die jeweiligen Vorlagen zu informieren. Trotzdem ist auch das Plakat für jeden Abstimmungs- kampf wichtig, weil auf ihm die Quintessenz der Argumente zusammengefasst wird und weil es nicht zuletzt auch darum geht, die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für die Abstimmung zu mobilisieren. Eva-Maria Lessinger und Markus Moke (1999) haben für die Wahlwerbung am Ende des 20. Jahrhunderts konstatiert, dass sich das Plakat gut hält, das heißt, dass es in der Konkur- renz zu anderen Medien bestehen kann. Dasselbe ist wohl auch heute noch und trotz anderen Kommunikationsinhalten für Schweizer Abstimmungsplakate anzunehmen — vor Abstimmungen finden sie sich immer zahlreich an den Plakatwänden. Im Gegensatz zur Vorkriegszeit ist das Plakat allerdings kein Basismedium mehr und hat als einzelnes an Reichweite verloren. Niemand kommuniziert heute noch ausschließlich über Plakate. 4. Textbausteine Der Bildstil hilft bei der Strukturierung von Bildinformationen durch den Bildaufbau. Auf den ersten Blick kann ein einigermaßen geübter Leser eine Werbeanzeige vom redaktionellen Teil einer Zei- tung unterscheiden. Ähnlich verhält es sich auch bei Plakaten: Die Unterscheidung der politischen (Abstimmungs-)Plakate von Produktwerbung fällt im Allgemeinen nicht schwer, auch heute nicht, wo viele Plakate der Produktwerbung versuchen, dem Rezipienten ein Rätsel aufzugeben und da- rum nicht immer klar ersichtlich ist, welchem Zweck ein solches Plakat dient. Darum ist es meines Erachtens unabdingbar, sich mit den Textbausteinen von Plakaten auseinander zu setzen, wenn man ihrem Bildstil auf die Spur kommen will. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 96 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … 4.1 Textbausteine in der Werbung Nina Janich (2003: 43-68) hat solche Textbausteine für die Printwerbung zusammengetragen. Sie stützt sich dabei auf einschlägige Arbeiten zur Werbeforschung, wobei sie vor allem ein Instru- ment zur Untersuchung von Werbeanzeigen entwickelt hat. Werbeanzeigen unterscheiden sich in verschiedenen Punkten von Werbeplakaten, wobei ich vor allem die Kommunikationssituation herausstreichen möchte: Bei Werbeanzeigen findet die Rezeption eher in Ruhe statt, während sich Plakate oft im hektischen Straßenverkehr befinden und von dort nicht losgelöst und mitgenom- men werden können. Durch die geringere räumliche Distanz zwischen Kommunikat und Rezipient ergibt sich für Werbeanzeigen, dass auch klein gedruckter Text rezipiert werden kann, wenn sich der Lesende dafür Zeit nehmen will. Ergänzend habe ich darum noch Studien von Schierl (2001), der ein Kapitel explizit dem Medium Plakat widmet, Stöckl (1998), Kroeber-Riehl (1993), Baumgart (1992) und Toman-Banke (1996), welche sich mit politischen Slogans befasst, beigezogen. Im Bereich der sprachtextuellen Komponenten zeichnet sich dabei Folgendes ab: Die Schlagzeile ist der Aufhänger und neben dem Bild das zentrale Textelement (Janich 2003: 43). Ihre Funktion ist unter anderem das Wecken von Aufmerksamkeit. Merkmale sind, dass sie groß und fett gedruckt wird, also auch rein formal sofort ins Auge sticht. Bei Plakaten, so Janich weiter, existiere als Wer- betext oft nur der Schlagzeilentext (ebd.: 45). Schierl (2001: 151) sieht darin den Vorteil, dass die Schlagzeile den Fließtext (siehe Ausführungen im nächsten Abschnitt) ersetzen kann, falls dieser nicht gelesen wird. Das würde in meinem Fall von politischen Plakaten, in denen Fließtext meist generell fehlt, auf einen unabdingbaren Bestandteil hinweisen. Beim Fließtext handelt es sich um einen Textblock – also mehrere schriftliche Zeilen untereinander angeordnet –, der das Textthema aufgreift, das Bildmotiv ausformuliert und weitere ergänzende Angaben macht (vgl. Janich 2003: 47). Schierl (2001: 153) verweist darauf, dass es sich beim Fließtext in kleinerer Schrift nicht um einen Blickfang handle. Im Zusammenhang mit der Betrach- tung des Bildstils würde ich das bestreiten, weil ein Textblock sofort also solcher identifiziert wird, Abb. 1: Schweiz, 2005, Werbeplakat von McDonald‘s IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 97 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … auch wenn ihm von den meisten Rezipienten inhaltlich insofern keine Beachtung geschenkt wird, als dass sie ihn einfach nicht lesen. Der Slogan schließlich enthält eine abschließende, kurze Zusammenfassung (Janich 2003: 48, Baumgart 1992: 35f.). Seine Funktion besteht im Wiedererkennungseffekt, wobei seine Wieder- holung auch für andere Produkte und in anderen Medien genutzt werden kann (Janich 2003: 48). Damit verbunden ist also auch eine Identifikationsfunktion. Indem Slogans Eingang in die Alltags- sprache finden, erhalten sie den Status von ›geflügelten Worten‹, weshalb besonders auch die spezielle Auswahl der sprachlichen Mittel berücksichtigt werden müsse (Baumgart 1992: 42ff.). Dieser Forderung wird seit Jahren genüge getan: Der Slogan ist der bestuntersuchte Textbaustein in der Werbekommunikation (Janich 2003: 48). Diese Textbausteine werden mit einer weiteren wichtigen Komponente abgerundet, dem Bild. Dieses gilt als Blickfang und ist besonders geeignet, um emotionale Inhalte zu transportieren (Janich 2003: 60). Verschiedene WissenschaftlerInnen haben sich dem Bild in den letzten Jahren genähert, zumeist aus semiotischer Perspektive. Ganz am Anfang stehen Barthes (1964) und Eco (1994, Original 1968), neuere Untersuchungen zum Bild in der Werbung stammen von Schierl (2001) und Stöckl (1998 und 2004). Immer geht es in diesen Betrachtungen auch um das Verhält- nis von Bild und Text. Natürlich bleibt im Aufbau von (Werbe-)Plakaten nichts beim Alten. So ergeben sich fortwährend Verschiebungen in den Textbausteinen und es werden den klassischen Elementen Neuerungen hinzugefügt; auf andere Bausteine wird hingegen sporadisch auch ganz verzichtet. Da ich für die Anwendung der Textbausteine auf Abstimmungsplakaten gewisse Anpassungen habe vornehmen müssen, werde ich mich mit diesen Veränderungen in der Produktwerbung nicht weiter befassen. Auf die Veränderung der Textbausteine innerhalb der Abstimmungsplakate werde ich weiter unten eingehen. Hier kann ich aber vorwegnehmen, dass diese im Gegensatz zur Produktwerbung eine konstantere Entwicklung durchmachen. Dass auch die sprachtextuellen Komponenten einen gewissen Bildcharakter haben, möchte ich an einem Beispiel demonstrieren. Textbausteine können sofort eingeordnet werden, auch wenn man sie nicht lesen kann. Der Textinhalt ist für den Bildaufbau also gewissermaßen irrelevant. Das Plakat von McDonald’s (Abb. 1) stammt aus dem Sommer 2005 und stellt eine durchschnittliche Werbebotschaft dar. Zu sehen ist eine Berglandschaft, im mittleren Bildbereich einige Bäume, im Vordergrund drei überdimensionierte Hamburger, für die geworben wird. Der Text auf dem Plakat lautet: »[groß:] Wild, wild, esst! // [kleiner darunter:] Road to America! Jede Woche ein anderer Bur- ger im American style. [auf rotem Grund, schräg daneben:] WETTBEWERB! // [kleiner darunter:] 5x2 Tickets in die USA mit Gratis-Mietauto zu gewinnen // [am unteren Rand, kleiner:] z.B. der Canada ‘n Cheese mit Bacon, Emmentaler Schmelzkäse, abgerundet mit einer leckeren Sauce. [rechts unten, unter dem McDonald’s-Signet:] I’m lovin’ it // [rechts unten, am rechen Rand, auf- wärts geschrieben:] www.mcdonalds.ch«. Betrachtet man das Plakat, so fällt als Erstes wohl das Bild und die Zeile »Wild, wild, esst!« auf. Gemäß meinen Darstellungen oben wäre diese Textzeile die Schlagzeile. Auch der Slogan »I’m lovin‘it« ist sofort als solcher erkennbar, obwohl er in klei- nerer Schrift erscheint. Hervorgehoben wird er durch das McDonald’s-Signet – das große, rund geschwungene M in gelber Farbe –, von welchem er selber auch Bestandteil ist. Schwieriger wird IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 98 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Abb. 2: Schweiz, 6. Dezember 1931, Abstimmung über das Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung und über die Besteuerung des Tabaks; Heini Fischer-Corso; Plakatsammlung Basel, Nr. 7699 es mit der Identifikation von Fließtext, der auf allen Plakaten eher selten ist. Am ehesten dafür in Frage käme die untere Zeile, in welcher der Burger eine spezifischere Beschreibung erfährt. Dasselbe Plakat wurde auch im Hochformat ausgehängt, wobei dieser ergänzende Text dort auf mehrere Zeilen verteilt war und damit dem Anspruch eines Textblockes gerecht wurde. Der mit Rot unterlegte Wettbewerbsteil sticht zwar auch hervor, integriert sich aber nicht richtig in die restliche Darstellung und könnte als ›Zusatz‹ beschrieben werden. Alle die herausgearbeiteten Komponen- ten strukturieren dieses Plakat in dem Sinne, dass sie dem Rezipierenden erleichtern, sich im Text zurechtzufinden. Sofort sind die wichtigen Informationen (›Was?‹ – Hamburger, erkennbar im Bild – und ›Wo?‹ – McDonald’s, erkennbar am Signet) herauszufiltern. Das Bild vermittelt die nötige Stimmung, die den Rezipienten zum Kauf eines Hamburgers überreden sollen: eine unberührte weite Natur einerseits, einen den Hunger weckenden Hamburger andererseits. 4.2 Übertragung auf politische Plakate Das politische Plakat hat ebenfalls zum Ziel, den Rezipienten zu beeinflussen, ihn emotional ein- zunehmen und für eine bestimmte Sache zu werben. Die ›Produkte‹, die es bewirbt, sind aber un- gleich weniger attraktiv für den Einzelnen und vor allem meist viel abstrakter, weshalb in größerem Maße und auf eine andere Art und Weise emotionalisiert wird. Im Gegensatz zur Produktwerbung, wo negative Emotionaliserung möglichst vermieden werden soll, ist das Auslösen von Verunsiche- rung, Angst oder auch Wut eine gängige Strategie auf politischen Plakaten. Die Textbausteine sind dennoch ähnlich wie in der Produktwerbung, unterscheiden sich aber auch klar erkennbar, wie ich im folgenden Abschnitt aufzeigen werde. Schaut man sich im Vergleich zum McDonald’s-Werbeplakat ein beliebiges Abstimmungsplakat an, erkennt man sofort, wo die Gemeinsamkeiten liegen. Auf dem Plakat zur Abstimmung über die Alters- und Hinterbliebenenversicherung aus dem Jahr 1931 (Abb. 2) findet sich folgender Text mit weißer Schrift auf rotem Grund: »[in großer, schwungvoller, zusammenhängender Schrift:] IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 99 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Arbeiter! // [etwas kleiner, in der Mitte des Plakats:] SOZIALVERSICHERUNG // TABAKGESETZ // [wieder größer und in der gleichen Schrift wie oben:] Ja // [klein, am unteren Rand:] AKTIONS- KOMITEE DER ARBEITERSCHAFT«. Einmal abgesehen davon, dass es hier kein Bild gibt (was zufällig ist und nichts mit Abstimmungsplakaten an sich zu tun hat, wie man weiter unten noch merken wird), lassen sich auch hier Textbausteine ausmachen. So sticht das »Arbeiter!« klar her- vor, ähnlich wie eine Schlagzeile und auch das »Ja« setzt sich vom übrigen Text ab, vergleichbar mit einem Slogan. Ebenfalls ließe sich analog zum Werbeplakat in der untersten Zeile ein Fließtext finden. Mehr Fließtext und damit auch Fließtext im eigentlichen Sinne, also in einem Textblock angeordnet, findet sich allerdings auf den Plakaten in Abbildung 9 und 18, die beide wesentlich mehr Text aufweisen als das Beispiel in Abbildung 2. Auf diese Art von Plakaten werde ich weiter unten noch spezifischer eingehen. Um dem Textbaustein ›Bild‹ genüge zu tun, verweise ich hier zunächst noch auf Abbildung 3, ein Plakat aus dem Jahre 1934: Neben dem Bild, das ähnlich wie im McDonald-Beispiel plakatfüllend ist, findet sich auch hier ein sloganartiges Gebilde. Auch wenn die große Ähnlichkeit von Produktplakat und politischem Plakat offensichtlich ist, musste ich zur Bearbeitung von politischen Plakaten einige Anpassungen an den Definitionen der einzelnen Textbausteine vornehmen. Folgende Elemente, denen ich entsprechende Bezeichnun- gen verliehen habe, habe ich identifizieren können: Die Ansprachezeile ist eine Unterkategorie der klassischen Schlagzeile und enthält eine direkte Ansprache an den Rezipienten. Beispiele dafür aus meinem Korpus sind: »Arbeiter!«, »Mieter!« oder allgemeiner gehalten auch »Eidgenossen«. Ziel dieser Ansprache ist es, die Rezipienten als Zielgruppe zu erreichen, wobei dadurch eine weitere Emotionalisierungsstrategie zum Tragen kommt. Toman-Banke (1996: 87) schreibt dem »Wir«-Gefühl eine große Polarisierungsmacht zu: Durch Abgrenzung von gesellschaftlichen Grup- pen kommt es zu einer »Wir gegen die anderen«-Darstellung, in der die Rezipienten relativ leicht die »richtige« Gruppe auswählen können. Aber auch durch die Formierung der Bürger zu einzelnen Gemeinschaften, wie zum Beispiel den Arbeitern, kann eine Gruppendynamik gefördert und dem Einzelnen aufgezeigt werden, dass er nicht machtlos und alleine ist. Abb. 3: Schweiz, 11. März 1934, kantonale Abstimmung Kanton Basel Stadt; Otto Plattner, Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_POL_8 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 100 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Die Parole ist eine Unterart des klassischen Slogans. Gemeint ist damit die »Ja«- oder »Nein«- Empfehlung, die der Rezipientenschaft von einer Partei oder einem Interessenverband gegeben wird. Praktischerweise tritt die Parole mit dem Abstimmungsdatum und teilweise auch mit einem Stichwort zum Abstimmungsthema auf, wobei aber »Ja« und »Nein« immer durch größere Schrift ins Auge stechen (vgl. dazu auch Abb. 3 und 4). Ich habe die Parole als Unterart des Slogans definiert, obwohl sie nur aus einem einzigen Wort besteht. Baumgart (1992: 36) sagt aber auch vom »normalen« Slogan, er könne nur aus einem einzigen Wort bestehen. Weiter ist es natürlich auch so, dass sich diese »Ja« und »Nein« ständig wiederholen, was ebenfalls eine Eigenschaft des Slogans ist. Bei jeder Abstimmung tauchen sie erneut auf den Plakatwänden auf. Jedoch kann man trotzdem nicht davon sprechen, dass diese Wiederholung für einen klassischen Slogan spricht, denn dafür ist die Aussage dieses einen Wortes zu kurz und zu unspezifisch und wird natürlich auch von allen Parteien und Interessenverbänden gleichermaßen benutzt, das heißt, die Plakatsender können sich durch die Parole nicht über eine Abstimmungsvorlage hinaus vonein- ander abgrenzen. Dazu kommt, dass eine Partei nicht zu allen Vorlagen einfach »Ja« oder »Nein« sagt, sondern dass die Parole vom sachlichen Inhalt einer Vorlage abhängt. Fließtext gibt es auf Abstimmungsplakaten nur in sehr seltenen Fällen, bei denen es sich meist um reine Textplakate ohne Bild handelt. Dass aber auch dort nicht unbedingt Fließtext vorhanden sein muss, zeigt das Beispiel in Abbildung 2. Obwohl sich dieses Plakat nur über den verbalen Code ausdrückt, enthält es keinen Textblock und damit keinen Fließtext im eigentlichen Sinne. Die Grundstruktur von Schweizer Abstimmungsplakaten lässt sich vor allem durch das Element der Parole sofort erkennen. So ist auf dem Plakat in Abbildung 3 vom 11. März 1934 zu lesen: »Da- rum // Hausier- // Gesetz JA«, wobei sich das »darum« auf die visuelle Argumentation bezieht, die aus dem Bild hervor geht. Es handelt sich also um eine geschickte Verknüpfung von Text und Bild. Ob die entsprechende Vorlage tatsächlich die Bezeichnung »Hausier-Gesetz« enthielt, ist heute nicht mehr genau nachvollziehbar. Jedoch ist es durchaus gängig, einen Teil des offiziellen Ab- stimmungstitels der Parole hinzuzufügen. In anderen Fällen wird zur stärkeren Emotionalisierung, zur Polarisierung oder auch zur Polemisierung gerne ein anderer Titel gewählt, der den Rezipien- ten auch einmal in die Irre führen kann. Als Beispiel verweise ich auf das Plakat in Abbildung 21, wo von der »SOZ. Vollmachten-Initative« die Rede ist. Der offizielle Titel der Abstimmung lautete demgegenüber »Abstimmung über den Bundesbeschluss über die Volksinitiative ›zum Schutz der Mieter und Konsumenten‹«. Hier wird klar, dass die Bezeichnung auf dem Plakat durch die Haltung des Senders beeinflusst wird und durch dessen Willen, die Rezipientenschaft entsprechend zu steuern. Zurück zur Abbildung 3: Der Text »Hausier-Gesetz« könnte mit einem Blick auf das Plakat vielleicht auch als Schlagzeile betrachtet werden. Zur besseren Unterscheidung von Ansprache- Elementen und weil der Text als Stichwort zum Abstimmungsthema inhaltlich zur Parole gehört, ordne ich ihn dennoch einheitlich der Parole zu. In Abbildung 4, einem Plakat zur Abstimmung vom 16. Mai 2004 zur Alters- und Hinterbliebenen- versicherung, ist ein Textstück vorhanden, welches als Slogan im ursprünglichen Sinne interpre- tiert werden könnte: »Hände weg // von der AHV!« ist ein Leitspruch, der durchaus als ›eingängig‹ bewertet werden kann. Da der Spruch als ›Leitmotiv‹ für die ganze Kampagne genommen wurde (Untertitel zu Pressetexten, Motto einer Demonstration usw.), spricht auch dies für einen Slogan im klassischen Sinne, obwohl es keine weiteren Plakate mit derselben Wortfolge gegeben hat. Selbst IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 101 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Abb. 4: Schweiz, 16. Mai 2004, Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (11. AHV-Revision); Schweizerischer Gewerkschaftsbund dies ist bei Abstimmungsplakaten möglich und zwar immer dann, wenn ein Interessenverband mehrere verschiedene Plakate zur selben Kampagne aushängen lässt, die sich dann sozusagen durch einen gemeinsamen Slogan verbinden. Eine ganze Reihe von Plakaten gibt es beispiels- weise zur Abstimmung vom 27. November 2005 zum Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz), die alle in ironischer Weise die drohende Sonntagsarbeit visualisieren. Obwohl die Bilder jeweils anders aussehen und mit anderen Schlagworten betitelt sind, enthalten alle Plakate im unteren Teil den formal und inhaltlich einheitlichen Slogan »Damit der Sonntag // nicht zum Werktag wird!«. Es ist also möglich, wenn auch nicht häufig, dass man auf Abstimmungsplakaten einen Slogan antrifft. Die Parole ist in Abbildung 4 dreigeteilt: »[oberste Zeile, ganz kleine Schrift:] VOLKSABSTIMMUNG VOM 16. MAI 2004 // [ganz groß:] NEIN // [wieder kleiner, aber noch gut lesbar:] zur AHV-Revision«. Slogan und Parole bilden zusammen den gan- zen Text, der mit bloßem Auge wahrzunehmen ist. Er wird weiterhin ergänzt durch das Bild eines roten Handabdruckes auf einem schwarzen Quadrat. 5. Internationaler Vergleich Die Strukturen, welche ich für das Schweizer Abstimmungsplakat herausgearbeitet habe, treten im internationalen Vergleich zum Teil nicht mehr so deutlich hervor. Dies ist vor allem darauf zu- rückzuführen, dass andere politische Traditionen andere Bildstrukturen erfordern. Dies äußert sich dann in einem anderen Bildstil. Ich möchte das anhand von Beispielen erläutern, wobei ich diese anderen, nicht-schweizerischen Strukturen grob in zwei Kategorien unterteile: die personenzent- rierten und die prozedereorientierten Abstimmungsplakate. 5.1 Personenzentrierte Plakate In Ländern, in welchen Volksabstimmungen nicht zum politischen Alltag gehören, habe ich das Muster aufgefunden, welches ich ›personenzentriert‹ nenne. Politik scheint dort sehr stark an po- IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 102 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … litische Einzelpersonen gebunden zu sein. Hierzu eine kleine Anmerkung bezüglich der Schweiz: Für Abstimmungen wird nur selten von einzelnen Personen geworben, sondern mehr von Parteien und Interessenverbänden. Zum Teil schließen sich letztere auch nur für genau eine Abstimmungs- vorlage zusammen und lösen sich danach wieder auf. Darum können solche Aktionskomitees in der Regel keinen traditionellen Bildstil entwickeln, auf den sie sich bei jeder Abstimmung erneut beziehen. In der heutigen Zeit, wo das Geld auch bei den politischen Parteien eher knapp zu sein scheint, legen außerdem verschiedene Parteien zuweilen Geld für eine gemeinsame Kampagne zusammen, was bedeutet, dass Plakate in diesem Moment nicht mehr eindeutig einer einzigen Partei und deren Kommunikationsstil zugewiesen werden können. Die Stimmbürgerschaft orien- tiert sich bei ihrer Entscheidung vor allem nach Sachthemen. Obwohl die Parteien jeweils eine Pa- role herausgeben, wie für eine bestimmte Vorlage zu stimmen sei, hat man grundsätzlich die freie Wahl. Ein Umstand, der auch genutzt wird, das heißt, Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ent- scheiden sich oft anders als diejenige Partei es empfiehlt, der sie bei den letzten Wahlen ihre Stim- me gegeben haben. Das Schweizervolk ist es von je her gewohnt, über Sachfragen zu entscheiden und sich vor einer Abstimmung entsprechend zu informieren. Zwar ist die Stimmbeteiligung auch in den Schweiz in den letzten Jahren nur selten über 50 Prozent hinausgegangen und natürlich sind die Schweizerinnen und Schweizer nicht klüger als die Einwohner eines anderen Landes, jedoch wissen Sie mehrheitlich, was von Ihnen bei einer Abstimmung verlangt wird. In Ländern, in denen Volksabstimmungen keine große Verbreitung haben, sind die Bürgerinnen und Bürger diese Entscheidungen nicht gewohnt, und man scheint sich von der Politikerseite nicht immer darauf zu verlassen, dass sie im Stande sind, sich entsprechend zu informieren. Man verzichtet darauf, mit Sachthemen Plakatwerbung zu machen und setzt stattdessen auf bekannte politische Persönlichkeiten. Als Illustration dient mir Abbildung 5, ein Abstimmungsplakat aus Frankreich zur Volksbefragung vom 29. Mai 2005 über die EU-Verfassung. Dieses Plakat gleicht in seinem Bildstil eher einem Wahlplakat, denn es bildet den Kopf eines Politikers, Philippe de Villiers, ab. Philippe de Villiers ist der politische Akteur hinter dem »Mouvement Pour la France de Philippe de Villiers« (mpf) und er als Politiker rät dem Volk, ›Nein‹ zu stimmen. Die EU-Verfassung wird auf diesem Plakat mit keinem Wort erwähnt und alles hängt damit an der Person des Politikers. So lautet der Text: »[oberste Zeile, relativ groß:] SAUVONS L’EUROPE // [in etwas größerer Schrift:] Villiers // [wieder kleiner, außer das »NON«] Un NON qui va // tout changer // [untere Zeile, gleiche Größe Abb. 5: Frankreich, 29. Mai 2005, Votation sur la Constitution Européenne (EU-Verfassung); Mouvement Pour la France de Philippe de Villiers (mpf) IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 103 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Abb. 6: Deutschland (Sachsen-Anhalt), 23. Januar 2005, Volksentscheid über die Kinderbetreuung; Bündnis für ein kinder- und jugendfreundliches Sachsen-Anhalt (www. buendnis-kinder.de) wie oben:] POUR LA FRANCE // [ganz klein:] 01.44.42.02.42 www.philippedevilliers.com« (über- setzt: »Lasst uns Europa retten // Villiers // Ein Nein, das alles ändern wird // für Frankreich«). Aber auch hier sticht die Parole »NON« graphisch heraus, wenn sie auch dem Bildstil ›Wahlplakat‹ mit dem Politikerportrait nicht angemessen entgegenwirken kann. Personenzentrierte Abstimmungs- plakate gestalten sich im Wesentlichen wie Wahlplakate, setzen also eine Person in ihr Zentrum, können aber zusätzlich auch noch durch Textbausteine von typischen Abstimmungsplakaten, zum Beispiel einer Parole, ergänzt werden. Das eigentliche Ziel solcher Plakate ist es (neben der Mobi- lisierung des Stimmvolkes), diejenigen, welche den abgebildeten Politiker gewählt haben, dazu zu bringen, ihre Stimme entsprechend abzugeben. 5.2 Prozedereorientierte Abstimmungsplakate In eine andere Richtung gehen Plakate, die den Rezipienten die Prozedur einer Abstimmung nä- her bringen wollen. Ich nenne diese Art von Bildstil darum ›prozedereorientiert‹. Man verlässt sich hier nicht darauf, dass die Stimmbürger wissen, wie eine Abstimmung funktioniert und wie der Abstimmungszettel auszufüllen ist. Darum versucht man, ihnen über das Abstimmungsplakat eine Hilfestellung zu geben. Die zwei Beispiele, die ich dazu vorstellen möchte, stammen beide aus Deutschland. Abbildung 6 ist vom »Bündnis für ein kinder- und jugendfreundliches Sachsen-An- halt« und stellt ein Abstimmungsplakat zum Volksentscheid vom 23. Januar 2005 über die Kinder- betreuung dar. Es gleicht in etwa einem schweizerischen Abstimmungsplakat und enthält sowohl Parole (»Ja // 23. Januar«) wie auch Slogan (»GEIZ IST ... KURZSICHTIG! // WIR SCHAFFEN PLATZ FÜR ZUKUNFT.«) – soweit bei einmaliger Verwendung überhaupt von einem Slogan gesprochen werden kann – und Schlagzeile (»Volksentscheid«), außerdem auch einen kleinen Fließtext als Textblock (»zum Rechtsanspruch // auf Ganztagsbetreuung, zur Chan- // cengleichheit für alle Kinder und // zu Bildung von Anfang an«) und ein Bild im oberen Teil des Plakates. Interessant ist, dass die Schlagzeile, welche die Aufmerksamkeit der Rezipienten wecken soll, nicht auf das The- ma der Vorlage, sondern auf die Vorlage selber, beziehungsweise eben auf den ›Volksentscheid‹ IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 104 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Bezug nimmt. Auffallend ist vor allem das Symbol vor dem »Ja«, unterhalb der Mitte: ein Kreis mit einem Kreuz. Das Plakat ist ein Beispiel unter mehreren, welche dieses Symbol für eine Volksab- stimmung ganz allgemein verwenden. Ein Umstand, der dazu beiträgt, dass dieses Zeichen fast schon mit zur Parole gerechnet werden kann. Die Bedeutung dieses Symbols wurde mir erst klar, als ich auch das Plakat zum Volksentscheid vom 13. Juni 2004 der »Bürgerinitiative faires Wahl- recht« (Abb. 7) mit in meine Betrachtungen einbeziehen konnte. Das Vorgehen bei Abstimmungen scheint als etwas Kompliziertes eingestuft worden zu sein, weshalb den Stimmberechtigten mit- tels Symbolen und der Darstellung eines Abstimmungszettels klar gemacht wird, dass es erstens um eine Abstimmung geht und was zweitens genau von ihnen verlangt wird. Das heißt also, jede und jeder Stimmberechtigte muss, um seine Stimme gültig abzugeben, auf diesem Zettel an einer bestimmten Stelle eine Kreuz setzen. Und so ist in Abbildung 7 ein Stimmzettel zu sehen, auf dem bereits gemäß den Intentionen der Sender dieses Plakates an entsprechender Stelle die Kreuze gesetzt worden sind. Beispiele von prozedereorientierten Plakaten gibt es auch aus der Schweiz, wobei diese in der Vergangenheit vor allem dann eingesetzt wurden, wenn es sich um besonders Abb. 7 Abb. 8 Abb. 7: Deutschland (Hamburg), 13. Juni 2004, Volksentscheid zum Gesetzesentwurf des Volksbegehrens und zur Bürgerschaft; Bürgerinitiative faires Wahlrecht (www.faires-wahlrecht.de) Abb. 8: Schweiz, 3. Dezember 1972, Abstimmung über den Bundesbeschluss betreffend das Volksbegehren für eine wirkliche Volkspension und die Änderung der Bundesverfassung auf dem Gebiete der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge und über den Bundesbeschluss über die Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl; Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_1972_419 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 105 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … komplexe Abstimmungsvorlagen mit gleichzeitigem Gegenentwurf handelte. Ein Beispiel dafür, welches sogar einen ›echten‹ Stimmzettel abbildet, ist in Abbildung 8 zur Abstimmung vom 3. De- zember 1972 zu sehen. Hier lässt sich ein weiterer Unterschied zu den Beispielen aus Deutschland erkennen, da nämlich in der Schweiz nichts angekreuzt werden muss, sondern jeder seine Stimme in ›eigene‹ Worte, nämlich in »nein« oder »ja« zu fassen hat. Diese komplexen Vorlagen mit gleich- zeitigem Gegenentwurf sind mittlerweile – per Abstimmung – abgeschafft worden. Trotzdem ist ein Plakat mit der Abbildung eines Stimmzettels grundsätzlich natürlich weiterhin denkbar. Auch habe ich in meinem Korpus einige Beispiele für Bilder von Stimmzetteln gefunden, die nur symbolisch abgezeichnet sind und nicht den Anspruch erheben, für echt gehalten zu werden. 6. Historischer Bildstil Natürlich lässt sich nun von den Anfängen von Abstimmungsplakaten bis in die Gegenwart eine gewisse Entwicklung ausmachen. Dabei spielen einerseits die technischen Möglichkeiten eine Rolle, andererseits lässt sich wohl auch durch den gesamten Medienwandel eine Tendenz hin zur größeren Betonung des Bildes begründen. Was sich hingegen durchgehend hält sind Identitäts- symbole. 6.1 Technischer Wandel 1440 hat Johannes Gutenberg den Buchdruck erfunden und damit die technische Voraussetzung für die Vervielfältigung von Druck-Erzeugnissen in großen Mengen geschaffen. Das begünstigte auch das Medium Plakat, welches es zwar schon vorher gegeben hat – erste Exemplare sind schon im alten Ägypten belegt, wobei sie früher vor allem zu Werbezwecken und für öffentliche Bekanntmachungen der Obrigkeit an die Untertanen genutzt wurden –, das sich aber erst jetzt, mit diesen neuen technischen Möglichkeiten so richtig entfalten konnte. Mit dem Buchdruck wur- de das Drucken von Text mit beweglichen Metalllettern ermöglicht (vgl. zu den verschiedenen Drucktechniken Stiebner et al. 1994). Ein Blick in die Karteien der Plakatsammlungen zeigt, dass dieses Verfahren noch bis ins zwanzigste Jahrhundert angewendet wurde, dann aber langsam von anderen Verfahren, vor allem vom Offsetdruck, abgelöst wurde. Heute dominiert neben dem Offset- auch das Siebdruckverfahren. Bei der Wahl des Druckverfahrens spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Wichtig sind sicher die Kosten, die für das Offsetverfahren eher hoch liegen. Ein anderes Argument ist aber auch die Auflage, die beim Siebdruck zum Teil eingeschränkt ist, da die einzelnen Druck-Erzeugnisse zum Trocknen entsprechend gelagert werden müssen. Unge- wöhnlich am Plakatdruck ist vor allem das Format, das neben einer Druckmaschine für die großen Papierbögen auch die Herstellung einer großen Druckvorlage verlangt. Dazu sind weitere spezielle technische Ausrüstungen, wie zum Beispiel eine großformatige Kamera, erforderlich. Weiter muss das Papier, auf dem gedruckt wird, farbecht und wetterfest sein. All dies beeinflusst den Bildstil von Abstimmungsplakaten insofern, als dass man sich in der Gestaltung an gewisse Regeln halten und unter Berücksichtigung der Kosten sich eventuell weitere Einschränkungen auferlegen muss. Wer kein Geld für eine großformatige Kamera hat, muss auf ein Bild verzichten, wem eine spezielle Farbbeschichtung zu teuer ist, verzichtet auf einen farbigen Hintergrund. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 106 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Abb. 9: Schweiz, 30. Januar 1921, Abstimmung über die Volksinitiative «für die Aufhebung der Militärjustiz”; Plakatsammlung Basel, Nr. 4290 Ich möchte im Folgenden drei Ausprägungen von Bildstil auf Abstimmungsplakaten herausarbei- ten, die bis zu einem bestimmten Grad direkt oder indirekt (über die Kosten) etwas mit den techni- schen Möglichkeiten zu tun haben. Diese drei Stile, das Textplakat, die Vermischung von Text und Bild und das Bildplakat stellen Tendenzen in einer zeitlichen Abfolge dar. 6.1.1 Das Textplakat Abbildung 9 zur Abstimmung vom 30. Januar 1921 über die Volksinitiative zur Aufhebung der Militärjustiz zeigt eine mögliche Form eines Textplakats. Ich definiere Textplakat dabei so, dass auf dem Plakat kein Bild vorkommt; jedoch kann es mit einem Signet oder Logo geschmückt sein. Damit gehört auch Abbildung 18, ein Plakat über die Totalrevision der Bundesverfassung aus dem Jahre 1935, in diese Gruppe der Textplakate. Textplakate müssen aber nicht unbedingt viel Text enthalten, es kann auch vorkommen, dass sehr viel weniger Text in sehr viel größerer Typographie vorhanden ist. Das Textplakat mit dem kürzesten Text, das ich auffinden konnte, ist ein Plakat aus dem Jahr 1952. Der Text ist in fast plakathohen Buchstaben geschrieben und lautet schlicht und einfach »JA // [kleiner] RÜSTUNGS- // FINANZIERUNG«. Nicht ganz so extrem, aber im Gegensatz zu den Abbildungen 9 und 18 doch viel lockerer gestaltet sich der Text in Abbildung 2 zum Thema der Altersvorsorge (»Arbeiter!«), die bereits weiter oben besprochen wurde. Auch hier handelt es sich eindeutig um ein Textplakat, da kein visuelles Bild vorhanden ist. In Abbildung 9 ist zu erkennen, dass die Typographie kursiv und etwas geschwungen ist. Es handelt sich mit Sicherheit nicht um die damals übliche Druckschrift für Plakate oder Zeitungen und entspricht der Freiheit, die sich die Plakatgestalter trotz des eingeschränkten Bildstiles genommen haben. Anders beim Plakat in Abbildung 18: Hier handelt es sich bei der Schriftart um eine schnörkellose, selbst in kleiner Größe gut lesbare Schrift. Ersichtlich wird aus diesen Plakaten auch, dass sich der Alltag der Rezipienten heute weit hektischer gestaltet, denn es wäre mittlerweile wohl kaum mehr möglich, sich einige Minuten unmittelbar vor ein Plakat zu stellen, um es zu entziffern und die Informationen aufzunehmen. Heute hätte ein Textplakat mit soviel Fließtext je nach Standort (z.B. auf einer Straßenkreuzung einer sehr befahrenen Strasse) kaum mehr eine Chance, in der Öffentlichkeit gelesen zu werden. Andererseits fallen dicht beschriebene Textplakate heute mehr auf, weil sie sich gegenüber anderen Plakaten (auch aus der Produktwerbung) stärker abheben und finden vielleicht gerade darum Beachtung. Auch zu aktuellen Abstimmungen in der Schweiz IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 107 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … finden sich Textplakate mit viel oder wenig Text, zum Teil auch mit graphisch gestalteten Elemen- ten in Form von farbigen Balken und Flächen. 6.1.2 Die Vermischung von Text und Bild Technisch war die Möglichkeit des Druckes von Bildern durch den Kupferstich bereits im 15. Jahrhundert und durch den Steindruck ab 1796 gegeben. 1839 wurde das Drucken von Foto- grafien möglich, etwas später kam die Technik des Lichtdrucks hinzu. Ab 1890 ist außerdem der Mehrfarbendruck möglich (vgl. zu den verschiedenen Erfindungen im Druckbereich Leutert 1993: 17ff.). Auch für Plakate wurden diese Techniken bereits früh genutzt; die ältesten mir bekannten Schweizer Abstimmungsplakate aus den Jahren um 1898 setzten das Bild bereits sehr gezielt ein. Da das Bild günstig für die Vermittlung und Auslösung von Emotionen ist, wurde es von den Plakatgestaltern positiv aufgenommen. Obwohl das Textplakat bis heute einen festen Platz in der politischen Plakatwerbung hat, ist die Vermischung von Bild und Text weitaus am beliebtesten. Als Beispiel möchte ich hier das Plakat in Abbildung 10 zur Abstimmung vom 6. Dezember 1987 über die Krankenversicherung anführen. Es hat einen blauen Hintergrund, der in seiner Funktion als Hintergrund das Bild mit dem Text verbindet. Text und Bild sind dennoch getrennt, der Text (»Schwangerschafts- // Subventionen // für die Reichen? // Krankenversicherungsgesetz // NEIN«) in der oberen Plakathälfte, das Bild in der unteren. Im Bildteil ist im Vordergrund ein junges Paar zu sehen, das offensichtlich ziemlich reich ist. Sie ist mit auffälligen Schmuckstücken angereichert, er trägt Anzug und Sonnenbrille und hat eine Zigarre im Mund. Hinter den beiden steht außerdem ein teures rotes Auto. Damit ist im Bild ein Teil des Textes aufgenommen, nämlich das Referenz- objekt der Bezeichnung »die Reichen«. Das Bild kann sich aber auch ganz anders gestalten und zum Beispiel den Hintergrund für das gesamte Plakat liefern, so dass die Schriftzeichen des ver- balen Textes über dem Bild zu liegen kommen. Außerdem können natürlich auch die inhaltlichen Verflechtungen, auf die ich hier nur punktuell eingehen kann, noch weitere Formen annehmen. Die meisten der hier bisher von mir besprochenen Plakate lassen sich unter dieser Kategorie der Ver- mischung von Text und Bild zusammenfassen, denn die meisten dieser Plakate enthalten sowohl Bild wie auch Text. Visuelles Bild und verbaler Text können dabei formal in verschiedener Weise Abb. 10: Schweiz, 6. Dezember 1987, Abstimmung über das Bundesgesetz über die Krankenversicherung; Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_1987_536 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 108 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Abb. 11: Schweiz, 26. September 2004, Abstimmung über die Änderung des Bundesgesetzes über die Erwerbsersatzordnung für Dienstleistende in Armee, Zivildienst und Zivilschutz; Sozialdemokratische Partei (SP) zueinander stehen, den Gesamttext (also das Plakat insgesamt) dominieren oder sich das Plakat räumlich und bezogen auf die Wirkungsweise gerecht teilen. Viele WissenschaftlerInnen befassen sich in letzter Zeit mit dem Verhältnis von Text und Bild; da es dabei aber vor allem um ein inhaltli- ches Verhältnis geht, möchte ich eine nähere Erörterung unterlassen und mich weiterhin mehr auf jene Stilelemente beschränken, die einen Bildstil hervorbringen, auch ohne dass man sich um den Textinhalt kümmert. 6.1.3 Das Bildplakat Unter einem Bildplakat verstehe ich ein Plakat, das nur aus visuellem Bild besteht, also keinen verbalen Text enthält. Da dies recht selten vorkommt, weil ein Bild alleine Schwierigkeiten hat, prä- zise Angaben über Abstimmungsdatum, -thema und Parole zu machen, zähle ich in einem zweiten Schritt aber auch jene Plakate dazu, die außer dem Bild noch eine Parole und allenfalls einen Slo- gan enthalten. Diese Textelemente dürfen dann allerdings inhaltlich nicht im Zentrum der Plakat- aussage stehen. Beispiel hierfür wäre das weiter oben bereits besprochene Plakat in Abbildung 3 (Hausier-Gesetz) und das Plakat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) in Abbildung 11 zur Abstimmung vom 26. September 2004 über das Bundesgesetz zur Erwerbsersatzordnung. Das Plakat, welches in einem ungewöhnlichen Format vorliegt, zeigt einen Säugling mit den typi- schen ›Kindchen-Merkmalen‹ (rundliche Körperformen, grosse Augen) und einem Schnuller, auf dem die Parole »Mutterschaftsurlaub // JA« geschrieben steht. In der rechten unteren Ecke findet sich weiter das Logo der Partei zusammen mit ihrem Slogan »klar sozial«. Zu diesem Bild ist weiter zu bemerken, dass es höchstwahrscheinlich computertechnisch bearbeitet, eventuell sogar von einem Computer generiert worden ist. Darauf deuten hin, wie sich das Kind in seinen Umrissen vom Hintergrund abhebt, die extrem blaue Farbe der Augen, wie auch deren Glanz sowie die Kontraste innerhalb des Bildes insgesamt. Auch dazu müssen natürlich erst einmal die techni- schen Möglichkeiten gegeben sein und die Kosten spielen wiederum eine wichtige Rolle. Es ist zu beachten, dass sich durch den Einsatz von Computern zur Bildbearbeitung ein neuer Bildstil IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 109 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … ergeben kann. Zum einen sind Darstellungen möglich, die ohne diese Technik nicht realisierbar wären. Zum anderen ist diesen Bildern, wie allen anderen Techniken auch, bereits ein bestimmter Bildstil inhärent, den ich als hochgradig artifiziell beschreiben würde. Jedoch ist gerade an der Computertechnik speziell, dass sie verschiedene Bildstile meist problemlos imitieren und sich selber damit sozusagen unsichtbar machen kann. Die hier genannten Plakate sollen also die Entwicklung des Bildstils etwas verdeutlichen, wobei ich noch einmal betonen möchte, dass es sich bei der Entwicklung vom Textplakat über die Vermi- schung von Text und Bild zum Bildplakat nur um Tendenzen handelt. Auch heute kann man noch reinen Textplakaten begegnen, auch früher gab es schon Plakate mit eindeutiger Konzentration auf dem visuellen Bild. 6.2 Urheber Mit der Geschichte der Technik verbunden ist auch ein Wandel in der Urheberschaft: Früher konn- te des Öfteren eine spezifische Zuordnung von einem Bildstil zu einem bestimmten Künstler ge- macht werden, weil viele Künstler regelmäßig Plakate gestalteten. Das hatte gewiss auch damit zu tun, dass sich der eine oder andere durch die Gestaltung eines Plakates ein wenig Geld dazu verdienen wollte oder gar musste. Bestimmt hat bei den meisten dieser Künstler auch eine ge- wisse Überzeugung an der Sache mitgewirkt. Darauf lässt schließen, dass sich Plakate derselben Künstler zu verschiedenen Abstimmungen kaum je widersprechen, sondern dass es sich um wie- derkehrende politische Aussagen handelt. Heute finden sich in der Plakatlandschaft von Werbung Abb. 12 und 13: Schweiz, 7. Juni 1970, Abstimmung über die Volksinitiative «gegen Überfremdung”; Celestino Piatti; Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_1970_180 – Schweiz, 3. Dezember 1978, Abstimmung über das Tierschutzgesetz; Celestino Piatti; Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_1978_322 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 110 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … und Politik keine Künstlerplakate in diesem Sinne mehr. Es ist aber nicht so, dass Künstler es heute finanziell grundsätzlich nicht mehr nötig hätten, sich etwas dazu zu verdienen. Auch liegt es wohl kaum daran, dass sie sich für politische Aussagen zu schade sind. Viel eher ist der Grund in der zunehmenden Differenzierung der Berufswelt zu sehen: Heute gibt es Fachleute für die öf- fentliche Kommunikation, die ihre eigenen PR-Büros haben und das Gestalten von Werbung als Dienstleistung anbieten. Dabei haben größere Büros eigene Fachleute für Text, Bild und Gestal- tung von Botschaften, wobei auch psychologische Überlegungen mit einfließen. Das Endprodukt wird genauestens auf seine Wirkung hin geprüft, nichts bleibt dem Zufall überlassen. Für Künstler- plakate, so scheint es, ist heute kein Platz mehr. Dafür schöpfen diese neuen Spezialisten in ihrem je eigenen Bereich nun alle technischen Möglichkeiten aus, was für einen einzelnen Menschen mittlerweile vielleicht gar nicht mehr möglich wäre. Einige der letzten Künstlerplakate, die ich unter den Schweizer Abstimmungsplakaten ausmachen konnte, stammen aus den 1970er Jahren. Die zwei Beispiele, die ich hier genauer betrachten möchte, sind aus den Jahren 1970 (Abb. 12) und 1978 (Abb. 13). Es handelt sich bei beiden um Werke des berühmten Schweizer Malers Celestino Piatti. Dieser hat nicht nur für verschiedene Abstimmungen, sondern auch für andere Interessengruppen und sogar auch für Produkte ge- worben (vgl. Piatti 1992). Unverkennbar ist sein Stil in beiden Plakaten. Während in Abbildung 12 zur Abstimmung vom 7. Juni 1970 über die Volksinitiative »gegen Überfremdung« vor allem sein unverkennbarer Zeichnungsstil hervortritt, sind die Eulen in Abbildung 13 zur Abstimmung vom 3. Dezember 1978 über das Tierschutzgesetz sein allgemein bekanntes Markenzeichen. Auf vielen Gemälden des Künstlers finden sich solche Eulen wieder und damit ist klar, dass hier – sozusagen durch den Bildstil – der Künstler selber für das Gesetz wirbt. Ein weiteres Beispiel für ein Künst- lerplakat, das ich schon weiter oben erwähnt habe und auf welches ich auch gegen Ende dieses Aufsatzes noch einmal zurückkommen werde, ist in Abbildung 3 zu sehen. Es stammt aus dem Jahre 1908 und wurde vom Maler Otto Plattner gestaltet. Es vertritt eine Zeit, in der vor Abstim- mungen die Plakatsäulen von Künstlerplakaten nur so strotzten. Heute geht dieser künstlertypische Bildstil mehr und mehr verloren, oder man müsste ihn an ganz anderen Kriterien festmachen. So könnte man heute danach fragen, wie eine bestimmte Partei oder ein bestimmter Plakatgestalter, beziehungsweise sein Team, zu emotionalisieren pflegen, ob sie vor nichts zurückschrecken oder ob immer nach dem gleichen werbepsychologischen Sche- ma vorgegangen wird. Hiermit ist es aber sehr viel schwieriger, einen konsistenten Bildstil heraus- zuarbeiten und ich vermute, dass dieser dem durchschnittlichen Rezipienten sogar vollkommen verborgen bleibt. Was bleibt ist meist nur noch – wenn überhaupt – ein Signet, ein Parteienlogo oder vielleicht sogar nur noch eine immer wieder verwendete Farbe. 6.3 Identitätssymbole Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Strategien zur Emotionalisierung, die sich oft auch am Bild festmachen lassen, ist auch die soziale Funktion des Bildstils wichtig. Ich werde mich dazu mit zwei Gruppen auseinandersetzen: die Zusammenfassung von Rezipienten zu einer »Lei- densgruppe« und das Spiel mit Nationalfarben und -wappen als Identitätssymbole. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 111 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Abb. 14 un d 15: Schweiz, 5. April 1981, Abstimmung über die Volksinitiative «Mitenand-Initiative für eine neue Ausländerpolitik”; Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_1981_092 – Schweiz, 6. Dezember 1987, Abstimmung über den Bundesbeschluss betreffend das Konzept Bahn 2000; Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_1987_516 6.3.1 Rezipienten als Gruppen Auf dem Plakat in Abbildung 14 zur Abstimmung über die »Mitenand-Initiative für eine neue Aus- länderpolitik« aus dem Jahre 1981 ist eine Gruppe von Arbeitern zu sehen, die sich, wohl nach Arbeitsschluss, mit Brot und Wein auf einer Baustelle zusammengefunden haben. Sie sind Ange- sprochene und Objekt des Abstimmungsplakates zugleich, denn einerseits sollen die Schweizer Arbeiter sich hier für ihre ausländischen Arbeitskollegen einsetzen, andererseits geht es genau um diese Arbeiter, unter denen viele Ausländer sind. Die Arbeiter werden zusammengefasst zu einer Gruppe von Menschen, einer sozialen «Id-Entität”, für die es sich in der Abstimmung einzusetzen gilt. Dabei spielt auch die Personalisierung, also die Abbildung von konkreten, betroffenen Perso- nen eine Rolle. Auch die Menschengruppe auf dem Plakat in Abbildung 15 zur Abstimmung über die Bahn 2000 aus dem Jahre 1987 ist zu einer Leidensgruppe zusammengefasst. Gemeinsam, so wird dem Rezipienten weisgemacht, setzen sie sich für das Konzept der »Bahn 2000« ein, weil sie auf guten öffentlichen Verkehr angewiesen sind und dieses Konzept verspricht, dass die Schwei- zerischen Bundesbahnen auch in Zukunft zuverlässig Menschen und Güter befördern werden. Der Bildstil, die Rezipienten als Gruppe darzustellen, schließt an das Konzept der ›Ansprache‹ an, welches ich weiter oben beschrieben habe. Im Unterschied zu jener rein sprach-textuellen Kom- ponente handelt es sich hier um ein rein bildliches Element. Dabei spielt es für mich keine Rolle, ob das Bild die Wirklichkeit abbildet oder zum Zwecke des Abstimmungsplakats inszeniert wurde. Zum einen geht es nämlich um eine Strategie, Emotionen zu wecken, die hier zur Anwendung kommt, zum anderen durchschaut die Mehrheit der Rezipienten mit hoher Wahrscheinlichkeit IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 112 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … sowieso nicht, dass das Bild ›nicht echt‹ ist. Gerade wenn es sich um eine Fotografie handelt (und nicht um ein gemaltes Bild), fällt den meisten Betrachtern immer noch oder gerade heute die Beur- teilung solcher Fragen schwer. Zwar würde vielleicht ein Grossteil der Rezipienten bei bewusstem Überlegen merken, dass diese Menschen nicht in einem natürlichen Kontext fotografiert worden sind. Es ist jedoch zu vermuten, dass eine Mehrzahl unter ihnen von den abgebildeten Menschen annehmen würde, dass diese zumindest das Anliegen des Abstimmungsplakats vertreten. Dies hat aber keinen Einfluss auf den Bildstil und ist somit für meine Betrachtung in diesem Zusam- menhang nicht weiter von Belang. Ich präsentieren nun ein Beispiel, bei dem es sich nicht um ein Schweizer Abstimmungsplakat handelt: Abbildung 16 zeigt eine elektronische Postkarte (die per E-Mail aus dem Internet versen- det werden kann) der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU). Man könnte sich hier gut vorstellen, dass dieses Plakat, zumindest auf einer metaphorischen Ebene, auf die gleiche Art funktioniert wie jenes mit den Arbeitern oder den Menschen für den öffentlichen Verkehr. Nach dem Motto ›alle im gleichen Boot‹ rudern hier einige Leidensgenossen der CDU vorbei. Zwar sind mit diesem Bild natürlich nicht im Speziellen Menschen, die auf einem Gewässer rudern ange- sprochen. Jedoch scheint der Bildstil, der eine Gruppe vereinigt, auch hier zu zeigen, dass sich damit gut werben lässt, denn was wird mit diesem Bild anderes signalisiert, als dass der einzelne nicht allein sein muss und dass gemeinsam alles besser geht? Ich möchte damit also zeigen, dass auch in andern politischen Kampagnen als für Abstimmungen das Schema der Rezipientengruppe in Form einer sozialen Funktion genutzt wird. 6.3.2 Landesfarben und -wappen als Identitätssymbole Im folgenden Abschnitt werde ich mich mit Nationalfarben und -wappen befassen. Die Verwen- dung dieser traditionellen Symbole erlaubt die Identifizierung mit einem Land und kann auf der emotionalen Ebene sehr tief wirken. Aber auch neuere Bündnisse, wie beispielsweise die EU, lassen sich in Farben fassen. Abb. 16: Deutschland, 2005, elektronische Postkarte, Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) (www.cdu.de) IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 113 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Abb. 17: Schweiz, 23. September 1984, Abstimmung über die Volksinitiativen «für eine Zukunft ohne weitere Atomkraftwerke” und «für eine sichere, sparsame und umweltgerechte Energieversorgung”; Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_1984_324 Das Schweizer Kreuz ist für die Schweiz konstituierend. Dies lässt sich bei der historischen Be- trachtung von eidgenössischen Abstimmungsplakaten eindeutig feststellen. Dabei lassen sich zwei verschiedene Arten der Realisierung unterscheiden: Zum einen wird das Schweizer Kreuz in Form einer Fahne oder Ähnlichem als tatsächlicher Bestandteil ins Bild eingebaut, zum andern wird irgendwo zwischen den Text ein Symbol, ähnlich einem Signet, eingesetzt. Das Plakat zur Abstimmung vom 23. September 1984 über die Volksinitiative »für eine Zukunft ohne weitere Atomkraftwerke« und »für eine sichere, sparsame und umweltgerechte Energiever- sorgung« (Abb. 17) zeigt den ersteren Fall, dass nämlich das Schweizer Kreuz ins Bild eingebaut wurde. Das Bild zeigt eine Glühbirne, die auf einer weißen Fläche liegt. Sie ist vor allem an ihrer Form und an der Schraubfassung zu erkennen; statt durchsichtig ist sie allerdings rot bemalt und mit einem weißen Kreuz versehen. An der Fassung hängt eine Schnur, die in diesem Zusammen- hang als Stromkabel identifizierbar ist. Die Schnur hört auf, wie wenn sie abgeschnitten worden wäre, und aus ihrem Ende kommen rote Sternchen. Die Aussage des Bildes möchte dem Be- trachter sagen, dass die Schweiz vom Strom gekappt wird, falls sie die beiden zur Abstimmung vorliegenden Stromvorlagen annimmt. Das Schweizer Kreuz steht also für die Schweiz, einerseits als räumliche Ausdehnung, andererseits aber auch als Darstellung der schweizerischen Ideen, die sich in diesem Falle – nach Meinung der Plakatmacher – nicht an die bestehende Welt anpassen lassen. Ein weiteres Beispiel für die Einbettung des Schweizer Kreuzes ist in Abbildung 19 zur Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund aus dem Jahre 1920 zu sehen. Hier ist das Schweizer Kreuz auf einer Fahne zu erkennen oder besser zu erahnen; es handelt sich also um eine Schweizer Fahne. Diese ist nicht ausgebreitet und klar sichtbar, dennoch ist deutlich erkennbar, dass es sich um eine Schweizer Fahne handeln muss, weil sie die entsprechenden Farben hat und sich die weißen Formen auf dem roten Tuch etwa dort befinden, wo sie sein müss- ten, wenn sich auf diesem Tuch in ausgebreitetem Zustand ein weißes Kreuz der Ausdehnung des Schweizer Kreuzes befinden würde. Da der Bildstil mit Schweizer Fahne bereits etabliert scheint, kann hier eine Abstraktionsstufe höher gegriffen werden, was für dieses Plakat den Vorteil bringt, dass man bereits in der Bildaussage die Schweiz etwas zurücknehmen kann. Für die zweite Va- riante, dass nämlich das Schweizer Wappen in Form eines Signets in einen Text eingebaut wird, IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 114 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … ist das Plakat in Abbildung 18 zur Abstimmung über die Volksinitiative »für eine Totalrevision der Bundesverfassung« von 1935 ein passendes Beispiel. Auf dem Textplakat erscheint der Text in einfacher, dafür aber zweifarbiger Schrift, mit Parole (die gleich zweimal auftaucht) und vor allem mit viel Fließtext. In der obersten Zeile, zwischen dem klein geschriebenen Text »Eidgenossen! Mitbürger!« und »Stimmt am 8. September«, befindet sich ein weißes Kreuz mit roter Schattierung, umgeben von einem rötlichen Strahlenkranz. In diesem Zusammenhang ist das Signet eindeutig als Schweizer Kreuz erkennbar. Funktion dieser identitätsbildenden Zeichen ist es in diesem Fall, eine nationale Einheit zu schaf- fen. Dabei kann dies durchaus auch für die Öffnung des Landes genutzt werden, das heißt, es sind nicht immer konservative Kräfte, welche die Schweiz gegen Außen hin abschotten wollen. Das Plakat in Abbildung 19 zeigt, dass die Schweiz dem Völkerbund ohne Angst beitreten kann. Ihr wird dazu eine starke Hand entgegengestreckt. Um Gegnern, Unsicheren und Unentschlosse- nen die Furcht auszuräumen, dass beim Eintritt in den Völkerbund die Schweiz als eigenständiges Land ganz aufgegeben werden muss, wird mit der Schweizer Fahne gezeigt, dass die Schweiz als Schweiz sich mit den anderen Ländern verbindet und als Nation trotzdem erhalten bleibt. Die Schweiz darf ihr Wappen bei ihrem Eintritt in den Völkerbund mitnehmen. Ähnliches lässt sich auch heute zeigen, zum Beispiel mit einem aktuellen Bild aus Deutschland: In Abbildung 20 aus dem Jahr 2005 der deutschen Bundesregierung zur EU-Erweiterung ist die be- kannte Eisschnellläuferin Claudia Pechstein zu sehen. Auch dieses Bild ist natürlich nachgestellt. Die Sportlerin ist nicht während eines Rennens fotografiert worden; darauf deuten die Frisur und Abb. 18 und 19: Schweiz, 8. September 1935, Abstimmung über die Volksinitiative «für eine Totalrevision der Bundesverfassung”; Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_TYPO_729 – Schweiz, 16. Mai 1920, Abstimmung über den Bundesbeschluss betreffend den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund; Emile Cardinaux; Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_POL_35 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 115 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Abb. 20 und 21: Deutschland, 2005, EU-Erweiterung, Die Bundesregierung (www.bundesregierung.de) – Schweiz, 13. März 1955, Abstimmung über den Bundesbeschluss über die Volksinitiative «zum Schutz der Mieter und Konsumenten” und den Gegenentwurf; Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_POL_234 das zielgerichtete Lächeln, welche beide in einem Rennen nicht so perfekt sein könnten. Wichtiger für den Bildstil im Zusammenhang mit den Landesfarben als Identifikationssymbole ist aber ihr Dress. Die Streifen in schwarzer, roter und gelber Farbe auf dem Sportdress der Eisschnellläuferin verkörpern die Nation Deutschland, die auch in der EU erhalten bleibt. Denn das ist das Thema des Plakates: die EU und insbesondere die EU-Erweiterung, die mit der blauen Farbe und den gelben Sternchen unterhalb von Pechstein auf dem Plakat vertreten ist. Dort sind auch die Länder aufgezählt, welche neu zur EU kommen sollen. Sie stehen durch die Farbgebung im Kontrast zur deutschen Nation auf dem Dress von Pechstein. Dieser zeigt hier aber auch an, dass Deutschland als Nation sich nicht vor der EU-Erweiterung fürchten muss. Deutschland läuft nicht Gefahr, sich in der EU aufzulösen. Mit dem letzten Bespiel ist bereits angedeutet, dass für die Identifizierung mit einem Land nicht unbedingt das Landeswappen abgebildet sein muss, für die Schweiz das weiße Kreuz auf rotem Grund oder für Deutschland ein Rechteck, dass in den Farben Schwarz, Rot und Gelb gefüllt ist; es kann auch nur mit den Farben des Wappens, also zum Beispiel für die Schweiz mit Weiß und Rot gearbeitet werden. Wichtig ist allerdings, im Auge zu behalten, dass Rot nicht nur die Hin- tergrundfarbe des Schweizer Kreuzes ist, sondern im politischen Kontext auch für Sozialismus und Kommunismus steht. Bei manchen Plakaten fällt die Entscheidung dann auch nicht leicht, einzuordnen, wofür die rote Farbe stehen soll, für die Nation Schweiz oder für sozialistisches Gedankengut. Dies abzuschätzen wird zum Teil dadurch erleichtert, dass man den Sendern der Plakate ein klares politisches Profil zuordnen kann. Betrachtet man Abbildung 21 zur Abstimmung vom 13. März 1955 über die Volksinitiative »zum Schutz der Mieter und Konsumenten« wird durch den Text der Parole »SOZ. Vollmachten-Initiative: NEIN« ein Hinweis geliefert, da die Abkürzung »SOZ.« für »sozialistisch« steht. In diesem Sinne ist auch der rote Kopf ganz oben im Bild zu deu- IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 116 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … ten, der ausdrücken soll, dass die »Sozialisten« sich wünschten, die friedlichen Menschen in ihrer privaten Atmosphäre zu überwachen. Die Farbe Rot hat also hier nichts mit den schweizerischen Landesfarben zu tun. Ebenfalls als »sozialistisch«, aber positiv wertend, ist auch die Farbgebung in Abbildung 2 (»Arbeiter!«) zu deuten, da es sich in dieser Abstimmung um eine soziale Einrich- tung, die Alters- und Hinterbliebenenversicherung, handelt. Hingegen scheinen mir in Abbildung 22 zur Abstimmung vom 7. Juni 1970 über die Volksinitiative »gegen die Überfremdung« Weiß und Rot die Farben des Schweizer Wappens fast schon etwas nationalistisch zu implizieren. Dies liegt zum einen daran, dass es hier um ein Anliegen der politisch Rechten geht und sich außerdem auch noch gegen die »Überfremdung«, also gegen Ausländer in der Schweiz richtet. Die Zielgruppe, die mit diesem Plakat angesprochen werden soll, ist zweifelsfrei sehr patriotisch. Ich möchte an dieser Stelle aber noch einmal betonen, dass die Verwendung von Landesfarben und -wappen nicht in jedem Fall – und wahrscheinlich nicht einmal in der Mehrzahl – zu einem übermäßigen Nationalstolz aufruft. Die beschriebenen Beobachtungen zur Verwendung von Nationalfarben gelten nicht nur für die Schweiz, sondern können, wie schon die Landeswappen, auch an den Plakaten anderer Länder aufgezeigt werden. Nach dem gleichen Muster funktioniert beispielsweise das Plakat in Abbildung 23 zur Volksabstimmung in Frankreich vom 29. Mai 2005 über die EU-Verfassung. Der Text des Plakates lautet: »UNE // FRANCE // DIGNE // DE SON // NON // Refuson // la Constitution europé- enne ! // Mouvement Républicain et Citoyen« (übersetzt: Ein Frankreich, das seinem Nein würdig ist. Lasst uns die europäische Verfassung ablehnen!). Die Bezeichnung »Frankreich« ist hier im Text sogar explizit genannt und wird weiter durch die Farbgebung des »NON« in je einem blauen, einem weißen und einem roten Buchstaben weiter unterstrichen. Damit wird eine Frankreich-freundliche Abb. 22 und 23: Schweiz, 7. Juni 1970, Abstimmung über die Volksinitiative «gegen die Überfremdung”; Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_1970_176 – Frankreich, 29. Mai 2005, Votation sur la Constitution Européenne (EU-Verfassung); Mouvement Républicain et Citoyen (www.europabluew.blogspirit.com/reflexion) IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 117 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Abb. 24: Polen, 2005, Plakat der polnischen Regierung (www.mos.gov.pl) Stimmung geschaffen. Das ist es genau, was mit dieser Art von Farbgebung bezweckt werden soll: Es geht darum, die Rezipienten durch Farben zu beeinflussen, indem sie in die gewünschte Stimmung versetzt werden, in welcher sie sich wohl fühlen und die ihnen Sicherheit gibt. Im Falle von Abbildung 23 würde ich dazu ausführen, dass sich der Rezipient mit seinem Staat Frankreich sicher fühlt und dass ihm die Landesfarben im »NON« seine Vaterlandsliebe vergegenwärtigen. Dies wird natürlich in den meisten Fällen auf einer den Rezipienten unbewussten Ebene gesche- hen, aber darum gerade auch den Effekt weiter verstärken. Wenn es also in einer Abstimmung um die Beziehung zu anderen Ländern geht, kann klar Farbe bekannt werden. Wenn aber nun die eigenen Landesfarben den Nationalstolz wecken, muss es auch möglich sein, mit den Farben der EU für ein EU-freundliches Klima zu werben. Als Beweis hierfür dient mir das Plakat in Abbildung 24 aus dem Jahre 2005. Es stammt von der polnischen Regierung und der Text heißt übersetzt: »Saubere Umwelt? Natürlich! Polen in der Europäischen Union«. Selbst als mir zu diesem Plakat noch keine Übersetzung vorlag und ich mir nicht vorstellen konnte, was der Text inhaltlich aussagt, war mir sofort klar, dass es hier um Europa, genauer um die Europäische Union geht, deren Wappen in der Mitte des Plakates, modifiziert in leicht schrägem Blickwinkel, auftaucht. Durch die Farbgebung mit dem dunklen »EU-Blau« und den gelben Sternen entsteht ein angenehmes Klima im Hinblick auf die EU, das hier zu Werbezwecken im uneigentlichen Sinn genutzt wird, nämlich einfach um bei den Rezipienten eine positive Stimmung gegenüber der EU zu schaffen. Es muss hier angemerkt werden, was für Meinungsforscher schon lange bekannt ist: Überzeugt werden von Kampagnen in der großen Mehrzahl immer nur jene, die der Sache so- wieso nicht abgeneigt sind. Es ist kaum möglich, auch nicht mit ausgeklügelten psychologischen Mitteln, durch Werbekampagnen einen eingefleischten Gegner vom Gegenteil seiner Meinung zu überzeugen (vgl. Bonfadelli 2000). Da dies aber für alle Werbung im gleichen Masse gilt, muss es für meine Betrachtungen nicht weiter verfolgt werden. Auf dieselbe Weise wie das Schaffen einer angenehmen Haltung gegenüber einem Staat oder einem Staatenbund funktioniert auch das Umgekehrte, nämlich die Schaffung von Unmut, bezie- hungsweise einer negativen Stimmung durch die Vermeidung entsprechender Farben. Funktion einer solchen Vermeidung ist es, die Rezipienten von weitem auf affektiver Ebene auf die Botschaft einzustimmen. Am Beispiel der Plakate in den Abbildungen 25 und 26 möchte ich dies weiter ver- deutlichen: Es handelt sich auch hier um die Abstimmung über die EU-Verfassung in Frankreich. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 118 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Abb. 25 und 26: Frankreich, 29. Mai 2005, Votation sur la Constitution Européenne (EU-Verfassung); parti communiste français (PCF) – Frankreich, 29. Mai 2005, Votation sur la Constitution Européenne (EU- Verfassung); appel des 200 (www.appeldes200.net) Beide Plakate entbehren jeglicher Farben des EU-Wappens. In Abbildung 25 erscheinen immer- hin die EU-Sterne wieder, jedoch sind sie rot und befinden sich auf grünem Grund. Damit ist rein visuell der Anknüpfungspunkt an die EU zwar gegeben, durch die Farbgebung wird aber auch eine klare Haltung ausgedrückt, die EU-feindlich ist. Im Plakat in Abbildung 26 kommt die EU im visuellen Teil des Gesamttextes gar nicht mehr vor. Die Beschränkung der Farben auf Grün und Rot ergibt sich in beiden Fällen aus der Vermeidung von Blau und Gelb; weil man offensichtlich nicht ganz auf Farbe verzichten wollte, und weil diese Anti-Farben den Effekt tatsächlich noch verstärken, ist den Plakatgestaltern nichts anderes mehr übrig geblieben, als mit Grün und Rot zu arbeiten. Daraus ergibt sich weiter aber auch die Farbverteilung in Abbildung 26. Man könnte sich hier nämlich fragen, warum das »NON« nicht in auffälliger roter Warnfarbe gesetzt worden ist. Dies hätte aber bedeutet, dass der Hintergrund eher in grünen und damit allgemein eher beruhigenden Tönen hätte erscheinen müssen. Obwohl ein Grün nicht immer beruhigend wirken muss, hätte das Plakat dann gegenüber der realisierten Version an Wirkung des Gesamtausdrucks verloren. Die Farben haben nämlich nicht nur politische und symbolische Bedeutung, sondern wirken ganz unabhängig davon auch mehr oder weniger unbewusst auf die Psyche ein. Es gibt in dieser Hinsicht auch Beispiele, die nicht sehr gelungen sind. So etwa eine Plakatserie zur Abstimmung in der Schweiz über die Schengen/Dublin-Verträge, die am 5. Juni 2005 statt- gefunden hat. Es handelt sich dabei um eine Reihe von vier verschiedenen Plakaten. Gestaltet wurden sie von Gegnern eines Beitritts der Schweiz zur EU, die auch den Beitritt zum Schengen- Abkommen verhindern wollten. Eines dieser Plakate zeigt Abbildung 27. Der Text »EU-Kommis- sionsmitglied XY [im Beispiel hier Stavros Dimas] würde sich freuen, bald auf Schweizer Gesetze Einfluss zu nehmen.« wurde von vielen Rezipienten nicht verstanden. So ist nicht ersichtlich, wer Stavros Dimas ist und was er mit der Schweiz zu tun haben soll. Bleibt man aber auf der Bildebe- ne und lässt den Inhalt des sprachlichen Textes außer Acht, so scheinen einem die Farben eher IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 119 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Abb. 27: Schweiz, 5. Juni 2005, Abstimmung über den Bundesbeschluss über die Genehmigung und die Umsetzung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU über die Assoziierung an Schengen und an Dublin; Wirtschaftskomitee «Personenfreizügigkeit Ja – Schengen Nein” Europa-Begeisterung zu verraten: Die gelbe Schrift auf blauem Grund verleiten zu einem Gefühl der Zugehörigkeit zur EU. Das Plakat sendet also widersprüchliche Signale aus und stiftet damit Verwirrung, weil dem Gesamttext keine klare Haltung entnommen werden kann. Da sich viele verschiedene politische Kommunikate aus verschiedenen Ländern und unter ver- schiedenen politischen Kulturen diese Ausdrucksform zu Nutze gemacht haben, für die Beein- flussung der Rezipienten auf der Bildebene nationale Farben zu verwenden, bezeichne ich die Verwendung dieser Strategie als Bildstil. 6.3.3 Der historische Umgang mit dem Schweizer Kreuz Abschließend möchte ich auf die Schweiz zurückkommen und die Verwendung und Bearbeitung des Schweizer Kreuzes auf Schweizer Abstimmungsplakaten im historischen Vergleich genauer beleuchten. Ich spreche im Folgenden von Paradigmen und muss dazu anmerken, dass es sich nicht um abgeschlossene Zeitspannen, sondern um sich überlappende, in die Zukunft geöffnete Phasen handelt. Bis in die 1970er Jahre blieb das Schweizer Kreuz unantastbar, dass heißt, es wurde nur in seiner ›natürlichen‹ Form, also weißes Kreuz auf rotem Grund und mit dem Zweck der Entfachung von Patriotismus und Zusammenhalt der Eidgenossen verwendet. Ein Beispiel hierfür wäre das Plakat für den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund in Abbildung 19 (1920), das ich weiter oben schon erläutert habe. Das Schweizer Kreuz auf der Fahne ist in den Kontext eingebaut und steht für die Schweizerische Eidgenossenschaft. Auch das Schweizer Kreuz in Abbildung 18 (1935) kann auf diese Weise gelesen werden: als schlichtes Zeichen für den Zusammenhalt der Schweizer Bürger. Dieses Zeichen wird ernst genommen und gerade in Abbildung 18 hat es auch etwas ›Offizielles‹ an sich: Es verwandelt das Abstimmungsplakat sozusagen in ein ›amtliches‹ Dokument. In den 1970er Jahren kommt ein zweites Paradigma hinzu, diesmal aus dem linken Lager: Es werden selbstironische Spielereien mit dem Schweizer Kreuz getrieben. Der Bruch mit dem tradi- IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 120 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Abb. 28: Schweiz, 5. April 1987, Abstimmung über das Asylgesetz und über das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer; Stephan Bundi; Plakatsammlung, Graphische Sammlung Schweizerische Landesbibliothek, Bern, Nr. SNL_1987_453 tionellen Bildstil dient der Aufrüttlung und der Abgrenzung. Aber auch hier ist klar zu sehen, was die Macher dieser abgewandelten Schweizer Kreuze bezwecken: Sie möchten die Zugehörigkeit zu diesem Land und sogar die Haltung des Landes selber revolutionieren und zwar gerade zum Zweck der Erhaltung dieser von ihnen dafür genutzten Symbole. So ist auf dem Plakat in Abbil- dung 28 zur Abstimmung vom 5. April 1987 über das Asylgesetz und über das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer zu sehen, wie sich aus dem Schweizer Kreuz ein Würfel faltet. Ganz oben, wo das Schweizer Kreuz in seiner natürlichen Form daliegt, ist der Hintergrund noch strahlend rot. Je weiter man mit seinen Augen aber nach unten geht und die Zusammenfaltung des Würfels miterlebt, desto dunkler wird der Hintergrund. Wenn sich schließ- lich das fordere Seitenteil zu heben beginnt, erkennt man, dass dieses Schweizer Kreuz auf seiner Rückseite das Muster einer Mauer hat. Dann klappen die Wände ganz herauf und ein Gefängnis ist entstanden. Die Aussage des Plakates beinhaltet also, dass sich die Schweiz gegen Außen hin zumauert, wenn sie diese Gesetzesrevisionen annimmt, und die Ausländer damit von der Schweiz ausschließt, sich aber gleichzeitig auch zumauert und selbst einschließt. Dabei ist nicht das ei- gentliche Schweizer Kreuz die Verkörperung der schweizerischen Werte, denn dieses ist vergli- chen mit dem Würfel ja offen. Es sind aber die Schweizer Werte und die Schweizer Bürgerinnen und Bürger selber, die aus diesem offenen Kreuz ein abgeschlossenes Gefängnis bauen. Das Schweizer Kreuz wird also humorvoll dazu verwendet, überholte Schweizer Werte zu kritisieren, indem es aufzeigt, dass übertriebener Patriotismus ein Gefängnis ist. Dabei kommt es zu einem neuen Bildstil, denn dieses Plakat ist längst nicht das einzige Beispiel für solche Ironisierung. Auch Abbildung 12 (1970) mit dem Grenzwächter – welches im Übrigen das erste Beispiel dieses Phänomens in meinem Korpus ist – und Abbildung 17 mit der Glühbirne (1984) können diesem Paradigma zugerechnet werden. Sie pflegen ebenfalls einen ironischen Umgang mit alteingeses- senen Schweizer Haltungen und geistiger Unbeweglichkeit und versuchen, den Rezipienten auf humorvolle Art und Weise auf eine andere Bahn zu lenken. Dieser Bildstil hielt sich bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts und immer wieder wurde ein neues Bild ins Spiel gebracht. In den letzten Jahren sind die Einfälle diesbezüglich nun doch wieder etwas zurückgegangen und ein weiteres Paradigma erhielt Aufschwung. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 121 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … In den 1990er Jahren wurde, wiederum von den Linken, eine weitere Initiative gestartet: Die Über- brückung des so genannten »Röstigrabens« stand an. Dieser trennt das Schweizer Stimmvolk mehr oder weniger entlang der Deutsch-Französischen Sprachgrenze in zwei Teile; die franzö- sisch-sprechenden WestschweizerInnen stimmen immer etwas linker als der Rest des Landes. Und nun also haben sich einige Politiker zum Ziel gesetzt, diese beiden Teile wieder zusammen zu bringen. Dies findet Eingang in neue Varianten des Bildstils, indem das Schweizer Kreuz als Verbindung aller SchweizerInnen genutzt wird, um wiederum eine Einheit zu schaffen. Das verbin- dende Element, die Mehrsprachigkeit, findet im Schweizer Kreuz selber Platz. So heißt es im Bei- spiel in Abbildung 29 zur Abstimmung vom 26. November 1989 über die Volksinitiative »für eine Schweiz ohne Armee und eine umfassende Friedenspolitik«: »STOP // THE ARMY // 25./26. Nov. 1989 // JA OUI SI«. Anders als beim ersten dieser drei Paradigmen wird das Schweizer Kreuz, und damit auch die Schweiz selber, nicht als unantastbares, unveränderbares Objekt gezeigt, sondern modern und offen, so dass es viele verschiedene Meinungen unter sich vereinen kann. Anhand des Schweizer Kreuzes kann man in diesem Beispiel aufzeigen, das nicht mehr Weiss auf Rot, sondern Weiss auf allen möglichen Farben ist. Dass zumindest ein Teil des alten Wappens aber doch bestehen bleibt, wie in diesem Falle das weisse Kreuz, ist wichtig, denn die Aussage dieses neuen Bildstils soll nicht sein, dass sich die Schweiz im Zuge einer Globalisierung und Multikultu- rierung selber auflöst. 6.3.4 Umgang mit Schweizer Mythen Wie nationale Mythen in den Bildstil von Schweizer Abstimmungsplakaten einfließen, dazu kann ich hier nur einen kurzen Einblick geben. Wichtige Figuren sind Wilhelm Tell mit seiner Armbrust Abb. 29 und 30: Schweiz, 26. November 1989, Abstimmung über die Volksinitiative «für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik”; Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) – Schweiz, 8. Februar 2004, Abstimmung über die Volksinitiative «Avanti – für sichere und leistungsfähige Autobahnen”; Verkehrsclub der Schweiz. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 122 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … und weiteres Personal aus Schillers Drama, Helvetia, die gütige Mutter der Nation, und immer wie- der »die alten Eidgenossen«. Dabei ist festzustellen, dass zum Beispiel Wilhelm Tell eine ähnliche Wandlung durchmacht wie das Schweizer Kreuz, die darin mündete, dass er zur Abstimmung vom 8. Februar 2004 über die Volksinitiative »Avanti – für sichere und leistungsfähige Autobahnen« mit dem Zeigefinger am Kopf von den Plakatwänden auf die Rezipienten herunterblickte und ihnen den Vogel zeigte (Abb. 30). Auch er, der gute alte Held, geht also mit der Zeit. Um noch ein Beispiel dafür zu zeigen, wie auch im Detail von Plakaten Schätze für meine Analyse verborgen liegen können, möchte ich hiermit noch einmal auf Abbildung 3 (1934) vom Maler Otto Plattner verweisen: Die Hausierer auf diesem Bild haben durchwegs ein fremdes Aussehen und verweisen damit auf die traditionelle Angst der Schweizer vor dem Anderen. Gleichzeitig sind aber die Kunstgegenstände, die sie feil halten, durchaus schweizerischer Natur. So ist auf dem Gemälde, das sich der eine von ihnen auf die Schultern gehoben hat, eine typisch schweizerische Berglandschaft zu sehen. Auf dem Bild, dass er in seiner linken Hand hält, ist die Tellskappelle am Urnersee identifizierbar und in der Bauchlade des vordersten Verkäufers finden sich jede Menge Uhren, das Produkt für den Ausdruck schweizerischer Qualität schlechthin. Damit möchte ich zei- gen, dass sich Mythen nicht nur auf der Oberfläche finden, sondern auch tief im Detail und dass sie damit tief im schweizerischen und im menschlichen Denken überhaupt verankert sind. Weitere Ergebnisse zu Symbolen auf Schweizer Abstimmungsplakaten, wie zum Beispiel »Stopp- Hände« (siehe Abb. 4) oder auch zum weiter oben erläuterten Schweizer Kreuz habe ich in einem Aufsatz für die Schriften zur Symbolforschung zusammengetragen (vgl. Demarmels 2005). 7. Schluss Anhand meiner Beispiele habe ich auf die Wichtigkeit von Textbausteinen verwiesen und damit herausgestrichen, dass ein Plakat insgesamt als Bild anzusehen ist, ganz unabhängig davon, was im sprachtextuellen Bereich für konkrete Aussagen gemacht werden. Durch die Übertragung und Anpassung von Textbausteinen aus der Werbung in den Bereich der politischen visuellen Kom- munikation habe ich mir für die Analyse von Abstimmungsplakaten ein erstes Instrumentarium geschaffen. Damit konnte ich feststellen, dass der Bildaufbau für politische Plakate unter ande- rem abhängig ist vom politischen System und der politischen Tradition eines Landes. Ich habe gezeigt, dass in der Politik wie auch andernorts mit ähnlichen Mustern gespielt wird, zum Beispiel in der Schaffung von sozialen Identitäten, der Anspielung auf und der konkreten Verwendung von Landeswappen und -farben. Diese Strategien kommen vor allem zur Anwendung, weil damit eine Beeinflussung der Rezipienten erreicht werden kann. Der Bildstil ist aber keineswegs eine Konstante, sondern er verändert sich, abhängig von verschie- denen Faktoren. Zeigen konnte ich dies am Beispiel von technischen Möglichkeiten und sozialen Umwälzungen. So lässt sich erkennen, dass mit zunehmenden technischen Freiheiten auch das Bild freier genutzt werden kann, sofern nicht im Hinblick auf die finanzielle Situation Einschrän- kungen gemacht werden müssen. Hingegen hängt die inhaltliche Gestaltung von Text und Bild stark mit der Zusammensetzung von politischen Strömungen zusammen. Dort werden vor allem IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 123 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … identitätsstiftenden Merkmale verändert, was ich am historischen Umgang mit dem Schweizer Kreuz dargelegt habe. Da ich mich primär mit Schweizer Plakaten befasse, lassen die Beispiele aus anderen Ländern, die ich hier zur Illustration und Verallgemeinerung vorgelegt habe, nur Tendenzen erkennen. Eine sys- tematische Untersuchung des Bildstils von visueller politischer Kommunikation im internationalen Raum steht noch aus. Jedoch scheint sich bereits abzuzeichnen, dass trotz vieler Unterschiede, die entsprechend herausgearbeitet werden müssten, die gemeinsamen Strategien zu überwiegen scheinen. Schliesslich geht es immer um die Beeinflussung der Rezipienten und so scheint mir die Erkennung des Bildstils ein wichtiger Schritt zu einer aufgeklärten Rezipientenschaft. Literatur Barthes, Roland: Rhetorik des Bildes (1964), In: Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1990 Baumgart, Manuela: Die Sprache der Anzeigenwerbung. Eine linguistische Analyse aktueller Werbeslogans (=Konsum und Verhalten 37). Heidelberg 1992 Bonfadelli, Heinz: Medienwirkungsforschung II. Anwendungen in Politik, Wirtschaft und Kultur (=Reihe Uni-Papers, Band 11). Konstanz 2000 Demarmels, Sascha: Emotionalisierungsstrategien auf Schweizer Abstimmungsplakaten im 20. Jahrhundert. In: Michel, Paul (Hrsg.): Unmitte(i)lbarkeit. Gestaltungen und Lesbarkeit von Emotionen (=Schriften zur Symbolforschung, Band 15). Zürich 2005, S. 287–317 Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. 8. Auflage. München [UTB 105] 1994 Im Hof, Ulrich et al.: Geschichte der Schweiz und der Schweizer. 3. Auflage. Basel 2004 Janich, Nina: Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. 3. Auflage. Tübingen 2003 Kroeber-Riehl, Werner: Bildkommunikation. Imagerystrategien für die Werbung. München [Vahlen Verlag ] 1993 Lessinger, Eva-Maria / Moke, Markus: »Ohne uns schnappt jeder Kanzler über«. Eine Studie zur Rezeption von Plakatwerbung im Bundestagswahlkampf 1998. In: Holtz-Bacha, Christina (Hrsg.): Wahlkampf in den Medien — Wahlkampf mit den Medien. Ein Reader zum Wahljahr 1998. Opladen / Wiesbaden 1999 Leutert, Armin: Allgemeine Fachkunde der Drucktechnik. Baden1993 Piatti, Celestino: Plakate. Mit 153 Farbabbildungen. München 1992 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 124 SASCHA DEMARMELS: FUNKTION DES BILDSTILS VON POLITISCHEN PLAKATEN. EINE HISTORISCHE ANALYSE AM BEISPIEL VON … Schierl, Thomas: Text und Bild in der Werbung. Bedingungen, Wirkungen und Anwendungen bei Anzeigen und Plakaten. Köln 2001 Stiebner, Erhardt D. / Zahn, Heribert / Blana, Hubert: Drucktechnik heute. Ein Leitfaden. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. München 1994 Stöckl, Hartmut: (Un-)Chaining the floating image. Methodologische Überlegungen zu einem Beschreibungs- und Analysemodell für die Bild/Textverknüpfung aus linguistischer und semiotischer Perspektive. In: Kodikas / Code: Ars Semioticas 21 (1-2), 1998, S. 75–98 Stöckl, Hartmut: Die Sprache im Bild – das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massemmedialen Text. Konzepte. Theorien. Analysemethoden (=Linguistik – Impulse & Tendenzen 3). Berlin / New York 2004 Toman-Banke, Monika: Die Wahlslogans der Bundestagswahlen 1949–1994. Wiesbaden 1996 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 125 [Inhaltsverzeichnis] Dagmar Schmauks Rippchen, Rüssel, Ringelschwanz. Stilisierungen des Schweins in Werbung und Cartoon1 Abstract Pigs are a popular motif of many pictorial genres from butcher’s signs to greetings cards. This ar- ticle analyzes pictures of pigs in advertising and cartoons. The guiding question is, which features are attributed to the pig and how they mirror zoological reality. The introductory section 2 presents ambivalent common sayings between the extremes ›Drecksau‹ (›dirty pig‹) and ›Glücksschwein‹ (›lucky pig‹). Section 3 investigates pictorial representations of pigs, mainly typical stylizations of body parts and the emphasizing of differences between domestic pigs and wild boars. Detailed analyses of current advertisements (section 4) and current cartoons (section 5) show that some topics are presented frequently and in a highly stereotypical manner. Schweine sind ein beliebtes Motiv vieler Bildgenres vom Metzgereischild bis zur Glückwunsch- karte. Diese Arbeit analysiert Abbildungen von Schweinen in Werbeanzeigen und Cartoons. Die Leitfrage ist jeweils, welche Eigenschaften dem Schwein zugeschrieben werden und inwiefern sie die zoologische Realität widerspiegeln. Abschnitt 2 stellt einleitend die ambivalente Bewertung von Schweinen in Redensarten zwischen den Extremen ›Drecksau‹ und ›Glücksschwein‹ vor. Ab- schnitt 3 untersucht bildliche Darstellungen von Schweinen, insbesondere typische Stilisierungen einzelner Körperteile sowie die Betonung der Gegensätze zwischen Haus- und Wildschwein. De- 1 Anne Sauer danke ich für weiterführende Kommentare zu einer Vorversion des Textes sowie ihr und Beate Frenz für das sorgfältige Scannen der Abbildungen. Zu meinem Wissen über Schweine haben einige Personen erheblich beigetragen, vor allem Gunther Nitzsche und Hans-Dieter Dannenberg (beide Deutsches Schweine-Museum Teltow-Ruhlsdorf) sowie Rosemarie Plarre (Museumsdorf Düppel Berlin). IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 126 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON tailanalysen von aktuellen Werbeanzeigen (Abschnitt 4) sowie von Cartoons (Abschnitt 5) ergeben, dass einige Themen sehr häufig und in stereotyper Weise dargestellt werden. 1. Einleitung Menschen haben zu Tieren vielfältige und widersprüchliche Beziehungen, die sich in Texten, Bil- dern und anderen Dokumenten spiegeln. In diesem Artikel geht es um ein Detailproblem der bild- lichen Darstellung, nämlich um die Stilisierungen des Schweins in Werbung und Cartoon. Zur Einführung empfiehlt sich ein kurzer Blick in Zoologie und Kulturgeschichte. Hausschweine tragen in vielen Gebieten der Erde erheblich zur menschlichen Ernährung bei, allein in Deutsch- land werden jährlich mehr als 40 Millionen Schweine geschlachtet und verzehrt. Ihre Domestizie- rung reicht rund 9.000 Jahre zurück und begann in mehreren Gegenden Eurasiens. Noch heute gibt es Zwischenstufen ›halbwilder‹ Haltung, in denen die Schweine nur zeitweise in der Nähe des Menschen leben und sich von selbst immer wieder mit Wildschweinen kreuzen. Rückzüchtungs- projekte veranlassen gezielt diese Verpaarung mit Wildschweinen, um die durch Domestizierung bewirkte genetische Verarmung zu verlangsamen. Rückgezüchtete Rassen wie das ›Düppeler Weideschwein‹ (Berlin) ähneln den Hausschweinen auf mittelalterlichen Bildern – sie sehen ›urig‹ aus, sind robust, genügsam und haben in den ersten Lebensmonaten braun-gelbe Längsstreifen wie Frischlinge (vgl. Schmauks 2000: 319ff. und 2001: 1167ff.). Im Gegensatz zu allen anderen Nutztieren kommt nämlich bei Schweinen auch ihre Wildform, das eurasische Wildschwein (Sus scrofa), in Mitteleuropa noch zahlreich vor und fasziniert durch Intelligenz, Anpassungsfähigkeit und komplexes Sozialverhalten (vgl. Meynhardt 1984 und Hennig 1998). Durch milde Winter und gutes Futterangebot nimmt der Bestand sogar ständig zu. In Berlin etwa dringen Wildschweine zunehmend in waldnahe Außenbezirke ein, um Komposthaufen, Müll- tonnen und Friedhöfe zu durchstöbern. Florian Möllers (2003) hat ihr Treiben unter dem Motto ›auf Rüsselhöhe mit den Hauptstadtschweinen‹ mit Texten und Fotos dokumentiert. Die gleichzeitige Kenntnis von Wildform und domestizierter Form erlaubt einen Vergleich der je- weiligen Eigenschaften und Verhaltensweisen, der auf der Sprachebene zu einer konkurrenzlo- sen Vielfalt von Redensarten führt. Ferner motiviert sie immer neue visuelle Darstellungen von Schweinen. An einem Ende der Skala liegen zahllose ›schweinchenrosa‹ Kitschfiguren von drallen Hausschweinen, die allerlei ›Schweinereien‹ treiben oder einfach nur Niedlichkeit ausdrücken. Am anderen Ende finden wir dämonisierende Darstellungen von Wildschweinen, die in Mitteleuropa nach Ausrottung von Bär, Wolf und Luchs die letzten wirklich wehrhaften Wildtiere sind. Vor allem die Keiler gelten als Inbegriff des Urigen und Tapferen, und die rasende Wut und Verteidigungsbe- reitschaft eines verletzten Tieres sind sprichwörtlich. Zahllose Texte, Bilder und Skulpturen von der Antike bis heute zeigen den siegreichen Kampf eines Jägers und seiner Meute mit einem Keiler (zahlreiche Beispiele in Dannenberg 1990: 19ff); man denke etwa an die Sage des Herakles, zu dessen zwölf Heldentaten die Überwältigung des Erymanthischen Ebers zählte. Hinzuzufügen ist, dass der Keiler früher ein adliges Wild war, vor dem der Jäger Respekt bekundete, indem er ihm mit einer schmalen Lanze (›Saufeder‹) entgegentrat. An Stelle dieses Zweikampfes ist die Jagd mit IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 127 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Gewehren und vom sicheren Hochsitz aus getreten, von der deutlich weniger heldischer Glanz ausgeht. Dennoch ist es auch heute noch ein Lebenstraum vieler Jäger, einen kapitalen Keiler zu erlegen. Organisierte Jagdreisen garantieren entsprechende Abschüsse, so dass der präparierte Keilerkopf mit möglichst ausladenden Hauern dann künftig vom Erfolg des Schützen kündet. Schweine haben zahlreiche Eigenschaften, die aus Menschensicht befremdlich wirken. Sie suhlen sich im Schlamm, fressen Abfälle, Kot und unter beengten Verhältnissen sogar manchmal ihre eigenen Ferkel. Die negative Bewertung dieser Verhaltensweisen spiegelt sich in Schimpfwörtern wie ›Drecksau‹ und ›Schweinkram‹ sowie entsprechenden Redensarten. Von Menschen wird ge- sagt, sie ›fressen, bis die Schwarte kracht‹, ›lassen die Sau raus‹ oder ›benehmen sich wie eine Sau an Fastnacht‹. Andererseits sind Schweine leicht zu halten und sehr fruchtbar, so dass sie ihrem Besitzer behaglichen Wohlstand verschaffen und zum ›Glücksschwein‹ wurden. Heute tum- meln sich dralle rosige Schweine auf vielen Werbeplakaten und kündigen Sonderangebote an. Die vorliegende Arbeit analysiert die bildliche Darstellung von Schweinen in Werbung und Car- toons unter der Leitfrage, welche Eigenschaften den Schweinen jeweils zugeschrieben werden und wie diese sich zur zoologischen Realität verhalten. Abschnitt 2 untersucht die zahlreichen Redensarten, die von Eigenschaften und Verhaltensweisen des Schweins abgeleitet sind. Sie be- legen dessen ambivalente Bewertung mit gleichzeitig existierenden sehr negativen (›Drecksau‹, ›Schweinerei‹) und sehr positiven Zuschreibungen (›Schwein haben‹, ›Glücksschwein‹). Abschnitt 3 setzt die Untersuchung im Medium des Bildes fort. Hier fällt auf, dass die einzelnen Körperteile sehr einheitlich stilisiert und die Unterschiede zwischen Haus- und Wildschwein betont werden. Die Analyse eines Corpus mit aktuellen Werbeanzeigen (Abschnitt 4) und Cartoons (Abschnitt 5) ergibt, dass die weitaus meisten Darstellungen von Schweinen nur wenigen stereotypen Themen- kreisen angehören. 2. Zwischen Glücksschwein und Drecksau – die ambivalente Bewertung von Schweinen Schweinen werden bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, die dann als Grundlage zahlreicher Redensarten dienen. Etliche dieser Zuschreibungen beruhen jedoch auf einem Missverstehen von biologisch sinnvollen Verhaltensweisen. Am deutlichsten wird dies bei der ›Drecksau‹, die sich wohlig im Schlamm wälzt. Denn da Schweine keine Schweißdrüsen haben, brauchen sie im Som- mer eine kühlende Suhle, und die dabei aufgetragene Schlammkruste schützt vor Hautparasiten. Der missverstandene Ungehorsam von Schweinen führt zur Rede von der ›dummen Sau‹. Denn die sehr intelligenten Schweine können (oder genauer: könnten) zwar ebenso viele Kunststücke lernen wie Hunde, sind aber deutlich eigensinniger und akzeptieren den Menschen weniger leicht als ›Alphatier‹. Auch der Ausdruck ›faule Sau‹ verkennt artspezifische Eigenschaften. Wildschwei- ne legen zwar täglich viele Kilometer bei der Nahrungssuche zurück, ›gönnen sich‹ aber auch lange Ruhezeiten, um die sie der Mensch wohl beneidet. Sowohl bei der Nahrungsaufnahme als auch beim Sexualverhalten zeigen Schweine eine Hem- mungslosigkeit, die den Menschen zugleich fasziniert und abstößt. Die ›verfressene Sau‹ mit ihrem IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 128 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Futterneid gegenüber Artgenossen ist ein Paradebeispiel von rücksichtslosem Egoismus. Das Fressen von Kot und Aas liefert ein weiteres Motiv für die ›Drecksau‹, und dass beengt gehaltene Schweine sogar manchmal ihre eigenen Ferkel fressen, löst als unverstandener Kannibalismus starken Abscheu aus. Die ›geile Sau‹ wird verachtet, vermutlich aber auch heimlich beneidet. Als Zusammenfassung dieser vielen Vorwürfe bietet sich ein Blick auf die Liste der sieben Tod- sünden im Christentum an, die Papst Gregor I. (540-604) nach steigender Schwere ordnete. Ihr zufolge ist das Schwein ein extrem sündiges Tier, denn es begeht zumindest fünf Todsünden, und insbesondere die beiden schlimmsten: - Hochmut dieses sündhafte Verhalten scheint dem Schwein zu fehlen - Neid als Futterneid beim Schwein stark ausgeprägt - Zorn der verwundete Keiler gilt als Inbegriff rasender Wut - Trägheit ein Hauptvorwurf, weil das Schwein sehr ruhebedürftig ist - Geiz diese Verhaltensweise scheint bei Tieren nicht vorzukommen - Völlerei ein weiterer Hauptvorwurf gegen Schweine - Wollust auch diese schlimmste Todsünde begeht das Schwein mit Wonne Das verfressene Schwein nimmt bei guter Futterlage schnell zu, was den Züchter erfreut, aber auch die ›fette Sau‹ motiviert. Ferner sind Schweine sehr fruchtbar und können jährlich mit zwei Würfen rund 20-25 Ferkel aufziehen. Ihre Haltung ist einfach, denn Schweine wurden früher nur mit Küchenabfällen gefüttert und können sich ihr Futter auch selbst in Mischwäldern und auf ab- geernteten Feldern suchen. Dieser kinderreiche Allesfresser sicherte also seinem Besitzer einen bescheidenen Wohlstand, und wer den Sommer über ein Ferkel mästete, hatte im Winter zwei Speckseiten sowie reichlich Pökelfleisch als haltbare und hochkalorische Nahrung. Die Rede von der ›armen Sau‹ wird motiviert durch die oft sehr beengte Haltung von Schweinen sowie durch die Tatsache, dass ihr vom Menschen verordnetes ›Lebensziel‹ die Schlachtung ist (der heute oft lange Transporte vorangehen). Ein einschlägiger Reim lautet Du armes Schwein, du tust mir leid, du lebst ja nur noch kurze Zeit! Ein Sonderfall sind Hausschwein-Ferkel als Inbegriff des Kindchenschemas. Zahllose Glück- wunschkarten, Wandkalender und Gebrauchsgegenstände zeigen rosige, sauber geschrubbte Schweinchen, die durch ihr neugieriges und lebhaftes Verhalten entzücken. Das am häufigsten gezeigte Motiv ist ein Ferkel, das aus einem Behälter (Korb, Eimer, Bodenvase oder dgl.) hervor- lugt, sich mit seinen zierlichen Klauen am Rand festhält und oft noch von Blumen umgeben ist. Hier hat der ehemals wilde und gefürchtete Keiler den unüberbietbaren Endpunkt seiner Domes- tizierung erreicht: niedlich, handlich, unbedrohlich und ästhetisch makellos. Ebenso ungefährlich sind Glücksschweinchen aus Marzipan – man kann sie verzehren, ohne sich den Fährnissen von Kampf und Tötung auszusetzen. Eine Bildserie aus dem Jugendbuch Rennschwein Rudi Rüssel belegt, wie komplex die Mimik von Schweinen ist (vgl. Abb. 1). Obwohl im Unterschied zum Menschen auch die Ohren wichtige IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 129 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Abb. 1: Mimikvarianten des Hausschweins, aus: Timm 1993: 48 Stimmungsträger sind, erkennen wir spontan, ob das Schwein neugierig, ärgerlich oder ängstlich ist. Auch der Schwanz von Schweinen drückt (ebenso wie bei Hunden und Katzen) ihre Stimmung aus. Diese Tatsache hat Georg Christoph Lichtenberg zu einer Parodie auf die von Johann Kas- par Lavater erneuerte Physiognomik angeregt. Diese nahm an, man könne den Charakter eines Menschen an seinem Äußeren ablesen, vor allem an seinen Gesichtszügen. Strikt parallel stellt Lichtenberg in seinem Fragment von Schwänzen (1783) einige Schweineschwänze vor, an deren Krümmungen und Borsten er Geschlecht, Charakter und Schicksal der Schweine abliest. So stellt er bei einem Schweins-Jüngling ›mutterschweinische Weichmut‹ und ›keimendes Korn von Keiler- Talent‹ fest, aber auch die Tatsache, er sei ›bereits zu Mettwurst bestimmt‹ (Lichtenberg 2000: 3. Band, 533-538). Bei den Körperteilen lässt sich tabellarisch aufführen, wie jeder von ihnen als Grundlage von Re- densarten dient. Die gegenläufigen Formulierungen ›die Ohren spitzen‹ vs. ›die Ohren hängen lassen‹ sind nicht artspezifisch für Schweine, sondern treten bei vielen Säugetieren auf. Und der geringelte vs. herabhängende Schwanz kommt nicht in Redensarten vor, sondern drückt in Bil- dern die Grundstimmung des Schweins aus. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 130 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON - Kopf massig ›Schweinskopf‹ - Augen klein, im Fett verborgen ›Schweinsäuglein‹ - Backen dick ›Schweinebacke‹ - Rüssel ständig schnobernd ›seinen Rüssel überall hineinstecken‹ - Ohren hochgereckt ›die Ohren spitzen‹ (nicht spezifisch) - Ohren herabhängend ›die Ohren hängenlassen‹ (nicht spezifisch) - Speckschicht dick ›fette Sau‹ - Schwarte fest ›eins auf die Schwarte kriegen‹ - Schwanz geringelt fröhlich (im Bild) - Schwanz herabhängend traurig (im Bild) Redensarten zu Verhaltensweisen haben sehr unterschiedliche Motivationszusammenhänge. In den einfachsten Fällen wird das normale Verhalten eines Schweins einem Menschen zugeschrieben, linguistisch gesprochen also von der Ursprungsdomäne (Schwein) auf die Zieldomäne (Mensch) übertragen. Wer etwa ›(fr)isst wie ein Schwein‹, nimmt seine Nahrung gierig und geräuschvoll zu sich. Vermutlich bringt er auch die Damasttischdecke in Gefahr und hat wenig Zeit für gepflegte Tischgespräche. Die Übertreibung ›fressen, bis die Schwarte kracht‹ schillert zwischen Mensch und Tier – gemeint ist ja eigentlich ein Mensch, der wegen fahrlässiger Vergrößerung seines Le- bendgewichtes aus allen Nähten platzt. Da Hausschweine vergleichsweise schreckhaft und keine Fluchttiere wie etwa Pferde sind, beschreibt der ›Schweinsgalopp‹ ein ungeordnetes und unge- schicktes Rennen. Auch das schweinetypische Suhlen im Dreck wird auf Menschen übertragen, die sich zu ausführlich sozial verpöntem Handeln hingeben, etwa ›sich in Selbstmitleid suhlen‹. Wesentlich allgemeiner ist die Redensart ›sich wie ein Schwein aufführen‹. In ihr geht es nicht nur um Verfressenheit, sondern um vielerlei Untugenden wie Unordnung, Unsauberkeit und sexuelle Hemmungslosigkeit. Hier und in ähnlichen Fällen gewinnt man den Eindruck, dass das Schwein das psychoanalytische Es symbolisiert, also in uns allen ein Schwein mit den aufgelisteten Lastern haust. Wenn es Morgenluft wittert, benehmen Menschen sich entsprechend: Sie ›lassen die Sau raus‹, ›spielen die wilde Sau‹ oder handeln ›wie von der wilden Sau gebissen‹. Als äußerste Stei- gerung kann man ›sich benehmen wie eine Sau an Fastnacht‹, denn hier tritt das tierische Fehl- verhalten ausgerechnet in einer Zeit auf, in der auch im Menschenreich das Unterste nach oben gekehrt wird und die Schranken von Moral und Konvention überschritten werden. Kontrastierend zu ergänzen ist, dass andere Schweinedarstellungen den umgekehrten Weg ge- hen und eine Versöhnung mit dem ›inneren Schwein‹, also dem vorher abgespaltenen Teil des Selbst anstreben (siehe die Monographie Der Heilige und das Schwein von Abt-Baechi 1983). Ein berühmtes bildliches Beispiel ist die letzte Episode Klausnerleben und Himmelfahrt von Wilhelm Buschs Bildergeschichte Der Heilige Antonius von Padua (1870). Ein Wildschwein schließt sich freiwillig dem Eremiten an, schnobert eine Quelle auf und findet Trüffeln für beide. Nach langer friedlicher Gemeinschaft sterben sie gleichzeitig und kommen trotz der Einwände von Juden und Türken dank der Fürsprache Marias in den Himmel. Die unvergesslichen Schlusszeilen lauten Da grunzte das Schwein, die Englein sangen; So sind sie beide hineingegangen. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 131 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Robert Gernhardt hat sie als Titel der von ihm herausgegebenen Wilhelm-Busch-Ausgabe (Busch 2000) gewählt. Die negativen Bewertungen des Schweins sind so zahlreich und so vielfältig, dass man in einem geistigen Salto mortale sogar dem Tier selbst unterstellt, es würde sich für sein eigenes Wesen und das seiner Verwandten schämen. Ein Beleg ist das folgende Scherzgedicht: Der Eber ist stets missgestimmt, weil seine Kinder Ferkel sind. Nicht nur die Frau, die Sau alleine, auch die Verwandtschaft: alles Schweine! Zahlreiche Redensarten beruhen auf Missverständnissen oder böswilligen Unterstellungen. Vor allem ›schwitzen wie ein Schwein‹ widerspricht völlig den Tatsachen, denn Schweine haben keine Schweißdrüsen und brauchen daher eine Suhle, um sich abzukühlen. ›Hier sieht es ja aus wie im Schweinekoben!‹, werfen genervte Eltern ihren Kindern vor, obwohl Schweine ihre Koben sauber halten und sorgfältig in Fress-, Ruhe- und Kotplätze einteilen, insofern man ihnen genügend Platz zugesteht. Folglich fällt auch ›stinken wie ein Schwein‹ auf den Menschen zurück, denn bei guter Haltung mit viel Auslauf sind Schweine sehr reinlich. Dasselbe gilt für den ›Saufraß‹ – dauernd im Stall gehaltene Schweine wurden oft nur mit allerlei Abfällen gefüttert, während das Wildschwein ein ausgesprochener Feinschmecker ist, der ganz bestimmte Eichel-, Mais- und Kartoffelsorten bevorzugt und bei guter Futterlage andere Sorten verschmäht. Die Redensart ›bluten wie ein (angestochenes) Schwein‹ erinnert an Hausschlachtungen, ist also nur für ältere Menschen und solche mit bäuerlichem Hintergrund noch in der Alltagserfahrung verankert. Auch ›wie eine gesengte Sau rennen / schreien / quieken‹ beruht auf sehr spezifischer Erfahrung, denn hier ist das angeschossene Wildschwein gemeint. In noch weiterer Übertragung können Menschen dann ›wie eine gesengte Sau (Auto oder Ski) fahren‹ (vgl. die ›Rennsau‹ und ›Pistensau‹ in Abschnitt 5.1). Die politisch wenig korrekte Charakterisierung ›dumm wie Bohnenstroh‹ vergleicht die betreffende Person mit etwas Unbelebtem, das gar nicht intelligent sein kann. Ihre rüde Steigerung ›dumm wie Schweinemist‹ wählt als Vergleichsobjekt ein Abfallprodukt des Organischen, das noch dazu ›anrüchig‹ im wörtlichsten Sinn ist. Es wurde bereits skizziert, dass das fruchtbare und genügsame Schwein seinem Besitzer zu be- scheidenem Wohlstand verhilft. Daher sorgte das Ferkel als Trostpreis früherer Lotterien zwar für Spott, war aber ansonsten durchaus willkommen – sein Gewinner hatte ›noch mal Schwein gehabt‹. Folglich wurde das Schwein zum Glückssymbol, was sich in Redensarten wie ›Glücks- schwein‹, ›Schwein haben‹ und ›Sauglück‹ spiegelt. In etlichen herabmindernden Redensarten steht ›Schwein‹ oder ›Sau‹ statt ›irgendein Mensch‹: IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 132 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON - es war kein Schwein da - das interessiert doch kein Schwein - es guckt mal wieder keine Sau - das kann doch kein Schwein lesen - das versteht doch kein Schwein Noch drastischer sind Redensarten, in der die Sau für das denkbar Schlechteste steht: Etwas ›ist unter aller Sau‹ oder man macht ›jemanden zur Sau‹. Zusammenfassend stellt man also eine beispiellose Ambivalenz der Zuschreibungen fest (der ein- zige annähernd vergleichbare Fall ist die Katze, deren Image zwischen anmutig und verschlagen, zwischen verehrter Mäusejägerin und unheimlichem Hexentier schillert). Dies belegt insbesondere die Verwendung der Vorsilbe ›sau-‹ als Steigerung von sehr Gutem und sehr Schlechtem: Man fühlt sich ›sauwohl‹, bewundert etwas als ›saugeil‹, findet aber auch andere (Menschen!) ›saublöd‹. Es erforderte eine eigene umfangreiche Monographie, die vielen Redensarten und Sprichwörter zum Schwein zusammenzutragen (siehe etwa Dannenberg 1990: 197-205). Da es hier um visuelle Stilisierungen geht, seien nur exemplarisch einige aufgelistet, um die Bandbreite der Zuschreibun- gen anzudeuten: - Jede Sau nennt ihre Ferkel schön. - Wo haben wir denn zusammen Schweine gehütet? (= Seit wann duzen wir uns denn?) - Perlen vor die Säue werfen (= seine Talente an falscher Stelle vergeuden) - Sauglocken läuten (= Zoten erzählen) - Wer sich unter die Kleie mengt, den fressen die Säue. - Man kann nicht den Speck essen und das Schwein behalten wollen. 3. Von Rüsselscheibe bis Ringelschwanz – Schweine aus der Sicht des Zeichners Aus Sicht eines Zeichners sind Schweine ein ›gefundenes Fressen‹, denn jeder ihrer Körpertei- le lässt sich gut stilisieren. Als Ausgangspunkt der Betrachtungen bietet sich die Definition des Schweins im Deutschen Universalwörterbuch (Dudenredaktion 2001: 1420) an: »kurzbeiniges Säu- getier mit gedrungenem Körper, länglichem Kopf, rüsselartig verlängerter Schnauze, rosafarbener bis schwarzer, mit Borsten bedeckter Haut und meist geringeltem Schwanz«. Es fällt auf, dass diese Passage nur das unmittelbar Sichtbare beschreibt und keine zoologischen Einteilungskrite- rien wie ›Paarhufer‹ oder ›Nicht-Wiederkäuer‹ verwendet. Die meisten Zeichnungen zeigen Hausschweine, die der Definition besonders gut entsprechen. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 133 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON - Körper walzenförmig - Beine säulenartig, wenig gegliedert - Haut borstig oder glatt - Farbe rosa oder gescheckt, selten einfarbig dunkel - Augen klein - Rüssel unverhältnismäßig dick (bis zur halben Kopfbreite) - Ohren traurig hängend vs. fröhlich/neugierig hochgereckt - Schwanz traurig hängend vs. fröhlich geringelt Am typischsten für das Schwein ist die runde Rüsselscheibe mit den beiden Nasenlöchern (Bei- spiele aus der Werbung in Abschnitt 4.1, aus Cartoons in Abschnitt 5.6). Dies belegen am deut- lichsten zahlreiche Glückwunschkarten, die lediglich eine Rüsselscheibe in Frontalansicht zeigen. Die Realisierungen reichen von der stark beschönigenden Zeichnung mit Goldflitter und Stern- chen bis zum sehr realistischen Foto von einem verdreckten Rüssel. Der Rüssel ist also das ein- deutigste ›Kürzel‹ des Schweins, weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz folgt das Kennzeichen seiner Hinterseite – der Ringelschwanz. Nicht nur graphisch, auch zoologisch ist der Rüssel etwas Besonderes. Von allen Sinnesmodalitäten des Schweins ist sein Geruchssinn am leistungsfähigs- ten. Der Rüssel eignet sich aber nicht nur zum Wühlen und Schnüffeln, sondern auch zum feinsten Tasten (was sich beobachten lässt, wenn zahme Schweine sorgsam auch kleinste Krümel von Leckerbissen von der flachen Hand aufnehmen). Beim Vergleich der Stilisierungen von Haus- und Wildschwein bemerkt man komplexe Beziehun- gen zwischen den Rassen- und Geschlechtsstereotypen. So erzählen einige Bilderbücher von ›Mischehen‹ zwischen Wildschwein-Keiler und Hausschwein-Sau, nie verliebt sich umgekehrt ein Hausschwein-Eber in eine Wildschwein-Bache (detaillierte Analyse sowie eine Fabel mit umge- kehrtem Ausgang in Schmauks 2004). Texte und Bilder ordnen den Schweinen elementare For- men und Farben zu. Die Säue sind rund, drall, glatt und rosig, die Keiler kantig, muskulös, borstig und dunkel. Diese Dichotomie betrifft sogar Details. So haben alle Keiler durch stilisierte Borsten eine zackige Kontur und ihre bedrohlich spitzen Hauer heben sich deutlich vom dunklen Fell ab. Diese konstante Assoziation von ›Wildheit‹ mit spitzen Formen und ›Zahmheit‹ mit runden Formen ist ein Sonderfall eines gestaltpsychologisches Gesetzes, das Wolfgang Köhler in den 1920er Jah- ren empirisch bewies. Er stellte Versuchspersonen die Aufgabe, abstrakten Formen die Ausdrücke ›Maluma‹ und ›Takete‹ zuzuordnen. Alle wählten sprachunabhängig ›Maluma‹ für runde und ›Ta- kete‹ für spitze Formen, was belegt, dass wir auch Phoneme als ›rund‹ vs. ›spitz‹ empfinden und folglich anhand transmodaler Ähnlichkeiten zwischen Klängen und Formen argumentieren. 4. Stilisierungen des Schweins in der Werbung Ein semiotischer einfacher Fall sind Schweine in Anzeigen, die Futter und Medikamente für Schweine bewerben. Werbung für solche Produkte ist meist nüchtern-informativ, nur eine Zei- tungsannonce für Schweinefutter der Firma Schaumann enthält den witzigen Schattenwurf einer IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 134 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Abb. 2: Künftige Ferkel werfen ihre Schatten voraus, aus: Bauernzeitung, 5.11.2004: 27 Muttersau, der auch die künftigen Ferkel zeigt (Abb. 2, Bauernzeitung, 5.11.2004: 27). Sie sugge- riert, das Futter garantiere auch Fruchtbarkeit und gesunden Nachwuchs. Die weitaus meisten der gesichteten Werbeanzeigen zeigen zwei Hauptfunktionen der dargestell- ten Schweine: Sie weisen auf günstige Einkaufsmöglichkeiten hin (4.1) oder preisen sich selbst als Lieferanten von schmackhaftem Fleisch an (4.2). Abschnitt 4.3 beschreibt als Einzelfall eine Verbraucherinformation, in denen die Schweine durch eine Mimik überraschen, die unseren Intu- itionen widerspricht. Als Gegenbild zu all den freundlichen Haus- und Sparschweinen dient das Wildschwein, das mit Ausdrücken wie ›Aggression‹ und ›Kampf‹ assoziiert wird und daher in Wer- beanzeigen auftritt, die Angriff oder Konkurrenz thematisieren (Abschnitt 4.4). 4.1 Themenkreis ›Schnäppchen‹ Auf Werbeanzeigen und -plakaten tummeln sich zahlreiche Schweine, die auf die preiswerten Waren hinweisen oder zu ihnen rennen. Häufig sind es Sparschweine, erkennbar am Geldeinwurf- schlitz auf dem Rücken. Charakteristisch für alle Varianten ist die fröhliche und kommunikative Mimik der Schweine, denn durch Lächeln und Blinzeln versuchen sie den Betrachter davon zu überzeugen, ein wie gutes Geschäft er mit dem Kauf machen wird. Das Schwein wurde also zum bevorzugten Symboltier aller Schnäppchenjäger und zum bildlichen Pendant des Schlagworts ›Geiz ist geil‹, wobei genau dieser Sparwahn am falschen Platz die Abb. 3: Der Rüssel als Wählscheibe, aus: Audimax 2003 (2-3): 7 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 135 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON wenig artgerechten Bedingungen der Massentierhaltung erhält und verschärft – denn artgerechte Haltung hat bzw. hätte natürlich ihren Preis. Für graphische Späße eignet sich insbesondere der schweinetypische Rüssel, dessen Rüssel- scheibe leicht zum Kreis oder Oval stilisierbar ist. Da man explizit von ›Steckdosenschnauzen‹ spricht, also das lebendige Tier durch eine elektrotechnische Analogie beschreibt, liegt es nahe, dass sein Rüssel auf einer Werbung für niedrige Strompreise zum Stecker wird (Titelbild vom Stern 35/1999). Oder die Rüsselscheibe wird zur Wählscheibe ausgestaltet, um für einen preiswerten Telefontarif zu werben (vgl. Abb. 3). 4.2 Themenkreis ›Selbstanbietung‹ Den zweiten Themenkreis könnte man summarisch ›Selbstanbietung‹ nennen. Wieder sind es fröhliche Schweine, die sich selbst auf Gasthaus- und Metzgereischildern als schmackhafter Bra- ten anpreisen; so zeigt Abbildung 4 tanzende Schweine auf einer Verpackungstüte für Wurst- waren. Mitunter sind sie gar in flottem Schweinsgalopp freudig zur Metzgerei hin unterwegs (ein Zyniker könnte hier von ›Kamikaze-Schweinen‹ sprechen, die ungeduldig und begeistert in den Tod gehen). In manchen Abbildungen klingt zugleich die ›geile Sau‹ an. So zeigt ein Plakat der ›Hauptstadtflei- scherei Wache‹ (Berlin) eine verführerisch posierende Sau, die ihre knappen Hot Pants lüpft und dem Betrachter ihre prallen Schinken zeigt. Ganz ähnlich verspricht auf einem Metzgerei-Plakat in Salzburg eine Sau ›Ich geh’ schon mal vor!‹. Ein Bildmotiv mit langer Geschichte sind Schweine, die das Besteck schon im eigenen Rücken mitbringen, um ihren Verzehr zu erleichtern. Es stammt aus dem Märchen vom Schlaraffenland, das seit Jahrhunderten immer wieder neu erzählt wurde, etwa von Hans Sachs (1494-1576) in seinem Gedicht Das Schlaraffenland Die Schweine, fett und wohlgeraten, laufen im Lande umher gebraten. Jedes hat ein Messer im Rück‘; damit schneid’t man sich ab ein Stück und steckt das Messer wieder hinein. Abb. 4: Verpackungstüte für Wurstwaren IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 136 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Abb. 5: Grund zur Freude?, aus: 3 Minuten Information: Vom Schwein. Informationsgemeinschaft für Meinungspflege und Aufklärung In Werbeanzeigen, die dieses Thema phantasievoll ausbauen, baden Schweine etwa in würziger Sauce, um ihren eigenen Geschmack weiter zu verbessern (Hüllenhagen Feinschmecker-Journal 11/2002: 7). Solche Bilder scheinen zwei miteinander verknüpfte Aussagen zu suggerieren. Zum einen wird dem Kunden wohlschmeckendes Fleisch versprochen, das zu seiner gesunden Ernäh- rung beiträgt. Zugleich wird aber sein möglicherweise zuckendes Gewissen beschwichtigt, denn das Lebensziel dieser fröhlichen Tiere scheint ja gerade darin zu bestehen, nach ihrem Tod mit Genuss verzehrt zu werden. 4.3 Themenkreis ›Verbraucherinformation Schweinefleisch‹ Eine Broschüre, die den Verbraucher über Schweinefleisch informiert, zeigt in Gegenüberstellung stilisierte Schweine früher und heute (vgl. Abb. 5). Überraschend und intuitiv schwer verständlich ist hier deren Mimik. Heutige Schweine werden zwar besser gehalten, leben aber auch nur ein halbes Jahr statt drei Jahre. Soll man aus dieser Gegenüberstellung folgern, dass die Tiere selbst sich darüber freuen, dass sie nun kürzer leben als früher? Angesichts mancher Haltungsbedingungen könnte der Mensch einen ›Todeswunsch‹ der Tiere zwar nachvollziehen – speziell als Verbraucherinformation wäre dieses zynische Fazit aber wohl kaum erfolgreich. 4.4 Themenkreis ›Wildschwein‹ In der Einleitung wurde bereits ausgeführt, dass Wildschweine das letzte wehrhafte Wild in mittel- europäischen Wäldern sind. Vor allem den Keilern sagt man große Aggressivität und Kraft nach, obwohl Bachen sie bzgl. Angriffslust und Tapferkeit noch übertreffen, wenn sie ihre Frischlinge in Gefahr sehen. Folglich liegt es nahe, das Stereotyp des wilden Keilers auch in der Werbung zu ver- IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 137 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Abb. 6: Werbung als aggressiver Angriff wenden. Eine Gratispostkarte der Deutschen Post Consult GmbH (vgl. Abb. 6) wirbt für Postkarten als unaufdringliche Werbeträger und bezeichnet andere Werbung als ›aggressive Keilerei‹. Ganz ähnlich zeigt eine Werbeanzeige für die Fernsehsendung ›Wahlkampf live‹ von N24 zwei kämpfende Warzenschweinkeiler, die ihre mächtigen Schädel gegeneinander stemmen (Süddeut- sche Zeitung vom 10.9.2002). 5. Stilisierungen des Schweins im Cartoon Nicht nur zahllose einzelne Cartoons verwenden Schweine als Protagonisten, sondern für Zeich- ner wie Michael Sowa, Marunde, Haitzinger, Tetsche, F.K. Waechter, Hans Traxler und Gerhard Glück ist das Schwein sogar eine Art ›Wappentier‹. In diesem Abschnitt werden einige Themen- kreise vorgestellt, die immer wieder vorkommen. 5.1 Themenkreis ›Redensarten wörtlich genommen‹ Der linguistische Fachausdruck ›Demetaphorisierung‹ bezeichnet Fälle, in denen metaphorische Redensarten (wieder) wörtlich genommen werden. Im Kontext von ›Schweinereien‹ liegt diese Technik nahe und wird außerordentlich häufig eingesetzt, wie die anschließende kursorische Auf- listung von typischen Beispielen zeigt. ›die Sau rauslassen‹ Wie in Abschnitt 2 ausgeführt, schlummert in uns allen eine Sau als Verkörperung des triebhaften Es, die darauf lauert, herausgelassen zu werden. Ein Cartoon von Marunde (Postkarte) zeigt eine geradezu ›rekursive‹ Szene, denn hier lässt die dargestellte Sau ihrerseits ›die Sau raus‹. Selbige, IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 138 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON in den Pedalen stehend, mit Rennfahrerbrille und ›WROUM, WROUM!‹ rufend, lenkt gerade auf- gekratzt ein Fahrrad halsbrecherisch durch eine Kurve, während ein Hahn sich verzweifelt am Ge- päckträger festklammert und sich selbst vorwirft: ›Ich hätte die Sau niemals rauslassen dürfen...‹ Der Betrachter denkt hier spontan an die ›Rennsau‹ und die ›Pistensau‹ (siehe unten). Demetaphorisierungen der Redensart ›die Sau rauslassen‹ tauchen in vielen weiteren ganz unter- schiedlichen Zusammenhängen auf (die folgenden drei Beispiele betreffen Fotos, keine Cartoons). Auf einer Postkarte des Tierschutzbundes steht eine völlig verdreckte Sau in einem nur körper- breiten Stall und die Bildunterschrift fordert ›Lasst die Sau raus!‹. Ein Faltblatt der Biobauern- Organisation Neuland verspricht ›Wir lassen die Sau raus‹, und auf dem Foto streift eine ›befreite‹ (und folglich saubere!) Sau bereits neugierig über ihre Weide. Derselbe Text gewinnt eine völlig gegenläufige Bedeutung auf einer Postkarte mit dem zynisch wiederverwerteten Foto einer her- kömmlichen Hausschlachtung, denn hier trottet die Sau ahnungslos dem Metzger entgegen, der bereits mit dem Holzhammer wartet. ›Kein Schwein hört mir zu‹ In einem Cartoon von Tetsche (Stern 46/2001: 186) stammt diese Klage von einem Patienten, der entsprechend dem klassischen Freud’schen Setting auf der Couch liegt und offenbar unaufmerk- sam ist, denn hinter ihm sitzt ein Schwein und hört (mit verständlicherweise indignierter Miene) zu. Auch die Gans in einem Cartoon von F.W. Waechter (Postkarte), die Kopfstand in einem Stiefel macht, liegt falsch mit ihrer Vermutung ›Wahrscheinlich guckt mal wieder kein Schwein‹, denn das sie beobachtende Schwein äußert gerade ein bewunderndes ›Toll!‹. ›Männer sind Schweine‹ Wieder muss die Psychiatrie den Diskursrahmen liefern, denn diesen verbitterten Vorwurf äußert auf einer Postkarte von Tetsche eine Sau auf der Therapiecouch. Kritik am vermeintlichen Sexis- mus dieses Cartoons hinkt den Fakten hinterher, denn auf einer bzgl. Geschlechtsstereotypen spiegelbildlichen Karte beklagt sich ein Ziegenbock ›Alle Frauen sind Zicken!‹. ›Wellness-Farm‹ Ein weiterer Cartoon von Tetsche (vgl. Abb. 7, Postkarte) holt den Lifestyle-Ausdruck ›Wellness- farm‹ zurück ins äußerst Bodenständige, denn die ›farm‹ ist wieder ganz rustikal der Bauernhof, und ›wellness‹ wird konsequent schweinisch gedeutet als ›lustbetont‹. ›fahren wie eine Wildsau‹ Diese Redensart bemüht die wilden Verwandten des Hausschweins. Denn wer dafür berüchtigt ist, Mais- und Kartoffeläcker zu verwüsten, wird bei Besitz eines Autos auch ›fahren wie eine IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 139 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Abb. 7: Eine tierische Wellnessfarm , Postkarte Wildsau‹ bzw. sich als ›Rennsau‹ gebärden (Haitzinger, Bunte 11/2004: 145). Eine ganz ähnliche Rücksichtslosigkeit fürchtet man an der ›Pistensau‹ (Johanna Ignjatovic, Playboy 3/2000: 81). ›schwule Sau‹ Gar kein Vorbild in der tierischen Ursprungsdomäne hat das homophobe Schimpfwort ›schwule Sau‹. Aber da das Schwein der Inbegriff aller Schlechtigkeiten ist, kann man der (weiblichen!) Sau sogar eine ›Perversion‹ nachsagen, die definitionsgemäß zwischen Männern stattfindet. Eine Postkarte von Enny Schouten verwandelt diesen Vorwurf in einen selbstbewussten und solidari- schen Gruß von den Gay Games 1998 in Amsterdam. Michael Sowas Suppenschwein (Postkarte) setzt den Vorwurf des ›Dreckschweins‹ einprägsam ins Bild um: Ein nur spannenlanges Schwein, das dreist den Betrachter beäugt, plantscht fröhlich in einem Teller Suppe herum und hat dabei bereits das ganze Tischtuch und die adrett gefaltete Serviette bekleckert. Die drallen und eher weiblichen Rundungen des Hausschweins motivieren zu einer Vielzahl von sexuellen Anspielungen. In einem Cartoon von Tetsche (Stern 3/2002: 70) wird die aus Schnee geformte Figur eines unübersehbar weiblichen Schweines kommentiert mit ›Echt coole Sau!‹. Eine andere Zeichnung holt die Formulierung ›Schweinelendchen im Kräuterbeet‹ aus der Speisekarte zurück ins Reich des Lebendigen, denn auf der Zeichnung schäkert ein verliebtes Schweinepär- chen im Grünen (Playboy 5/1999: 87). Die Beispiele im nächsten Abschnitt thematisieren die Ge- genrichtung dieser Verwandlung. 5.2 Themenkreis ›Verwandlung von Tier in Fleisch‹ Während die fröhlichen Schweine auf Gasthaus- und Metzgereischildern (vgl. Abschnitt 4.2) dem Käufer gegenüber die Realität der Schweineproduktion verschleiern, stellt ein Cartoon unverblümt IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 140 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON dar, wie ein lebendes Tier in Fleisch verwandelt wird (Süddeutsche Zeitung vom 10./11.5.2003: 2). Der Körper ist bereits in Scheiben zerschnitten, das Schwein starrt auf ein bereits ausgelöstes Kotlett (Abb. 8). Diese abstrakte Darstellung der Fleischscheiben ist am ehesten in einem Kultur- kreis möglich, in dem zerteiltes und hygienisch verpacktes Fleisch keinen Gedanken an den le- benden Produzenten mehr auslöst (während in Landmetzgereien des Mittelmeerraums auch heute noch ganze Schweine und Hammel hängen). Die graphische Realisierung erinnert an Maurits C. Eschers Überlagerungsbilder, auf denen mehrere Bildmotive einander durchdringen. Zynische Darstellungen dieses Typs sind ein medienübergreifendes Phänomen; so beschreibt der Schweine-Tango von Dieter Hallervorden lebende Tiere durchgehend mit Fachausdrücken aus dem Fleischerhandwerk, etwa in den Zeilen: [...] Wiegt sich Schweinebauch an Schweinebauch im Takte das geht beiden ins Ragout und ins Gehackte. [...] Ihr geht sein Flachsen bis in die Haxen ›Liebling, dein Bauchspeck ist so wunderbar durchwachsen!‹ [...] Der alte Eber nennt sie ›mein Püppchen‹ legt ihr charmant sein Eisbein um ihr Kassler Rippchen. [...] Er schwört ihr Liebe zwei- drei- und vierfach: ›Ich werd dich immer lieben, auch noch im Gefrierfach!‹ Das Restaurant ›Küchenfürst‹ in Großhesselohe wirbt in einer Zeitungsannonce (4/2005) mit ei- nem gekrönten Schwein, das in Anlehnung an der Froschkönig lockt: »Küss mich, ich bin ein verzaubertes Cordon Bleu!«. Und in einem Cartoon von Uli Stein (Postkarte) sagt ein Schwein mit Handy eine Verabredung mit folgender Begründung ab: ›Freitag ist ganz schlecht, da werde ich geschlachtet!‹. Mehrere Cartoons von Alexander Wolf (2001, alle o.S.) zeigen traurige Schweine, die ihr künfti- ges Schicksal vorhersehen. Sie haben Albträume von ihrer Verwurstung, sind bereits halb in eine Wurst verwandelt oder beweinen einen bereits in Wurst verwandelten Artgenossen. Ähnlich be- klemmend ist der Cartoon in Abbildung 9 (Johann Mayer in Die Zeit 44, 2004: 72): Zwei Schweine, einander umarmend, bitten den hinter seiner Theke stehenden Metzger ›Wir möchten zusammen in eine Wurst!‹ Interessanterweise sind auch Sparschweine vom Tod bedroht. In einem Cartoon von Lola König (Postkarte) schließt sich der Kreis vom lebenden Schwein zum Sparschwein und wieder zurück, denn vom Sparschwein ist durch heftigen Konsum nur noch das Gerippe übrig. Abb. 8: ... und ist Fleisch geworden IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 141 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Abb. 9: Im Tode vereint?! 5.3 Themenkreis Xenotransplantation Dass das Schwein dem Menschen physiologisch stark ähnelt, ist ihm noch nie gut bekommen. An ihm werden nicht nur Medikamente, Operationsverfahren und Sicherheitseinrichtungen auspro- biert, sondern auch alle neuen Waffen. Eine ganz neue Möglichkeit ist die Verwendung des Schweins als Organspender (sog. ›Xenotrans- plantation‹). Da die Organe des Schweins in Struktur und Größe denen des Menschen gleichen, arbeitet die Forschung intensiv daran, Schweine gentechnisch so zu verändern, dass ihre Organe vom menschlichen Körper nicht mehr abgestoßen werden. Sobald diese Probleme gelöst sind, stehen Schweine als ›Ersatzteillager‹ bereit (sogar für solche Menschen, die ihre eigenen Organe fahrlässig ruiniert haben). Es liegt nahe, dass Cartoonzeichner auch diese Entwicklung aufs Korn nehmen. In einem Cartoon von Til Mette (Stern 4, 2002: 100) teilt eine Frau ihrem bettlägerigen Mann mit ›Die Ärzte sagen, sie haben ein Spenderherz‹. Durch die halb geöffnete Tür sieht man einen Arzt, der ein durch den Gang flitzendes Schweinchen einzufangen versucht. Ein Szenario desselben Zeichners (vgl. Abb. 10) schlägt eine Art ›Chimäre‹ vor, um die besonderen ethischen Probleme von Vegetariern zu lösen. 5.4 Das Schwein als Rächer der Enterbten Gerade Cartoonzeichner sind oft besonders sensibel für die von Menschen erzeugten Leiden von Lebewesen, die selbst keine Stimme haben. Eine bildliche Antwort auf die vielen sich selbst anbie- IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 142 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Abb. 10: Ein einz’ges Herz schlägt, ach, in uns’rer Brust..., aus: Stern 51/2002: 70 tenden (Abschnitt 4.2) oder in Fleisch verwandelten Schweine (Abschnitt 5.2) sind darum Schwei- ne, die den Kampf mit dem Metzger wagen. Sie schreiben nachts mit blutroter Farbe ›Schwei- nemörder‹ auf seine Schaufensterscheibe (F.K. Waechter, Postkarte), treten mit dem Schlachtruf ›Nur über meine Leiche!!!‹ seinem Stichmesser mit der Flinte entgegen (Papan, Postkarte) oder verteidigen sich mit der Pistole gegen einen riesigen Betäubungshammer (vgl. Abb. 11). 5.5 Verschweinung bekannter Gemälde Ein hier nur skizzierter Themenkreis, der einer eigenen Analyse bedürfte, ist die ›Verschweinung‹ von bekannten Gemälden, auf denen die porträtierten Menschen durch Schweine ersetzt wurden Abb. 11: Ab sofort wird zurückgeschossen, aus: Greser & Lenz, Raben-Kalender 2005, Blatt vom 1. September IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 143 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Abb. 12. Das anonyme Schlachten wird personalisiert (vgl. die Ausstellung ›Duckomenta‹, die zahlreiche Porträts wie die Mona Lisa als Enten zeigt). Wem der Ausdruck ›Verschweinung‹ zu flapsig klingt, der möge das weit wissenschaftlicher klin- gende Pendant ›Hyomorphisierung‹ verwenden (von griechisch ›hyos‹ = ›Schwein‹). So ist Volker Kriegels Cartoon Freitag, der Dreizehnte (vgl. Abb. 12) inspiriert durch Goyas Ge- mälde Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808, das die Hinrichtung spanischer Re- bellen während der napoleonischen Besatzung darstellt. Im Cartoon liest ein Metzger die aktuelle ›Todesliste‹ vor, und der Zeichner hat seinen drei Schweinen die theatralische Gestik von Goyas Todgeweihten verliehen, die das Spektrum möglicher Reaktionen ausdrücken, nämlich fassungs- lose Erstarrung, Verzweiflung oder Flehen um Gnade. In völligem Gegensatz zur Anonymität des industriellen Schlachtens, bei dem das einzelne Schwein nur Element einer Tagesserie ist, erhält es in diesem Cartoon ein Gesicht und damit ein unverwechselbares Schicksal. 5.6 Weitere Stilisierungen Die Fruchtbarkeit von Schweinen ist Grundlage des Cartoons ›Kindersegen‹ (Horsch in Süddeut- sche Zeitung vom 27.4.2005: 4). Hier säugt die Muttersau EU ihre zahlreichen Ferkel, und vom rechten Bildrand her (also aus der Zukunft, wenn man die Zeitrichtung ›abendländisch‹ deutet) springen zwei weitere Ferkel auf sie zu, auf deren Schwarte ihre Namen stehen, nämlich ›Rumä- nien‹ und ›Bulgarien‹. Insgesamt gesehen wird jedoch Fruchtbarkeit im Cartoon eher durch das noch fruchtbarere Karnickel ausgedrückt. Abb. 13: Ferne Welten, ferne Zeiten IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 144 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Ebenfalls zum Brutpflegeverhalten gehört die oft belegte ›Ammentätigkeit‹ von Schweinen. Von Wildschweinen ist bekannt, dass sie verwaiste Frischlinge derselben Rotte ›adoptieren‹ und ge- nauso liebevoll säugen, putzen und verteidigen wie ihre eigenen Jungen. Vom Menschen gehal- tene Schweine akzeptieren auch Adoptivkinder anderer Arten, sogar Tigerbabies sind schon von ihnen aufgezogen worden. Dieses Verhalten baut ein Cartoon von Ernst Kahl (Postkarte) zu einer ›Multi-Spezies-Familie‹ aus: Unter dem Titel Leihmutter Jolanthe säugt eine zufrieden daliegende Sau ein einziges Ferkel und fünf andere Jungtiere vom Kätzchen bis zum (allerdings nur ferkelgro- ßen) Elefantenbaby. Aus Sicht moderner Stadtmenschen gilt das Zusammenleben mit Schweinen als ausgesprochen hinterwäldlerisch. Dies kommt in einem Dilbert-Cartoon von Scott Adams zum Ausdruck, in dem die bärtigen und analphabetischen Bewohner des fernen Elbonien bis zur Taille im Schnee stehen, begleitet von einem bis zum Hals versunkenen Schwein (vgl. Abb. 13). Wie in Werbeanzeigen (Abschnitt 4.4) steht auch im Cartoon das Wildschwein, insbesondere der Keiler, für ungezügelte Wildheit. Diese Zuschreibung wird sogar von Hausschweinen geteilt. Auf einer Postkarte von Marunde kommentiert eine sich suhlende Sau das Herannahen einer Wild- schweinrotte mit dem Ausruf ›Mist! Indianer!‹ (vgl. Schmauks 2004: Abschnitte 3.2.2 und 4). Auf einer (äußerst schweinischen) Zeichnung von Reiser sieht man eine erschossene Bache sowie ei- nen vor Rachsucht rasenden und erkennbar erregten Keiler, der den Jäger mit dem Gesicht gegen einen Baum rammt, ihm die Hosen heruntergerissen hat und schreit: ›Du hast meine Frau getötet, du wirst sie ersetzen!‹. Auch einzelne Körperteile, insbesondere der Rüssel, dienen wieder für graphische Späße. So mutiert in einer politischen Karikatur die Rüsselscheibe eines Sparschweins zum Mercedesstern (Pepsch Gottscheber in Süddeutsche Zeitung vom 12./13.3.2005, S. 19), in einer anderen wird der Rüssel eines Sparschweins zum Geschützrohr und verweist auf Sparmaßnahmen der Bundes- wehr (›Strucks Feldzug‹, Horsch in Süddeutsche Zeitung vom 14.1.2004: 4). Eine Sau verwendet ihren Rüssel als Schnorchel, nachdem sie im Dorfteich untergetaucht ist, um dem Metzger zu entkommen (Marunde, Postkarte). Und der clevere ›Korky-Porky‹ schließlich benutzt seinen spi- ralförmigen Ringelschwanz als Korkenzieher (Wolf 2001: o.S.). Alles am Schwein – Fleisch, Schwarte, Borsten – ist ohnehin verwertbar, sogar die Ohren als Hun- despielzeug. Folglich bezeichnet der Ausdruck ›eierlegende Wollmilchsau‹ nicht nur eine nicht- existierende Chimäre, sondern auch einen äußerst unbescheidenen und unerfüllbaren Wunsch. Auf einem Cartoon von Murschetz (Süddeutsche Zeitung vom 12./13.11.2005: 4) eilt Angela Mer- kel zu einer wolligen Sau mit (Kuh)Euter, die bereits ein Ei gelegt hat. Auf ihrem Melkeimer steht das Kürzel für ›Mehrwertsteuer‹, und hinter der Stallwand wartet bereits Franz Müntefering mit dem Schermesser. ›Wenn Schweine Flügel hätten, wäre alles möglich‹, behauptet ein altes englisches Sprichwort. Vermutlich deshalb sind geflügelte Schweine ein beliebtes Bild- und Figurenmotiv. Der Reiz dieser Chimären, die man ›Pig-a-Sus‹ nennen könnte, liegt im Gegensatz zwischen einem so ungemein irdischen Tier mit unbezwingbarer Leidenschaft für Wühlen und Suhlen, und den hinzugefügten Flügeln, die mit Leichtigkeit, Himmel und Jenseits assoziiert werden (siehe etwa Abbildung 14, IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 145 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Abb. 14: Schweinehimmel Larson 1988: 10). Auch das Wildschwein, das bei Wilhelm Busch den Heiligen Antonius begleitet, ist nach seiner Verklärung geflügelt (siehe Abschnitt 2). Angesichts der oft winzigen Flügelchen fragt man sich, ob und wie die Flügelschweine sich überhaupt erheben könnten. Aber schließlich hat man auch lange gerätselt, warum Hummeln als recht schwere Insekten mit kleiner Flügelfläche überhaupt fliegen können. Erst Ende des 20. Jahrhunderts entdeckte man, dass sie beim Fliegen Wirbel erzeugen, die für den nötigen Auftrieb sorgen. Ein weiteres Beispiel für die Stilisierung einzelner Körperteile liefern die vielen Schweinepaare, die ihre ›passgenauen‹ Rüsselscheiben aufeinander drücken. Auf dem Titelbild des Buches Rosalie und Trüffel (Reider und Bücker 2004) küssen sich das Hausschwein-Mädchen Rosalie und der junge Keiler Trüffel – der Beginn einer von vielen angefeindeten ›gemischten‹ Beziehung (siehe die Detailanalyse in Schmauks 2004: Abschnitt 3.3). Abbildung 15 zeigt die Postkarte Küssende Abb. 15 Abb. 16 Abb. 15: Rosa Rüssel soll man küssen, denn zum Küssen sind sie da. Abb. 16: Das Happy-End von Rosalie und Trüffel IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 146 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Schweinchen von Anja Poretzki, während eine Werbekarte der Dating Community ›berlinerliebe‹ dieselbe Szene mit etwas naturalistischer gezeichneten Schweinen ins Bild setzt. Eine dieser Stilisierungen ist geradezu ›metaphysisch‹ und soll daher diesen Artikel beenden. Das letzte Bild des Buches Rosalie und Trüffel zeigt in Draufsicht ein aneinander gekuscheltes Schwei- nepaar und belegt, dass die beiden Protagonisten alle Anfechtungen überwunden haben (Abbil- dung 16, Reider und Bücker 2004: o.S.). Die helle Sau und der dunkle Keiler entsprechen dabei strukturell und farblich dem Yin-Yang-Symbol der chinesischen Philosophie (abgesehen davon, dass die Zuordnung von Farbe und Geschlecht vertauscht wurde) und drücken somit eine Versöh- nung aller Gegensätze aus, insbesondere der von Rasse und Geschlecht. Literatur Abt-Baechi, Regina: Der Heilige und das Schwein: zur Versöhnung von Geist und Natur. Eine tiefenpsychologische Untersuchung am Beispiel der Figur des ›Schweine-Antoni‹ oder des Hl. Antonius des Eremiten. Zürich [Daimon] 1983 Busch, Wilhelm: Da grunzte das Schwein, die Englein sangen. Ausgewählt und mit einem Essay von Robert Gernhardt. Frankfurt am Main [Eichborn-Verlag] 2000 Dannenberg, Hans-Dieter: Schwein haben. Historisches und Histörchen vom Schwein. Jena [Fischer] 1990 Dudenredaktion (Hrsg.): Deutsches Universalwörterbuch. 4., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u.a. [Dudenverlag] 2001 Hennig, Rolf: Schwarzwild: Biologie, Verhalten, Hege und Jagd. München [BLV] 1998 Larson, Gary: Night of the Crash-Test Dummies. Kansas [Andrews and McMeel] 1988 Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe in vier Bänden. Frankfurt am Main [Zweitausendeins] 1994 Meynhardt, Heinz: Schwarzwild-Report. Melsungen [Neumann-Neudamm] 1984 Möllers, Florian: Wildschweine. Stuttgart [Franckh-Kosmos] 2003 Reider, Katja und Jutta Bücker: Trüffel und Rosalie. Eine Geschichte vom Glück. / Rosalie und Trüffel. Eine Geschichte von der Liebe. München [Hanser] 2004 Schmauks, Dagmar: Teddy Bears, Tamagotchis, Transgenic Mice. A Semiotic Typology of IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 147 DAGMAR SCHMAUKS: RIPPCHEN, RÜSSEL, RINGELSCHWANZ. STILISIERUNG DES SCHWEINS IN WERBUNG UND CARTOON Artificial Animals. In: Sign System Studies 28, 2000. S. 309-325 Schmauks, Dagmar: Künstliche Tiere. In: Bernard, Jeff und Withalm, Gloria (Hrsg.): Mythen, Riten, Simulakra. Semiotische Perspektiven. Akten des 10. Internationalen Symposiums der Österreichischen Gesellschaft für Semiotik (Wien 2000). Wien [ÖGS] 2001, S. 1151-1175 Schmauks, Dagmar: »Der Keiler sprach zur Sau: ›Wir werden Mann und Frau!‹«. Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechtsstereotypen im Bilderbuch. In: Kodikas 27, 2004, S. 127-141 Timm, Uwe: Rennschwein Rudi Rüssel. München [dtv] 1993 Wolf, Alexander: Cartoons. Graz u.a. [Styria] 2001 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 148 [Inhaltsverzeichnis] Beatrice Nunold Landschaft als Immersionsraum und Sakralisierung der Landschaft Abstract All media are immersion media. They require a permanent focus of attention and fade out reality. A total immersion will be constructed. Since the invention of panorama in the 18th century, the landscape is an experimental object as illusion or immersion space. A famous representative is the artist Caspar David Friedrich. In early Romanticism, the subject of stage becomes a distinguished object of reflection: The possibilities of illusion become a subject. The sacralisation of landscape is completely pronounced and reflected on the highest level. Subsequently, the sacralisation turned into a stylistic device of landscape presentation. The stylistic device is used manipulatively, e.g. in the film The Lord of the Rings, to implicate the viewer optically, emotionally and mentally in the immersion space. Alle Medien sind Immersionsmedien. Sie fordern eine anhaltende Fokussierung der Aufmerksam- keit und ein Abblenden der Wirklichkeit. Gearbeitet wird an einer totalen Immersion. Spätestens seit Erfindung des Panoramas im 18. Jh. wird mit der Landschaft als Illusions- oder Immersions- raum experimentiert. Ein hervorragender Vertreter innerhalb der Kunst ist Caspar David Friedrich. In der Frühromantik wird das Thema der Inszenierung zum ausgezeichneten Gegenstand der Re- flexion. Die Illusionsmöglichkeiten werden selbst zum Thema. Die Sakralisierung der Landschaft finden wir hier nicht nur voll ausgeprägt, sondern auf höchstem Niveau reflektiert. In der Nachfolge ist die Sakralisierung zu einem Stilmittel der Landschaftsdarstellung geworden. Das Stilmittel wird bewusst manipulativ eingesetzt, so etwa im Film Der Herr der Ringe, um die Betrachtenden op- tisch, emotional und mental in den Immersionsraum hineinzuziehen. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 149 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT 1. Immersion In einem gewissen Sinne sind alle Medien Immersionsmedien. Sie fordern eine anhaltende Fo- kussierung der Aufmerksamkeit und ein momentanes vollständiges oder teilweises Abblenden der eigenen und umgebenden Wirklichkeit (z. B. beim Lesen, Fernsehen etc.). Die Geschichte der Medien ist auch eine Geschichte der fortschreitenden Immersionsmöglichkeiten und -zwänge. Das trifft ebenso auf Bild- und Schriftmedien, wie auf andere Arten der Inszenierungen zu wie auf religiöse Riten, Theater, Musik, Schaustellungen aller Art usw. (z.B. Museen, Erlebnisparks). Von der Felsenmalerei unserer Urahnen über die Erfindung der Hieroglyphen und der Schrift, der Zen- tralperspektive, des Buchdrucks, des Panoramas und seiner Weiterentwicklungen, über die Foto- graphie und den Film bis zu digital erzeugten virtuellen Realitäten nimmt das Immersionserlebnis zu. Gearbeitet wird an der Ermöglichung einer totalen Immersion. Immersion (lat. immergere) meint das Eintauchen oder Versinken in einer anderen Erlebniswelt. Eine totale Immersion setzt voraus, dass alle Bezüge zur realen Welt abgebrochen werden. Je perfekter die Ersatzstimuli der virtuellen Realität (VR) sind, desto mehr ist ein Mensch davon über- zeugt, dass alles real erlebt wird und »desto weniger kann der Mensch unterscheiden, ob er sich in einem eingetauchten (endo) oder einem aufgetauchten (exo) Zustand befindet.« (Schmidt 1999: 241) Fiktive Beispiele sind: Welt am Draht (BRD 1973, Regie: Rainer Werner Fassbinder, Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder und Fritz Müller Scherz ; Romanvorlage: Daniel F. Galouye 1964, Si- mulacrum 3), Tron (USA 1982, Regie: Steven Lisberger, Drehbuch: Steven Lisberger, Bonnie Mac- bird), Matrix (USA 1999, Buch und Regie: Andy Wachowski, Larry Wachowski) oder Gedichte und Geschichten von Jorge Luis Borges, z.B. Die kreisförmigen Ruinen. Philosophische Beispiele sind Berkelys ›Esse est percipi‹, Descartes’ Meditationen oder Fichtes Bilderflucht: »Bilder sind: Sie sind das Einzige, was da ist, und wissen von sich nach Weise der Bilder: – Bilder, die vorü- berschweben, ohne dass etwas sei, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern.« (Fichte 1976: 78) 2. Die romantische Position In der Romantik (und Romantik meint hier Frühromantik) war der Begriff der Immersion noch unbe- kannt. Aber das Thema der Inszenierung und Illusion wird zum ausgezeichneten Gegenstand der Reflexion bei Dichtern, Schriftstellern, Philosophen und bei Caspar David Friedrich. Die Illusions- möglichkeiten werden nicht mehr naiv antizipiert und an einer Verbesserung naiv weitergearbeitet, sondern werden selbst zum Thema. Der Name Romantik ist Programm. Die Romantik benennt sich anders als die Antike und das Mittelalter selbst, ebenso wie Renaissance und Aufklärung. Aufklärung und Romantik schließen an gebräuchliche Bedeutungen dieser Ausdrücke an. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 150 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Die Aufklärung (Illumination) profitiert von der in ihren Namen enthaltene Lichtmetaphorik (z.B. Platons Höhlengleichnis, lumen naturale usw.). Die Erschleichung von semantischem Potential ist heute ein beliebter Kunstgriff der Werbebranche (vgl. auch im Folgenden: Junk 1998: 137f.). Damals bezog sich der Begriff Romantik auf das Rittermilieu und meinte soviel wie ritterlich. Zu denken ist hier etwa an die in altmeisterlicher Manier gemalten Bilder der Nazarener. Der Name Romantik stammt von Friedrich Schlegel. Er bezieht sich nicht auf die Ritter und das Mittelalter, sondern auf die literarische Form des Romans, auf die Etymologie des Wortes romantisch: ro- manartig, romanbildend, romanhaltig, also auf eine erdichtete Erzählung größeren Umfangs. Für Schlegel – aber auch Novalis – war der Roman keine beliebige Kunstgattung, sondern der Inbegriff und die Summe alles Poetischen. Griechisch poiesis meint soviel wie her vor bringen, produzieren. Poesie ist für Schlegel und Novalis eine bestimmte Art zu denken, die etwas produziert, gleichsam ihren Stoff selbst her vor bringt. Novalis spricht von einer »Erfindungskunst ohne Data« (Novalis 1907, Bd. 3: § 936). Ohne Data meint, dass sich die Kunst nicht auf fertige und vom Prozess der Her vor bringung un- abhängige Elemente stützen kann. Ihre Elemente (Sprachmaterialien, Töne, Farben, Abbildbares im weitesten Sinne usw.) erhalten erst im Kontext in der Konstellation, durch die Erfindung einer besonderen Kombination oder Situation ihren Charakter und die Bedeutungsmöglichkeiten, die sie außerhalb dieser Konstellation nicht besitzen. Als Beispiel mag hier ein Gemälde von Caspar David Friedrich dienen (Abb. 1). Eine solche Landschaft wird als Kompositlandschaft bezeichnet. Akribische Natur- und Architek- turstudien, Blumen, Kräuter, Bäume, Gesteins-, Landschafts-, Gebirgsformationen, Fischernetze, Ruinen, Gebäude, Personen usw., werden mehrfach und in unterschiedlichen Kontexten verwen- det. Teilweise werden sie dafür auch verändert. Die verwendeten Elemente werden innerhalb der Bildkomposition zu Daten, d.h. zu Elementen von Tatsachen. Tatsachen oder Daten sind Sachverhalte. Die einzelnen Elemente (Gebirgszug, Baum, Ruine usw.) sind Bestandteile, also Elemente von Sachverhalten. Allerdings muss die Möglichkeit im einzelnen Element bereits angelegt sein. Sie können nicht willkürlich verwendet werden. Abb. 1: C.D.Friedrich: Ruine im Riesengebirge, um 1815-1820, Öl auf Leinwand, 70 x 101, Greifswald, Städt. Museum IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 151 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT So wie nach Wittgenstein die Welt alles ist, was der Fall ist, nämlich die Gesamtheit der Tatsa- chen, Sachverhalte, nicht der Dinge (vgl. Wittgenstein 1963: 1ff.), so ist ein Text, Musikstück, Film, ein Theaterstück, ein Ritus, ein Gemälde usw. die Gesamtheit der Sachverhalte innerhalb dieser Inszenierungen. Sie sind die Welt dieser Elemente (einer Geste, einer Handlung, einer Sequenz, eines Tones oder eines Bildelementes). Sie sind Elemente, Daten einer virtuellen Realität, einer möglichen oder vermeintlich tatsächlichen Welt. Auch die virtuelle Welt ist ein Bezugs- Bedeu- tungs- und Verweisungsgefüge. Die Romantiker sahen darin die Mehrdeutigkeit der Kunst begrün- det. Alles hängt mit allem zusammen, so dass die Reflexion kein Ende finden kann. Im Prozess der ästhetischen Produktion werden die Materialien erst zu Elementen, Daten von Bildtatsachen oder -sachverhalten. Die Poesie (die Her vor bringung) bringt ihren Stoff selbst her vor. Das trifft natürlich für jede Art von Kunst zu, ebenso für die Sprache wie für Riten usw. Der Unterschied besteht darin, dass den Romantikern, einschließlich Friedrich, dieses nicht bloß sehr bewusst war, sondern sie sich durch ihr Bewusstwerden dieses Zusammenhangs, der gewis- sermaßen vorher ein Verblendungszusammenhang war, sich eine Freiheit in der Produktion von Illusionswelten eroberten. Sie begaben sich dabei auf ein Reflexionsniveau, das die künstlerische Produktion, die Poesie, die Her vor bringung selbst zum Gegenstand der Reflexion machte. Dies Niveau finden wir auch in ihren Werken. Was die Romantiker hier leisteten ist keine Verklärung, wie ihnen gern vorgeworfen wird, keine Gegenaufklärung, sondern Aufklärung im eigentlichen Sinne, nämlich Aufklärung über eine Täuschung. Sie ist Ent täuschung, ein Naivitätsverlust und ein sehr kantisches Projekt. Kant zeigte in seiner KdrV, dass wir nicht die Dinge an sich erkennen, sondern lediglich die Dinge, wie sie uns auf Grund unserer Erkenntnismöglichkeiten und -bedingen erscheinen. Er entlarvte die vormals naive Ansicht, dass wir die Welt erkennen wie sie ist, als universalen Verblendungszu- sammenhang. Für die Romantiker: Schelling, Schlegel, Novalis, Hölderlin, Fichte und im gewissen Sinne auch Hegel, ist jede Form geistiger Produktion eine Produktion von Schein, einschließlich dessen, was ›Wirklichkeit‹ genannt wird. Diese produzieren wir sozusagen automatisch. Die Ro- mantiker sprechen von ›Unmittelbarkeit‹. Für sie und für Friedrich ist die Kunst – also die Poesie oder Her vor bringung – der Mittelpunkt der Reflexion (vgl. Rzucidlo 1998: 50f.; Frank 2004) und ihr Umfang. Damit ist sie aber ähnlich wie Gott bei Nikolaus von Kues Mittelpunkt und Umfang einer in den Her vor bringungen eröffneten Welt. In diesem Sinne ist das Kunstwerk der Romantik ein offenes Kunstwerk und ein konzeptionelles. In der Kunst verfügen wir freier über diese Produk- tionsmöglichkeiten als in unserer alltäglichen immer schon vollzogenen Wirklichkeitsproduktion. Entsprechend ihres offenen und konzeptionellen Charakters signierte und untertitelte Friedrich seine Werke nicht. Er setzte auf die günstige Stunde beim Betrachter: ».[A]ndeuten müsse ein Bildwerk nur, vor allem aber geistig aufregen und der Phantasie Spielraum geben.« (zitiert nach Rzucidlo 1998: 94) Das Spiel der Phantasie verweist auf Kants ›freies Spiel der Einbildungskraft‹ (vgl. Frank 2004). Wie die Wirklichkeit, der wir ja auch ohne Metatext ausgesetzt sind – alle Kommentierungen sind von uns geschaffen und innerweltlich –, sind alle Verweisungen, die in einem Bildwerk entdeckt werden können, diesem immanent. Tauchen wir in die Realität des Bildes ein, wird unser Fühlen, Denken und Handeln zu einem Teil der Bildwirklichkeit mit entsprechenden Auswirkungen. Dem Satz von Arthur P. Schmidt: »Da unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit aufgrund des Interface IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 152 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT unseres Gehirns bereits virtuell ist, ist die so genannte Virtual Reality (VR) eigentlich bereits eine Virtualität zweiter Ordnung.« (Schmidt 1999: 109) hätten die Romantiker sicher unterschrieben, allerdings das Ganze etwas romantischer ausgedrückt. Für sie war schließlich alles Poesie: »Das Äußere ist ein in Geheimniszustand erhobnes Inneres. (vielleicht auch umgekehrt.)« (Novalis 1907, Bd. 2: § 62, 196) Oder: »Wenn ihr die Gedanken nicht mittelbar (und zufällig) vernehmbar machen könnt, so macht doch umgekehrt die äußeren Dinge unmittelbar (und unwillkürlich) vernehmbar, – welches ebensoviel ist, als wenn ihr die Gedanken nicht zu äußeren Dingen machen könnt, so macht die äußeren Dinge zu Gedanken. […] Beide Operationen sind idealistisch. Wer sie aber vollkommen in seiner Hand hat, ist ein magischer Idealist. Sollte nicht die Vollkommenheit jeder von beiden Operationen von der anderen abhängig sein?« (Novalis 1907, Bd. 2: § 73, 199 f.) Die Romantiker waren gewissermaßen frühe Konstruktivisten. 3. Die Welt als Interface »Abstrakt formuliert ist ›Landschaft‹ das Ineinandergreifen von räumlicher und körperlicher Ausdeh- nung, veranschaulicht an einem Stück Natur.« (Hoffmann 1974: 10) So definiert Werner Hofmann ›Landschaft‹ und stellt anschließend fest, dass seit dem 15. Jh. die Maler sich darum bemühten, »die Erfahrungsdaten der sichtbaren Welt zu einem raum körperlichen Kontinuum zu verbinden« (ebd.). Sie bedienten sich dabei der Linear- und Luftperspektive. Es entstanden scheinbar drei- dimensionale Bilder, »in denen Körper und Atmosphäre, Nähe und Ferne zu einer Ganzheit ver- schmelzen« (Hoffmann 1974: 10). Erst als der Mensch beginnt sich selbst zu entdecken, entdeckt er auch die Welt und die Natur. Während des Mittelalters war die Kunst an religiöse Themen ge- bunden und zitierte Natur, Stadt und Land nur als »zeichenhafte Versatzstücke« (Hoffmann 1974: 10) So entsteht das Bemühen, die Welt möglichst wirklichkeitsgetreu wiederzugeben. Bedingung für eine Wirklichkeitstreue war die Konstruktion des Bildraumes als raum-körperliches Kontinuum, welches den Gesetzen der Optik und des menschlichen Sehens unterlag. So bleibt die Landschaft nicht nur thematisch gebunden an die Aktivitäten des Menschen in der Welt bzw. an das Heilge- schehen in der Welt, welches ja ebenfalls allein für die Menschen sich vollzieht. Der Bildraum, den die Linearperspektive eröffnete, ist einem starren Blick aus einem Fenster ver- gleichbar. Der Beobachter schaut unbewegten Auges durch ein Fenster, welches der Bildrahmen markiert. Der Rahmen ist das Portal, durch das hindurchgeblickt, aber nicht hindurch gegangen werden kann. Beispiele gibt es viele. Erwähnt sei hier nur Claude Lorrains Landschaft mit Ziegen- hirt (Abb. 2). Auch der Blick in eine ideale Landschaft soll eine Landschaft zeigen, die sich dem objektiven Blick des Menschen so darbieten würde, gäbe es diese Landschaft und nähme er den Betrachterstandpunkt außerhalb dieser Landschaft ein. Die Haltung zur Welt und zu sich selbst, die hierin zum Ausdruck kommt, ist die Haltung vor dem großen erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel (vgl. Schnädelbach 1998). Die Grundfrage der Philosophie war von der Antike bis ins Mittelalter gleich geblieben, nämlich die Frage nach dem ontos on, dem Sein des Seienden: Was ist? oder Was gibt es? Alles, was es gibt, ist nach gottgegebenen Gesetzen der Optik darstellbar und natürlich auch alles, was es nicht gibt. Wäh- rend Descartes dem Verdacht nachging, dass die Welt einschließlich uns selbst nur ein schlechter IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 153 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Abb. 2: Claude Lorrain: Landschaft mit Ziegenhirt, 1637, 51,5 x 41,3 cm, Öl auf Leinwand, London, National Gallery Traum sein könnte, machte Kant – der ›Alleszermalmer‹, wie Heine ihn nannte – in seiner Kritik der reinen Vernunft klar, dass wir die Dinge nicht so sehen wie sie an sich sind, sondern so, wie sie uns auf Grund unserer Anschauungsbedingungen erscheinen. Er vollzog die so genannte zweite kopernikanische Wende. Die erste Wende katapultierte den Menschen aus dem Zentrum des Kosmos, die zweite inthronisierte ihn zwar wieder zum Zentrum seiner Welt, aber eben nur einer Welt, wie sie ihm erscheint, nicht der Welt, wie sie unabhängig von seinen Erkenntnis- und An- schauungsbedingungen an sich existiert – oder eben auch nicht existiert, wenn Descartes Zweifel angebracht sind. Der Hochmut des Menschen, das Maß aller Dinge zu sein, hat sich in alptrau- martiger Weise bewahrheitet. Gefangener seiner Systembedingungen ist er zwar Produzent, aber nicht Herr seiner Hirngespinste, oder vielleicht nicht einmal das. Die Welt gleicht Piranesis (1720 1778) Carceri (Abb. 3), aus denen es auch keinen Ausgang gibt. Die philosophische Grundfrage lautete entsprechend: Was kann ich überhaupt wissen? Abb. 3: G.B. Piranesi: Carceri d‘invenzione, Blatt 7, 1760, Radierung, 55 x 42, Paris, Bibliotheque Nationle de France IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 154 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Der Fensterblick der Linearperspektive erwies sich nicht als objektiver Blick auf die Dinge, son- dern als subjektiv verzerrter Blick auf die Dinge als Erscheinung. Bilder, die mehrere Ansichten ver- einigten, gaben die Dinge zwar vollständiger und so im gewissen Sinne objektiver wieder, aber die Objektivität bezieht sich jetzt auf die subjektiven Wahrnehmungsmöglichkeiten eines Individuum. Sie sind bestenfalls beobachterobjektiv. Rekonstruiert wird die virtuelle Realität erster Ordnung, in die wir immer schon eingetaucht sind, im Sinne einer Totalimmersion. Claudia Giannetti fasst die Konsequenzen so zusammen: »Von daher sind Beobachter und Schnittstelle zentrale Forschungsfragen der Endophysik. Der in der The- orie der Endophysik implizierte konzeptuelle Wandel hängt mit zwei Feststellungen zusammen: Zum einen, dass die objektive Wirklichkeit nur die Innenseite (Endo) einer Außenwelt (Exo) ist, weshalb die wahre Re- alität eine andere ist, als sie den Menschen erscheint, (vgl. Rössler 1996: 136) und zum anderen, dass die Wahrheiten unterschiedlich sind, je nachdem, ob ihr Ursprung von innen oder von außen stammt. ›Perspek- tive ist, wie wohlbekannt ist, nicht vollständigobjektiv – sie ist ›beobachterobjektiv‹. Die Welt zu verzerren ist unvermeidbar, wenn man ein Beobachter ist‹. (Rössler 1996: 85) ›Die Welt, die einer virtuellen Realität ohne Notausgang gleicht, kann nur von innen betrachtet werden.‹ (Rössler 1996 117) Diese Forschung definiert sich als Meta-Experiment oder Experiment der zweiten Stufe, das auf der Unterscheidung zwischen Endo und Exo gründet.« (Giametti 2004) Die Welt wird zum Interface. 4. Das Bild als Immersionsraum einer möglichen Welt Die Welt als Interface ist das erklärte Forschungsgebiet der Endophysik, zu deren Säulenheili- gen Rene Descartes gehört (vgl. Rössler & Schmidt 1998). Mit dem Interface, auch wenn es den Begriff damals noch nicht gab, experimentierten bereits die Romantiker. Für die Kunst um 1800 führt die Einsicht, dass es keinen objektiven, weltdistanzierenden Beobachterstandpunkt gibt, zur Notwendigkeit, den Betrachter und damit seine Perspektive mit ins Bild einzubeziehen. Ewelina Rzucidlo sieht die Konsequenzen, wenn sie feststellt: »Die Überzeugungskraft eines Kunstwerks entsteht in der Aufhebung der Grenze zur Realität.« (Rzucidlo 1998: 59f.) Sie nennt zwei Weisen diesem ›Wirksamkeitsanspruch‹ zu realisieren (Rzucidlo 1998: 59f.): (1) In der »realitätsverfrem- denden Perspektivdarstellung«, etwa in den Carzeri von Piranesi durch »verwirrend überlappende Linearkonstruktionen«, oder (2) in der »deskriptive[n] Nachahmung der Welt«, etwa mittels Camera Obscura oder Camera Lucida und dem Panorama und seinen Varianten. Rzucidlo erkennt klar, dass C.D. Friedrich den ersten Weg verfolgt, während das Panorama zum Massenmedium entwickelt wird. Die 360 Grad Ansicht des Panoramas suggeriert zu nächst so etwas wie eine Demokratisierung des Blicks. Der Blick kann frei umherschweifen, als befände sich der Betrachter in einer freien Landschaft, und ist nicht festgenagelt wie bei den zentralperspek- tivischen Bildern. Der Immersionseindruck muss für die damaligen Betrachter und ihre Sehge- wohnheiten überwältigend gewesen sein, wie aus Augenzeugenberichten zu entnehmen ist (vgl. Grau 2001: 92ff.). Einmal davon abgesehen, ob Überwältigung demokratisch ist und nicht eher IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 155 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Abb. 4: Panopticon (Gefängnis-Design), von Jeremy Bentham (1791), aus: Foucault 1977: 263 die Betrachter in die Knie zwingt (wenigstens solange bis sie ihre Medienkompetenz aufgerüstet haben, was dann einen weiteren Immersionsschub herausfordert), stellt sich die Frage. »ob die fast allen Panoramen gemeinsame Verwendung von weiten erhabenen Landschaften und Horizont- blicken [...] ihren Ursprung in einem ›Bürgerlichen Blick‹ finden oder ob nicht die Konfiguration der Bildma- schinerie Panorama eine solche Motivik medienimmanent evoziert.« (Grau 2001: 99) Das ist sicher richtig, aber festzuhalten bleibt auch, dass das Panorama als Bildmedium auf der Höhe seiner Zeit war und das aufstrebende Bürgertum im Panoramablick ihren Blick auf die Welt, wie er war, oder wie sie ihn sich wünschten, wiedergab, den Überblick als Kontrollblick. Deutlich wird dies in Jeremy Benthams Modellgefängnis (vgl. Abb. 4). Die Zellen der Gefangenen waren bei dem Panopticum um einen zentralen Beobachterturm angeordnet (vgl. Grau 2001: 99f.; Foucault 1977: 263). Diese Carceri schließen den Beobachter wieder aus, wiegen ihn in scheinbarer Sicher- heit. Aus einer solch sicheren Distanz lässt sich auch eine erhaben überwältigende Landschaft mit genüsslichem Schauer ertragen. Das bürgerliche Subjekt lehnt sich zurück in seinem Lehnstuhl und betrachtet gefahrlos gewaltige aber gezähmte Bilder. Diese Lehnstuhlästhetik ist noch Kants Ästhetik des Erhabenen eigen. Sie kippt aber schnell um in eine Feldherrenperspektive bei den sehr beliebten Schlachtenpanoramen. Das Panorama bie- tet »einen illusionären Totaleindruck«, aber »ohne Hermetik« fehlt auch das »Gefühl von Präsenz« (Grau 2001: 100). Das Panorama ist das kongeniale Medium des bürgerlichen leidenschaftslosen und distanzierenden Blicks auf die Welt, und dieser Blick ist alles andere als demokratisch. Unter ihm organisiert sich die Welt. Elend und Leid, welche das bürgerliche Subjekt mit verursacht oder auch nur sieht, berühren ihn nicht existenziell. Leid und Elend ereignen sich anderswo, nicht an dem Ort der bürgerlichen Existenz, dem imaginierten Beobachtungsturm. Den Henkern des 20. Jahrhunderts machte es dieser Blick leicht, sich von ihren Opfern und Un- taten zu distanzieren, und den anderen war es möglich, sie gar nicht erst als wirklich wahrzuneh- men. Denn wirklich schien nur der Ort der eigenen kleinen Existenz, und der ist scheinbar exter- ritorial. Die scheinbare Allpräsenz des Panoramablicks täuscht darüber hinweg, dass er gar nicht IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 156 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT reflektiert, selektiv und zielorientiert und damit auf intelligente Art wahrnehmen (vgl. Grau 2001), sich also gar nicht in Relation zu den Ereignissen, Dingen, Menschen, Lebewesen setzen kann, die er im doppelten Sinne des Wortes übersieht. Ein Verblendungszusammenhang, der dem bürger- lichen Blick immanent ist und der wenigstens für die Deutschen zum Ende des 2. Weltkrieges jäh zerbrach. Die Absurdität des bürgerlichen Blicks spiegelt sich im kafkaschen Universum wieder, in dem K. das Schloss, von wo aus sich die Welt organisiert, nie erreichen und das Land nie vermes- sen kann, denn es ist in seiner Betrachterobjektivität willkürlich und subjektiv. Aber nicht K. ist der Beobachter und es ist nicht seine Subjektivität. Als der bürgerliche Blick unter dem Bombenhagel des 2. Weltkrieges zerbrach, zerbarst auch das imaginierte Schloss oder der Beobachtungsturm. Übrig blieb der real existierende Führerbunker. Als die Welt sich nicht mehr auf sichere Distanz halten ließ, blieb Selbstmord als letztes Mittel, einmal um sich der Verantwortung zu entziehen, aber auch um der Ent-täuschung, d .h. der Aufhebung von Täuschung, zu entfliehen, der Tatsa- che, dass sie selbst Teil der Welt sind, zu deren Führer, Baumeister, Organisatoren, Schlächter und Zeremonienmeister sie sich erhoben haben und damit in der Welt, im Bild und nicht außerhalb und in Sicherheit. Piranesi legt diesen Verblendungszusammenhang des bürgerlichen Blicks durch seine überlap- penden Linearkonstruktionen gerade offen, ebenso Friedrich, wie wir gleich noch sehen werden. Der Mönch am Meer von 1809/10 ist C.D. Friedrichs frühstes Ölgemälde (Abb. 5) und bis zu sei- nem Spätwerk, Das große Gehege von 1832, wohl auch das radikalste. Die einzige Senkrechte in dieser weiten Unendlichkeit suggerierenden Landschaft, in der Strand, Meer und Himmel inei- nander übergehen, ist der winzige Mönch. Diese kleine Rückenfigur ist keine Staffage mehr, kein »schlichter Beobachter oder Zeuge«, wie Rzucidlo richtig feststellt: »Sie dient nicht Ausschließlich dem Hineinversetzen oder der Hervorrufung bloßer emotionaler Erregung. Sie ist Signatur seines Kunstverständnisses. Was die Figur Einmalig macht, ist die Überwindung der historischen Wahr- nehmungsschwelle, d.h. das Abgehen von der tradierten Bildstruktur.« (Rzucidlo 1999: 33) Der Mönch markiert das produktive Zentrum dieser trüben Welt. Diese Welt ist wie jede Welt be- grenzt, aber in sich unendlich, ein unendliches Beziehungs- und Verweisungsgefüge mit unend- lichen, aber keinesfalls beliebigen Bedeutungsmöglichkeiten, vergleichbar z.B. den überzähligen Mengen in der Mathematik, etwa der Menge der rationalen Zahlen. Sie ist zwar begrenzt, zu ihr Abb. 5: C.D. Friedrich: Mönch an Meer, 1809-10, Öl auf Leinwand, 110 x 171,5, Berlin, Nationalgalerie IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 157 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Abb. 6: C.D. Friedrich: Brief an J.K.H. Schulze, Dresden 8.2. 1809 (Ausschnitt). Freies Deutsches Hochstift, Frankfurter Goethe-Museum, Frankfurt am Main gehören ausschließlich die rationalen Zahlen, gleich wohl unendlich, denn die rationalen Zahlen sind schlicht nicht abzählbar. Das produktive Zentrum aber ist für Friedrich die Kunst, und diese bringt her vor, autonom und unmittelbar. Friedrich schreibt in einem Brief an Johannes Karl Hart- wig Schulze, Dresden 8. 2, 1809: »Denn sehr wohl wussten jene achtungswerten Meister, dass die Wege, so zur Kunst führen, unendlich verschieden sind; dass die Kunst eigentlich Mittelpunkt der Welt, der Mittelpunkt des höchsten geistigen Strebens ist, und die Künstler im Kreise um diesen Punkt stehen. Und so kann es sich leicht zutragen, dass zwei Künstler sich gerade entgegen kommen, während sie beide nach einem Punkte streben. [Grafik] Denn die Verschiedenheit des Standpunktes, ist die Verschiedenheit der Gemüter, und sie können auf entgegen- gesetztem Wege beide ein Ziel erreichen.« (zitiert nach Rzucidlo 1999: 39, vgl. Frank 2004: 4) Friedrich gibt dazu eine kleine Skizze (vgl. in Abb. 6). Das mag an Schleiermachers Vorstellung von der Mannigfaltigkeit und Einheit der Religion erinnern, die an die Monadologie von Leibniz an- schließt. Die Monaden sind »lebendige Spiegel« (Leibniz 1720: § 14, 56ff.). Die Summe der Vielfalt der individuellen Standpunkte ergibt nach Leibniz die vollkommene Perzeption. Er verdeutlicht diese Standpunktrelativität in seinem Stadtbeispiel (Leibniz 1720: § 57), in dem »ein und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, immer wieder ganz anders und gleichsam in perspek- tivischer Vielfalt erscheint« (vgl. Rzucidlo 1999: 40, Frank 2004). Die Standpunktrelativität bei Leib- niz bezieht sich auf ein absolutes Sosein. Von jedem Standpunkt aus ist ein Aspekt dieses Soseins erkennbar. Leibniz geht hier von der sehr optimistischen Grundhaltung aus, dass der allgütige Gott gewiss nicht täuscht und die ›beste aller möglichen Welten‹ gewiss keine Täuschung sein kann. Für Friedrich und die Romantiker hat sich durch Kant die Situation schlagartig verändert. Kants zweite kopernikanische Wende und seine Kritik der Gottesbeweise waren eine Katastrophe. Alle metaphysischen Aussagen gelten nun als schlechterdings unbeweisbar, als bloße Spekulationen (z.B. über die Seele, die Unsterblichkeit, die menschliche Freiheit, über Gott usw.), die sich nicht auf Erfahrungen stützen können. Heine nennt ihn nicht umsonst den ›Alleszermalmer‹ und ver- gleicht ihn mit Robbespiere, der nicht bloß den König geköpft und die Bastille gestürmt hat: »Immanuel Kant […] hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt, das stöhnt -, und der alte Lampe steht dabei mit seinem Regen- schirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesichte.« (Heine 1998: 3234) IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 158 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Alle Betrachterstandpunkte zusammengenommen ergeben keine vollkommene Perzeption eines absoluten Soseins. Aus der Welt als Erscheinung gibt es kein Auftauchen. Der Blick bleibt stets verstellt, so wie in vielen der Friedrich’schen Bilder. Entsprechend ist auch die Kunst und nicht mehr Gott Mittelpunkt und Umfang der Welt. Und alles, was die Kunst her vor bringt ist Schein. Jedem Künstler, aber auch jedem Betrachter, konstituiert sich der Schein je nach Gemüts- und Geisteszustand, je nach Befindlichkeit standpunktrelativ. Darum musste auch Kleist selbst zum Kapuziner werden, denn was er zu finden hoffte, fand er nicht vor dem Bild, sondern zwischen ihm und dem Bild: »[...] und so ward ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne, das aber, wo hinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, die See, fehlte ganz. Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reiche des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis.« (Kleist o. J.: 959) Die Rückenfigur im Mönch am Meer gilt als Prototyp. Sie ist wie alle anderen Rückenfiguren Fried- richs weniger ein Porträt als ein Abstraktum. Seine Rückenfiguren sind schematisch, zum Teil falsch, fast nachlässig gezeichnet und immer wieder in andere Kontexte hinein kopiert worden. Der Mönch ist die etwas variierte Kopie aus Preißlers Zeichenbuch (Rzucidlo 1999: 162). Die Rü- ckenfiguren ähneln eher Piktogrammen. Sie sind weniger Stellvertreter für die Betrachter, etwa Kleist, als Platzhalter des Subjekts, das sich selbst in eins mit der Welt und seinem In der Welt sein konstituiert. Der Platzhalter hält die Welt von ihrem Zentrum aus offen und mit ihr ein unendliches Bedeutungs- und Verweisungsgefüge, in das der Betrachter eintritt wie durch ein Portal, um in die Anderwelt einzutauchen. Die Anderwelt befindet sich nicht in einer anderen Dimension, sondern ist die Welt einer anderen Subjektivität, die sich in eins mit dieser Welt konstituiert haben wird. Etwas Ähnliches passiert in dem Film Being John Malcovich (Spike Jonze 1999). Das heißt jetzt nicht, dass ein Betrachter, z.B. Kleist, nun die eröffnete Welt mit »den Augen Friedrichs sieht«. Er sieht sie so, wie Friedrich sie sehen könnte, träte Friedrich durch das Portal der Rückenfigur in das Bild und brächte dieselbe psychische und mentale Konstitution mit wie Kleist. Was die Rü- ckenfigur offen hält ist Welt als ein Möglichkeitsspielraum. Dieser ist etwas Objektives, insofern er unabhängig von einem beliebigen Betrachter ist. Als realisierte Welt, etwa als ›weites Reich des Todes‹ (Kleist), ist sie subjektiv mit den Augen von Kleist gesehen. Was auch immer Friedrich sich beim Malen gedacht hat oder empfunden haben mag, auf der Leinwand hat sich seine subjektive Welt in einen Möglichkeitsspielraum objektiviert, den mit Leben, also Subjektivität zu erfüllen je- dem, der sich angesprochen fühlt, offen steht. In Being John Malcovich geschieht Vergleichbares. Malcovich muss feststellen, als er durch den berühmten Tunnel im 71/2 ten Stockwerk in seinen vermeintlich eigenen Kopf schlüpft, dass die Welt und seine Subjektivität – sein Ich, seine Identi- tät – sich zu einem Möglichkeitsspielraum objektivieren, der mit dem Malcovich, der da versucht, seine eigene Identität zurück zu erobern, nichts mehr zu tun hat und Illusion ist, wie er selbst. So ist es auch nicht verwunderlich, dass der Protagonist Schauspieler ist und letztlich Platzhalter, der eine mögliche Welt für andere offen hält – auch wenn der andere er selbst ist. Er ist den Rückenfi- guren in Friedrichs Bildern vergleichbar, deren Antlitze sich nie objektivieren lassen, weil sie jedes beliebige Antlitz annehmen können. Und mit jedem Antlitz variiert das Antlitz der Welt. Die Weise unserer Wahrnehmung bestimmt, wie wir das Wahrnehmbare wahrnehmen. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 159 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Friedrich insistiert auf diese Offenheit des Kunstwerks, wenn er von ein einem Künstler XXX spricht und sich damit wohl selbst meint: »Gesetzt auch XXX hätte nicht allemal dass dabei gedacht und empfunden was seine Lobredner darin zu sehen glauben; so ist es doch schon ein großer Verdienst und vielleicht das Größte eines Künstlers geistig anzuregen und in dem Beschauer, Gedanken, Gefühle und Empfindungen zu wecken, und wehren sie auch nicht die seinen.« (Hinz 1974: 56) Die Rückenfiguren gewähren die Offenheit des Kunstwerks, sie ermöglichen selbst zum Kapuziner zu werden, wie Kleist, oder zum ›Wanderer über dem Nebelmeer‹ oder ›Zur Frau vor der auf- oder untergehenden Sonne‹. Sie sind keine Staffagefiguren, sondern den Avataren des Cyberspace verwandt, vielleicht sogar deren romantische Vorläufer. Anders als ein Avatar ermöglicht die Rü- ckenfigur zwar das psychisch mentale Eintauchen in den Immersionsraum des Bildes, aber nur kontemplativ. Die Rückenfigur hält keinen Handlungsraum offen, sondern einen Raum der Kon- templation, des Nachdenkens und der Versenkung, ein con templum, einen Beobachtungskreis. Dieser war ursprünglich der Ort der Vogelschau (vgl. Kluge 2002). Der Beobachtungskreis ist jetzt kein geografischer Ort mehr, sondern markiert das psychisch mentale In der Welt sein. So ist etwa auch für Heidegger oder Merleau Ponty das Da–sein primär räumlich bestimmt und stets gestimmt. Ein Avatar ermöglicht nicht nur die stumme Schau, sondern Handeln, Kommunizieren und Inter- agieren im Cyberspace. In der hinduistischen Mythologie sind Avatare wiedergeborene Wesen, die auf die Erde hinabsteigen, um die bedrohte Weltordnung zu retten. Im Computerzeitalter sind Ava- tare virtuelle Identitäten, durch die ein User in die virtuellen Welten des Cyberspace eintauchen, handeln und mit anderen Avataren oder virtuellen Geschöpfen kommunizieren und interagieren kann. Gegen Friedrichs Rückenfiguren mögen die Avatare geradezu primitiv wirken, denn die Rücken- figuren erfüllen ihre Platzhalterfunktion perfekt, während die Avatare heute nur rudimentär die Funktion erfüllen, eine mögliche Welt als ein unendliches Bezugs- und Verweisungsgefüge offen zu halten, damit es sich in je subjektiver Weise realisiert. Aber die Idee ist virulent und an der Um- setzung wird gearbeitet. So sagte Bernd Kolb, der Geschäftsführer der I D Mediengruppe bereits in einem Interview mit Artur P. Schmidt am 4.6.1998: »Die VRML-Welten, die gebaut wurden, sind auch eher das Nachbilden unserer realen Welt, ganze Städte werden originalgetreu nachgebaut und die virtuelle Fortbewegung wird möglichst nahe an unserer jetzigen Wirklichkeit simuliert – auch ein echter Anachronismus, der wenig mit der eigentlichen Idee des Cyber- space gemein hat. Der Cycosmos geht hier einen anderen weg: hier entsteht eine echte, nonphysikalische Welt, die sich eher in den Köpfen der User visualisiert. Wir geben die Tools, um im Cyberspace zu leben, und leben heißt hier- bei eher, die neuen sozialen und kommunikativen Freiheiten auszuprobieren. Diese Welt wird sich künftig sicher visuell manifestieren, aber dies wird von den entstehenden Notwendigkeiten der virtuellen Gesell- schaft getrieben, die auch frei sein wird in der Gestaltung ihrer digitalen Umwelt. Es ist nicht wie in der bi- blischen Überlieferung, in der Gott zuerst die Welt und dann den Menschen geschaffen hat. Wir gehen den evolutionär umgekehrten Weg, den wir für den logisch richtigen halten.« (Schmidt 1998) IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 160 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Bei Friedrich klingt das viel romantischer, wenn auch nicht weniger drastisch: »Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht. Sonst werden seine Bilder den spani- schen Wänden gleichen, hinter denen man nur Kranke und Tote erwartet.« (Gemäldegalerie 1974: 25) Friedrichs Bilder kultivieren nicht den pseudo-objektiven Panoramablick. Sie sind aber auch keine ›Seelenlandschaften‹, wie manchmal zu lesen ist. Sie geben keine in eine Landschaft projizierte Gemütszustände Friedrichs wieder. Für Friedrich war Malen keine Therapie. Solch psychologi- sierendes Geschwätz verkennt völlig das hohe Reflexionsniveau der Romantik im Allgemeinen und Friedrichs im Besonderen. Seine Bilder eröffnen eine Welt, in deren Möglichkeitsspielraum einzutreten und ihn mit seinem Leben, seinem Sehnen und seinen Reflexionen zu erfüllen, jedem offen steht. Bilder, die dies nicht ermöglichen sind keine offenen Kunstwerke und gleichen jenen spanischen Wänden. Wenn das Sehnen und die Reflexion erlahmt, krankt das Leben und der Tod ist das Ende allen Sehnens und Reflektierens. Selbstironisch beschreibt Friedrich sich als einen Maler der »mit heiterem Sinne trübe Lüfte und ernste düstere Landschaften« (Hinze 1975: 123) malt. Zu dem hohen Reflektionsniveau gehört auch Friedrichs medienkritische Einstellung. Friedrich legte Wert bei der Her stellung oder Her vor bringung seiner Bilder, dass beim Eintreten oder Ein- tauchen in die bloß mögliche Welt der Bilder nicht vergessen werden kann, dass es sich um eine gemachte Welt, um ein Bild handelt. Hier liegt unter Umständen ein entscheidender Unterschied zu den Machern der VRML Welten, die eher in der Tradition der Panoramen, Dioramen und deren Variationen stehen. Ziel ist letztlich die Totalimmersion. Friedrich insistierte darauf, selbst keine »Guckkastenbilder« zu malen (Hinz 1975: 65), und meint: »Wenn der Maler mit seiner Nachahmung täuschen will, als sei er ein Gott, so ist er ein Lump.« (Hinze 1975: 106) Und: »Alle Täuschung macht einen widrigen Eindruck wie aller Betrug. Zum Beispiel Wachsfiguren werden immer etwas Zurückstoßendes haben, je täuschender sie gemacht sind. Ein Bild muss sich als Bild, als Menschenwerk gleich darstellen, nicht aber als Natur gleich täuschen wollen … wahrhaftig täuschen werdet ihr [Maler] doch nie, und [das] ist auch nicht die Forderung der Kunst.« (Hinz 1975: 112) Das klingt wie die Antwort eines Künstlers auf Kants Diktum: »Es ist aber hiebei merkwürdig, daß, wenn man diesen Liebhaber des Schönen insgeheim hintergangen und künstliche Blumen (die man den natürlichen ganz ähnlich verfertigen kann) in die Erde gesteckt, oder künstlich geschnitzte Vögel auf Zweige von Bäumen gesetzt hätte, und er darauf den Betrug entdeckte, das unmittelbare Interesse, was er vorher daran nahm, alsbald verschwinden, vielleicht aber ein anderes, nämlich das Interesse der Eitelkeit, sein Zimmer für fremde Augen damit auszuschmücken, an dessen Stelle sich einfinden würde. Daß die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat: dieser Gedanke muß die Anschauung und Reflexion begleiten; und auf diesem gründet sich allein das unmittelbare Interesse, was man daran nimmt. Sonst bleibt entweder ein bloßes Geschmacksurteil ohne alles Interesse, oder nur ein mit einem mittelbaren, nämlich auf die Gesellschaft bezogenen verbundenes übrig: welches letztere keine sichere Anzeige auf moralisch gute Denkungsart abgibt.« (KdU, A 165/Hervorhebung B.N.) IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 161 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Friedrich fordert analog, dass ein Mensch jene Schönheit her vor gebracht hat, es sich um ein Werk der Kunst, ein Bild handelt, dieser Gedanke muss die Anschauung und Reflexion begleiten. Denn darauf gründet sich allein unser unmittelbares Interesse an Kunst. So fühlen wir uns auch nicht getäuscht und betrogen. Denn allein ›der Schein lügt nicht‹, wie Josef Albers einmal sagte, und er meinte den Schein der Kunst (vgl. Nunold 2001 und 2003). Zu bedenken ist, dass die von der Natur hervorgebrachte Schönheit, von der Kant spricht, Wirk- lichkeit für uns nur als Erscheinung besitzt (endo, nicht exo). Es handelt sich, wie bereits erwähnt, um eine VR erster Ordnung. Diese aber wird von uns unmittelbar her vor gebracht. Das unmit- telbare Interesse gründet sich in der unmittelbaren Her vor bringung, die zur Erscheinung bringt, was so, wie es an sich selbst sein mag und wie es die Natur an sich selbst hervorgebracht haben mag, nicht erscheinen kann. Merleau Ponty spricht von »Urpräsentation des Nichturpräsentier- baren« (Merleau Ponty 1986: 277). Wirklichkeit für uns ist eine präsentierte, keine repräsentierte, und sie ist die einzige, die wir haben. Wirklichkeit für uns ist im Sinne Novalis das Produkt einer ›Erfindungskunst ohne Data‹. Das heißt jetzt nicht, dass es außerhalb unserer Wirklichkeit nichts gibt, es gibt nur nichts für uns. Versuchen wir dahinter zu blicken, ergeht es uns wie dem von No- valis beschriebenen ›Jüngling zu Sais‹ oder wie Wittgenstein, der feststellt: »Um die eigentliche Artischocke zu finden, hatten wir sie ihrer Blätter entkleidet.« (Wittgenstein 1994: PU 164) Letztlich ist auch Physik stets Endophysik. Mit einem Kunstwerk verhält es sich ähnlich wie mit den Her vor bringungen der Natur. Es ist zwar von einem Menschen her vor gebracht, aber jeder Betrachter und jede Betrachterin bringt es für sich her vor, stets aufs Neue (auch der oder die es handwerklich produziert hat). Im Prozess der Her vor bringung muss stets Gegenwärtig sein können, dass es sich hier um etwas Gemachtes handelt und nicht um ein Naturprodukt, sondern um ein Bild, eine ästhetische Realität, eine VR zweiter Ordnung. Auch diese Her vor bringung ist eine ›Urpräsentation des Nichturpräsentierba- ren‹, aber eine zweiter Ordnung. Dahinter zu suchen ist ebenso sinnvoll wie nach der eigentlichen Artischocke zu fahnden. Uns mag es dabei gehen wie jenen ›Revisoren‹, von denen Terry Pratchett in Der Zeitdieb (2004) erzählt. Die Revisoren zerlegen in einem Museum die Kunstwerke in ihre subatomaren Bestandteile, um herauszufinden, was Schönheit ist. 5. Bildkonstruktion und die Sakralisierung der Landschaft als Ausdruck der Abwesenheit des Heiligen Friedrich lehnt es ab, Natur vorzutäuschen. Seine Bilder sollen sich als Gemachte, als Menschen- werk zu erkennen geben. Entsprechend artifiziell sind Raumordnung, Farbe, Licht und Form (vgl. Rzucidlo 1999: 175f). Die Künstlichkeit und Konstruiertheit seiner Landschaften wurden nicht nur von Goethe heftig kritisiert, als ›Kunst des Geometers‹. Ein Typisches Konstruktionssche- ma war das so genannte «hyperbolisches Schema” (Wolfradt 1924: 125). Die Landschaft wird durch gegenläufige Hyperbelformen konstruiert. Ein weiteres Konstruktionsschema ist der golde- ne Schnitt. Kügelgen soll sich darüber verwundert haben, dass in seinem Atelier als »[…]einziger IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 162 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Wandschmuck eine einsame Reißschiene hing, von der niemand begreifen konnte, wie sie zu ehren kam« (Hinz 1975: 218). Friedrichs Bilder sind Konstrukte, aber sparsame Konstrukte. Gegenständlich konkretisiert wird nur das Wenige, das nötig scheint, um den Betrachtenden Anreize zu Reflexionen und Assoziati- onen zu geben. Seine Zeitgenossen überkam nicht selten beim Betrachten seiner Bilder eine Art horror vacui. Sie empfanden sie als monoton und leer und, wie gesagt, als konstruiert. Sie wider- sprachen eingeübten Sehgewohnheiten (vgl. Rzucidlo 1998: 175). Friedrich hingegen mag die herkömmliche Malweise gekünstelt vorgekommen sein und er ver- spottet das »so genannte Komponieren« (Hinz 1975: 95). Er kritisiert die Bildkonstruktion basie- rend auf einen Sehwinkel von 45 Grad. Das natürliche Sehfeld beträgt annähernd 200 Grad (vgl. Rzucidlo 1998: 110ff.). Friedrich scheint dies gewusst zu haben und schreibt: »Denn was die neueren Landschaftsmaler in der Natur in einem Kreis von 180 Grad gesehen, pressen sie unbarmherzig in den Sehwinkel von 45 Graden zusammen. Und was also in der Natur durch große Zwi- schenräume getrennt lag, berührt sich hier im Gedrängten Raum, überfüllt und übersättigt das Auge und macht auf den Beschauer einen widrigen, beängstigenden Eindruck. Und das Element des Wassers zieht immer den Kürzeren dabei, und das Meer wird zur Pfütze.« (zit. nach Rzucidlo 1998: 111; in der Forschung falsch zitiert (Hinz 1975: 96): »100 Graden«) Das »hyperbolische Schema« ist eine Konsequenz aus Friedrichs Raumverständnis. Bei einem Sehwinkel von annähernd 200 Grad erscheint die Landschaft wie von weitem betrachtet »in keil- förmigen Teilen ineinander zu fließen und sich zu krümmen« (Rzucidlo 1998: 112). Schon allein dadurch erscheint der Horizont vielfach verstellt. Vergitterungen verstärken diesen Eindruck noch. Friedrich entwickelt aus beiden ein typisches Stilmerkmal seiner Landschaften, was ihm u. a. den Vorwurf der ›Kulissenmalerei‹ eingebracht hat. Die Wirkung dieses Stilmittels ist gleich wohl er- norm. Es entsteht der Eindruck einer schier unerreichbaren Ferne, die auf den Leib rückt, und alle Vertrautheit und Nähe mit sich fort nimmt. Die Ferne rückt nah und die Nähe fern. Ähnlich verhält es sich mit der dem 180 Grad Sehwinkel geschuldeten Krümmung der Land- schaft. Die gegenläufigen Hyperbelformen, die in vielen seiner Bilder zu finden sind, entstehen zwar zwangsläufig durch die von den Seiten in das Bild ziehenden keilförmigen Landschaftsteile. Doch auch sie werden so herausgearbeitet, dass sie zu typischen Stilmerkmalen seiner Land- schaften werden. Während der untere und damit vordere Teil des Bildes durch die Krümmung der Landschaft sich nach unten wölbt, wölbt sich der obere Teil nach oben. Im Bild treffen sich also zwei Hyperbeln, eine konvexe und eine konkave. In den Spiegelungen und den Formationen am Boden und in den Wolkenformationen werden die Hyperbelformen variiert. So treffen z.B. zwei Halbschalen so aufeinander, dass sie eine Art Ellipse bilden, in der sich am Himmel ein hellerer Bereich öffnet und z.B. den Rahmen für einen Gebirgszug bildet. Oder am Boden spiegelt sich der Himmel in einer Wasserlache (Abb. 7), um nur einige Beispiele zu nennen. Oben und Unten, Vordergrund und Hintergrund, Links und Rechts verweisen aufeinander. Innerhalb dieses Bezugs- und Verweisungsgefüges werden die einzelnen Bilddetails zu Momenten eines Bildgeschehens, zu Daten, zu dem, was der Fall ist, und verweisen zugleich über sich hinaus in einen nicht mehr IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 163 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Abb. 7: C.D. Friedrich: Einsamer Baum, um 1822, Öl auf Leinwand, 55 x 71, Berlin, Schloss Charlottenburg, Galerie d. Romantik begrifflich zu fixierenden Gesamtzusammenhang. So schreibt A.W. Schlegel: »Alle Dinge stehen in Beziehung zu einander, alles bedeutet alles […]« (Schlegel 1963 II: 251) Und: »Denn jedes Ding stellt zuförderst sich selbst dar, d. h. es offenbart sich sein Inneres durch sein Äußeres, sein Wesen durch die Erscheinung (es ist also Symbol für sich selbst); demnächst das, womit es in näheren Verhältnissen steht und Einwirkungen davon erfährt; endlich ist es ein Spiegel des Universums.« (Schlegel 1963 II: 83) Jedes Ding ist ›Spiegel des Universums‹, wie Leibniz’ Monaden, aber was sich da spiegelt ist nicht die Gesamtheit alles irgendwie Seienden, kein Spiegel ist groß genug, die Fülle alles Seienden zu spiegeln. Und doch spiegelt jedes Ding etwas unendlich viel Größeres, ein unendliches Bezugs- und Vereisungsgefüge. Es kann dieses nur deshalb, weil ein Gefüge und sei es auch unendlich keiner Dingkategorie angehört. Es handelt sich hier um die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem. Nur innerhalb eines Bezugs- und Verweisungsgefüges werden die Dinge zu dem, was sie sind, zu dem, was der Fall ist. Dadurch sind sie zugleich Spiegel der Welt als Bezugs- und Verweisungsgefüge. Bei Novalis gipfelt diese Vorstellung in einer Pansemiotik und dem Prinzip einer universalen Iko- nizität. Die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant versteht er nicht als Kausalbeziehung, sondern sie besteht in einer Strukturanalogie, in der Weise der Beziehung und Verweisung. Es geht um Relationalität und Proportionalität, darum wie Signifikat und Signifikant als Relata in Relation zu anderen Relata stehen. Walter Benjamin spricht von ›unsinnlichen Ähnlichkeiten‹, Ähnlichkeiten der Konstellation oder Konfiguration (vgl. Benjamin 1992). Obgleich das Verweisungsgefüge unendlich ist, ist es doch gewissermaßen semiotisch geschlos- sen. Alles verweist aufeinander, nichts weist über die eröffnete Welt etwa eines Bildes hinaus. Alle Bezüge sind innerweltliche bzw. innerbildliche Bezüge. Die Offenheit des Kunstwerks ist diesem Weltcharakter geschuldet. Wir können in diese Welt eintauchen und so zu einem konstituierenden Teil werden und das Bezugs- und Verweisungsgefüge mit unseren Reflexionen und Assoziationen aufladen. Als Teil dieses Gefüges, werden wir durch die anderen Teile determiniert und zum Spie- gel des ganzen Gefüges. Zugleich mahnt die Künstlichkeit des Gebildes stets daran, dass es sich nur um eine Inszenierung handelt. Im Bild wird die Künstlichkeit der Welt reflektiert. Es ist typisch für die romantische Form der Ironie, dass sie stets die Reflexion betont und, statt Widersprüche IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 164 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT aufzuheben, diese widerspiegelt, reflektiert und aushält, gleichzeitig aber deren Auflösung als not- wendiges, wenn auch unerreichbares Ziel betont. Die Ironie ist eine Form der Selbsttransparenz der Poesie, der Her vor bringung. Sie macht den Widerspruch sichtbar aus dem allein sie leben kann und dessen Aufhebung ihr Tod wäre, über den Hegel sinnierte. Die Aufhebung des Scheins durch die Vollendung des Systems, also der hegelschen Wirklichkeit, oder die Aufhebung der Wirklichkeit durch die Verabsolutierung des Scheins sind beides romantische Projekte, denen die Ironie verloren gegangen ist (vgl. dazu: Junk 1998: 165ff.) Dieses Selbsttransparenz des Bildes als Bild feiert die Transzendenz als immanent und die Imma- nenz als transzendent. Friedrich erreicht dies nicht allein durch seine Verwendung des 180 Grad Sehwinkels und des Hyperbolischenschemas. Er konstruierte den Großteil seiner Bilder nach dem Goldenen Schnitt. Albert van der Schoot zeigt in Die Geschichte des Goldenen Schnitts (2005), dass, anders als bisher angenommen, der goldene Schnitt weder in der Antike noch in der Renaissance eine größere Rolle spielte und auch nicht spielen konnte. Die Divina Proportione galt als irrationales und damit göttliches Maß und stand für das Unendliche und Unermessliche schlechthin. Sie war kein Menschenmaß. Der goldene Schnitt kam erst in der Romantik zu ehren als symbolisches Maß für die ›Einheit in Verschiedenheit‹, die ›Einheit von Einheit und Zweiheit‹ und überhaupt für das Zusammengehörens des Differenten in einer höheren Einheit, wobei das je unterschiedene zugleich Wiederholung und damit Spiegel des Ganzen ist. Kein echter Romantiker konnte sich eine solche Symbolik entgehen lassen. Dies führte nicht selten zu krüschen Spekula- tionen, so z.B. über die Geschlechterdifferenz. Interessant ist, dass der goldene Schnitt in dem historischen Moment zu Ehren kommt, in dem Gott und alles Göttliche zur unbeweisbaren Spekulation werden und lediglich als Regulative Idee als Als-ob noch Berechtigung hat. Als regulative Idee kann das Göttliche zur innerweltlichen Maß- gabe durch ein letztlich Unermessliches werden. Der goldene Schnitt ist gewissermaßen die Pro- portion gewordene ästhetische Idee der regulativen Vernunftidee Kants. Für Kant ist die Land- schaftsmalerei geeignet für den »Ausdruck ästhetischer Ideen« (Kant KU: B 209f.), denn »das freie Spiel der Einbildungskraft in der Beschauung« ist Kunstziel gerade auch der Landschaftsmalerei. Er bezeichnet sie als »bloß ästhetischen Malerei, die kein bestimmtes Thema hat (Luft, Land und Wasser durch Licht und Schatten unterhaltend zusammenstellt)« (Kant KU: Anm. A 207). Die ästhetische Idee aber bildet das Pendant zur Vernunftsidee: »Eine ästhetische Idee kann keine Erkenntnis werden, weil sie eine Anschauung (der Einbildungskraft) ist, der niemals ein Begriff adäquat gefunden werden kann. Eine Vernunftidee kann nie Erkenntnis werden, weil sie einen Be- griff (vom Übersinnlichen) enthält, dem niemals eine Anschauung angemessen gegeben werden kann.« (KU, Anm. I, A 237 Die ästhetische Idee ist eine Anschauung, der kein Gedanke gemäß ist. Die Vernunftidee ist ein Gedanke, dem keine Anschauung gemäß ist. Im Goldenen Schnitt wird das schlicht Anschauungs- lose, Unermessliche zur ästhetischen Idee, zu einer Anschauung nicht von etwas Anschauungslo- sem, das wäre Budenzauber, sondern zur Anschauung von Anschauungslosigkeit. Es verhält sich damit wie mit einem Geheimnis. Wird es preisgegeben, ist es kein Geheimnis mehr. Damit es aber für uns geheimnisvoll werden kann, muss das Geheimnis als Geheimnis offenbar werden. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 165 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT In Friedrichs Bildern ist nichts so offenbar wie das Geheimnis, und nichts gab so sehr das Maß für seine Bildkonstruktionen wie das schlechthin Unermessliche. Der Goldenen Schnitt nimmt nicht nur die Pansemiotik wieder auf. Er ist bei Friedrich Bild gewordene Ikonizität, wenn unter Ikonizität Strukturanalogie zu verstehen ist, also so etwas wie Benjamins ›unsinnliche Ähnlichkeiten‹. Fried- rich treibt hier die Ironie auf die Spitze, indem er den ›focus imaginarius‹ als Muster oder Struktur im Bild realisiert, ohne aber einem Bildgegenstand die Last eines Symbols aufzuerlegen. Nichts ist so offenbar wie das Geheimnis und nichts ist so verborgen wie das Offenbare. Der ›focus imaginarius‹ ist nach Kant dem Verstande notwendig. Damit das Denken auf ein Ziel gerichtet ist, von dem es zwar nicht ausgehen kann, weil es außerhalb jeglicher Erfahrungsmög- lichkeiten liegt, das aber dem Denken eine größtmögliche Einheit und zugleich Ausweitung ver- schaffen soll (vgl. Kant KdrV: B 672/A 644). Für Kant entspringt hieraus die Täuschung, dass die Richtung des Gedanken von dem vermeintlichen Gegenstande ausgeht, der doch außerhalb jeder empirischen Erkenntnismöglichkeit liegt. Kant spricht von Betrug und Illusion, die doch notwendig ist, wollen wir unsere Gedanken weit über jede Erfahrung hinaus treiben, um die Gegenstände zu sehen die gleichsam »weit davon uns im Rücken liegen« (Kant KdrV: B 672/A 644). Friedrich hebt diesen Widerspruch im Bild nicht auf, sondern entfaltet ihn und macht ihn zugleich offenbar, indem er ihn in der Bildstruktur verbirgt. Diese aber liegt für jeden offen zu Tage, so »daß sie nicht betriegt«, wie Kant zu sagen pflegt (Kant KdrV: B 672/A 644). Das ehemals Transzendente wird zur bildimmanenten Struktur, das die Bildwirklichkeit als eine unfassbare und geheimnisvolle konstituiert. Es erscheint aber nie als Bildgegenstand. Friedrich hat dies mit seinem Tetschener Altar (Abb. 8) und seinem Kommentar zu diesem Bild deutlich gemacht: »Es starb mit Jesu Lehre eine alte Welt, die Zeit, wo Gott der Vater unmittelbar wandelte auf Erden« (C.D. Friedrich: Schrei- ben an K.H. Schulz, 8. Feb. 1809, zitiert nach Frank 2004: 28). Hölderlin beschreibt diese Erfah- rung in Brot und Wein: Abb. 8: C.D. Friedrich: Tetschener Altar, 1808, Öl auf Leinwand, 115 x 110,3, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 166 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT »[…] Aber Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter Aber über dem Haupt droben in anderer Welt. Endlos wirken sie da und scheinens wenig zu achten, Ob wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns. Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen, Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch, Traum von ihnen ist drauf das Leben. Aber das Irrsal Hilft, wie Schlummer und stark machet die Not und die Nacht, […] Indem Friedrich das ehemals Transzendente als bildimmanentes Geheimnis konstruiert, wird die Immanenz zugleich transzendiert in etwas Unfassbares und Unbestimmbares. Der focus imagi- narius seiner Bilder ist auf unendlich eingestellt. Im gewissen Sinne ist Friedrich wie Hölderlins ›Dichter in dürftiger Zeit‹, die »wie des Weingotts heilige Priester […] von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht« (aus: Brot und Wein). Mag sein, dass Friedrichs 180-Grad-Perspektive und seine ausgefeilte Bildkonstruktion erhabene Landschaften wie das Panorama »medienimmanent evoziert« (Grau 2001: 99). Sein Ausblick ins Unbestimmbare und Unfassbare ist aber ebenso gewollt, wie der Über- und Kontrollblick des Panoramas. Er ist sozusagen sein Gegenentwurf. Was uns als eine Sakralisierung der Landschaft erscheint, beruht auf einer nüchternen Konstruktion des Bildraumes. Und nüchtern sind seine Bil- der. Auch seine Rückenfiguren bemühen keine Pathosformeln. Die Gestik ist verhalten sparsam. Hölderlin würde vermutlich von ›heilig nüchternen‹ Landschaften sprechen. Es handelt sich dabei nicht um eine Sakralsierung des Profanen, sondern um strukturimmanente Verbildlichungen jener heiligen Nacht, von der Hölderlin spricht. Die Landschaft wird zu einem Erfahrungsraum für die Abwesenheit des Heiligen. Der vielfach verstellte und vergitterte Ausblick ins Unfassbare, macht die Abwesenheit erfahrbar. Die Landschaft ist, wie Friedrich klar sieht, kein ›heiliges Land‹, auf dem wir aufgefordert werden, wie in biblischen Zeiten, die Schuhe auszuziehen (ebd. zitiert nach Frank 2004: 28). Sie ist eher so etwas wie ein Symbol oder eine Hieroglyphe (ein Lieblingswort der Romantiker) für die Abwesenheit des Heiligen, eine Versinnbildlichung der heiligen Nacht. Fried- richs Rückenfiguren könnten als Aufforderung an die Betrachtenden verstanden werden, »in der Dunkelhaft der Welt […] nach dem Rechten zu sehen« (Bachmann 1981: 77). 6. Sakralisierung der Landschaft Friedrichs Landschaften sind in dem Sinne sakral, dass sie innerhalb der Grenzen immanenter Weltlichkeit einen Ausblick »auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe«, wie Ingeborg Bachmann es einmal ausdrückte, ge- währt. Und sie fährt fort: »Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten« (Bachmann 1881: 76) In bewusster oder unbewusster Nachfolge Friedrichs werden Landschaften in dem Sinne sak- ralisiert, als durch sie die Antizipation eines Unfassbaren, im Guten wie im Bösen möglich wird. Das Unfassbare ist jetzt nicht bloß das »Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es der IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 167 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Abb. 9: Der Herr der Ringe, Szenenbild »Eowyn tritt vor die goldene Halle«, www. lordofthering.net Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe«, sondern auch das auf ewig Verlorene und das voll- kommene und unfassbare Böse. Das Heilige ist auch das Verfluchte, wie es im lateinischen Begriff sacer enthalten ist. Der Prophet Amos drohte: »Weh denen, die des Herrn Tag begehren! … Denn des Herren Tag ist Finsternis und nicht Licht.« (Amos 5, 18) Am Beispiel einiger Szenenbilder aus Der Herr der Ringe (Buch: J.R. Tolkien, Regie: Peter Jack- son, Kinostart: 2001) möchte ich zum Abschluss zeigen, wie die Stilmittel, die Friedrich entwickelt hat, in modernen Immersionsmedien eingesetzt werden. Wir finden hier fast alle Strukturmerkmale friedrichscher Landschaften wieder: - die Pathosarmen Rückenfiguren, - die durch eine 180 Grad Perspektive erzeugte Krümmung der Landschaft, - samt der von den Seiten in das Bild ragende Landschaftskeile, - ein, wenn auch schwächer ausgeprägtes, hyperbolischen Schema, - die typischen Verstellungen des Horizonts, - der Goldene Schnitt, - die Nüchternheit der Darstellung. Bei aller Ähnlichkeit des Szenenbildes Eowyn tritt vor die goldene Halle (Abb. 9) und Friedrichs Bild Frau bei Sonnenauf/-untergang (Abb. 10), sind die Unterschiede deutlich. Es handelt sich schließlich nicht um eine filmische Kopie des Friedrichschen Originals. Am auffälligsten ist, neben Abb. 10: C.D. Friedrich: Frau bei Sonnenaufgang /-untergang, um 1818, Öl auf Leinwand, 22 x 30, Essen, Museum Volkwang IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 168 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Abb. 11: Schema zu »Eowyn tritt vor die Goldene Halle« den Unterschieden der Landschaft, dass Eowyn nicht zentral im Bild steht, sondern nach links versetzt. Die Haltung der beiden Frauen ist ähnlich. Lediglich die angedeutete Andachtshaltung ist bei Friedrich etwas ausgeprägter, gleichwohl sehr verhalten. Bei Eowyn wird diese Haltung durch die fließenden langen Ärmel leicht verdeckt. Im Szenenbild finden wir im Grunde alle Merkmale ei- ner Friedrich’schen Landschaft wieder, die in seinen Bildern nicht immer zusammen in einem Bild verwirklicht sind, wie das hyperbolische Schema und der Goldene Schnitt. In Abb. 11 sind einige Strukturmerkmale schematisch wiedergegeben: - Rückenfigur - Hyperbolisches Schema - 180 Grad Perspektive - Goldener Schnitt: D verhält sich zu E (B u. C.) wie E zu A und B verhält sich zu F (B u. C) wie F zu A. - a, b: zwei annähernd ›Goldenen Dreiecke‹ - c, d: zwei ›Goldenen Rechtecke‹ - e, f: zwei annähernd ›goldene Dreiecke‹ In dem Film Der Herr der Ringe wird die Landschaft ähnlich wie bei Friedrich zum Erfahrungsraum für die Abwesenheit, wenn nicht des Heiligen, so doch des Heilen. Oder das unfassbar Böse wird antizipiert wie hier in Abb. 12. Abb. 12: »Der Blick ins schwarze Land«, Szenenbild aus: Der Herr der Ringe, www.lordofthering.net IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 169 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Abb. 13: Szenenbild aus Der Herr der Ringe, www.lordofthering.net. Auch dieses Szenenbild ist, wie unschwer zu erkennen ist, nach dem Goldenen Schnitt konzipiert. Die Rückenfiguren teilen das Bild, Aragon in den größeren und kleineren Teil, die Figur im Hinter- grund wiederholt den kleineren Teil der Senkrechten und unterteilt den kleineren Teil des Bildes ebenfalls noch einmal nach dem Goldenen Schnitt. Auffällig sind in diesem Film die häufigen Rückenfiguren. Hier nur noch zwei Beispiele (Abb. 13 und 14), wieder mit den typischen Konstruk- tionsmerkmalen wie in den Friedrichschen Bildern. In Abb. 14 haben wir gar eine Variation auf das Friedrich-Thema Der Wanderer über dem Nebelmeer (Abb. 15). Wie bei Friedrich ist in sehr vielen Szenenbildern des Films der focus imaginarius auf unendlich eingestellt. Antizipiert wird aber nicht das Jenseitige, Übernatürliche, keine himmlische Ordnung außerhalb der Welt, sondern das Fehlen einer solchen Ordnung in der Welt. Während Friedrich es bei diesem Fehlen belässt und die Sehnsucht nach dem Heil und dem Heiligen, nach Freiheit und Bürgerrechten den Blick in unerreichbare, oft verstellte Fernen schweifen läst, hat sich in Der Herr der Ringe, die Welt nicht nur verdüster, wie auch in einigen Friedrich Bildern, sondern die Drohung des Bösen nimmt zu. Der Silberschein der Hoffnung am Horizont wird zum drohenden Feuerschein und zum Vorschein eines noch kaum vorstellbaren Grauens. Ist das Heile und Heilige bei Friedrich meist noch als Abwesendes gegenwärtig, rückt das Unheil, wenn auch als Entferntes Abb. 14: Szenenbild aus Der Herr der Ringe, www. lordofthering.net. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 170 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT Abb. 15: C.D. Friedrich: Der Wanderer über dem Nebelmeer, um 1818, Öl auf Leinwand, 74,5 x 94,8, Kunsthalle Hamburg. in den Szenenbildern des Films atmosphärisch nah. Wir haben hier wieder das Prinzip der Trans- zendenz in der Immanenz und umgekehrt. Für das spätromantische Werk des Films Der Herr der Ringe gilt noch die romantische Maxime Schlegels: »Die Fantasie kann in ihren kühnen Flügen zwar übernatürlich, aber niemals außernatürlich werden.« (Schlegel 1802: 10) Kant hat die Türen zum Jenseits, zu allen metaphysischen Orten, zugeschlagen. Andere Welten werden zu Orten innerhalb einer als natürlich denkbaren Ordnung, z.B. andere Dimensionen oder andere Orte innerhalb derselben Welt oder innerhalb der Phantasie. Während im Film das Heil und ihre Garanten, die Elben, an einen entfernten aber diesseitigen Ort entfliehen, erobern gezüchtete Höllengestallten, säkularisierte gefallene Engel (ehemals Elben) diese Welt. Die Hölle wird zur Hölle auf Erden. Der Kampf ums Paradies ist kein eschatologischer mehr, sondern wird ganz irdisch in historischer Zeit ausgefochten. Errungen werden kann, wie schon in dem Buch von Tolkien, le- diglich eine mehr oder weniger lange, in jedem Fall aber endliche und nie ganz sichere Phase des Friedens und des Heils. Um den ewigen Frieden muss sozusagen ewig gerungen werden. Und es bedarf wohl mehr als nur eines weisen Königs, dessen Königreich sich an rückwärtsgewandten Utopien eines Goldenen Zeitalters orientiert, wie in Buch und Film, um den Frieden ewig zu wah- ren. Kant war da pragmatischer und, was die Natur der Menschen betrifft, sehr auf- oder vielleicht auch eher abgeklärter. Zukunftorientiert entwirft er 1795 ein Programm Zum ewigen Frieden auf der Basis einer Republikanischen Verfassung, die auch ein »ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)«, zum friedlichen Zusammenleben zwingen würde (Kant 1964: 224). Das eine ist Philosophie in pragmatischer Absicht, das andere Literatur und Fantasy, wie es heute so schön heißt. Buch und Film gelingt es, die Lesenden und die Zuschauenden in die von ihnen eröffnete Welt Mittelerde hineinzuziehen, unsere Aufmerksamkeit zu bannen und uns emotional einzubinden in das Geschehen. Die Fiktivität der Welt, der Personen und Ereignisse werden dabei nur noch sehr unterschwellig mit reflektiert. Sie kann aber und soll wohl auch stets wieder be- wusst gemacht werden können. Das gehört zum Kunst-, wie zum Film- und Buchgenuss. Weder Friedrich noch Tolkien noch Peter Jackson wollen bloß nachahmen und täuschen wie ein ›Lump‹, IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 171 BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS IMMERSIONSRAUM UND SAKRALISIERUNG DER LANDSCHAFT wie Friedrich sich ausdrückte. Und mag die Welt auch nur die Welt sein, wie sie uns erscheint, so besteht der Reiz des Abtauchens in eine andere Welt, eine VR zweiter Ordnung, doch gerade in dem gefahrlosen und bloß ästhetischen Genuss auf Grund dieser virtuellen Differenz. Wer möchte schon tatsächlich in eine Schlacht gegen Orks gebeamt werden. Spätestens wenn es ums Leben geht, ist der ästhetische Genuss dahin. In der VR erster Ordnung wird es stets Ernst auch im Spaß. Und wenn es hier heißt ›Game over‹, dann ist das Spiel wirklich aus, aus mit dem Teilnehmer oder der Teilnehmerin und seiner oder ihrer VR erster Ordnung und jeder anderen VR. Die Welt als In- terface versinkt im Nichts. Literatur Bachmann, Ingeborg: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. München 1981 Benjamin, Walter: Über das mimetische Vermögen. In: Benjamin, Walter: Sprache und Geschichte. Stuttgart 1992 Fichte, Johann Gottlieb: Die Bestimmung des Menschen. Leipzig 1976 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main 1977 Frank, Hilmar: Aussichten ins Unermessliche: Perspektivität und Sinnoffenheit bei Caspar David Friedrich. Berlin: 2004 Gemäldegalerie Neue Meister: Casper David Friedrich und sein Kreis. 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Berlin 1924 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 174 [Inhaltsverzeichnis] Klaus Sachs-Hombach/ Jörg Schirra Bildstil als rhetorische Kategorie Abstract If we consider pictures (or at least sets of pictures) as symbol systems, it seems reasonable to de- scribe them (analogue to the Speech Act Theory) as imbedded in the broader context of sign acts. They would consequently have an illocutionary role and could serve, for example, to warn against something, to inform about something, or to ask someone to do something. But since pictures are characterized by several particularities, an easy transfer of linguistic categories is problema- tic. Even if we are justified to describe many applications of pictures as forms of communicative actions, it should be examined in detail to what extent we have to modify the categories of the Speech Act Theory while applying them to pictures. This will be pursued in the following article concerning the relation between pictorial style and functions of pictures. Werden Bilder (oder zumindest Bildklassen) als Zeichensystem verstanden, dann liegt es nahe, sie (analog zur Sprechakttheorie) in Zeichenhandlungen eingebettet zu beschreiben. Sie haben dann auch eine illokutionäre Funktion und dienen etwa dazu, vor etwas zu warnen, über etwas zu informieren oder zu etwas aufzufordern. Allerdings besitzen Bilder zahlreiche Besonderheiten, die einer einfachen Übertragung sprechakttheoretischer Kategorien entgegenstehen. Selbst wenn viele Bildverwendungen als eine spezielle Form des kommunikativen Handelns gelten können, ist daher im Einzelnen zu prüfen, inwieweit die Kategorien der Sprechakttheorie im Kontext der Bildkommunikation modifiziert werden müssen. Dies soll für den Zusammenhang von Bildstil und Bildfunktion geleistet werden. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 175 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE 1. Einleitung Mit Bildern können wir jemanden vor etwas warnen (z. B. den Postboten vor dem Hund), über etwas informieren (»Dies ist die Tür zur Herrentoilette«) oder zu etwas auffordern (etwa im Rahmen einer Bedienungsanleitung). Derart in den Kontext von Zeichenhandlungen eingebettet, können wir ihrer Präsentation folglich eine illokutionäre Funktion zuschreiben. Einen bildpragmatischen Ansatz, der auf diese Weise die performativen Komponenten der Bildverwendung betont, halten wir für theoretisch ergiebig; da Bilder aber vor allem im Vergleich mit sprachlichen Äußerungen zahlreiche Besonderheiten besitzen, sollte im Einzelnen geprüft werden, inwieweit die zur Anwen- dung kommenden Kategorien der Sprechakttheorie im Kontext der Bildkommunikation nicht doch modifiziert werden müssen. Bildkommunikation darf dabei im Übrigen nicht zu eng verstanden werden. So ist damit durch- aus auch an den Fall gedacht, dass sich jemand selbst ein Bild zeigt – wenn er etwa alleine eine Galerie besichtigt. Auch dieser Fall kann (und sollte) als Zeichenverwendung verstanden werden, also als eine Handlung, bei der jemand (der ›Sender‹) jemandem (dem ›Empfänger‹) etwas mithilfe eines Zeichens zu verstehen gibt. Nur dass in diesem Fall – ähnlich einem Monolog – Sender und Empfänger verschiedene Rollen sind, die dieselbe Person, ganz im Sinne G. H. Meads, simultan einnimmt. Die illokutionäre Funktion, die sich prinzipiell zwischen zwei Beteiligten aufspannt, wird hier also wirksam zwischen dem Betrachter und einem internalisierten alter ego. Eine relativ direkte Übertragung von Searles Sprechakttheorie auf bildliche Zeichenakte wurde bereits 1978 von Kjørup (vgl. Kjørup 1978) vorgeschlagen. Allerdings besteht in der Wahrneh- mungsnähe von Bildern eine wesentliche Auszeichnung, die deutliche Modifikationen der Sprech- akttheorie nahe legt. Mit dem Ausdruck ›Wahrnehmungsnähe‹ möchten wir hierbei den Sach- verhalt zum Ausdruck bringen, dass wir zur Interpretation von Bildern unwillkürlich auf (kulturell durchaus modifizierte) Kompetenzen der (visuellen) Wahrnehmung zurückgreifen: Sie prägen auch unser Bildverständnis zumindest teilweise. So erkennen wir etwa deshalb mit großer Leichtigkeit in einer bildlichen Darstellung bestimmte Gegenstände – so möchten wir behaupten –, weil wir mit der Wahrnehmung dieser Gegenstände bereits in unserer Alltagswelt Erfahrung haben.1 Bei der elementaren Identifizierung der Bildgegenstände können wir daher auf schon bestehende Klassi- fikationsmechanismen zurückgreifen. Ist diese Ansicht, die eher ähnlichkeitstheoretisch und nicht verwendungstheoretisch inspiriert ist, zutreffend, dann wäre die Hypothese nicht unplausibel, dass es auch für den bildhaften Ausdruck einer illokutionären Funktion neben den konventionellen Mitteln (etwa roter Balken als Verbot) bildspezifische, perzeptuell verankerte Mittel gibt. Das schließt nicht aus, dass wir konventionelle Mittel der ›Bildsteuerung‹ oft verwenden. Wir möchten die Mittel, die gewissermaßen illokutionä- re Marker zu setzen erlauben, allgemein als bild-rhetorische Mittel bezeichnen. Rhetorisch sind es primär die unterschiedlichen Darstellungsweisen, die die Rezeption des Bildes unterstützen 1 Das schließt nicht aus, dass noch keine konkrete Wahrnehmungserfahrung gemacht wurde, sondern die Erfahrung des Sehens eines solchen Gegenstands lediglich erwartet wird; ich muss wissen wie ein Hephalump aussehen würde, wenn ich denn eins zu Gesicht bekäme, sonst kann ich auch kein Bild davon anfertigen oder als solches erkennen (siehe auch Dürers Zeichnung eines Rhinozeros, einer Tierart, von der er noch kein Exemplar gesehen hatte und der er irrtümlich statt Hautfalten Panzerplatten zuschrieb.). IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 176 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE und lenken. Ein skizzenhafter Linienstil kann etwa dazu dienen, die Vorläufigkeit einer Gebäude- zeichnung zu betonen. Alternativ hierzu ließe sich auch mit der Farbintensität ein entsprechender Effekt erreichen. Hier sind deshalb vor allem Konventionen zu vermuten. Dagegen scheint das Verständnis z. B. von einer extremen Untersicht unmittelbar auf unsere Wahrnehmungskompetenz bezogen zu sein. Die These, die wir genauer untersuchen möchten, lautet also, dass die zur Steuerung des Bildver- stehens wichtigen stilistischen Elemente zumindest teilweise nicht rein konventionell sind, son- dern in enger Relation zu den jeweiligen Wahrnehmungsvermögen des Bildbetrachters stehen. Bevor wir diese These eingehender plausibel machen (3.) und an dem konkreten Beispiel einer sozialkritischen Fotografie mit naturalistischem2 Darstellungsstil veranschaulichen (4.), möchten wir zunächst einige Erläuterung zum Begriff der Bildrhetorik (2.) vorbringen. 2. Was ist Bildrhetorik? Unter ›Rhetorik‹ wird gegenwärtig die Theorie und Praxis der menschlichen Beredsamkeit verstan- den (vgl. Knape 2000). Soll es der Rhetorik in diesem Sinne ganz allgemein um die Möglichkeiten der Erzeugung oder Änderung von Überzeugungen (bzw. um die entsprechenden Theorien hierzu) gehen, dann wird auch dem Bild niemand rhetorische Aspekte absprechen wollen. Denn bekann- ter- und erwiesenermaßen wird mit Bildern etwas in uns bewirkt. Entsprechend prägen Bilder (oft in unmittelbarer und affektiver Weise) unsere Überzeugungen. Die Bemühungen um eine Bildrhetorik haben dennoch erst in jüngster Zeit eingesetzt (vgl. Knape 2005). Hierbei lässt sich, anknüpfend an die genannte Definition von Rhetorik, unter dem Ausdruck ›Bildrhetorik‹ die Theorie und Praxis des Einsatzes bildhafter (oder allgemeiner noch: visueller) Mittel zur Verstärkung der menschlichen Überzeugungsfähigkeit verstehen.3 Primär wird es der Bildrhetorik um eine Reflexion des Einsat- zes und der gezielten Gestaltung von Bildern in persuasiven Kontexten gehen. Hierbei ist es hilfreich, einige Grundunterscheidungen einzuführen. Bei der Bestimmung der rhe- torischen Mittel sollte zunächst unterschieden werden, ob es sich primär um Bildkommunikation oder primär um sprachliche Kommunikation handelt (vgl. hierzu Harms 1990 oder Heitmann & Schiedermair 2000). Der zweite Fall, bei dem das Bild etwa zur Illustration sprachlich vorgegebe- ner Sachverhalte verwendet wird, ist sicherlich gebräuchlicher. Unter Umständen wird man hierbei bereits die Tatsache, dass überhaupt ein Bild (als Beleg oder zur Illustration) gezeigt wird, selbst als rhetorisches Mittel werten. Hierbei handelt es sich aber nicht um genuin bild-rhetorische Ver- fahren. Innerhalb eines kommunikativen Kontextes können natürlich beliebige Gegenstände rhe- torisch wirksam werden. So kann beispielsweise auch der Zeitpunkt, der Ort oder selbst ein zeit- gleiches Ereignis an einem anderen Ort den Erfolg einer Rede beeinflussen. Von einem bildhaften rhetorischen Mittel im eigentlichen Sinn wollen wir nur dann reden, wenn ein Bild auf Grund seiner 2 In der Filmtheorie hat sich statt des von uns an dieser Stelle verwendeten Ausdrucks »Naturalismus« der Ausdruck »perzeptueller Realismus« eingebürgert. Siehe die Erläuterungen hierzu in Abschnitt 4. 3 Eine interessante Verallgemeinerung der Bildrhetorik wäre eine visuelle Rhetorik, die dann allerdings auch Bereiche wie Architektur oder Design umfassen würde. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 177 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE bildinternen Eigenschaften kommunikativ wirksam wird. Hier sind wir bereits im Grenzbereich zum ersten Fall angelangt: der Bildkommunikation nämlich, die bild-rhetorisch den interessanteren Fall liefert, weil das Bild nun eine (vom sprachlichen Kontext tendenziell unabhängige) eigenständige Funktion wahrnimmt und seine rhetorische Kraft mittels der bildeigenen Eigenschaften bzw. der jeweiligen Bildgestaltung entfalten muss. Bildkommunikation ohne jeden sprachlichen Bezug ist recht selten. Sie liegt am ehesten noch in den Werken der modernen Bildkunst vor. Die Übergänge sind allerdings fließend. Selbst wenn Bilder ohne Text erscheinen, stehen sie oft – wie etwa das Beispiel der sakralen Bildkunst zeigt – im Kontext eines sprachlichen Diskurses, so dass ihr Verständnis eine genauere Kenntnis der entsprechenden Texte voraussetzt.4 Liegt eine Text-Bild-Kombination vor, dann handelt es sich nur dann primär um Bildkommunikation, wenn nicht das Bild die sprachlichen Zeichen, sondern umgekehrt die sprachlichen Zeichen das Bild erläutern. Der Text dient in diesem Fall also lediglich zur Verdeutlichung der Bildmitteilung und könnte eventuell auch fehlen. Bei den klassischen Print- medien – wie dem Buch oder der Zeitung – liegt primär sprachliche Kommunikation vor. Dagegen geht es in den modernen Medien – wie Fernsehen oder Video – primär um Bildkommunikation.5 Eine weitere wichtige Unterscheidung, die sich aus dem Gesagten bereits ergibt, besteht darin, ob die rhetorische Wirkung von dem Bild insgesamt oder von einzelnen Gestaltungselementen aus- geht. Einem Gestaltungselement messen wir dabei eine rhetorische Funktion bei, insofern es über die Darstellung eines Inhaltes hinaus zugleich zur Verdeutlichung der kommunikativen Intention und damit zur Verdeutlichung des Verwendungszwecks beiträgt. Diese Verdeutlichung ergibt sich also nicht aus dem Inhalt allein, sondern aus der Art und Weise, wie ein Inhalt präsentiert wird. Rhetorisch sind demnach primär die unterschiedlichen Darstellungsweisen, die (durch stilistische Marker verstärkt) das Verständnis eines visuellen Artefaktes unterstützen und lenken. Bei unseren weiteren Überlegungen wird es insbesondere um diese Mittel gehen, also um die dem visuellen Artefakt inhärenten Steuerungscodes. Wenn der Rhetorikbegriff entsprechend weit gefasst wird, besagt die Rede von einer Bildrhetorik also, dass Bilder innerhalb kommunikativer Zusammenhänge kraft ihrer visuellen Eigenschaften bzw. ihrer visuellen Gestaltung persuasive Funktionen übernehmen können. Die konkrete Aufga- be einer Bildrhetorik liegt dann in der Erfassung der jeweiligen Gestaltungsmittel, die geeignet sind, in systematischer Weise Überzeugungen zu generieren oder zu modifizieren. Offensichtlich kann dies in überaus vielfältiger Form geschehen. Ein sehr einfaches Mittel ist beispielsweise die Hervorhebung bestimmter Inhalte durch Vergrößerung. Die Hervorhebung ist nur eines unter zahl- reichen Mittel, das zudem sehr unterschiedlich realisiert werden kann, beispielsweise ebenfalls durch farbliche Kontraste oder durch eine spezielle Beleuchtungssituation. So wird etwa durch eine zusätzliche Ausleuchtung in Abbildung 1 rechts der Eindruck der Räumlichkeit und Materiali- 4 Ähnliches kann man übrigens auch für die Werke der modernen Kunst annehmen: Für ihr Verständnis ist in der Regel der Diskurs der Kunstkritik durchaus konstituierend. 5 Für eine Bildrhetorik sehr interessant ist natürlich der spezielle Bereich der Werbung, in der sich die zahlreichen visuellen Strategien beobachten und untersuchen lassen, mit denen einem Betrachter die kommunikativen Absichten (mehr oder weniger bewusst) nahe gebracht werden. In ähnlicher Weise gibt dies für den Bereich der politischen Kommunikation. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 178 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE Abb. 1: Hervorhebung von Materialität und Tiefe durch Ausleuchtung (rechts) tät des abgebildeten Objektes deutlich gegenüber der linken Fassung hervorgehoben (vgl. Hoppe & Lüdicke 1998). Wichtig ist hierbei vor allem, dass sich bild-rhetorische Elemente aus der Art und Weise ergeben, wie ein Inhalt dargestellt wird, also aus dem Darstellungsstil. Wir verwenden den Ausdruck ›Stil‹ im Folgenden sehr allgemein und nicht im kunsthistorischen Sinne. Ist die Annahme richtig, dass der Darstellungsstil eines Bildes als Mittel zur Steuerung der Bildinterpretation dient, dann ergibt sich hieraus unmittelbar die Empfehlung, Bildstil und Bildfunktion aufeinander abzustimmen, da nicht jede Bildfunktion in derselben Weise angezeigt werden kann. Um beispielsweise die Funktions- weise des menschlichen Blutkreislaufes in einem medizinischen Lehrbuch zu veranschaulichen, ist eine fotografische Darstellung – und generell eine zu realistische Darstellung – eher ungeeignet. Wie etwas bildhaft dargestellt werden sollte hängt also entscheidend von dem Verwendungs- zweck oder von der Bildfunktion ab. Schließlich erweist sich eine Gliederung der rhetorischen Wirkung eines Bildes in ihre kognitiven (strukturalen) Komponenten einerseits und ihre affektiven (motivationalen) Aspekten andererseits im Folgenden als hilfreich.6 Dass man ›im Bild‹ etwas sieht und diesen Bildinhalt mit bereits Ge- wusstem zu neuen Überzeugungen verknüpfen kann ist zunächst lediglich eine strukturale Mög- lichkeit, und zwar in der Regel eine unter mehreren. Tatsächlich müssen wir von einer prinzipiellen semantischen Unbestimmtheit des Bildinhalts ausgehen, die sich nicht nur daraus herleitet, dass sich vermutlich immer alternative Szenarien konstruieren lassen, die ein vergleichbares Wahrneh- mungsmuster erzeugen würden (vgl. Sachs-Hombach 2003: 174 ff.). Bereits die der Inhaltsbe- stimmung vorausgehende Einteilung in Figur und Grund ist nicht eindeutig festgelegt und kann, abhängig von den aktuellen Verwendungsbedingungen, vielfältig variieren (vgl. Schirra 2005: 50 & 67). Dass ein bestimmter Bildinhalt gesehen wird und darauf basierend ein kognitiv möglicher Schluss tatsächlich gezogen, eine bestimmte Meinung gebildet wird, hängt auch davon ab, dass eine 6 Immerhin wird bereits in der klassischen Rhetorik die so genannte Affektenlehre betrachtet, eine seit der Antike entwickelte Lehre vom Einsatz der Affekte für die Absicht eines Redners. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 179 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE entsprechende Motivation vorhanden ist. Es sind speziell die affektiven Wirkungen von Bildprä- sentationen, die wir in diesem Zusammenhang betrachten wollen, denn sie vor allem können die notwendige ›Energie‹ liefern, um eine struktural nur mögliche rhetorische Wirkung zu realisieren und damit einen bestimmten Bildinhalt und eine darauf aufbauende illokutionäre Rolle als aktuell relevant festzulegen. Unter Affekten versteht man eine Komponente der Verhaltenssteuerung, die im Wesentlichen spontan funktioniert, wenigstens in Grundzügen angeboren ist (vgl. Dornes 1995: 21) und recht unterschiedliche Aspekte aus der Verhaltenstheorie, der Physiologie und der Psy- chologie integriert. So gehören bestimmte Ausdrucksbewegungen (insbesondere Mimik) ebenso dazu, wie einige Bereiche des hormonellen und des vegetativen Systems, und schließlich gewisse Einfärbungen von Kognitionen (vgl. Krause 1995: 57). Uns interessieren hier insbesondere letztere: Bestimmte Wahrnehmungen sind angstbesetzt, andere füllen uns mit Lust; gewisse Vorstellungen lösen Wut aus, andere Scham. Dabei beeinflusst die affektive Einfärbung gesehener Gegenstän- de – und das ist unabhängig davon, ob diese Gegenstände realiter oder im Bild gesehen werden – deutlich die Wahrscheinlichkeit, dass auf diese Gegenstände auch reagiert wird (ebenso: dass man sich an sie erinnert). Auf Bildpräsentationen bezogen heißt dies, dass deren illokutionäre Funktion von der Stärke der affektiven Einfärbungen abhängen sollte. 3. Illokutionäre Rolle und Bildstil Betrachten wir in Abbildung 2 zunächst ein relativ einfaches Beispiel aus der Computervisualistik (vgl. Strothotte & Strothotte 1997: 273 f.). Die drei dort dargestellten Gebäudeansichten basieren auf einem einzigen geometrischen Modell (d. h. dem abstrakten, rechner-internen Stellvertreter eines abzubildenden Gegenstands in der Informatik). Aus ihm wurden mit unterschiedlichen Al- gorithmen die verschiedenen bildlichen Darstellungen gerendert. Unter ›Rendering‹ wird in der Computergrafik der algorithmische Prozess verstanden, mit dem aus dem geometrischen Modell eine konkrete Ansicht relativ zu einem gewählten Betrachterstandpunkt und zu einer gegebenen Beleuchtungssituation erzeugt wird. Allgemein bekannt sind sicher die so genannten ›photorea- listischen‹ Rendering-Algorithmen, deren Resultate etwa Version b entsprechen. Inzwischen ist es allerdings durch das so genannte non-photorealistic rendering möglich geworden, auch eine Fülle anderer Darstellungsstile recht einfach mit dem Computer generieren zu lassen. So können Abb. 2: Computergenerierte Gebäudeansichten mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad und Linienstil, Schumann et al. 1996 IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 180 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE beispielsweise unterschiedliche Linienstile als Parameter in das Rendering eingehen (Abb. 2 a und c). Bei Abbildung 2 liefert die Variante c eine Gebäudeansicht, die wir spontan als Skizze interpre- tieren, einer Darstellungsart also, die wir gemeinhin mit einer eher flüchtigen Produktions- und Rezeptionssituation in Verbindung bringen; die Darstellung in a erinnert hingegen eher an eine technische Zeichnung. Wichtig ist hierbei zunächst einmal, dass wir den speziellen Linienstil nicht dem dargestellten Gebäude zuschreiben, sondern ihn als stilistische Besonderheit der Darstellung verstehen. Zum Verständnis des kommunikativen Bildgehalts ist diese Besonderheit des Darstel- lungsstils wesentlich. Die Verwendung des skizzenartigen Darstellungsstils intendiert nämlich eine Vermittlung von speziellen affektiven und damit motivationalen Aspekten: Während die Darstel- lungsspielarten a und b bei der Präsentation den Klienten eines Architekturbüros gegenüber als abgeschlossen und unabänderlich wirken, signalisiert die flüchtige Skizze die Vorläufigkeit des Entwurfs. Ein Architekt kann also durch geschickte Wahl des Darstellungsstils entweder seine Au- torität über die Entwurfsentscheidungen herausstreichen. Oder aber er kann den designerischen Entwicklungsprozess als wesentlich offener erscheinen lassen und so versuchen, seine Klienten stärker darin einzubeziehen. Weil zur Vermittlung des Bildinhaltes in der Regel recht abstrakte Darstellungsformen hinreichend sind, kann der Darstellungsstil also genutzt werden, um die je- weiligen kommunikativen Absichten manifest zu machen. Folglich dient der Stil, terminologisch gesprochen, als illokutionärer Indikator (vgl. auch Sachs-Hombach & Schirra 2002). Wird Bildkommunikation mit Hilfe einer Bestimmung der illokutionären Rollen handlungstheore- tisch beschrieben, dann lassen sich drei grundsätzliche Komplexitätsgrade unterscheiden. Auf der elementarsten Ebene veranschaulicht ein Bild lediglich als wesentlich erachtete Begriffsmerk- male bzw. den mit der Verwendung des Begriffs notwendig verbundenen Verhaltenskontext. Eine solche Veranschaulichung ist etwa für Bildwörterbücher typisch oder – etwas komplexer – in den grafischen Darstellungen geometrischer Theoreme wichtig, wie sie sich in mathematischen Lehr- büchern finden. Bei diesen Darstellungen handelt es sich durchweg nicht um die Darstellung indi- vidueller, konkreter Gegenstände, sondern um die Darstellung von Gegenstandsklassen oder von abstrakten Gegenständen.7 Daher könnte die Grundfunktion der Veranschaulichung auch analog zur charakterisierenden Funktion von Prädikaten aufgefasst werden. Auf einer komplexeren Ebene kann mit einem Bild auch zu verstehen gegeben werden, dass es sich bei der Veranschaulichung um einen ganz bestimmten Gegenstand handelt, auf den Bezug genommen und dem bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden sollen: dass bestimmte Bildelemente also topische Funktion haben. Obwohl ihre kausale Entstehungsgeschichte jeweils eine bestimmte Referenz nahe legen mag, ist dies keine spezifische Eigenschaft von Fotografien. Soll die Referenz eines Zeichens bildhaft sichergestellt werden, dann muss sie über den jeweiligen Bildinhalt – über das, was wir in ihnen sehen – zustande kommen. 7 Nebenbei bemerkt sind in solchen geometrischen Darstellungen genau genommen die gezeigten Gegenstände (etwa ein Dreieck) zwar nicht im engen Sinne individuiert (vgl. Schirra 2005: 60ff, 118ff & 189), aber es handelt sich in der Regel ebenfalls nicht notwendig um die allgemeine Klasse (der Dreiecke) insgesamt. Vielmehr wird jeweils eine mehr oder weniger umfangreiche Unterklasse (etwa gleichschenklige Dreiecke) zur Verhandlung gebracht. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 181 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE Es gibt unseres Erachtens daher im Bildbereich kein Äquivalent für Eigennamen im engeren Sinne. Die Veranschaulichung konkreter Gegenstände erfolgt immer analog zu Kennzeichnungen, indem begriffliche Charakterisierungen derart kombiniert werden, dass sie sich in einem bestimmten Kontext zur Charakterisierung individueller Dinge eignen.8 Ein weiterer Komplexitätsgrad liegt schließlich vor, wenn wir mit bildhaften Darstellungen die ver- schiedenen illokutionären Funktionen ausüben. Mit dem Präsentieren eines Bildes lässt sich bei- spielsweise eine Behauptung oder eine Aufforderung verbinden oder auch eine Einstellung einem Sachverhalt gegenüber vermitteln. Mit Bildern können wir also unter anderem etwas behaupten oder vor etwas warnen. Ob etwa die Präsentation eines Bildes normativ aufzufassen ist ergibt sich dabei nicht aus dem Bild selbst, sondern immer erst aus dem kommunikativen Kontext. Ein und dasselbe Bild erhält daher in der Regel relativ zu dem jeweiligen Handlungszusammenhang eine unterschiedliche kommunikative Bedeutung. Diese verschiedenen Formen der Bildkommu- nikation zu erfassen ist eine der wesentlichen Aufgaben einer sprechakttheoretisch inspirierten Bildpragmatik, die es bisher erst in Ansätzen gibt. Kommen wir aber zu unserer Abbildung 2 zurück, in der die Vorläufigkeit der Darstellung durch einen skizzenhaften Linienstil zum Ausdruck gebracht wird. Die nahe liegende theoretisch inter- essante, aber nur sehr schwierig zu beantwortende Frage lautet nun: Inwieweit ist die jeweilige Wahl der Darstellungsmittel eine rein konventionelle Festlegung? Oder gibt es doch syntaktische Eigenschaften eines Bildes, die bestimmte Lesarten auf Grund spezieller perzeptueller Kompe- tenzen zumindest begünstigen? Gibt es, anders gefragt, eine in der Bildlichkeit selbst begründete Basis, auf deren Grundlage wir die jeweilige illokutionäre Rolle eines Bildes bestimmen können bzw. der gemäß wir sie gestalten müssen, um angemessen verstanden zu werden? Eine Beant- wortung dieser Frage ist natürlich besonders für diejenigen Bilder wichtig, die ohne sprachlichen Kommentar möglichst unmittelbar wirken sollen. In Sachs-Hombach & Schirra 2002 hatten wir untersucht, inwieweit ein Unterschied im Darstellungsstil innerhalb eines Bildes die Zuordnung von prädikativen (rhematischen) und topischen (thematischen) Funktionen zu entsprechenden Bil- delementen beeinflussen kann. Im Folgenden möchten wir nun behaupten und an einem Beispiel verdeutlichen, dass auch bildhafte illokutionäre Indikatoren durchaus perzeptuell verankert sein können. Zu betonen ist hierbei aber, dass die perzeptuelle Verankerung nicht zu einer ›natürlichen‹ Bedeutung führt, ebenso wenig, wie die Zuordnung zu referentiellem Grund und prädikativer Fi- gur durch eine entsprechende Unterscheidung im Darstellungsstil innerhalb eines Bildes völlig determiniert sein kann. Bilder sind nicht nur, wie oben erwähnt, semantisch unbestimmt. Zudem ist der Wahrnehmungsprozess selbst teilweise kulturell geformt. Beispielsweise haben sich unse- re Kompetenzen, Filme anzusehen, über die letzen hundert Jahre enorm verändert.9 Schließlich bilden auch die Wahrnehmungsinhalte in der Regel soziale Artefakte, die wir natürlich nur darum 8 Es ist ebenfalls möglich, ein bestimmtes Referenzobjekt für Bilder einfach konventionell festzulegen. So mag etwas eine Fischdarstellung symbolisch auf Christus referieren oder eine Taube für Frieden stehen. In diesen Fällen der symbolischen Bedeutung interpretieren wir die Referenz allerdings nicht mehr in bildhafter, sondern in symbolischer und damit in kulturell geprägter konventioneller Weise. 9 So ist es zum Beispiel keineswegs selbstverständlich, eine bestimmte Einstellung im Film als Traumsequenz zu verstehen. Die Mittel, um diese Betrachtungsweise nahe zu legen bzw. anzuzeigen – etwa durch eine diffuse Beleuchtungssituation oder durch spezielle Filter – sind konventioneller Natur und mussten zunächst als solche etabliert werden. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 182 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE Abb. 3: Nick Ut: Napalm Bomb Attack, Vietnam 1972. angemessen erkennen und beurteilen können, weil wir mit ihnen in den entsprechenden lebens- weltlichen Verwendungskontexten bereits umgehen. 4. Naturalismus als illokutionärer Indikator Als Beispiel haben wir die bekannte Kriegsfotografie Napalm Bomb Attack von Nick Ut gewählt (vgl. Abb. 3).10 Wir möchten nun weniger auf die ikonografischen und ikonologischen Aspekte eingehen (vgl. dazu Blum 2005), sondern diese Fotografie als ein offensichtliches Beispiel für die bildhafte Appellfunktion nutzen. Warum, lautet dann die Frage, wirkt diese Fotografie in so unmittelbarer Weise appellativ? 1972 veröffentlicht hatte sie nicht unerheblich zur Kritik am Vi- etnamkrieg und vielleicht sogar zur Beendigung dieses Krieges beigetragen. Es steht also außer Zweifel, dass diesem Bild eine appellative illokutionäre Funktion zugeschrieben wurde. Mit wel- chen Mitteln wurde dies erreicht?11 Unsere These hierzu lautet dann, dass der hierbei zum Aus- druck kommende Naturalismus ein wichtiges Stilmittel dafür abgibt. Das schließt weder aus, dass dieser Eindruck sehr bewusst hergestellt wurde, noch schließt es aus, dass seine Wirkung sich im historisch-kulturellen Wandel auch verlieren kann. Naturalismus verstehen wir als einen Darstellungsstil, bei dem ein möglichst hohes Maß an visu- ellem Realismus angestrebt wird. Damit ist nicht gemeint, dass die Darstellung in einem erkennt- nistheoretischen Sinne realistisch ist, denn auch ein fiktiver Gegenstand kann perzeptuell realis- tisch dargestellt werden. Naturalismus und erkenntnistheoretischer Realismus dürfen also nicht 10 Zuweilen wird diese Fotografie auch mit dem Titel Terror of War versehen. 11 Dabei geht es uns nicht um die eher kunsthistorische Frage, warum gerade dieses Bild im Unterschied zu den vielen anderen, die uns ebenfalls authentische, ›naturalistische‹ Darstellungen von für jenen Krieg charakteristischen Szenen vor Augen führen, zu einer Ikone des Vietnamkrieges werden konnte. Wichtig ist uns hier, die Form der Argumentation zu ergründen, welche die appellative Nutzung des Bildes erklärt, und dabei insbesondere unseren Augenmerk auf die Anteile zu richten, die spezifisch bei der Verwendung von Bildern auftreten, bei anderen Kommunikationsformen hingegen keine oder nur eine deutlich geringere Funktion haben können. Diese Form der Handlungsmotivierung tritt faktisch bei der Verwendung vieler anderer Bilder ebenfalls auf; sie ist in der Tat sogar als Möglichkeit im Gebrauch eines jeden Bildes angelegt. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 183 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE verwechselt werden. Das erste ist als Darstellungsstil eine graduell variable Eigenschaft: So ist ein Farbfoto hinsichtlich der Farbwerte naturalistischer als ein Schwarzweißfoto. Der zweite betrifft hingegen das Verhältnis von Darstellung und Wirklichkeit: eine Darstellung kann entsprechend als wirklichkeitsgetreu oder nicht wirklichkeitsgetreu bewertet werden.12 4.1 Die kognitive Komponente des Appells Um den strukturalen Aspekt bei unserem Beispiel verständlich zu machen, ist es hilfreich, den mit der Fotografie verbundenen Appell als praktischen Syllogismus zu formulieren. Der Sinn einer Übersetzung des Appells in einen praktischen Syllogismus besteht aus Sicht der allgemeinen Bildwissenschaft einerseits darin, übergeordnete theoretische Beschreibungsmittel zur Rekons- truktion bildrhetorischer Zusammenhänge bereitzustellen, andererseits und vor allem darin, die Beschreibung als eine Analyse auszuführen, mit der wir uns die logischen Voraussetzungen in die- sem Fall des appellativen Bildeinsatzes vergegenwärtigen können. Auf diese Weise können wir all die Annahmen explizieren, die oft als selbstverständlich vernachlässigt werden, aber doch über- aus voraussetzungsreich und entsprechend variabel sind. Formal lässt sich das als Du solltest X tun! bzw. Ich fordere Dich auf, X zu tun zum Ausdruck bringen. Wir sehen im Folgenden davon ab, wie dieser Appell konkret aussieht, was also im Einzelnen getan werden soll. Er könnte verstanden werden als Aufforderung, sich kritisch über den Vietnamkrieg zu äußern, oder als Aufforderung, gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren, oder auch als Aufforderung, eine bestimmte Partei zu wählen. Wichtiger als der Inhalt des Appells, auf den wir aus Darstellungsgründen nicht ganz verzichten können, ist uns im Folgenden die Art der Handlungsmotivierung, mit der ein solcher Appell un- terstützt wird und die als die logische Struktur des Appells gelten kann. Diese Struktur kann in der Form eines praktischen Syllogismus verdeutlicht werden. In der neueren Philosophie wird der praktische Syllogismus, der ursprünglich auf Aristoteles zurückgeht, in der Regel als Ausdruck zweckrationaler Zusammenhänge gefasst. Als Prämissen dienen daher zum einen eine Hand- lungsabsicht und zum anderen die Überzeugung, dass das mit der Absicht verbundene Ziel über ein bestimmtes Mittel erreicht werden kann. Die Konklusion besteht dann in der Aufforderung, sich dieses Mittels zu bedienen. Ist eine der Prämissen jedoch ein Gebot, dann beschreibt der prakti- sche Syllogismus eine moralische Verpflichtung, wie sie uns unter anderem im Appell begegnet. Bei unserem Beispiel kann als eine mögliche (und keineswegs selbstverständliche) normative Prämisse etwa die dem kategorischen Imperativ angelehnte Formulierung »Sei gerecht!« dienen, die wir auch so verstehen können: »Nimm Stellung gegen Unrecht!«. Dies wäre eine implizite Forderung, auf die bei der Verwendung des Bildes nicht ausdrücklich Bezug genommen wer- 12 Wir unterscheiden insgesamt sogar dreierlei: Naturalismus (= perzeptueller Realismus), Realismus und erkenntnistheoretischer Realismus (vgl. Sachs-Hombach & Schirra, 2002). Anders als beim Naturalismus ist die Zuordnung, ob Realismus oder auch erkenntnistheoretischer Realismus vorliegt, offensichtlich nicht graduell sondern eine Ja/Nein-Entscheidung. Bei einem in unserem Sinne realistischen Bild ist das Dargestellte eine Konfiguration räumlicher Gegenstände, wie sie möglich sein muss, aber nicht faktisch gegeben zu sein braucht. Diese Art von Realismus bildet also eine Zwischenform, denn es sind sowohl Darstellungen fiktiver Szenen eingeschlossen, die nicht erkenntnistheoretisch realistisch sind, als auch etwa Kupferstiche, die wir nicht als naturalistisch fassen. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 184 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE den muss, wenn sie bei den intendierten Bildnutzern als anerkannt vorausgesetzt werden kann. Zudem benötigen wir eine Regel als Prämisse, die etwa bestimmte Kriege als Unrecht ausweist, beispielsweise in der folgenden Formulierung: »Ein Krieg, der Unbeteiligte gemäß internationalen Völkerrechtes, insbesondere Kinder nicht verschont, ist Unrecht.« Schließlich muss es eine auf das Bild bezogene Prämisse geben, die uns nun vor allem interessiert: Mit ihr wird eine konkrete Einschätzung gegeben, etwa: »Im hier gemeinten Krieg werden Kinder nicht verschont.« Mit die- sen drei Prämissen lässt sich der Appellcharakter der Bildpräsentation – hier formal und in einem inhaltlichen Beispiel – so darstellen:13 (P1) normative Prämisse Sei gerecht: Nimm Stellung gegen Unrecht! (P2) Regel-Prämisse Ein Krieg, der Unbeteiligte, insbesondere Kinder nicht verschont, ist Unrecht. (P3) kognitive Prämisse: Im hier dargestellten Krieg werden Kinder nicht aus Bild abgeleitet verschont. _________________________________________________________________________________ (K) appellative Konklusion Nimm Stellung gegen den hier dargestellten Krieg! Dass die als Beispiel gegebenen Prämissen nicht allgemein akzeptiert wurden und werden ist klar. Hinsichtlich (P2) ließen sich etwa komplizierte Diskussionen darüber anschließen, ob es nicht einen gerechten Krieg geben kann. Wir können hier auf diese inhaltliche Diskussionen verzichten, und gehen im weiteren davon aus, dass die Präsentation der Fotografie eine Appellfunktion nur in dem Maße ausübt, in dem allgemeine Prämissen der Form (P1) und (P2) von den Bildnutzern anerkannt werden.14 Wir konzentrieren uns nun auf den Fall des gelungenen (d. h. als Kommu- nikationsintention verstandenen) Appells, für den es zu klären gilt, wie bildspezifische Faktoren wirksam werden. Für unseren Zusammenhang ist nun insbesondere (P3) wichtig. Während die ersten beiden Prä- missen vom Bildverwender vorausgesetzt werden können, muss die dritte Prämisse »Im Vietnam- krieg werden Kinder nicht verschont« vor allem durch das Bild vermittelt und plausibel gemacht werden. Das Bild ist eine unter üblichen Sichtbedingungen – Augenhöhe, passable Lichtverhält- nisse, gute Schärfentiefe – geschossene Schwarzweißfotografie mit einer Horizontlinie im oberen Drittel der Bildfläche. Es handelt sich zudem um eine hochnaturalistische Darstellung; lediglich das Fehlen von Farbe schränkt den Grad an Naturalismus etwas ein. In der Fotografie zeigt sich uns – zwischen anderen Kindern mit ähnlicher Mimik und Bewegung – insbesondere ein ma- geres, nacktes, vor Entsetzen oder Schmerz schreiendes Mädchen in der Bildmitte, das »nicht verschont« wurde, da es mit allen Kräften einer tödlichen Gefahr zu entkommen versucht: Der Himmel im Hintergrund wird durch dunkle Rauchwolken verdeckt, deren Quelle im Fluchtpunkt der Straße zu liegen scheint, auf der die Kinder davonrennen. Entsprechend der These von der 13 Genau genommen folgt im inhaltlichen Beispiel aus (P2) und (P3) zunächst (K1): »Der hier gemeinte Krieg ist Unrecht«, aus dem sich dann mit (P1) direkt (K) ergibt. Da es im Folgenden vor allem auf (P1), (P2), (P3) und (K) ankommt, ignorieren wir den Zwischenschritt. Wie oben bereits erwähnt kommt es uns hier auch weniger auf die inhaltlichen als auf die formalen Aspekte an. 14 Der Einwand verdeutlicht allerdings, dass eine Appellfunktion vom Kontext und insbesondere von den bereits vorher bestehenden Überzeugungen abhängt. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 185 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE Wahrnehmungsnähe als Charakteristikum der Bilder lassen sich diese Bedeutungskomponenten unter Nutzung von i. w. denselben Wahrnehmungskompetenzen gewinnen, die wir auch für das Sehen der Szene selbst einsetzen würden, wären wir denn dort gewesen. Für die weiteren strukturalen Aspekte benötigt die Bildpräsentation Unterstützung durch den Kontext. Beispielsweise ist es sehr schwierig, nur mittels der Fotografie den Bezug auf Vietnam herzustellen. Klar ist, dass es sich um kriegerische Aktivitäten (bewaffnete Uniformierte im Hinter- grund, Explosionswolke) in einem vermutlich asiatischen Land handelt. Aber könnte nicht auch ein Terroranschlag in Indonesien oder eine Brandkatastrophe in den Philippinen dargestellt sein? Oder handelt es sich etwa nur um ein Standbild zu einem Action-Film aus Hollywood? Um dies auszuschließen werden Fotografien im medialen Kontext in der Regel mit Bildunterschriften ver- sehen, die als indexikalische Verankerung dienen, aber natürlich ebenfalls nicht unabhängig vom Verwendungskontext funktionieren. Allein diese Voraussetzung zeigt, dass die appellative Bild- funktion mit der Distanz zur ursprünglichen Präsentationssituation unsicherer wird. Trotzdem wird jemand, dem die Fotografie von Ut präsentiert wird, einen intendierten Appell entsprechend der aufgezeigten syllogistischen Struktur auch ohne die historischen Kenntnisse verstehen können. Ein weiterer kognitiver Aspekt auf der inhaltlichen Ebene, der Kontextinformationen erfordert, liegt im Glauben an den indexikalischen Charakter von Pressefotos. Auch dies ist keineswegs selbst- verständlich und wird im Zeitalter der digitalen Fotografie sogar zunehmend fragwürdig. Damit der dargestellte Syllogismus inhaltlich funktioniert, muss der Bildnutzer glauben, dass das Dargestell- te tatsächlich stattgefunden hat, dass also der Bildzeichenakt authentisch ist. Die Fotografie an sich kann das in der Tat nicht sicherstellen. Nur unter der zusätzlichen Annahme, dass der kausa- le Herstellungsprozess der Fotografie unter bestimmten Bedingungen des Gelingens Realismus verbürgt und zudem die Institution der seriösen Presse richtig funktioniert, d. h. die Authentizität der durch sie vermittelten Zeichenakte garantiert, kann daher der Bildnutzer Prämisse (P3) in den Syllogismus einbeziehen (vgl. auch Schirra 2005: 76ff &179ff). Allerdings kann gerade der relativ hohe Grad an Naturalismus zumindest auch als ein bild-rhetorischer Hinweis darauf verstanden werden, dass diese Darstellung als eine authentische Darstellung zu interpretieren sei. Inhaltlich gesehen lassen sich allerdings neben dem gegebenen Beispiel als Schlussfolgerung (P1, P2, P3) zu (K) aus kontextueller und bildkommunizierter Meinung gerade wegen der Wahr- nehmungsnähe des Bildes noch sehr viele weitere struktural ableiten.15 Denn bei der Verwendung von Bildern muss man prinzipiell mit einer gewissen Offenheit ihrer Interpretation rechnen. Dass der hier vorgestellte Syllogismus als strukturale Basis der illokutionären Rolle unseres Beispielbil- des tatsächlich verwendet wird, dass man sich ihm sozusagen kaum verweigern kann, das erfor- dert daher noch einen zusätzlichen Schritt, der allerdings die motivationale Komponente betreffen muss. 15 Beispielsweise: »Angriffe mit Napalmbomben sind sehr effektiv«. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 186 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE Abb. 4: Ausschnitt von Abb. 3 Abb. 5: E. Munch: Der Schrei. Lithographie, 1895 4.2 Die affektive Komponente des Appells Bei einer Präsentation in einer beliebigen Kontextualisierung des Ut-Bildes zeigt uns der jeweilige Sender im Bildmittelpunkt ein mageres, nacktes, vor Entsetzen oder Schmerz schreiendes kleines Kind, das mit all seinen Kräften einer im Hintergrund drohenden Gefahr zu entkommen versucht (Abb. 4). Es ist dieses vor Grauen verzerrte Gesicht des schutzlosen Mädchens im Zentrum des Bildes, dem wir uns kaum entziehen können. Hört man nicht fast ihre Schreie, ebenso wie das Schluchzen des gleichfalls verzweifelt weinenden, etwas älteren Jungen am linken Bildrand? Wie genau hängen diese Reaktionen mit der illokutionären Funktion des Bildes zusammen? Die spontane Wirkung des Bildes ist eng damit verbunden, dass Mimik eine ausgesprochen wich- tige Komponente des Affektausdrucks bei Menschen ist. Wenn wir unsere Mimik nicht – mit ver- hältnismäßig großer Anstrengung – bewusst kontrollieren, spiegeln sich unsere Affekte spontan im Gesicht. Dabei kommt den affektiven Ausdrucksbewegungen bereits bei Tieren auch eine kom- munikative Funktion zu: Eine starke affektive Belegung eines gesehenen Fressfeindes mit Angst sorgt sicherlich zunächst für eine effektive Verhaltenssteuerung für das Individuum, das den Jäger wahrnimmt, selbst. Wird darüber hinaus eine mit dem Affekt verbundene Ausdruckbewegung von Artgenossen entsprechend gedeutet und die Angst auf sie übertragen, so kann das Wahrnehmen des Fressfeindes durch das eine Individuum direkt auch den anwesenden Artgenossen zugute kommen. Das gilt cum grano salis auch für die Gattung homo sapiens mit ihren wesentlich kom- plexeren kognitiven Fähigkeiten, wobei nun allerdings auch Abbildungen von Artgenossen zu Af- fektübertragungen führen können. Ganz im Sinne einer solchen nicht bewusst kontrollierten Affektübertragung charakterisiert N. Bi- schof in seinen Überlegungen zur entwicklungspsychologischen Abgrenzung der eigenen Person von anderen (Bischof 1998) seine Verwendungsweise einer Lithographie von E. Munch: Auch in Der Schrei (vgl. Abb. 5) zeigt sich dem Betrachter eine Person mit äußerst verzerrter Mimik, die als Ausdruck eines starken, geradezu neurotischen Affektes – einer entsetzlichen Angst – gedeutet IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 187 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE wird (Hughes 1981, 285). Diese Angst werde in Munchs Werk, so Bischof, auf eine Art dargestellt, »die es dem, der sich auf das Bild einlässt, nicht erlaubt, Distanz zu wahren« (Bischof 1998: 133f.), ganz wie es für vorbewusste Stimmungsübertragungen typisch sei. Obgleich diese Form der in- tersubjektiven Verhaltenssteuerung begrifflich zu einer frühen Entwicklungsstufe zählt, bleibt sie auch bei späteren Stufen, in denen sich das Subjekt als von anderen Subjekten getrennt erlebt und kontrolliert, untergründig wirksam.16 Auch von den in der Ut-Fotografie abgebildeten panischen Gesichtern geht eine ähnliche starke, spontane Affektübertragung aus. Dass die Gefahr in brennendem Napalm besteht ist zwar eine In- formation, die wir nur dem Originalkontext, etwa über den Bildtitel vermittelt, entnehmen können. Aber auch ohne diese Kenntnis empfinden wir unmittelbar den Schrecken und die Bedrohung, die von den dunklen Rauchwirbeln im Hintergrund ausgehen. Wir verstehen sie als Gefahr vor allem deshalb unmittelbar, weil wir eine hohe Sensibilität bei der Interpretation von Gesichtsaus- drücken besitzen und in der Lage sind, Gesichtszüge als direkten Ausdruck von psychischen Befindlichkeiten zu verstehen. Auch wenn wir diesen konkreten Gesichtsausdruck in unserem Alltag noch nicht erlebt haben sollten, so versetzt das Sehen dieser Gesichter – beim Betrachten dieses Bildes – uns spontan in ihn hinein. Der Affekt bleibt zwar in der Regel rational kontrolliert – einem Bild gegenüber verhalten wir uns normalerweise mit mehr rationaler Distanz, als wir uns der dargestellten Szene direkt gegenüber verhalten würden. Aber als entsprechende Emotionen bleibt der übertragene Affekt durchaus nachempfindbar und für das Verstehen der Intention der Bildpräsentation wirksam. Der Mechanismus der Stimmungsübertragung ergibt eine starke motivationale Triebkraft, die als energetische Komponente in den Appell einfließt und dabei insbesondere die normative Prämisse (P1) gewissermaßen auflädt. So wird der gesehenen Szene ein hohes Maß an Relevanz zuge- rechnet, und die davon abhängige logisch-strukturale Basis des Syllogismus tritt als Intention der Bildpräsentation in den Vordergrund. Das spezifisch Bildhafte an der strukturalen und motivationalen Komponente des Appells ergibt sich nicht nur aus der ›Wahrnehmungsnähe‹ (als spezifischer Differenz von Bildern gegenüber an- deren Kommunikationsformaten), sondern auch aus dem speziellen Bildmedium Fotografie und dem damit verbundenen hohe Grad an ›Naturalismus‹. Es ist dieser hohe Grad an ›Naturalismus‹, der in Verbindung mit der unterstellten Objektivität der Fotografie eine starke affektive Aufladung im Falle des analysierten Beispieles auslöst, so zur Fokussierung auf die oben angegebene, struk- tural mögliche Schlussfolgerung führt und damit letztlich die Bildpräsentation mit der illokutionä- ren Funktion des entsprechenden Appells versieht. Naturalismus ist wohl keine notwendige Bedingung des Appellcharakters. Er stellt zunächst nur eine Möglichkeit dar, den Appellcharakter zu markieren. Er wirkt, weil dieser Darstellungsstil die kognitive und affektive Komponente besonders gut aufeinander abstimmt. Auf der strukturalen Ebene deutet er (trotz der oben erwogenen Einschränkungen) in hervorgehobener Weise auch 16 In der Tat fallen mehrere formal-ästhetische Ähnlichkeiten als auch inhaltliche Unterschiede zwischen Munchs Lithographie und dem Zentralteil der Fotografie von Ut in der direkten Gegenüberstellung in Abb. 4 und 5 ins Auge, sollen hier aber nicht weiter thematisiert sein. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 188 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE darauf hin, dass das Gezeigte wirklich passiert ist. Die affektive Komponente für sich lässt sich durchaus auch anders realisieren. Die in der Abstraktion verdichtete Darstellungsweise kann dabei sogar den Effekt verstärken (siehe das Beispiel von Munch, dessen expressionistischer Darstel- lungsstil sicher nicht als naturalistisch gelten kann). Allerdings geht die Steigerung der spontanaf- fektiven Reaktion bei einer solchen ›hypernaturalistischen‹ Darstellung in der Regel auf Kosten der kognitiven Komponente: Der authentische Bezug auf die konkreten Ursachen des Leids wird deutlich abgeschwächt. Im Beispiel Der Schrei bleibt der Grund für dieses ausufernde Leid ent- sprechend auch ganz unbestimmt, die Affektübertragung wird zur dominierenden Wirkung. Eine Appellfunktion darüber hinaus wird nicht gestützt. In der weitgehend naturalistischen Darstellung der Schwarzweißfotografie ergänzen sich hingegen der Authentizitätsanspruch des strukturalen Aspekts und die unmittelbare Wirkung der Stimmungsübertragung gerade wechselseitig und füh- ren auf diese Weise gemeinsam zur untersuchten illokutionären Funktion. 5. Fazit Die kommunikative Bedeutung eines Bildes in einer Präsentationshandlung wird nicht nur durch den Bildinhalt sondern auch durch seine illokutionäre Rolle bestimmt. Diese Rolle sollte dem Be- trachter angezeigt werden. Im rhetorischen Kontext können hierbei stilistische Eigenheiten als Indikatoren dienen. Der Erfolg und die Effizienz bild-rhetorischer Verfahren verdanken sich dabei der zumindest partiellen perzeptuellen Verankerung der als illokutionäre Indikatoren dienenden stilistischen Marker, sowie der spontanen affektiven Reaktionen, die die Wahrnehmungsnähe des Bildes auslöst. Die spezifische Wirkung des verwendeten Darstellungsstils besteht vor allem da- rin, die strukturale und die motivationale Wirkkomponente auf besondere Weise miteinander in Verbindung zu setzen. Die hier wiedergegebenen Überlegungen sind tatsächlich nur als eine erste Annäherung an das Thema Darstellungsstil und bild-rhetorische Funktionen zu verstehen. So bleiben hier etwa kom- plexere Formen der emotionalen Wirkung von Bildern neben den verhältnismäßig einfachen affek- tiven Reaktionen unberücksichtigt. Auch die Rolle, die kunsthistorische Befunde, etwa die dem Ut-Bild eingeschriebene auf europäische Darstellungstraditionen verweisende Komposition (Mäd- chen und Jesus/Pietà), in bild-rhetorischer Hinsicht zu spielen vermögen, und deren Wechselwir- kungen mit dem Darstellungsstil wurden nicht betrachtet. Schließlich muss eine ausführlichere Untersuchung der Rolle, die die möglichen graduellen Abstufungen von Naturalismus – zwischen hypernaturalistischen Verdichtungen auf der einen, und den Naturalismus zunehmend abschwä- chenden Abstraktionen auf der anderen Seite – auf die illokutionäre Funktion einer Bildpräsentati- on haben, weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 189 KLAUS SACHS-HOMBACH/ JÖRG SCHIRRA: BILDSTIL ALS RHETORISCHE KATEGORIE Literatur Bischof, Norbert: Das Kraftfeld der Mythen [Piper] München 1998 Blum, Gerd: Die Komposition des Schreckens. Hynh Cong »Nick« Uts Fotografie »Terror of War« und der interkulturelle Dialog. 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Zum Verhältnis der Begriffe »Bild« und »Handlung« Helge Meyer: Die Kunst des Handelns und des Leidens – Schmerz als Bild in der Performance Art Stefan Meier-Schuegraf: Rechtsextreme Bannerwerbung im Web. Eine medienspezifische Untersuchung neuer Propagandaformen von rechtsextremen Gruppierungen im Internet IMAGE 2 Themenheft: Filmforschung und Filmlehre Klaus Keil: Filmforschung und Filmlehre in der Hochschullandschaft Eva Fritsch: Film in der Lehre. Erfahrungen mit einführenden Seminaren zu Filmgeschichte und Filmanalyse Manfred Rüsel: Film in der Lehrerfortbildung Winfried Pauleit: Filmlehre im internationalen Vergleich Rüdiger Steinmetz/Kai Steinmann/Sebastian Uhlig/René Blümel: Film- und Fernsehästhetik in Theorie und Praxis Dirk Blothner: Der Film: ein Drehbuch des Lebens? – Zum Verhältnis von Psychologie und Spielfilm Klaus Sachs-Hombach: Plädoyer für ein Schulfach »Visuelle Medien« IMAGE 1: Bildwissenschaft als interdisziplinäres Unternehmen. Eine Standortbestimmung Peter Schreiber: Was ist Bildwissenschaft? Versuch einer Standort- und Inhaltsbestimmung Franz Reitinger: Die Einheit der Kunst und die Vielfalt der Bilder Klaus Sachs-Hombach: Arguments in favour of a general image science IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 192 Jörg R. J. Schirra: Ein Disziplinen-Mandala für die Bildwissenschaft – Kleine Provokation zu einem Neuen Fach Kirsten Wagner: Computergrafik und Informationsvisualisierung als Medien visueller Erkenntnis Dieter Münch: Zeichentheoretische Grundlagen der Bildwissenschaft Andreas Schelske: Zehn funktionale Leitideen multimedialer Bildpragmatik Heribert Rücker: Abbildung als Mutter der Wissenschaften IMAGE 1 Themenheft: Die schräge Kamera Klaus Sachs-Hombach / Stephan Schwan: Was ist »schräge Kamera«? – Anmerkungen zur Bestandaufnahme ihrer Formen, Funktionen und Bedeutungen Hans Jürgen Wulff: Die Dramaturgien der schrägen Kamera: Thesen und Perspektiven Thomas Hensel: Aperspektive als symbolische Form. Eine Annäherung Michael Albert Islinger: Phänomenologische Betrachtungen im Zeitalter des digitalen Kinos Jörg Schweinitz: Ungewöhnliche Perspektive als Exzess und Allusion. Busby Berkeley’s »Lullaby of Broadway« Jürgen Müller / Jörn Hetebrügge: Out of focus – Verkantungen, Unschärfen und Verunsicherungen in Orson Welles‘ The Lady from Shanghai (1947) IMAGE I Ausgabe 3 I 1/2006 193