Universität Münster AUTORIN Alexandra Schwind TITEL Kulturwissenschaftliche Raumtheorie(n) ERSCHIENEN IN Medienkulturwissenschaften. Theorien – Ansätze – Perspektiven (= Paradigma. Studienbeiträge zu Literatur und Film 5/2022), S. 43–52. EMPFOHLENE ZITIERWEISE Schwind, Alexandra: „Kulturwissenschaftliche Raumtheorie(n)“. In: Medienkulturwissenschaften. Theorien – Ansätze – Perspektiven (= Paradigma. Studienbeiträge zu Literatur und Film 5/2022), S. 43–52. IMPRESSUM Paradigma. Studienbeiträge zu Literatur und Film ISSN 2567-1162 Universität Münster Abteilung Neuere deutsche Literatur - Literatur und Medien - Germanistisches Institut Schlossplatz 34 48143 Münster Herausgeber: Andreas Blödorn, Stephan Brössel Redaktion: Stephan Brössel, Eve Driehorst, Tim Preuß, Niklas Lotz 43 Kulturwissenschaftliche Raumtheorie(n) Alexandra Schwind ÜberblickSeit dem ‚spatial turn‘ der 1980er-Jahre wird in den Geistes- undSozialwissenschaften sowie vor allem in der Kulturwissenschaft verstärkt dieKategorie des Raums in den Blick genommen (vgl. Dennerlein 2009: 5 f.). DenAusgangspunkt dieses Paradigmenwechsels sieht Bachmann-Medick in Impulsenaus den postkolonialen Theorien, in der „Erfahrung globaler Enträumlichung“:„Gerade in einer globalisierten Zeit mit ihrer Tendenz zur Ortlosigkeit treten Problemeder Lokalisierung vehement in den Vordergrund.“ (Bachmann-Medick 2006: 41) Auskulturwissenschaftlicher Perspektive ist vor allem die wechselseitige Beziehung vonRaum und Kultur von Interesse, in der einerseits der physische und repräsentierteRaum das Aufkommen und die Entfaltung von Kulturen prägend mitbestimmt,andererseits diese Kulturen ihrerseits Einfluss auf den materiellen sowie imaginiertenRaum üben (vgl. VZKF).Neben dem ‚spatial turn‘ lassen sich – mit je anderer Schwerpunktsetzung –‚topographical turn‘ und ‚topological turn‘ nennen. Ersterer wurde von Weigel geprägtund meint die Fokussierung des Raums speziell in der deutschen Kulturwissenschaft:„Hier stehen technische und kulturelle Formen der Repräsentation von Räumlichkeitim Mittelpunkt, wobei ein besonderes Augenmerk auf der Karte und kartographischenTechniken liegt.“ (Dennerlein 2009: 7) Der ‚topological turn‘ „umfasst sowohl denstrukturalistischen Anschluss an die mathematische Topologie als auch denphänomenologischen Anschluss an den Ortsbegriff von Aristoteles.“ (Ebd.)Das gesteigerte Interesse an räumlichen Phänomenen führte zur Frage nach der‚Natur‘ des Raumes als Untersuchungsgegenstand in diversen Disziplinen – sou.a. in der Philosophie und der philosophischen Phänomenologie, denNaturwissenschaften, der Anthropologie, Psychoanalyse, Medienwissenschaft,Sozialwissenschaft, Geografie, Politik und Ästhetik – und brachte in diesenZusammenhängen zahlreiche Raumtheorien hervor (vgl. Dünne u. Günzel 2018: 13f.). Durch die Heterogenität dieser Disziplinen ist die jeweilige Schwerpunktsetzungsowie das Verständnis der Kategorie Raum folglich stark divergent: Die Soziologie etwa versteht den Raum u.a. als sozialen Handlungsraum im Sinne einerBühne, während sich die Geschichtswissenschaft vor allem mit Orten und der an ihnensich verdichtenden Geschichte im Sinne einer Topographie auseinandersetzt. DieLiteratur- und Medienwissenschaften wiederum fokussieren auf die kulturelle Konstitutionund Repräsentation von Räumen. (VZKF) Eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise ermöglicht es, dieses breite Feldabzustecken und die verschiedenen Positionen „in ihren Gemeinsamkeiten aberinsbesondere in ihren Unterschieden zu analysieren.“ (Ebd.) Hierzu bieten sichunterschiedliche Methoden wie die phänomenologische, diskursanalytische sowiesemiotische Herangehensweise an (vgl. ebd.). Im Folgenden soll letztereschwerpunktmäßig vorgestellt werden. 44 1 Andere prominente Zugänge, die der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungmit dem Raum zuträglich sind, liegen bekanntlich mit Bachtins ‚Chronotopos‘ oderFoucaults ‚Heterotopien‘ vor (vgl. Michail M. Bachtin [2008] Foucault [2006]). Die Theorien Jurij LotmansEin im Zuge des kultursemiotischen Zugangs (→ Kultursemiotik) bahnbrechenderAnsatz ergibt sich mit den Raumtheorien des russischen LiteraturwissenschaftlersJurij Michajlovic Lotman.1In seinem zentralen Werk Die Struktur literarischer Texte fasst Lotman den‚Raum‘ – u.a. neben dem Rahmen, dem Sujet, der Figur und dem Blickpunkt (vgl.1993 [1972]: 300–401) – als eines der grundlegenden Elemente in derZusammensetzung mit Texten. Diese Bedeutung ergibt sich auch aus der Tatsache,dass visuelle Wahrnehmung in räumlichen Kategorien stattfindet, was sich wiederumin der Modellierung von Welten in schriftbasierten Texten niederschlägt: Der dem Menschen eigene besondere Charakter der visuellen Wahrnehmung der Welthat zur Folge, daß für den Menschen in der Mehrzahl der Fälle die Denotate verbalerZeichen irgendwelche räumlichen sichtbaren Objekte sind, und das führt zu einerspezifischen Rezeption verbalisierter Modelle. (Ebd.: 312) Er definiert den Raum als „die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen,Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen denenRelationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen.“ (Ebd.)Anhand von Redewendungen und Lyrik-Ausschnitten verdeutlicht er diemetaphorische Bedeutung topologischer Relationen, welche über ihre räumlicheBedeutung hinaus Kulturmodelle schaffen – „all das fügt sich zusammen zuWeltmodellen, die deutlich mit räumlichen Merkmalen ausgestattet sind.“ (Ebd.: 313)Texte, bzw. alle Arten von Modellen, die auf dem Bewusstsein aufbauen, fasstLotman als „sekundäre modellbildende Systeme“ (ebd.: 23); sie schaffen somitsekundäre semiotische Weltmodelle (vgl. Nies 2018: 25). „Kultursemiotisch lassensich dieses Modell von Welt und die zu seiner kommunikativen Vermittlungangewandten ästhetischen Strategien […] als kulturelle Speicher im Kontext derDiskursformationen der Kultur interpretieren, die den Text hervorgebracht hat.“ (Ebd.,Herv. i. Orig.) (→ Kontextsensitive Narratologie)Als „wichtigste[s] topologische[s] Merkmal des Raumes“ (Lotman 1993 [1972]:327) fungiert die ‚Grenze‘, die diesen in (mindestens [vgl. Nies 2018: 39]) zweiTeilräume trennt und prinzipiell nicht überschreitbar ist (vgl. Lotman 1993 [1972]:327). Sie schafft eine semantische Ordnung der dargestellten Welt, wobei dieabstrakt-semantischen Räume in Texten auch konkret topografisch umgesetztwerden können (aber nicht müssen) (vgl. Nies 2018: 24). „Die Art, wie ein Text durcheine solche Grenze aufgeteilt wird, ist eines seiner wesentlichstenCharakteristika“ (Lotman 1993 [1972]: 327) und somit zentraler Anhaltspunkt bei derAnalyse der dargestellten Weltstruktur. Zumeist sind literarische Figuren einem dieserTeilräume zugeordnet; es existieren aber auch Fälle, in denen eine Figur beideRäume ‚betreten‘ kann, oder aber Fälle, in denen sich die Raumaufteilung, sprich derVerlauf der Grenze, bei der jeweiligen Figur unterschiedlich gestaltet (vgl. ebd.: 328f.). Lotman unterscheidet zwischen beweglichen und unbeweglichen Figuren, wobeinur die bewegliche Figur „das Recht hat, die Grenze zu überschreiten.“ (Ebd.: 338) 45 2 Und später in seinem Abschlusswerk Die Innenwelt des Denkens (2010).3 „Wenn Lotman Übersetzungen thematisiert, geht es daher nie nur um die Übersetzungvon einer natürlichen Sprache in eine andere, sondern um das Verhältnis verschiedenerCodes zueinander in ihrer Fähigkeit, textexterne Strukturen wiederzugeben.“ (Illing 2017:555) Jeder narrative Text weist ein ‚Ereignis‘ in Form einer solchen „Versetzung einer Figurüber die Grenze eines semantischen Feldes“ auf (ebd.: 332; vgl. Abb. 1). Abb.1: ‚Ereignis‘ in Form einer Grenz- Abb. 2: Semiosphären-Modellüberschreitung eines Handlungsträgers Neben diesem explizit für literarische Texte konzipierten Modell formuliert Lotman imAufsatz Über die Semiosphäre2 eine Kulturtheorie, die nun nicht länger lediglich aufkulturelle Artefakte, sondern auch auf Räume sozialer Zeichenprozesse insgesamtanwendbar ist (vgl. Abb. 2). Er entwickelt den Begriff analog zur Biosphäre: Währenddiese die Gesamtheit der belebten Materie umfasst, handelt es sich beim„semiotischen Universum“ nicht lediglich um die „Gesamtheit einzelner Texte und inBeziehung zueinander abgeschlossener Sprachen“ (1990: 289), sondern um eineneinheitlichen Mechanismus, einen „Organismus“. Der Ausgangpunkt liegt nicht in denEinzelteilen, sondern im Gesamtsystem – der Semiosphäre (vgl. ebd.: 290).Es handelt sich bei der Semiosphäre also um einen Raum, der alleZeichensysteme einer Kultur fasst (vgl. Illing 2017: 552) und „der durch eineunaufhörliche semiotische Dynamik der Zeichenbildung und Zeichenlöschung(Semiose) prozessual definiert ist.“ (Frank 2012: 69) Sie ist unterteilt in das Zentrummit dominierenden semiotischen Systemen und der Peripherie (vgl. Lotman 1990:295), wobei es sich hierbei nicht zwingend um geografische, sondern um semiotischeKategorien handelt (vgl. Koschorke 2018: 93). Kennzeichnend für die Semiosphäreist zum einen die Heterogenität im Inneren und zum anderen die Abgetrenntheit vomÄußerem sowie die Asymmetrie zwischen Innen und Außen (vgl. Lotman 1990: 290).Letztere manifestiert sich im bereits in Die Struktur literarischer Textebeschriebenen Konstrukt der ‚Grenze‘, welche auch hier eine zentrale Funktioneinnimmt; tatsächlich handelt es sich hierbei um den „Ort, der das Wesen derSemiosphäre bestimmt.“ (Ebd.: 291) Die Grenze meint hier die Summe vonsogenannten ‚Übersetzer‘3-Filtern, die „die äußeren Mitteilungen in die innereSprache der Semiosphäre u ̈bersetz[en] und umgekehrt.“ (Ebd.) Ihre Funktion bestehtsomit in der Trennung zwischen Eigenem und Fremden, dem Filtern äußererMitteilungen und deren Übersetzung, aber auch in der „Umwandlung äußerer Nicht-Mitteilungen in Mitteilungen, d.h. die Semiotisierung des von außen Hereindringendenund dessen Verwandlung in Information.“ (Ebd.: 292) Schließlich findet über dieGrenze nicht nur Abgrenzung, sondern auch Aneignung statt, indem die Peripherie 46 4 „[…] z. B. bei der Ausbreitung der Jeans. Einst Berufskleidung für Arbeiter, wurde sie vondem Teil der Jugend entdeckt, der die Kultur des Zentrums ablehnte, ‚breitete sich dannin der gesamten Kultursphäre aus und wurde zu einem neutralen, d. h.‚allgemeinen‘ Kleidungsstück‘“ (Illing 2017: S. 554).5 Im Folgenden WF. als „Ort des Kontakts, des gegenseitigen Eindringens der Semiosphären ineinander,als Ort der Hybridisierung“ (Frank 2012: 70) und somit als „Bereich beschleunigtersemiotischer Prozesse“ (Lotman 1990: 293) fungiert, die sich von dieser Peripherieins Zentrum der Semiosphäre verlagern, um bestehende Strukturen zu ersetzen (vgl.ebd.).4Lotman vertritt einen Kulturbegriff nach dem die „Menschliche Kultur […]deckungsgleich und synonym mit der Gesamtheit der Kommunikation mittelsZeichen“ ist und sich aus dem Zusammenhang zwischen der „Gesamtheit allergleichzeitig gegebenen Texte, [den] diesen Texten zu Grunde liegenden Kodes und[den] Benutzer[n] dieser Kodes“ (Decker 2017: 437) ergibt. Da Lotman somit dieSemiosphäre als Synonym für Kultur fasst, nimmt ‚Kultur‘ in seinem Modell folglicheine duale Funktion ein: „erstens, als Sphäre zeichenhafter Kommunikation undzweitens, als systemhafter und dabei offener Prozess von Zeichen- und Codebildungund -tilgung“ (Frank 2012: 70). Exemplum: Thomas Manns Der Weg zum FriedhofMöchte man Thomas Manns Der Weg zum Friedhof (1900)5 in Hinblick auf LotmansRaumtheorie untersuchen, so bietet sich zunächst die Theorie derGrenzüberschreitung an. Als semiotische Teilräume der Diegese lassen sich aufkonkret topografischer Ebene zunächst die bebaute Fläche der Stadt und der Friedhofausmachen. Erstere ist geprägt durch die Merkmale ‚neu‘ („Neubauten derVorstadt“ [WF: 211]) und ‚lebendig‘, im Sinne von ‚dynamisch‘ („an denen zum Teilnoch gearbeitet wurde“ [ebd.]); der Friedhof selbst ist nicht näher beschrieben, kannaber unter Hinzunahme kulturellen Wissens mit ‚alt‘ und ‚tot‘ assoziiert werden undist also oppositionell semantisiert. Auch in der Gestaltung der Chaussee findet sichdie Gegenüberstellung von ‚neu vs. alt‘: „so war sie zur Hälfte gepflastert, zur Hälftewar sie‘s nicht.“ (ebd.) Die Peripherie der jeweiligen Sphären bilden die Felder, in diezumindest die Stadt durch die beschriebene Ausweitung durch Neubauten eindringt.Im Laufe der Erzählung wird die Grenze zwar mehrfach überschritten, so vonFuhrwerken oder den Handwerksburschen, diese Überschreitungen werden jedochnicht sujethaft gesetzt. Als Handlungsträger ist Lobgott Piepsam zu identifizieren.Dieser entspricht dem semantisierten Raum des Friedhofs, indem zunächst seineKleidung als ‚alt‘ („altersblanken Gehrock“; „überall abgeschabteGlacehandschuhe“ [WF: 212]) und auch sein Körper zwar nicht als ‚tot‘, jedoch als‚ungesund‘ und physisch schwach beschrieben wird („dürrer Hals“; „bleich“;„ausgehöhlten Wangen“; „eine vorn sich knollenartig verdickende Nase […], die ineiner unmäßigen, unnatürlichen Röte glühte und zum Überfluß von einer Mengekleiner Auswüchse strotzte, ungesunder Gewächse“; „entzündet[e] und jämmerlichumrändert[e]“ Augen [WF: 212 f.]). Als Gegenspieler wird der Fahrradfahrerinszeniert, der – später nur noch als ‚Leben‘ bezeichnet – dem semantisierten Raumder Stadt zuzuordnen ist: „Er kam daher wie das Leben“ (WF: 215). Dieser„Jüngling“ (215) überschreitet ebenfalls eine Grenze, zwischen der befahrenen 47 Chaussee und dem Weg in Form des Grabens, was ereignishaft ist, insofern als esin den Normvorstellungen der Diegese (hier verkörpert durch Piepsam) einen Bruchbildet: „Ich werde Sie anzeigen, weil Sie hier fahren, nicht dort draußen auf derChaussee, sondern hier auf dem Wege zum Friedhof“ (WF: 216). Hier zeigt sich dievon Klimczak herausgearbeitete Perspektivgebundenheit von Ereignissen, auf die imAusblick noch näher eingegangen wird.Auch wenn Piepsam auf dem Weg zum Friedhof – zum Tod – ist, unternimmt erunter großen Kraftaufwand einen symbolischen Versuch der Grenzüberschreitung inden abstrakt semantischen Raum ‚Leben‘. Er „klammerte sich mit beiden Händendaran fest, hing sich förmlich daran“ (WF: 217); scheitert letztlich jedoch, die(Lebens-)Kraft hat ihn verlassen: „Er stand da, keuchte und starrte dem Lebennach …“ (WF: 218). So kommt es zum Ende der Erzählung auch zu einem realenÜbergang vom ‚Leben‘ zum ‚Tod‘, der schlussendlich auch mit der topografischenÜberschreitung der Grenze zum Friedhof vollzogen wird – auch wenn Piepsamdiesen Übergang nun nicht mehr aktiv bestreitet, sondern passiv im Sanitätswagendie Grenze passiert.Will man Der Weg zum Friedhof nun kulturwissenschaftlich untersuchen undherausstellen, welche Rückschlüsse der Text über die Semiosphäre zulässt, aus derer hervorgegangen ist, so ist der Umgang mit der Relation zwischen Leben und Todhervorzuheben. Hier besteht keine klare Distinktion mehr; vielmehr wird durch dasMotiv der Krankheit eine Skalierung zwischen den beiden Polen verarbeitet. Schonzu Lebzeiten ist Piepsam der ‚Tod ins Gesicht geschrieben‘, indem sein Alkoholismuswie oben beschrieben klar zutage tritt. Durch diesen verliert er schließlich seineAnstellung, indem er sich in „unzurechnungsfähigem Zustande […] grober Versehenschuldig“ (WF: 214) macht, und wird endgültig außerhalb der Gesellschaft verortet.Sein inneres Elend, bedingt durch den Verlust seiner Anstellung sowie vor allemdurch den Tod seiner Frau und Kinder – „er hatte nicht eine liebende Seele aufErden.“ (WF: 213) –, kehrt sich nach außen und mündet in Hass sowohl sich selbstgegenüber als auch anderen, allen voran dem Radfahrer. Diese Inszenierung vonmenschlichem Verfall lässt sich in den Diskurs um Degeneration und Décadence derLiteratur des Fin-de-Siècle einordnen, den Mann in seinen wenig spätererscheinenden Buddenbrooks weiter ausführt (vgl. Ajouri 2009: 184 f.). Mann stellteine Antithese zwischen der „Liebe zum Tode/zum Alten auf der einen, [der] Ethikdes Lebens und die Bereitschaft zum Neuen auf der anderen Seite“ (Schneider2015b: 304) auf. Während Piepsam dem Typus der Décadence zuzuordnen ist, kannder Radfahrer als Verkörperung des gegenläufigen Konzepts des emphatischenVitalismus interpretiert werden (vgl. hierzu Schneider 2015a: 289). „GemäßNietzsches Verfallspsychologie siegen die Vertreter des Vitalismus, aber dieSympathie der Texte gilt den verfeinerten Verlierern“ (Schonlau 2015: 314). DasMotiv wird ferner häufig als Zeichen für die „längst schwindsüchtige[]Adelsgesellschaft in einem zerfallenden europäischen Kulturraum gelesen“ (Klein2014: 313). Die damit verbundene Fokussierung auf das Thema ‚Tod‘ als Zustand,auf den die Erzählung teleologisch verweist, fügt sich in Andreas Blödorns These,nach der besonders im Frühwerk Manns „das Erzählen vom Tod poetologischsinnstiftend“ (Blödorn 2015: 340) ist. Er betont hierzu die Antizipation desbiologischen Todes durch „den metaphorischen ‚Tod‘ als Chiffre eines defizitären 48 Zustandes von Nicht-Teilhabe am Leben“ (ebd.: 341), welcher sich auch für Piepsamattestieren lässt.Anhand dieses Exemplums lässt sich der heuristische Mehrwert der RaumtheorieLotmans veranschaulichen. Durch die Herausstellung räumlicher Konstrukte derOberflächenstruktur kann ein Zugang und Interpretationsansatz zur Tiefenstrukturdes Textes eröffnet werden. Somit bietet die Anwendung des Modells bei der Analyseeinerseits die Möglichkeit der strukturierten Annäherung an einen Text in Form derSichtbarmachung des topografischen und topologischen Aufbaus der Diegese sowieandererseits einen Ansatz, um abstrakt semantische Räume, die der Text etabliert,offenzulegen. Darüber hinaus kann man über die Untersuchung, wie ein TextGrenzen zieht, Erkenntnisse über die in der dargestellten Welt geltenden Normenerlangen. Neben diesen Einsichten in textimmanente Bedeutungskonstruktionenermöglicht Lotmans Modell auch Erkenntnisse über kulturelle Implikationen, die einText – explizit oder implizit – über die ihn hervorbringende Semiosphäre tätigt. DerText als sekundäres semiotisches Weltmodell gibt „Aufschluss über das dem Textzugrunde liegende Denken.“ (Nies 2018: 25) Mithilfe des Modells der Semiosphärelässt sich ‚Kultur‘ als semiotischer Raum beschreiben und erklären (vgl. Decker 2017:437). AusblickLotmans Theorien wurden intensiv – wenn auch selektiv (vgl. Hauschild 2009: 287)– rezipiert und auch erweitert. Hier ist zunächst die Erweiterung durch Karl NikolausRenner zu nennen, der den Raumbegriff Lotmans um sogenannte Extrempunkteergänzt. Hierbei handelt es sich um Punkte, die innerhalb der Binnenstruktureinzelner abgegrenzten Räume eine herausragende Stellung einnehmen, obtopographisch zentriert, besonders hoch oder aber besonders tief gelegen (vgl.Renner 2004: 12). Auch nicht-topographische Strukturen können einen Extrempunktbilden. Renner nennt hier beispielhaft ein Familienoberhaupt als „Extrempunkt dessozialen Raums“ (ebd.: 13). Die Extrempunkte weisen eine synekdochische Relationzum Gesamtraum auf, die sich auch auf Handlungsebene widerspiegelt: DieHandlungsepisoden im Extremraum „sind gewissermaßen Brennpunkte desGeschehens“ (Renner 1987: 117). Um nun die Bewegung von Figuren innerhalbabgegrenzter Räume zu erklären, formuliert Renner die ‚Extrempunktregel‘: Überschreitet ein Held die Grenze eines semantischen Feldes, dann führt ihn der Weginnerhalb dieses Feldes zu dessen Extrempunkt. Kehrt er in seinen Ausgangsraumzurück, dann ändert sich dort seine Bewegungsrichtung: Der Extrempunkt ist einWendepunkt. Ansonsten endet hier der Weg des Helden: Der Extrempunkt ist derEndpunkt. (Ebd.: 128, Herv. i. Or.) Peter Klimczak hinterfragt die Annahme lediglich einer Grundordnung einesTextes und fordert die Berücksichtigung von weiteren untergeordneten, miteinanderkonkurrierenden bzw. korrespondierenden Grundordnungen (vgl. Klimczak 2012:175). Daneben betont er die Perspektivgebundenheit von Ereignissen und damitauch der Grundordnung. „[E]s liegt in der Natur der Sache, dass, wenn mehr als eineEntität existiert, die Ereignisse indizieren kann, ein und dieselbeMerkmalskombination als ereignishaft und als nicht-ereignishaft eingeschätzt werden 49 kann.“ (Ebd.) Wichtig sei daher, die übergeordnete Grundordnung des Textes zuermitteln: „Diese kann dabei einer der perspektivischen entsprechen, d. h. alle undausschließlich Ordnungssätze einer einzigen spezifischen Grundordnung enthaltenoder aber eine Kombination von allen oder mehreren perspektivischenGrundordnungen sein.“ (Ebd.: 176)Im Deutschland der 1990er- und 2000er-Jahre wurden Lotmans Theorien häufigals nicht mehr zeitgemäß bewertet, was Nies in den kulturellen Entwicklungen der90er-Jahre begründet sieht: Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Einbindung des ehemaligen ‚Ostblocks‘ inglobale politische und ökonomische Beziehungen war das jahrzehntelang gültige, Sinnund Ordnung stiftende Koordinatensystem, in dem die konkurrierenden Systeme gedachtwerden konnten, obsolet geworden, ohne dass eine neue Orientierung gebendeMetatheorie an deren Stelle trat. […] Aber in den Kulturwissenschaften stand seitPostmoderne, Postkolonialismus, Postkommunismus und Postideologienachvollziehbarer Weise nicht mehr das Unterscheidende, die Differenzbeziehung vonkulturellen Systemen und somit der trennende ideologische Aspekt der Grenze, wie ihnder Strukturalismus zu beschreiben bemüht war, im Mittelpunkt diskursiven Interesses.(Nies 2018: 18) Anstelle der Untersuchung oppositioneller semantischer Räume etablierte sich nuneine Fokussierung auf das Konzept der ‚Vernetzung‘, auf Beziehungsmuster, dienicht länger auf dichotomen Kategorien beruhen, sondern grenzüberschreitend undsogar -tilgend agieren (vgl. ebd.: 20). Gerade in den postcolonial studies wurde dasGrenzkonstrukt zunehmend kritisiert, da Grenzen „Ordnungen einschreiben, die stetsOrdnungen der Mächtigen sind: Grenzziehungen sind damit als herrschaftlicheGebärden aufgefasst, sie grenzen aus oder ein und müssen so – zu Recht – per seals diskriminatorische Akte gelten.“ (Ebd.) (→ Kulturwissenschaftliche Xenologie)Nies schlägt eine Systematisierung vor, nach der die folgenden vier Aspekteunterschieden werden können, um Phänomene ästhetischer Räume und Grenzen zukategorisieren: (1) der topografisch-geografische Aspekt, (2) der konzeptionell-semantische Aspekt, (3) der perzeptive Aspekt sowie (4) der narrative Aspekt (vgl.ebd.: 61–64). Ersteres meint den real-physischen Raum der dargestellten Welt, beieiner Grenzüberschreitung findet hier kein Ereignis im Sinne Lotmans statt (vgl. ebd.:61). Untersucht man den konzeptionell-semantischen Aspekt, so widmet man sichder Semantisierung von Räumen, die mit Bedeutung aufgeladen sind, sodass derenGrenze zwei oppositionelle Teilräume im Sinne Lotmans schafft (vgl. ebd.: 61 f.).Unter dem perzeptiven Aspekt fasst Nies die Raumerfahrung eines dargestelltenSubjekts; der narrative Aspekt untersucht die Handlungsfunktionen von Räumen (vgl.ebd.: 62 f.).Koschorke wiederum widerspricht der Auffassung einer Überholtheit Lotmansund betont hierzu vier Merkmale, „die eine Wiederanknüpfung an Lotmans Modellder kulturellen Semiosphäre lohnend machen“ (Koschorke 2012: 120): Zunächst lobter den Fokus auf die „Interdependenz zwischen Zentrum und Peripherie“, wobei vorallem der Peripherie eine große Bedeutung zugeschrieben wird. Somit erweist sichdie Theorie als anschlussfähig an die postcolonial studies, da sie eine „guteHandhabe zur Erklärung der Synkretismen, die sich an den Rändern vonhegemonialen Semantiken, zumal von Glaubenssystemen bilden“ (ebd.: 121), bietet 50 und außerdem zur Beschreibung dezentrierter Sozialordnungen dienen kann. Alszweiten Grund für Lotmans Aktualität hebt Korschoke das zugrundeliegendeKommunikationsmodell hervor, welches nicht von einer Übereinstimmung des Codesvon Sender und Empfänger ausgeht, sondern gerade Nicht- und Missverstehen alszentral erachtet (vgl. ebd. 122). Auf dieser Basis kann untersucht werden, „in welcherWeise Zentren einer (tendenziell mit hegemonialem Anspruch versehenen)Hochsemantik einerseits, Räume der Dislozierung oder sogar Destabilisierung vonSinn andererseits miteinander interferieren.“ (Ebd.) Der dritte Vorzug derLotman’schen Theorie ergibt sich aus der Regelung, dass sowohl Codebildung alsauch -tilgung notwendige Prozesse des Modells sind und die Übersetzung alszentrale Praktik gilt. Hiermit bildet eine ‚Unbestimmtheit‘ die Grundvoraussetzung fürkulturelle Kommunikation – ein „Rest, der nicht ,aufgeht‘, der mehrdeutig oder vagebleibt.“ (Ebd.: 125) Bei einer Untersuchung ebenjener Unbestimmtheit treten „nichtdie offiziellen Manifestationen einer Kultur hervor, sondern die Spielräume desInformellen, der schwachen und dispersen Kausalitäten“ (ebd.). Als letztes Merkmalnennt Koschorke die Parallelen zwischen Lotmans Semiosphären-Modell und derRaumgrammatik zeitgenössischer Machttheorien (vgl. ebd.), welche sich erstens imAnti-Intentionalismus (vgl. ebd.: 127), zweitens in der Beachtung von Neuerungen,die durch die Überschneidung von Codes entstehen (vgl. ebd.: 128), und drittens imzyklischen Austausch zwischen Zentrum und Peripherie (vgl. ebd.) abzeichnen.Koschorke fasst zusammen, dass Lotman „die Umrisse einer Theorie [bietet], dieliteratur-, kultur- und sozialtheoretische Ansätze miteinander verbindet“ (ebd.) undfordert eine Weiterentwicklung (vgl. ebd.: 129). Hierfür schlägt er eine Pluralisierungvor, mit mehreren Zentren samt Peripherien, „so dass zahllose Gravitationsfelderentstehen, die entweder voneinander isoliert bleiben oder in Wechselwirkung treten,sich beeinflussen und durchdringen.“ (Ebd.: 132) Literarische TexteMann, Thomas (2004): „Der Weg zum Friedhof“. In: Ders.: Frühe Erzählungen. 1893– 1912. Hg. v. Terence J. 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