Katharina Jost Frankfurt am Main Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen Abstract: Kreuzer fahren durchs Heim-Kino und nehmen dieses gleich mit auf ihrem Weg zum Fenster hinaus und wieder hinein. Wie lässt sich die komplexe Wechselbeziehung zwischen home movie, home und home cinema am Beispiel eines Wohnzimmers der 1950er Jahre untersuchen? Wie die Zirkulation von Bildern in der transatlantischen Kommunikation einer Familie zwischen Venezuela, Caracas und Hamburg nachvollziehen? Um diesen Fragestellungen nachzugehen, folgt der Artikel Schiffen in: Fotoalben, einem Stuck-Wandbild im Wohnzimmer der eigenen Urgroßeltern und einem Familienfilm, dessen Schiff sich wendet und auf einmal die Richtung wechselt und von oben nach unten fährt. Es zeigt sich, dass das Wohnzimmer-Bord bereits im Wasser steht und selbst die Autorin nasse Füße bekommt. Katharina Jost (M.A.), Doktorandin/wissenschaftliche Mitarbeiterin im Graduiertenkolleg „Konfigurationen des Films“, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften sowie der Kunstgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Wien. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Home Movies, Home, private Sammlungen, (virtuelle) Reisen, Exotismus, (Neo-)Kolonialismus, Projektionen. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 47 1. Einschiffen/Einleitung/Kielwasser Ein schmaler Wasserstreifen verläuft von oben nach unten am linken Bildrand einer auf die Schnelle abgefilmten 8-mm-Projektion und vergrößert sich nach und nach zur Mitte hin. Aufnahmen der Skyline von New York werden immer kleiner, wiedergegeben in einer Drehung von 180 Grad (Abb. 1), bis das Bildfenster nur noch Wasser zeigt und eine Kielwasser-Spur in diesem von rechts nach links. Es geht aufs offene Meer hinaus, die Stadt verschwindet. Nun findet der Film sein neues Motiv, das Schiff selbst und sein Deck, bzw. die Familie an Bord (Abb. 1). Abb. 1: Screenshots aus Sommerreise Teil 2 (1963): Kleiner werdende Skyline von New York 00:13; Schiff mit Kielwasser 01:32; Familie an der Reling 02:04 Es handelt sich um einen Reisefilm, einen Familienfilm, ein home movie. In der Eile habe ich die analoge Projektion an meiner Schlafzimmer-Wand mit meinem Handy abgefilmt, um eine zusätzliche digitale Version zu besitzen, und dieses geistesabwesend quer gehalten, um dem Format gerecht zu werden. Nun sehe ich die Bilder gekippt, verdreht auf meinem Rechner. Der Film stammt aus einer privaten Sammlung einer Hamburger Familie. Ich bin selbst Teil dieser Familie. Ich verfolge die Bilder, aber etwas ist anders, schief gegangen, etwas hat sich verschoben. Sie haben sich auf meinem Rechner verkehrt und zwingen mich zu einer neuen Perspektive. Das Wasser läuft von oben nach unten, die Familie stellt sich quer, scheint ihm hinterher zu gucken und sich im freien Fall zu befinden. Die Familie fällt vom Stamm, der Projektor scheint umgekippt zu sein und weiter Bilder an die Wand zu werfen. Während meines Schreibens wohne ich temporär im Nachlass, im Archiv selbst. Das Wasser, mit welchem ich in meinen Gedanken über die transatlantische Kommunikation umgehe, wird zur physischen Aufgabe, als ein Unwetter den Lichtschacht des Souterrains volllaufen lässt. Das Wasser kommt durch die Fenster Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 48 ins Haus. Es hat sich seinen Weg gesucht und hat die Metapher erfüllt. Es fühlt sich auch wie eine Erleichterung an, endlich ist es da! Ich habe unbewusst auf es gewartet. Was hat mich hier eingeholt? Es handelt sich um einen ‚Wasser‘-Einbruch von Kontingenz. Eine Metapher kommt zum Fenster herein und beschäftigt mich. Es zeigt sich hier eine komplexe Verbindung von Aufgaben. Wischen als Familienangehörige und Bewahren einer privaten Sammlung in einer doppelten Funktion auch als Wissenschaftlerin. Das Wasser, über das ich schreibe, ist auch meines, ebenso wie die Bilder indirekt meine eigenen sind und über das Wasser zu mir gekommen sind. Ich habe meine Füße im Nass während meiner Tätigkeit des Wischens und Schreibens, als Enkelin deutscher weißer Auswander_innen, welche 1951 aus der Nachkriegsgesellschaft nach Venezuela ausreisten, um es dort in den Jahren des Ölbooms zu ‚etwas‘ zu bringen. Der Film, dessen Bilder gekippt sind, Sommerreise Teil 2, wurde 1963 zwischen New York und Bremerhaven an Bord der MS Bremen aufgenommen, er befindet sich auf großer Fahrt. Er beginnt bereits auf dem Atlantik und endet vor dem Gang an Land. Noch dazu hat er später wiederholt das Meer überquert. Die Auswander_innen- Familie ist in Bewegung, auf einer Reise nach Deutschland, in die ‚Heimat‘, von Venezuela kommend. Das Schiff an sich ist ebenfalls eine Metapher, ein Kollektivsymbol, ein Sinnbild. Es nährt sich aus kollektivem Sprach- und Bildwissen.1 Metaphern und Symbole evozieren ein Thema unter einer bestimmten Perspektive.2 Sie verweisen auf und ersetzen einen Ausdruck wie in diesem Fall auch ‚Reise‘, ‚Bewegung‘.3 In der Sammlung und dem Zuhause besagter Familie taucht das Schiff immer wieder direkt und indirekt im Bildmaterial auf und fungiert innerhalb der Familie als verbindendes Medium. Die gedankliche Auseinandersetzung mit den immer wiederkehrenden Schiffsmetaphern, im Kontext der Familiensammlung, und dem Wasser, in welchem sie sich bewegen, nehme ich zum Anlass, mich auf diese einzulassen, sie ernst zu nehmen und gleichzeitig eskalieren zu lassen, um sie als Methode anzuwenden, Zusammenhänge im Kontext der transatlantischen Kommunikation der Familie durch und in Bildern aufzuzeigen. Es geht hier nicht darum, jedes Beispiel im Detail zu analysieren, es soll vielmehr eine Komplexität aufgefächert werden auch zwischen öffentlichen Räumen und privaten, Landschaft und Landschaften von Erinnerungen, ein Dialog in und zwischen den Dingen nachgezeichnet, eine Bewegung wiedergegeben werden.4 Eine veränderte Wohnzimmerwand zeigt, wo 1 Vgl. Gumbrecht/Sánchez 1984: 36. 2 Vgl. ebd.: 21. 3 Vgl. ebd.: 21. 4 Das Schiff als Metapher im Zusammenhang mit Kolonialismus, in der Folklore der Hafenstadt Hamburg und ihrer Rolle in diesem Zusammenhang, ist ein eigenes Thema. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 49 die Bilder aufbrechen und landen, beziehungsweise niemals ankommen. Die Zirkulation von Bildern in das Wohnzimmer und aus diesem heraus, für welche die Schiffsmetapher auch steht, soll helfen, eine Relation zwischen den Filmen der Familie und ihrem Zuhause herauszuarbeiten. 2. Ankerplatz/Home/Archiv Ein Zuhause muss erst etabliert werden. Es etabliert sich aus zusammengetragenen Dingen, Apparaten, Objekten, Briefen, Fotoalben, Möbeln und auch durch und in Familienfilmen. Ebenso tragen diese Ansammlungen von Kram, Medien und Erinnerungen dazu bei, eine Familiengeschichte, ein Narrativ zu schreiben und zu vermitteln. Im Zuhause bilden die angeschwemmten und zusammengetragenen Dokumente ein eigenes kleines Archiv. Es handelt sich hier um eine ‚An‘sammlung, um Stellen im Haus mit Bildmaterialien, um ‚Bildstellen‘. In dem Nachlass, mit welchem ich mich beschäftige, sind die meisten Briefe, Bilder über das Meer gekommen. Gleichzeitig bildet die Sammlung ihr eigenes Meer in dem Sinne, wie Arlette Farge über Archive generell schreibt: „Denn es [das Archiv, K. J.] ist maßlos, überschäumend wie Springfluten, Lawinen oder Überschwemmungen.“5 Mich interessiert, wo die Bilder von home movies landen, ihre Plätze im home, welches sich in der Benennung der Kategorie schon niederschlägt. Der Ort scheint sie zu charakterisieren, bzw. sie schreiben auch den Ort, das Zuhause. Nach Alexandra Schneider ist ihr Zweck die Herstellung der Familie selbst, vielleicht aber auch die Produktion und Vermittlung eines Zuhauses.6 Ich möchte genauer wissen, wie die Filme sich in einen Ort einschreiben und gegenseitige Wechselbeziehungen untersuchen. Das Zuhause ist mitunter der Drehort, Schneideplatz und das Heim- Kino, aber eben auch der Ort des Sammelns. Die Familienfilme selbst sind bereits eine Sammlung von Dokumenten, die von der Kamera zusammengestellt wurden, um ein Leben in den Tropen festzuhalten und Wissen zu archivieren. Im Wandschrank haben sich die Familienfilme hinter Apparaten abgelagert. Über ihnen befinden sich Fotoalben, unter ihnen die Korrespondenz, ein Verbund von Dokumenten, von verschiedenen Medien. Die Sammlung ist Teil der Wand selbst geworden und trägt metaphorisch das Narrativ ‚Familie‘, ‚Zuhause‘. Die Filme, mit denen ich mich hier beschäftige, sind ‚Zeigefilme‘, in diesem Sinne Gebrauchsfilme, sollen sie doch mit ihren Bildern ein Wissen teilen und wurden sie doch zu dem Zweck gedreht, den Verwandten in Deutschland in Bildern aus Venezuela zu erklären: Uns geht es gut, wir sind uns treu geblieben. Gleichzeitig ist ihr Ziel der Zusammenhalt von Familie, die Übersendung von Bildern eines Zuhauses in ein weiteres. Die Filme sind auch zusammengestellt worden, um zu reisen. Sommerreise Teil 2 zeigt ebenjene Reise selbst. Die Filme hatten ein Ziel, eine 5 Farge 2018: 8–9. 6 Vgl. Schneider 2021: 237. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 50 Funktion, wie natürlich andere Familienfilme auch Funktionen haben, aber sich nicht typisch an einen weiteren Adressaten auf der anderen Seite des Atlantiks richteten. Zwischen den Filmbildern befinden sich ebenfalls Leerstellen, insbesondere, wenn Aufnahmen kontinentübergreifend auf einer Rolle zusammengebracht wurden. Dann fehlt zwischen ihnen, was Sommerreise Teil 2 zeigt, der Atlantik. Das Umgebungswissen eines Zuhauses bietet nicht nur einen Zugang zu Wohn- und, im Kontext dieser Sammlung, deutscher Nachkriegskultur, sondern darüber hinaus zeigen sich durch Einsichten in diesen privaten Raum, unter anderem seiner Dokumentation in Fotos, auch Aus- und Einblicke, welche in den eigenen vier Wänden angestellt wurden. Um diesen multimedialen Ort ‚Zuhause‘ zu untersuchen und vorzustellen, greife ich auf das Wandbild meines Urgroßvaters Otto in Hamburg zurück (Stuck und weiße Farbe, vermutlich 1956), in welchem sich transatlantische Kommunikation, sowie Unterbrechungen, welche diese ausmacht, abzubilden scheinen (Abb. 2). An ihm zeigt sich unter anderem eine Einschreibung von Medien und Filmen, welche aus Venezuela nach Norddeutschland kamen, in das Wohnzimmer selbst, bzw. ihre Reise wird zum Sujet. Das Zimmer wird Teil des Bilderpools und gleichzeitig sein Heim-Kino. Das persönliche Verhältnis zum Material schenkt mir eine besondere Einsicht und die seltene Möglichkeit, nicht nur die Filme zu analysieren, sondern auch ihre Räume, Plätze und ihr Verhältnis zueinander und zu anderen Objekten und Medien. Diese Ausgangslage kann mir eine Sammlung in einem öffentlichen Archiv nicht bieten, sind die Dokumente in diesem bereits ihres Zusammenhanges entrissen, um in einem neuen fortzubestehen, im Gegensatz zu einer privaten Sammlung, welche ihren Platz oder ihre Plätze einer bestimmten, auch emotionalen Logik folgend, einnimmt. Für private Sammlungen gilt, was Ann Cvetkovich für Archive für schwules und lesbisches Leben und Sexualität beschreibt. Diese enthalten und sammeln nicht nur Wissen, sondern auch Gefühle und Emotionen.7 Nicht nur mit den Materialien umzugehen, sondern zu verstehen, aus welchen Bedürfnissen, aber auch welchem Begehren heraus sie überhaupt angelegt wurden und gehütet werden, ist Teil des Verständnisses einer Sammlung, der Affekt-Besetzung nicht nur von Filmen, sondern auch weiterer Gegenstände und Plätze, an denen sich ‚Bildstellen‘ befinden.8 Diese Aufladungen machen Dinge des Alltags oftmals erst interessant und stellen einen Kontext zu größeren Fragestellungen her.9 Cvetkovich bemerkt, dass das, was sie „Archive of Feelings“ nennt, sich materiell und immateriell zusammensetzt.10 Es setze sich eben auch aus Dingen zusammen, die auf den ersten Blick nicht archivwürdig seien, auf Grund von gesellschaftlich- strukturellen Machtverhältnissen.11 ‚Nicht archivwürdige‘ Objekte sind für mich 7 Vgl. Cvetkovich 2003: 241. 8 Vgl. ebd.: 243. 9 Vgl. ebd.: 243; 254. 10 Vgl. ebd.: 244. 11 Vgl. ebd.: 244. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 51 zugänglich, in diesem Fall ein Wohnzimmerbord, welches von außen gesehen keinen dokumentarischen Wert zu haben scheint. Es erhält seine Bedeutung durch den affektiven Bezug und die Möglichkeit, eine Umgebungslogik rekonstruieren zu können, einen Zusammenhang. Ich wische um es herum. Abb. 2: Wohnzimmerwand/Bord, Fotografie (1956), aus Fotoalbum von Agnes und Otto K., Privatsammlung (Hamburg) Mit Hilfe der Familiensammlung und ihrer Objekte, Dokumente und Orte versuche ich, das Zuhause der Familie selbst zu analysieren. Insbesondere die Rezeptionssituation im speziellen Heim-Kino in Hamburg in den 1950er- und 1960er Jahren ist rekonstruierbar. Damit gelingt ein Einblick, welcher in der Familienfilm- Forschung so eingehend in seiner Wechselbeziehung zu diesem noch nicht untersucht wurde. Andererseits bleibt immer eine Sorge im Umgang mit dem Gegenstand zurück, eben einen ‚Ein‘blick im Sinne einer gefangenen Perspektive zu generieren, welche es nicht schafft, sich von ererbten Narrativen zu befreien. Das ungewollte ‚quer‘ Sehen des Films Sommerreise Teil 2 auf dem Rechner erweist sich überraschenderweise ebenfalls als ein Werkzeug, eine Distanz zu schaffen, als Anti- Nostalgie-Tool, welches den Chic der ursprünglich vornehmen Reise bricht und seine Bilder ad absurdum führt. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 52 3. Ich habe ein Schiff an der Wand! Gefunden hatte ich das Phänomen in einem alten Fotoalbum: Ein Schiff am Foto- Horizont, in einer Aufnahme von Wand festgehalten, schälte es sich in Gips-Linien aus dem Weiß (Abb. 2). Ein historisierter Dreimaster, mitten zwischen zwei Landzungen, auf seinem Weg zwischen Europa und Venezuela, immer in Bewegung und gleichzeitig immer zwischen Abfahrt und Ankunft. Auf dem Foto im Album ist das bereits in Erscheinung getretene Wohnzimmermöbel zu sehen. Otto (mein Urgroßvater) hatte den Segler über dem Bord mit seiner Handwerkskunst an die eigene Wohnzimmerwand gebracht. Es war auch die Ausstellung seiner eigenen Fertigkeiten, ebenfalls steht das Schiff als Metapher für ein Thema des Raumes und seine Bearbeitung. Der Raum (space) wird im Wohn-Raum (place) thematisiert. Das ganze Wohnzimmer schien sich auf die transatlantische Kommunikation spezialisiert zu haben, welche Agnes (meine Urgroßmutter) und Otto führten. Das Schiff an der Wand steht ebenfalls für den eigenen Aufbruch von Agnes und Otto, die eigene Reise mit einem Schiff (1957) und den Besuch ‚drüben‘, für die eigene Überquerung des großen ‚Teichs‘. Die Fahrt an der Wand wird mit der eigenen Reise eingelöst. Abb. 3, Auslaufen der MS Brandenburg, Hamburg (1951), aus I, Gottfried M. und Familie. Bilder von 1951 an bis Febr. 1961. Auch Amerika-Reise von Hans und Lilli: 1952/53. Fotoalbum Hans und Lilli M. (1951–1961), Privatsammlung (Hamburg) Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 53 Zu Anbeginn der Reisen steht das Schiff der Auswanderer_innen, die Ausreise einer der Töchter von Agnes und Otto, 1951 (Abb. 3). Auf der Fotografie in einem Album der zurückgelassenen Familie sieht man die MS Brandenburg aus Hamburg auslaufen. Angehörige stehen am Kai und winken hinterher. Ihr Blick muss ebenfalls, wie an der Stuckwand, dem Heck folgen. Insofern ist auch das Schiff im Wohnzimmer dasjenige, welchem man perspektivisch nachschaut. Ebenfalls steht es für den eigenen Neuanfang von Agnes und Otto und ihr neues Zuhause, kommend aus einem Trümmer‚meer‘, in dem Sinne, dass alles Feste, wie die Markierungen in der Stadtlandschaft und das alte Zuhause und seine Dinge, sich durch Bomben in Staub und Schutt verwaschen, aufgelöst hatte. So beschrieb Hans Erich Nossack in Der Untergang eindrücklich die Zerstörung von Hamburg, nach welcher der Begriff ‚Straße’ selbst verloren gegangen sei. Markus Krajewsky hält fest, dass mit dem Verlust der Ordnung, auch von alten Markierungen, ebenfalls eine Gedächtnislandschaft verschwand.12 Auch Agnes und Otto befanden sich in den 1950er Jahren in Transition, im Aufbruch, ebenso wie die Töchter, die ausgewandert waren. Die älteste Tochter hatte die Möglichkeit ergriffen, als Schwester des Roten Kreuzes Nachkriegsdeutschland 1949 zu verlassen. Die jüngere folgte 1951, ursprünglich um sie zurückzuholen. Beide blieben und gründeten Familien in Übersee. Es muss sich in dem neuen Leben noch eingerichtet, das Wohnen wieder gelernt werden.13 Ebenfalls ist da eine Schwierigkeit mit dem Erinnern, es soll vergessen werden, was war, im Sinne einer Tabula rasa, für welche der Aufbruch des Seglers im Nichts auch steht: Es soll nach vorne geschaut werden bzw. ganz zurück, denn der Dreimaster in der Schiffsdarstellung erinnert im Hamburger Wohnzimmer auch an alte ‚glorreiche‘ hanseatische Traditionen, Überseehandel und Kolonialismus, mit welchen man das eigene Wohnen und Sehnen in der Darstellung in Gips verknüpft. Christina Sharpe betont die Bedeutung der Spuren, die die Schiffe der Kolonialist_innen14 im Atlantik hinterlassen haben. In der Perspektive der black studies ist das Meer der vergessene Raum in unserer Moderne.15 Ebenfalls ist das Meer ein grausamer Ort der Globalisierung.16 An keinem anderen Ort gibt es mehr Desorientierung, Brutalität und Verfremdung, in welcher sich der Kapitalismus in der heutigen Zeit niederschlägt.17 Auch jetzt noch seien Waren, die unsichtbar am anderen Ende der Welt gefertigt würden, Bestandteil einer postkolonialen Ökonomie.18 Auch die Reise des Urlaubsfilms und der weiteren Familienfilme erfolgte innerhalb eines Netzwerkes und eines Austausches von Waren und kulturellen Gütern über eben diesen Zwischenraum hinweg. 12 Vgl. Nossack 1966 [1943]: 240; Krajewski 2019: 159. 13 Vgl. Krajewski 2019: 171. 14 Vgl. Sharpe 2016. 15 Vgl. ebd.: 25. 16 Vgl. ebd.: 25. 17 Vgl. ebd.: 25. 18 Vgl. ebd.: 29. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 54 Die Bedeutung des Segelschiffes als Kollektivsymbol hat sich über die Jahrhunderte gewandelt. So stand es erst für die Schiffe, mit denen man die Weltmeere besegelte. Beispielsweise finden sich noch im Wappen von Trinidad und Tobago drei europäische Schiffe aus der Flotte von Kolumbus, welcher 1498 auf der Insel landete.19 Die ehemalige Kolonie möchte nun die Schiffe der Kolonialisten bannen und sie durch eine steelpan (Stahltrommel) ersetzen.20 Ebenfalls Fidschi, die Bahamas und Grenada diskutieren aktuell das europäische Schiff im eigenen Wappen.21 Später stand der Segler in Europa neben seiner Bedeutung für die Kolonisierung für eine vergangene Zeit, eine Hafennostalgie, aber grundsätzlich in allen Fällen ist er mit Bewegung konnotiert, auch durch die Zeit(-Epochen). Mochte der Dreimaster, z. B. auf eine Seemannsbrust tätowiert, im 19. Jahrhundert noch für eine tatsächliche Weltreise gestanden haben, für ein Abenteuer und eine eigene Tätigkeit auf diesem, kann er nun nicht mehr für den technischen Fortschritt stehen, sondern steht an der Wohnzimmerwand für eine Sehnsucht. Dennoch steht er für eine Transition, eine Überfahrt und Überquerung. Im Falle der Wohnzimmerdarstellung geht es nicht darum, eine Überquerung in einem den aktuellen Verkehrsmitteln angepassten Bild darzustellen, sondern der Segler macht die Distanz größer, die Reise abenteuerlicher und die Reisenden zu Eroberern. Der Gips-Segler ist auch Motiv im Sinne einer Handlung, welche bereits in der Familie durch das Auswandern der Töchter vollzogen wurde und zukünftig durch Reisen auch von Otto und Agnes vollzogen werden wird. Die Stuckarbeit geht an ihren Seiten in ein Rautenmuster der Wohnzimmerwand über. Es handelt sich bei der Schiffsdarstellung um eine Auslassung der Kästchen, die Otto ebenfalls zur Strukturierung und Gestaltung seines Wohnraums anbrachte. Wie die Darstellung an der Wohnzimmerwand Teil eines grid-Musters ist, welches den ganzen Raum vernetzt, ist auch die Kommunikation auf bestimmte Netze angewiesen, auf Infrastruktur, z. B. der Routen der Reedereien über den Atlantik, wie des norddeutschen Lloyd oder der Hapag, sowie der Fluglinien. Das gilt auch für soziale Netzwerke, durch welche Mitbringsel von Dritten überbracht wurden. Gleichzeitig zeigen die Schifffahrtslinien im Atlantik selbst eine grid-Struktur. Somit ist die Landkarte, die eine Seekarte ist, Teil eines Musters und gleichzeitig seine Durchbrechung. Jürgen Link geht von einer Ambivalenz von Symbolen aus.22 Gleichzeitig sieht er eine Strukturdimension in den „elementar-ideologischen“ Kollektivsymbolen.23 Für Link funktionieren die Symbole wie Schiff oder Eisenbahn „nach einem im Kern binären Schema der Parteiname und Wertung (eigenes System vs Gegensystem)“.24 In der Darstellung an der Wohnzimmerwand sind bereits die Gegensätze Wasser/Land, flüssig/fest, Europa/Südamerika verbildlicht. Es stehen 19 Vgl. Barmann 2024. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. Link 1984: 68. 23 Vgl. ebd.: 67. 24 Ebd.: 68. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 55 sich hier bereits Systeme gegenüber, das Schiff ist ihr verbindendes Medium, es ist zwischen ihnen. Es gehört selbst dem raumzeitlichen Bewegungstopos an und steht für einen Prozess.25 4. Home Movie-Letters Warum beschäftigt mich diese skurrile Darstellung von einem Schiff in einem Wohnzimmer der Griesstraße in Hamburg, 1956, an einem nicht zu definierenden Ort von Wellen bzw. einem Zwischen-Raum im Gegensatz zu konkreten Orten an Land so intensiv? Für mich laufen in diesen Gips-Linien, wenn ich sie mit meiner eigenen Linie in Zusammenhang bringe und sie nachfahre als Nachfahrin, auch Fragen zusammen betreffend einen Zusammenhang zwischen Familienfilm und Heim-Kino. Das temporäre Zuhause in Venezuela wurde durch Filme für die Eltern in Hamburg dokumentiert. Es wird für diese in gewisser Weise durch die Bilder (auch Fotografien) erst geschrieben und beschrieben. Es wird filmisch konstruiert, die Familiengeschichte wird über eine Distanz, wenn die Bilder auf Reisen gehen, erzählt und erst anschaulich. Familiengeschichte wird hier auch zu ‚Film’geschichte. Geschrieben wird in ‚home movie-letters’ und anderen Briefen, später auch in Tonbändern usw. Diese Medien und Grüße sind selbst in Zirkulation. Der Film I for India (GB/DEU 2005) von Sandhya Suri setzt sich mit solchen Filmbriefen der eigenen Auswander_innen-Familie auseinander, welche ab der Migration des Vaters 1966 nach England, zwischen dem Teil der Familie dort und jener in Indien zirkulierten. Dieser kaufte anlässlich der Ausreise zwei Projektoren und Filmkameras sowie Tonbandrecorder jeweils für die eigene Familie und den zurückgelassenen Teil, da er bemerkte: When I first arrived in England, I found communicating with my family back home in India was difficult. The phone lines were very poor… and the letter writing was very time consuming. So, I realised… I needed to find a better way.26 Der Beginn eines 40-jährigen Austausches in Bildern und Ton. Sandhya Suri setzt die Familienfilme nicht nur in Bezug mit ihren eigenen Filmen der Familie für den Dokumentarfilm, sondern auch zu BBC-Material, das eine fremdenfeindliche Haltung und Rassismus der englischen Gesellschaft offenlegt, auf welche die Familie trifft, wie Make yourself at Home. A Weekly Programme for Indians and Pakistani Viewers (1969), in welchem unter anderem gezeigt wird, wie ein Lichtschalter zu bedienen ist.27 Die Filme und Tonaufnahmen, hergestellt, um über Distanz mit Verwandten Nähe herzustellen, erzählen von Rassismus-Erfahrungen, aber sind auch Dokumentationen des Alltags, eines Lebens in einem fremden Land, was 25 Vgl. ebd.: 70–71. 26 I for India: 00:06:50–00.07:08. 27 Ebd.: 00:00:54–00:00:59. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 56 immer mehr das Eigene wird. So ist im Film die Stimme des Vaters auf einer Tonaufnahme von 1976 an seinen Vater zu hören, die formuliert: Respected father, an important change is taking place in my life… an establishment of what I’d like to call a house, rather than a home because I haven’t still accepted… that I can settle anywhere else in the world, except my own country… although we have spent a major part of our lives here and by doing so to a certain extent… we have made ourselves into misfits for our own home.28 Unterlegt wird diese Aufnahme von Bildern der Familie in einem Garten und Ansichten auf eine Einfahrt und ein Haus. Was macht ein Haus zu einem Zuhause (home)? Der Film schafft es, diese Prozesse durch die Dokumentationen der Eltern sichtbar zu machen. Suri führt in ihren Aufnahmen ihres Elternhauses eine Familientradition fort, zu der sie sich verhält und eigene Fragen formuliert. Die Re- projektion der Filme aus Venezuela in meinem Zuhause setzt auch mich in eine Rezeptionstradition unterschiedlicher Generationen innerhalb der eigenen Familie. Wenn diese Filme auch eine andere Geschichte als in Suris Beispiel erzählen und ich diese nicht gleichsetzen möchte, ist ihr Einsatz für einen Familienzusammenhalt und innerhalb einer internationalen Kommunikation als reisende Familienfilme ähnlich. Es handelt sich bei den Film-Briefen um bewegte Bilder in Bewegung, auch die Fotografien, die reisten, sind in gewisser Weise Bilder in Bewegung, in Zirkulation. Diese Bewegung findet über den Raum statt, der sich bei Agnes und Otto auf der Wohnzimmerwand auftut. 5. Mit dem Heim-Kino/Bord-Kino volle Kraft voraus! Die Filme werden auf eine weitere Wand (neben der Stuckwand), eine Leinwand, welche vors Fenster gehängt wurde, projiziert.29 Das filmische Fenster tut sich auf und zeigt Bilder von Palmen, wie die Palme an der Wand mit ihrem dazugehörigen Kaiman-Souvenir, einem Mitbringsel aus Venezuela als Trophäe, und Bilder von Familie, die jedoch, ebenso wie das Schiff, nie wirklich landen. Der Kaiman bildet den Übergang von der Projektion, im übertragenden Sinne, auf die Wohnzimmerwand, zu den anderen Objekten des Raumes, an erster Stelle zu den anderen Gegenständen auf dem Bord, die teilweise ebenfalls in Beziehung zum größeren Bild zu stehen scheinen. Die Stuckarbeit selbst ist die Darstellung einer Differenz, einer Spanne. Der großen Fläche zwischen den Kontinenten, mit dem Schiff, gilt die eigentliche Aufmerksamkeit. Die Länder rahmen nur die Reise, die Bewegung, die keine ist. Die Bilder der Filme im selben Raum sind immer auf der Reise zwischen Projektor und Screen und bleiben dazwischen.30 Sie laufen, wie das Schiff, hier zwischen Apparat und Screen. Sie landen nicht auf der Leinwand, sie 28 Ebd.: 00:26:40–00:27:41. 29 Vgl. W.W. 2024. 30 Vgl. Doane 2009: 152. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 57 werden nur reflektiert, sie sind nicht an der Leinwand, sie bleiben im Raum/Zwischenraum, eben jenem Raum, in welchem das Schiff in seiner Bewegung fixiert ist. Der Projektionsstrahl der Familienfilme wandert mit seinen Bildern an dem Schiff vorbei, das Schiff an der Wand begleitet die Bilderprozession, es segelt auf ihr. Sie, die zirkulierenden Bilder, sind unter anderem der Nährboden für seine Fahrt, die Überfahrt der Medien, für welche das Schiff auch als eigenes Medium steht. Ebenso macht das Relief als Ornament das Heim zum Heim-Kino. Wenn Heim-Kino- Besucher_innen zu Agnes und Otto geladen wurden, bereitet der Raum bereits auf eine thematische Spezialisierung vor: Südamerika. Damit erinnert der Raum an die exotistischen Settings der Cinema Palaces der 1920er Jahre, z. B. der Wonder Theaters von Loew, wie dem Valencia in New York (eröffnet am 12.01.1929), dessen maurisch/spanisch/mexikanisch anmutende Innenarchitektur auf eine virtuelle Reise einstimmte und dem Publikum das Gefühl gab, die Filme an einem fernen Ort zu sehen bzw. an diesen durch diese getragen zu werden.31 Die Beziehung ist, wie auch in der Griesstraße, wechselseitig. Der Film fängt lange vor der Projektion an. Die Bilder sind schon auf der Überfahrt in Bewegung, der_die Besucher_in der Griesstraße schon auf der Reise, wenn das ‚Bord-Kino’ startet. 31 Während der Eröffnung des Theaters wurde passend zum Dekor unter anderem eine Bühnenshow mit Namen My Mantilla gegeben. Hier wird also der Film zur Architektur ausgesucht, bei Agnes und Otto passt sich das Zuhause sukzessive den hereinkommenden Bildern nach und nach an; vgl. Adams/Levin 2002: 3. Abb. 4: Kino in Bewegung an Bord (ohne Datum), aus dem Unternehmensarchiv der Hapag-Lloyd AG, Hamburg. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 58 Bordkinos haben in Hamburg eine Tradition. Die Hamburg Amerika Linie (H. A. L.) betrieb einige auf ihren Dampfern der Albert Ballin-Serie bereits ab 1921, bevor die kinofeindliche Absprache der Reedereien (aus Angst vor Brandgefahr) für die transatlantischen Strecken z. B. nach Südamerika, 1922 fiel (Abb. 4).32 Zuerst zeigte man die Filme nur, wenn man sicher im Hafen lag, aus Rücksicht auf die Absprache.33 Schnell war Hapag im stolzen Besitz von über 40 bis 50 Apparaten auf dreißig seiner Schiffe.34 Diese Ausstattungen besaß neben der H.A.L. einzig die Ufa.35 Die Hapag entwickelte sich mit ihren Schiffen zum Cineasten und beteiligte sich 1927 mit 33.000 Reichsmark an der Ufa selbst. Man zeigte Filme an Bord, in den Tropen sogar an Deck, mit Blick auf den dortigen Himmel.36 Agnes und Ottos Wohnzimmer befindet sich nicht im eigentlichen Sinne auf einem Schiff. Dennoch ist dieses Wohnzimmer einerseits Landeplatz (Hafen) für Bildmaterial und andererseits macht es sich, je mehr es davon empfängt, selbst auf den Weg. Der Raum bekommt eine Richtung, die Richtung, welche das Stuckschiff mit seinen geblähten Segeln vorgibt. Das Heim-Kino wird zum Bord-Kino. Die Segel selbst bestehen ebenfalls aus ‚Leinwand’ (Segeltuch oder auch Segelleinwand genannt), welche hier die Bewegung der Fregatte erst ermöglichen, unter Zuhilfenahme von Wind. Die bewegten Bilder, welche auf der anderen Leinwand im Raum reflektiert werden, die vor dem Fenster, wie aus der Takelage, von oben herabgelassen wird, reisen unter Zuhilfenahme von Licht. In beiden Fällen zeichnen sich die Bewegungen durch Fluidität aus. Das Fluide des Wassers, auf welchem das Schiff gleitet, aber auch das Fluide der Bilder, die sich durch die Projektion in das Zimmer ergießen und sich ausbreiten, das Wohnzimmer-Bord umspülen (wie der Wasserschaden, welcher mich neckt), sie ‚laufen’ und lecken aus dem Projektor. Das kleine Heim-Kino, Südamerika-Kino, macht sich selbst auf den Weg zu den Familienangehörigen, das Wohnzimmer-Bord steht bereits unter Wasser, die Bilder schwimmen nicht nur auf der Überfahrt, sie schwimmen in die Griesstraße. 32 Vgl. o. V. 1933: 21. 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. ebd. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 59 Damit erinnert die heruntergelassene Leinwand im Wohnzimmer an diejenige, die auf einer Postkarte (1917) vom Wrightsville Beach, Lumina N.C., dargestellt ist (Abb. 5). Für das Screening in Lumina wurde mit „Free Motion Pictures Over the Ocean Waves“ geworben.37 „Free“ bekommt in diesem Zusammenhang eine doppelte Bedeutung, befindet man sich doch außerhalb eines Filmtheaters im Kontext eines non theatrical cinema.38 In Lumina steht nicht nur die Reflexionsfläche der Leinwand im Wasser, der Atlantische Ozean ist ja selbst eine solche. Ebenfalls sind die Wellen ein eigenes bewegtes Bild. Beide, Screen und Wasser, fungieren im Gegensatz zum Ufer als Leerstelle. Man badet in der Griesstraße nicht nur in den Bildern, welche von der Familie nach Deutschland geschickt wurden, man badet sich auch im eigenen kleinen Premieren- Kino, in welches Klassenkamerad_innen, Familie und Freund_innen geladen wurden, und steht neben dem Stuckbild bereits bordhoch im Wasser. 37 Vgl. Waller 2023: 15. 38 Vgl. ebd. Abb. 5: Badende Bilder, Postkarte (1917) vom Wrightsville Beach, Lumina, N.C. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 60 6. Ausguck/Ausblick Die Filme der Familie, welche zu Agnes und Otto zirkulierten, sind zum Teil kontinentübergreifend auf einer Rolle gedreht oder zusammengeschnitten. Eventuell auch, um sie für einen Transport zu komprimieren, aber wohl eher, um sie besser hintereinander projizieren zu können. Dadurch wird während der Projektion einerseits die Distanz nivelliert und andererseits der Unterschied der Landschaften und des Lichts im Kontrast betont. Doch was ist zwischen den Bildern, in der Montage der transatlantischen Aufnahmen auf der Filmrolle? Das, was in dem Bildmaterial dieser Familie dazwischen ist, liegt an der Wohnzimmerwand, auf seinen Wellen segelt das Schiff. Der Urlaubsfilm der Familie Sommereise Teil 2 zeigt auch, was das Stuckbild als sedimentierte Fantasie behandelt, was seine Bewohner_innen beschäftigte. Es zeigt sich, dass bestimmte Bilder, Motive wie das Schiff, immer wieder auftauchen an der Wand, im Film, im Fotoalbum, sie werden immer wieder bearbeitet, durchexerziert, jetzt auf dem Rechner. Der Film, der auf einer Reise zwischen New York und Bremerhaven entstand, bettet sich in der Projektion bei Agnes und Otto in einen Kontext ein, welchen er selbst mitbearbeitet. Der Film beginnt mit dem Entschwinden von New York am Horizont, es wird immer kleiner, die Distanz immer größer, zurück bleibt eine temporäre Spur im Wasser, welche jedoch nicht bleiben wird, wie die Bilder der Projektion auf der Leinwand im Wohnzimmer nicht bleiben werden. Im Gegensatz dazu lagert sich das Schiff im Gips an der Wohnzimmerwand ab. Die Schiffe, die den Raum durchkreuzten, sind in drei Zuständen: Sie sind auf der Reise in Bewegung, ebenfalls verharren sie in dieser in einem nicht zu definierenden Raum, sie sind nicht, wo sie herkommen, und nicht, wo sie hingehen. Der dritte Zustand ist derjenige der Sedimentierung, der Ablagerung im Wohnzimmer, der Zustand, der sich am Boden (hier Wand) wie Kaffeesatz absetzt und die zukünftige Reise ankündigt. Es handelt sich an dieser Stelle auch um einen Medientransfer, das abgelagerte Bild in Gips fungiert wie ein Standbild und findet in demjenigen auf dem ‚Segel’, welches für die Projektion vor das Fenster gespannt wird, ein Äquivalent. Die Wellen haben es angespült und es wie eine Anschwemmung zurückgelassen. Anhand des Wohnraums von Agnes und Otto zeigt sich, wie komplex das Gebilde Heim-Kino ist: Es lässt sich eine starke Interaktion zwischen home movie und home nachzeichnen, welche sich gegenseitig beschreiben. Die MS Bremen im Film fährt dem Wohnzimmer-Segler entgegen, sie kreuzen sich, wenn der Projektionsstrahl an der Stucklandschaft vorbei reist. Sie kreuzen sich, wenn das Bord-Kino sich selbst auf den Weg macht in die umgekehrte Richtung der Bilder, welche es speisen. Der Segler an der Wand reist den Bildern des Projektionsstrahls hinterher, gleichzeitig ist er schon vorher auf seiner Reise und wird später ankommen. Niemals ankommen, wie die Familie an Bord in Sommerreise Teil 2. Auf meinem Rechner scheint sie stattdessen ihren Platz verlassen zu haben und im Film selbst unterwegs zu sein. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 61 Enden tut der Film in Bremerhaven, der Anleger ist in Sicht, das Schiff läuft ein, von Bord gegangen wird in Sommerreise Teil 2 nicht. Auch diese Reise wird letztendlich nie ganz vollzogen. In der Wiederholung in der Projektion wird das Schiff immer wieder aufbrechen und einlaufen. Jedoch ist und bleibt es zwischen den Landzungen, wie sich das Gips-Schiff als Spur einer Reise, als Einblick in Verhältnisse und Ausblick auf Umstände und Sehnsüchte manifestiert hat. In der Projektion des Films im selben Wohnzimmer wird die Bewegung des Gips-Schiffes eingelöst. Die Leinwand füllt sich mit Wasser und zeigt den Horizont, auf welchen die Familienmitglieder in einer Einstellung beobachtend schauen (Abb. 1). Sie schauen, wie die Rezipient_innen des Films, auf die Leinwand/das Wasser. Damit fungieren sie als Betrachter_innen im Bild, als Identifikationsfiguren. Der Film ist an Bord gedreht, der Drehort selbst ist auf dem Weg, der Film reist mit. Dieser Film zeigt das, was die Filme und andere Medien der Familie auszeichnet, sie befinden sich auf der Reise. Die Filme befinden sich in Koffern. Normalerweise zeigen die Filme der Auswander_innen-Familie Bilder von einem Leben in Venezuela oder eines Urlaubs in Deutschland. Wobei sich hier verschiebt, welches der Urlaubsfilm ist, war Deutschland doch die erklärte Heimat der Auswanderer_innen und ihrer Kinder. Sommerreise Teil 2 ist weder noch und dennoch ein Urlaubsfilm. Er ist der Film, der genau diese Zirkulation dokumentiert. Der gezeigte Ort ist das Schiff selbst, die Bewegung im Wasser lässt sich nicht in der Landschaft verorten, man ist an einem bestimmten Ort und an keinem. Wie die Bilder nicht im Projektor sind und nicht an der Leinwand. Sie sind ebenfalls auf der Reise, wie die Familie auch. Katharina Jost | Ein Schiff in Stillstand und Bewegung kreuzt durchs Heim-Kino-Wohnzimmer, seine Filme und weitere Projektionen ffk Journal | Dokumentation des 37. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 62 Literaturverzeichnis Adams, Annon/Levin, Steve (Hrsg.) (2002): Loew's Wonder Theatres. 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Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 10 (2025) 63 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Screenshots aus Sommerreise Teil 2 (1963): Kleiner werdende Skyline von New York 00:13; Schiff mit Kielwasser 01:32; Familie an der Reling 02:04; Sommerreise Teil 2 1963 (Screenshots: Katharina Jost 2024). Abb. 2: Wohnzimmerwand/Bord, Fotografie (1956) aus Ohne Titel ca. 1920–ca. 1970. (Foto: Katharina Jost 2024). Abb. 3, Auslaufen der MS Brandenburg, Hamburg (1951) aus Fotoalbum Hans und Lilli M. 1951–1961. (Foto: Katharina Jost 2024). Abb. 4: Kino in Bewegung an Bord, Hamburg aus Ohne Titel, ohne Datum. (Foto: Katharina Jost 2024). Abb. 5: Badende Bilder, Postkarte (1917) vom Wrightsville Beach, Lumina, N.C. aus Waller 2023: 15.