www.medienobservationen.lmu.de 1 Christian Kirchmeier Dietrich Fischer-Dieskau ist tot. Ein Nachruf auf das Kunstlied Am 18. Mai 2012 ist Dietrich-Fischer Dieskau gestorben. Sein Tod markiert das Ende der Epoche des Kunstlieds, wahrscheinlich so- gar das Ende einer historischen Form des Bildungsbürgertums, wie es die Bonner Republik geprägt hat. Vielleicht ist es möglich, die Geschichte eines Medium als Biografie zu schreiben – Geburt, Leben und Tod. Beispiels- weise die Geschichte der Handschrift von ihrer Geburt auf Tontafeln Mesopotamiens, ihrer Blütezeit in mittelalterlichen Prachthandschriften und ihr Verschwinden im Zeitalter der Smartphones und Tablet-Computer. Dann lässt sich darüber diskutieren, ob es nicht sinnvoller wäre, das Zehnfingersys- tem zu lernen, anstatt die Schreibschrift zu perfektionieren. Schließlich benötigen wir im Alltag die eigene Handschrift fast nur noch für Kreditkartenrechnungen und Einkaufszettel. Man kann das bedauern, muss es aber nicht. Medien entstehen und verschwinden. Von allen Medien, deren Blütezeit in das 20. Jahrhundert fiel, war das Kunstlied das unwahrscheinlichste. Seine Verbindung von Kammermusik, romantischer Lyrik und volksliedhaftem Ton, aufgeführt auf großen Bühnen, stellte eine eigentümliche Form elitärer Intimität dar. Erklären lässt sich diese histori- sche Konstellation, wenn man bedenkt, dass sich das Bürger- tum primär über seinen Kunstbezug identifiziert hat. Der Musik kam dabei der größte Stellenwert zu. Vor allem die spätromantische Oper und eben das Kunstlied repräsentierten seit dem 19. Jahrhundert ein paradigmatisches Kunstideal. Im Fall des deutschen Bürgertums der Nachkriegszeit war dafür in erster Linie Dietrich Fischer-Dieskau verantwortlich, des- sen aktive Zeit als Sänger ziemlich genau die Epoche der Bon- ner Republik umfasst und der am 18. Mai 2012, kurz vor sei- nem 87. Geburtstag, gestorben ist. Natürlich hatte Fischer-Dieskau bedeutende Vorgänger wie Heinrich Schlusnus, natürlich war er nicht nur Lieder-, son- dern auch Opern- und Konzertsänger, Dirigent, Gesangspäda- www.medienobservationen.lmu.de 2 goge etc., und man mag darüber streiten, ob es mit Hermann Prey einen zeitgenössischen Sänger gab, der gerade im Schu- bert-Repertoire den volksliedhaften Ton intuitiver traf. Aber alles das ändert nichts an der singulären historischen Bedeu- tung Fischer-Dieskaus, an seiner Exemplarizität für das Bil- dungsbürgertum nach 1945. Dass dank Fischer-Dieskau gerade das romantische Kunstlied diese Position eingenommen hat, ist gelinde gesagt überra- schend. Denn diese Lieder proklamieren das krasse Gegenteil von heimelnder Bürgerlichkeit. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“, beginnt Schuberts Winterreise. Die Achtelnoten im Klavier treiben das lyrische Ich einen Weg entlang, der in diesem Liederzyklus jenseits aller Soziali- tät verläuft und „hinterm Dorfe“ bei dem Leiermann endet, der seine Lieder vor einem Publikum knurrender Hunde vor- trägt. Schwer vorstellbar, dass man an diese Vertonung den- ken kann, ohne Fischer-Dieskaus Stimme im Kopf zu hören. Besonders deutlich wird die romantische Kritik am bürgerli- chen Philister in Schumanns Vertonung von Eichendorffs Frühlingsfahrt, das von zwei Gesellen handelt: Der erste, der fand ein Liebchen, Die Schwieger kauft’ Hof und Haus; Der wiegte gar bald ein Bübchen, Und sah aus heimlichem Stübchen Behaglich ins Feld hinaus. Wenn Fischer-Dieskau dieses „Behaglich“ singt, dann klingt der ganze Stumpfsinn mit, den Eichendorff in diesen Lebens- entwurf packt. Die Sympathie der Romantiker gehört dem zweiten Gesellen, der dem Gesang der Sirenen folgt – auch wenn dieser Weg zum Selbstverlust führt. Was für ein Wider- sinn, wenn das Bürgertum im behaglichen Konzertsaal zu die- sen Liedern applaudiert! Aber ein Widersinn ist es eben nur auf den ersten Blick. Denn es ist ja gerade die historische Leistung des Bürgertums, die Kritik an ihm auch in ihm selbst zu reflektieren. Man mag das für affirmativ halten, doch damit war immer zumindest die Möglichkeit einer Selbstkorrektur eingeschlossen. Es ist noch nicht einmal ansatzweise abzusehen, was der Verlust dieser www.medienobservationen.lmu.de 3 Fähigkeit der Selbstkritik in einer nachbürgerlichen Gesell- schaft bedeutet. Dietrich Fischer-Dieskaus Tod ist ein Symbol für das Ende der Epoche des Kunstliedes, vielleicht sogar ein Symbol für das Ende einer bürgerlichen Gesellschaft, wie sie die Bonner Republik geprägt hat. Nicht, dass es keine geeigneten Nach- folger (wie beispielsweise Christian Gerhaher oder Matthias Goerne) gäbe, die den Liedgesang auf höchstem Niveau fort- setzen und beileibe keine bloßen Epigonen sind. Und nicht, dass es keine zeitgenössischen Liedkompositionen gäbe (so liest man zumindest, auch wenn man sie in den Spielplänen nicht findet). Aber ein Blick ins Publikum verrät, dass die Liederabende ein weit größeres Nachwuchsproblem haben als etwa Opern oder Symphoniekonzerte. Man muss es nicht bedauern, wenn sich ein Medium wie das Kunstlied überlebt hat. In der Trauer um den Verlust Dietrich Fischer-Dieskaus fällt das schwer.