Neuer Kurs: deutscheBegegnungen Die Sieben vom Rhein (DDR 1954, RrAnnelieundAn- drewThorndike),Ein Strom fließt durch Deutschland (DDR 1954, R: Joachim Kunert) FilmDokument 10, KinoArsenal, I I.Juni 1998 In Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv-Filmarchivund den Freunden der Deutschen Kinemathek Einführung: RalfSchenk Die Jahre 1952/53 nahmen für die Filmpolitik der DDR zunächst einen ver¬ heerenden Verlauf. Die Produktion der DEFA-Studios sank auf eine Zahl von Arbeiten, die kaumnoch nennenswert war. Die Inhalte der Drehbücher wur¬ den von der SED-Filmkommission auf ihre propagandistischenZwecke hin überprüftund nur dann freigegeben, wenn damit irgendeinTeil der aktuellen Agitationabgedeckt werden konnte. Die 2. Parteikonferenzder SED im Juli 1952 setzte den Aufbau des Sozialismusund einen damit verbundenen ver¬ schärftenKlassenkampf auf die Tagesordnung. Die folgenden Monatewaren von einem rigiden innenpolitischenKurs gekennzeichnet, der weite Teile der DDR-Bevölkerung gegen die SED aufbrachte. Ein Grund dafür lag nicht zuletzt darin, daß die Partei versuchte, Kontakte nach Westberlinund Westdeutschland, dem „Vorposten des amerikanischen Imperialismus",als unerwünscht zu erklären und zu unterbinden. Diese Dok¬ trin wurden kurz nach Stalins Tod, wenige Tage vor dem Aufstand des 17. Juni 1953 von der DDR-Führungselbst aufgebrochen. „Neuer Kurs" hieß nun die Parole, die auch das Verhältnis zur Bundesrepublik betraf und die sich, logischerweise zeitversetzt, auch im DEFA-Film widerspiegelte. „Neuer Kurs" bei der DEFA bedeutete unter anderem, daß Anton Acker¬ mann, der Leiter der neugeschaffenen Hauptverwaltung Filmbeim Ministeri¬ um für Kultur, die Studios dazu aufforderte, Verbindungen in den Westen wieder aufzunehmen. Bei der DEFA sei durchaus Platz für „demokratische" Künstleraus der Bundesrepublik,die mit ihrer Arbeit den humanistischen, gesamtdeutschen Charakter der DDR-Filmkunst unterstrichen. Vor allem im DEFA-Spielfilmkam diese neue Linie zum Tragen: westdeut¬ sche Regisseureund Schauspielerwie EugenYork, Hans Müller, Henny Por¬ ten, Eva Kotthaus,Leni Marenbach und andere drehten in Babelsberg. Von ihnen erwarteteniemand politische Tendenz-,sondern gängige Unterhal¬ tungsfilme, die nicht zuletzt den Zweck hatten, die verlorengegangenen Zu¬ schauer zurück ins Kino zu holen und die DEFA-Produktion für den westdeut¬ schen und internationalenMarkt zu öffnen. 12 Auch im DEFA-Dokumentarfilm hinterließ der „Neue Kurs" seine Spuren. Zwei Arbeiten aus dem 3ahr 1954 belegen prototypisch, daß Westdeutschland von nun an nicht mehr ausschließlich als „Hort des Bösen" gesehen werden sollte, sondern - wenngleich durchaus im Sinne der SED - differenzierter. So drehte Joachim Kunert, der später wichtige DEFA-Spielfilmewie Das zweite Gleis (1962) und Die Abenteuer des Werner Holt(1965) inszenierte, ein halb¬ stündiges, geschicktzwischen Impression und Agitation oszillierendes Essay unter dem TitelEin Strom fließt durch Deutschland.Sein Gegenstand war die Elbe; sein Thema nicht nur die Schönheit der Landschaft an den Ufern des Flusses, sondern auch die Kraft friedlicher Arbeit, die von Menschen geleistet wurde, um die im Krieg zerstörte Heimat wieder aufzubauen. Kunert blieb da¬ bei nicht auf die DDR beschränkt, sondern schlug einen Bogen, der gleichsam von Schmilka und Dresden bis nach Hamburg reichte, über Stationenwie Meißen, Schloß Pillnitz, Torgau,Roßlau, Magdeburgund das Schiffshebewerk Rothensee. Die Teilung des Vaterlandesschien für einen kurzen filmischen Moment nicht für alle Ewigkeit zementiert. Ein Strom fließt durch Deutsch¬ land entsprachganz direkt der Aufforderung von Studiodirektor Günter Klein, bei der Darstellung beider deutscher Staaten „jede Schwarz-Weiß-Male¬ rei zu vermeiden. (...) Die Autoren werden beauftragt, unnötige Schärfen, Kontrasteund Härten zu beseitigen." Ebenfalls 1954 verbreiteten Annelie und Andrew Thorndike die Utopie - oder Illusion? - eines „volksdemokratischen"Gesamtdeutschland, als sie ihr strikt propagandistischesCEuvre mit Die Sieben vom Rhein fortsetzten. Vorbe¬ reitungen zu dieser abendfüllenden Dokumentationhatten schon im Herbst 1953 begonnen, als die Regisseurewährend der Leipziger Messe Gespräche mit westdeutschen Arbeiterdelegationenführten, um zu testen, ob es oppor¬ tun sei, deren Meinungenüber die DDR in einem Film zu präsentieren. Für die Dreharbeiten wurde dann allerdings keine kompakte, sondern eine ge¬ schickt zusammengesuchteGruppe ausgewählt: ein Former, ein Rangierer, zwei Bergleute, ein Walzwerker, derzum Invaliden wurde, zwei Amateursport¬ ler. Politisch bestand die Gruppe aus einem Sozialdemokraten,einemKommu¬ nisten, einem FDJ-Mitgliedund vier Parteilosen. Einer der Männerwar seit langemarbeitslos - etwas, was es in der DDR nicht mehr gab. Diese Sieben vom Rhein wurden für sechs Wochen ins Stahlwerk Riesa einge¬ laden. Sie erhielten kein Honorar, wohl aber ein Tagegeld von 25 Mark - und sahen sich dafür, begleitet von einer schweren 35-mm-Kamera,in verschiede¬ ne Situationengestellt, die vorher von den Thorndikes so genau wie möglich kalkuliert wurden. Dennoch waren Unwägbarkeiten nicht ausgeschlossen; vorsichtshalber hatte Andrew Thorndike vor Drehbeginn an die DEFA-Direkti¬ on geschrieben:„Wir gehen in einen Film, von dem wir wissen, daß er einer berechtigtenKritik unterliegenwird (...) mit der Belastung,daß uns später als Künstlern die Verantwortung für ein teilweises Mißlingen gegeben wird." 13 Gezeigtwurde unter anderem, wie die Arbeiter aus dem Westen eine Polikli¬ nik und ein Kulturhaus,Sportanlagen und eineKantine besuchen. Sie nah¬ men an Produktionsberatungen und einer Schicht beim Bau eines Rohrwerkes teil. Außerdem brachte sie die DEFA mit Fritz Selbmann, dem Minister für Schwerindustrie,und dem ehemaligen SPD-, jetzt SED-ArbeiterveteranenOtto Buchwitz zusammen. Zum emotionalsten Moment des Films wurdejene Szene,in der das west¬ deutsche SPD-Mitgliedseinen ostdeutschen Genossen Buchwitz umarmt.An¬ sonsten bestanden Die Sieben vom Rhein aus zahlreichenDeklarationen und steifen Dialogen,die offensichtlich vorher geprobt worden waren und zum Teil an völlig unpassenden Stellen absolviert wurden - etwa wenn ein junger westdeutscher Gastbeim Tanzabend über Aufbauleistungen schwärmtanstatt zu tanzen.Am Schluß des Films, der insgesamt auf eine weitgehend unkriti¬ sche Übereinstimmung der westdeutschen Arbeiter mit der Linie der SED hin¬ auslief, spricht ein Bergmann aus dem Ruhrgebiet die pathetischen Sätze: „Ihr habt viel zu verteidigen, viel Schönes, was wir gar nicht kennen zu Haus. Ihr müßtdaran denken, daß das erkämpft ist durch Arbeiter. Ich möchte sagen: Werdet nicht sorglos, bleibt wach. Ihr müßtuns auch helfen in unseremKampf, dann tut ihr etwas Großes."Die Ereignisse vom 17. Juni 1953 kamen in Die Sieben vom Rhein nicht zur Sprache. Nach der Premiere des Films, der als erste DEFA-Dokumentationmit Direkt¬ ton arbeitete, entzündete sich in der DDR-Presse eine Debatte über „nachge¬ stellte" Szenen, also das Inszenierte im Dokumentarfilm. Kein Geringerer als Joris Ivens griff in diese politisch-ästhetische Debatte ein und legte seine Ansicht vom „parteilichen" Filmemachendar, das durchaus auf inszenierte Momente zurückgreifendürfe. Weniger subtil näherte sich Karl-EduardSchnitzler den Sieben vom Rhein. Er erklärte im Programmheft des Progress-Verleihs unumwunden, der Film sei „eine unschätzbare Waffe im Kampf um die Einheit unseres Vaterlandes. (...) Er zeigt, daß der Weg, den wir unter der Führung unserer Regierung einge¬ schlagen haben, richtig ist und sich bewährt hat. Er verpflichtet uns, ge¬ meinsam und fester noch um unsere Regierung geschart, auf diesem Wege fortzuschreiten - unseren Brüdern und Schwestern im Westen helfend, uns selbst zum Nutzen, zum Wohleunseres Volkes!" In Westdeutschland wurdenDie Sieben vom Rhein offiziell nie gezeigt; und in derDDR verschwand das hölzern-pathetischeOpus relativ schnell aus den Kinos - in denen die Bevölkerung sehr viel lieber den fast zeitgleich gestar¬ teten, locker-leichten westdeutschen HeimatfilmMoselfiihrt aus Liebeskum¬ mer (Regie: Kurt Hoffmann)oder GerardPhilipe als Fanfan der Husar (Regie: Christian-Jacque) sehen wollten. Kopien: Bundesarchiv-Filmarchiv 14 Die Sieben vom Rhein Produktion: DEFA 1954. Regie und Drehbuch: Annelie und Andrew Thorndike / Text und Sprecher:Karl-Eduard von Schnitzler/ Kamera: Kurt Stanke, Waldemar Rüge Format: 35mm, s/w, 2118 m = 77' Anlaufdatum: 10. 9. 1954 Ein Strom fließt durch Deutschland Produktion: DEFA 1954. Regie: JoachimKunert / Drehbuch: Gustav Wilhelm Lehm- bruck, JoachimKunert / Text: Franz Hammer Format: 35mm, Farbe, 834 m = 30' Anlaufdatum: 1. 10. 1954 DasWunder des gezeichnetenTons. Die „tönende Handschrift" von RudolfPfenninger (D 1932) FilmDokument 11, KinoArsenal, 7. Juli 1998 In Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv-Filmarchivund den Freunden der Deutschen Kinemathek Einführung: JeanpaulGoergen 1932 realisierte der Trickfilmzeichner Rudolf Pfenninger (1899 -1976) für die Münchner Emelka fünf Kurzfilmemit künstlischem Ton. Die „tönende Hand¬ schrift", wie Pfenninger seine Entwicklung nannte, beruhte auf der Überle¬ gung, die in der Vergrößerung als Zacken erkennbaren Abbildungen des Lichttonsnachzuzeichnen und so Töne und Klänge ohne Mikrophon hexzu¬ stellen. Auf langen Papierrollen zeichnete er eine Abfolge von genauberech¬ neten Zacken, die er nach ausgedehnten Vorstudienüber den Zusammenhang zwischen den Ausformungender Zackenschrift einerseits und Tonhöhe, Ton¬ stärke und Klangfarbe andererseits ermittelt hatte. Diese Zeichnungen wur¬ den abgefilmtund auf die Tonrandspur des Lichttonfilms übertragen. In seinem Dokumentarfilm Tönende Handschrift, das Wunderdes gezeichne¬ ten Tones (1932) gibt Pfenninger auch mit Hilfe von Trickzeichnungen eine sehr anschauliche Erklärung seines Verfahren. Zu stimmungsvollen Wolken¬ aufnahmen interpretiert er dann - als erstes gezeichnetesKonzert - das „Lar¬ go" von Händel. Pfenninger begleitete mit diesen „Tönen aus dem Nichts" auch zwei Puppentrickfilmeder Gebrüder Diehl (Serenade, Barcarole), einen Ballettfilm (Kleine Rebellion) sowie einen Zeichentrickfilm (Pitsch und Patsch). Diese fünf Kurztonfilme mit einer Musik ohne Instrumente wurden am 19. 10. 1932 in München und einen Tag später in Berlin (Marmorhaus) uraufgeführt. Mit dem Zusammenbruch der Emelka wurden auch Pfenningers Experimente eingestellt. 15