II Medil'II / K11/t11r -1:'i Gerhard Fröhlich, Ingo Mörth (Hg.): Symbolische Anthropologie der Moderne. Kulturanalysen nach Clifford Geertz Frankfurt/M., New York: Campus 1998. 240 S .. ISBN 3-593-35890-5. DM 58.- Kultur und Kultursoziologie sind zur Zeiten vogue. was sicherlich nicht mit dem inflationären Gebrauch des Begriffes zur Konstruktion diverser „Bindestrich- kulturen"' oder medialen Kulturinszenierungen zusammenhängt. Vielmehr bilden die Globalisierung. die zunehmende Medialisierung der Welt, die verschiedensten Migrationsbewegungen sowie der umfassende Umbruch der alten Weltordnung ausreichende Motive, sich wieder mit Kultur bzw. Kultursoziologie und Anthro- pologie zu beschäftigen. Gerade in Zeiten des Wandels geraten sowohl die eigene Kultur als auch fremde Kulturen verstärkt in den Blick, man sucht nach Gemein- samkeiten, aber auch nach Differenzen (Debatte um die multikulturelle Gesellschaft. Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien und auf dem afrikanischen Kontinent). Das Fremdverstehen anderer Kulturen mit eigenen kullurellcn Mitteln sowie die Beschreibung und Erklärung der Alltagswelt fremder Kulturen und ihrer Sub- jekte ohne die Gefahr ihrer Korrektur oder ihres Verlustes im wissenschaftlichen Diskurs (resp. in der Forschungslogik des Ethnologen) steht im Mittelpunkt des Geertzschen Werkes und ist auch Gegenstand des von Fröhlich und Mörth heraus- gegebenen Sammelbandes zur Anwendung der von Geertz entwickelten und prak- tizierten Methode der ,.Dichten Beschreibung"'. Herausragendes Merkmal ist hier die Absicht der Herausgeber. nicht einfach Sekundärliteratur über Geertz zu pro- duzieren. sondern die Anwendbarkeit seiner Methode zu demonstrieren. Dies ge- schieht nach einer gründlichen Einleitung seitens der Herausgeber und mit Hilfe verschiedener Autoren. wobei eine beachtliche thematische Breite entfaltet wird. wie weiter unten noch zu sehen ist. Neben der methodologischen Darstellung der .. Dichten Beschreibung"' liegt also der Schwerpunkt des Bandes auf dem Alltags- handeln in der eigenen, europäischen Kultur. 46 MEDIENwissenschq/i //99 Gleichzeitig bildet dieser Band die Fortsetzung ähnlich angelegter Sammelbände (Kuzmies/Mörth 1991, Mörth/Fröhlich 1994 ), die ebenfalls bei Campus erschie- nen sind und sich mit dem Prozeß der Zivilisation beschäftigen. Auffällig an die- sen Soziologen bzw. an dieser Reihe ist, daß hier die Intention verfolgt wird, die klassische soziologische Dichotomie von Individuum und Gesellschaft zu über- winden und fallorientiert zu fruchtbareren Analysen zu gelangen. Trotz seines mikrosoziologischen Ansatzes kann man auch Geertz ein ähnliches Vorgehen un- terstellen, was sich v. a. in der Methode der „Dichten Beschreibung" zeigt (s. u.). Bevor auf den Aufbau des Bandes eingegangen wird, ist noch kurz die „Dichte Beschreibung" zu skizzieren, die exemplarische Ausschnitte einer Kultur oder Ge- sellschaft zeigt. ,,Dichte Beschreibungen sind mikroskopische Untersuchungen. Sie setzen an besonderen Praktiken oder Ereignissen an und versuchen, anhand des örtlich und zeitlich begrenzten Geschehens das Ganze der Kultur interpretativ zu erschließen. Die lokale Untersuchung ist also nicht der Endpunkt, sondern nur der Ort, von dem aus weiterreichende Bezüge hergestellt werden. Dichte Beschreibun- gen sind reduktionistisch im Hinblick auf die Beobachtungsebene, nicht jedoch hinsichtlich der Wirkungsebene. Die Erfassung des unmittelbaren Geschehens al- leine wäre eine dünne Beschreibung. Dichte erhält die Beschreibung dadurch, daß sie Oberflächen durchschaut und vielschichtige Bedeutungsstrukturen sichtbar macht." (S.18). Der Band von Fröhlich und Mörth zeigt nun in den Darstellungen verschiedener Autoren, wie die „dichte Beschreibung" methodisch aufgebaut ist, und wie bzw. ob sie als eine Methode in der symbolischen Anthropologie verwen- det werden kann. Im folgenden werden die vier Abschnitte des Bandes kurz dargestellt, wobei aus Gründen der Übersichtlichkeit auf eine Darstellung einzelner Kapitel verzich- tet wird. Im ersten Abschnitt wird zunächst der Frage nachgegangen, wie man von der Ebene des Datenmaterials zur Ebene der Interpretation gelangt (Darstellung sinnhafter Strukturen). Gecrtz selbst macht zu dieser Problematik keine oder nur wenige Aussagen. Insofern ist die Auffüllung dieser Lücke durch andere zu begrü- ßen. Insgesamt verfolgt Geertz die Form eines essayistischen Theoretisierens, wo- bei er hier auf das Prinzip der Peirceschen Abduktion zurückgreift. Insofern ist immer nur eine Untersuchung am Einzelfall möglich, deren Ergebnisse dann mit allgemeineren theoretischen Erkenntnissen probeweise verknüpft werden. Kern des Geertzschen Ansatzes ist die Bildung nachvollziehbarer Sequenzen des Fremd- verstehens, wobei davon ausgegangen wird, daß Fremdheit interkulturell versteh- bar ist, da sie zu den universellen Bewußtseinsstrukturen der Lebenswelt zählt. ,,Dichte Beschreibungen" erschließen nicht nur tieferliegende Bedeutungs- ebenen, sondern decken über diese Ebene auch Täuschungen, Lügen und Ironien auf. So können z. B. ,,Als-ob-Spiele", die in einer subjektiv empfunden immer unübersichtlicheren Gesellschaft an Bedeutung gewinnen, enttarnt werden. Spra- che als Instrument kommunikativer Handlungen wird somit zum Medium der Täu- schung, aber auch des Verstehens, und sie definiert dabei Rollen und Grenzen des // Medien/ K11/t11r 47 Handelns. Gleichzeitig ist Sprache (der eigene Spracherwerb) aber auch ein Hin- dernis, das in der ethnologischen Forschung erst überwunden werden muß, damit unvoreingenommene Ergebnisse möglich werden. Das gilt sowohl für das Erler- nen einer anderen Sprache als auch für die Lektüre, die am Anfang einer „Dichten ~eschreibung" steht. Erst dann entsteht die Chance, das Wissen anderer Kulturen in einer Art „world brain" zu integrieren, mit ihm vertraut zu werden und ggf. ver- wertbar zu machen. Weiterhin konstituiert Sprache Macht in einem symbolischen ~kt der Zuweisung und der Annahme, sie ist eine kollektive Erfindung, die von ~tnem einzelnen angenommen wird und dem dann die (gesellschaftlich konstitu- ierte) Macht zugeschrieben wird. Macht basiert aber nicht nur auf Zuschreibung, ~ondern auch auf Gewalt, wobei hier nicht das staatliche Gewaltmonopol gemeint ist, sondern der Ausbruch der Gewalt von unten als Symptom psychischen, sozia- len und kulturellen Stresses. Macht insgesamt ist also funktional in die Strukturen der Gesellschaft eingebettet. Im zweiten Abschnitt werden Teilwelten der Moderne dicht beschrieben und i~re typischen Dimensionen exemplarisch analysiert. Deren informelle Logik zeigt sich in den Blickwinkeln der Akteure, ihr Sinn wird interpretiert und in einer es- sayistischen Darstellung entwickelt. Es entstehen Skizzen der Moderne, ohne je- doch den Anspruch auf eine vollständige Beschreibung der Kultur zu erheben. The- men sind hier die (gewandelte ?) Bedeutung der Arbeit im Kontext von Lebens- Welt und -umständen, die Welt des Internet als Arena moderner Hahnenkämpfe, die Ökonomie, Rationalität und Symbolik des Schenkens (Gabe, aber auch Opfer) sowie der Umgang mit der Körperlichkeit - der von Geertz bisher kaum thematisiert Wurde-, im Rahmen jugendlicher Subkulturen (Punks, Hooligans, Skins). Im dritten Abschnitt wird auf die Wirkung und Kontinuität vormoderner sym- bolischer Praktiken als Motive des Handelns in modernen Kulturen beschrieben. Gerade anhand des Religiösen können prämoderne Tiefenstrukturen sichtbar ge- ~acht werden. Exemplarisch wird dies zunächst am Beispiel der „Madonna vom Si~ge" (Ausdruck der Gegenreformation als Wappen der Passauer Universität) ge- zeigt. Die „Dichte Beschreibung" wird hier ergänzt durch den ethnomethodolischen Ansatz, um im Rahmen eines Erschütterungsexperiments die Interaktionen im kul- turellen Kontext und die Stabilität bzw. Immunisierung religiöser Traditionen ge- genüber Veränderungen sichtbar zu machen. Anschließend geht es um die Beschrei- b~ng eines Aspektes der sog. Volksreligiösität. Anhand eines konkreten Beispiels Wird gezeigt, daß ein vormoderner Symbolgebrauch und entsprechendes Handeln auch in modernen, aufgeklärten Zeiten eine sinnvolle Lebensführung ermöglicht. Im Zentrum der Argumentation steht der Kontrast von Aberglaube und Wissen- schaft (Rationalität), der sich hier zuspitzt in der Form, daß Frauen in einer mo- dernen Gesellschaft, die ihr Handeln bewußt reflektieren (indem sie ein Übermaß an Rationalität in Form therapeutischer Interventionen ablehnen), ihren Wunsch nach Schwangerschaft im Verzehr eines Apfelstückchens aus dem Garten einer Heiligen dokumentieren und anschließend tatsächlich schwanger werden. Religiös 48 M fcDI ENtt'issensclwji I 199 motivierte Handlungen stellen hier eine Form der Komplexitätsreduktion dar, die gegenüber komplexeren Reduktions formen einer rein rationalen Gesellschaft die einfachere Alternative zur Bewältigung des Lebens darstellen. Schließlich wird im letzten Kapitel über die Ikonographie als Symbol des Religiösen - die den Schwer- punkt des letzten Abschnittes bildet - ein zunächst ganz profaner Bereich beschrie- ben. In Gestalt von Überlieferungen und deren weiterer Konkretisierung in Form von sog. ,,Materln" werden Wilderer im Kontext einer Kultur der Rebellion als Volkshelden verehrt. Dieses Gedenken an den Konllikt von freien Bauern und der adeligen Oberschicht um das Jagdrecht kann als Prototyp verwendet werden, um die Sozialrebellen der Modeme in ihrer Subkultur und deren Konstruktion einer Ikonographie (z. B. Che Guevara) zu beschreiben. Im vierten Abschnitt bildet eine umfassende Bibliographie des Werkes von Cli fford Geertz den Schlußpunkt. Aufgrund der internetgestützten Recherche so- wie des Umstands, daß Geertz der englischsprachigen Gemeinschaft angehört, zi- tiert die Bibliographie die Originaltitel, was für eine weitere Beschäftigung mit dem Geertzschen Werk nur nützlich sein kann. Insgesamt erweist sich der Band als eine wertvolle Bereicherung der soziolo- gischen resp. der anthropologischen Literatur, was v. a. durch die äußerst anregen- de Methodendemonstration gewährleistet wird. Ein anderes wichtiges Qualitäts- merkmal liegt in der Bewgnahme auf die moderne Alltagswelt der europäischen Kulturen, sprich die Lebenswelt der hauptsächlichen Leser. Aufgrund des mehr oder minder hohen „Wiedercrkennungwertes" der behandelten Themen eröffnet der Band die Möglichkeit, die Anthropologie als eine moderne Wissenschaft zu begreifen, die ihren „exotischen" Rahmen längst überschritten hat und zur (ver- gleichenden) Analyse moderner Gesellschaften geeignet ist. Nicht zuletzt eröffnet sich hier ein Spektrum an Möglichkeiten, sowohl unterschiedliche politische Kul- turen als auch Mediensysteme einer weitergehenden Analyse zu unterziehen. Inso- fern bieten Fröhlich und Mörth nicht nur eine fundierte Informationsbasis für Stu- dierende der Sozialwissenschaften, sondern auch eine anregende Quelle für den einen oder anderen Sozialwissenschaftler. Michael Malachewitz (Siegen)