36 MEDIENwissenschaft: Studentische Sonderpublikation 2017 Judith Königer: Authentizität in der Filmbiografie: Zur Entwicklung eines rezipientenorientierten Authentizitätsbegriffs Würzburg: Königshauses & Neumann 2015, 220 S., ISBN 9783826056086, EUR 29,80 (Zugl. Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün- chen, 2014) Judith Königer geht in ihrer Disserta­ Glaubwürdigkeit des Erzählten stelle tion der Frage nach, ob und inwiefern dabei eine empathische Rezeptions­ im Genre der Filmbiografie (biopic) haltung dar. Daher sei die Figur des das damit verbundene Wirklichkeits­ Antihelden eine typische Figur des versprechen einen Eindruck von Genres, da Empathie ein stärkeres Authentizität erweckt. Die Leitthese Empfinden der Glaubwürdigkeit bei ihrer Arbeit lautet, dass Authentizität den Zuschauer_innen hervorrufe als in der Filmbiografie eine Beobachter­ beispielsweise komische Darstellungen konstruktion ist, weshalb sie es sich (vgl. S.42f.). zum Ziel setzt, einen rezipienten­ Im dritten Kapitel geht es um den orientierten Authentizitätsbegriff zu Faktor der ‚Relevanz‘. Die Autorin schaffen. Neben einer Definition des erarbeitet diesen Begriff am Beispiel Genres der Filmbiografie benennt sie von Bild und Fotografie. Sie begründet die vier Faktoren ‚Glaubwürdigkeit’, dies damit, dass ein Film eine Abfolge ‚Relevanz’, ‚Kontingenz’ und ‚Wahr­ von Bildern sei und geht in dem Kapi­ scheinlichkeit’ als Bausteine ihres tel auf die Grenzen einer authentischen rezipientenorientierten Authentizitäts­ Wirklichkeitswiedergabe von Bildern begriffs, denen die folgenden Kapitel ein. Eine Fotografie habe als vermeint­ (2­5) gewidmet sind. Dabei wird der lich wirklichkeitsabbildendes Medium ‚Glaubwürdigkeit‘ die größte Bedeu­ Grenzen in seiner Authentizität; das tung für ein Authentizitätse mpfinden Dargestellte im Bild sei daher immer zugesprochen (vgl. S.12). selektiv (vgl. S.70). Auch eine Film­ Das zweite Kapitel nimmt nach biografie könne nie ein komplettes einer Definition des Begriffs ‚Authenti­ Leben darstellen, was eine Selektion zität’ den ersten Faktor, die ‚Glaubwür­ von Bildern notwendig mache, um die digkeit‘, in den Blickpunkt. Die Autorin gewünschte Aussage über das darge­ listet hierzu verschiedene Faktoren auf, stellte Leben zu vermitteln. Hierbei die den Zuschauer_innen – ihrer Mei­ sei die ‚Relevanz‘ des Dargestellten der nung nach – ein Gefühl der Glaub­ entscheidende Faktor, weswegen sie der würdigkeit vermitteln. Sie unterstützt zweite Baustein des rezipientenorien­ ihre Argumentation mit verschiedenen tierten Authentizitätsbegriffs sei. Beispielen von Filmbiografien. Einen Das vierte Kapitel befasst sich mit besonders wichtigen Faktor für die dem Faktor ‚Kontingenz’. Die Autorin Medien konstruieren Wirklichkeit 37 begründet die Wahl des Begriffs damit, ein. Rezeption sei ein kreativer Prozess dass es nie die ‚eine’ Wirklichkeit gebe und das Empfinden von Authentizität und die Darstellung auch immer anders ein Teil dieses Prozesses. Die Rolle der hätte ausfallen können, weswegen sie Rezipierenden in dem von der Autorin das Dargestellte als „rekonstruierte […] entwickelten ‚rezipientenorientierten Vergangenheit“ (S.94) beschreibt. Das Authentizitätsbegriffs‘ bestehe also Kapitel dreht sich um Authentizität im darin, das Empfinden von Authen­ Film. Dabei geht die Autorin auch auf tizität vor dem Hintergrund eigener das Genre des Dokumentarfilms ein Erfahrungen, Wissensbestände und und beschreibt die Filmbiografie als Erwartungen zu der Thematik zu kon­ hybrides Genre, das sich immer auch struieren. an Elementen anderer Medien bediene. Das siebte Kapitel nimmt die Filme Als Beispiel nennt sie Elemente des Pollock (2000), La Vie en Rose (2007) Dokumentarfilms, beispielsweise das und Céleste (1981) mithilfe des von der Einblenden von Orts­ und Zeitanga­ Autorin entwickelten Authentizitätsbe­ ben, die durch ihre Überprüfbarkeit griffes in den Blick. Dabei geht sie nach einen Eindruck von Objektivität erzeu­ den vier oben genannten Bausteinen vor gen (vgl. S.101f.). und analysiert die Filme im Hinblick Im fünften Kapitel stellt die Autorin auf Aspekte, die sie in den vorigen den letzten Baustein ihres Authentizi­ Kapiteln als Argumente für die Wich­ tätsbegriffs, die ‚Wahrscheinlichkeit, tigkeit der vier Faktoren verwendet hat. vor. Dabei gibt sie einen Einblick in die In den Fazits zu den Analysen stellt sich Differenzierung von Fakt und Fiktion heraus, dass die ‚Glaubwürdigkeit‘ der in Filmen, sowie in der Biografik und entscheidende Faktor des Authentizi­ Geschichtsschreibung. Da es sich bei tätsbegriffes ist. Dass eine biografische der Filmbiografie um ein fiktionales Darstellung auf die eine oder andere Genre, mit einem Wahrheitsanspruch Art vollzogen werden kann, ist selbst­ handle, sei die Wahrscheinlichkeit verständlich, womit ‚Kontingenz‘ zwin­ des Dargestellten ein wichtiger Faktor gend immer gegeben ist. Dass dadurch für eine authentische Darstellung im bestimmte Aspekte des Lebens beson­ Film. Das bedeute, dass die erzählte ders in den Blick genommen werden Geschichte zum einen nach innen müssen (der ‚Relevanzaspekt’), erklärt zusammenhängend sein müsse, zum sich von selbst. Auch der ‚Wahrschein­ anderen müsse ein Realitätsbezug nach lichkeitsaspekt’ wird in den Fazits der außen bestehen. Das Publikum müsse Analyse in wenigen Sätzen abgehakt. Dargestelltes wiedererkennen, das Dar­ Im Schlussteil beschreibt Königer gestellte müsse überprüfbar sein (vgl. den Begriff der Authentizität als nicht S.117). vereinbar mit der Filmbiografie, da es Im sechsten Kapitel stellt die Auto­ sich dabei um ein fiktionales Genre rin die Verbindung zum Rezipierenden handle. Das biopic verfolge allerdings her. Beim Schauen eines Filmes gehen eine Authentizitätsstrategie und erst die Zuschauer_innen einen Medienpakt in dem Moment, in dem das Gese­ 38 MEDIENwissenschaft: Studentische Sonderpublikation 2017 hene vom Publikum aufgenommen der vier Bausteine zu erklären, was wird, könne Authentizität entstehen. entscheidend für ein authentisches Als Ergebnis ihrer Arbeit führt die Empfinden (aus der Sicht der Autorin) Autorin die Entwicklung des neuen, ist. ‚Rezipienten orientiert’ bedeutet in rezipientenorientierten Authentizitäts­ ihrer Definition allerdings nur, dass begriffs an, welchen sie noch einmal Authentizität erst durch den Zuschauer zusammengefasst vorstellt. Als Aus­ beziehungsweise die Zuschauerin ent­ blick wirft sie die Frage auf, inwiefern steht und von deren Wissensständen andere Filmgenres ein Empfinden von zur jeweiligen Thematik, ihren Erwar­ Authentizität hervorrufen. tungen und Erfahrungen abhängig ist. Der Band gibt mit vielen Filmbei­ Sie geht in ihrer Arbeit nicht empirisch spielen einen Einblick in das Genre der vor, um herauszufinden, welche Filme Filmbiografie und stellt einige interes­ inwiefern als authentisch wahrgenom­ sante Methoden des Genres vor, die men wurden oder nicht. Der Aufruf, ein Empfinden der Glaubwürdigkeit andere Filmgenres auf den Aspekt der und Authentizität vermitteln. Mit dem Authentizität zu überprüfen, gibt zwar Film Brothers Grimm (2005) bringt sie einen Ausblick auf neue Forschungs­ allerdings nur ein Gegenbeispiel – also arbeiten, der ‚rezipientenorientierte lediglich einen Film, dem zwar histo­ Authentizitätsbegriff ‘ ist allerdings rische Persönlichkeiten zugrunde lie­ sehr spezifisch für das Genre der Film­ gen, welcher aber keinen Anspruch an biografie entwickelt worden, und die Authentizität des Dargestellten stellt. Autorin hatte in ihrer Arbeit bereits Die Entwicklung des neu entwickelten auf die Unmöglichkeit der Anwendung ‚rezipientenorientierten Authentizitäts­ des Begriffs in anderen Genres hinge­ begriffs‘ steht bei der Arbeit im Mit­ wiesen. telpunkt. Der Großteil des Bandes befasst sich damit, durch das Erörtern Jakob Hauenschild