Henrik Wehmeier [rezens.tfm] 2022/1 Rezension zu Felix T Gregor: Die Un/Sichtbarkeit des Kapitals. Zur modernen Ökonomie und ihrer filmischen Repräsentation. Bielefeld: Transcript 2021, ISBN: 978-3- 8376-5489-9, 310 S., Preis: € 49,00. von Henrik Wehmeier Gibt es Kapitalismus ohne Krise? Gegenwärtig wandelt sich zumindest der Name der Krise: Die Covid-19-Pandemie tritt vor die lange im Fokus stehende Finanzkrise 2007/08; zugleich wird diese medizinische Krise immer auch als nächste Wirtschafts- und Finanzkrise diskutiert. In der Debatte über Lockdowns etwa werden ökonomische mit gesundheitlichen Folgen abgewogen, wenn im Dezember 2021 gefragt wird, ob die Wirtschaft ein drittes 'Herunterfahren' "überstehen" würde (vgl. Institut der deutschen Wirtschaft 2021). Was sind also die Lehren aus der Finanzkrise? Wie hat sich in ihrer Nachfolge der mediale Blick auf den Kapitalismus verändert? Richter aufzeigt. Inflation hebe vermittels genuin filmischer Techniken wie der Montage die realen Felix Gregor eröffnet seine Dissertation Die gesellschaftlichen Folgen der Wirtschaftskrise hervor, Un/Sichtbarkeit des Kapitals. Zur modernen Ökonomie und Richters künstlerische Erkundung des Mediums falle ihrer filmischen Repräsentation mit der ernüchternden somit mit einer Reflektion von Topoi des Kapitalismus Feststellung, dass die kapitalistische Alternativ- wie dem Geld als (in der Inflation nicht mehr losigkeit der Gegenwart, wie er mit Mark Fisher einlösbaren) Versprechen zusammen. Diese beiden formuliert, den Zustand der Krise normalisiert und gelungenen Filmanalysen, die nah am Material damit ein instabiles System zum menschlichen Alltag argumentieren und dieses zugleich in filmtheoretische gemacht habe (vgl. S. 12-14). Der Film besitze jedoch Diskussionen, etwa um die intellektuelle Montage von das Potenzial, entgegen dieser Normalisierung und Sergei Eisenstein oder das Optisch-Unbewusste bei diesem Unsichtbarmachen "den Zustand des Walter Benjamin, einbinden und mit ökonomischen Kapitalismus in seinen Entwicklungen, Effekten und Theorien etwa zur "unsichtbaren Hand" (Adam Smith) Auswirkungen für Gesellschaften und Individuen zusammenbringen, legen jenes Potenzial des Filmes sichtbar, erfahrbar und diskursivierbar zu machen" (S. anschaulich dar. Die bei Adam Smith abstrakte 12). Dieser Versuch einer filmischen "Re-Konstruk- ökonomische Struktur der „unsichtbaren Hand“ trifft tion" und Sichtbarmachung setze schon mit den ersten nach Gregor bei Richter auf die Inszenierung der Wirtschaftskrisen des 20. Jahrhunderts ein, wie Gregor konkreten Hand als kapitalistisches Instrument (vgl. S. anhand der Filme Inflation (D 1928) und Die Börse als 46), so führe das Medium des Filmes vor Augen, wie Barometer der Wirtschaftslage (CH 1939) von Hans Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2022/1 | Veröffentlichungsdatum: 2022-05-18 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2022-1 | doi:10.25365/rezens-2022-1-07 Henrik Wehmeier [rezens.tfm] 2022/1 der Kapitalismus die Gesellschaft bis hin zur Ebene Überlagerungen, Brüche und Transformationen“, um der Körperhaltungen durchdringt (vgl. S. 51-55). einen digitalen Finanzkapitalismus zu beschreiben, der eine vielleicht nur vorgespielte Komplexität zur Den theoretischen Ausgangspunkt der Arbeit bildet Verschleierung seiner Mechanismen nutzt? Wichtig das Konzept des "ästhetischen Dispositivs", das wäre auch gewesen aufzuzeigen, dass globale Gregor ausgehend von den Dispositivbegriffen von Finanzströme gerade nicht in unhierarchische Michel Foucault, Gilles Deleuze und Giorgio rhizomatische Strukturen münden, sondern auf Agamben entwickelt. Unter Dispositiv versteht er Machtstrukturen fußen. Diese Machtstrukturen dabei ein fluides Netz, dessen Knotenpunkte sich werden von Gregor umfassend betont, Formu- durch Krisen offenbaren würden (vgl. S. 61). Der Film lierungen wie die Rede vom „Ensemble immaterieller, verleihe den Dispositiven des Kapitalismus eine organisierender Strukturen und Dispositive“, wie diskursiv-sensuelle Sichtbarkeit, indem er mit Gregor Christian Marazzi zitiert (S. 105), bergen Sehgewohnheiten sowie narrativen Erwartungen jedoch die Gefahr der Aufgabe jeglicher Vorstellung spiele (S. 65-67). Rückgreifend auf Deleuze wird das von Akteur:innen zu Gunsten rein systemischer Dispositiv damit zur „Maschine der Sichtbarmachung Prozesse. und Sichtbarkeit“ (S. 71), wobei mitunter eher unklar bleibt, wie die Relation von Film und Dispositiv nun Eben diese Konkretisierungen präsentiert Gregor im tatsächlich aufzufassen ist. So grenzt sich Gregor zweiten Teil der Arbeit, der sich in die vier interessanterweise zwar klar von den Apparatus- sogenannten Einzeldispositive "Körper & Subjekt", theorien (z.B. Jean-Louis Baudry) ab, hätte aber gerne "Raum & Zeit", "Macht & Durchdringung" sowie noch umfassender auf die nur kurz erwähnte "Krise & Exzess" gruppiert. In jeder dieser Gruppen Verwandtschaft von Dispositivkonzept und Film- bringt Gregor Filmbeispiele mit theoretischen technik eingehen können. Zur Beschreibung dieser Ansätzen in erkenntnisreiche Dialoge. So wird die Verwandtschaft rekurriert Gregor zwar auf den angedeutete Frage nach den Machstrukturen in der Begriff der „Maschine“, der allerdings in seinen "Kontrollgesellschaft" im Kapitel zu "Macht & vielfältigen, verwendeten Variationen schwer greifbar Durchdringung" anhand von Import Export (A 2001, bleibt (z.B. "Wunschmaschine" (S. 66), "fantastische Ulrich Seidl), Leben – BRD (D 1990, Harun Farocki) Maschine" (S. 70), "Produktionsmaschine" (S. 73)). und Paradies: Liebe (A 2012, Ulrich Seidl) verhandelt. In Gregor wendet sich in seiner Perspektive jedenfalls der gegenwärtigen "Post-Disziplinargesellschaft" kön- explizit gegen die Pauschalität der Medienkritik, die ne Macht jedoch nicht als konkrete, physische Agambens Dispositiv-Begriff inhärent ist – er schreibt Handlungsweise aufgefasst werden, sondern sie Medien vielmehr ein subversives Potential in diesem vollziehe sich als äußere sowie innere Kontrolle durch Prozess zu, wie der Analyseteil der Arbeit aufzeigt. die Subjekte selbst (vgl. S. 205). Dem bei Deleuze "grenzenlos gewordenen Subjekt" (S. 207) steht jedoch Dieser widmet sich als erstes Alexander Kluges entgegen, wie in den Filmen Menschen angeordnet Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – und zurechtgewiesen (vgl. S. 229), normiert und Eisenstein – Das Kapital (D 2008). Gregor setzt den Film standardisiert werden (vgl. S. 223). Die Filme zeigen, kenntnisreich in Bezug zu literarischen und visuell- welcher Druck auf die Figuren ausgeübt wird, um sie metaphorischen Passagen in den Schriften von in kapitalistische Subjekte zu transformieren – was Friedrich Engels und Karl Marx, berichtet von Farocki etwa in einer Parallelisierung von neoliberalen filmhistorischen Adaptionsversuchen des Kapitals, Coachings und Belastungstests von Produkten beschreibt die Stilistik Kluges anhand von Theodor W. ausdrückt (vgl. ebd.). Insbesondere durch eine präzise Adornos Essaybegriff und analysiert schließlich die Untersuchung der vielschichtigen Blickanordnungen verwendeten filmischen Techniken. Diese über- von Import Export kann Gregor darlegen, dass die zeugenden Ausführungen hätten höchstens noch um Filme selbst diskursiv aktiv werden, also eine kurze kritische Passagen ergänzt werden können: Wie filmimmanente Theoriebildung (vgl. S. 226) vollzogen geeignet ist Kluges Form der filmischen „Kreuzungen, Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2022/1 | Veröffentlichungsdatum: 2022-05-18 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2022-1 | doi:10.25365/rezens-2022-1-07 Henrik Wehmeier [rezens.tfm] 2022/1 wird. Damit erweitere sich die Frage nach der "Kerbung" und der "Glättung" die affektiven Visualisierung kapitalistischer Machtverhältnisse hin Inszenierungen von Wall Street: Money Never Sleeps zur Frage nach der Macht filmischer Bilder (S. 241), auf (USA 2010, Oliver Stone), Zeit der Kannibalen (D 2014, die Seidl und Farocki mit bewussten Ambivalenzen Johannes Naber) und Master of the Universe (D 2013, etwa zwischen fiktionalem Erzählen und faktualem Marc Bauder) untersucht werden. Wo Wall Street noch Dokumentieren reagieren würden. über eine Topografie, also über distinkt zu unterscheidende und auszumachende Räume, Im Kapitel "Körper & Subjekt" wiederum treffen die verfüge, würden sich hingegen die topologischen Theorien Judith Butlers auf die Filme Paris Is Burning Raumstrukturen in Zeit der Kannibalen und Master of (USA 1990, Jennie Livingston), Tokyo Sonata (JP 2008, the Universe durch Glätte, Vereinheitlichung, Kurosawa Kiyoshi) und Yella (D 2007, Christian Flexibilisierung und Ununterscheidbarkeit auszeich- Petzold). Zentral sei in allen der Begriff der nen. Diese "glatten" Oberflächeninszenierungen 'Performance' als zentrales Element des gegen- bringt der Autor mit der affektiven Wirkungs- wärtigen Kapitalismus: Als Humankapital werde der dimension, in Verbindung (S. 186-187), wobei diese individuelle Körper zum austauschbaren Objekt Abgrenzung nicht zwangsläufig überzeugt; so könnte ökonomischer Performances, zugleich erfordere der mit Laura U. Marks auch über die haptische Kapitalismus eine immaterielle, immerwährende Dimension des "körnigen", "gekerbten" Bildes in Wall Arbeit am eigenen Selbst, um sich als kapitalhaftes Street diskutiert werden (vgl. Marks 2000). Subjekt zur Aufführung zu bringen. In Tokyo Sonata Überzeugender ist die Konstatierung des Zusammen- versuche der Protagonist seine Arbeitslosigkeit vor fallens inhaltlicher Thematisierungen des Finanz- der Gesellschaft sowie der eigenen Familie zu kapitalismus mit der medialen Form des Filmes, wenn verbergen, in Yella vollziehe die Protagonistin im sich der Fluss des Kapitals etwa in einer mobilen erträumten Weiterleben hollywoodhafte Kapita- Kamera spiegelt (vgl. S. 164) oder die spekulativen lismus-Performances in den gespenstisch an- Geschäfte der Finanzberater:innen zu spekulativen mutenden, generisch-sterilen Büroräumen der Bildern würden (vgl. S. 171). Besonders produktiv gegenwärtigen Finanzökonomie. Diese Performances erscheint hier die Verschaltung von digitalem müssten jedoch immer schon scheitern. So zeige sich Finanzkapitalismus und digitalem Film hin zu einer Gregor zufolge das Illusorische des Kapitalismus "im "Medienästhetik des Glatten" (S. 178), wodurch unerreichbaren Ideal eines flexiblen, unter- gemeinsame Diskussionen in beiden Diskursen etwa nehmerischen Selbst, das im Modus von über Ortsunabhängigkeit und Fluidität hervortreten im/materieller und bioökonomischer Arbeit ohne (im filmwissenschaftlichen Diskurs treten diese etwa Rücksicht auf Verluste an seine Grenzen geht" (S. 145). in der Reflektion der unentwegten Prozessierbarkeit Nah an den Filmen kann der Autor offenlegen, dass digitaler Bilder hervor, vgl. Linseisen 2020). dies in paradoxe Konstellationen münde, wodurch die Performances die Zuschauer:innen in ihren Readings, Insgesamt zeichnet sich die Studie dadurch aus, dass d.h. in ihren Bewertungsprozessen, herausfordern sie ausgehend von einem präzisen Blick auf das würden: In Tokyo Sonata erscheinen die arbeitslosen filmische Material umfassende Bezüge zu historischen Figuren trotz ihrer Arbeitslosigkeit als ideale und gegenwärtigen Theorieentwürfen herstellt, die in neoliberale Subjekte ("Superarbeiter", S. 125), Yella ihrer großen Spannweite allesamt kenntnisreich wiederum zeige durch die Vermischung von präsentiert und diskutiert werden und damit die Fiktionalität und Faktualität die Figuren als "reale filmanalytischen Beobachtungen sinnvoll erweitern. Bewohner:innen einer unheimlichen Gegenwart" (S. Dies trifft auch auf das letzte Kapitel zu, welches das 129). Videoprojekt Iranian Beauty (D 2013, Anahita Razmi) mit unter anderem Theodor Adorno und Georges Die Frage nach der filmischen Wirkungsdimension ist Bataille zusammenbringt, um zu fragen, ob der gleichfalls wichtig im Kapitel "Raum & Zeit", wenn verschwenderische Luxus nicht als subversive mit Félix Guattaris und Gilles Deleuzes Konzepten der Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2022/1 | Veröffentlichungsdatum: 2022-05-18 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2022-1 | doi:10.25365/rezens-2022-1-07 Henrik Wehmeier [rezens.tfm] 2022/1 Verweigerung und damit als Überwindung der Literatur wirtschaftlichen hin zu einer allgemeinen Ökonomie Institut der deutschen Wirtschaft: "Was ein neuer gedeutet werden kann. Ob der Exzess die passende Lockdown für unsere Wirtschaft bedeuten würde". Antwort auf ein exzessives System ist, gilt es wohl zu 02.12.2021, URL: https://www.iwkoeln.de/presse/ diskutieren. In jedem Fall aber zeigt Die Un/Sichtbarkeit interviews/michael-huether-was-ein-neuer-lockdown-fuer- des Kapitals eindrücklich auf, wie der Film auf genuin unsere-wirtschaft-bedeutet.html (zuletzt aufgerufen am eigene Weise die alltäglichen Wirkungen des Kapita- 08.04.2022) lismus auf jeden Einzelnen wahrnehmbar und damit Linseisen, Elisa: High Definition: Medienphilosophisches Image zuallererst thematisierbar macht. Processing. Lüneburg: Meson Press 2020. Marks, Laura U.: The Skin of the Film. Intercultural Cinema, Embodiment, and the Senses. Durham/London: Duke University Press 2000. Autor/innen-Biografie Henrik Wehmeier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im ERC-Projekt „Poetry in the Digital Age“ an der Universität Hamburg. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn sowie am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg. Seine Dissertation Rausch und Film. Die performative Wahrnehmung filmischer Rauschszenen erscheint 2022 im Avinus Verlag. Sein aktuelles Forschungsprojekt untersucht die mediale Zirkulation zeitgenössischer Lyrik. Publikationen: – Rausch und Film. Die performative Wahrnehmung filmischer Rauschszenen. Hamburg: Avinus 2022. – Zus. mit Christoph Büttner: "Ein Film aus dem Ruhrgebiet? Deindustrialisierungsgeschichte(n) und Körperpolitiken des Metals in Thrash, Altenessen". In: ffk journal 7, 2022, S. 15-36, http://ffk- journal.de/?journal=ffk-journal&page=article&op=view&path%5B%5D=161 – "Doch nur ein Traum? Nachträgliche Traummarkierungen im Horrorfilm zwischen affektiver Involvierung und distanzierendem Erwachen". In: Catani, Stephanie; Mehrbrey, Sophia (Hrsg.): Träumen mit allen Sinnen. Sinnliche Wahrnehmung in ästhetischen Traumdarstellungen. Paderborn: Brill Fink 2021, S. 215-232. Dieser Rezensionstext ist verfügbar unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten. Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2022/1 | Veröffentlichungsdatum: 2022-05-18 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2022-1 | doi:10.25365/rezens-2022-1-07 Henrik Wehmeier [rezens.tfm] 2022/1 [rezens.tfm] erscheint halbjährlich als e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen und veröffentlicht Besprechungen fachrelevanter Neuerscheinungen aus den Bereichen Theater-, Film-, Medien- und Kulturwissenschaft; ISSN 2072-2869. https://rezenstfm.univie.ac.at Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2022/1 | Veröffentlichungsdatum: 2022-05-18 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2022-1 | doi:10.25365/rezens-2022-1-07