Joanna Jaritz Proust Cinématographe – wie Raoul Ruiz Proust las HEIDELBERG UNIVERSITY PUBLISHING Proust Cinématographe Proust Cinématographe – wie Raoul Ruiz Proust las Joanna Jaritz HEIDELBERG UNIVERSITY PUBLISHING Über die Autorin Joanna Jaritz studierte an Universitäten in Heidelberg, Sevilla und Straßburg Romanistik. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf intermedialen Literatur­ bearbeitungen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist unter der Creative Commons-Lizenz 4.0 (CC BY-SA 4.0) veröffentlicht. Die Online­Version dieser Publikation ist auf den Verlagswebseiten von Heidelberg University PUBLISHING http://heiup.uni­heidelberg.de dauerhaft frei verfügbar (open access). urn: urn:nbn:de:bsz:16-heiup-book-310-8 doi: https://doi.org/10.17885/heiup.310.420 Umschlagabbildung: Das Pastiche von Blixen: «Le jour où le sculpteur Salvini mourut […]» (2:30:42). Aus: Ruiz, Raoul (1999): Le Temps retrouvé, d’après l’œuvre de Marcel Proust. Drehbuch: Taurand, Gilles. Paulo Branco (FR, IT, PT). Film- edition Suhrkamp (DVD) 2011, 162 min. Text © 2017, Joanna Jaritz ISBN 978-3-946054-46-7 (PDF) ISBN 978-3-946054-47-4 (Hardcover) ISBN 978-3-946054-61-0 (Softcover) ISBN 978-3-946054-62-7 (ePUB) Vorbemerkungen und Danksagung Das vorliegende Buch ist aus einer Dissertation hervorgegangen, die 2014 am Romanischen Seminar der Universität Heidelberg verteidigt wurde. Es wäre ohne die vielfältige Unterstützung, die mir dabei zuteilwurde, nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Prof. Dr. Gerhard Poppen- berg, der den Glauben an das Projekt über all die Jahre nie verloren hat. Die anregenden Gespräche in seinen Sprechstunden und im Kolloquium Poppenb erg haben mich über manch eine Durststrecke getragen. Ich danke ebenfalls Frau Prof. Dr. Kirsten Kramer für ihr Gutachten und die wohl- wollende Beratung. Mein Dank gilt auch den konstruktiven Korrekturlesern, in ihrer zeit- lichen Reihenfolge Jochen Vogel, Dr. Peter Jaritz, Ina von Brunn und Anja Konopka. Für die finanzielle Unterstützung bedanke ich mich für das Abschluss- stipendium bei der Graduiertenakademie, das mir im Rahmen der Exzellen- zinitiative der Universität Heidelberg gewährt wurde. In die Zeit dieses Buchprojekts fielen die Geburten meiner beiden Söhne Jos und Hanno – vielen Dank an meine Kinder für die Lebensfreude und den Ausgleich, den sie mir Tag für Tag geben. Hätte meine Familie mir in dieser Phase nicht immer wieder Zeit eingeräumt, um mich der Dissertation zu widmen, wäre sie wohl nie beendet worden. Deswegen danke ich ganz besonders meinen Eltern und Schwiegereltern und nicht zuletzt meinem Mann, der mich unterstützt hat, wo er nur konnte. Besonders hervor heben möchte ich an dieser Stelle seine technische Unterstützung in der Bildauf- bereitung; der Film wurde bislang nur in DVD-Qualität veröffentlicht und die Screenshots wären im Druck ohne seinen Einsatz wenig ansehnlich geworden. Meiner Familie möchte ich dieses Buch widmen. https://doi.org/10.17885/heiup.310.420 Inhaltsverzeichnis Vorbemerkungen und Danksagung 5 1 Einleitung 9 2 Zur histoire: Die Geschichte von Le Temps retrouvé als Suche nach einer intermedialen Form 23 3 Zum récit: «Visualität» in Medium und Form 27 3.1 Visualität im Kinodispositiv von Raoul Ruiz 30 3.2 Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 35 3.2.1 Das Lesebild 44 3.2.2 Das photographische Bild 53 3.2.2.1 Zur transmedialen Form des rêve éveillé 67 3.2.2.2 Trennung und Fusion 74 3.2.2.3 Licht und Dunkelheit 87 3.2.2.4 Bewegung und Stillstand 94 3.2.2.5 Die visuellen Zeichen in Traum und Wirklichkeit 102 3.2.3 Die métaphore des Port de Carquethuit als sprachlich- ikonische Form 109 4 Zur narration 123 4.1 Die Abbildungsebene – die Kamera als Erzähler 126 4.1.1 Modus und Stimme in Ruiz’ Le Temps retrouvé 126 4.1.1.1 Die homodiegetisch narrative Kamera mit interner Fokalisierung 126 4.1.1.2 Die heterodiegetische narrative Kamera mit interner Fokalisierung 135 4.1.1.3 Die heterodiegetische narrative Kamera mit Nullfokalisierung 138 4.1.2 Die Polymodalität als präfilmische Erzählform 141 4.2 Die Darstellungsebene – Theater im Film 144 4.2.1 Die (Selbst-)Inszenierung der Schauspieler – Figurenrede 146 4.2.2 Nonverbale Informationsvergabe 154 4.2.2.1 Besetzung /  Verkörperung 154 4.2.2.2 Maske und Kostüm 156 4.2.2.3 Mimik und Gestik 160 4.2.3 Zur Theatralität der Recherche 161 4.2.4 Das Raumkonzept der Darstellungsebene 172 https://doi.org/10.17885/heiup.310.420 8 Inhaltsverzeichnis 5 Zur Spatialisierung des discours 179 5.1 Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 187 5.1.1 Die Einstellung – die Zeitlichkeit in champ und hors-champ 188 5.1.2 Die Szene – das Aushebeln «zeitdeckender Erzählung» im Spiegel der Zeit 198 5.1.3 Die Sequenz – die Rahmenhandlung im Zeitraum 208 5.1.4 Die mentale Montage von Bild und Ton 211 5.2 Die narrative Montage 222 5.2.1 Die métaphore als zeitbildliches Montageprinzip 224 5.2.2 Kontiguität der Zeiträume – «une distance qui relie» 231 5.2.3 Superposition der Zeiträume – die Laterna Magica als Montage - prinzip 237 5.2.4 Das Montageprinzip der Substitution 248 5.3 Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwarts- spitzen 262 6 Zusammenfassung der Ergebnisse 289 7 Bibliographie und Filmographie 297 Bibliographie 297 Filmographie 321 Mit Bild zitierte Filme 321 Hinweise auf weitere Filme 321 1 Einleitung « Tous les problèmes que pose Proust sont, à mon avis, cinématographiques » (Raoul Ruiz) Ansätze, literarische Erzählung in filmischer Erzählung wiederzugeben, sind fast so alt wie das Medium Film selbst. Kurz nachdem der Film sich als Medium des Geschichtenerzählens entdeckte, griff er zu literarischen Vorlagen – «As soon as the movies learned to tell stories, they began to film the classics».1 Meixner setzt die «Literarisierung des Films»2 unmittelbar nach der ersten naturalistisch-dokumentarischen Phase mit den Brüdern Lumière an. Bei dieser Literarisierung ging es neben der reinen Adaptation litera­ rischer Stoffe, wie sie sich schon bei Méliès zeigt, auch um die Übernahme von bekannten Mustern literarischen Erzählens, wie der Verklammerung von Rahmen- und Binnenhandlung, dem räsonierenden Erzähler, dem Multiperspektivismus, der Leitmotivik, dem inneren Monolog in Gestalt von Off-Stimmen und schließlich der automedialen Selbstreflexivität und Selbstreferentialität. «Was immer gedruckt im Roman erzählt werden kann, kann im Film annähernd verbildlicht oder erzählt werden», stellte Monaco fest.3 So avancierte der Film zum «Bruder des Romans».4 1 Bauschinger 1984: S. 20. 2 Meixner 1977: S. 35  f. Die ersten narrativen Strukturen finden sich bereits 1895 in Lumières Film (cf. Gaudreault / J ost 1990: S. 24). Méliès nutzte für den Film Le voyage à la lune 1902 zwar vornehmlich Theatertechniken, ist in seiner Handlungskonstruktion doch ebenfalls episch-narrativ (cf. Fendler 2004: S. 218). 3 Monaco 2002: S. 45. 4 Meixner 1977: S. 35 f. Boyum bezeichnet den Film gar als «Variety of Literature» (cf. Boyum 2005: S. 30). https://doi.org/10.17885/heiup.310.420 10 Einleitung Einem Meilenstein der französischen Literaturgeschichte näherte sich der «Bruder des Romans» jedoch sehr verhalten an: Prousts À la Recherche du Temps perdu.5 Obwohl das Werk bereits in den 40er-Jahren von Bourgeois als «un appel désespéré de la littérature au cinéma»6 bezeichnet wurde und sich der fran­ zösische Produzent Raoul Lévy daraufhin in den 50er-Jahren die Filmrechte gesichert hatte,7 folgten circa 30 Jahre cineastischer Ratlosigkeit, während Größen wie Réné Clément / E nnio Flaiano, Alain Resnais, Louis Malle, Ari­ ane Mnouchkine, Peter Brook, François Truffaut, Luchino Visconti /  Suso Cecchi D’Amico und Joseph Losey / H arold Pinter aus unterschiedlichen Gründen scheiterten8 bzw. von vornherein abwinkten. Exemplarisch für die weit verbreitete Repugnanz namhafter Cineasten gegenüber einer Proust­ verfilmung soll hier Truffaut zitiert werden, der seine Auftragsablehnung in Fahrenheit 451 begründet: […] aucun metteur en scène n’accepterait de presser la madeleine comme un citron et  […] à mon avis, seul un charcutier du cinéma aurait le culot de tripatouiller Proust.9 Der erste Proustfilm lief erst 1984 über die Leinwände; es war Schlöndorffs Annäherung an den isoliert betrachteten Band Un amour de Swann, der bei den Kritikern auf ein geteiltes Echo stieß,10 jedoch das Eis für weitere Ver­ filmungen brechen konnte: 1999 widmete sich der gebürtige Chilene Raoul 5 Die hier verwendete Ausgabe: Proust, Marcel (1954): À la Recherche du temps perdu. Hrsg.: Clarac, Pierre / F erré, André, 3 Bände, Paris: Gallimard, Pléiade, wird im Folgen­ den abgekürzt als RTP. 6 Bourgeois 1946: S. 18–37. Bereits 1935 veröffentlichte Paul Goodman ähnliche Überle­ gungen in dem Aufsatz «The Proustian camera eye», in dem er auf Doppelbelichtungen, Zeitraffer- und Zeitlupeneffekte und die proustschen Leitmotive hinwies (cf. Goodman 1972: S. 311–314). 7 1962 wurden die Filmrechte von Nicole Stéphane erworben, die u.  a. die Arbeiten Vicontis und Pinters begleitete (cf. Schmid 2005: S. 213 f.). Zur Chronik der Proustverfilmungen cf. auch: Kravanja 2003. 8 Viscontis Versuche fanden im Juli 1972 nach dessen Schlaganfall ein jähes Ende, hin­ terließen jedoch ein erstes, veröffentlichtes Skript, das eine Idee des potentiellen Films vermittelt und auch Ruiz vorlag. Losey und Pinter lieferten eine Vorlage für einen hoch­ interessanten Experimentalfilm, der jedoch an dem geplanten Budget von 22 Millionen Dollar scheiterte. Die vorgeschlagene Fernsehfassung in mehreren Teilen schlug Losey aus. Das Projekt wurde nach fünf Jahren der Vorbereitung aufgegeben, das Skript jedoch 1987 veröffentlicht. 9 Truffaut 2000: S. 174. 10 Cf. Beugnet / S chmid 2006: S. 142 f. Einleitung 11 Ruiz dem letzten Band Le Temps retrouvé, dem die vorliegende Untersuchung gewidmet ist. Ein Jahr später adaptierte die Belgierin Chantal Akerman in betonter Distanz La Prisionnière in La Captive. Seither hat die «filmische» Schreibweise Prousts, die Der Spiegel in der Rezension der ruizschen Verfilmung so selbstverständlich als «Gemein­ platz»11 bezeichnet, vermehrt das Interesse der Forschung geweckt. Diese wurde zunächst im Hinblick auf filmähnliche Passagen visueller Beschrei­ bungen konstatiert: So verglich bereits André Gide in einem Gespräch mit Walter Benjamin die progressive Veränderung der literarischen Perso­ nen mit dem cineastischen Stilmittel der Überblendung (Gide spricht von «surimpression» und «fondu»12). Mieke Bal betont den isolierenden und fragmentierenden Zoomeffekt.13 Die filmbildlichen Analogien gehen jedoch über die deskriptiven Pas­ sagen hinaus; sie wurden auch auf den «durchaus modernen filmischen Charakter […] von Prousts Zeitbegriff» bezogen, der «sich nicht nur in der Überwindung der impressionistischen Vorstellung vom Zeitlauf, sondern auch in der vollkommenen Relativierung der Kategorien der Zeit»14 äußere. Albersmeier resümiert: Proust, der in Anlehnung an die Philosophie Bergsons die ästhetische Dimension der «durée» in den Roman einführt, bot dem Film gerade auf der Ebene der Bewältigung des Zeitproblems eine Fülle von Anre­ gungen; die Gegenüberstellung von chronologischer («temps») und «innerer», psychologischer Zeit («durée»), die Aufhebung der strik­ ten Chronologie und die Verquickung der real nachvollziehbaren Leit­ stufen in der neuen zeitlichen Dimension der Erinnerung, der Über­ gang von Realität zu Traum (und umgekehrt), die Rückblende, der innere Monolog, der verlangsamte und akzelerierte Erzählrhythmus, die besondere Funktion von Erinnerungen wachrufenden Details – all diese literarischen Techniken wurden in der Tradition gerade eines Proust vom andersartigen Medium des Films experimentiert.15 Christa Blüminger weist für das «Gedächtnis-Dispositiv» Prousts auf das Bild «als Auslöser assoziativer Mechanismen» hin, «ein Anblick als die Spur eines Erinnerungsbildes, dem immer schon ein anderes vorausgegangen ist 11 Urs 2001: S. 172–175. 12 Benjamin 2000: S. 35. 13 Cf. Bal 1997: S. 201 ff. 14 Cf.. Hauser 1964: S. 387. 15 Albersmeier 1985: S. 339. 12 Einleitung und das die Differenz, die Entfernung zu diesem andern, in sich trägt» – und vergleicht dies mit dem «Laufbild» des Films.16 Roloff ergänzt die Ästhetik der visuellen Beschreibung, der «Beweglichkeit des fotografischen Appa­ rats, seine Möglichkeiten, verschiedene Blickwinkel und Einstellungen zu erproben, die Option, ein Sujet ferner oder näher zu rücken» und vergleicht den Erzähler mit einem Regisseur.17 Zu Proust findet sich eine ungeheure Fülle an Sekundärliteratur – der Société des amis de Marcel Proust zufolge waren es 1992 bereits über 2000 Monographien und 17000 Referenzen.18 Der Aspekt der Filmbildlichkeit, der doch auf so vielen Ebenen zu weiteren Untersuchungen anregt, wurde dage­ gen lange Zeit stiefmütterlich behandelt. In Roloffs Textsammlung Proust und die Medien19, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, intermediale For­ schungsansätze zu sammeln, heißt es: Überraschenderweise gibt es zur filmischen bzw. präfilmischen Ima­ gination Prousts bisher nur wenige Arbeiten – im Unterschied zu den inzwischen zahlreichen Studien zur Photographie bei Proust. Man findet einzelne Hinweise und Artikel und nicht zuletzt – als Produkte der filmästhetischen Proust-Lektüre  – die Proust-Filme selbst, die bisher aber noch nicht zu größeren Untersuchungen geführt haben.20 Seither sind nur wenige Publikationen hinzugekommen: Zu nennen ist hier­ bei insbesondere Kravanjas Monographie Proust à l’écran (2003) als erste aus­ führliche Gesamtuntersuchung. Sie umfasst die Drehbücher und Verfilmun­ gen von Visconti, Pinter, Schlöndorff, Ruiz und Akerman, bewegt sich also innerhalb zweier Medien, die nicht einheitlich untersucht werden können.21 Wie Kravanja selbst betont, fehlen in den Drehbüchern teilweise die tech­ nischen Anweisungen, sodass die filmtypischen Aspekte der Inszenierung schwerlich mit in die Untersuchung einbeziehbar sind. Das ist aber auch nicht das Ziel Kravanjas – sein Fokus liegt auf der Frage nach einer grund­ sätzlichen Verfilmbarkeit Prousts.22 Im englischsprachigen Raum erschien 16 Blümlinger 1999: S. 116. 17 «So spielt der Erzähler – gleich einem Fotografen, oder man könnte auch sagen, gleich einem Regisseur – mit verschiedenen Einstellungen auf den Körper seines Objekts der Begierde […]» (Roloff 2005: S. 7). 18 Compagnon 1992: S. 932. 19 Felten / R oloff 2005. 20 Cf. Roloff 2005: S. 16. 21 Cf. Brunow 2000: S. 23–39. 22 Kravanja 2003. Einleitung 13 2006 mit Proust at the movies der bisher umfassendste Versuch vielschich­ tiger Analysen. Dabei findet ein regelrechter Rundumschlag statt: Es wer­ den Drehbücher, die nicht zur Verfilmung geführt haben, vorliegende Ver­ filmungen der Recherche, sowie Filme, die sich im Umfeld des literarischen Schaffens von Proust bewegen, in ihrer chronologischen Reihenfolge inter­ disziplinär untersucht: Luchino Viscontis und Joseph Loseys Versuche der 1970er-Jahre, Volker Schlöndorffs Un amour de Swann (1984), Raoul Ruiz’ Le Temps retrouvé (1999), Chantal Akermans La Prisonnière in La Captive (2000) sowie Fabio Carpis Quartetto Basileus (1982) und Le Intermittenze del cuore (2003).23 Abschließend wird der Einfluss der Recherche auf das filmische Schaffen einiger Regisseure wie Abel Gance und Jean-Luc Godard behandelt. Die sehr kenntnisreichen Besprechungen der Filme bieten eine ausgezeich­ nete Basis als Nachschlagewerk, müssen sich in der Analyse der Einzelwerke aufgrund des umfangreichen Korpus jedoch selbstverständlich beschränken. Daneben erschienen einige Aufsätze zu einzelnen Verfilmungen,24 die als literaturwissenschaftliche Arbeiten noch immer mit der Valorisierung des konkreten Bildes hadern, das im Film das selbsterdachte des Romans ersetzt und die auf die ein oder andere Art nach dem theoretisch seit dem 21. Jahr­ hundert obsoleten Kriterium der Werktreue suchen. Trotz all der bildaffi­ nen turns der 90er-Jahre25 – in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sprach man für den «Buchroman in Kinovorführung» noch von «Barba­ rei»26 – führt Ifri in seinem vielzitierten Aufsatz «Le Temps retrouvé de Raoul Ruiz ou le temps perdu au cinéma» auch im Jahr 2003 das unvermeidbare Scheitern jeder Proustverfilmung noch darauf zurück, dass die wahre Sub- stanz des Romans nicht in einem Medium darstellbar ist, das nur über Bilder verfügt.27 23 Bei Carpis Le Intermittenze del cuore und Quartetto Basileus handelt es sich allerdings nicht um Verfilmungen des literarischen Prätextes. Beugnet und Schmid bezeichnen die Beziehung zu Prousts Recherche als «loosely inspired by Proust» (Beugnet / S chmid 2006: S. 206). Carter erwähnt außerdem noch die freie Version von Rappaports Imposters (1979), in dem der Stoff des Albertinenromans mit Hammets Detektivroman Der Malteser Falke verwoben wird (Carter 1990: S. 178). 24 Cf. Lériche 2005: S. 167–192; Scheinfeigel 2003: S. 221–232. 25 Cf. Fellmanns «imagic turn» (Fellmann 1991), Mitchells «pictoral turn» (Mitchell 1992: S. 89–94; Mitchel 1994), Boehms «iconic turn» bzw. ikonische Wende (Boehm 1994: S. 29 und Boehm 1995: S. 23–40) sowie Sachs-Hombachs «visualistic turn» (Sachs-Hombach 1993). 26 Kaes 1978: S. 85. Weniger kategorisch, aber auch auf die prinzipielle Unmöglichkeit des Wieder-Erzäh­ lens von Literatur im Medium Film abzielend, formulierten dies in den 80er-Jahren noch Estermann 1984: S. 35–39, Busch 1984: S. 31–33 und Haacke 1984: S. 42 ff. 27 Ifri 2000: S. 167. 14 Einleitung Auch wenn sich «le septième art» mittlerweile als Kunstform etabliert hat – nicht zuletzt durch die Annäherung an die Literatur, wie sie im Kon­ zept der «caméra stylo» zu Tage tritt28 – ist der Tenor der relativen Verar­ mung vom Buch zum Film selbst noch in Poppes Arbeit präsent, die in ihrer intermedialen Untersuchung als erste die Bildlichkeit bzw. Visualität (unter anderem in Ruiz’ Proustverfilmung) ins Zentrum der Analyse rückt. Trotz des expliziten Hinweises auf Wolfs wertneutrale «Einbeziehung wenigstens zweier konventionell als distinkt angesehener Ausdrucks- und Kommuni­ kationsmedien»29 und der wiederholt geforderten Anerkennung der medial differenten Ausdrucksformen30 häufen sich Schlussfolgerungen, die auf die relative Armut des Bildmediums abzielen. So formuliert Poppe: Gerade die für Proust charakteristische Kombination aus visueller Beschreibung und imaginativer Bildlichkeit in den Vergleichen kann nur schwer in den Film übertragen werden und findet sich daher auch bei Ruiz nicht. In diesem Bereich sind die Möglichkeiten der literarischen Beschreibung eindeutig vielfältiger als die des Films.31 «Vielfältiger» heißt es bei Poppe, und nicht mehr «tiefwirkender» wie zu Goethes Zeiten,32 doch bleibt die wertende Orientierung dem Wort als Maß aller Dinge verhaftet. Dies führt bis zur Spurensuche im Film nach konkre­ ten literarischen Tropen des Textes und muss zwangsläufig enttäuschen. Wie Poppe hervorhebt, fungiert in Le Temps retrouvé «Visualität als lite­ rarisches Prinzip».33 Die unilaterale Spurensuche vom Text zur Adaptation fokussiert Passagen markiert visueller Beschreibung, vernachlässigt dabei jedoch solche, in denen Bildlichkeit metapoetisch reflektiert und in direk­ ten Bezug zur Kreation im eigenen Medium gesetzt wird. 28 Astruc 1992: S. 327. 29 Wolf 2004: S. 296; cf. Poppe 2007: S. 19, 22. 30 Cf. Poppe 2005: S. 317. 31 Poppe 2005: S. 164. An früherer Stelle weist Poppe bereits auf die «vielfältiger[e] Gestaltung des Erinne­ rungsmechanismus im Text» hin (S. 160). 32 «Das Auge mag wohl der klarste Sinn genannt werden, durch den die leichte Überlie­ ferung möglich ist. Aber der innere Sinn ist noch klarer, und zu ihm gelangt die höchste und schnellste Überlieferung durchs Wort; denn dieses ist eigentlich fruchtbringend, wenn das, was wir durchs Auge auffassen, an und für sich fremd und keineswegs so tiefwirkend vor uns steht» (Goethe 1998: S. 637 ff.). 33 Poppe 2007: S. 130 ff. Auch Schmitz­Emans konstatiert, dass die Recherche «in hohem Maße auf Visualität hin orientiert» sei (Schmitz-Emans 2005: S. 252). Einleitung 15 In Bezug auf Gemälde und Photographien hat die Sekundärliteratur die­ sen metapoetischen Einlassungen schon ausreichend Rechnung getragen, während die im Vergleich ohnehin spärlichen Untersuchungen zur (prä-)fil­ mischen Imagination bisher nicht auf ihre metapoetische Relevanz befragt wurden. Genuin filmische Strukturen sind als mediale Spiegel der eigenen Form in den metapoetischen Passagen der Recherche tatsächlich praktisch inexistent bzw. dienen allein zur Etablierung eines Negativkontrastes zur eigenen angestrebten Form. Mit Ruiz tritt nun jedoch ein cineastischer Proust exeget auf den Plan, der offensiv behauptet: Tous les problèmes que pose Proust sont, à mon avis, cinématogra­ phiques.34 Mit den kinematographischen Problemen hat sich Raoul Ruiz insbesondere in seinen zwei «Poetiken des Kinos»35 auseinandergesetzt, in denen er die Sprechmöglichkeiten und Wirkungsweisen seines Kinoprogramms essen- tiell auf die Wechselbeziehung zwischen der in den Filmbildern angelegten Ästhetik und der dispositiven Struktur des Rezipienten zurückführt. Seine Lesart des proustschen Romans spürt die Anlage zentraler cineastischer Überlegungen im literarischen Prätext auf und artikuliert diese im eigenen Medium als spezifisch filmische. Bouquet bringt es auf den Punkt: Plus profondément, il s’agit d’illustrer une pensée esthétique. Car, de même Proust déploie dans Le Temps retrouvé sa théorie de l’art et de la littérature, de même, Ruiz use de son adaptation pour illustrer sa propre conception de l’art et du cinéma.36 Wie diese Untersuchung aufzeigen will, zeichnet sich der Komplex von Visualität und Erzählung in den unterschiedlichen Medien dabei durch eine bisher vernachlässigte, jedoch bis in die tiefsten Strukturen des Prätextes nachvollziehbare Homologie aus. Ruiz’ Perspektive wird in diesem Sinne als metapoetischer Kommentar37 zu Prousts Roman lesbar, der den Fokus 34 Burdeau 1999: S. 46. 35 Ruiz 1995; Ruiz 2006. 36 Bouquet 1999: S. 44. 37 Nach Wagner hat diese Art filmischer Transposition ihren Wert als «cinematic foot­ notes on the original» (Wagner 1975: S. 222). Albrecht-Crane und Cutchins kritisieren diese (zweite) Kategorie Wagners als Herab­ würdigung des filmischen Mediums. Tatsächlich liegt in solchen kinematographischen 16 Einleitung vom gemalten Bild auf den des bewegten Bildes führt und damit medienei­ gene Strukturen der Filmbildlichkeit in ein Spannungsgefüge zur literarisch beschriebenen Bildlichkeit setzt. So widmet sich diese Untersuchung einem «Produkt der filmästhe­ tischen Proust-Lektüre»38 und folgt somit dem von Roloff formulierten Forschungsdesiderat als erste Monographie, die das bildliche Spannungs­ gefüge zwischen der Filmbildlichkeit des im August 2012 verstorbenen Cineasten Raoul Ruiz und der literarischen Bildlichkeit der proustschen Erzählung fokussiert. Die von Ruiz aufgestellte These der kinemato- graphischen «problèmes» im proustschen Text leitet dabei die kompara­ tistischen Analysen der auf Grund ihrer metapoetischen Relevanz ausge­ wählten Textpassus. Poppe entwickelt in ihrem medienkomparatistischen Entwurf die «Visualität» in Literatur und Film als intermediale Vergleichsgröße. Die­ ser Ansatz soll in der vorliegenden Arbeit auf der metapoetischen Ebene angewandt werden. Visualität in Literatur und Film bahnt in dieser Hinsicht den Weg für eine intermediale Hermeneutik39, in der eine spezifische Dar­ stellung von Bildlichkeit in beiden Medien strukturierend und bedeutungs­ tragend wirkt. Dies ist nicht Poppes Ansatz40, doch läuft der Vergleich der beschreibenden Passagen auf dieses Fazit hinaus: Fußnoten zu dem literarischen Prätext ein ungeheures Potential für eine intermedial her­ meneutisch argumentierende Untersuchung (cf. Albrecht-Crane / C utchins 2011: S. 16). 38 Roloff 2005: S. 16. 39 Hermeneutische Interpretationen filmischer Erzählung kommen, wie Schwab dar­ stellt, «ob fundiert oder weniger fundiert, unter der Bezeichnung ‹qualitative Verfah­ ren› seit langem bei der Untersuchung von Filmen zur Anwendung» (Schwab 2006: S. 48). So heißt es auch bei Mikos: «Denn im Zentrum der Analyse steht der Versuch, die Strukturiertheit und die Funktion des bewegten Bildes zu verstehen. Daher ist Film- und Fernsehanalyse auch als hermeneutisches Unterfangen zu begreifen» (Mikos 2003: S. 76). Eine detaillierte Übersicht für dieses Vorgehen bietet Hickethier: Der Begriff der «intermedialen» Hermeneutik bezeichnet hier den Fokus auf die intermediale Forme­ bene, die sich hier aus dem Komplex von einer bestimmten Konzeption von visuellen Beschreibungen bzw. Praktiken und der Erzählung ableitet und darüber auf ein Ver­ ständnis der Gesamtanlage der Geschichte in Form und Gehalt abzielt (cf. Hickethier 2001: S. 32–36). 40 Wie in ihrer Untersuchung zu Schlöndorffs Verfilmung von Un amour de Swann (Poppe 2005) operiert Poppe hier methodisch mit Michaela Mundts Analyse, die Trans­ formation als Ergebnis von Rezeption, Interpretation und Produktion durch den Regis­ seur versteht (Mundt 1994). Diese intermediale Methode hat in ihrer Spurensuche nach der in beschreibenden Passagen der Recherche angelegten Visualität in der filmischen Übersetzung (Poppe unterscheidet reine, punktuelle und dominante Beschreibung) einen deskriptiven Fokus. Einleitung 17 In Literatur und Film dient sie [die Visualität] neben der anschau­ lichen Gestaltung der fiktionalen Welt vor allem der Bedeutungs­ konstitution und Sinnstrukturierung. Durch die Gemeinsamkeit die­ ser zentralen Funktion kann die Visualität als Brücke zwischen den Medien Literatur und Film und somit als intermediales Phänomen verstanden werden.41 Dieses Fazit geht über den Nachvollzug der bloßen Bebilderung literarisch beschreibender Passagen durch den Film hinaus, indem sie die Relation von Visualität und Narration in den distinkten Medien als intermedial-herme­ neutische Fragestellung begreift, die der Bedeutung visueller Strukturen für die Geschichte nachgeht. Im speziellen Fall von Le Temps retrouvé rührt diese Frage an das Fundament der inneren Entwicklung des Erzähler-Ich zum Literaten, die der letzte Band in konzentrierter Form zur Reflexion dar­ bietet, der gesamte literarische Text jedoch bereits anlegt. Die mit dieser Untersuchung vorgelegte Doppelperspektivierung auf Prätext und Adaptation fasst die intermediale Fragestellung als herme­ neutische auf, indem sie über den Umweg einer konkreten Verfilmung auf die (prä-)filmische Imagination und deren latente «Sinnpotentiale»42 für Gestalt und Gehalt der Recherche abzielt. Unterschiedliche Bildkonzepte und -praktiken der beiden Medien werden somit auf die jeweilige Funktion und Bedeutung sowohl hinsichtlich der Erzählung wie auch hinsichtlich der eigenen Medialität befragbar. Damit schreibt diese Studie sich in die komparatistische Tradition einer «wechselseitigen Erhellung der Künste»43 ein. Wie Walzel in seinem Auf­ satz zur Wortkunst und der Bildenden Kunst betont, gelingt eine produktive Konfrontation nur in der Auseinandersetzung mit den eigenen ästhetischen Gesetzen44, für die in diesem Falle zunächst die theoretischen Prämissen zu formulieren sind. 41 Poppe 2007: S. 314. 42 «Da bei vielen Filmen und Fernsehsendungen es nicht darauf ankommt, ihre Geschichte verständlich zu machen, sollen vielmehr hinter diesem Schein des allgemein Verständlichen die Strukturen der Gestaltung hervorgehoben und die zusätzlich noch vorhandenen Bedeutungsebenen und Sinnpotentiale aufgedeckt werden» (Hickethier 2001: S. 32). 43 Walzel 1917. Zur Bedeutung des Aufsatzes für die Forschungsgeschichte der Komparatistik cf. Zima 2011: S. 1. 44 Dabei betont er das Wort als Träger des Intellektuellen in Kontrast zur Bildenden Kunst, die unmittelbarer «in einem rein ästhetischen Gebiet» wirkt (Walzel 1957: S. 265). 18 Einleitung Proust reflektiert im literarischen Medium die eigene Formgebung im Hinblick auf zahlreiche Medien und impliziert daher bereits eine interme­ diale Ebene.45 Die vielbeschworene Synthese der Künste46 tritt hier jedoch nicht als Medienkombination oder -fusion auf, sondern stellt «intermediale Bezüge» her, die oftmals der Standortbestimmung des eigenen Mediums dienen. Der Prätext legt insbesondere in seinem letzten Band Le Temps ret­ rouvé bereits eine ästhetische Reflexion außerliterarischer Medien vor47. Das Adaptionsmedium Film wird oftmals als integrales Medium ver­ standen, das sich durch ein synchrones Auftreten verschiedener Kunstfor­ men auszeichnet. So verweist Gwódz auf die traditionelle Integration von Theater, Literatur, Musik und Plastik, Tanz und Photographie48, Rajewsky spricht von einer «plurimediale(n) Grundstruktur»49. Der Film fühlt sich heute nur noch selten der Formel des «photogra­ phischen Films» verpflichtet, die zu Anfang der 60er-Jahre von Siegfried Kracauer lanciert und philosophisch von André Bazin in der Ontologie des photographischen Bildes begründet wurde.50 Werden jedoch Photographien inszeniert und wird im filmischen Rahmen mit Stillstand und Bewegung, mit Licht und Schatten, Flächigkeit und Tiefenillusion experimentiert, dann wird der Bezug zum filmhistorischen Ursprung der Transformation vom Foto zum Filmbild augenfällig, die Wolf als «primäre oder inhärente Intermedialität»51 bezeichnet. Wird dann noch mit den schauspielerischen Konventionen des Films gespielt – und all dies ist bei Ruiz der Fall – wird die «Absorption»,52 die Ochsner für jene Medien feststellt, welche in einem anderen Medium erscheinen, untergraben: Das Schauspiel und das photo­ graphische Bild treten aus dem Hintergrund der plurimedialen Grundstruk­ tur Film heraus, um sich als Konstituenten des Films selbst zu inszenieren. Auch in der filmischen Adaptation geht es folglich primär um die Her­ stellung intermedialer Bezüge, die bereits mit den ersten Bildern der Erzäh­ lung dezidiert den Verweis auf den literarischen Prätext in Bezug zu den 45 Cf. Roloff 2005: S. 11–20. 46 Cf. u. a. Brée / G uiton 1957: S. 76; Compagnon 1992: S. 955; Link-Heer verortet diese Synthese im angestrebten Zeitalter der Kunst (Link-Heer 1988: S. 244, 248). 47 Cf. in diesem Zusammenhang Müllers Intermedialitätsbegriff (Müller 1996). 48 Gwózdz 2000: S. 71; Cf. auch Spielmann 1998: S. 31; ähnlich Spielmann 2004: S. 79. 49 Rajewsky 2002: S. 13; Rajewsky 2012: S. 38. 50 Bazin 2002: S. 9–17. 51 Wolf 2004: S. 296. 52 «Ein Gemälde in einem Film oder ein Gebäude auf einem Photo ist kein Gemälde oder Gebäude mehr, sondern integraler Teil des sie repräsentierenden Mediums – sie werden absorbiert. Insofern wäre bspw. ein Photo eines Gemäldes keine intermediale Beziehung, sondern eben ein Photo, das auf ein Gemälde verweist» (Ochsner 2001: S. 4). Einleitung 19 medieneigenen Sprechformen setzen. Mit Wolf soll hier von «figurative[r] oder genuine[r] Intermedialität» gesprochen werden als Erscheinung, bei der Strukturen eines Mediums in ein anderes übernommen oder zitiert und dort ausgeprägt werden.53 In der Intermedialitätsforschung ist ein weiter Medienbegriff üblich.54 Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand liegt es nahe, «Medium» nicht nur als apparativen / t echnischen Behälter, sondern als «Kommunika­ tionsdispositiv»55 zu fassen. Wenn mit Poppe «Visualität» zur «intermedialen Schnittstelle»56 erklärt wird, sollte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass diese in den unterschiedlichen Kommunikationsdispositiven in verschiedener Weise funktioniert. Aus dem Status der Schriftlichkeit lässt sich die textgebun­ dene Visualität mit dem Modell von Grube / K ogge / K rämer57 vornehmlich sekundär aus der Dimension der «Referenz» ableiten, hat also den Charak­ ter mentaler Vorstellungsbilder, die von Wahrnehmungsbildern zunächst heuristisch abzugrenzen sind.58 Die medienspezifische Bildlichkeit wird hierbei nicht primär semiotisch betrachtet, sondern, gestützt auf die metapoetischen Kommentare von Proust sowie die Poetiken und Praktiken von Ruiz, in ihre Dispositivstruktur einge­ bettet. Passagen visueller Beschreibungen und Metaphorisierungen öffnen so 53 Cf. Wolf 2004: S. 296. 54 Cf. Rajwesky 2002: S. 7. 55 Wolf spricht von einem «konventionell als distinkt angesehenem[s] Kommunikati­ onsdispositiv» (Wolf 2002: S. 165; cf. auch Eicher 1994: S. 17 und Fendler 2004: S. 214). 56 Poppe 2007: S. 30, 118, 318. 57 Auf das triadische Strukturmodell, das einen «Präsenzaspekt», einen «Referenzas­ pekt» und einen «operationalen Aspekt» von Schrift unterscheidet, soll im ersten Kapi­ tel näher eingegangen werden (cf. Grube / K ogge / K rämer 2005). 58 Dass diese heuristische Unterscheidung essentiell ist, zeigt sich deutlich in der Dis­ kussion um die grundsätzliche Verfilmbarkeit des literarischen Textes, in der sich die konträren Sichtweisen beidseits auf die Bildlichkeit berufen. So bezieht etwa Bourgeois den «appel désesperé» der Recherche an den Film dezidiert auf die bildhafte Erzählweise. Schlöndorffs Argumentation für den Film als privilegiertes Medium zur Transposition des Romans stützt sich mit einem Zitat aus Du Côté de chez Swann direkt auf den Primär­ text: «Mais tous les sentiments que nous font éprouver la joie ou l’infortune d’un person­ nage réel ne se produisent en nous que par l’intermédiaire d’une image de cette joie ou de cette infortune» (RTP I: S. 85, Hervorhebung der Verf.). Auf der Gegenseite jedoch zieht beispielsweise Ifri die «images» des Films als Ausschluss­ kriterium heran: «L’art cinématographique a certes évolué considérablement depuis l’époque où Proust écrivait, mais les éléments fondamentaux qui le constituent et qui s’opposent à ceux caractéristiques de la bonne littérature, sont demeurés identiques. L’in­ troduction du son, de la couleur, du cinémascope et de la technologie informatique n’ont rien changé au fait que le cinéma ne peut montrer que des images […]» (Ifri 2000: S. 167). 20 Einleitung über die Relationierung zu den unterschiedlichen medialen Dispositiven den Blick auf divergierende Strukturen und deren komplexe intermediale Bedin­ gungsgefüge. Dabei äußert sich in je unterschiedlicher Weise eine wechsel­ seitige Durchdringung von Vorstellungs- und Wahrnehmungsbildern, die Subjekt und Objekt der Perzeption in ein dynamisches Austauschverhältnis versetzt und die sowohl im Kinodispositiv als auch im Akt des Lesens zen­ trale Auswirkungen auf die Raumaufteilung und die Wahrnehmungssitua­ tion des Subjekts hat. Im Spiel mit Zerstückelung und Fusion des wahrneh­ menden Subjekts wie des wahrgenommenen Objekts findet die «Suche nach der verlorenen Zeit» einen Ausdruck für die direkte Darstellung der Zeit in ihrer Wahrnehmung  – ein Bestreben, das Deleuze in Cinéma 2: L’Image- Temps59 zum Charakteristikum des «cinéma-moderne» erklärt. Deleuzes Entwurf des Kinos als Denkform, das philosophisch mit der Immanenzphilosophie Bergsons operiert, setzt den zentralen kinoge­ schichtlichen Bruch mit dem italienischen Neorealismus bzw. der Nouvelle Vague an. Während Kino seine aktionsbasierte Erzählung zuvor essentiell in «image-mouvements»60 äußerte, die über Aktion und Reaktion die Zeit indirekt aus der Handlung ableitete, erklärt das zeit-bildliche Kino die Zeit zum direkten Gegenstand der Narration, die in der Schärfentiefe des Bildes sowie im irrationalen Schnitt der Erzählung Gestalt annimmt. Homolog zu einer solchen Denkform visueller Zeitdarstellung, die sich bei Deleuze im Konzept des «Kristallbilds»61 verdichtet, entwickelt die proustsche ein Bildprogramm, das Aktuellem und Virtuellem den glei­ chen konstitutiven Wert zuspricht und in der Erzählung in synchroner wie diachroner Gestalt als wesentlich figurales Moment entwickelt wird. Dieses Programm konzentriert sich in der fiktiven Ekphrasis von Elstirs «Port de Carquethuit» als transmediale Formreflexion, in der das literarische Form­ bestreben sich als pikturales artikuliert. Bildlichkeit und Erzählung sind demnach programmatisch aneinander gekoppelt. Dem komplexen «tertium comparationis»62 von Bildlichkeit und Erzäh­ lung soll in dieser Untersuchung mittels der von Genette entwickelten narratologischen Kategorien auf den Ebenen der histoire als der erzählten Geschichte sowie des discours als erzählender Darstellung nachgegangen 59 Hier zitiert in der deutschen Ausgabe (Deleuze 1991b). 60 Deleuze, Gilles: L’image-mouvement (1983); auf Deutsch erschienen bei Suhrkamp (Deleuze 1991a). 61 Cf. Deleuze 1991b: S. 169 ff. 62 Für die Analyse im Genre der Literaturverfilmung ist hiermit der Wahrnehmungsho­ rizont im Sinne Faulstichs in der expliziten Bestimmung eines «tertium comparationis» gegeben (cf. Faulstich 2013: S. 63). Einleitung 21 werden. Obgleich Genettes Erzählmodell nicht ursprünglich als transme­ diales konzipiert wurde, zeigten Stam / B urgoyne / F litterman-Lewis (1992) die Übertragbarkeit seines triadischen Modells auf den Film: Der récit ist im Film der kinematographische Diskurs, der die Diegese vermittelt, zum Bei­ spiel eine bestimmte Einstellung. Er hat eine materielle Substanz und eine Form. Die histoire dagegen entbehrt als «fabula» des récit einer materiellen Substanz. Die filmische narration als Akt der Erzählung bezieht sich auf Techniken, Strategien und Signale, mit denen der Erzähler interveniert. In der Literatur geschieht dies über bestimmte Pronomen und verbale Zeiten; im Film über die Kameraerzählung oder über eine Charaktererzählung, die häufig von einer «voice-over»-Erzählung unterstützt wird.63 Der Aufbau der vorliegenden Arbeit orientiert sich an den hier aufge­ führten methodisch-theoretischen Vorüberlegungen, indem er von der his- toire des letzten Bandes ausgeht, die sich in metapoetischer Interdependenz zu einer dezidiert visuell erzählenden Darstellungsform entwickelt. Daraus resultiert die Gesamtanlage aus drei großen Kapiteln, die sich zunächst der medienspezifisch differenten Funktionsweise von Bildlichkeit in Film und Literatur widmet64, in der Folge das Spannungsgefüge von Visualität und Erzählung auf den Erzählakt hin untersucht65 und sich schließlich dem in Le Temps retrouvé formulierten Ziel einer Verräumlichung der Zeit in der Erzählung als intermedialem Formproblem annimmt66. Auf all diesen Ebenen, so die hier vertretene These, lässt sich über Ruiz’ cineastischen Kommentar zur Recherche die literarisch formulierte Aisthe­ sis einer modernen Subjektstruktur aufdecken, die geradezu leitmotivisch auf Deleuzes Kinophilosophie verweist; in der Recherche des zerstückel­ ten Ich, dessen Weltbild von Brüchen auf der Objekt- wie Subjektseite der Betrachtung geprägt ist und das gerade aus dem Wechselspiel von Licht und Schatten, Bewegung und Stillstand, Trennung und Fusion und einer moder­ nen Montageform der Erzählung eine Kunstform generiert, die imstande ist, die Zeit «direkt», das heißt in ihrer entchronologisierten Form, wiederzu­ geben, wird der Raum zum Denkraum der Memoria. Wie hier deutlich wird, präfiguriert der Roman in seinen zentralen metapoetischen Einlassungen Strukturen einer Kinoform, die sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablieren und ihrerseits wieder erhebliche Aus­ wirkungen auf die Formen literarischer Erzählungen zeigen wird. Damit nimmt die «Recherche» eine nicht zu unterschätzende Scharnierstellung in 63 Stam / B urgoyne / F litterman-Lewis 1992: S. 97. 64 Cf. Kapitel «3. Zum récit: ‹Visualität› in Medium und Form»: S. 27 ff. 65 Cf. Kapitel «4. Zur narration»: S. 123 ff. 66 Cf. Kapitel «5. Zur Spatialisierung des discours»: S. 179 ff. 22 Einleitung der Geschichte der «Literarisierung» bewegtbildlichen Erzählens ein. Ruiz demonstrierte als geradezu kongenialer Proustexeget in dieser Hinsicht, was ein filmischer Kommentar zu leisten vermag. Das Denkmal, das er dem proustschen Werk mit der Verfilmung der autopoetisch-theoretischen Reflexionen des letzten Bandes setzte, kann im Rahmen einer Dissertation nicht zu Ende gedacht werden. Dennoch soll die vorliegende Arbeit helfen, Ruiz’ großen Wurf und seine literatur- wie film­ geschichtliche Bedeutung, die in Gesten wie der Aufnahme in die Reihe der filmedition suhrkamp anklingt, der Öffentlichkeit in Form einer Skizze dar­ zustellen, die an verschiedenen Stellen durch weitere Forschungsarbeiten ausdifferenziert werden sollte. 2 Zur histoire: Die Geschichte von Le Temps retrouvé als Suche nach einer intermedialen Form «Die Geschichte erzählt, was die Differenz von Anfangspunkt zu Endpunkt bewirkt hat, und erklärt damit ihr Zustandekommen»,67 schreibt Stierle in der Tradition der französischen Erzählforschung. Die Geschichte von Le Temps retrouvé wird jedoch nicht über Handlung getragen; es wird vielmehr eine innere Entwicklung des Erzählers nachge­ zeichnet, der über den Großteil des Romans hinweg seine Unfähigkeit zu literarischem Schaffen bekundet, bis er sich schließlich auf der Matinée de Guermantes seiner Berufung zum Schriftsteller gewahr wird. So beginnt der Diskurs des Bildungsromans mit hübschen, doch frucht­ losen Spaziergängen im Landstrich seiner Kindheit (RTP III: S. 691 ff.), lässt dann in einer Ellipse mehrere Jahre aus, die er in einer «maison de santé» (RTP III: S. 723) verbringt, bevor er im Jahr 1916 in das vom Ersten Weltkrieg gezeichnete Paris zurückkehrt. Durch Zufall betritt er dort ein Hotel (RTP III: S. 809 ff.), in dem er Zeuge Charlus’ masochistischer Neigungen wird. Saint- Loup stirbt an der Front. Es folgt eine weitere lange Ellipse eines Kurauf­ enthaltes, von dem der Erzähler, noch immer nicht geheilt, in das Paris der Nachkriegszeit zurückkehrt. Auf dem Weg zum «hôtel de Guermantes», in dem nun die ehemalige Mme Verdurin als neue Princesse de Guermantes eine Matinée gibt, häufen sich die Erinnerungsepiphanien, infolge derer der Erzähler seine «vocation» (RTP III: S. 899) als Schriftsteller findet. Der Beschluss, das Erlebnis der «essence des choses» (RTP III: S. 876) fest­ zuhalten, geht einher mit der Reflexion der nötigen Form: 67 Stierle 1977: S. 217. Cf. auch Hickethier 2001: S. 116. https://doi.org/10.17885/heiup.310.420 24 Zur histoire […] j’étais maintenant décidé à m’attacher à elle, à la fixer, mais com­ ment? par quel moyen? (RTP III: S. 876) Zunächst führen seine Reflexionen auf die Phantasmen von Vorstellung, Traum und Erinnerung zur Überzeugung, die «Temps perdu» (RTP III: S. 877) nur «en moi-même» (ibid.) finden zu können, im eigenen Körperraum der Erinnerung. Die inneren «images» (RTP III: S. 878) sind dabei ebenso wie die materiellen68 Hieroglyphen zu dechiffrieren. In der Übersetzung des «inneren Buches» in die literarische Erzählung nähert er sich auf der Suche nach einem «moyen», das Sujet zu transportieren, immer wieder dem Bild an: Als der Erzähler nach der Häufung von Erlebnis­ sen unwillkürlicher Erinnerung sein Vorhaben, einen Roman zu schreiben, vorbringt, spricht er zunächst einmal von «peindre», nicht von «écrire»69, ein literarisches Werk bezeichnet er als «instrument optique» (RTP III: S. 911). Mit der ostentativen Analogisierung von Literatur und Bild geht ein Stil­ prinzip einher, das sich nicht allein in der Beschreibung erschöpfen lässt, sondern in das Spannungsfeld von Wahrnehmung und Vorstellung, Innen- und Außenwelten zu rücken ist. Es zielt darüber hinaus in der Form auf eine Verräumlichung des diskursiv erzählenden Mediums ab: […] la forme que j’avais pressentie autrefois dans l’église de Combray, et qui nous reste habituellement invisible, celle du Temps (RTP  III: S. 1045) Diese Form versteht die Zeit nicht als chronologische, sondern als Zeit­ Raum, in der die Figuren mit den Jahren zu Giganten heranwachsen: Du moins, si elle m’avait laissé assez longtemps pour accomplir mon œuvre, ne manquerais-je pas d’abord d’y décrire les hommes (cela dût-il les faire ressembler à des êtres monstrueux) comme occu­ pant une place si considérable, à coté de celle si restreinte qui leur est réservée dans l’espace, une place, au contraire, prolongée sans 68 «[…] matérielle parce qu’elle est entrée par nos sens, mais dont nous pouvons dégager l’esprit» (RTP III: S. 878). Wie Baldwin kürzlich gezeigt hat, ist das Materielle im Werk Prousts keinesfalls mit dem Banalen gleichzusetzen (cf. Baldwin 2005). 69 «[…] si je voulais peindre ces soirs de Rivebelle […]» (RTP III: S. 871). Cf. auch: «J’avais vécu comme un peintre montant un chemin qui surplombe un lac dont un rideau de rochers et d’arbres lui cache la vue. Par une brèche il l’aperçoit, il l’a tout entier devant lui, il prend ses pinceaux. Mais déjà vient la nuit où l’on ne peut pas peindre, et sur laquelle le jour ne se relève pas» (RTP III: S. 1035). Zur histoire 25 mesure, puisqu’ils touchent simultanément, comme des géants, plon­ gés dans les années, à des époques vécues par eux, si distantes,  – entre lesquelles tant de jours sont venus se placer – dans le Temps (RTP III: S. 1048) Der letzte Satz der Recherche endet mit der literarischen Konzipierung einer solchen Raumzeit. Obwohl es sich bei Le Temps retrouvé um den am wenigs­ ten vollendeten Band handelt,70 ist dieses Ende mit der Konzeption der Zeit als räumlicher Ausdehnung nicht etwa ein zufällig skizziertes Ende, für das die Zeit zur Überarbeitung fehlte. Es stand, wie Neefs mit Briefen Prousts belegt, schon mehrere Jahre vor der Niederschrift von Le Temps retrouvé fest: Am 1. Januar 1920 schrieb Proust an Jaques Boulanger: La dernière page de mon livre est écrite depuis plusieurs années (la dernière page de toute l’ouvrage, la dernière page du dernier volume).71 So wirft die Geschichte einen Bogen über unfruchtbare Erinnerungen und Erinnerungsversuche bis hin zum Reifen einer bestimmten «forme» künst­ lerischer Darstellung (RTP III: S. 1045). Diese Form orientiert sich für das vorstellungsbildliche Medium der Lite­ ratur an wahrnehmungsbildlichen Strukturen. Eine Verfilmung des letz­ ten Bandes muss folglich nach der Bedeutung dieser Analogisierung und der Übertragbarkeit auf die eigenen medialen Sprechformen fragen. Dabei impliziert das «Problem der Visualität» auch das «Problem der Narration», die im Medium Film über das erzählende Bild läuft. Film und Roman sind beides diskursive Medien, die von einem Anfang zu einem Ende führen. Die gesuchte Form einer Zeit als Raum, die der Schluss­ satz mit «dans le Temps» aufwirft, verlangt nach einer Spatialisierung der Erzählung. Inwiefern der literarische Prätext hierbei das «Zeit­Bild» des modernen Kinos präfiguriert, lässt sich mit Ruiz’ Film aufdecken. Dabei wird deutlich, dass der proustsche Roman nicht nur schlicht «filmisch» spricht, sondern in seiner Modernität eine ganz bestimmte Art filmischer Erzählung vorwegnimmt und sich dabei an Kategorien abarbeitet, derer sich der Film erst viel später annehmen sollte. 70 Cf. Clarac / F erré in den «Notes et Variantes» (RTP III: S. 1118). 71 Neefs 2011: S. 117. 3 Zum récit: «Visualität» in Medium und Form Der materielle Träger des récit ist in der Literatur die Schrift; im Film sind es die auf die Leinwand projizierten Bilder. Im Medium ist die Sprechform ihrer «Visualität» demnach grundlegend verschieden. Wenn der Erzähler zur stilistischen Beschreibung seines Romanprojektes immer wieder auf Bild und Bildlichkeit zu sprechen kommt, so sind diese grundlegend gebun­ den an die Form von Bildlichkeit, die das Medium der Schrift vorgibt. So verfügt auch Schrift über den «Präsenzaspekt», wie ihn Grube /  Kogge / K rämer in ihrem triadischen Strukturmodell entwickelt haben72 und der Schrift als «der Aisthesis zugängliche, präsente Gestaltforma- tionen» präsentiert, über die sie ihre «ikonischen Potentiale» ausspielen können (ibid. S.  14). Er manifestiert sich vordringlich im Manuskript der Recherche. Dort bietet die Schrift ein passagenweise schwer lesbares, pas­ sagenweise skizziertes Palimpsest mit einer ungeheuren Fülle von Randbe­ merkungen und Umstrukturierungen, das in den redigierten Ausgaben nur noch angedeutet in den «Variantes» des Anhangs anklingt. Darüber hinaus entsteht die Bildlichkeit der Schrift sekundär aus dem «Referenzaspekt» ihrer Zeichen.73 72 Das Modell geht von Schrift als Medium sui generis aus, «das systematisch weder von der Sprache noch von sonst einer semiotischen Ordnung abhängig ist» (Grube /  Kogge / K rämer 2005: S. 16). 73 Grube / K ogge / K rämer 2005: S.  13. Als dritten Aspekt machen Grube et al. den «operationalen Aspekt» aus, der darin besteht, dass Schriften als «notational, also prin­ zipiell unterscheidbaren und definiten Elementen» aufgebaut sind (ibid.), eine Eigen­ schaft, die sie in der Logik und Mathematik zu möglichen Operatoren macht (S. 15). https://doi.org/10.17885/heiup.310.420 28 Zum récit Im Aspekt seiner Referenzfunktion, in dem Schrift «die unterschied­ lichsten Bereiche  […] in den spezifischen Darstellungs- und Operations­ raum der Schrift überführen» kann (S. 16), ist das von Poppe festgestellte «visuelle Potential»74 der Recherche zu verorten. In dieser verbal domain75 verlässt das Medium der Schrift den Bereich der Wahrnehmungsbilder; die ästhetische Wirkung der Literatur geht in ihrer Printversion vornehmlich von den Vorstellungsbildern76 der Lektüre aus. Wie Iser dargestellt hat, sind Vorstellungsbilder nicht zwangsläufig dem Referenzcharakter der Schrift zuzuordnen, sie entstehen zwar als mentale Bilder beim Lesen deskripti­ ver Passagen, können jedoch auch unabhängig von diesen vorkommen. So hat ein Leser häufig eine diffuse visuelle Vorstellung vom Protagonisten, selbst wenn dieser nicht visuell beschrieben wurde. Iser spricht «von einem mehr oder minder deutlichen Bilderstrom», der das Lesen begleitet, «ohne dass diese Bildfolgen – selbst dort, wo sie sich zu einem ganzen Panorama zusammenschließen – für uns selbst gegenständlich würden».77 Literatur kann «bildhaft»78 sprechen, sobald sie Konkretes darstellt. Vorstellungsbil­ der haben das Charakteristikum, nicht wirklich zu sein: Sie erfüllen nicht den Präsenzaspekt der Schrift, sind nicht gegenständlich im Medium zu verorten und entziehen sich jeder genauen Beschreibung, sobald die Auf­ merksamkeit auf sie gerichtet wird.79 Sie sind «nur partiell genau, im Gan­ zen aber diffus, verschwommen und voller ‹blinder› Flecken».80 Verbunden ist dieser Aspekt mit der Funktion der Vorstellungsbilder der Lektüre: Sie stellen gemeinhin nicht für sich einen Gegenstand der Kontemplation dar, weil sie, so Iser, «nicht als Gegenstand, sondern als Bedeutungsträger zur 74 Poppe 2007: S. 143. 75 Bal 1997: S. 92. 76 Vorgeschlagen wird hierfür die etablierte Unterscheidung von «Wahrnehmungs­ bild» und «Vorstellungsbild», die auf Aristoteles’ De Anima zurückzuführen ist. Vorstel­ lungsbilder (phantasmata) sind ein Phantasieprodukt, sie existieren sowohl im Traum als auch im Tagtraum als vorgestellte Bilder. Wahrnehmungsbilder (aisthemata) hingegen sind an Materie gebunden, als die sie in der Realität, unabhängig von unserer Wahrneh­ mung, existieren (cf. Aristoteles 1995: 426 b8–427). Auch Iser nimmt diese Unterschei­ dung vor, jedoch ohne explizite Bezugnahme auf Aristoteles (cf. Iser 1994: S. 219). 77 Iser 1994: S. 220. 78 «Mit ‹bildhaft› meint man sinnvollerweise den Umstand, dass man sich visuell etwas vorstellen kann. Bildhaft sind Wörter und Wendungen, die leicht […] auf konkrete Situationen bezogen werden können […]» (Pérennec 2000: S. 93). 79 Cf. Ullrich 2002: S. 71. 80 Anderegg 2000: S. 64. Zum récit 29 Erscheinung kommen».81 Sie lassen sich demnach nicht wie Kunstbilder auf ihre ästhetische Darstellung hin befragen.82 Obwohl die Vorstellungsbilder im Sinne des ästhetischen Präsenzas­ pekts nicht als «wirklich» zu bezeichnen sind, sind sie doch präsent und in dieser Präsenz an den Vorstellenden gebunden. Vorstellungsbild und lesendes Subjekt sind untrennbar aneinander gekoppelt, wobei der Leser zum Schöp­ fer (von Bildern) avanciert. Die «Verarmung», die oft in Bezug auf die fil­ mischen Wahrnehmungsbilder konstatiert wird, resultiert demnach nicht nur aus dem Kontrast zu unserem Vorstellungsbild, sondern auch aus der Nichtigkeit unserer Gegenwart zur Konstituierung des Bildes.83 In zusammenfassender Abgrenzung der medial differenten Form von Bildlichkeit lässt sich festhalten: 1. Das einzige der Aisthesis unmittelbar zugängliche Wahrnehmungsbild der Literatur ist das Schriftbild. Alle weiteren Bilder entstehen aus der Referenzfunktion der Schrift als Vorstellungsbilder. 2. Vorstellungsbilder sind präsent, aber nicht wirklich; Wahrnehmungsbil­ der sind präsent und wirklich. 3. In der wahrnehmenden Rezeption ist der Körper für das Vorstellungsbild unabdingbare Voraussetzung; an der Kreation des Wahrnehmungsbildes ist der Bildrezipient nicht beteiligt. 4. Vorstellungsbilder sind voll von blinden Flecken; Wahrnehmungsbilder wirken gerade durch ihre Bestimmtheit. 5. Literarische Vorstellungsbilder stehen im Dienste eines Gegenstandes, den es zu beschreiben gilt; Wahrnehmungsbilder stellen den auf ihnen sichtbaren Sachverhalt aus und lenken gleichzeitig als ästhetisch insze­ nierte Kunstobjekte auf sich selbst zurück. Wie die vorliegende Untersuchung aufzeigen wird, ergeben die hier als dis­ tinkt etablierten Kategorien sowohl im Prätext als auch im Film ein Geflecht, in dem sich im Zusammenspiel von Medium und Form Wahrnehmungs­ und 81 Iser 1994: S. 223. 82 «Das Kunstbild unterscheidet sich somit vom bloß artifiziellen Bild oder Pikto­ gramm dadurch, daß es auf sich zurücklenkt; es stellt sich nicht (nur) in einen externen Verwendungszusammenhang. Auch das religiöse Kunstbild will die Kontemplation des in ihm dargestellten Sachverhalts, es meditiert seinen Inhalt und die Form seiner opti­ schen Darstellung» (Brandt 1999: S. 182 f.). 83 Cf. Iser: «Die Romanverfilmung hebt die Kompositionsaktivität der Lektüre auf. Alles kann leibhaftig wahrgenommen werden, ohne daß ich mich dem Geschehen gegenwärtig machen muss. Deshalb empfinden wir dann auch die optische Genauigkeit des Wahrnehmungsbildes im Gegensatz zur Undeutlichkeit des Vorstellungsbildes nicht als Zuwachs, sondern als Verarmung» (Iser 1994: S. 225). 30 Zum récit Vorstellungsbilder gegenseitig durchsetzen. Raoul Ruiz’ filmisches Spiel mit Erinnerungsbildern, blinden Flecken und Illusionen trifft dabei in man­ cher Hinsicht das visuelle Programm Prousts, das seinerseits für stilistische Beschreibungen als «moyen de vision» (RTP III: S. 895) immer wieder auf intermediale Analogien mit Wahrnehmungsbildern zurückgreift. Sowohl Proust als auch Ruiz loten die Erzählmöglichkeiten ihres eige­ nen Mediums aus, indem sie mit den Grenzen der ihnen zur Verfügung ste­ henden Bildlichkeit spielen. So gelingt dem Filmemacher über die ihm zur Verfügung stehenden Wahrnehmungsbilder ein Kommentar zu den Vor­ stellungsbildern der literarischen Vorlage, der bislang noch nicht in all sei­ ner Vielschichtigkeit aufgedeckt wurde. 3.1 Visualität im Kinodispositiv von Raoul Ruiz Paech macht für den Fall der Literaturverfilmung eine Sonderform aus, bei der der Cineast als «Form des Mediums der Intermedialität zwischen Lite­ ratur und Film ‹figuriert›».84 Diese Schlüsselstellung hat in diesem Fall der im August 2011 verstorbene Cineast Raoul Ruiz (Raúl Ruiz Pino) inne, der zu den innovativsten Regisseuren der Gegenwart zählte.85 Der gebürtige Chilene schrieb Theaterstücke (mit einundzwanzig Jah­ ren sein hundertstes) und arbeitete für das Fernsehen, bevor er sich end­ gültig dem Kino zuwandte. Raoul Ruiz begann seine filmische Karriere im französischen Kino des Aufbruchs. Einflüsse lateinamerikanischer fantas­ tischer Bilder, die an Márquez, Borges oder Reyes86 erinnern, sind in seinem Werk ebenso präsent wie die intellektuellen Spiele mit dem Medium Film, wie wir es von Godard kennen. Diese Arbeit, in der sich Imagination und Intellekt in unterschiedlichen Formationen überlagern, gibt seinen Filmen eine sehr eigene Originalität. Sein filmisches Werk ist unüberschaubar. «Cuántas películas ha hecho, en realidad ? Es probable que ni él mismo lo sepa», schrieb Mouesca bereits in den 80er-Jahren.87 Es finden sich Werke darunter, die nur wenige Minuten 84 Paech 1997a: S. 335. 85 Für detaillierte Informationen zum Werdegang und zur Filmographie von Raoul Ruiz cf. Buci-Glucksmann / R evault D’Allonnes 1987, Vázquez / C alvo 1983, De los Ríos / P into 2010. 86 Auf diese Einflüsse führen Mouesca und Orella die «raigambre latinoamericana inequivoca» in Ruiz’ Werk zurück (Mouesca / O renella 1983: S. 109). 87 Mouesca 1988: S. 109. Jean-François Rauger gibt in seinem Nachruf in Le Monde 115 Filme an (Rauger 2011: S. 18). Visualität im Kinodispositiv von Raoul Ruiz 31 lang sind, andere sind nie fertiggestellt worden; eine Filmographie zu erstel­ len erweist sich als ein schwieriges Unterfangen. Als überzeugter Sozialist erhielt Ruiz während der Regierung Allendes vorwiegend staatliche Auf­ träge zu Dokumentarfilmen. Nach dem Putsch 1973 floh Ruiz ins franzö­ sische Exil, in dem er wenige Monate später mit Diálogo de Exiliados seine kostumbristisch­ironischen Werke abschloss und eine neue Reihe von laby­ rinthisch-spielerischen Filmen aufnahm, für die ihm die volle Unterstüt­ zung des französischen Films zukam: Mit Hilfe des Institut National de l’Au- diovisuel drehte er Dutzende von Filmen, unter ihnen La vocation suspendue (1977), den César-prämierten Colloque de chiens und L’hypothèse du tableau volé (1979), einen Schwarz-Weiß-Film, der auf einer Novelle Klossowskis beruht und seine Bekanntheit in ganz Europa begründete. 1982 folgte sein eben­ falls hochgelobtes Werk Trois couronnes du matelot. Als Filmemacher erfuhr er seine Konsekration 1983 mit einer ihm eigens gewidmeten Ausgabe der Cahiers du cinéma.88 1995 legte er einige seiner Ideen in Poética del cine89 dar, eine Art Essay, der den spanischen misceláneas des 16.  Jahrhunderts nach­ empfunden ist: theoretisch­narrative Diskurse, in denen der Autor spirituelle Pirouetten vollführt – «en suma, el arte de aquello que los franceses suelen llamar ‹passer du coq à l’âne›»90. Nachdem er in einem Interview betont hatte, dass er sich nicht berufen fühle, seine Filme zu erklären,91 legte er dem Zuschauer hier auf verschlungenen Wegen sein Konzept des Kinos dar, nach dem sich die Geschichte aus dem Bild entwickelt, sprach sich vehement gegen das Dogma des Zentralkonflikts aus und beschrieb ein «cine chamánico» als ein Kino, in dem sich eigene und fremde Erinnerung verselbstständigen: Un film narrativo ordinario proporciona un vasto en el cual nuestras secuancias filmicas potenciales se despersan y se desvanecen. Por el contrario, una cinta chamáncia aparecerá más bien como un campo minado, el que, al explotar, provoca reacciones en cadena en el seno de aquellas secuancias filmicas, permitiendo la producción de algu­ nos acontecimientos. Del mismo modo, esas secuancias nos hacen creer que nos acordamos de sucesos que no hemos vivido, mientras que nuestros propios recuerdos, que pensábamos no remorar nunca, 88 Cahiers du cinéma 345, mars, Spécial Raoul Ruiz, Éditions de l’Étoile 1983. 89 Im Folgenden wird die chilenische Ausgabe zitiert (Ruiz 2000). Ursprünglich erschien das Buch in Frankreich (Ruiz 1995). 90 Ruiz 2006: S. 14. 91 «¿No le gusta dar explicaciones intelectuales sobre su trabajo? – Es que no vale la pena, porque no son ciertas. Sólo valen como chiste» (Briceño / F uguet / L iñero / N aranjo 1986: S. 36). 32 Zum récit son conectados a esas memorias fabricadas, y ahora vemos que se levantan y caminan hacia nosotros, como los muertos vivientes de una película de horror. […] Naturalmente todo esto es sólo un con­ densado de sistema poético, pero debería ayudarnos a encontrar una manera de filmar situada de mil leguas del cine narrativo actual.92 In diesem Zitat wird deutlich, wie in Ruiz’ Filmpoetik die filmischen Wahr­ nehmungsbilder als «memorias fabricadas» mit den Vorstellungsbildern der eigenen Erinnerung interferieren und dabei die Trennung von Subjekt­ und Objektebene tilgen; hier erscheinen die real getrennten Räume von Wahr­ nehmenden (Zuschauersaal) und Wahrgenommenen (Raum der Diegese) als räumliches Kontinuum. Der mit dieser Illusion einhergehende Verlust der Trennung von Vorstellungs­ und Wahrnehmungsbildern kennzeichnet die Wahrnehmungssituation im «Kinodispositiv» im Gegensatz zur Wahrneh­ mung anderer Wahrnehmungsbilder. Baudry, der den Begriff des «Kinodispositivs» in die Diskussion brach­ te,93 setzte diese Vernetzung von Vorstellung und Wahrnehmung im filmi­ schen Dispositiv des Sehens als traumnahe Situation in den Kontext der Psychoanalyse: Nach Baudry entfällt im Kino wie im Traum die Reali­ tätsprüfung, da nur Wahrnehmung, die durch Handeln zum Verschwin­ den gebracht werden könne, als äußerliche erkenntlich sei.94 Baudry hatte in einem ersten Entwurf Cinéma: effets idéologiques produits par l’appareil de base (Baudry 1970) die Immobilität im abgedunkelten Raum und die Beschränkung auf die Fernsinne Sehen und Hören in Bezug zum lacan­ schen Stade du miroir gesetzt, später in Rekurrenz auf Freud frühkindliche Erfahrung mit einbezogen und geschlussfolgert, dass das Kino in seinem Gesamtdispositiv eine Form der archaischen, vom Subjekt erlebten Befrie­ digung nachahmt und deren Szene reproduziert.95 Die Regression, die mit dem filmischen Sehen einhergeht, ist im Kinodispositiv Baudrys eine Form der Entmündigung, die ideologische Implikationen hat und grundlegend auf der Zentralperspektive beruht, die dem Zuschauer einen bestimmten 92 Ruiz 2000: S. 93. 93 Der Begriff geht, wie Jörg Brauns in seiner Dissertation darstellt, auf Baudry zurück. Dieser bezeichnet mit «‹l’appareil de base› die Gesamtheit der für die Produktion und die Projektion eines Films notwendigen Apparatur und Operationen» und grenzt davon das Dispositiv ab, «das allein die Projektion betrifft und bei dem das Subjekt, an das die Projektion sich richtet, eingeschlossen ist. So umfasst der Basisapparat sowohl das Film­ negativ, die Kamera, die Entwicklung, die Montage in ihrem technischen Aspekt usw. als auch das Dispositiv der Projektion» (Baudry 1999: S. 404; Cf. Brauns 2006: S. 31). 94 Baudry 1999: S. 395. 95 Baudry 1999: S. 398. Visualität im Kinodispositiv von Raoul Ruiz 33 Platz zuweist, den er in der traumhaften Rezeptionssituation nicht als den eigenen in Frage stellt. In den Filmen von Raoul Ruiz ist die Traumnähe in den Bildern und Geschichten angelegt,96 doch funktioniert sie nicht allein im Sinne der von Baudry konstatierten Regression, sondern will auf ein Wechselspiel von fascination und distanciation hinaus: Die fascination entspricht der traum­ ähnlichen Rezeptionssituation: «les images nous prennent et la sensation de vertige prédomine» (Ruiz 2006: S. 36), während die distanciation diese Kom­ ponente um die der Reflexion ergänzt: N’oublions pas que vivre une œuvre d’art ne consiste pas seulement à être fasciné par elle, à en être amoureux, mais aussi à comprendre le processus du devenir amoureux. (ibid., Hervorhebung Raoul Ruiz). Das Wechselspiel der beiden Wahrnehmungsformen impliziert ein Wech­ selspiel der Räume; «Entrer et sortir d’une histoire»,97 schreibt Ruiz; der Raum der Diegese wird betreten und verlassen. Diese Dualität in der Wahrnehmung von Filmbildern stellt auch Paech heraus, der in seiner Annäherung an die «dispositive […] Struktur appara­ tiven Erscheinens»98 die grundsätzliche Differenz von Zuschauer und Film­ bild als konstitutives Moment etabliert. Dies wird im Sehen der von hinten (also von unsichtbarer Quelle aus) projizierten Bilder als Illusion von Nähe untergraben, doch kann die «Faszination» als «die Fessel des Blicks, die den distanzierten fixierten Körper an die Bilder gebunden hatte» (S. 787), dann durchbrochen werden, «wenn das apparative Erscheinen in seiner disposi­ tiven Struktur wahrgenommen wird» (S. 786). Wie die Untersuchung von Le Temps retrouvé zeigen wird, treten in der ruizschen Inszenierung alle filmbildlichen Konstituenten wie Besetzung, Beleuchtung, mise en scène, Kamera und Montage, die räumliche Trennung von Zuschauersaal und Leinwand und eben auch die medieneigene Trau­ mähnlichkeit immer wieder in den Vordergrund, um sich hier zur interme­ dialen Reflexion anzubieten. In seiner zweiten Poetik, die sieben Jahre nach Le Temps retrouvé erschien, elaboriert Ruiz drei «intuitions ou métaphores», die hier als Vorformulie­ rung seiner eigenen Konzeption eines Kinodispositivs gelten sollen: 96 Beugnet / S chmid führen dies auf den Ruiz eigenen Surrealismus zurück («Surre­ alist Proust» Beugnet / S chmid 2006: S. 132 ff.), Plasseraud auf die Ästhetik des Barock, dessen modernen Vertreter er in Ruiz sieht (cf. Plasseraud 2007). 97 Ruiz 2006: S. 35. 98 Paech 1991: S. 773 ff. 34 Zum récit La première est que les images qui composent un film déterminent le type de narration qui le structure, et non le contraire. La seconde affirme que le film n’est pas composé d’un nombre donné de plans mais plutôt décomposé par eux: lorsque nous voyons un film de 500 plans, nous voyons également 500 films. La troisième veut qu’un film ait de la valeur, au sens esthétique, dans la mesure où il regarde autant le spectateur que le spectateur le regarde.99 Die erste «intuition» richtet sich auf die Bildästhetik, das heißt die mise en scène; die zweite auf die Montage und die dritte auf die filmische Rezep­ tionssituation. Mit der hierarchischen Überordnung der mise en scène als einem Stilphänomen über der Ebene der Narration stellt Ruiz bereits eine Gewichtung her, von der im Kontext der proustschen Stilreflexionen noch die Rede sein wird. So heißt es in der Recherche: Le style n’est pas un enjolivement comme le croient certaines per­ sonnes, ce n’est même pas une question de technique, c’est – comme la couleur chez les peintres – une qualité de la vision […] (RTP III: S. 895). Mit der zweiten «intuition» positioniert sich Ruiz als Gegenpol zur bewe­ gungsbildlichen Ästhetik, die, wie Baudry und Deleuze dargestellt haben, darauf aus ist, die konstitutiven Brüche zwischen einzelnen Photogrammen und Szenen aus dem Bewusstsein zu löschen. Das ruizsche Kinodispositiv dagegen konterkariert die trügerische Kontinuität der Bewegung und rich­ tet den Blick auf den Bruch. Ruiz’ dritte «intuition» schließlich bezieht sich auf die Relation der pro­ jizierten Bilder zum wahrnehmenden Subjekt. Im Bild des gegenseitigen Anblickens löst er die Relation von Filmbild und außerfilmischer Wirk­ lichkeit und setzt an deren Stelle die Relation von Filmbild und subjekti­ ver Wahrnehmung. Das Moment des gegenseitigen Anblickens erinnert an das lacansche Spiegelstadium, doch steht in der ruizschen Poetik weniger das Wiedererkennen des eigenen unfragmentierten Ich als das Moment der Selbstprojektion im Vordergrund. Das Traumhafte der Filmbetrachtung geht nach Ruiz aus seinem Gegenteil hervor, der Filmprojektion: […] c’est nous qui commençons à projeter un autre film sur le film à l’écran. Je dis bien projeter. Des images qui partent de moi et se superposent à celles du film même.100 99 Ruiz 2006: S. 10, Hervorhebung im Original. 100 Ruiz 2006: S. 110. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 35 Ruiz’ «poetische[s] System»101 äußert sich auch in der Verfilmung von Le Temps retrouvé, mit der Ruiz 1999 den Sprung vom schwer zugänglichen Experimentalfilm zu einem Projekt mit größeren finanziellen Mitteln und beeindruckendem Staraufgebot vollzog. Die Proustverfilmung war nicht seine erste Transposition eines litera­ rischen Stoffes in das filmische Medium, doch betonte Ruiz selbst ihre sin­ guläre Bedeutung in der Fülle seines filmischen Schaffens, das er in seiner Gesamtheit als Vorbereitung dieses Hauptwerks auswies.102 3.2 Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche »it’s a Ruiz film in the costume of a costume drama» (Romney) Le Temps retrouvé wurde im Mai 1999 in Cannes vorgestellt. Es war die erste Proustverfilmung, die in der Kritik auf überwiegend positives Echo stieß,103 jedoch war sie kommerziell nicht erfolgreich. Der Film greift die wesentlichen Episoden des literarischen Prätextes auf,104 von den Spaziergängen in Tansonville über die Lektüre des Jour- nal der Goncourt, über das vom Ersten Weltkrieg gekennzeichnete Paris, die maison de passe, in der Saint­Loup und Charlus verkehren, bis hin zur Matinée de Guermantes und ihren Erinnerungsepiphanien. Der Film wirkt zunächst für Ruiz ungewohnt konventionell. Eine beein­ druckende Szenerie (Paris während und nach dem Ersten Weltkrieg), opu- lente Kostüme und ein für Ruiz-Filme ungewohntes Staraufgebot (Catherine 101 Ruiz 2000: S. 93. 102 «[T]ous mes films ont été une manière de préparer» (Barde 1999: S. 1). Neben der erwähnten Klossowski­Verfilmung hat Ruiz auch Kafka («La Colonia penal», 1970), Racine («Bérénice», 1983), Calderón («Mémoire des apparences», 1986), Shakes- peare («Richard III», 1986) und Stevenson («Treasure Island», 1985) verfilmt. Nach der Proustverfilmung folgte Jean Gionos «Les âmes fortes» 2001. 103 Cf. Le Monde, 18 mai 1999: S. 30; L’Express, 20 mai 1999: S. 47. In La Croix bezeichnet Royer den Film als «chef-d’œuvre, autant que le Van Gogh de Pialat» (Royer 1999), Grosser wünscht sich eine neue Preiskategorie für das Werk: «Peut- être eût-il fallu créer un prix particulier pour Le Temps retrouvé. Par exemple un prix de la Meilleure Harmonie entre l’œuvre transposée et sa transposition, entre la splendeur de la réalisation et son intelligence créatrice, entre la perfection des acteurs et la préci­ sion foisonnante des décors.» (Grosser 1999). Zurückhaltend bis ablehnend äußerten sich dagegen Ifri 2000 (S. 166–175) und Milly 1999 (S. 176 ff.). 104 Für nähere Informationen zu Abweichungen und Exkurse in andere Bände cf. Beugnet / S chmid 2006: S. 145 ff. 36 Zum récit Deneuve als Odette de Crécy, Vincent Perez als Morel, Emmanuelle Béart als Gilberte, John Malkovich als Baron de Charlus, Pascal Greggory als Saint Loup …) prägen den ersten Eindruck. Dass bei der Werkanalyse von Autorenfilmen jedoch «wiederholte Anschauung und wiederholte Kontrolle der Beschreibung durch den Blick auf den Gegenstand» vonnöten ist, wie Koebner insistiert, gilt für Ruiz in besonderem Maße.105 Bei mehrmaliger Betrachtung explodiert die Vielschichtigkeit der Bild­ sprache geradezu in ihren medialen und intermedialen Verweisen. Sehr treffend bemerkt Romney: Since with Ruiz, nothing is never what it appears (it’s practically an article of faith with him), we might call Time Regained a costume drama of a different kind: it’s a Ruiz film in the costume of a costume drama.106 Für den Cineasten von Le Temps retrouvé zeigt sich dies in der selbstreflexi­ ven Ebene des Films.. Wie Reinecke betont, ist Selbstreflexivität im Film nicht nur auf das Vorführen des eigenen Betriebs begrenzt, sondern richtet sich auch auf das Literatur und Film unterscheidende Moment des Sehens einer Geschichte, wie es archetypisch Hitchcock in Das Fenster zum Hof (USA 1954) inszenierte. Selbstreflexiv sind insofern nicht nur Filme, die qua Sujet als Selbst­ bespiegelung erscheinen, sondern die sich der Bilderproduktion überhaupt widmen und die fragen: Was ist ein Bild, wie strukturiert sich Wahrnehmung?107 Diese in der Recherche so zentralen Fragen der literarisch­metapoetischen Reflexion, so wird bereits hier deutlich, sind gleichzeitig die elementaren Fragen filmischer Selbstreflexion. In diesem Sinne eröffnet die erste Sequenz einen Erzählstrang, der in Ruiz’ intermediales Spiel einführt. Sie beginnt mit einer nahen Kamerafahrt über Notizen, die denen Prousts ähneln (Abb. 3.1 und 3.2). 105 Koebner 1990: S. 7; Hickethier 2001: S. 33. 106 Romney 2000: S. 30. 107 Reinecke 1996: S. 9. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 37 Abb. 3.1 Prousts alte Fassung des Anfangs von Swann (Clarac/Ferré 1975: S. 253). Abb. 3.2 Die Handschriften der Eingangssequenz (0:02:09). 38 Zum récit So führt er mit den ersten Filmbildern das Schriftbild in seiner ästheti­ schen Präsenz ein, in einer Häufung loser Blätter, die mit einer Unzahl von Streichungen und Anmerkungen eine geschichtete Strukturierung sugge­ rieren, in der der Text in der Zeit seinen récit beständig geändert hat. Was hier gezeigt wird, ist kein fertiges literarisches Produkt, sondern ein Wer­ den der Schrift. Die Bilder begleitet eine angestrengte, kraftlose Stimme mit dem Diktat der letzten Textpassage von Proust an Céleste.108 Die Kamera kadriert den Diktierenden verhältnismäßig spät; zunächst wird die schreibende Hand der Betrachtung angeboten; die erste Handlung ist der Schreibprozess und führt so von Beginn an eine «interdisziplinäre Perspektive»109 ein, die mit dem Bild immer gleichzeitig auf das Wort verweist. «Les images qui composent un film déterminent le type de narration qui le structure.»110 So wie der Erzähler im Roman leitmotivisch über das Wort auf das Bild verweist, so verweisen die Filmbilder gleich zu Beginn auf das geschriebene Wort. Die Kamera beugt sich über das Wort: Der selbstreflexive Film wiederholt hier den intermedialen Prozess, in dem Schrift zu Bild wurde. Mit dieser filmischen Einleitung, die nicht direkt von der Geschichte ausgeht, sondern auf den medial differenten Prozess des Erzählens blickt, setzt Ruiz von Beginn an das intermediale Verhältnis in Szene, das das eigene Werk zum anderen Medium positioniert. Hier zeigt sich das Ver­ hältnis von Film und Schriftbild zunächst als eines der Inklusion. Dabei setzt Ruiz seine Bilder als Katalysatoren der Zuschauererinnerung ein. Dies geschieht offensichtlich in der Inszenierung des Proust-Darstellers André Engel (Abb. 3.3 und Seq. 3.1): 108 Wie Tadié in seiner Biographie Prousts beschreibt, diktierte Proust Céleste Albaret die Passage über die «incroyable frivolité des mourants» in seiner letzten Nacht vom 17. auf den 18. November 1922 (Tadié 1996: S. 907 f.), also kurz vor seinem Ableben. 109 Cf. die grundlegende Forderung Kortes in Korte 1991: S. 168. 110 Ruiz 2006: S. 10. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 39 Abb. 3.3 Dunoyer de Segonacs Zeichnung von Proust auf dem Totenbett (Clarac / Ferré 1975: S. 282). Seq. 3.1 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609745) Prousts Diktat (0:02:10–0:02:50). 40 Zum récit Sukzessive kontrahieren sich Vordergrund und Hintergrund und nähern sich so der mise en scène von Céleste111 an, der als weiterer Pfad der Erinne­ rung herhält (Abb. 3.4). Abb. 3.4 Céleste – 1982 (0:51:41). Auf die biographische Fährte lockt bereits der Vorspann, der die Kirche von Illiers vom Ufer der Loire (bzw. Vivonne) aus in den Kader setzt.112 Durch die Annäherung in der filmischen Exposition an Adlons Céleste entsteht nun der Eindruck eines Rahmens, in dem die Genese der Recher- che dargestellt wird. Diesem Eindruck spielt auch die auffällige Ähn­ lichkeit des erzählten Erzählers (Marcello Mazzarella113) zu, der zudem 111 In Céleste erzählt Percy Adlon die letzten Tage Prousts. Ruiz’ Proust spricht seine Haushälterin auch mit «Céleste» an (0:04:02) und bittet sie um einen Milchkaffee, die einzige Nahrung, die Proust kurz vor seinem Tod noch zu sich nahm (Adlon 1980). 112 Die Einstellung entspricht dem Foto aus dem Proust-Album (Clarac / F erré 1975: S. 28). 113 Mazzarella ist ein in Frankreich wenig bekannter Darsteller, den vor allem seine Ähnlichkeit zu Proust ausgezeichnet haben wird; «[il] n’avait tenu que des rôles extrême­ ment secondaires dans quatre films, ‹Ils vont tous bien› de Giuseppe Tornatore (‹Stanno tutti bene›, 1990), ‹Nirvana› (1997) de Gabriele Salvatores, ‹L’Odore délia notte› (1998) de Claudio Caligari et ‹I Fobici› (1999) de Giancarlo Scarchilli» (cf. Ferré 2003: S. 203–220, hier 219). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 41 gehalten wurde, sich in Gestik und Mimik an Fotos Prousts zu orientieren (Abb. 3.5 und 3.6).114 Abb. 3.5 Marcel Proust um 1893 (Clarac / Ferré 1975: S. 146). 114 Cf. Barde 1999: S. 38. Auffällig ist auch die Inszenierung des Raumes, der sich bis zum Tapetenmuster hin am Zimmer des Boulevard Haussmann orientiert, das Proust 1906 bezog. 42 Zum récit Abb. 3.6 Der Tennisplatz am Boulevard Bineau (1891–92). Von links nach rechts: Gabriel Trarieux, Pierre Pouquet, Mademoiselle X., Proust (kniend), Jeanne Pouquet (die spätere Madame Gaston de Caillavet, auf einem Stuhl stehend), ein kleines Mädchen, Mademoiselle Gabrielle Schwarz (Clarac / Ferré 1975: S. 126). Die Verwechslung von realem und fiktivem Autor ist bekanntermaßen eine geläufige Folge unreflektierter Rezeption, sodass Ifri sich an dieser Fährte stieß.115 Auf eine solche Gleichsetzung will Ruiz jedoch sicher nicht hinaus: Ruiz’ «Proust» ist eine Vielheit, die in unterschiedlichen Besetzungen verkörpert 115 «Cette liberté du réalisateur qui fait de l’auteur un acteur intradiégétique de son histoire et le met au même niveau d’existence que les personnages qu’il a inventés non seulement crée une situation absurde et inexplicable mais encore anéantit les efforts du vrai Marcel Proust qui n’a cessé de se distancier de son héros-narrateur» (Ifri 2000: S. 172). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 43 wird.116 Der «Autor» ist ein Anderer, der, wie seine weiteren Identitäten, kaum agiert, sodass die filmischen Zeichen, von denen er umgeben ist, zu Opto­ und Sonozeichen werden. Dabei spielt Ruiz mit der Analogie zwi­ schen dem betrachtenden Helden und der Kamera, wie das Kapitel zur nar- ration näher darlegen wird.117 Chez moi, c’est l’image qui provoque l’envie de raconter quelque chose. Ce n’est pas un joli tableau, c’est l’image qui crée les situations et les justifie. Tout ce qu’il y a dans le cadre raconte.118 Indem Ruiz seine filmische Erzählung so explizit durch wörtliche Verweise und die bildlich­biographische Annäherung an den Autor bindet und in der Exposition das Schriftbild als erstes Bild heraufbeschwört, fordert das erzäh­ lende Bild von Beginn an dazu auf, die literarische Vorlage mitzulesen.119 Sowohl in seiner ersten als auch seiner zweiten Poetik spricht Ruiz von einem «espace off» des Films, als einem Bereich intertextueller Bezüge, in der Filme des gleichen Genre, mit gleichen Schauspielern, dem gleichen Stil oder der gleichen Produktionslogik mit dem aktuellen Film interagieren. Er nennt diese Form von Intertextualität eine «voisinage qui résonne»120, für die er auch gemeinsame Momente gelten lässt, die nicht auf das filmi­ sche Medium begrenzt sind: «même souvenirs partagés, même manière de se rappeler, même schema dirait Ernst Gombrich» (ibid.). Mit den ersten Bildern der filmischen Erzählung visualisiert Ruiz diese Nachbarschaft als intermediale zum Prätext der Recherche. Wie das folgende Kapitel darlegen wird, äußert sich diese voisinage gerade da, wo sich die mediale Bildlichkeit von Film und Literatur grundsätzlich unterscheidet: im «Lesebild» sowie im «photographischen Bild». 116 George du Fresne spielt den kleine Marcel; Pierre Mignard den jugendlichen; Marcello Mazzarella den erwachsenen und André Engel den greisen «Proust». 117 Cf. Kapitel «Zur narration»: S. 82 ff. 118 Barde 1999: S. 1. 119 Im Gegensatz verhaftet sich etwa Akerman von Beginn an dezidiert im filmischen Kontext. Sie eröffnet La Captive mit einem Film im Film: Simon alias Marcel spielt dort einen Super-8-Film ab, den er in Balbec gedreht hatte (Akerman 2000). 120 Ruiz 2006: S. 61. 44 Zum récit 3.2.1 Das Lesebild In Le Temps retrouvé projektiert der Erzähler seine Leser als Betrachter, die mit einem Vergrößerungsglas im Buch wie in sich selbst lesen werden: […] ils ne seraient pas, selon moi, mes lecteurs, mais les propres lec­ teurs d’eux-mêmes, mon livre n’étant qu’une sorte de ces verres gros­ sissants comme ceux que tendait à un acheteur l’opticien de Com­ bray; mon livre, grâce auquel je leur fournirais le moyen de lire en eux-mêmes […] (RTP III: S. 1033) Hier überlagert sich das objektiv zugängliche Schriftbild mit den mental evozierten Bildern der Lektüre, die in dieser Passage scheinbar zum sicht­ baren Objekt werden. Dieses Auflösen von Vorstellungs­ und Wahrnehmungsbildern im Akt der Lektüre findet sich bereits in der zentralen Lesepassage der Recherche, in Du côté de chez Swann. Sie schreibt sich in den Kontext der Allegorien der Vertus et Vices von Padua ein, spezieller: in den Kontext von Irrtum und Wahrheit, der als Subtext mitzulesen ist, wie De Man überzeugend darstellt. Lesen wird so zu einer «instabilen Mischung aus Buchstäblichkeit und Misstrauen»121. Wie in einer Spiel­im­Spiel­Konstruktion wird dem Leser hier ein Leser vorgeführt, der die Visualität der Lektüre in Kontrast zur optischen Wahr­ nehmung reflektiert. Die Passage über literarische Visualität ist eingebettet in die Beschrei­ bung einer Hell-Dunkel-Kontrastierung, die zunächst in Form des kühlen und dunklen Raums, in dem Marcel auf dem Bett liegend liest, und des hellen Außenraums, der durch geschlossene Jalousien ausgesperrt wurde, klar voneinander getrennt werden (cf. RTP  I: S.  83). Die Trennung ist jedoch von Anfang an nicht absolut: Ein Lichtreflex, der wie ein ruhender Schmetterling in einer Nische des Zimmers hängt, verbindet den Innen­ raum mit dem Außenraum, der synästhetisch wahrnehmbar wird, sowohl in der visuellen Perzeption des Lichtstrahls als auch auditiv in Geräu­ schen «spécial aux temps chauds», die in Form von «coups frappés dans la rue de la Cure […] contre des caisses poussiéreuses» und den «mouches qui exécutaient devant moi, dans leur petit concert, comme la musique de chambre de l’été», die das helle und heiße Außen im Zimmer hörbar wer­ den lassen (ibid.). Der folgende Absatz konzentriert das Leseerlebnis des kühlen Raums: 121 De Man 1994: S. 92. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 45 Cette obscure fraîcheur de ma chambre était au plein soleil de la rue ce que l’ombre est au rayon, c’est-à-dire aussi lumineuse que lui et offrait à mon imagination le spectacle total de l’été dont mes sens, si j’avais été en promenade, n’auraient pu jouir que par morceaux (ibid.). Im kühlen, dunklen Zimmer scheint sich das gelesene «spectacle» zu entfal­ ten; die Sommerszenerie, die hier in ihrer imaginierten Visualität in einer Kohärenz auftritt, während die optisch erfasste sommerliche Realität (etwa auf Spaziergängen) immer nur in Bruchstücken erfahrbar ist. Bereits hier beginnt das «Relaissystem»122 von Innen und Außen zu arbeiten, das ima­ ginierte und optisch erfasste Visualität in ein Wechselspiel eigenartigen Eigenschaftsaustauschs setzt. Wie in der Gegenüberstellung von Wahrnehmungs- und Vorstellungs­ bildern festgehalten wurde, ist das visuelle Spektakel einer Lektüre charak­ teristischerweise von Fragmenten geprägt, die sich im Lesefluss stets neu konfigurieren – hier sind die «morceaux» der Wahrnehmung dagegen der Außenwelt zugeordnet, während Vollständigkeit zum Charakteristikum der Lesebilder mutiert. Zudem spielen sich die Bilder, die doch im Gegen­ satz zu den optischen Eindrücken rein innerlich sind, im Außenraum ab, nicht etwa in moi-même, sondern in «ma chambre», die zwar im Kontrast zum Sommerspektakel der Wirklichkeit als Innenraum auftritt, in Bezug auf visuelle Wahrnehmung doch wahrnehmbarer Außenraum bleibt. Erst durch die Verschmelzung mit den Eindrücken der Lektüre wird er zum Innenraum, wobei gleichzeitig eine Veräußerlichung der Lesebilder in Kraft tritt, die mit der chambre verschmelzen. Die innere und äußere Visualität durchdringt sich in ähnlicher Weise wie sich das Dunkel und Hell von eigenem Zimmer und Außenwelt durch­ dringen in einem chiaroscuro, wie de Man es nennt.123 Dies geschieht nicht etwa unter der Prämisse einer flüchtigen Impres­ sion, sondern ganz im Gegenteil unter einer argumentativen pseudo-logi­ schen Schlussfolgerung: Tatsächlich wirkt das «c’est­à­dire» bei einem ers­ ten Lesen überzeugend – obgleich l’ombre und rayon keinesfalls in gleicher Weise «lumineuse» sind124. Die Umstände der körperlichen Immobilität im dunklen Raum, aus der heraus die Lesebilder rezipiert werden, hatte Metz als entscheidende 122 De Man 1994: S. 94. 123 Ibid.: S. 96. 124 Zur näheren Betrachtung der Hell­Dunkel­Metaphorik cf. Kapitel «3.2.2.3 Licht und Dunkelheit»: S. 87 ff. 46 Zum récit Faktoren der «situation filmique» ausgemacht.125 Diese Situation wird erneut aufgesucht, als der Erzähler auf die Bitte der Großmutter hin in den Garten tritt und sich dort unter dem Kastanienbaum niederlässt, der ihn – wie ein Kinosaal  – in Dunkelheit hüllt und vor fremden Blicken schützt (RTP I: S. 83). Dort reflektiert er, immer noch im Kontext der Lesepassage, die Unzulänglichkeit des Sehsinns mit folgenden Worten: Quand je voyais un objet extérieur, la conscience que je le voyais restait entre moi et lui, le bordait d’un mince liséré spirituel qui m’empê­ chait de jamais toucher directement sa matière; elle se volatilisait en quelque sorte avant que je prisse contact avec elle, comme un corps incandescent qu’on approche d’un objet mouillé ne touche pas son humidité parce qu’il se fait toujours précéder d’une zone d’évapora­ tion (RTP I: S. 84, Hervorhebung der Verf.). Es ist demnach das Bewusstsein um das Sehen, das ein optisches Erfassen äußerer Objekte unmöglich macht. Anstatt nun jedoch den Gegensatz zur inneren Visualisierung der Lektürebilder aufzubauen, beschreibt der Erzäh­ ler diese ihrerseits als Veräußerlichte: Im visuellen Leseerlebnis projiziert das Bewusstsein Inneres auf eine Art Leinwand (!) – «Dans l’espèce d’écran diapré». (ibid.) Somit wird der Unterschied zwischen Lesebild und Wahrnehmungsbild unterminiert – in der Projektion wird das Lesebild zumindest metaphorisch zum Wahrnehmungsbild. Zur körperlichen Immobilität, zum dunklen Raum tritt nun noch das Moment der Leinwand. Vor bzw. auf dieser ersetzt das Bewusstsein die vor­ malige innere Einheit des wahrnehmenden Ich durch die Entfaltung seiner verschiedenen Zustände (d’états différents) in Gleichzeitigkeit und öffnet dabei Verborgenstes in die optische Wahrnehmung des Außenraums («qui allaient des aspirations les plus profondément cachées en moi-même jusqu’à la vision tout extérieure de l’horizon que j’avais, au bout du jardin, sous les yeux», ibid.). Im Lesen gelingt die Versöhnung von Außen und Innen durch die Pro­ jektion auf eine Leinwand, die den Innenraum in Außenraum verwandelt. Damit entpuppt sich die visuelle Gestalt des Innenraums als so heterogen wie die des Außenraums selbst – der Gegensatz wird vollständig dekons­ truiert. Auch die Gegensätze von Stillstand und Bewegung, die die beiden Räume kennzeichneten, sind aufgehoben in den «incessants mouvements du dedans au dehors, vers la découverte de la vérité», ja die Aktivität des 125 Cf. Metz 1975: S. 108. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 47 Außenraums wird sogar überboten durch «l’action à laquelle je prenais part, car ces après-midi-là étaient plus remplis d’événements dramatiques que ne l’est souvent toute une vie.» (ibid.) Außen und Innen stellen relative Größen zwischen visueller Imagi­ nation und Wahrnehmung dar: Die gelesene Landschaft befindet sich so im Vergleich zu den Figuren bereits in einem halb­außerkörperlichen Projektionsbereich: Déjà moins intérieur à mon corps que cette vie des personnages, venait ensuite, à demi projeté devant moi, le paysage où se déroulait l’action et qui exerçait sur ma pensée une bien plus grande influence que l’autre, que celui que j’avais sous les yeux quand je les levais du livre (RTP I: S. 86). So wie es mit der ersten Kinopoetik von Raoul Ruiz festgestellt wurde, geht hier die Dekonstruktion der Unterscheidung von optischer Wahrnehmung und Vorstellung mit einer Raumkonstitution einher, indem die Eigenprojek­ tion und Wahrnehmung, trotz Bindung an die Leinwand, in einen scheinbar kohärenten Raum gefasst werden, der Außen und Innen verbindet. Gerade in diesem Kontext war Schlöndorff auf den Begriff der «image» gestoßen,126 und zwar im Kontext des prinzipiell nicht visuellen Bereichs der Gefühle: Mais tous les sentiments que nous font éprouver la joie ou l’infortune d’un personnage réel ne se produisent en nous que par l’intermédiaire d’une image de cette joie ou de cette infortune (RTP I: S. 85). Die anschließende Passage baut diesen Gedanken aus als «trouvaille» (ibid.) des Romanciers, der verstanden hat, dass nur die «images», nicht die «per­ sonnages réels» von Belang sind. Doch ist diese image kein reines Wahrneh­ mungsbild, sondern als Veräußerlichung bzw. Figuration des inneren páthos zu verstehen: In den Termini der psychoanalytischen Kinotheorie fasst der Text die Bildlichkeit der Lektüre als einen hellen Traum.127 […] mais d’un rêve plus clair que ceux que nous avons en dormant et dont le souvenir durera davantage (ibid.). 126 Cf. Schlöndorff 1984: S. 179. 127 Näheres cf. Kapitel «3.2.2.1 Zur transmedialen Form des rêve éveillé»: S. 67ff. 48 Zum récit Die weitere Beschreibung der Lesebilder zielt auf die Konzentration von Gefühlen ab, die ebenfalls auf das Filmerlebnis übertragbar sind: […] voici qu’il déchaîne en nous pendant une heure tous les bonheurs et tous les malheurs possibles dont nous mettrions dans la vie des années à connaître quelques-uns, et dont les plus intenses ne nous seraient jamais révélés parce que la lenteur avec laquelle ils se pro­ duisent nous en ôte la perception (ibid.). Diese extreme Konzentration von Lebenszeit in eine Stunde des Lesens entsteht durch einen Ersatz des Selbst durch die fiktive Person  – es ist diese Identifikation des Lesers, die wie die sogenannte «Immersion»128 des Zuschauers funktioniert: Beaux après-midi du dimanche sous le marronnier du jardin de Com­ bray, soigneusement vidés par moi des incidents médiocres de mon existence personnelle que j’y avais remplacée par une vie d’aventures et d’aspirations étranges au sein d’un pays arrosé d’eaux vives […] (LTR: S. 88). Baudry vergleicht die Situation des Filmsehens mit der des lacanschen «stade du miroir», einer Regression, in der das infantile Ich wachgerufen wird, für das die gesamte Welt noch eine unfragmentierte Einheit darstellt und das sich an seinem Spiegelbild erfreut, ohne es zu erkennen.129 Metz betont später die Aussparung des Zuschauerkörpers gegenüber der Leinwand und sieht darin den Schlüssel für den rauschartigen Zustand, den diese Identi­ fikation beim Zuschauer auslöst, der nicht am Wahrgenommenen beteiligt ist, jedoch alles wahrnimmt.130 Die hier beschriebene Ersetzung der per­ sönlichen Existenz (mon existence personnelle que j’y avais remplacée) durch den Protagonisten bzw. noch unmittelbarer durch die erzählende Instanz der Kamera, mit der der eigene Blick verschmilzt, gehört zum empirischen Erfahrungsschatz jedes Kinogängers. Wer fühlte sich bei einer solchen Ein­ stellung nicht persönlich bedroht (Abb. 3.7)? 128 «Immersion ist eine Form des Erlebens, die einem Eintauchen in virtuelle Realitä­ ten entspricht» (Mikos 2003: S. 174). 129 Cf. Baudry 1970; Lacan 1999a: S. 170–174. 130 Metz 1977: S. 65. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 49 Abb. 3.7 Nosferatu – Phantom der Nacht (Herzog 1979). Christian Metz vergleicht das Sehen der Filmbilder mit einer hallucination paradoxale: […] hallucination par la tendance à confondre des niveaux de réalité distinct, par un léger flottement temporaire dans le jeu de l’épreuve de réalité en tant que fonction du Moi, et paradoxale parce qu’il lui manque ce caractère, propre à l’hallucination véritable, de produc­ tion psychique intégralement endogène: le sujet, pour le coup, a hal­ luciné ce qui était vraiment là […].131 Dabei betont der Erzähler die Synthese von körperlicher Immobilität und erzählter Aktivität: Et ainsi elle [cette obscure fraîcheur] s’accordait bien à mon repos qui (grâce aux aventures racontées par mes livres et qui venaient l’émouvoir) supportait, pareil au repos d’une main immobile au milieu d’une eau courante, le choc et l’animation d’un torrent d’acti­ vité (RTP I: S. 83). 131 Metz 1975: S. 110. 50 Zum récit Diese Passage wird in Bezug auf ihre Zeitlichkeit wieder aufgenommen, wenn der Erzähler fünf Seiten später die Nachmittage der Lektüre mit den Worten anruft: Beaux après-midi du dimanche  […], vous m’évoquez encore cette vie quand je pense à vous et vous la contenez en effet pour l’avoir peu à peu contournée et enclose – tandis que je progressais dans ma lecture et que tombait la chaleur du jour – dans le cristal successif, lentement changeant et traversé de feuillages, de vos heures silen­ cieuses, sonores, odorantes et limpides (RTP I: S. 88). Wie im Bild der stillstehenden Hand inmitten des reißenden Flusses werden hier zwei entgegengesetzte Zeitformen vereint, die eine von dem Glockenschlag der Kirche unberührte (ibid.) Zeitwahrnehmung fas­ sen: der Stillstand des cristal und die langsame Veränderung (lentement changeant). Deleuze wird später das Bild des Kristalls als Zeitbild des modernen Films aufgreifen, in dem der gefrorene Stillstand wechselseitiger Spiegelun­ gen aktueller und virtueller Bilder dem reinen Bewegungsbild entgegentritt. Im «cristal successif, lentement changeant» der proustschen Beschreibung von Lesebildern liegt, so hier die These, in ihrem gegenseitigen Durch­ dringen von aktuell visuell Präsentem und virtuell Imaginiertem, von der Spiegelung der Gegensätze von Außen und Innen in Kontrastierung oder Nivellierung sowie in der Versöhnung von Stillstand und Bewegung eine Vorahnung dieser filmbildlichen Beschreibung. Ruiz inszeniert im Vorspann des Films das fließende Wasser der Vivonne (Seq. 3.2). Auf den ersten Blick scheint der Fluss von einer Kamerafahrt begleitet zu werden. Bei genauer Betrachtung erweist sich der Bildausschnitt jedoch als statisch; die kaum fassbare Bewegungsrichtung (der Fluss scheint seine Fließrichtung umzukehren) rührt von den Drehansätzen der Kamera her, die das plätschernde Wasser in einen wilden Strom verwandeln. Hier wirken die Prinzipien der fascination und distanciation in ähnlicher Weise, wie der Erzähler gegen Ende der Recherche im Programm der projek­ tierten Romanbildlichkeit beschreibt: Mais enfin, je pourrais, à la rigueur, dans la transcription plus exacte que je m’efforcerais de donner, ne pas changer la place des sons, m’abstenir de les détacher de leur cause, à côté de laquelle l’intelli­ gence les situe après coup, bien que faire chanter doucement la pluie au milieu de la chambre et tomber en déluge dans la cour l’ébulli­ tion de notre tisane dût pas être en somme plus déconcertant que ce Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 51 Seq. 3.2 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609746) Fluss der Zeit (0:00:19–0:01:49). qu’ont fait si souvent les peintres quand ils peignent, très près ou très loin de nous, selon que les lois de la perspective, l’intensité des cou­ leurs et la première illusion du regard nous les font apparaître, une voile ou un pic que le raisonnement déplacera ensuite de distances quelquefois énormes (LTR III: S. 1045). Die «illusion du regard» und der «raisonnement» ergänzen und widerspre­ chen sich in der Recherche sowohl in der Reflexion von Bildbetrachtung als auch in der von Lektüre, die im Subtext jede differenzierende Kategorisie­ rung von Vorstellungs­ und Wahrnehmungsbildern unterminiert. Dort wird den Vorstellungsbildern in der graduellen Veräußerlichung von Projektionen der Figuren und Landschaftsbilder auf die «espèce d’écran diapré» (RTP  I: S.  84) die Wirklichkeit von Wahrnehmungsbildern zuteil. Während die optische Wahrnehmung als bruchstückhaft («que par mor­ ceaux») und «opaque» (RTP  I: S. 85) beschrieben wird, wirkt das Lesebild dagegen als «spectacle total» – von blinden Flecken keine Spur. Die Flüchtigkeit und Unfassbarkeit, die anfangs als Charakteristikum von Vorstellungsbildern ausgemacht wurde, die sich einer genauen Betrachtung sperren, erweist sich in Prousts Recherche als Kennzeichen der bewussten, optischen Wahrnehmung, die das erblickte Objekt in eine «zone d’évapora­ tion» hüllt. Die literarische Landschaftsbeschreibung erhält in der halb­veräußer­ lichten Projektion auf eine Leinwand dagegen die Eigenschaft eines 52 Zum récit Kunstbildes, im Detail auf seine Ästhetik befragbar zu sein. Damit erfährt sie auch jene «Steigerung von Wirklichkeit», die Böhme für das Bild aus­ macht.132 Diese Steigerung von Wirklichkeit liest sich bei Proust als Allegorie: […] ils me semblaient être – impression que ne me donnait guère le pays où je me trouvais, et surtout notre jardin, produit sans pres­ tige de la correcte fantaisie du jardinier que méprisait ma grand- mère – une part véritable de la Nature elle-même, digne d’être étudiée et approfondie (RTP I: S. 86, Hervorhebung der Verf.). Wenn die Lesebilder im Kontext einer umfassenden hermeneutischen Aporie zwischen hell und dunkel, innen und außen, Stillstand und Bewe­ gung schwanken, spielt er nicht die Kategorien von äußerer Wahrneh­ mung und innerem Phantasma gegeneinander aus, sondern lässt sie als Wechselspiel erscheinen. «La vérité résiderait alors dans le processus, dans le passage d’un état à un autre», schreibt Ruiz in seiner zweiten Poetik.133 Wenn Ruiz in seiner filmischen Exposition mit den ersten Bildern auf die Schrift verweist und damit einen Zusammenhang zwischen den filmi­ schen Bildern und den Lesebildern suggeriert, kann er sich auf die Grund­ lage der literarisch reflektierten Lesebilder stützen, die, wie hier deut­ lich wurde, die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Vorstellung und optischer Wahrnehmung in chiastischen Kreuzungsverhältnissen aufbre­ chen. Uta Feltens Lesart der Recherche als Aufforderung an den Leser, «die Lektüre in einen inneren Film zu verwandeln»,134 die sich an der kamera­ analogen Beschreibung Albertines aufhängt, greift auch für die Reflexion der Lesebilder. 132 «Im Bild tritt die Realität mehr aus sich heraus, wird bestimmter, entschiede­ ner, prägnanter und in diesem Sinne auch wirklicher. Sie wird erst im Bild eigentlich etwas Bestimmtes aus der Fülle der mannigfaltigen Möglichkeiten, in denen sie sich zeigen kann und die zunächst unbestimmt diffus bleiben; sie wird erst im Bild eigent­ lich wirklich. In diesem Sinne kann man sagen; dass in der Tat die Wirklichkeit der Realität den Bildern geschuldet ist. Das unstillbare Begehren nach Bildern, von dem wir getrieben sind, erweist sich als ein Bedürfnis nach Wirklichkeit.» (Böhme 2004: S. 92 f.) 133 Ruiz 2006: S. 18. 134 Uta Felten bezieht diese Aufforderung auf kameraanaloge Erzählweise: «Die Beweglichkeit des fotografischen Apparats, seine Möglichkeiten, verschiedene Blick­ winkel und Einstellungen zu erproben, die Option, ein Sujet ferner oder näher zu rücken, haben Proust dazu verlockt, diese Techniken in das Medium der Literatur zu transponieren. So spielt der Erzähler – gleich einem Fotografen, oder man könnte auch sagen gleich einem Regisseur – mit verschiedenen Einstellungen auf den Körper seines Objekts der Begierde […]» (Felten 2005: S. 7 f.). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 53 «Der Körper ist die Quelle unserer Bilder», schreibt Belting in seiner Bild-Anthropologie.135 Die Lesepassage der Recherche führt auf diesen bildan­ thropologischen Ansatz, indem sich Wahrnehmung und imaginative Pro­ jektion komplementär ergänzen. Der ruizsche Vorspann stellt sich dar als ein komplexes intermedia­ les Geflecht von Perzeption und Imagination, indem er die Schriftbilder der Exposition eingangs von den Flussbildern des Vorspanns und aus­ gangs von einem weiteren bildreflexiven Einschub umklammert: Die oben beschriebene Diktat-Szene Prousts führt nicht direkt aus der Schrift in die filmbildliche Erinnerung, sondern über den Umweg der Betrachtung von Photographien. 3.2.2 Das photographische Bild In Ruiz’ Le Temps retrouvé lässt sich Proust Fotographien bringen, auf denen die Figuren (und damit auch die Schauspieler) abgebildet sind und vergrößert ihre Gesichter mit einer Lupe (Seq. 3.3). Auf der Tonspur wer­ den die Namen der Figuren gedämpft aus dem Off ausgerufen und führen Seq. 3.3 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609747) Proust mit Lupe (0:05:19–0:05:47). 135 Belting 2001b: S. 71. Mit den Worten der Recherche: «[…] puisque nous les avons faites nôtres, puisque c’est en nous qu’elles se produisent, qu’elles tiennent sous leur dépendance, tandis que nous tournons fiévreusement les pages du livre, la rapidité de notre respiration et l’intensité de notre regard?» (RTP I: S. 84). 54 Zum récit so bereits auditiv den visuell erst später wahrnehmbaren Salon der Soirée de Guermantes ein, als würden die Figuren, die Proust im Raum der Nie­ derschrift betrachtet, zeitgleich in einem parallelen Raum den Anwesenden vorgestellt. Auf einer weiteren Tonspur hört man in kurzen Ausschnitten die Stim­ men der Figuren, während Prousts Stimme aus dem Bildkader, als «occur­ rence liée d’un son»,136 als im Bildkader festzumachender Ton, die Namen deutlich und scheinbar gedankenversunken ausspricht. Metapoetischer kann eine filmische Exposition kaum sprechen: Der Zuschauer wird in Nah­ aufnahmen auf das Sehen und damit auf die Visualität des Films geführt, während die Tonspuren sich zu einer Collage versammeln, die verschie­ dene Zeiten und Räume fusionieren: Die gegenwärtig erscheinende Stimme Prousts, die vergangenen Worte der Figuren, die vergangene und filmisch zukünftige Vorstellung der Namen: Die Exposition deklariert von Beginn an eine Ästhetik des heautonomen Bildes.137 Diese Szene erweitert also die Aussage der Schriftbilder um ein film­ bildliches Statement: «the fiction film is narrative in the sense that it pre­ sents a story, but in contrast to literary fiction it communicates filmical­ ly»,138 wie Lothe es formuliert: Auch wenn die filmischen Bilder wie hier durch raumzeitliche Inkongruenzen von Bild und Ton oder wie im Vor­ spann durch das Moment des «doute visuel» der mentalen Verarbeitung einen besonderen Stellenwert zuweisen, geht damit keine Verleugnung des eigenen Mediums einher. Im Gegenteil demonstriert Ruiz hier, dass seine Filmbilder aus der fotobildlichen Wirklichkeit des Photogramms schöpfen, in der Kombination mit dem Ton jedoch zur multimedialen Hieroglyphe werden, deren Entzifferungsarbeit dem Zuschauer einen proeminenten Stellenwert zukommen lässt. Die Einführung in das intermediale Spiel über die geschriebenen Noti­ zen Prousts zum Betrachten der Photographien ergänzt die intermedi­ ale Reflexion um das photographische Bild als filmisches Ur-Element der 136 Die Unterscheidung von «occurrence liée d’un son» und «occurrences libres», die nicht dem visualisierten Raum entspricht, ist Jost entnommen (Gaudreault / J ost 1990: S. 97). 137 «Wir haben es nicht mehr, wie bei Rossellini, mit zwei autonomen Bestandteilen ein und desselben audiovisuellen Bildes zu tun, sondern mit zwei ‹heautonomen› Bildern, einem visuellen und einem akustischen Bild, die durch einen Spalt, einen Zwischen­ raum, einen irrationalen Schnitt voneinander getrennt sind» (Deleuze 1991b: S. 312). Die Unterscheidung Autonomie / H eautonomie entnimmt Deleuze Kant (cf. Kant 1974: S. 22). Für die Lyrik hatte Hofmann diese Form der Selbst-Gesetzgebung zum Paradigma der Moderne ausgerufen (Hofmann 1999). 138 Lothe 2000: S. 11. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 55 «primären oder inhärenten Intermedialität».139 Die photographische Kom­ ponente führt der Film sowohl über die Integration von Photographien aus, wie hier in der Exposition, als auch in der Ästhetik, in Form markierter Schwarz­Weiß­Inszenierungen oder der Integration photographischen Still­ stands in das bewegte Filmbild. Die Photographie – die kleinste Einheit filmischer Kommunikation – fungiert darüber hinaus wiederum als Konnektor zur in der Recher- che reflektierten Bildlichkeit: Proust selbst sammelte keine Gemälde, aber nahezu obsessiv Photographien. Hoog spricht von der «photomanie proustienne».140 In die literarische Erzählung finden autobiographische Fotos Eingang, wie etwa eine Momentaufnahme, die Céleste in der Schublade des Erzählers findet: «Et là, avec sa petite canne, il n’est que fourrures et dentelles, comme jamais prince n’a eu.»141 Augenzwinkernd schleust Ruiz die realen Photographien in die Welt der Fiktion. So lässt er seinen Protagonisten eine Photographie von Prousts Leib arzt aussortierten: «mais qu’est-ce qu’il fait-là, celui-là?» (Abb. 3.8). Abb. 3.8 Prousts Leibarzt (0:05:51). 139 Wolf 2004: S. 284. Der Übergang vom fotografischen zum Filmbild markiert diesen filmhistorischen Aspekt der Intermedialität. «Als die Fotos laufen lernten, entstand der Film» (Hoffmann 2003: S. 119). 140 Hoog 1975: S. 265; cf. grundlegend Brassaï 2001; auch Chevrier 1982, u. a. S. 79. 141 LTR II: S. 847–848; Cf. Thélot 2003: S. 208. 56 Zum récit In der filmisch inszenierten Photographiebetrachtung mit dem Vergrö­ ßerungsglas setzt Ruiz das photographische Bild in der Exposition in den Kontext der Erinnerungsthematik und spielt damit auf ein im 19. Jahrhun­ dert gebräuchliches Metaphernfeld an. Für die Recherche liegt tatsächlich die Versuchung nahe, mémoire volontaire (als fotografierte Erinnerung) und mémoire involontaire (als körperlich-emotionale Erinnerung) in kontrastiver Dualität zu fassen. Die hierfür immer wieder als Belege vorgebrachten photographiekritischen Reflexionen finden sich vornehmlich in der ältesten Textschicht des Romans (Combray und Le Temps retrouvé): J’essayais maintenant de tirer de ma mémoire d’autres ‹instantanés›, notamment des instantanés qu’elle avait pris à Venise, mais rien que ce mot me la rendait ennuyeuse comme une exposition de photogra­ phies, et je ne me sentais pas plus de goût, plus de talent, pour décrire maintenant ce que j’avais vu autrefois, qu’hier ce que j’observais d’un œil minutieux et morne, au moment même […] (RTP III: S. 865). Der «instantané», die Momentaufnahme des minutiös aufzeichnenden Auges, lässt die Erinnerung literarisch unfruchtbar werden: Barthes bezeichnet das Foto als «contre­souvenir»,142 da Fotos (auch die metapho­ rischen instantanés der Wahrnehmung) dem Erzähler nichts über die Ver­ gangenheit zu sagen vermögen: «les prétendus instantanés pris par ma mémoire ne m’avaient jamais rien dit».143 Manfred Schneider stellt die «Impression» der Photographie der Meta­ pher gegenüber und belegt diese als «kalte Schrift einer technischen Spei­ cherung», jene als «heiße Herzensschrift».144 142 «Non seulement la photo n’est jamais, en essence, un souvenir (dont l’expression grammaticale serait le parfait, alors que le temps de la photo, c’est plutôt l’aoriste), mais encore elle le bloque, devient très vite un contre-souvenir» (Barthes 1980: S. 145). 143 So umklammert der Erzähler die Erinnerungsepiphanie Venedigs, die durch die ungleichen Pflastersteine ausgelöst wurde, kontrastiv mit der Fruchtlosigkeit der foto­ grafischen Erinnerung («mais rien que ce mot [i.e. instantané] me la rendait ennuyeuse» (RTP III: S. 865); «les prétendus instantanés pris par ma mémoire ne m’avaient jamais rien dit» (RTP III: S. 867). 144 «Die Photographie ist die kontextlose Wahrnehmung par excellence» (Schneider 1986: S. 97). Cf. auch Spiegel: «The passage contrasts with two kinds of vision: the ordinary human kind, which participates in the apprehension of its object, as against the kind that see­ mingly does not – the vision of the photographic plate with its cold, blank, and indifferent gaze, which startles and ultimately disheartens Proust, and – we might add – in opposi­ tion to which, in an effort of awesome confutation and transcendence, he had erected the entire edifice of his artistic enterprise, Remembrance of Things Past» (Spiegel 1976: S. 85). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 57 Die jüngere Forschung hat sich von solchen abwertenden Passagen nicht abhalten lassen, nach dem photographischen Subtext der Recherche zu suchen. So deckte Albers den metaphorischen Gebrauch photographi­ schen Vokabulars auf; Verben wie fixer, poser, tirer, développer, clicher, révé- ler, enregistrer capturer, immobiliser, retoucher und Substantive wie superpo- sition, négatif, épreuve, cliché, chambre noire erfassen den gesamten Prozess der Bildentstehung: die Aufnahme, die Speicherung, die Entwicklung in der «inneren Dunkelkammer», in der «chambre noire intérieure»,145 die Fixie­ rung und schließlich die Betrachtung des entwickelten Bildes sind zudem Metaphern, die mit der schriftstellerischen Tätigkeit des Erzählers Paralle­ len aufweisen. Albers plädiert sogar dafür, den Erzähler mit der Rolle des Photographen zu identifizieren. Nicht zuletzt dadurch, dass Wahrnehmung und Erinnerung des Erzählers immer wieder charakterisiert werden, als würde er photo­ graphieren, könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass er selbst es ist, der die, abgesehen von Saint-Loup, eigentlich nicht existierende Photographenfigur des Romans darstellt.146 Mieke Bals vielbeachtete visuelle Lesart der Recherche wies darüber hinaus auf die ästhetische Komponente der «flatness of photography»147 hin, die in stetem Widerstreit mit der angestrebten Tiefe des Werks steht. Mathieu zeichnet dies als «écriture photographique»148 nach; Larkin liest unter die­ sem Aspekt eine Reihe literarischer Passagen neu.149 Die Passage in Le Côté de Guermantes, in der der Erzähler der Recher- che die okulare «Photographie» seiner lesenden Großmutter beschreibt, die sein Eintreten in den Salon nicht bemerkt, bezeichnet Albers als «Medienpastiche». 145 «Il en est des plaisirs comme des photographies. Ce qu’on prend en présence de l’être aimé n’est qu’un cliché négatif, on le développe plus tard, une fois chez soi, quand on a retrouvé à sa disposition cette chambre noire intérieure dont l’entrée est ‹condam­ née› tant qu’on voit du monde» (RTP II: S. 872). 146 Albers 2004: S. 205–239, hier S. 208. Zur fotografischen Inszenierung von Beschreibungen cf. auch Townsend 2008: S. 138 ff. 147 Bal 1997: S. 181 ff. 148 Mathieu 2009: S. 62. 149 Interessant ist in diesem Kontext vor allem ihre Neugewichtung der zeitlichen Ver­ schränkung: «the presence, in the present, of another present: the past», schreibt Larkin mit Poulet (Larkin 2011: S. 135). Cf. dazu grundlegend Barthes 1980. 58 Zum récit Ce qui, mécaniquement, se fit à ce moment dans mes yeux quand j’aper­ çus ma grand-mère, ce fut bien une photographie150 (RTP II: S. 140). Diese Aussage weist dem Bild den Charakter des photographischen Realis­ mus zu, der ohne Intervention jedwede Subjektivität abbildet, die das Licht vor der Kamera in die Platte eingeschrieben hat; hier wird also eine der onto­ logischen «Grundeigenschaften» aufgerufen, die im Verlauf der Geschichte der Photographie immer wieder genannt wurden. Es ist dies (neben dem sta­ tischen Charakter des photographischen Bildes) vor allem seine «Wirklich­ keit» repräsentierende und dokumentierende Funktion. Die Wirklichkeit des photographischen «automatischen Bildes»151 vermittelt durch die Technik, mit der sie sich selbst zu verdoppeln scheint, einen Eindruck von Objektivität. Während zwischen einem Gemälde und dem in ihm dargestellten Objekt eine Ähnlichkeitsbeziehung bestehen kann, so behauptet etwa Bras­ saï für das Verhältnis des photographischen Bildes und des photographier­ ten Gegenstandes eine «Repräsentation», die an Identität grenzt. La Photographie est l’émanation du sujet même, son impression sur une plaque sensible.152 Diese Idee des «photographischen Realismus» fand zahlreiche namhafte Anhänger wie Susan Sontag (1977), Stanley Cavell (1979), Roger Scruton (1983) und Kendali Walton (1984) oder Roland Barthes (1980)153. Als Kracauer die metaphorisch-photographische Großmutterbetrachtung zum Einstieg in seine Filmtheorie machte, schlussfolgerte er, für Proust solle ein Photograph die größtmögliche Objektivität an den Tag legen.154 Film als Erweiterung der Photographie ist für Kracauer ebenso Medium der objekti­ ven Wiedergabe der sichtbaren Welt,155 hat dabei jedoch nicht nur einen wie­ 150 Das Abrufen der Textpassage in voller Länge ist über den Link des Quellenhinwei­ ses möglich. 151 «Ein Foto zeigt uns die Dinge, so wie sie sind, und zwar deshalb, weil Fotos automa­ tische Bilder sind, d. h. solche, die die Dinge selbst produzieren», Böhme 2004: S. 112. 152 Brassaï 1997: S. 110. So auch der frühe Bazin: «La peinture s’efforçait en vain de faire illusion, et cette illusion suffisait à l’art, tandis que la photographie et le cinéma sont des découvertes qui satisfont définitivement et dans son essence même l’obsession du réalisme» (Bazin 2002: S. 12). 153 Sontag 2011; Cavell 1979 bzw. Cavell 2001: S. 143–170; Scruton 2010 (1983), S. 138–166; Barthes 1980 (2002), Carroll 2005: S. 157. 154 Kracauer 1997: S. 14 ff. 155 «As an extension of photography, film shares the latter’s concern for nature in the raw.» (Kracauer 1997: S. 68). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 59 dergebenden, sondern gleichzeitig auch einen enthüllenden Effekt, da er die äußere Wirklichkeit präziser darbiete, als es die menschliche Wahrnehmung vermöge. Das Ziel der größtmöglichen Realitätstreue ist schwer mit dem lite­ rarischen Konzept zu vereinbaren, in dem es heißt: C’est ce mensonge­là qui ne ferait que reproduire un art soi­di­ sant «  vécu  », simple comme la vie, sans beauté, double emploi si ennuyeux et si vain avec ce que nos yeux voient et ce que notre intel­ ligence constate […] (RTP III: S. 895). Was im «Medienpastiche» verhandelt wird, ist dagegen keine Reproduktion dessen, was Augen und Verstand bemerken, sondern zeichnet sich gerade durch die Abwesenheit der körperlichen Wahrnehmung aus, die durch das photographische Objektiv ersetzt wird und damit den Blick verstört. […] ce privilège qui ne dure pas et où nous avons, pendant le court instant du retour, la faculté d’assister brusquement à notre propre absence (RTP II: S. 140). Körperliche Abwesenheit und körperliche Anwesenheit stehen sich in die­ ser Situation ergänzend gegenüber. Der Erzähler ist nicht nur «Photogra­ phenfigur» (Albers), sondern gleichzeitig Betrachter dieser Photographie, die er reflektierend als «vraie vie»156 entwickelt. Kracauer schreibt: «The ideal photographer  […] is identical with the camera lens.»157 – gerade das ist im Moment der beschriebenen Wahrneh­ mung jedoch nicht der Fall. Vielmehr erkennt der Wahrnehmende die Dif­ ferenz zwischen der eigenen und der (fremden) Kamerawahrnehmung, die so als grundlegende Verfremdung ans Tageslicht tritt: Photography, Proust has it, is a product of complete alienation (ibid.). 156 «La vraie vie, la vie enfin découverte et éclaircie, la seule vie par conséquent plei­ nement vécue, c’est la littérature. Cette vie qui […] habite […] chez tous les hommes […]. Mais ils ne la voient pas […]. Et ainsi leur passé est encombré d’innombrables clichés qui restent inutiles parce que l’intelligence ne les a pas ‹développés›, heißt es in Le Temps retrouvé (RTP III: S. 895). Chevrier weist auf die zeitliche Problematik dieser Gleichzeitigkeit hin: «Proust con- struit une extraordinaire fiction en imaginant l’œil capable de voir au moment même ce que l’appareil enregistre, alors que celui-ci retient précisément ce qui est invisible à l’œil nu» (Chevrier 1982: S. 66). Das im Prozess Begriffene liegt bereits als Produkt vor, die Parallele zur narration der Recherche ist offensichtlich. 157 Kracauer 1997: S. 15. 60 Zum récit Erst über die Distanz zu diesem verfremdeten Blick wird der Blick der habi- tude reflektierbar, der in hermeneutischer Bewegung die äußere Wahrneh­ mung dem innerlichen páthos angleicht: Nous ne voyons jamais les êtres chéris que dans le système animé, le mouvement perpétuel de notre incessante tendresse, laquelle, avant de laisser les images que nous présente leur visage arriver jusqu’à nous, les prend dans son tourbillon, les rejette sur l’idée que nous nous faisons d’eux depuis toujours, les fait adhérer à elle, coïncider avec elle (RTP II: S. 140). Die mentale Großmutterphotographie zielt weniger auf die Produktion eines photographischen Aktes ab als auf die Rezeptionssituation eines pho­ tographischen Bildes, die zu einer Reflexion des Sehens führt. Wenn Ruiz in seiner zweiten Poetik die Kategorien der fascination und distanciation umreißt, zieht er als Beispiel einen Streit heran, in dem es einen unbeteiligten Beobachter gibt, der nicht in das Geschehen eingreift: Arbitre, certainement pas; peut-être témoin passif ou, et c’est plus inquiétant, témoin actif.158 Die Aktivität des beobachtenden Zeugen besteht jedoch nicht in der Aktion, sondern in der Reflexion. Ähnlich verhält sich der Erzähler vor der menta­ len Photographie: Er interagiert nicht mit der betrachteten Person, sondern reflektiert aus der Distanz das habituelle Sehen, das im Kontrast zur gegen­ wärtigen Wahrnehmung zu Tage tritt. In dieser Distanzierung entlarvt er das gewöhnliche, unreflektierte Sehen als «nécromancie» und das Gesicht der geliebten Betrachteten als «miroir du passé», der das gegenwärtige Bild nicht wahrnimmt, sondern immer nur auf eine bereits fest etablierte Idee der Betrachteten verweist: Comment, puisque le front, les joues de ma grand­mère, je leur faisais signifier ce qu’il y avait de plus délicat et de plus permanent dans son esprit, comment, puisque tout regard habituel est une nécromancie et chaque visage qu’on aime le miroir du passé, comment n’en eussé-je pas omis ce qui en elle avait pu s’alourdir et changer, alors que, même dans les spectacles les plus indifférents de la vie, notre œil, chargé de pensée, néglige, comme ferait une tragédie classique, toutes les 158 Ruiz 2006: S. 35. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 61 images qui ne concourent pas à l’action et ne retient que celles qui peuvent en rendre intelligible le but? (RTP II: S. 140 f.). Das Bild, das nur auf die eigene Innerlichkeit zurückzuführen ist, ist genauso tot wie das rein realistische, das der eigenen Innerlichkeit entbehrt; erst die Juxtaposition der beiden Wahrnehmungsformen hat den Wirklich­ keit «enthüllenden» Effekt. Deleuze entwickelt in seinem zweiten Kino­Band l’image-temps das Hya­ lozeichen des modernen Films, in dem das aktuelle Bild mit dem eigenen vir­ tuellen in Beziehung tritt –«es verdoppelt sich, verzweigt sich, widerspricht sich»159 –, und nennt diese Art von Zeichen ebenfalls «Spiegel der Zeit»160. Doch impliziert dieser Spiegel eine duale Zeit: Er vereint den hier etablierten «miroir du passé» mit der Präsenz des filmischen Bildes zu einer zeitlichen Durchlässigkeit und Kopräsenz von aktuellem und virtuellem Bild. Tatsächlich handelt es sich im Eindruck der metaphorischen Photo­ graphie nicht um ein barthesches «ça a été», sondern um ein filmisches «c’est» als (erinnerte) Gegenwart, das die virtuellen Zeiten der antizipierten Zukunft (Tod der Großmutter) und der Vergangenheit impliziert. Die Passage oszilliert dabei zwischen photographischer und filmischer Wahrnehmung; die Momentaufnahme der Großmutter wird mit der Auf­ nahme einer Szene analogisiert: Mais qu’au lieu de notre œil ce soit un objectif purement matériel, une plaque photographique, qui ait regardé, alors ce que nous verrons, par exemple dans la cour de l’Institut, au lieu de la sortie d’un aca­ démicien qui veut appeler un fiacre, ce sera sa titubation, ses précau­ tions pour ne pas tomber en arrière, la parabole de sa chute, comme s’il était ivre ou que le sol fût couvert de verglas (RTP II: S. 141). Wie Wood festgestellt hat, ist pellicule sowohl als Film im Fotoapparat wie in der Filmkamera gebräuchlich: […] the double possibility is intriguing. Finally the image of the grandmother is there for an instant before it disappears as the moving image does and the still image doesn’t.161 159 Deleuze 1991b: S. 349. 160 Deleuze 1991b: S. 350. 161 Wood 2009: S. 109. 62 Zum récit Das flüchtige Bild der Großmutter erfüllt seine enthüllende Funktion über die in der Distanzierung bewusste Verfremdung des «objectif». Sie benötigt die Instanz des Wahrnehmenden, der als «témoin actif» das gegenwärtige «Wahrnehmungsbild» und die vergangenen Vorstellungsbilder relationiert; so wird der Raum der Zeit sichtbar: […] tout d’un coup, dans notre salon qui faisait partie d’un monde nouveau, celui du Temps, celui où vivent les étrangers dont on dit « il vieillit bien », pour la première fois et seulement pour un instant car elle disparut bien vite, j’aperçus […] une vieille femme accablée que je ne connaissais pas (RTP II: S. 141). Im Gegensatz zu Kracauers Darstellung liegt der enthüllende Effekt nicht in einer Selbigkeits- oder Ähnlichkeitsbeziehung zur Wirklichkeit, sondern in der Feststellung, dass es sich im photographisch­entfremdeten Objekt und dem liebevoll erinnerten um ein und dasselbe handelt. Diese Erkenntnis, das Selbe im Anderen zu erkennen, erfolgt über die Verstörung des Blicks, die den Blick zweiteilt, in das (Wahrnehmungs-)Bild der Kamera und das (Vorstellungs-)Bild der Erinnerung, und über diesen konstitutiven Bruch hinweg eine Einheit etabliert. Damit erweist sich die Betrachtung der Pho­ tographie nicht etwa als das Gegenstück der , sondern vielmehr als deren aisthetisches Pendant. Gerade die in der Großmutterphotographie etablierte Juxtaposition von Wahrnehmung und Vorstellung bezeichnet Kracauer allerdings als unver­ filmbar. Kracauer verweist auf die Passage, in der Marcel in seinem Pariser Bett die Marktschreier der Straße wahrnimmt, die ihn in ihrer Rhythmi­ zität an gregorianische Gesänge erinnern. Hier erzeugt der Erzähler eine Kontinuität zweier diskontinuierlicher Räume und Zeiten, die nach Kra­ cauer nicht filmisch umsetzbar ist: So the adapter is in a dilemma. If he features the vendors and their cries he stands little chance of incorporating organically the memo­ ries with which they are interwoven; and if he wants to highlight the latter he is heading for uncinematic elaborations which of necessity relegate the street and its noises to the background. Any attempt to convert the mental continuum of the novel into camera­life appears to be hopelessly doomed.162 162 Kracauer 1997: S. 237–238. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 63 Wie in der kurzen Abhandlung seiner Kinopoetik deutlich wurde, entwirft Ruiz das Sehen im Kinodispositiv als Zusammenspiel von (wahrnehmungs­ bildlicher) Rezeption und (vorstellungsbildlicher) Projektion  – die «unci­ nematic elaborations» sind demnach gerade Kennzeichen dieser Form von Filmrezeption. Indem Ruiz die Photographiebetrachtung seines Proust im Off von den im Salon des bal de têtes163 ausgerufenen Namen der Figuren begleitet, ver­ setzt er diese filmische Wahrnehmungssituation in die Diegese: Die Erin­ nerung, die das photographische Bild wachruft, eröffnet so einen zunächst rein mental vorhandenen weiteren Raum, der nicht mit dem gezeigten über­ einstimmt. Es ist der Raum des bal de têtes, in dem das Schlüsselereignis aus Le Temps retrouvé stattfindet, das den Entschluss des Romanprojekts reifen lässt. Die literarische Beschreibung dieser Passage weist auffällige Paralle­ len zu der Beschreibung der Großmutterphotographie auf: M. d’Argencourt, «tellement une autre personne» (RTP III: S. 922), erscheint als «personnage si ineffablement grimaçant, comique et blanc» (RTP III: S. 922); die Großmut­ ter als «rouge, lourde et vulgaire, malade, rêvassant, promenant au­dessus d’un livre des yeux un peu fous, une vieille femme accablée» (RTP II: S. 141); «des vieillards fantoches» treten auf dem bal de têtes auf (RTP III: S. 924), die Großmutter ist ein «fantôme» (RTP II: S. 141). In beiden Passagen, in denen Le Temps sichtbar wird, montiert der témoin actif vergangene und gegenwärtige Bilder: Parfois pourtant l’ancienne image renaissait assez précise pour que je puisse essayer une confrontation; et comme un témoin mis en pré­ sence d’un inculpé qu’il a vu, j’étais forcé, tant la différence était grande, de dire: « Non… je ne la reconnais pas » (RTP III: S. 931). Ruiz inszeniert die Dualität von gegenwärtiger Wahrnehmung und Vor­ stellung der Vergangenheit wörtlich im personalen Austausch Gilbertes (Seq. 3.4): Hier ersetzt Raymonde Bronstein Emmanuelle Béart. Obwohl die Stimme der jungen Besetzung eine Einheit gewährleistet, erkennt der Pro­ tagonist Gilberte ebenso wenig wieder wie seine Großmutter im Moment der mentalen Photographie (RTP  II: S. 141). Für den bal de têtes formuliert der Erzähler: 163 Der Ausdruck entstammt den Cahiers, die in den Jahren 1909 / 1 910 als Entwurf für Le Temps retrouvé verfasst wurden: «je reconnaissais bien tout le monde mais comme dans un rêve, ou dans un bal ‹de têtes›». Nachzulesen in den Esquisse XLI, die in der 4-bändigen Ausgabe der Pléiade veröffentlicht wurden (Proust 1989: S. 874). 64 Zum récit En effet, « reconnaître » quelqu’un, et plus encore, après n’avoir pas pu le reconnaître, l’identifier,  […] c’est avoir à percer un mys­ tère presque aussi troublant que celui de la mort dont il est, du reste, comme la préface et l’annonciateur (RTP III: S. 939). Seq. 3.4 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609748) Das Alter im Bild, die Jugend in der Tonspur (2:07:23–2:07:41). Auf dem bal de têtes wie in der Großmutterphotographie («La mort nous fût révélée», RTP II: S. 141) verweist le Temps als Zukunft auf den Tod.164 Diese «Enthüllung» wird in beiden Fällen über die mediale Verfremdung geführt, die mit in den Blick einbezogen wird. Die Matinée enthält ebenfalls den Vergleich zur Photographie («ils avai­ ent l’air d’être définitivement devenus d’immutables instantanés d’eux-mê­ mes», RTP III: S. 940 f.). Dieser Vergleich wird ausgebaut über das Moment der eingenommenen Pose («une de ces expressions fugitives qu’on prend pour une seconde de pose», RTP III: S. 940), zielt letztendlich jedoch nicht auf das Medium der Photographie ab, sondern auf das des Theaters. So fin­ det der «bal costumé» (RTP III: S. 923) in «coulisses du théâtre» (ibid.) statt, auf dem die Schauspieler gepuderte Perücken und falsche Bärte (RTP  III: S. 920) tragen und ihre Rolle mehr oder weniger gut verkörpern: Sie spielen diese wie «grands acteurs» (RTP III: S. 921). M. de Charlus spielt den König Lear (RTP III: S. 922), M. d’Argencourt den «moribond bouffe d’un Regnard exagéré par Labiche» (ibid.), «comme un acteur qui rentre une dernière fois 164 Chirol spricht von einem Totentanz: «La danse macabre» (Chirol 2001: S. 91). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 65 sur la scène avant que le rideau tombe tout à fait au milieu des éclats de rire.» (RTP III: S. 923) In der Beschreibung des Schauspiels des bal de têtes wird das Moment der entfremdend automatisch­distanzierten Betrachtung ergänzt durch einen traumhaft­substitutiven Charakter der Darstellung: […] l’aspect de ces personnes qui donnait l’idée de personnes de songe (RTP III: S. 973). Der Bruch der habituellen Sehgewohnheiten geht einher mit einem Bruch der fascination der Schauspielbetrachtung. Hier deckt der aktive Zeuge in der distanciation die Metaebene des Schauspiels auf; die Kostümierung und Selbstinszenierung. Wie die Filmwahrnehmung und die Wahrnehmung der Lektüre gleicht die Betrachtung der Wirklichkeit einem hellen Traum, einem Zwischen­ stadium zwischen Traum und Wachzustand, indem die Immersion und das Wissen um das Fingieren des Wahrgenommenen, Schein und Sein Hand in Hand gehen: Le Narrateur (et les lecteurs) du Temps retrouvé sont comme les enfants au spectacle: on sait qu’il y a un truc mais on y croit.165 Im photographiebildlichen Schauspiel  – dem Film  – entwickelt Ruiz die Interaktion der beiden Medien als hintergründiges Spiel, indem er die Vor­ stellung der Protagonisten aus den Photographien entwickelt, die Proust mit einem Vergrößerungsglas betrachtet. Diese Inszenierung, die auf keine literarische Passage zurückzuführen ist, spielt möglicherweise indirekt auf Kracauer an, der auf die «Natur des Films» verwiesen hatte, die darin bestünde, «mikrologische[…] Konfigurationen» auszudrücken, die er auch bei Proust findet.166 165 Benhaïm 2009: S. 67. 166 «Incidentally, the very ideas and impulses responsible for the rise of film have also left their imprint on Proust’s novel. This would account for its parallels with film – espe­ cially the sustained use Proust makes in it with the close-up. In truly cinematic fashion, he magnifies throughout the smallest elements or cells of reality, as if prompted by a desire to identify them as the source and seat of the explosive forces which make up life» (Kracauer 1997: S. 50). Ein erstaunliches Statement, heißt es in der Recherche doch: «Bientôt je pus montrer quelques esquisses. Personne n’y comprit rien. Même ceux qui furent favorables à ma perception des vérités que je voulais ensuite graver dans le temple, me félicitèrent les avoir découvertes au ‹microscope›, quand je m’étais au contraire servi d’un télescope pour apercevoir des choses, très petites en effets, mais parce qu’elles étaient situées à une grande distance, et qui étaient chacune un monde.» (RTP III: S. 1041). 66 Zum récit In der mise en scène entwickelt Ruiz diesen Aspekt in bildlicher Ausein­ andersetzung mit den Photographien, die in das Staraufgebot des Films ein­ weisen. Damit bricht er mit dem Blick der habitude: Der Schauspieler gerät unter die Lupe, wird im schwarz­weißen Standbild und der Verzerrung des optischen Instruments aus den Laufbildern isoliert und der distanciation angeboten: […] car on était obligé de les regarder, en même temps qu’avec les yeux, avec la mémoire (RTP III: S. 924). Für das Kinodispositiv etablierte Baudry eine Analogie zu Platons Höh­ lengleichnis: «[A]ngekettet, gefangen und ergriffen»167 säßen die Zuschauer vor den Schatten des unsichtbaren Projektors. Sobald jedoch die Konstitu­ enden des Kinodispositivs in den Blick rücken, wird diese mentale Gefan­ genschaft und damit die Illusion der fascination durchbrochen.168 Wenn Ruiz in seiner filmischen Exposition die Schauspieler auf Pho­ tographien einführt, bricht der innerdiegetische Bilderstrom und der Zuschauer wird ebenso wie der Erzähler des photographischen Pastiches befähigt, den mentalen Raum von Le Temps heraufzubeschwören, indem er statt von Odette nun von Deneuve sagen kann: «Elle vieillit bien.» So gelingt Ruiz ein intermediales Spiel, mit dem der enthüllende Effekt der Großmut­ terphotographie als Effekt der distanzierten Filmbetrachtung lesbar wird, in der sich Wahrnehmungsbilder und die Erinnerungsbilder ergänzen. In diesem Sinne präfiguriert das Medienpastiche der Großmutterphotographie im «Spiegel der Zeit» des dualen Blicks die Enthüllung des bal de têtes, der mit dem Blick der habitude bricht, um zwischen fremdem und eigenem Bild eine Selbigkeitsbeziehung zu entwerfen. Mit der Superposition von Erinnerung und Wahrnehmung des Zuschauers bei der detaillierten Betrachtung der Starphotographien führt Ruiz diese Sicht auf die anthropologische Rezeptionssituation des Films; mit der Superposition von Bild und Ton aus differenten Räumen (dem Bild der erinnernden Wahrnehmung Prousts und dem Ton der erinner­ ten Soirée) führt er in der Exposition das Prinzip seiner Bildsprache ein, das die dem Film inhärente Intermedialität zum photographischen Bild im 167 Baudry 1993: S. 41. 168 Dies wird bei Baudry, der sich allein dem klassischen Kino widmet, noch nicht reflektiert. Cf. dazu jedoch Paech: «Wenn das apparative Erscheinen in seiner disposi­ tiven Struktur wahrgenommen wird, dann kommt die räumliche und soziale Verände­ rung dieser Struktur in den Blick. Die Fixierung der Körper vor den Einbildungen des Bildschirms ist aufgehoben, die (Zu-)Ordnung aufgelöst, die im Kino alle Energie auf das Imaginäre gelenkt hatte» (Paech 1991: S. 786). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 67 Sinne der intermedialen voisinage zum Roman und seiner Aisthesis von Bild und Wirklichkeit ausspielen wird, in der ein «témoin» mit dem Blick der «habitude» bricht, um den «miroir du passé» zum Saal der Zeit werden zu lassen. 3.2.2.1 Zur transmedialen Form des rêve éveillé Die Erkenntnis der schriftstellerischen Berufung auf dem bal de têtes ging genau wie die Faszination der Lesepassage einher mit der Ästhetik eines hellen Traumes. Diese hat ihren Ursprung im erstbeschriebenen Ort der Geschichte, den Ruiz und Proust im Schlafzimmer des Erzählers ansiedeln. Während Ruiz seinen Erzähler zwischen Manuskriptblättern im Akt des Diktierens einführt, etabliert das Incipit der Recherche zunächst ein iterati­ ves Szenario eines Zustandes zwischen Schlaf und Erwachen: Longtemps, je me suis couché de bonne heure. Parfois, à peine ma bougie éteinte, mes yeux se fermaient si vite que je n’avais pas le temps de me dire: « Je m’endors. » Et, une demi-heure après, la pen­ sée qu’il était temps de chercher le sommeil m’éveillait (RTP I: S. 3). Diese Beschreibung eines Zwischenzustandes, aus dem heraus verschie­ dene Räume und Zeiten erinnert werden, wurde mehrfach als «Keim­ zelle» der Recherche bezeichnet, aus deren unbestimmtem Zeitraum sich die Mehrheit der folgend beschriebenen Erinnerungen ableiten.169 Die «image», die in diesem Kontext ihre erste Erwähnung findet, kann daher als programmatisch verstanden werden.170 Sie ist weder reines Vorstel­ lungs- noch Wahrnehmungsbild, sondern ein komplexes Geflecht, das ver­ schiedene grundlegende filmische Probleme impliziert, wie das folgende Kapitel darlegen wird. Un homme qui dort tient en cercle autour de lui le fil des heures, l’ordre des années et des mondes. Il les consulte d’instinct en s’éveil­ lant, et y lit en une seconde le point de la terre qu’il occupe, le temps qui s’est écoulé jusqu’à son réveil; mais leurs rangs peuvent se mêler, 169 Shattuck bezieht dies auf die ca. vierzig eröffnenden Seiten, denen er einen Platz «in a kind of temporal limbo» (Shattuck 2000: S. 119) zuweist; Genette grenzt die «Keimzelle» auf die ersten sechs Seiten ein (Genette 2010: S. 25). Es ist wenig bekannt, dass die Recherche eine Zeit lang den Werktitel Les Miroirs du Rêve trug (Rauh 2010: S. 8). 170 Ibid.: S. 9. 68 Zum récit se rompre. […] il suffisait que, dans mon lit même, mon sommeil fût profond et détendît entièrement mon esprit; alors celui-ci lâchait le plan du lieu où je m’étais endormi, et quand je m’éveillais au milieu de la nuit, comme j’ignorais où je me trouvais, je ne savais même pas au premier instant qui j’étais; j’avais seulement dans sa simpli­ cité première le sentiment de l’existence comme il peut frémir au fond d’un animal; j’étais plus dénué que l’homme des cavernes; mais alors le souvenir – non encore du lieu où j’étais, mais de quelques- uns de ceux que j’avais habités et où j’aurais pu être – venait à moi comme un secours d’en haut pour me tirer du néant d’où je n’aurais pu sortir tout seul; je passais en une seconde par­dessus des siècles de civilisation, et l’image confusément entrevue de lampes à pétrole, puis de chemises à col rabattu, recomposait peu à peu les traits ori­ ginaux de mon moi (RTP I: S. 5 f.). Multiple Erinnerungen, die in ihrer Dynamik noch nicht die gegenwärtige Position preisgeben, sondern noch aus Vergangenheiten und möglichen Ver­ gangenheiten Orte konstruieren, helfen dem Erzähler durch eine Zeitreise von kreisförmigen Ringen der Zeit zur Sicht einer «image» des Raumes, in dem das gesehene Bild zum Agens wird: les images (der Petroleumlampe, dann der Hemden) scheinen ihrerseits zurückzublicken und ebenfalls ange­ strengt ein Bild (die ursprünglichen Züge) von einem «Ich» zusammenzu­ setzen: So entwirft diese Keimzelle der «image» ein Szenario der Interre­ lation von Betrachtetem und Betrachtendem und koppelt den Bildbegriff zunächst an die Vorstellung eines Raumes. Im Schwellenzustand des Erwachens präsentiert die körperliche Erinne­ rung dem Erwachenden eine Reihe von Räumen: Mon corps, trop engourdi pour remuer, cherchait, d’après la forme de sa fatigue, à repérer la position de ses membres pour en induire la direction du mur, la place des meubles, pour reconstruire et pour nommer la demeure où il se trouvait. Sa mémoire, la mémoire de ses côtes, de ses genoux, de ses épaules, lui présentait successivement plusieurs des chambres où il avait dormi, tandis qu’autour de lui les murs invisibles, changeant de place selon la forme de la pièce imagi­ née, tourbillonnaient dans les ténèbres. Et avant même que ma pen­ sée, qui hésitait au seuil des temps et des formes, eût identifié le logis en rapprochant les circonstances, lui,  – mon corps,  – se rappelait pour chacun le genre du lit, la place des portes, la prise de jour des fenêtres, l’existence d’un couloir, avec la pensée que j’avais en m’y endormant et que je retrouvais au réveil (RTP I: S. 6). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 69 Diese «images» sind Projektionen der Erinnerung, die essentiell der Dun­ kelheit verhaftet sind, welche die Lesbarkeit der Umgebung stört. Wie Vor­ stellungsbilder sind sie an den Wahrnehmenden gekoppelt und für ihn prä­ sent, ohne exakt beschreibbar zu werden: […] en des jours lointains qu’en ce moment je me figurais actuels sans me les représenter exactement (ibid.). Der Erzähler äußert die Hoffnung, bei wacherem Bewusstsein deutlich zu sehen («et que je reverrais mieux tout à l’heure quand je serais tout à fait éveillé», ibid.), tatsächlich vollzieht sich jedoch mit dem Erwachen eine sur­ reale Raum­Verschiebung, die den imaginierten Raum der Kindheit ein­ tauscht gegen den Schlafraum bei Mme de Saint­Loup: […] le mur filait dans une autre direction: j’étais dans ma chambre chez Mme de Saint-Loup, à la campagne (ibid.). Mit diesem Einbruch der Realität, des Wachzustands, geht die Präsenz des Kindheitsraums verloren, die optischen Wahrnehmungen von Gegenwart und Vergangenheit fliehen auseinander: Car bien des années ont passé depuis Combray, où, dans nos retours les plus tardifs, c’était les reflets rouges du couchant que je voyais sur le vitrage de ma fenêtre (ibid.). So wird die ontologische Differenz zwischen dem damaligen und heutigen Combray fassbar: C’est un autre genre de vie qu’on mène à Tansonville, chez Mme de Saint­Loup, un autre genre de plaisir que je trouve à ne sortir qu’à la nuit, à suivre au clair de lune ces chemins où je jouais jadis au soleil; et la chambre où je me serai endormi au lieu de m’habiller pour le dîner, de loin je l’aperçois, quand nous rentrons, traversée par les feux de la lampe, seul phare dans la nuit (RTP I: S. 7, Hervorhebung d. Verf.). Die konkrete visuelle Wahrnehmung hilft demnach nicht, «besser zu sehen», sondern rekreiert die Distanz, die das erinnerte Bild des Körpers überwinden konnte. Während bei Freud, den Proust zwar nachweislich nicht gelesen hatte, zu dem eine parallele Lektüre jedoch in verschiedener Hinsicht fruchtbringend erscheint, in der symbolischen Traumdeutung das Haus die gesamte menschliche Person darstellt, erscheinen bei Proust die 70 Zum récit Räume in leitmotivischer Häufung.171 Diese Räume der Erinnerung sind, bildhaft gesprochen, demselben Haus, das heißt demselben Ich zuzuordnen. In der Recherche wird das Ich jedoch zerstückelt und das im größtmöglichen Maße, in der ontologischen Existenz. Immer wieder ist die Rede von Toden der moi successifs (RTP III: S. 696) in verschiedenen Zeiten, die eine Erinne­ rung unter denselben verunmöglichen (davon zeugen die Schwierigkeiten, die vergangenen Bilder in Versuchen der mémoire volontaire wieder aufleben zu lassen). Dabei bleibt jedoch die Möglichkeit körperlicher Erinnerung des moi permanent bestehen.172 Die «Recherche du temps perdu» und der «paradis perdus» ist als Ver­ such lesbar, die erste Bildform, die im Moment nach der (Wieder-)Geburt des Erwachens eine der omnipräsenten Fusionierung war, wiederzufinden; denn der Bruch in der Identität von Ich und Anderem, der seit dem spiegel­ bildlichen Erkennen die ontologische Einheit in eine aktuelle und virtu­ elle Vielheit trennt und in der Zeit die räumliche durch zeitliche Identitäten anreichert, bleibt doch von Anfang der räumlich­körperlichen Einheit des eigenen Hauses verhaftet. Die Bildlichkeit der Recherche schöpft hierfür aus der Keimzelle des Schlafzimmers, in dem Traum, der Schlaf­Wach­Zustand und ein Wach­ zustand, der doch nicht wacher macht, in einem Wach­Traum miteinander interagieren. Ces évocations tournoyantes et confuses ne duraient jamais que quelques secondes; souvent, ma brève incertitude du lieu où je me trouvais ne distinguait pas mieux les unes des autres les diverses suppositions dont elle était faite, que nous n’isolons, en voyant un cheval courir, les positions successives que nous montre le kinéto- scope. Mais j’avais revu tantôt l’une, tantôt l’autre, des chambres que 171 Obwohl in Prousts Korrespondenz die Unkenntnis der freudschen Texte belegbar ist, sind eine Reihe von Parallelen offensichtlich (cf. zu diesem Thema Bowie 1988 und Robertfrance 2005, insbesondere S. 284 f.). Schon Walter Benjamin machte verschiedene Gemeinsamkeiten zwischen den beiden für das 20. Jahrhundert prägenden Autoren aus, wie etwa das «Gedächtnis des Leibes» (Benjamin 1972–1989: S. 605–653). Auch in Prousts Trauerdarstellung und der Erinnerungsarbeit (cf. Freud 1999: S.  1–8) könnte eine komparatistische Lektüre einen Beitrag zum Verständnis des Traumhaften der Recherche beitragen. Dies würde jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu weit führen. Hierzu sei verwiesen auf Bowie 1988, insbesondere S. 67 ff. und Ricciardi 2003. 172 «Cela n’est pas vrai seulement pour notre moi permanent, qui se prolonge pendant toute la durée de notre vie, mais pour tous nos moi successifs qui, en somme, le composent en partie» (RTP III: S. 696). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 71 j’avais habitées dans ma vie, et je finissais par me les rappeler toutes dans les longues rêveries qui suivaient mon réveil (RTP I: S. 7). Die visuelle Unzugänglichkeit des dunklen Raumes sorgt für die Möglich­ keit lichter Projektionen der Vorstellung: C’est ainsi que, pendant longtemps, quand, réveillé la nuit, je me res­ souvenais de Combray, je n’en revis jamais que cette sorte de pan lumi- neux, découpé au milieu d’indistinctes ténèbres, pareil à ceux que l’embrasement d’un feu de bengale ou quelque projection électrique éclairent et sectionnent dans un édifice dont les autres parties restent plongées dans la nuit (RTP I: S. 43 f.). Hier wird die vorstellungsbildliche Erinnerung der Lichtmetaphorik ver­ schrieben; es geht um ein «éclaircir» der Dunkelheit, die der rêve éveillé scheinwerferartig reduziert auf ein erstes Bild  – auf das Mutter-Bild im wörtlichen Sinne. Die anschließende Episode der in Tee getränkten Madeleine, die ein­ dringlich im Präsens beschrieben wird, lässt bekanntermaßen erst ein vollständiges Erhellen des übrigen Kindheitsraums Combray (Combray II) zu. Das Gesuchte wird als «souvenir visuel» als «image» benannt, die aus der traumhaften Dynamik der «tourbillon des couleurs remuées» entsteht (RTP I: S. 46). Auch hier ist die «image» keine Zweidimensionale; sie hat als Raumkomplex der Kindheit die Dreidimensionalität eines «édifice immense du souvenir» (RTP I: S. 47). Nach dieser körperlich vermittelten Übersetzung ist die Bildlichkeit der Erinnerung nicht mehr in sich entziehender Bewegung gefangen, sondern wird, ganz entgegen dem Wesen von Vorstellungsbildern, hyperreal, fest und unbewegt wie ein Theaterdekor: Et dès que j’eus reconnu le goût du morceau de madeleine trempé dans le tilleul que me donnait ma tante […] aussitôt la vieille mai­ son grise sur la rue, où était sa chambre, vint comme un décor de théâtre s’appliquer au petit pavillon, donnant sur le jardin, qu’on avait construit pour mes parents sur ses derrières  […]; et avec la maison, la ville, la place où on m’envoyait avant déjeuner, les rues où j’allais faire des courses depuis le matin jusqu’au soir et par tous les temps, les chemins qu’on prenait si le temps était beau. Et comme dans ce jeu où les Japonais s’amusent à tremper dans un bol de porcelaine rempli d’eau, de petits morceaux de papier jusque-là indistincts qui, à peine y sont-ils plongés s’étirent, se contournent, se 72 Zum récit colorent, se différencient, deviennent des fleurs, des maisons, des person- nages consistants et reconnaissables, de même maintenant toutes les fleurs de notre jardin et celles du parc de M. Swann, et les nymphéas de la Vivonne, et les bonnes gens du village et leurs petits logis et l’église et tout Combray et ses environs, tout cela que prend forme et solidité, est sorti, ville et jardins, de ma tasse de thé (RTP I: S. 47 f., Hervorhebung d. Verf.). Hier teilt die «image» der Erinnerung Charakteristika des Wahrnehmungs­ bildes, das in übersetzter Wirklichkeit, in ihrer Konsistenz und Solidität die eigentliche Wirklichkeit überbietet, doch ist sie als Raum erfahrbar. Balázs macht in Geist des Films gerade hier den Unterschied zwischen dem Raumeindruck des Films und des Gemäldes fest. Denn der Film lässt insbesondere in der beweglichen Kamera, dem panoramierenden und fah­ renden Apparat, im Gegensatz zum zweidimensionalen Bild den Raum «wirklich» erleben. Den Raum, der nicht zur Perspektive geworden ist, nicht zum Bild, das wir von außen betrachten, sondern der Raum bleibt, in dem wir uns mit der Kamera selber bewegen, dessen Entfernungen wir abschreiten und damit auch die Zeit erleben, die dazu notwendig ist.»173 Das Incipit der Recherche verweist in der Form der ersten images in mehr als dieser Hinsicht auf das Kinoerlebnis: Die Madeleine­Episode, die im Erlebnis der mémoire involontaire die erstgenannte «image» der körperli­ chen Raumkonstruktion darstellt, ist zunächst noch auf das «drame du coucher» beschränkt , bis diese «image» von einer zweiten, nunmehr visu­ ellen Erinnerung konfrontiert wird – «image, le souvenir visuel» (RTP I: S.  46). So entsteht die Raumerweiterung der Erinnerung auf die Größe des damals erlebten Combray, dem Ort der so im édifice des Selbst wie­ der erlebbar wird, und dabei doch zeitlich nicht aus der Einbettung in den Iterativ des abendlichen Schlaf­Wach­Zustands ausbricht.174 Hier entwirft bereits die Keimzelle der Recherche eine Bildlichkeit, die aus der Interak­ tion von körperlicher Wahrnehmung und Erinnerung die Grenzen zwi­ schen Vorstellungs- und Wahrnehmungsbildern hinfällig werden lässt. Das Phantasma dieser Vorstellungsbilder ist weder Traumbild noch reines Erinnerungsbild oder reines Wahrnehmungsbild, sondern entsteht aus der Interaktion dieser Bildformen. Die hier skizzierte Bildlichkeit weist 173 Balázs 2001: S. 59 f. 174 Dies geht eindeutig aus dem Absatz hervor, der Combray abschließt: «C’est ainsi que je restais souvent jusqu’au matin à songer au temps de Combray, à mes tristes soirées sans sommeil, à tant de jours aussi dont l’image m’avait été plus récemment rendue par la saveur […]» (RTP I: S. 186; cf. Genette 2010: S. 25). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 73 auffällige Parallelen zu den vielbeschworenen Gemeinsamkeiten zwischen Filmbildern und Traumbildern auf, die, wie Kracauer erinnert, bereits im Jahr 1926 festgestellt wurden.175 Psychoanalytische Filmtheorien wie die von Christian Metz sehen im Kinodispositiv einen traumähnlichen Zustand, in dem der moi préconscient sich in einem Zwischenzustand zwi­ schen Schlaf und wachem Bewusstsein befindet, «dans les états intermédi­ aires entre la veille et le sommeil».176 Im abgedunkelten Vorführungsraum, in dem die Lichtprojektionen als zentralperspektivische Bilder auf einer Leinwand abgespielt werden, die so groß ist, dass in ihren Randbereichen die Wahrnehmung oftmals zerfasert, und in dem der statische Zuschauer im statischen Raum die Illusion von Bewegung erfährt und die Distanz zum Raum der Diegese als Nähe wahr­ nimmt, verschwimmen die Wahrnehmungsbilder des filmischen Codes mit den Charakteristika von Vorstellungs­ bzw. Traumbildern. So sind in der Kinovorstellung die 24 Filmbilder / S ekunde nicht mehr im Detail analysier­ bar und wie Vorstellungsbilder «voller ‹blinder› Flecken».177 Ruiz bezeichnet den Zustand einer Filmbetrachtung als «rêve éveillé»178. Eben dieser Begriff, den der Cineast hier für seine eigene Bildsprache ver­ wendet, wurde auch in Bezug auf die Recherche entwickelt. So konstatiert bereits Feuillerat eine «atmosphère de rêve éveillé», deren Fluss durch die ständigen Hinzufügungen Prousts immer wieder reißt.179 Die direkte Reprä­ sentation der Zeit im Bild der kreisförmigen Ringe mag den Proustkenner Deleuze bei der Formulierung der zeitbildlichen Kreise der Gleichzeitigkeit Pate gestanden haben: «Je nachdem welcher Natur die Erinnerung ist, der 175 «René Clair […] verglich im Jahr 1926 die Bilder auf der Leinwand mit Gesichtern, wie sie unseren Schlaf erfüllen, und den Zuschauer selbst mit einem Träumenden, der im Bann ihrer Suggestion steht.» (Kracauer 1997: S. 157). Die Nähe zwischen Film und Traum ist mittlerweile ein Gemeinplatz. Faulstich definiert in seiner «Einführung» in die Filmgeschichte den Spielfilm mit den Worten: «Was heißt hier ‹Spielfilm›? Der Film als Spielfilm benutzt Teile der visuellen und auditiven inszenierten Wirklichkeit und ‹spielt› mit ihnen, d. h. er fügt sie bedeutungsmäßig neu zusammen zu einer ganz anderen Wirklichkeit, die sich im Kopf des Zuschauers abspielt, zu einer neuen Wahr­ nehmung, die ästhetisch als kollektiver Traum zu verstehen ist […]» (Faulstich 2005: S. 7 f.; Faulstich 2013: S. 23 ff.). Die oben zitierte Passage – «qui allaient des aspirations les plus profondément cachées en moi-même jusqu’à la vision tout extérieure de l’hori­ zon que j’avais, au bout du jardin, sous les yeux» (RTP I: S. 84) – ist ebenfalls in diesem Kontext lesbar. 176 Metz 1975: S. 110. 177 Anderegg 2000: S. 64. 178 «[…] dans le rêve éveillé qu’est la réception d’un film […]» (Ruiz 2006: S. 110). 179 Feuillerat 1972 (1934): S.  262; cf. auch Shattuck, der von einem «long clarified dream» spricht (Shattuck 2000: S. 242). 74 Zum récit wir nachgehen, müssen wir in den einen oder anderen Kreis springen»,180 schreibt er im Zeit­Bild. Die Keimzelle der Recherche reflektiert die visuelle Form des rêve éveillé insbesondere unter den Aspekten von Trennung und Fusion (zwischen Betrachtendem und Betrachtetem), von Licht und Dunkelheit, Bewegung und Stillstand und bezieht die Hieroglyphen des Traums auf die visuel­ len Zeichen der Wirklichkeit. All diese Aspekte entwickelt Raoul Ruiz in seiner Verfilmung als filmische, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. 3.2.2.2 Trennung und Fusion Billermann etabliert aus dem ersten Satz der Recherche den grundlegend innerpersönlichen Bruch zwischen je und me des Erzählers: Longtemps, je me suis couché de bonne heure [RTP  I: S.  3]. Dieser Bruch wird den erinnernden stets vom erinnerten Erzähler in Tren­ nung halten.181 Das «je» im dunklen Raum, das geträumte bzw. erinnerte «me» schnel­ len im Erwachen auseinander.182 Der Schlaf wird an späterer Stelle als «second appartement»183 (RTP II: S. 980) bezeichnet. Damit wird die Tren­ nung zwischen Träumendem und Geträumten als räumliche etabliert. Diesen im Kinodispositiv zentralen Aspekt inszeniert die freie Verfil­ mung Akermans von La Prisonnière (La Captive, Frankreich 2000) auf gera­ dezu geniale Weise: In der ersten Sequenz aus La Captive (Seq. 3.5) sieht man Simon (Mar­ cel) als Betrachter des von ihm in Balbec gedrehten Super-8-Films. Simon tritt hier sowohl als (vormaliger) Kameramann als auch als Projizierer der 180 Deleuze 1991b: S. 133. 181 Billermann 2000: S. 460. 182 «Puis elle commençait à me devenir inintelligible, comme après la métempsycose les pensées d’une existence antérieure; le sujet du livre se détachait de moi, j’étais libre de m’y appliquer ou non» (RTP I: S. 3). 183 «[…] j’entrais dans le sommeil, lequel est comme un second appartement que nous aurions et où, délaissant le nôtre, nous serions allés dormir. Il a des sonneries à lui, et nous y sommes quelquefois violemment réveillés par un bruit de timbre, parfaitement entendu de nos oreilles, quand pourtant personne n’a sonné. Il a ses domestiques, ses visiteurs particuliers qui viennent nous chercher pour sortir, de sorte que nous som­ mes prêts à nous lever quand force nous est de constater, par notre presque immédiate transmigration dans l’autre appartement, celui de la veille, que la chambre est vide, que personne n’est venu» (RTP II: S. 980). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 75 Seq. 3.5 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609749) Szene aus Akermans La Captive (0:00:00–0:01:38). Erinnerungsbilder auf. Er nähert sich der Leinwand, kann den gefilmten Raum jedoch nicht erreichen. Was ihm bleibt, ist der Versuch, die Filmbilder zu entschlüsseln: Photogramm für Photogramm spult er ab, um die Nach­ richt von Arianes (Albertines) Lippen abzulesen. Im Verhältnis zwischen Marcel und Albertine wird die Trennung auch bei körperlicher Annäherung nie überwunden. In der Recherche wird das Unbekannte und Unzugängliche der Geliebten als Raum des fremden Kör­ pers gefasst, den Akerman in die Dualität von Zuschauerraum und filmi­ schem Raum übersetzt: Par instants, dans les yeux d’Albertine, dans la brusque inflam­ mation de son teint, je sentais comme un éclair de chaleur passer furtivement dans des régions plus inaccessibles pour moi que le ciel et où évoluaient les souvenirs à moi inconnus, d’Albertine. Alors cette beauté qu’en pensant aux années successives où j’avais sous ce visage rosissant je sentais se réserver comme un gouffre l’inex- haustible espace des soirs où je n’avais pas connu Albertine, soit sur la plage de Balbec, soit à Paris, je lui avais trouvé depuis peu, et qui consistait en ce que mon amie se développait sur tant de plans et contenait tant de jours écoulés, cette beauté prenait pour moi quelque chose de déchirant. Alors je pouvais bien prendre Albertine sur mes genoux, tenir sa tête dans mes mains, je pouvais la cares­ ser, passer longuement mes mains sur elle, mais, comme si j’eusse 76 Zum récit manié une pierre qui enferme la salure des océans immémoriaux ou le rayon d’une étoile, je sentais que je touchais seulement l’enve­ loppe close d’un être qui par l’intérieur accédait à l’infini (RTP III: S. 386, Hervorhebung d. Verf.). Der Wahrnehmende ist von dieser leeren Tiefe ausgeschlossen, doch ist gerade dieser Ausschluss fruchtbar für das Liebeskonzept, das sein Begeh­ ren aus der Defizienz gründet: «[O]n n’aime que ce qu’on ne possède pas tout entier» (RTP III: S. 106); «L’amour, c’est l’espace et le temps rendus sen­ sibles au cœur» (RTP III: S. 385). Raum und Zeit der Liebe sind unzugänglich, doch nicht unfruchtbar; Warning bezeichnet den unzugänglichen Raum als einen für den Liebenden leeren Zeitenraum, ein Raum der Sehnsucht, an dem sich die curiositas des Liebenden abarbeitet, ohne ihn jemals betreten zu können184 – es sind gerade die Eigenschaften der Oberflächlichkeit und der Serialität, die Albertine mit dem photographischen bzw. filmischen Bild teilt, die diesen Raum heraufbeschwören. Im Moment des Dämmerns zwischen Schlaf und Wachen wie im Moment der onirischen Kinorezeption jedoch treten die beiden Räume in ein inter­ dependentes Beziehungsgeflecht. So wählt sich das Selbst im Moment des Erwachens auf der eigenen Suche («cherchant sa personnalité comme on cherche un objet perdu», RTP II: S. 88) ein «moi» aus den imaginierten Räu­ men aus und so überlagern sich Aktion und Reaktion aus den Räumen der Imagination und Wirklichkeit: Um den geträumten Großonkel davon abzu­ halten, das kindliche Ich an den Haaren zu ziehen, verbirgt sie der erwa­ chende (erwachsene) Erzähler schützend unter dem Kissen: Ou bien en dormant j’avais rejoint sans effort un âge à jamais révolu de ma vie primitive, retrouvé telle de mes terreurs enfantines comme celle que mon grand­oncle me tirât par mes boucles et qu’avait dis­ sipée le jour, – date pour moi d’une ère nouvelle, – où on les avait coupées. J’avais oublié cet évènement pendant mon sommeil, j’en retrouvais le souvenir aussitôt que j’avais réussi à m’éveiller pour échapper aux mains de mon grand-oncle, mais par mesure de pré­ caution j’entourais complètement ma tête de mon oreiller avant de retourner dans le monde des rêves (RTP I: S. 4). 184 Cf. Warning 2000: S. 48. So wird auch für Swann der Abgrund der unbekannten Zeit lesbar als «profondeur dou­ loureuse mais magnifique comme celle que leur eût prêtée un poète» (RTP I: S. 313). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 77 So wie sich in der Frühphase des Kinos die Zuschauer angeblich bei der Vorführung der «Arrivée en gare» eines Zuges im realen Kinosaal in die Sitze duckten,185 so reagiert auch der erwachende Erzähler körperlich auf die Vorgänge des «second appartement». «Je» und «me» umfassen eine kör­ perliche Einheit, die als zwischenräumliches Phänomen fassbar ist, in dem Vergessen und Erinnerung als Spiel von Leerstellen auftritt, das gleichzeitig trennt wie verbindet. […] alors celui-ci [le sommeil] lâchait le plan du lieu où je m’étais endormi, et quand je m’éveillais au milieu de la nuit, comme j’igno­ rais où je me trouvais, […] j’avais seulement dans sa simplicité pre­ mière le sentiment de l’existence comme il peut frémir au fond d’un animal186 (RTP I: S. 5, Hervorhebung d. Verf.). Nach dieser essentiellen Trennung vom vormaligen «plan du lieu» tritt anstatt der optischen Perzeption zunächst der Souvenir auf den Plan, es ist eine körperliche Erinnerung,187 die gleichwertig Räume der erlebten Erin­ nerung und Imagination umfasst und die als Mittler zwischen dem alles und nichts umfassenden Ich des Traums und dem «moi» der Wirklichkeit fungiert, indem es das Ich aus dem Nichts zieht, es gebiert, noch bevor die optische Wahrnehmung einsetzen kann: […] mais alors le souvenir – non encore du lieu où j’étais, mais de quelques-uns de ceux que j’avais habités et où j’aurais pu être – venait à moi comme un secours d’en haut pour me tirer du néant d’où je 185 Wie heftig die Reaktion der Zuschauer real ausfiel, ist heute umstritten. Nach Loi­ perdinger handelt es sich um einen Mythos (Loiperdinger 1996: S. 36–70). Dieser wurde bereits um 1900 kolportiert und drückt, unabhängig vom Realitätswert der Geschichte, die Kraft des unmittelbaren Bedrohungsgefühls aus, dem der Filmsehende trotz der Trennung durch die Leinwand ausgesetzt ist. 186 Dies entspricht der Möglichkeit eines körperlichen Ersatzes durch ein Double, das Ruiz in der Filmrezeption sieht (Ruiz 2006: S 38). 187 Etwas später wird dies noch deutlicher: «Sa mémoire, la mémoire de ses côtes, de ses genoux, de ses épaules, lui présentait successivement plusieurs des chambres où il avait dormi, tandis qu’autour de lui les murs invisibles, changeant de place selon la forme de la pièce imaginée, tourbillonnaient dans les ténèbres. Et avant même que ma pensée, qui hésitait au seuil des temps et des formes, eût identifié le logis en rapprochant les circonstances, lui, – mon corps, – se rappelait pour chacun le genre du lit, la place des portes, la prise de jour des fenêtres, l’existence d’un couloir, avec la pensée que j’avais en m’y endormant et que je retrouvais au réveil. Mon côté ankylosé, cherchant à deviner son orientation, s’imaginait, par exemple, allongé face au mur dans un grand lit à balda­ quin et aussitôt je me disais: ‹Tiens, j’ai fini par m’endormir quoique maman ne soit pas venue me dire bonsoir›» (RTP I: S. 6). 78 Zum récit n’aurais pu sortir tout seul; je passais en une seconde par­dessus des siècles de civilisation, et l’image confusément entrevue de lampes à pétrole, puis de chemises à col rabattu, recomposaient peu à peu les traits originaux de mon moi (RTP I: S. 5). Dabei treten die körperlich­reale Ausgangsposition und der Schlaf in ein Wechselverhältnis, das den wirklichen Stuhl zum «fauteuil magique» für Zeitreisen durch Raum und Zeit werden lässt: Que vers le matin après quelque insomnie, le sommeil le prenne en train de lire, dans une posture trop différente de celle où il dort habi­ tuellement, il suffit de son bras soulevé pour arrêter et faire reculer le soleil, et à la première minute de son réveil, il ne saura plus l’heure, il estimera qu’il vient à peine de se coucher. Que s’il s’assoupit dans une position encore plus déplacée et divergente, par exemple après dîner assis dans un fauteuil, alors le bouleversement sera complet dans les mondes désorbités, le fauteuil magique le fera voyager à toute vitesse dans le temps et dans l’espace, et au moment d’ouvrir les paupières, il se croira couché quelques mois plus tôt dans une autre contrée (RTP I: S. 5). Diese Außer­Zeitlichkeit wird möglich durch die Zwischen­Zeitlichkeit, die zwischen den appartements von Schlaf und Wachzustand gleichzeitig eine Zwischen­Räumlichkeit ist. Es ist eben diese Zwischenzeitlich­ und ­räum­ lichkeit, aus der die unwillkürlichen Erinnerungen zugänglich werden: Or, cette cause, je la devinais en comparant entre elles ces diverses impressions bienheureuses et qui avaient entre elles ceci de com­ mun que je les éprouvais à la fois dans le moment actuel et dans un moment éloigné où le bruit de la cuiller sur l’assiette, l’inégalité des dalles, le goût de la madeleine allaient jusqu’à faire empiéter le passé sur le présent, à me faire hésiter à savoir dans lequel des deux je me trouvais188 (RTP III: S. 871, Hervorhebung d. Verf.). Aus diesem Schwellenraum heraus greift der Erzähler in Le Temps retrouvé den image­Begriff wieder auf als «des images qui ne gardent rien d’elle (de la vie)» (RTP  III: S.  869). Das «tableau uniforme» (RTP  III: S.  870) wird in der unwillkürlichen Balbec-Erinnerung kontrastiert mit dem Begriff der 188 Dieses zwischenzeitliche Erlebnis wird benannt als ein außerzeitliches («extra- temporel […], c’est-à-dire en dehors du temps» (RTP III: S. 871); bzw. als «temps à l’état pur» (RTP III: S. 872). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 79 «vision» eines komplexen Bildes, das eine zeitliche Tiefendimension entwi­ ckelt, die erneut an den Raum frühkindlicher Erinnerung gemahnt: […] une nouvelle vision d’azur passa devant mes yeux; mais il était pur et salin, il se gonfla en mamelles bleuâtres (RTP III: S. 868). Hier ist wieder der Souvenir die essentielle Größe, die über den «oubli» und die raum­zeitliche Kluft hinweg die Einheit des Ich konstruiert: Oui, si le souvenir, grâce à l’oubli, n’a pu contracter aucun lien, jeter aucun chaînon entre lui et la minute présente, s’il est resté à sa place, à sa date, s’il a gardé ses distances, son isolement dans le creux d’une vallée ou à la pointe d’un sommet, il nous fait tout à coup respirer un air nouveau, précisément parce que c’est un air qu’on a respiré autrefois, cet air plus pur que les poètes ont vainement essayé de faire régner dans le paradis et qui ne pourrait donner cette sensation pro­ fonde de renouvellement que s’il avait été respiré déjà, car les vrais paradis sont les paradis qu’on a perdus (RTP III: S. 870). Das Erlebnis nimmt mystische Dimensionen an; es überwindet die sukzessi­ ven Tode und scheint die ursprüngliche Einheit des Erwachens nachzuemp­ finden, die ihrerseits die (Wieder-)Geburt spiegelt. So verschmelzen die sukzessiven Räume des Ich zu einem, in dem sowohl die maritime Klarheit Balbecs als auch die «mamelles» als erstes Objekt frühkindlicher Begierde ihren Platz haben. Der unmittelbare Übergang zum Projekt des Roman­ werks, der sich der Schwierigkeit annimmt, diese Abende in Rivebelle zu malen (RTP III: S. 871), ohne sich der dem Leben so unähnlichen «peinture uniforme» (ibid.) hinzugeben, verweist erneut auf das spezifische Vorhaben der Recherche, die Zeit bildlich zu fassen, und stellt die entscheidende Her­ ausforderung einer Verfilmung dar. Wie der Erzähler konstatiert, kann die Bildlichkeit nicht die zweidimensionale, in sukzessiver Reihenfolge vorge­ führte sein, die sich etwa in einem bebilderten Buch bietet: Certes, on peut prolonger les spectacles de la mémoire volontaire qui n’engage pas plus de forces de nous­mêmes que feuilleter un livre d’images. Ainsi jadis par exemple, le jour où je devais aller pour la première fois chez la princesse de Guermantes, de la cour ensoleillée de notre maison de Paris, j’avais paresseusement regardé à mon choix, tantôt la place de l’Église à Combray, ou la plage de Balbec, comme j’aurais illustré le jour qu’il faisait en feuilletant un cahier d’aquarelles prises dans les divers lieux où j’avais été et où avec un plaisir égoïste 80 Zum récit de collectionneur je m’étais dit en cataloguant ainsi les illustrations de ma mémoire: J’ai tout de même vu de belles choses dans ma vie (RTP III: S. 873). Die Bildhaftigkeit der literarischen Erzählung entwickelt sich in Abgren­ zung zur bewegungsbildlichen Sukzession von Bildern, indem sie den Aus­ gangspunkt der Projektion zeitlich im Außerzeitlichen und räumlich im Zwischenräumlichen ansiedelt. Aus der Dunkelheit dieses Nullpunktes pro­ jiziert die körperliche Erinnerung ein Ich in verschiedene Räume des édifice du souvenir. Wie im frühkindlichen Stadium vor dem «stade du miroir» sind im Moment des Erwachens bzw. im zwischenräumlichen und außerzeitli­ chen Moment alle Elemente noch frei von Trennung, sodass logische Bin­ dungen in ein freies Wechselspiel zueinander treten können. Diese Situa­ tion ist mit Lacan vergleichbar mit der Regression des Kinoerlebnisses,189 in dem auch das Moment der getrennten Räume fällt. In der Analogisierung mit dem Kinodispositiv wird Ruiz sehr explizit (Seq. 3.6): Seq. 3.6 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609750) Marcel mit Kinematograph im Café de la Paix (0:53:34–0:55:33). Im Café de la Paix liest Proust einen Brief Gilbertes, während im Hinter­ grund schwarz­weiße Aufnahmen des Krieges auf eine Leinwand projiziert werden. Auf der Tonspur hört der Zuschauer die Stimme Gilbertes, die aus Tansonville schreibt. Proust befindet sich hier demnach in einer doppel­ ten Rezeptionssituation: Er ist ein Lesender im Kinosaal. Die abwesende 189 Lacan 1999a: S. 170–174. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 81 Szenerie, die er durch den Brief erfährt, wird gedoppelt in dem unpersön­ lichen Blick der Kamerabilder, deren strategische Luftaufnahmen an die Wand des Café de la Paix projiziert werden. Prousts Stuhl löst sich aus dem Saalgefüge, fährt wie auf einem Fließband zwischen den anderen Gästen vorbei und erhebt sich schließlich im Flug vor die Leinwand, während aus dem Off Gilbertes Stimme an die gemeinsamen Tage in Tansonville erinnert: […] que de fois ai-je pensé a vous, aux promenades, grâce à vous ren­ dues délicieuses, que nous faisions ensemble […] nous sommes allés si souvent ensemble […] (0:54:10; RTP III: S. 755 f.). Daraufhin schwebt der junge Marcel mit der Kamera aus dem rechten hors- champ in den Bildkader (> 0:54:31). Wenn nun der kleine Marcel seinen Kinematographen in den Zuschauerraum richtet, wird dieser gleichzeitig zum «espace du tournage»190 wie zur Leinwand verkehrt – das Kinodispo­ sitiv verliert seine Raumachsen. Wer betrachtet und wer betrachtet wird, ist austauschbar; wie im proustschen rêve éveillé kollabiert die Differenz zwi­ schen Subjekt und Objekt der Wahrnehmung: […] après, la pensée qu’il était temps de chercher le sommeil m’éveil­ lait; je voulais poser le volume que je croyais avoir encore dans les mains et souffler ma lumière; je n’avais pas cessé en dormant de faire des réflexions sur ce que je venais de lire, mais ces réflexions avaient pris un tour un peu particulier; il me semblait que j’étais moi- même ce dont parlait l’ouvrage: une église, un quatuor, la rivalité de François Ier et de Charles Quint. Cette croyance survivait pendant quelques secondes à mon réveil; elle ne choquait pas ma raison mais pesait comme des écailles sur mes yeux et les empêchait de se rendre compte que le bougeoir n’était plus allumé (RTP I: S. 3). Winkler stellt in seinen Überlegungen zum Kinodispositiv die grundlegende Trennung der Räume in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Zentralper­ spektive der Filmbilder weist dem betrachtenden Subjekt einen bestimmten Platz in Bezug zum Bild zu. Dabei sind die Räume von Zuschauer und Die­ gese nicht nur räumlich, sondern auch ontologisch voneinander getrennt: Der eine Raum ist real, der andere Perspektive. Wenn nun Ruiz den Kine­ matographen aus dem Raum der Diegese richtet, gerät die gesamte Konst­ ruktion von Fiktionalität aus den Angeln, denn Fiktionalität ist im filmi­ schen Dispositiv eine Kategorie, «die nicht mehr mit dem Inhalt, sondern 190 Souriau 1953: S. 8. 82 Zum récit eher mit der apparativen Anordnung und dort speziell mit dem Mechanis­ men der Raumkonstitution zu tun hat.»191 So setzt die ruizsche Inszenie­ rung Realität und Fiktionalität in eine chiastische Neukonfiguration. Die Trennung und gleichzeitige Illusion von Kontinuität, die das Raum­ verhältnis von Zuschauerraum und Raum der Leinwand kennzeichnet, wird von Winkler in Anlehnung an Metz als «Aquarium»192 bezeichnet. Die Leinwand fungiert so als eine «Glas-Wand», die «sowohl seine Bild­ fläche als auch die Textur des materiellen Trägers negiert» (ibid.) und dem Zuschauer ermöglicht, in der Position eines Voyeurs das real erscheinende Geschehen von einem getrennten Raum aus zu beobachten.193 Ruiz bricht diesen filmischen Blick der habitude verschiedene Male, indem er den Blick der Figuren aus der filmischen Diegese heraus direkt auf die Kamera richten lässt. So schreckt der Zuschauer ein ums andere Mal aus seiner onirischen Position der Immersion: Beim Bankett der Verdurins wird der Zuschauer in der Konversation angeblickt, als säße er mit den übrigen «invités» an der Tafel (Seq. 3.7): Seq. 3.7 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609751) Am Tisch mit Goncourt (0:35:03–0:35:14). 191 Winkler 1992: S. 47. 192 Metz 1977: S. 42. 193 Winkler 1992: S. 48. Der Dispositivtheoretiker Bailblé verweist auf die Etymologie des Begriffs ‹Perspektive›: per-spicere: hindurchsehen (Bailblé 1979 /  80: S.  108). Borst­ nar verweist auf die «Fenster­Metapher» des italienischen Renaissancearchitekten Leon Battista Alberti (1404–1472), nach der die Fläche, auf der das Bild aufgebracht ist, scheinbar ihre materielle Qualität verliert, da die Betrachter sie «mit dem Blick durch­ dring[en] – (perspicere)» (Borstnar 2002: S. 104). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 83 Auch der Seitenblick Mme Verdurins lässt ihren Monolog wie eine direkte Ansprache des Zuschauers wirken. Für einen Moment entsteht so für diesen die Illusion, leibhaftig an der Soirée de Verdurin teilzunehmen (Seq. 3.8). Seq. 3.8 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609752) Auf der Soirée de Verdurin (0:39:35–0:39:41). Als Robert sich an den Zuschauer wendet, sorgt er sogar direkt für dessen Aufmerksamkeit, indem er scheinbar mit dem Stock auf die «Glas-Wand» der Leinwand klopft (Seq. 3.9). Seq. 3.9 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609753) Robert «Tu m’écoutes?» (2:17:56–2:18:08). 84 Zum récit Hiermit offenbart Ruiz das Spiel mit der Trennung und Fusion von Betrachtendem und Betrachtetem, das die Keimzelle der Recherche entfal­ tet, als ein genuin filmisches Phänomen, das mit der lacanschen Psychoana­ lyse auf die Subjektkonstitution übertragen werden kann.194 Dort schließt die Selbst­Konstruktion des Subjekts im Spiegelstadium in der Identifikation mit dem eigenen Bild zu einem kohärenten Wesen immer einen Trug mit ein, da das Ich nicht sich selbst, sondern nur sein Bild erkennt, von dem es körperlich abgetrennt ist.195 In der von Oudart für das Medium Film weiterentwickelten Suture-The­ orie196 wurde nachgewiesen, wie filmische Erzählmittel, insbesondere die über Dialog verbundene Schuss-Gegenschuss-Montage, das wahrnehmende Subjekt in die Signifikantenkette der Diegese einbezieht: Die beiden Dia­ logpartner blicken sprechend aus dem filmischen Raum heraus; der Gegen­ schuss vervollständigt den vormals unvollständigen Raum. Der Zuschauer tritt in die räumliche Leerstelle und wird so zum Teil der Diegese; doch wird er klassischerweise nicht als solcher entlarvt.197 Wenn Ruiz die Schauspieler direkt in die Kamera blicken lässt, als befände sich der Zuschauer tatsäch­ lich im gezeigten Raum, bricht der Cineast die Illusion der Suture gerade dadurch, dass sie sich offenbart. Wie im Photographiepastiche der Großmutterbeschreibung entsteht die Störung im Bewusstwerden des dualen Blicks, der gleichzeitig der eigene wie der des Anderen (der Kamera) ist. Wie im literarischen Prätext lässt der «enthüllende» Effekt nicht auf die außerfiktionale Wirklichkeit schließen, sondern auf die Wirklichkeit des sehenden Subjekts (bzw. auf dessen Situa­ tion im Kinodispositiv). Das zerstückelte Ich der Betrachtung ist in der Recherche nicht nur ein räumliches Phänomen, sondern auch ein zeitliches: In der Zeit wird das Subjekt durch die iterativen Leerstellen des Schlafes von seiner eigenen Ver­ gangenheit abgetrennt. Alors de ces sommeils profonds on s’éveille dans une aurore, ne sachant qui on est, n’étant personne, neuf, prêt à tout, le cerveau se trouvant 194 Cf. dazu Baudry, Winkler 1992. 195 Cf. Lacan 1999: S. 170–174. 196 Ursprünglich geht die Theorie auf Lacans psychoanalytisches Sprachkonzept zurück (cf. Lacan 1978). 197 Cf. Oudart 1969. Winkler, der Oudart referiert, betont den latenzbrechenden Effekt, der mit der Entdeckung der Kamera als Blick des «Anderen» einhergeht und verweist auf die subjektive Kamera als Lösung, in der Kamera und Ich wieder verschmelzen (cf. Winkler 1992: S. 57). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 85 vidé de ce passé qui était la vie jusque-là. […] nous sortons gisants, sans pensées, un « nous » qui serait sans contenu (RTP II: S. 981). Der Erzähler spricht von einer «destruction du cerveau» (RTP II: S. 985); von Tod («Il y a eu vraiment mort, comme quand le cœur a cessé de battre», RTP  II: S.  88) und anschließender Wiedergeburt («résurrection au réveil», ibid.). Die sukzessiven Tode verleihen dem Protagonisten als «moi de rech­ ange» (RTP III: S. 595) das Moment der innerpersönlich-zeitlichen Distanz.198 Diese figürliche Multiplität in der Zeit kennzeichnet ebenfalls die Beschrei­ bung Albertines. Hier wird sie wie eine Serie von Einstellung beschrieben, in denen die Darstellerin in stets neuer Kostümierung auftritt: Certains jours, mince, le teint gris […]. D’autres jours, sa figure plus lisse […] à moins que je ne la visse tout à coup de côté, car ses joues mates comme une blanche cire à la surface étaient roses par trans­ parence, […]. D’autres fois le bonheur baignait ses joues […]. Mais le plus souvent aussi elle était plus colorée […]; il arrivait que le tient de ses joues atteignit le rose violacé du cyclamen […] et chacune de ces Albertine était différente, comme est différente chacune des appa­ ritions de la danseuse dont sont transmutées les couleurs, la forme, le caractère, selon les jeux innombrablement variés d’un projecteur lumineux (RTP I: S. 946 f.). Die visuelle Oberfläche wird hier explizit mit der eines «projecteur lumi­ neux» verglichen, sie kann nicht durchdrungen werden. Der Erzähler der Recherche beschreibt die chronologische Sukzession, die «forme succes­ sive des heures», in der die multiplen Bilder («les couleurs successives, les modalités différentes, la cendre de leurs saisons ou de leurs heures», RTP III: S. 487) sich der Wahrnehmung darboten, in einer quasi-filmischen Situa­ tion, in der er gleichzeitig die Rolle des Projektors wie die des Zuschauers einnimmt. Als letzterer übernimmt er die Position eines reflektierend-kom­ mentierenden Betrachters der in der Zeit differenten mentalen Aufzeich­ nungen «l’idée particulière que je me faisais successivement d’Albertine, de l’aspect physique sous lequel je me la représentais à chacun de ces moments, de la fréquence plus ou moins grande avec laquelle je la voyais cette sai­ son­là» (RTP III: S. 487) – «je revoyais l’une et l’autre» (RTP III: S. 488). In die­ ser Situation bewirken die Bilder ein multiples Springen in Zeit und Raum des Zuschauers: 198 «Ces nouveaux moi qui devraient porter un autre nom que le précédent […]. Ce moi gardait encore quelque contact avec l’ancien, comme un ami […]» (RTP III: S. 594 f.). 86 Zum récit […] ce n’était pas une seule, mais d’innombrables Albertine. Chacune était attachée à un moment, à la date duquel je me trouvais replacé quand je revoyais cette Albertine (RTP III: S. 488). Die Vervielfältigung der Betrachteten geht einher mit einer Vervielfälti­ gung des Betrachtenden; der erinnerte Eifersüchtige zerfällt zu einer zeitli­ chen und ontologischen Vielheit, denn: «Ce n’était pas Albertine seule qui n’était qu’une succession de moments, c’était aussi moi-même. […] Je n’étais pas un seul homme, mais le défilé des indifférents, des jaloux – des jaloux dont pas un n’était jaloux de la même femme» (RTP III: S. 489). Das onirische Spiel von Stillstand und Bewegung, in dem differente Bilder derselben Per­ son von Leerstellen unterbrochen aufeinanderfolgen,199 führte Proust auf das präfilmische Medium der Laterna Magica zurück: Ce fractionnement d’Albertine en de nombreuses parts, en de nom­ breuses Albertines, qui était son seul mode d’existence en moi, […] tenait à la forme successive des heures auxquelles elle m’était appa­ rue, forme qui restait celle de ma mémoire, comme la courbure des projections de ma lanterne magique tenait à la courbure des verres colorés […] (RTP III: S. 529). Für den Erzähler scheinen sich die erinnerten Figuren in der Zeit zu erset­ zen. Eben dies betrachtet Ruiz als traumhaftes Spiel der Filmbetrachtung, als «jeu onirique consistant à voir des films»: N’est-il pas vrai que dans une séquence de n’importe quel film, aussi banal soit-il, l’on a habituellement un personnage X dans une scène au premier plan, que l’on voit immédiatement après en plan géné­ ral? Y a-t-il quelque chose qui interdise d’imaginer que la seconde prise montre le double du personnage que nous avons déjà vu au pre­ mier plan? Et ensuite que, chaque fois que nous le voyons dans la séquence b et c et d, nous verrons en réalité les multiples doubles du premier personnage? Et que tous, peut-être, ne sont rien d’autre que des doubles imaginaires de chaque spectateur? Ces doubles, que 199 Diese innerfigürliche Differenz manifestiert sich nicht nur nach zeitlichen Inter­ vallen, die einhergehen mit «changements de perspective et des changements de colora­ tion» (RTP II: S. 365), sondern auch in der zeitlichen Einheit der Annäherung zum Kuss: «Dans ce court trajet de mes lèvres vers sa joue, c’est dix Albertine que je vis; cette seule jeune fille étant comme une déesse à plusieurs têtes, celle que j’avais vue en dernier, si je tentais de m’approcher d’elle, faisait place à une autre» (ibid.). Zur Vielheit der figürlichen Identitäten cf. auch Fuelöp 2012. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 87 les Scandinaves nomment Hamrs, sont la débandade d’une image originale […].200 Der wache Traum der filmischen Situation führt also im Mediendisposi­ tiv Kino sowohl die onirische Trennung der figürlichen Einheiten in der Zeit vor als auch das eigenartige Wechselspiel von Fusion und Trennung, Immersion und Exklusion, das sich zwischen dem Raum der Diegese und dem Zuschauerraum abspielt. Diese im Kontext der Keimzelle der Recherche entwickelten «problèmes» lassen sich, wie hier deutlich wurde, tatsächlich auf grundlegende «problèmes filmiques» zurückführen. 3.2.2.3 Licht und Dunkelheit Die Keimzelle der Recherche entwirft Dunkel und Licht als gleichermaßen konstitutiv für die Erinnerungsbilder im Moment des schwer wahrnehmba­ ren Schlafraumes, in dem das Ich verschiedenste Räume der Vergangenheit projiziert. So tritt der Erzähler gleichzeitig als vormaliges Wahrnehmungs­ dispositiv wie als Projektor der Erinnerungsbilder auf den Plan, die er in den aktuellen Zwischen­Raum wirft. In den Esquisses zu Le Temps retrouvé hatte Proust Licht als formende Atmosphäre entworfen, die gleichzeitig verbindet und trennt, erhellt und verdunkelt: Curieuse chose que ce Temps  […] véritable lumière: fluide atmos­ phère dans laquelle baignaient les événements de notre vie, il mode­ lait les figures, il leur donnait leur relief, il les séparait entièrement, les mettait en regard, les opposait. C’était lui la véritable lumière qui ajoutait du mystère aux figures humaines201 Dies erinnert auf eigenartig eindringliche Weise an den Film, in dem die Bilder erst lesbar werden durch die Projektion von Licht in den dunklen Raum – das materiell vorliegende Medium der Leinwand könnte ohne das formende Licht­Bad nicht wahrnehmungsbildlich erzählen.202 200 Ruiz 2006: S. 38. 201 Proust 1989: S. 899. 202 Deleuze formuliert in Auseinandersetzung mit Foucaults Dispositiv­Begriff: «Die Sichtbarkeit verweist nicht auf ein Licht im allgemeinen, welches zuvor schon existierende Objekte erhellen würde; sie ist aus Lichtlinien gemacht, die variable von diesem oder jenem Dispositiv nicht zu trennende Figuren bilden. Jedes Dispositiv hat seine Lichtordnung – die Art und Weise, in der dieses fällt, sich verschluckt oder sich 88 Zum récit Die Ausgestaltung beschreibender Passagen mit Hell-Dunkel-Kontras­ ten ist in der Recherche augenfällig; je nach Untersuchungsansatz wurde sie mit impressionistischer, photographischer, malerischer oder religiöser Ästhetik konnotiert.203 In der Rückbindung auf ihre Keimzelle, in der Pro­ jektion des «pan de lumière» und der «image visuelle» des «édifice du sou­ venir», tritt doch auch ein kinematographischer Subtext an den Tag, der für seine spezifische Bildlichkeit des rêve éveillé aus dem Zusammenspiel von Dunkelheit und Licht schöpft. Dieses Moment wird in Le Temps retrouvé gespiegelt: Auch hier tritt eine Serie sich substituierender Räume in den dunklen Ausgangsraum.204 Nach einem zunächst verhaltenen Vergleich zwischen dem aktuellen Paris und dem Combray der Kindheit, die im tertium comparationis der schwarzen Dunkelheit zusammenfallen, wird die Dunkelheit hier zu einer visuellen Leerstelle, die ähnlich einer leeren Leinwand zur freien Fläche begehren­ der Projektion werden kann. Wie im Moment des Erwachens sind die dem Erzähler naheliegendsten Projektionen erotischer Natur,205 so imaginiert er zunächst Albertine, die sich farblich in ihrem grauen Kleid kaum von der schwarzen Mauer abhebt und dem Erzähler so eine gewisse Schwierigkeit im visuellen Erfassen bietet (RTP III: S. 735 f.). Es folgt eine Projektion der Kindheit, die den Pariser Raum durch Tan­ sonville ersetzt: Hélas, j’étais seul et je me faisais l’effet d’aller faire une visite de voi­ sin à la campagne, de ces visites comme Swann venait nous en faire après le dîner, sans rencontrer plus de passants dans l’obscurité de Tansonville, par le petit chemin de halage, jusqu’à la rue du Saint­Es­ prit, que je n’en rencontrais maintenant dans les rues devenues de sinueux chemins rustiques, de la rue Clotilde à la rue Bonaparte (RTP III: S. 736). Nun wird der gegenwärtige Zeitpunkt zu einer Serie von Wiederholun­ gen dieses nächtlichen Eindrucks, der zeitliche Fixpunkt löst sich in eine unbestimmte Vielheit auf, die Projektionen hängen nicht mehr zeitlich fest, verbreitet und so das Sichtbare und das Unsichtbare verteilt und das Objekt entstehen und verschwinden läßt, welches ohne dieses Licht nicht existiert» (Deleuze 1991c: S. 153). 203 Zur impressionistischen Ästhetik cf. Godeau 2003: S. 39–50; Warning 2000: S. 39–50 oder Mayr 2001: S. 219 ff. Für die photographische Ästhetik cf. Larkin 2011; Albers 2004, S. 205–239 und Mohs 2013; zu Rembrandts Ästhetik des chiaroscuro Bal 2004, S. 96; zu den religiösen Implikationen cf. Albus 2011. 204 RTP III: 735 ff. 205 Cf. RTP I: 5 f. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 89 sondern allein in der freien, durch keinen Rahmen begrenzten schwarzen Fläche der obscurité, die im synästhetischen Zusammenfall mit einem eisi­ gen Wind nach Balbec führt: D’ailleurs, comme ces fragments de paysage que le temps qu’il fait fait voyager, n’étaient plus contrariés par un cadre devenu invisible, les soirs où le vent chassait un grain glacial, je me croyais bien plus au bord de la mer furieuse dont j’avais jadis tant rêvé, que je ne m’y étais senti à Balbec (ibid.). Dann spielt erneut die Wahrnehmung in die Imagination: Der chiaroscu- ro-Effekt des Mondscheins sorgt gleich für zwei örtliche Konvergenzen, den der campagne und den der alpinen Gletscher: […] et même d’autres éléments de nature qui n’existaient pas jusque-là à Paris faisaient croire qu’on venait, descendant du train, d’arriver pour les vacances en pleine campagne: par exemple le contraste de lumière et d’ombre qu’on avait à côté de soi par terre les soirs au clair de lune. Celui­ci donnait de ces effets que les villes ne connaissent pas, et même en plein hiver; ses rayons s’étalaient sur la neige qu’aucun travailleur ne déblayait plus, boulevard Haussmann, comme ils eussent fait sur un glacier des Alpes (ibid.). Die klaren Umrisse dieses Hell-Dunkels führen über die Assoziation von Gemälden in eine Prärie, die einem göttlichen Reich gleichkommt. Les silhouettes des arbres se reflétaient nettes et pures sur cette neige d’or bleuté, avec la délicatesse qu’elles ont dans certaines peintures japonaises ou dans certains fonds de Raphaël; elles étaient allongées à terre au pied de l’arbre lui­même, comme on les voit souvent dans la nature au soleil couchant, quand celui-ci inonde et rend réfléchis­ santes les prairies où des arbres s’élèvent à intervalles réguliers. Mais, par un raffinement d’une délicatesse délicieuse, la prairie sur laquelle se développaient ces ombres d’arbres, légères comme des âmes, était une prairie paradisiaque, non pas verte mais d’un blanc si éclatant à cause du clair de lune qui rayonnait sur la neige de jade, qu’on aurait dit que cette prairie était tissue seulement avec des pétales de poi­ riers en fleurs. Et sur les places, les divinités des fontaines publiques tenant en main un jet de glace avaient l’air de statues d’une matière double pour l’exécution desquelles l’artiste avait voulu marier exclu­ sivement le bronze au cristal (ibid.). 90 Zum récit Die Serie der winterlichen Dunkelheit wird nun abgelöst von den Licht­ verhältnissen des Frühlings, in dem manchmal einzelne Fenster erleuchtet werden, die wie reine Lichtprojektionen wirken, «une projection purement lumineuse, comme une apparition sans consistance» (RTP III: S. 737). Doch so faszinierend diese materielose Freiheit des Lichts sein mag, sie bleibt nicht lange in ihrer Reinheit bestehen. Sie wird erneut zur Projektionsflä­ che, deren Faszinosum, wie das der Dunkelheit, in der Vereitlung des hab­ ituellen visuellen Erfassens liegt und das der Imagination Raum zur Ver­ äußerlichung innerer Begierden bietet – hier schließlich wieder in Gestalt einer Frau, die im verdunkelnd wirkenden Licht, im «pénombre dorée» und in ihrer mysteriösen Unerreichbarkeit den Charme einer Orientvision ver­ körpert: «le charme mystérieux et voilé d’une vision d’Orient» (ibid.). Mit dieser Frauengestalt schließt sich die temporale Auffächerung des einen Spaziergangs wieder, als sei nichts geschehen. Puis on passait et rien n’interrompait plus l’hygiénique et monotone piétinement rythmique dans l’obscurité (ibid.). Hier wird Dunkel zu Hellem (vom rein visuellen Erfassen der geliebten Albertine, das so kohärent die beiden Sehenden im Dunkel verbindet, bis hin zu den paradiesischen Szenarien) und Licht zu Dunklem; die orientali­ sche Frauenvision kontrastiert in ihrem lichten Rahmen die Vision Alber­ tines. Sie kann nicht nach Hause begleitet werden, lässt den Erzähler ver­ loren und allein in der Nacht zurück – «cette nuit où l’on était perdu et où elle­même semblait recluse» (RTP III: S. 737). Die Dunkelheit wie das Licht, das in seiner blendenden Helligkeit ebenfalls verdunkelt, wirken in ihrer visuellen Unbestimmtheit als «espace vide sur lequel jouerait […] le reflet de nos désirs» (RTP III: S. 1045), wie es der Erzähler in Bezug auf die Aus- gestaltung seines Werks proklamieren wird.206 «Le temps spatialisé» tritt hier scheinbar einheitlich auf. Bei raschem Lesen – einer  – entsteht der Eindruck eines kohärenten Spaziergangs in Paris, der verschiedene Assoziationen auslöst. Erst ein genaues Hinsehen bricht die Einheit auf: «le soir dont je parle» wird zu «les soirs», zur Reihe von Wie­ derholungen, zunächst noch bei ähnlichen Lichtverhältnissen (im Winter), um dann kaum merklich durch einen zeitlichen Ausgangspunkt im Frühling («Mais au printemps au contraire, parfois de temps à autre», RTP III: S. 736 f.) ersetzt zu werden, der ebenfalls eine zeitliche Vielheit umfasst. Die Projektion 206 Hier äußert sich das lacansche Suture­Konzept als «Verbindung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen», in deren Leerstellen das Subjekt eintreten muss, um sich als einheitliches Subjekt wiederzufinden (cf. Lacan 1978: S. 125). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 91 der orientalischen Frauengestalt ist keinem bestimmten dieser Frühlings­ abende zugeschrieben, sodass sie als allgemeine Frühlingsprojektion wirkt, in der die ausgehende zeitliche Divergenz zu einem Bild zusammenfällt. Im Anschluss wird mit dem Rückgriff auf den ersten Abend ein wei­ terer zeitlicher Zusammenhang suggeriert: Der Intellekt des Lesers stellt automatisch die zeitlichen Ebenen als verschachtelte Imaginationen ein und desselben Abends dar, an dem die Gedanken zu anderen winterlichen oder frühlingshaften Projektionen schweifen. Tatsächlich gibt der Text aber kei­ nen Hinweis auf eine solche zeitliche Einheit. Es heißt nicht etwa «ça me souvenait d’autres soirs  […]», sondern «les soirs où le vent chassait  […]». Wie in der Keimzelle der Recherche stehen die Zeiten als Iterativ in einem zeitlichen Limbo nebeneinander und kommen einzig und allein in einem gemeinsamen Ausstrahlungspunkt der Erinnerung zur Deckung, der weder örtlich noch zeitlich fixierbar ist. Wie ein Kinematograph projiziert das Ich die vormals wahrgenomme­ nen Aufzeichnungen in den Raum als rahmenlose207 Bilder, die ihr Faszi­ nosum aus dem Zusammenspiel äußerer visueller Eindrücke und eigener Imagination gewinnen und die einheitliche Leinwand der Dunkelheit zum Prisma zeitlicher und örtlicher Vielheit werden lassen. Aktuell Präsentes und virtuell Imaginiertes legen sich bildlich übereinander, wobei sich die sukzessiv imaginierten Szenen gegenseitig in immer anderen Bildern subs­ tituieren – die Nähe zur filmischen Situation, insbesondere zur Rezeptions­ situation des filmischen Zeit­Bildes, ist offensichtlich. Ruiz fordert in der Einleitung zu seiner zweiten Poetik als primäres Desiderat des Films: « De la lumière, plus de lumière », disait Goethe avant de mourir. « Moins de lumière, moins de lumière », répétait Orson Welles sur un plateau de cinéma, la seule fois où je l’ai vu. Dans le cinéma actuel (et dans le monde), il y a trop de lumière. Il est temps de revenir aux ombres. Donc: demi-tour! Retournons aux cavernes!208 Dabei versteht er ebenso wenig wie Proust ‹hell› und ‹dunkel› als seman­ tische Zuweisungen. Es geht ihm in erster Linie um ein Raumlicht, das nicht wie Hollywood Schatten aus Licht generiert,209 sondern um eine 207 «[…] n’étaient plus contrariés par un cadre» (RTP III: S. 736). 208 Ruiz 2006: S. 10. 209 «On éliminait d’abord toutes les ombres projetées par les objets accumulant beau­ coup de lumière, de tous côtés. Et lorsque le plateau montrait les objets resplendissants, sans ombre, on commençait alors à ajouter la lumière, plus de lumière, beaucoup de 92 Zum récit Lichtgebung, die dem visuellen Zweifel, dem «doute visuel» Raum lässt: «C’était lui la véritable lumière qui ajoutait du mystère aux figures humaines.»210 Diesen Effekt können sowohl Schatten­ als auch Lichteffekte entfalten. Für das filmische Lichtkonzept konstatiert Ruiz: Le cinéma peut et devrait jouer en passant constamment de l’évi­ dence narrative (energeia, disent les Grecs) au doute visuel: suis-je en train de voir ce que je vois ? Et du doute visuel à la résolution en une nouvelle évidence narrative. Et ceci par le truchement de la modifi­ cation ininterrompue de zones d’ombre et de lumière.211 Ruiz greift in seiner Verfilmung die Episode des nächtlichen Spaziergangs in einer Variation auf. (Seq. 3.10) Dabei setzt er eine ähnliche Raumzeit-Ent­ faltung in Gang wie die entsprechende literarische Passage, indem er den Spaziergang durch zeitlich inkongruente photographische Momentaufnah­ men aufbricht: Seq. 3.10 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609754) Licht und Dunkel (1:09:03–1:10:36). lumière, cette fois dirigée, créant les ombres une par une. Des ombres très particulières. Des ombres sécrétées de l’intérieur des objets» (Ruiz 2006: S. 27). 210 Das Zitat findet sich in der 4-bändigen Ausgabe (1989: S. 899). 211 Ruiz 2006: S. 31. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 93 In dunkler Nacht wird der erwachsene Proust von Kriegsalarm und Unwetter überrascht (1:09:44). Er bleibt an einem Gittertor stehen. Die Kamera rückt im over-the-shoulder-shut sein Blickfeld in den Kader: Es zeigt einen Photographen, der eine Aufnahme vom kleinen Marcel mit sei­ ner Mutter nimmt – es blitzt und qualmt; zeitgemäß verwendet der Pho­ tograph anscheinend Blitzlichtpulver (1:10:35). Der Bildschirm bleibt kurz weiß (1:10:36) und offenbart dann den Blick auf Mutter und Sohn, die sich gegenseitig ansehen (1:10:41). Nun erscheint Saint-Loup in Uniform, um rasch wieder im Dunkeln zu verschwinden (1:10:46). Der nächste Einschub vereint die Abendgesellschaft des Salons, die von zwei aufeinanderfolgen­ den Blitzen bis zur Unkenntlichkeit überbelichtet wird, mit einem echo­ verzerrten Lachen aus dem Off. Dabei fusionieren Außen­ und Innenraum durch einen einfachen Trick: Ruiz legt einen großen Teppich auf die Straße. Im Anschluss wird die literarische Projektion Albertines angedeutet. Hinter der Litfaßsäule verborgen, wird sie jedoch nicht vom Spaziergänger wahr­ genommen, sondern von der Kamera, in die sie zweimal kurz direkt ihren Blick richtet (1:11:04, 1:11:06). Sie verschwindet mit dem nächsten Schnitt, sobald Proust an ihr vorbeiläuft. Stattdessen tritt M. de la Foix auf Proust zu (1:11:10–1:12:10). Der Erzähler wird ihm in die maison de passe folgen. Auf der diffusen Projektionsfläche der Dunkelheit werden hier in der Inszenierung von Photographien verschiedene Momentaufnahmen miteinan­ der verwoben, deren Bilder augenscheinlich die Vergangenheit in die Gegen­ wart integrieren: Die Photographie von Mutter und Kind sowie die mondäne Soirée finden im aktuellen Außenraum (Paris im Ersten Weltkrieg) statt, sie werden nicht durch einen Raum­Zeit­Wechsel motiviert. Indem Albertine ihren Blick in den Zuschauerraum richtet, öffnet Ruiz den Raum des nächtli­ chen Paris in den Wahrnehmungsraum des Kinos. In diesem ebenfalls dunk­ len Raum fühlt er sich für einen Moment als Zeuge (oder Voyeur?) der Szene und antizipiert darin die Rolle des Erzählers, der folgend in das Bordell treten wird. So bindet Ruiz im kristallinen Zeit­Bild des Films das Ur­Moment der bildlichen Projektionen der Recherche an den doute visuel seiner Photogra­ phieästhetik, das in Dunkelheit und Licht bzw. Überbelichtung den wahr­ nehmenden Zuschauer das proustsche Zeitbad nachvollziehen lässt: Curieuse chose que ce Temps  […] véritable lumière: fluide atmos­ phère dans laquelle baignaient les événements de notre vie, il mode­ lait les figures, il leur donnait leur relièf, il les séparait entièrement, les mettait en regard, les opposait. C’était lui la véritable lumière qui ajoutait du mystère aux figures humaines.212 212 Proust 1989: S. 899. 94 Zum récit Der nächtliche Spaziergang entfaltet ein analoges Prinzip im Kontext der Dunkelheit, das in Roman wie Film die Sicht mystifiziert und so eine Leer­ stelle entwirft, in die das Subjekt seine Phantasmen projizieren kann. In der Ausgestaltung von Hell und Dunkel treffen sich Ruiz und Proust kongenial in ihrer bildlichen bzw. bildhaften Ästhetik des mystère bzw. des doute visuel, die eine Interaktion von Subjekt und Objekt im Moment der Projektion von Imagination in die Perzeption zulassen: […] tandis que les vrais livres doivent être les enfants non du grand jour et de la causerie mais de l’obscurité et du silence. Et comme l’art recompose exactement la vie, autour des vérités qu’on a atteintes en soi-même flottera toujours une atmosphère de poésie, la douceur d’un mystère qui n’est que le vestige de la pénombre que nous avons dû traverser, l’indication, marquée exactement comme par un alti­ mètre, de la profondeur d’une œuvre (RTP III: S. 898). Dies ist das transmediale Prinzip der bildhaft-literarischen wie auch der filmbildlichen Erzählung. 3.2.2.4 Bewegung und Stillstand Wie oben angemerkt wurde, hat sich die jüngere Proustforschung von der augenscheinlichen Abwertung des photographischen Mediums in der Recherche längst losgesagt, um ihr eine «écriture photographique» (Mathieu) nachzuweisen. Dass der Schritt von der photographischen zur filmischen Ästhetik so zögerlich unternommen wird, steht bei diesen Ansätzen oftmals in Bezug zu den Kategorien von Bewegung und Stillstand. Denkt Mieke Bal über die kinematographischen Möglichkeiten der pro­ ustschen Photographieästhetik in der Beschreibung nach, sieht sie die ein­ zige Möglichkeit der Wiedergabe in der Form stillstehender Bilder, die die filmische Erzählung verräumlichen: If the photographic mechanism suggests cinematographic possibilities, it only does so if the cinema in question is avant-garde and self-reflex­ ive, like a succession of images spread out in space, each one held still.213 Tatsächlich projektiert die Recherche jedoch nicht nur die Darstellung des außerzeitlichen Stillstandes, sondern auch die der diskursiven Bewegung in der Zeit: 213 Bal 1997: S. 232. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 95 Puisque j’avais décidé qu’elle ne pouvait être uniquement constituée par les impressions véritablement pleines, celles qui sont en dehors du temps, parmi les vérités avec lesquelles je comptais les sertir, celles qui se rapportent au temps, au temps dans lequel baignent et changent les hommes, les sociétés, les nations, tiendraient une place importante (RTP III: S. 932). Hier wird im Stillstand des umgebenden Bades das Moment der Bewegung etabliert. Auf den ersten Seiten der Recherche wird sogar jegliche Immobili­ tät der Dinge als mögliche Illusion in Frage gestellt: Peut-être l’immobilité des choses autour de nous leur est-elle impo­ sée par notre certitude que ce sont elles et non pas d’autres, par l’im­ mobilité de notre pensée en face d’elles. Toujours est-il que, quand je me réveillais ainsi, mon esprit s’agitant pour chercher, sans y réussir, à savoir où j’étais, tout tournait autour de moi dans l’obscurité, les choses, les pays, les années (RTP I: S. 6). Tatsächlich steht nichts still, selbst die Namen und der soziale Status wan­ deln in der Zeit, wie dem Erzähler auf dem bal de têtes bewusst wird: Odette de Crécy wurde zu «Mme de Forcheville», Bloch zu «Jacques du Rosier», Mme Verdurin zur «Prinzessin de Guermantes», die Tochter Gilberte Swanns ist «Mlle de Saint-Loup» (2:08:48 ff.). Barathieu sieht in der «rhé­ torique mouvante» das Stilprinzip der Recherche, das Metonymien, Meta­ phern, semantische Inversionen, alle Formen von Transpositionen (wie Anagrammen, Syllepsen etc.) einschließt.214 Bewegung ist ein dem Medium Film inhärentes Moment,215 dies verdeut­ licht Ruiz gleich im filmischen Prolog, der sein Spiel mit der Bewegung(­ sillusion) von Kamera und Fluss spielt. Er führt es in der Exposition fort, in der der greise Proust seinen Roman diktiert (0:02:35  ff.), während das Mobiliar in unablässiger Eigenbewegung den Raum verengt. Hierfür kann er sich wörtlich auf den literarischen Prätext berufen: «[L]e mur filait dans 214 Cf. Barathieu 2002: S. 325 ff. Den Begriff der «rhétorique mouvante» entleiht sie Pierre Bayard (Bayard 1996: S. 117–128). Dupuy analogisiert diesen Stil in Bezug auf die Personenbeschreibung mit der Chronophotographie (cf. Dupuy 2003: S. 115–138). 215 «[…] en qualquier imagen filmada, incluso si no hay en principio ningún movi­ miento, ya sea del objeto o de la cámara, siempre se hace sentir la presencia de movi­ miento» (Ruiz 2000: S. 74 f.). Wenn Dahan die Recherche auf ihren filmischen Subtext hin untersucht, geht sie von dem Moment der Bewegung aus, das die Recherche in ihrer Keimzelle des Erwachens charakterisiert (cf. Dahan 2005: S. 67). 96 Zum récit une autre direction […]», konstatiert der Erzähler im Erwachen (RTP I: S. 6). Die Bewegung ist hier nicht den agierenden Figuren oder der Kamera zuzu­ schreiben, sondern einzig dem gefilmten Raum verhaftet. Poulet macht diese Eigenbewegung des Raums in der Recherche an der Passage über Martinville fest, die das erlebende Ich erstmals zu literari­ schem Schaffen anregte. Er betont, dass es sich um ein «mouvement de con­ jonction» handelt «et cela non pas seulement de la part du voyageur vis­à­ vis du paysage, mais de la part des différentes parties du paysage à l’égard les unes des autres.»216 Seuls, s’élevant du niveau de la plaine et comme perdus en rase compagne, montaient vers le ciel les deux clochers de Martinville. Bientôt nous en vîmes trois: venant se placer en face d’eux par une volte hardie, un clocher retardataire, celui de Vieuxvicq, les avait rejoints.217 Diese Neukonfiguration des Raumes scheint wie in der filmischen Exposi­ tion mit einer Animation der Objekte einherzugehen: […] je les vis timidement chercher leur chemin et, après quelques gauches trébuchements de leurs nobles silhouettes, se serrer les uns contre les autres, glisser l’un derrière l’autre, ne plus faire sur le ciel encore rose qu’une seule forme noire.218 Auf die metapoetische Bedeutung dieser Episode wurde immer wieder hingewiesen.219 Zaiser betont dabei die «doppelte Erzählperspektive», in der sich der erinnernde und erinnerte Erzähler verschränken.220 Während das Erlebnis für den erinnerten Erzähler nur zu einer literarischen Skizze führte, macht es der erinnernde zum erzählerischen Prinzip. Dieses Prinzip erschloss sich dem Autor Proust in der Autofahrt, wie er sie in seinem Figaro­Artikel Impression de route en automobile schilderte, aus dem heraus die Beschreibung der Kirchturmbewegung entstand, wie Danius insistiert.221 Grivel bezeichnet das Auto, das den bewegten Blick aus dem Fenster (hinter dem die Bewegung der Autofahrt den Raum unablässig verän­ 216 Poulet 1982: S. 97. 217 RTP I: S. 181. 218 RTP I: S. 182. 219 Cf. u. a. Du Bos 1965 (1921): S. 89–95; Guyon 1955; Nolting-Hauff 1967: S. 67–84. 220 Zaiser 1995: S. 318. 221 Danius 2002: S. 133 ff. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 97 dert) mit dem Moment des körperlichen Stillstandes vereint,, als «filmnahes» Wahrnehmungsdispositiv222. Die Bewegung ist nicht die des «Bewegungsbil­ des», sie ist selbstreferentiell in ihren Elementen der Bewegung(sillusionen) und dazu im Stande, die Illusion der «immobilité des choses» in einem mou- vement de conjonction kinematographisch in Frage zu stellen. Wenn Ruiz Proust als Literaten inszeniert, der sein Lebenswerk diktiert, führt er diese frühe Faszination perspektivischer Veränderung in den spä­ ten Raum der Erinnerung und drückt sie aus in einer filmischen Bewegung, die vorführt, wie frei sich der Film von allen Konventionen der photogra­ phisch­realistischen Raumaufnahmen zeigen kann. Ruiz setzt das Zusammenspiel von Immobilität und Bewegung mit der verwirrenden Einstellung der Vivonne programmatisch in der Exposition. Er nimmt es auf mit der leitmotivischen Integration stillstehender Kunst­ formen wie Photographien und Statuen. Immer wieder lässt er seine Figu­ ren in unnatürlichem Stillstand erstarren. Im Raum des sterbenden Proust steht sein Alter Ego (Mazzarella) bei­ nahe regungslos vor der direkt angestrahlten Wand (Seq. 3.11). Über seinen nahezu bewegungslosen Schatten gleiten jene der in stiller Pose verhar­ renden Gäste wie auf Schienen hinweg. Die Lichtquelle bleibt unsichtbar, als weise sie den Ausgangspunkt dieser zeitlich heterogenen Ebenen einer Schattentheatererzählung einem unbestimmbaren Ort bzw. einer unbe­ stimmbaren Zeit zu. Seq. 3.11 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609755) Stillstand und Bewegung. 102, Boulevard Haussmann (0:38:48–0:39:01). 222 Grivel 1999: S. 47–78. 98 Zum récit Im Konzert der Matinée de Guermantes versetzt diese Schienentech­ nik des theatralen Bühnenraums die Zuhörerreihen des Konzerts in einen traumhaft bewegungslosen Tanz (Seq. 3.12): Seq. 3.12 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609756) Auf Schienen tanzende Zuhörer (2:05:42–2:06:41). Die scheinbare Bewegung von Stillstehendem äußert sich im Übergang von der Deliriumsszene Prousts in den erinnerten Kindheitsraum Combrays als Bewegung zwischen Enge und Weite. Dabei bahnen Elemente, die das Zim­ mer durchbrechen, den Szenenwechsel im ersten Raum an, indem hinter der Tür von Céleste der blaue Himmel und das Licht in das dunkle Zimmer hereinbrechen, das Zimmer dann nach der Detailaufnahme einer taufri­ schen Rose ungeheure Dimensionen annimmt, um sich nach dem nächsten Schnitt wieder als enger Raum zu präsentieren (Seq. 3.13). In die Einstellung mischt die Tonspur zu Weite und Himmel bereits die Musik von «Tansonville» (0:13:04  ff.). Die Flötenmusik wird die fol­ gende Szene Combrays begleiten, in der Prousts klarer, den Kindheitsraum beschreibender Stimme aus dem Off ein Delirium nicht anzumerken ist (0:13:10 ff.). Die Montage motiviert sich demnach nicht aus dem Moment des Deliriums, sondern präsentiert sich in der Eigendynamik von Bild und Ton als ein sukzessives Hereinbrechen eines weiteren Erinnerungsraumes, der den vorhergehenden schließlich ablöst. Hier lotet Ruiz die Raumeindrücke von Weite und Enge der Filmbilder in intermedialer Auseinandersetzung mit der bildhaften Beschreibung der Erinnerung aus, wie sie die Recherche entfaltet: Poulet vergleicht das erste Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 99 Seq. 3.13 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609757) Tansonville im Boulevard Haussmann (0:12:22–0:13:13). Erlebnis der mémoire involontaire mit einer Öffnung eines «lieux clos»,223 der wie eine japanische Blüte in einer ausdehnenden Bewegung ganz Com­ bray samt seiner Gebäude und Protagonisten aus einer Tasse Tee auffächern kann. Et comme dans ce jeu où les Japonais s’amusent à tremper dans un bol de porcelaine rempli d’eau de petits morceaux de papier jusque-là indistincts qui, à peine y sont-ils plongés s’étirent, se contournent, se colorent, se différencient, deviennent des fleurs, des maisons, des personnages consistants et reconnaissables, de même maintenant toutes les fleurs de notre jardin et celles du parc de M. Swann, et les nymphéas de la Vivonne, et les bonnes gens du village et leurs petits logis et l’église et tout Combray et ses environs, tout cela qui prend forme et solidité, est sorti, ville et jardins, de ma tasse de thé (RTP I: S. 47 f.). Der Film setzt diese dem ersten Band entnommene Passage gemäß seinem Bezug auf den letzten Band als ästhetisches Prinzip um, in dem Erinne­ rung den Raum auf unterschiedliche Weise öffnen kann. Wenn Kravanja kritisiert, dass dieses Stilmittel auch in Les Ames fortes auftritt und daher eher eine ruizsche Eigenheit der Rauminszenierung als eine proustsche Idee 223 Poulet 1982: S. 79. 100 Zum récit ist,224 lässt er außer Acht, dass die Suche nach der verlorenen Zeit untrenn­ bar verbunden ist mit der Suche nach dem verlorenen Raum – «reconquête du temps perdu, reconquête de l’espace perdu.»225 Dieses Stilmittel stellt also vielmehr eine Verbindung zwischen der Aisthetik einer Raumzeit dar, die Romancier und Filmemacher teilen. Wie der sukzessive Einbruch eines weiteren Erinnerungsraumes in den aktuellen Raum verdeutlicht, bedeutet die filmische Nachzeitigkeit der Räume nicht zwingend eine Nachzeitigkeit der Erinnerung, sondern oft­ mals eine Superposition bzw. Substitution von aktuellem und imaginärem Bild, bei der der virtuelle Raum schließlich die Wahrnehmung des primä­ ren Raumes verdrängt. Hier zeigt sich, dass die filmische Beschreibung der mémoire involontaire keine Ausnahmeinszenierung erfordert  – sie ist als aisthetisches Raumprinzip für den gesamten Film kennzeichnend. Wie in der literarischen Passage des Spaziergangs im nächtlich-dunklen Paris, der Ausgangspunkt zahlreicher raum­zeitlicher Substitutionen wird, läuft diese raumzeitliche Neukonfiguration meist subtil ab, während sie in den Erleb­ nissen der mémoire involontaire offenkundig zu Tage tritt. So verfährt auch Ruiz. Während die meisten raumzeitlichen Substitutionen und Superpositi­ onen der ersten Filmbetrachtung völlig entgehen, werden sie in Momenten der mémoire involontaire auffällig inszeniert. Hier konfiguriert Ruiz den Zusammenfall der Raumzeiten in einem synästhetisch­filmischen Spiel, das in der Verbindung des stillstehenden Augenblicks neben der sonstigen Bewegung der Einstellung das gesamt­ filmische Prinzip gegenseitiger räumlicher Durchlässigkeit proklamiert: Ruiz lässt seinen Proust zunächst auf einem sandigen Boden laufen, der unvermittelt durch Pflastersteine ersetzt wird (Seq. 3.14). Dabei prägt die Farbgebung Venedigs den Raum bereits vor dem Stolpern über die Pflas­ tersteine. Der in der Position erstarrte Proust reist noch einmal durch die Räume Venedigs, wo er von seinem kindlichen Ich in seiner befremdlichen Pose gemustert wird. Nach einem kurzen Stopp in der Arenakapelle lässt ihn das Fließband wieder in die Straßen von Paris gleiten, in denen nach dem matching-cut die in Venedig aufgeflogenen Tauben wieder landen. Die Raum-Zeit-Verschränkung wirkt über den Moment der mémoire involon- taire hinaus, die Orte und Zeiten existieren scheinbar in Tiefenschichten über- und nebeneinander. Das in der proustschen Beschreibung rekurrente 224 «Symétriquement, que les objets bougent, dans le film de Ruiz, lit, meubles de la chambre, sièges du public lors du concert de la matinée des Guermantes, produit un effet intéressant; mais on le retrouve aussi dans Les Ames fortes, dans les scènes où les vieilles femmes racontent la vie de Thérèse» (cf. Ferré 2003: S. 206). 225 Poulet 1982: S. 87. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 101 Seq. 3.14 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609758) Proust gleitet zwischen Zeiten und Räumen (1:41:37–1:42:27). Mittel der inhärenten Raum- und Zeit-Sprünge bezeichnet Dahan als «écri­ ture kinésique»: […] une écriture kinésique tout en permettant un arrêt, une sorte de plan fixe, sur les choses. Car le mouvement est double. [..] on passe de personnage en personnages – on quitte le duc pour passer aux arche­ vêques, pour y revenir et enfin pour passer au générique homme ( « les hommes ») –, d’espace en espace – la bibliothèque du duc des Guermantes, un sommet à la montagne, une église on ne sait où –, d’une unité temporelle à une autre (présent, passé, futur).226 Dieses raumzeitliche Springen aus einem zeitlich und örtlich begrenzten Moment heraus lässt das filmische Moment der Bewegung mit dem Still­ stand der Konfiguration im Raum zusammenfallen und den von Albers beschriebenen «arretierende(n)» und «dekontextualisierende(n)» Kamer­ ablick der Photographie227 zu einem bewegten Palimpsest der Erinne­ rungsbilder werden, den Genette als grundlegend für die proustsche vision bestimmte. 226 Dahan 2005: S. 78. Dahan bezieht sich auf die Beschreibung des Duc de Guermantes. 227 Albers 2001: S. 40. 102 Zum récit Le temps en effet métamorphose non seulement les caractères, mais les visages, les corps, les lieux mêmes, et ses effets se sédimentent dans l’espace pour y former une image brouillée dont les lignes se chevauchent en un palimpseste parfois illisible, presque toujours équivoque […]. Ce palimpseste du temps et de l’espace […], c’est sans doute cela la vision proustienne.228 Das fusionierende Konzept von Stillstand und Bewegung, das die Recher- che entwirft, ist essentiell dem Raum verpflichtet. Mal dient ein Ausgangs­ raum als Basis zu raumzeitlichen Sprüngen der Beschreibung, mal dehnt er sich mit der Erinnerung aus, mal multipliziert er sich in superpositionier­ ten Projektionen differenter Räume. Mit der Bindung an den Raum geht eine Spatialisierung der Zeit einher, die nicht mehr eine sukzessive Bewe­ gung nachzeichnet, in der eine Aktion eine Reaktion bedingt, sondern sich selbst und ihre multiple Verschachtelung verbildlicht. Diese «vision prous­ tienne» des zeit-räumlichen Palimpsestes greift Ruiz auf, wenn er Momente von Stillstand und Bewegung zu konstitutiven Elementen seiner filmbildli­ chen Erzählung macht. Damit veräußerlicht er den «inneren Sinn» der Zeit (Kant), der seinerseits beziehbar ist auf die Affekte, die als Phänomene der Psyche ebenfalls dem Inneren zugeordnet sind. In Bezug auf Heideggers Analyse der Zeitlichkeit formuliert Poppenberg: Zeit ist die Form des Pathos, sofern er dynamisch ist. Die Figur ist die Gestalt der Zeit als Pathos, des Pathos in der Zeit. Das Pathos bildet den Gehalt der Zeit. Die wahrhafte Figur als wirkliches Enthymema und Figur der Wahrheit wäre demnach als Schema, die Gestalt des Pathos als Zeit und der Zeitlichkeit des Pathos.229 Indem Ruiz und Proust die Dynamik (des Pathos) in den Raum (der Zeit) führen, wird eine solche Relation verbildlicht. 3.2.2.5 Die visuellen Zeichen in Traum und Wirklichkeit In der ausführlichen Reflexion von Träumen, die sich an die Abende in La Raspelière anschließt, etabliert der Erzähler Traum und Wachzustand als zwei «appartements» (RTP  II: S.  980). Während sich im Wachzustand die Ratio an den hermaphroditischen Wesen reibt und die gemessene Zeit sowie den durchmessenen Raum registrieren muss, setzt der Traum Zeiten und 228 Genette 1966: S. 51. 229 Poppenberg 2009: S. 189. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 103 Räume in chiastische Austauschformationen, in denen kein Zeichen ein­ deutig ist. Doch die Trennung der beiden «appartements» ist unscharf: J’étais effrayé pourtant de penser que ce rêve avait eu la netteté de la connaissance. La connaissance aurait-elle, réciproquement, l’irréa­ lité du rêve?230 (RTP II: S. 985). Der Schlaf­wach­Zustand entfaltet in seiner zwischenräumlichen Überla­ gerungsform eine Visualität, die der des projektierten Romans entspricht: Hier wird alles zum (metaphorischen) Bild des Ich (das Bild, der Ton, die Handlungsmotive), hier finden Zeitreisen im Zeitbild der Gleichzeitigkeit chiastischer Erinnerungen statt, hier treten der körperliche «souvenir» und die «image» als primäre Agenten auf, die in geburtsähnlicher Inszenierung das Ich erst entwerfen; optische Wahrnehmung der umgebenden Wirklich­ keit (die Dunkelheit, das Kissen) fusionieren mit den Vorstellungsbildern, es gibt keine Trennung zwischen Inner- und Äußerlichkeit, von real Wahrge­ nommenem und Imaginiertem. Die sexuelle Ambivalenz der Figuren des «second appartement» entspricht ebenfalls den optischen Erscheinungen in der literarischen Wirklichkeit: La race qui l’habite, comme celle des premiers humains, est andro­ gyne. Un homme y apparaît au bout d’un instant sous l’aspect d’une femme (RTP II: S. 981). Dieser uneindeutigen Rasse scheinen nahezu alle Figuren der Recherche anzugehören, eine Eigenheit, die die Geliebte einem visuellen Erfassen so unzugänglich macht,231 denn Bild und Wirklichkeit sind nicht über das Moment der Ähnlichkeit zu dechiffrieren. Sophie Bertho hat diesen Kom­ 230 Die Frage nach der traumhaften (Ir)Realität des Bewusstseins findet in der LTR an vielen Stellen Nachhall, beispielsweise, wenn für M. de Charlus ein «rêve de virilité» (RTP  III: S.  840) konstatiert wird, wenn die Liebe einer Doppelbelichtung von Traum und Person verschrieben wird («Dans les personnes que nous aimons, il y a, immanent à elles, un certain rêve que nous ne savons pas toujours discerner mais que nous pour­ suivons. C’était ma croyance en Bergotte, en Swann qui m’avait fait aimer Gilberte, ma croyance en Gilbert le Mauvais qui m’avait fait aimer Mme de Guermantes. Et quelle large étendue de mer avait été réservée dans mon amour même le plus douloureux, le plus jaloux, le plus individuel semblait-il, pour Albertine!» (RTP III: S. 839). 231 Bertho stellt hier einen Bezug zu Platons dritten Geschlecht her, das er Aristo­ phanes im Gastmahl erzählen lässt – die Gemälde aus Elstirs erster Periode sind voll von Hinweisen auf diese mythologische Welt (cf. Bertho 2003: S. 123). Deleuze machte 104 Zum récit plex am Beispiel der Vergleiche von Kunstbild und Figur nachgezeichnet, die Swann und den Erzähler kontrastieren. Dieser Kontrast wird unter anderem deutlich in der Rekurrenz auf die Allegorien Giottos, die Swann und der Erzähler in einer älteren Textversion nahe voneinander anstellen.232 Swann etabliert eine Ähnlichkeit zwischen der Caritas und dem schwangeren Dienstmädchen Combrays über den Korb der Allegorie, den er mit dem schwangeren Bauch vergleicht. Der Vergleich des Erzählers zwischen Albertine und der Infidelitas geht offensichtlich auch zunächst von der Pose (mit Diabolo) aus, doch wird die gesamte Pose zur Hierogly­ phe, die sich nicht im Moment der Ähnlichkeit erschöpfen lässt. Sie impli­ ziert gekoppelt an das «diabolische» den kunstreflexiven Gedanken der «idôlatrie», mit der Proust die Infidelitas übersetzte (RTP I: S. 886). Marcel wird sich von der «idôlatrie» lösen, die dem Kunstwerk ein (ähnliches) Abbild an den Hals kettet. Er wird es ersetzen durch eine im Raum ausschreitbare Serie bestimm­ ter Muster der Wiederholung, die als eine stetige Substitution auf ein selbes désir zurückführbar sind, das die Einheit des Selbigen hinter der visuellen Serialität des Anderen garantiert. Comme Elstir aimait à voir incarnée devant lui, dans sa femme, la beauté vénitienne, qu’il avait souvent peinte dans ses œuvres, je me donnais l’excuse d’être attiré par un certain égoïsme esthétique vers les belles femmes qui pouvaient me causer de la souffrance, et j’avais un certain sentiment d’idolâtrie pour les futures Gilberte, les futures duchesses de Guermantes, les futures Albertine que je pourrais ren­ contrer, et qui, me semblait­il, pourraient m’inspirer, comme un sculp- teur qui se promène au milieu de beaux marbres antiques (RTP III: S. 988, Hervorhebung d. Verf.). Die Bilder, die in der zeitlosen Raum­Zeit ausgeschritten werden, stellen sich wie im Traum als unterschiedliche Figurationen des páthos dar. Ihre Zeichen sind androgyn, wie die Allegorie Giottos: Eine Fußnote in der Tadié-Ausgabe beschreibt die Figur der Infidelitas als männlich,233 der Erzäh­ die Zeichen des Hermaphroditismus als grundlegend für das Verstehen der Zeichen der Liebe aus (cf. Deleuze 1996: S. 99). 232 Bertho weist darauf hin, dass diese Passage ursprünglich in Combray stand, zusammen mit der Beschreibung des Dienstmädchens als Giottos Caritas und einigen Überlegungen über Laster und Tugenden. 1911 strich Proust sie heraus, um sie schließ­ lich 1916 in La Fugitive einzusetzen (cf. Bertho 2003: S. 123; Brun 1981: S. 18 ff.). 233 Proust 1987–1989 (Bd. II): S.  1458. In der 3-bändigen Gallimard-Ausgabe (Proust 1954) wird das Geschlecht nicht kommentiert. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 105 ler bezeichnet sie dagegen als weiblich (RTP I: S. 887). Offensichtlich gestört wird die visuelle Lesbarkeit des Geschlechts in der literarischen Wirklich­ keit in Verkleidungen, wenn sich etwa Albertine als Mann kleidet,234 oder Gilberte als «travesti mythologique»235 auftritt. Ruiz inszeniert diese geschlechtlichen Ambivalenzen im «doute visuel» der bildlichen Substitutionen. Während die Zeichnung in La Fille aux yeux d’or im Vordergrund einen Jungen zeigt, der Marcel auffallend ähnelt und im Hintergrund die Begleitung der weiblichen Figur nur in der Rückenansicht dargestellt wird (Seq. 3.15), präsentiert die filmisch visua­ lisierte Erinnerung M.  de la Foix im Vordergrund und Léa an der Seite Gilbertes (Abb. 3.9). Seq. 3.15 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609759) Marcel in La Fille aux yeux d’or (0:16:45–0:17:61). 234 Als Albertine dem Erzähler eine Lüge mit der nächsten verhehlt, gesteht sie unter anderem einen Aufenthalt in Auteuil, in dem sie, von Bloch unerkannt, «déguisée en homme» aus dem Haus getreten ist (RTP III: S. 334 f.). 235 Im Kontext beschreibt der Erzähler Gilberte als heterogene Erscheinung, die Ele­ mente beider Elternteile vereint und so ihrer Mutter gleichzeitig ähnlich wie unähnlich ist «[…] pour prendre une comparaison dans un autre art, elle avait l’air d’un portrait peu ressemblant encore de Mme Swann que le peintre, par un caprice de coloriste, eût fait poser à demi déguisée, […] le grimage n’était pas que superficiel, mais incarné; Gil­ berte avait l’air de figurer quelque animal fabuleux, ou de porter un travesti mytholo­ gique» (RTP I: S. 564). 106 Zum récit Abb. 3.9 Mann ... (2:03:06) Als die Episode später von Albertine angesprochen wird, wird diese Einstel­ lung wieder aufgegriffen. Was in der Illusion der 24 Bilder / S ekunde kaum erfasst werden kann, ist die kurzzeitige personale wie geschlechtliche Sub­ stitution der Schauspieler: Im Vordergrund erscheint Léa, neben Gilberte M. de la Foix (Seq. 3.16). Seq. 3.16 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609760) … oder Frau? (2:03:04–2:03:08) Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 107 Schmitz­Emans und Schmeling erwähnen als «mögliches Ziel literarischer Evokation von Bildern «[…] eine (Re-)Sensibilisierung des visuellen Wahr­ nehmungsvermögens […]: Der Versuch, mit sprachlichen Mitteln zu einer intensiveren und subtileren ‹Kultur des Sehens› beizutragen».236 In der Recherche stehen sich mit Swann und Marcel zwei «Kulturen des Sehens» gegenüber. Während erstere nach einer Ähnlichkeitsrelation zwi­ schen Kunstbild und Wirklichkeit sucht, zielt letztere auf die Lösung einer solchen Relation ab und widmet sich stattdessen der «traduction» der eige­ nen Innerlichkeit bzw. des «livre intérieur». Diese vollzieht sich in ihrer visuellen Form im Stillstand des Bildes in der Ambiguität des traumgleichen Zeichens, im Diskurs der Zeit in der Seriali­ tät, in der die Zeichen in verschiedener Verkleidung in Erscheinung treten. Diese Gründung der Zeichen, die sich sowohl im Lesebild als auch im (metaphorisch-)photographischen Bild und in der Beschreibung des nächt­ lichen Spaziergangs in einer Interdependenz des Einen mit dem Anderen (Stillstand und Bewegung, Innen und Außen, Licht und Dunkel) äußert, ist im Wach-Traum der Keimzelle angelegt, in dem die Grenzen von Vorstel­ lung und Wahrnehmung verwischen. So wird jedes Zeichen zur Collage. Das gilt nicht nur für das Geschlecht; in der literarischen Wirklichkeit werden Figuren generell als traumhafte Mischpersonen projektiert,237 deren Wahrheiten es aus der Collage hetero­ gener Hieroglyphen zu entziffern gilt: […] la vie des autres est représentée en lui et, quand plus tard il écri­ rait, viendrait composer d’un mouvement d’épaules commun à beau­ coup, vrai comme s’il était noté sur le cahier d’un anatomiste, mais ici pour exprimer une vérité psychologique, et emmanchant sur ses épaules un mouvement de cou fait par un autre, chacun ayant donné son instant de pose (RTP III: S. 900). Ruiz praktiziert eine ähnliche Collage auf der Tonspur, die über die übli­ che Synchronisierung hinausgeht. So wurde die Stimme André Engels mit der von Patrice Chereau abgemischt.238 Auch für Mme Verdurin halten zwei Sprecher her, die jedoch nicht gleichzeitig, sondern alternierend eingesetzt werden, bis sie auf dem bal de têtes in einem Chiasmus von Ton und Bild aus­ getauscht werden, als die greise Gilberte zwischenzeitlich mit ihrer jungen 236 Schmeling 1999: S. 9. 237 «[…] il n’est pas un nom de personnage inventé sous lequel il ne puisse mettre soixante noms de personnages vus» (RTP III: S. 900). 238 Cf. Beugnet / S chmid 2006: S. 146. 108 Zum récit Stimme spricht (2:07:23–2:07:41) und die junge Mme Verdurin mit der grei­ sen Stimme (2:14:32 ff., Seq. 3.17). Seq. 3.17 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609761) Mme Verdurin – Jugend im Bild, Alter auf der Tonspur (2:14:29–2:14:49). Deleuze spricht in Bezug auf Syberbergs Parsifal für diese Collage von einer «Ordnung des Risses, in der die Aufteilung von Körper und Stimme zur Genese des Bildes wird, das als solches ‹von einem einzigen Individuum nicht dargestellt werden kann› und ‹das eine in sich selbst, und zwar nicht­psychologisch gespaltene Erscheinung bildet.»239 Wie in der vergleichenden Auseinandersetzung mit den Vorstellungsbil­ dern der Lektüre, dem Vorstellungsbild der Photographie und den «images» des Traums deutlich wurde, untergräbt die Recherche die grundlegende Distinktion von Vorstellungs­ und Wahrnehmungsbildern zugunsten des Phantasma, das sowohl als Vorstellungs- als auch als Traumbild mit den Wahrnehmungsbildern in Wechselwirkung tritt. So strebt die proustsche Bildanthropologie einen Wahrheitsbegriff an, der eine wahre Selbigkeitsbeziehung immer über die Verkleidung des Ande­ ren lenkt. Dabei kommt dem (traumhaften) Phantasma und der Realität der gleiche Wirklichkeitswert zu; beide Größen sind für die Darstellung der Wahrheit gleichermaßen konstitutiv. 239 Hier teilen sich mal zwei Körper eine Stimme, mal spricht eine Männerstimme aus einem Mädchenkörper. Deleuze 1991b: S. 343 verweist auf Syberberg 1982: S. 46 f. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 109 Die Wahrheit ist, dass es im Sein eine Scheindimension gibt und dass der Schein eine Gestalt des Seins ist. Sie sind im Grunde von gleicher Wirklichkeit und doch unterschieden. Ein elementar Neu­ trales, Androgynes ist vielleicht die Wahrheit, die sich in die bei­ den Geschlechter differenziert und die dann als Gesicht und Maske, Ungeheuer und Labyrinth, Sein und Schein Gestalt annimmt.240 Diese Grundgestalt des Zeichens gilt sowohl für das Vorstellungs- als auch das Wahrnehmungsbild. Die fiktive Gemäldebeschreibung von Elstirs Port de Carquethuit – den Rieger als das malende Alter Ego des literarisch ambiti­ onierten Erzählers bezeichnet241 – stellt sich in dieser Hinsicht als besonders aufschlussreich dar, da hier eine Analogie von literarisch­symbolischen und ikonischen Zeichen etabliert wird. Die augenscheinliche Ekphrasis dient demnach zur Illustrierung der eigenen Form im literarischen récit. 3.2.3 Die métaphore des Port de Carquethuit als sprachlich- ikonische Form Für das Projekt der literarischen Produktion schöpft der Erzähler mit dem Vorhaben, schreibend zu malen (RTP  III: S. 871, 1035), aus einem differen­ ten bildlichen «Zeichenverbundsystem». Diese konzeptionelle Übertra­ gung bezeichnet Stiegler als «dritte Stufe der Intermedialität»242 und fasst zusammen: «Diese Form der Intermedialität ist die Grundlage poetologi­ scher Programme.»243 240 Poppenberg 2009: S. 165. 241 Rieger 2000: S. 449. Townsend formuliert: «[…] the greatest truth the narrator must grasp is one he has learnt from a painter, underlying the centrality of the visual in Proust’s artistic universe» (Townsend 2013: S. 89). Die Detailgenauigkeit, in der das Bild beschrieben wird, legt nahe, das beschriebene Gemälde existiere als Wahrnehmungsbild in der Realität – u. a. standen Turner, Manet, Boudin oder Monet als Vorbilder zur Diskussion, doch gilt es als erwiesen, dass Le Port de Carquethuit nicht in dieser Form als Wahrnehmungsbild der Realität existiert (cf. Warning 2000: S. 64). 242 Stiegler bezeichnet die reine Thematisierung eines anderen Mediums als Nullstufe; die mediale Modulation als erste Stufe (z. B. gesprochene Sprache als geschriebene); die Kopplung verschiedener Zeichenverbundsysteme (z. B. Schrift + Bild) als zweite Stufe. «Die dritte Stufe der Intermedialität ist die konzeptionelle Übertragung. Sie verzichtet auf eine mediale Modulation der Konfiguration eines Zeichenverbundsystems auf ein anderes» (Stiegler 2005: S. 118). 243 Stiegler 2005: S. 118. 110 Zum récit Dem Erzähler geht es um das Sichtbarmachen einer Form von Realität, die dem Realismus fern ist, um die «vraie vie» der «littérature» (RTP  III: S.  895). Dieses «wahre Leben» ist ein Gegenentwurf zur äußeren Welt, der sich vor allem in seiner visuellen Struktur grundlegend unterscheidet. Schreiben bedeutet hier «redessiner» (RTP III: S. 1045); eine Neuschöpfung, die einer unmittelbaren Wahrnehmung entspricht, in der noch nicht die Logik des Wachzustandes regiert: […] selon que les lois de la perspective, l’intensité des couleurs et la première illusion du regard nous les font apparaître, une voile ou un pic que le raisonnement déplacera ensuite de distances quelquefois énormes (ibid.). Immer wieder wurde die Gemäldebeschreibung des Port de Carquethuit als impressionistisches Programm gelesen.244 Die Szenerie der «belle matinée» (RTP I: S. 837), in der der offenbare Eindruck von Licht und Schatten dem Werk des Intellekts vorausgeht, die dann erst a posteriori Stadt und Meer ihren Elementen zuweist, scheint auf den ersten Blick wie eine Exemplifizie­ rung impressionistischer Maximen, wie sie Merleau-Ponty zusammenfasst: Der Impressionismus wollte in der Malerei die Art und Weise nach­ bilden, wie die Gegenstände unmittelbar unseren Blick berühren und unsere Sinne reizen. Er stellte sie in jener Atmosphäre dar, in der eine den Augenblick stillstellende Wahrnehmung sie uns darbietet, ohne absolute Konturen, durch Luft und Licht miteinander verbunden.245 So ist auch die fehlende Trennung zwischen Land und Meer in der unmit­ telbaren Wahrnehmung mit dem Impressionismus in Einklang zu bringen: «sans qu’on pût distinguer leur séparation», heißt es im Text und «le peintre avait su habituer les yeux à ne pas reconnaître de frontière fixe, de démar­ cation absolue, entre la terre et l’océan» (RTP I: S. 836). Vieles bleibt im Unge­ fähren: «quelque chose de citadin, de construit sur terre», eine «impres­ sion» (RTP I: S. 837), ein «poudroiement de soleil et de vagues» (S. 836, Z. 32), die Wahrnehmung erfasst nur den Anschein, «il semble» (S. 837, Z. 3), «avait l’air» (ibid., Z. 5), «donner l’impression» (ibid., Z. 11 f.). Mayr sieht die «inoffizielle Poetik» der Recherche als «die Poetik des Impressionismus», doch entwirft die fiktive Bildlichkeit hier ein Programm, 244 So konstatiert Warning einen «impressionistischen Stil» (Warning 2000: S. 39–50); cf. Hierzu auch Godeau 2003 und Karpeles 2010. 245 Merleau-Ponty 2006: S. 42. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 111 das sich nicht auf eine bestimmte Schule reduzieren lässt. Wenn es sich in dieser Bildbeschreibung tatsächlich um ein impressionistisches Bildpro­ gramm handeln sollte, erschiene die Motivwahl der von Wellen überwölb­ ten Krabbenfischerinnen, die in der Perspektive wie in einer Grotte erschei­ nen, «ouverte et protégée au milieu des flots écartés miraculeusement» (RTP I: S. 838, Z. 5 ff.), doch etwas abwegig. In der fortschreitenden Lektüre überlagern zudem Beschreibungen von Dunkelheit und Bewegung den Eindruck des lichtdurchfluteten Stillstan­ des, es ist von heftiger Brandung die Rede («la mer était agitée»), die mit den ruhigen Elementen der Stadt kontrastiert (mit der Vertikale der Speicher, der Kirche und der Häuser) und die Fischer schüttelt wie «animal fougueux et rapide». Dies könnte noch eine Nähe zu Turners Hafenansichten andeu­ ten, führte diese Personifizierung des Meeres nicht in eine immer vorder­ gründiger erscheinende Episierung der Beschreibung, die mit einer Akku­ mulation von verschiedensten Objekten einhergeht: Magner spricht hier von einer «barocken Detail­Hypertrophie und Motivakkumulation»246 – in diesem fiktiven Gemälde häufen sich Hafen, Häuser, Reede, Speicher, Kirche, Strand, Schiffe, Boote, Seeleute, Touristen, Krabbenfischerinnen, Klippen, Meer, Gewitter, Morgen und Regenbogen (!). Darüber hinaus widerspricht dem globalen Eindruck der intellektuell schwierigen Zuweisbarkeit der Grundgegensätze Stadt /  Meer die über­ aus genaue bildhafte Beschreibung: Der Blick des Betrachters zoomt mehr und mehr ins Detail, es wird von einer Schar Ausflügler berichtet, die den Hafen in einem Boot verlässt, das wie ein Karren durchgeschüttelt wird, die Matrosen werden als «geschickt» und «vernünftig» charakterisiert, ja es werden Nuancen in der Mimik als sichtbar dargestellt, die in «jener Atmo­ sphäre […], in der eine den Augenblick stillstellende Wahrnehmung sie uns darbietet, ohne absolute Konturen, durch Luft und Licht miteinander ver­ bunden» unmöglich sichtbar wäre: […] un matelot joyeux, mais attentif aussi la gouvernait comme avec des guides, menait la voile fougueuse, chacun se tenait bien à sa place pour ne pas faire trop de poids d’un côté et ne pas verser, et on cou­ rait ainsi par les champs ensoleillés, dans les sites ombreux, dégrin­ golant les pentes (RTP I: S. 837, Z. 24 ff.). 246 Magner macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die beschriebene Fülle an Details, die Anlass zu einer so epischen Beschreibung bieten könnte, eher der Marinemalerei des 18. Jahrhunderts zuzuordnen ist. Er nennt eine Ansicht des Hafens von Marseille von Joseph Vernet, die im Louvre ausgestellt und auf das Jahr 1755 datiert ist (Magner 2003: S. 410 f.). 112 Zum récit Wieder einmal schleicht sich eine filmähnliche Beschreibung in den Still­ stand des Bildes und macht den Augenblick zur Szene – eine Art close-up scheint notwendig, um dem Gesichtsausdruck des «matelot» Freude und Aufmerksamkeit gleichzeitig zuweisen zu können, die Mimik und Gestik offenbart sogar eine bestimmte Absicht («ne pas verser»). Die Betriebsam­ keit der Szene steht unvereinbar neben dem Eindruck des stillstehenden Augenblicks: Ausflügler werden vom Meer geschüttelt, Fischer gehen in den Häusern ein und aus; die Brandung und die Aktivität der Figuren («ils ren­ traient, partaient, [une bande de promeneurs] sortait, [on] courait sortait, courait») kontrastieren dabei nicht einseitig mit der Stadt: Die bewegten Figuren sind zu Wasser wie zu Land anzutreffen und werden ihrerseits vom Moment der Ruhe kontrastiert, das ebenfalls beiderseits anzutreffen ist. Die Ruhe der städtischen Gebäude spiegelt sich auf der Meeresseite in Berei­ chen, aus denen das Unwetter bereits abgezogen ist. Die Beschreibung dieser stillen Partien geht dabei gleich einher mit einem weiteren Gegensatz, nämlich dem von Festigkeit und Realität vs. Auf­ gelöstheit und Mirage­Effekt: […] les parties où la mer était si calme que les reflets avaient presque plus de solidité et de réalité que les coques vaporisées par un effet de soleil et que la perspective faisait s’enjamber les unes les autres (RTP I: S. 837, Z. 34 ff.). Das Prinzip des Port de Carquethuit ist nicht allein eines der Ambivalenz – hier ist ein gezielter bildlicher Chiasmus am Werk: Die soliden Schiffs­ rümpfe aus Holz tauschen ihre Solidität ein und erlangen dafür den irrea­ len und ungreifbaren Charakter der Gischt. Wasserreflexe erlangen dafür Materialität und Realität («solidité» und «réalité») des Holzkonstrukts  – die bildlichen Zeichen führen den Betrachter in die Irre, der sich wie der Betrachter der ruizschen Filme ständig fragen muss: «Suis­je en train de voir ce que je vois?»247 Es widersprechen sich Signifikant und Signifikat: Das solide und real wirkende bildliche Zeichen bezeichnet tatsächlich die puren Reflexe, was sich dagegen aufzulösen scheint, bezeichnet die hölzernen Schiffsrümpfe. Die Teile des Meeres stellt das bildliche Zeichen dar als «kompakt» und «erdhaft», an eine «Steinchaussee» oder ein «Schneefeld» erinnernd. Auch hier manifestiert sich ein Gegensatz in Zeichen und Bezeichnetem: Festes steht für Flüssiges. 247 Ruiz 2006: S. 31. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 113 […] si Dieu le Père avait créé les choses en les nommant, c’est en leur ôtant leur nom, ou en leur en donnant un autre qu’Elstir les recréait (RTP I: S. 835). Wenn Mayr dieses Zitat als impressionistische Prämisse der Neuschöpfung liest,248 übergeht sie den unerhörten Subtext: Der Künstler vollzieht nicht etwa die Schöpfung in seinem Werk im Akt der Imitatio von Neuem, nein, er schöpft neu, indem er das «wahre»249 göttliche Wort neu vergibt und Signifikate mit anderen Signifikanten bestückt. Dieses transmediale Kunst­ prinzip meint mit dem Wort bzw. dem nom ein Zeichen, das sowohl ikonisch als auch symbolisch sprechen kann: C’est par exemple à une métaphore de ce genre – dans un tableau représentant le port de Carquethuit, tableau qu’il avait terminé depuis peu de jours et que je regardai longuement – qu’Elstir avait préparé l’esprit du spectateur en n’employant pour la petite ville que des termes marins, et que des termes urbains pour la mer (RTP I: S. 836). Sowohl der Ausdruck der «termes» als auch der der «métaphore» verweisen auf die sprachlich-ikonische Transmedialität des Gemäldes. Der Schlüsselbegriff der «termes» enthält das Moment der Begrenzung, das im beschriebenen Bild gerade negiert wird. Der Petit Robert gibt als Bedeutungen an: «Limite fixée dans l’espace» und «Limite fixée dans le temps»; darüber hinaus ist der «terme» ein Ausdruck für das Wort (abge­ leitet vom mittellateinischen terminus («ce qui limite le sens») als «mot ou expression». In diesem Zusammenhang spricht man in der Logik von den drei «termes» eines Syllogismus.250 Warning schlägt die Übersetzung mit «Zeichen» vor, um die Doppel­ kodierung als Beispiel dekonstruktivistischen Merkmalsaustauschs her­ vorzuheben.251 Er führt weiter auf die Polysemie von bâtiment als ‹Schiff› sowie ‹Gebäude›. Elstirs Einsatz von maritimen Zeichen / T ermini für die Stadt und städtischen für das Meer fände so in der literarischen Beschrei­ bung ein Pendant in der Polysemie, die Doppelkodierung im sprachlichen Zeichen möglich macht. Mit dem Bezug der «termes» auf die Polysemie unterläuft das metapoetische Programm, das auf das literarische Medium 248 Mayr 2001: S. 223. 249 2 Sam 7,28 EU. 250 Rey-Debove / R ey 2013: S. 2534. 251 Warning 2000: S. 68 ff. 114 Zum récit abzielt, den operationalen Aspekt der Schrift.252 Schriftzeichen werden hier nach dem Vorbild ikonischer Zeichen nicht mehr als definite und limite Grö­ ßen betrachtet, sondern als ambivalente Zeichen, die in der unmittelbaren Wahrnehmung und der entschlüsselnden Verstandestätigkeit in der Bedeu­ tung springen. Der Zeichenbegriff scheint im Sinne Peirces Verwendung auf sprachli­ che wie ikonische Zeichen durchaus tragfähig. Dabei lassen sich zwei Zeichenprinzipien isolieren: Erstens, mikrokos­ misch, die einzelnen bildlichen Zeichen, die nicht mehr auf das Ähnliche oder Selbige referieren, sondern auf das Unähnliche. Zweitens, makrokos­ misch, der Zeichenverbund (Gemälde bzw. Text), der eine offensichtliche Einheit darstellt, die bei näherer Betrachtung in eine Vielheit zerfällt. Die Substitution des einen «terme» für den anderen wurde eingangs als «métaphore» bezeichnet, die als transmediales Stilmittel das Gesamtwerk des Malers kennzeichnet. Les tableaux d’Elstir sont le résultat d’une sorte de métamorphose des choses représentées, analogue à celle qu’en poésie on nomme métaphore (RTP I: S. 836). Die nihilierten Gegensätze in diesem Gemälde und seiner Beschreibung stehen auf den ersten Blick in irritierendem Widerspruch zum gemeinhin geltenden Prinzip, das in der Nachfolge Aristoteles’ die Metapher als Trope der Bedeutungsübertragung und des unausdrücklichen Vergleichs als «un - eigentlichen» Ausdruck versteht, der den «eigentlichen» substituiert, wobei er zum gemeinten in einer Ähnlichkeitsrelation steht.253 Es ist ja gerade nicht die Ähnlichkeit, die den Austausch von Meer und Land erlaubt, viel­ mehr erfolgt die «Identitätssetzung» trotz Unähnlichkeit:254 Der Begriff der «métaphore» wird von Proust terminologisch undif­ ferenziert verwendet: Da Proust vor allem an den analogisierenden Assoziationsprozessen interessiert ist, welche Metaphern, Metony­ mien, Synekdochen etc. zugrunde liegen, entzieht sich seine «méta­ phore» der Schulbuchrhetorik.  […] Prousts «Sinn» für die Meta­ pher ist primär nicht die von Aristoteles gelobte Fähigkeit, in der Natur / W elt «Ähnlichkeiten zu erkennen», sondern Ähnlichkeiten 252 Cf. Grube / K ogge / K rämer 2005: S. 15. 253 Cf. Schramm 2009: S. 188 f. Zu den Passus in Aristoteles, Poetik 21, 1457b 16–18 und Rhetorik III 2, 1405a 34–37. 254 Billermann 2000: S. 283. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 115 im Unähnlichen zu «setzen», ohne dabei kategoriale Differenzen zu tilgen.255 So steht Prousts Metaphernkonzeption im Spannungsfeld zwischen Tradi­ tion und Avantgarde; sie drückt nicht mehr im Ersatz der Worte die Mimesis einer außersprachlichen Realität aus, ist jedoch auch nicht, wie bei Rimbaud und Lautréamont, nur noch innerhalb der Sprache nachvollziehbar.256 Die außersprachliche Bezugsreferenz der proustschen Metapher ist das künstle­ rische Subjekt. Gerade hierin liegt die «Wahrheit» der Metapher, wie sie der Erzähler entgegen der aristotelisch­logischen257 etabliert: On peut faire se succéder indéfiniment dans une description les objets qui figuraient dans le lieu décrit, la vérité ne commencera qu’au moment où l’écrivain prendra deux objets différents, posera leur rapport, analogue dans le monde de l’art à celui qu’est le rap­ port unique, de la loi causale, dans le monde de la science et les enfermera dans les anneaux nécessaires d’un beau style, ou même, ainsi que la vie, quand en rapprochant une qualité commune à deux sensations, il dégagera leur essence en les réunissant l’une et l’autre pour les soustraire aux contingences du temps, dans une méta­ phore, et les enchaînera par le lien indescriptible d’une alliance de mots (RTP III: S. 889). Die differenten Objekte von Wasser und Land verbindet hier kein tertium comparationis. In diesem Sinne ist die métaphore eine absolute, die statt auf eine Gemeinsamkeit auf das grundsätzliche Umschlagen verweist: Die Trope ist die sprachliche Version der Doppelgestalt, die das Pathos als Umschlagen und Anderswerden ist.258 Diese Doppelgestalt ist jedoch in ihrer «première illusion» eine Einheit. Als solche birgt sie das Prinzip der «kristallinen» Beschreibung, die Deleuze 255 Billermann 2000: S. 256. 256 Cf. Billermann 2000: S. 16. 257 Gemeint ist die Tradition in Folge von Leibniz und Wolff, die der Metapher jede Wahrheitsfähigkeit absprach (cf. dazu: Albus 2001). Philosophiegeschichtlich nahe steht dieses Konzept Nietzsche, der in Wahrheit und Lüge auch jedes Naturgesetz (und damit jede Verbindung von Ursache und Wirkung) als von uns erdichtete Metapher bezeichnet, «die wir selbst an die Dinge heranbringen, so dass wir uns selber imponieren» (Nietz­ sche 1994: S. 318). 258 Poppenberg 2009: S. 190. 116 Zum récit der «organischen» gegenüberstellt.259 Die «kristalline» Beschreibung zeich­ net sich aus durch einen Kreislauf der Beschreibung, «in dem das Reale und Imaginäre, das Aktuelle und das Virtuelle nacheinander auftreten, ihre Rolle vertauschen und ununterscheidbar werden».260 Dies ist das Prinzip der Wahrnehmung, des inneren Universums, das in dem Gemälde Elstirs angelegt ist. Mit dem Aufheben der Grenzen zwischen Schein (Landzeichen, Zeichen für Festes) und dargestellter Wirklichkeit (Meer, Flüssiges) führt Le Port de Carquethuit die kristalline Beschreibung als Bildprinzip mit metapo­ etischer Reichweite an. In der Referenz auf ein ikonisches Werk für dieses Stilprinzip, das die «Brechung auffangen wird durch die stilistische Einheit»,261 wird es mög­ lich, das literarische Programm als eines zu lesen, das sich nicht am Syllogis­ mus der termes orientieren will, den der operative Aspekt des sprachlichen Zeichens nicht interessiert, sondern das sich orientiert an der unmittelba­ ren Sprache bildlicher «Atmosphären» – mit diesem Grundbegriff unter­ nimmt es Böhme, den vorsprachlichen Eindruck von Bildern sprachfähig zu machen.262 Es sind weder Empfindungen noch Gestalten, noch Gegenstände oder deren Konstellationen, wie die Gestaltpsychologie meinte, was zuerst und unmittelbar wahrgenommen wird, sondern es sind die Atmos­ phären, auf deren Hintergrund dann durch den analytischen Blick so etwas wie Gegenstände, Formen, Farben usw. unterschieden werden.263 Böhme setzt den Begriff als Grundlage einer neuen, aisthetischen Ästhe­ tik gegen die «Urteilsästhetik», von der die bisherige Ästhetikforschung zumeist ausging. Die Aisthesis des Bildes, die einem wortsprachlich for­ mulierten Urteil vorausgeht, entspricht dem in der Recherche formulierten Postulat der «illusion première» in ihrer vorbegrifflichen Wirkung. Das Medium Film spricht in solchen «Atmosphären», die in ihrer stetigen Substitution in der unmittelbaren filmischen Situation nicht vom Verstand in 259 Deleuze 1991b: S. 168. 260 Ibid.: S. 169. 261 Sprenger 1995: S. 7. 262 Gernot Böhme greift in seinem Brief an einen japanischen Freund zur «ontologi­ schen Rechtfertigung und Explikation des Begriffs Atmosphäre» auf das «Zwischen» (ki, aidagara, ningen) bei den japanischen Philosophen Tetsurō Watsuji und Bin Kimura zurück (Böhme 1998: S. 235). Atmosphäre als typisches «Zwischenphänomen» ist weder objektiv noch subjektiv, sondern vielmehr «die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrneh­ menden und des Wahrgenommenen» in der Wahrnehmung (Böhme 1998: S. 236). 263 Böhme 2007: S. 309 f. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 117 die Begrifflichkeit geführt werden.264 Lohmeier versteht den filmischen Code so als eine «vorbegriffliche Sprache».265 Der Port de Carquethuit postuliert in diesem Sinne als poetologisches Programm eine filmnahe Bildästhetik. Das in sich gespaltene Zeichen, dem Deleuze in der Recherche mit «Proust et les signes» nachgegangen ist, weist eine grundlegende Hieroglyphizierung der Umwelt in der Fusion heterogener Komponenten auf, die Deleuze als proust schen Antilogos bezeichnet. Das Deleuze Dictionary fasst zusammen: Also termed an «antilogos­style», transversality assembles heterogeneous components under a unifying viewpoint, which is far from totalising.266 Dieser Antilogos nimmt in der Entwicklung der deleuzeschen Gedanken sowohl zu Proust als auch zum Kinodispositiv eine Schlüsselstellung ein: Während in der Originalausgabe von 1964 die Zeichenserien der Recherche als pluralistisches System gefasst wurden, führt der zweite Teil, der 1970 angefügt wurde, die vormals ausgemachten Serien auf die Logik des Anti­ logos zurück, als dem «Paradox einer Schrift, die verschlüsselt, was sie zu entschlüsseln trachtet».267 Die Umgewichtung der Zeichenserien veranlasst Deleuze, wie Ropars­Wuilleumier anmerkt, zu einer Neuinterpretation der im Kinodispositiv vorgestellten Ordnung (cf. S. 269). Die Einheit der Zeit, an der Deleuze (über die multiplen Verschränkungen hinweg) für die Recherche festhielt, eint im Zeit­Bild gerade dadurch, dass sie sich bricht und totali­ siert, indem sie ihre eigene Einheit konterkariert. In dieser Hinsicht kann das Zeit­Bild, das zugleich durch das kinema­ tographische Werden wie auch durch den theoretischen Umbruch her­ vorgerufen wird, ein Paradox im Bewegungs-Bild selbst nicht nur auf­ decken, sondern sogar auflösen. Kristallin, obwohl divergent, vielfältig und dennoch einheitlich, erneuert das Zeit­Bild das Bild und macht es in seinen Spannungen wie auch seinen Intensitäten gegenwärtig; indem es eine nicht­organische, aber darstellbare Totalität konsti­ tuiert, verdeckt es durch seine Doppelbelichtung eine Bedrohung, mit der die Bewegung in ihrer antilogischen Logik gerade die Möglichkeit 264 So führt die Recherche das Prinzip der Neubenennung folgendermaßen aus: «Les noms qui désignent les choses répondent toujours à une notion de l’intelligence, étrangère à nos impressions véritables, et qui nous force à éliminer d’elles tout ce qui ne se rapporte pas à cette notion» (RTP I: S. 835). Frangne skizziert über diese Vorbegriff­ lichkeit eine Nähe zwischen Proust und Mallarmé (Frangne 2003: S. 51–68). 265 Lohmeier 1996: S. 11 ff. 266 Bryx / G enosko 2005: S. 268. 267 Ropars-Wuilleumier 1997: S. 259. 118 Zum récit der Präsenz und damit des Bildes selbst belastet. Darin läge also die wiedergutmachende Funktion der Kinomaschine: das Zeichen zu bes­ tätigen, das die Maschinerie der literarischen Moderne in ein nicht greifbares Kryptogramm verwandelt; eine filmische Moderne in den Vordergrund zu stellen, die in der Lage ist, die sinnliche Evidenz einer Form wiederherzustellen, die sich die Bewegung zunutze macht, gerade indem sie ihre Erosionskraft kanalisiert, d. h. visualisiert.268 Das Zeit-Bild löst die im Bewegungs-Bild paradoxe doppelte Zugehörig­ keit der Bewegung sowohl zur Diskontinuität wie auch zur Dauer auf, indem es den Riss sichtbar macht.269 Im makroskopischen Zeichenverbund des Gemäldes äußert sich dieser Riss in der Unmöglichkeit einer homoge­ nen Verbildlichung der Beschreibung. Das gesamte Gemälde funktioniert nur als Collage; die «barocke Detailhypertrophie» mit ihren close-ups der Beschreibung steht in zu offensichtlicher Diskrepanz zu einem rein impres­ sionistischen Bild. Die «Ordnung des Risses»270 kennzeichnet auch hier das Bildprogramm. Stéphane Heuet, der für die Comicversion des Gemäldes zu einer Zeichnung gezwungen war, schlägt einen anderen Weg ein: Er nimmt das Bild nicht in der gleichzeitigen Collage auseinander, sondern zeichnet acht Einzelsze­ nen: Der impressionistischen Marineszene folgen Zeichnungen, die sich an Joseph Vernet, Willem van de Velde und William Turner anlehnen.271 Wie sich im Diskurs der Beschreibung ein Eindruck über den nächsten legt, so führt Heuet die Heterogenität des spatialen Bildes in den Diskurs der Erzählung, der eine Einstellung mit der nächsten substituiert. Als metapoe­ tisches Manifest führt der Port de Carquethuit auf dieses Zeichenprinzip, das im alle Brüche umfassenden Kunstwerk nicht auf die Mimesis einer realen Umgebung, auf Ähnlichkeit oder Selbigkeit abzielt, sondern auf eine grund­ legende Alterität, die sich in der Figur der métaphore als Wahrheitsprinzip 268 Ibid.: S. 260. 269 Bereits Baudry hatte mit seinem Artikel Cinéma: effets idéologiques produit par l’appa- reil de base (Baudry 1970) darauf hingewiesen, dass es eines enormen Aufwandes bedürfe, die vom Apparat erzeugten Diskontinuitäten als Illusion von Kontinuität wirken zu lassen. Er verwies auf den abgeschlossenen dunklen Kinosaal und die Regression der filmischen Wahrnehmungssituation, die er mit der körperlichen Immobilität und der Reduktion auf die Fernsinne von Hören und Sehen begründete. Er weist dieser Form von Kino ideologi­ sche Implikationen zu. Es ließe sich folgern, dass das Sichtbarmachen der Konstituenten des Kinodispositivs des modernen Kinos einen neuen Subjektstatus impliziert, in dem der bisher latente Apparat sichtbar und damit reflektierbar gemacht wird. 270 Deleuze 1991b: S. 343. 271 Cf. die Anmerkung von Magner 2003: S. 48. Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 119 (RTP III: S. 889) verdichtet. So verweist das proustsche Bild mit seinen vorbe­ grifflichen «Atmosphären» in letzter Instanz auf das Subjekt als kreierende Größe, dessen Bilder als Spiegel des Selbst nicht anders als «antilogisch» sprechen können. Nach Billermann fehlt dem räumlichen Bild der métaphore im Port de Carquethuit die Zeitlichkeit, die er der Musik Vinteuils zuspricht und in der die mémoire involontaire den Zusammenfall von Gegenwart und Vergangen­ heit ermöglicht.272 Das hier beschriebene Gemälde argumentiert tatsächlich nicht auf die Überwindung des Chronos hin, sondern hebt zeichentheore­ tisch auf das dieser Überwindung zugrunde liegende Prinzip ab, das Alte­ ritäts­ sowie Substitutionsprinzip der métaphore, das in seiner Einheit den Riss einschließt. Wie dieses Kapitel gezeigt hat, streben Ruiz’ und Prousts récits aus den unterschiedlichen Medien heraus eine auffallend ähnliche Form von Visua­ lität an. Diese orientiert sich in beiden Fällen nicht an den materiellen medi­ alen Vorgaben von Vorstellungs­ und Wahrnehmungs­Bildlichkeit, sondern vielmehr an einer Aisthesis visueller Wahrnehmung, die den Körper des Betrachters zur «Quelle» seiner Bilder macht.273 Dafür sucht der Rezipient im literarischen Prätext den dunklen Raum, der ihm die Projektionen des eigenen Ich auf den äußeren écran ermöglicht. In der Lektüre wie im Spa­ ziergang oder im Erwachen wirft sich das literarische Ich im Bild in den (Zeit-)Raum, der wie im deleuzeschen Kristallbild Stillstand mit Bewegung, aktuelle mit virtueller Zeit vereint. Dabei etabliert die Recherche ein Spannungsgefüge zwischen betrachten­ dem Subjekt und betrachtetem Objekt, das sowohl die Subjekt­ als auch die Objektebene als Zerstückelte ausweist und zwischen beiden eine unüber­ windbare räumliche Kluft erstellt, die die Unzulänglichkeit der körperli­ chen Wahrnehmung nicht überwinden kann. In der «illusion première» des Erwachens, der mémoire involontaire oder der (malerischen) métaphore wird jedoch die Collage der Zeiten, Räume und Objekte als Einheit empfunden. Dabei liegt auch in der Wahrnehmung der Disparität ein Mehrwert der Kunst: Der Blick des Subjekts auf das Kunstwerk stellt sich wie eine Erweiterung der eigenen Sinne dar, wie ein «instrument optique», das es 272 Billermann 2000: S. 344. 273 Cf. die Bildanthropologie Beltings 2001b: S. 71. Mit den Worten der Recherche: «[…] puisque nous les avons faites nôtres, puisque c’est en nous qu’elles se produisent, qu’elles tiennent sous leur dépendance, tandis que nous tournons fiévreusement les pages du livre, la rapidité de notre respiration et l’intensité de notre regard?» (RTP I: S. 84). 120 Zum récit ermöglicht, die eigene Wahrnehmung mit einer fremden zu ergänzen. Dies ist ein transmediales Kennzeichen der Kunstbetrachtung, das sich sowohl in der Literatur274, in der bildenden Kunst (RTP III: S. 895) als auch in der Betrachtung der gedanklichen Photographie der greisen Großmutter äußert. Insbesondere im letzten Fall des fremden «automatischen» Kamerablicks enthüllt die Dualität der Blicke die alles nivellierende Wahrnehmung der habitude und eröffnet eine Sicht auf die Zeit als Raum. Dieser «enthüllende» Effekt tritt in dem Moment ein, in dem das Medium in den Blick gerät. Für den Film hält diese Ausgestaltung der Visualität eine ungeheure Bandbreite bereit. Zu nennen ist zunächst einmal das Reißverschlussprinzip von Vorstellung und Wahrnehmung, die den rêve éveillé des Kinodispositivs prägt. Ruiz akzentuiert das genuin filmische Moment der Zuschauerbeteili­ gung in der Ausgestaltung des «doute visuel» in der mise en scène, die dem Zuschauer die Rolle eines «témoin actif» abverlangt. Im ruizschen Kino- dispositiv kennzeichnet Film und Zuschauerraum ein interdependentes Ver­ hältnis von Blicken und Erblicktwerden, das ein dynamisches Kontinuum zwischen Vorstellung und Wahrnehmung etabliert und in Frage stellt, ob hier Schein oder Sein perspektivischen bzw. realen Wirklichkeitswert haben. In der fascination empfindet sich der Sehende als Teil der Diegese. Diese «illusion première» überwindet die grundlegend alteritäre Struktur in Raum und Zeit des Kinodispositivs und lässt ihre «termes» im großen Ein­ druck verschmelzen. In der distanciation dagegen zeigt sich das Kino als Kunstprodukt. Wie im literarischen Prätext bewirken in der ruizschen Verfilmung Passagen, in denen das Medium in den Blick rückt (in markierter Inszenierung von Licht und Schatten, von Bewegung und Stillstand, vor allem aber in der räum­ lichen Fusion und Distanz zwischen Zuschauerraum und Leinwand), ein Aufschrecken aus dem filmischen Traum und lassen die Wahrnehmung des Kinodispositivs ins Bewusstsein treten. Die Ambivalenz der proustschen Visualität, in der Außen und Innen, Hell und Dunkel, Stillstand und Bewegung, Trennung und Fusion in Wechselw irkung treten, die in der Wach-Traum-Ästhetik gründet und in der Gemälde beschreibung des Port de Carquethuit auf die métaphore als Stilmittel der absoluten Alterität verweist, in deren Bild «Ich» immer ein «Anderer» ist, wurde in Grundzügen auf dieses Kinodispositiv zurückgeführt. 274 In der hier aufgegriffenen Lesepassage cf. die Naturdarstellung des Schriftstellers (RTP I: S. 86). Expliziter wird der Erzähler in der Reflexion der Bergotte-Lektüre: «Aussi sentant combien il y avait de parties de l’univers que ma perception infirme ne distin­ guerait pas s’il ne les rapprochait de moi, j’aurais voulu posséder une opinion de lui, une métaphore de lui, sur toutes choses […]» (RTP I: S. 95). Le Temps retrouvé – eine intermediale Spurensuche 121 Ein Kino, das nicht auf eine Ähnlichkeitsrelationierung von Filmbild und Wirklichkeit hinauswill, wie bei Kracauer, Brassaï oder dem frühen Bazin, sondern auf das Verhältnis von Betrachtetem und Betrachtendem, das den Riss in seinem Dispositiv sichtbar und sogar zum Konstituendum der Erzählung werden lässt, das Sein neben Schein den gleichen Wirklich­ keitsrang gewährt und die filmbildlichen Atmosphären zu traumähnlichen Hieroglyphen macht, die sich von Einstellung zu Einstellung substituie­ ren, – also das Kino von Raoul Ruiz – steht dieser Form visueller Beschrei­ bung besonders nahe, wie das folgende Kapitel näher darlegen wird. 4 Zur narration Aus der grundsätzlichen semiotischen Mediendifferenz, die sich im Code der Literatur bzw. des Films äußert, folgt auch für die narrative Vermittlung zunächst eine grundlegende Unterscheidung, die Chatman direkt am sym­ bolischen bzw. ikonischen Code festmacht; der Film pflegt eine Geschichte zu zeigen (to show), das Buch hingegen zu erzählen (to tell).275 Während die Mimesis der Literatur ohne Umwege darstellen kann, läuft die Diegesis des Films zwingend über die Erzählinstanz der Kamera (und Montage), teilweise auch über einen Voice-over-Erzähler. Der literari­ sche Prätext, so wurde bereits deutlich, strebt keine direkte Mimesis an, sondern weist leitmotivisch über die kommentierende Distanz des Erzäh­ lers auf einen Wahrnehmungsfilter hin. Der literarisch erzählte künftige Erzähler ist offensichtlich um die Form einer Diegesis bemüht, die sich am ikonischen Code anlehnt, wenn das Produkt seines literarischen Schaffens als «moyen de vision» mit einem passenden Vergrößerungsglas betrachtet werden soll (RTP III: S. 1033). Deleuze fasst zusammen: Le style ne se propose pas de décrire ni de suggérer: […] il explique avec des images.276 275 «Mediated narration […] presumes a more or less express communication from nar­ rator to audience. This is essentially Plato’s distinction between mimesis and diegesis, in modern terms between showing and telling» (Chatman 1980: S. 146; cf. auch Chatman 1990: S. 117). 276 Deleuze 1996: S. 199. https://doi.org/10.17885/heiup.310.420 124 Zur narration Dabei ist das erzählende Ich ein (mindestens) duales, das sich teilt in eine zeigend­erzählende Instanz und eine bzw. mehrere erinnerte. Die beiden Instanzen kommen zu keinem Zeitpunkt zur vollständigen Deckung: Der temporale Fixpunkt, von dem aus erzählt wird, ist außerhalb des Romans angesiedelt – der Erzähler hat offenkundig den Akt der Narration noch nicht vollendet. In Le Temps retrouvé formuliert er nach der Matinée de Guer­ mantes seinen Entschluss, sich «demain» ans Werk zu setzen; die gesamte Erzählung ist demnach erst noch zu erzählen, das Imparfait also eigentlich als «futur du passé»277 zu lesen – Prousts Roman ist nicht die Realisierung von Marcels Romanprojekt.278 Die scheinbar homodiegetische Erzählung – der Erzähler ist Figur in seiner eigenen Geschichte – ist eine Täuschung: Die Stimme erzählt bzw. zeigt den Roman zeitlich aus einer Leerstelle heraus. Ruiz inszeniert seinen Proust im Akt des Diktats offensichtlich als Erzäh­ ler: Zunächst erweckt die Eingangssequenz des schreibenden Proust den Eindruck einer Rahmenhandlung, die aus dem Moment der Romannieder- schrift heraus erzählt.279 Doch auf den Moment, in dem Proust diktierend gefasst wird (0:02:35 ff.), folgt im selben Raum, wieder im Beisein Célestes, Proust im Delirium des nahen Todes (0:13:35  ff.). Wie kann «Prousts» Rückblick das künftige Delirium umfassen? Oder liegt der Zeitpunkt der Erzählung vielmehr zwischen bzw. außerhalb beider Szenen? Das zeitli­ che Verhältnis wird nicht aufgelöst, es gibt ebenso wenig wie im literari­ schen Prätext ein «Hier und Jetzt», aus dem sich die Erinnerung ableiten könnte.280 Die einzig feststellbare erzählende Größe einer Erzählung ist die Erzählung des als präsentisch wahrgenommenen Kamerabildes, das kom­ mentierend die theatrale Abbildungsebene fokalisiert. Kameraerzählung und die direkte Informationsvergabe des Filmbildes müssen sich in der filmischen Kommunikationssituation nicht an irgendeinem Punkt des zeit­ lichen Koordinatensystems treffen, es sind zwei prinzipiell getrennte, doch in der Erzählung interagierende Ebenen. 277 Cf. Jauß 2009: S. 100. 278 Dies betont auch Keller 1983: S. 167. 279 «Bei der Rahmenerzählung bindet sich der Erzähler an den Wissensstand eines zweiten Erzählers, des Binnenerzählers, der hier normalerweise eine der dramatis per­ sonæ ist, weshalb Rahmenerzählungen im Film der Form nach eigentlich Rückwendun­ gen sind (cf. S. 155 f.) mit dem Unterschied, daß die Rückwendung hier nun Vehikel des gesamten Erzählvorganges ist» (Lohmeier 1996: S. 212). 280 Lohmeier stellt die Behauptung auf, dass jeder Wechsel der Zeitebene, jede Rück­ blende auf vergangenes Geschehen, im Film aus der Jetzt-Zeit des Erzählens / E rzählten (z. B. aus der ‹hier und jetzt› stattfindenden Erinnerung einer Figur; cf. Lohmeier 1996: S. 33 f.) motiviert werden muss. Ruiz zeigt, dass ein Film sehr wohl ohne einen solchen Zeitpunkt auskommt, in dem er das «Hier und Jetzt» auf den instantanen Erzählakt der Kamera (bzw. der Bild-Projektion) verweist. Zur narration 125 Lohmeiers Forderung nach einem temporalen Fixpunkt der Erzählung ist eine Forderung des Bewegungs­Bildes. In der zeitlichen Labyrinth­ struktur des Zeit-Bildes dagegen gilt vielmehr der Narrationsakt, wie ihn die Recherche etabliert hatte. Dabei gibt die literarische Erzählung in ihrer Form kein strukturloses Netz vor. Die zwei Pole des Schreibend-Erinnern­ den und des Erinnerten (in seiner zeitlichen Vielheit) bleiben als grundle­ gend duale Struktur, die verschiedenartige Austauschformationen eingeht, immer bestehen. In dieser dualen Struktur von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt trifft sich die duale Erzählkonzeption der Recherche mit der filmischen Erzählsituation, wie sie Lohmeier in der Tra­ dition Stanzels für die «vorbegriffliche Sprache» des Films ausmacht, als ein Beziehungsverhältnis zwischen den filmischen Elementen der Kame­ radarstellung und des Schauspiels. Lohmeier trennt die bildlich sprechende «Abbildungsebene» (d. h. die Abbildung von Schauspielern, Raum usw. durch die Kamerahaltung) von der dramatisch sprechenden Darstellungse­ bene (dem Spiel der Schauspieler): Auf der Abbildungsebene wird das Subjekt des kinematographischen Sprechakts situiert. Hier geht es um den Abbildungsakt in seiner Funktion «als Äußerung eines (fiktiven) Subjekts über seine Beziehung zum Abgebil­ deten» (ibid.). Diese Ebene umfasst sämtliche Techniken, über die das Bild­ subjekt seine Beziehung zum Objekt vermittelt, also spezifische kinemato­ graphische Zeichenrepertoires wie das der Kamera (Aufnahmedistanz, Perspektive, Kamerabewegungen, Blendentechnik usw.) oder der Montage. Wie Hurst setzt Lohmeier den filmischen Erzähler mit der Kamera gleich.281 Auf der Darstellungsebene sind dagegen die Objekte der Kamerawahrneh­ mung «in ihrer Funktion als Subjekte der dramatischen Selbstdarstellung situiert».282 Diese Ebene umfasst die Gesamtheit der gegenständlichen Welt, auf die Kamera und Mikrophon reagieren, die «Auge» und «Ohr» des fikti­ ven Erzählers wahrnehmen können. Das Wechselspiel von Bildlichkeit und Erzählung, das Lohmeier als grundlegend für den kinematographischen Sprechakt ausmacht, erweitert 281 Cf. Hurst 1996: S. 87 ff. Hierbei herrscht Uneinigkeit: Die Tradition zu Bordwell lehnt die Annahme einer Erzäh­ lerinstanz im Film grundsätzlich ab. Kuhn differenziert grundlegend eine «visuelle Erzählinstanz» und eine (fakultative) sprachliche Erzählinstanz (Kuhn 2011: S. 84). 282 Lohmeier 1996: S. 42. Cf. Kuhn: «Beim kinematographischen Erzählen durch visuelles Zeigen gibt es keine kategoriale Trennung des Zeigens innerhalb einer Einstellung (durch das, was die Kamera aufzeichnet) von dem Zeigen der Verhältnisse verschiedener Einstellungen zueinander (dadurch dass das, was die Kamera jeweils aufgezeichnet hat, durch Montage zueinander in Bezug gesetzt wird)» (Kuhn 2011: S. 88). 126 Zur narration hier Poppes Kategorie der Visualität in seinem Bezug auf die narrative Ver­ mittlung als intermedialer Vergleichsgröße, die Kuhn als «Tertium Com­ parationis zwischen Literatur und Film»283 auffasst. Dieser Ansatz, der als Grundlage komparatistischer Studien die erzählerische Vermittlung in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, wurde bereits von Hurst (1996) ent­ wickelt, der in Anlehnung an Hagenbüchle (1991) die Erzählsituation nach Stanzel als Vergleichsgröße ins Spiel bringt. Aus Gründen der Kohärenz wird hier weiterhin mit Genettes Terminologie operiert. 4.1 Die Abbildungsebene – die Kamera als Erzähler Wie bei Kuhn schließt die visuelle Vermittlungsinstanz bei Lohmeier im Verhalten der Kamera auch die Montage ein (verstanden als Blickwechsel der Kamera).284 Hier äußert sich nach Lohmeier der «Standort des Erzäh­ lers» als «gegenständlich-räumliche» Position (S. 188). Sie steht damit in der Tradition Chatmans, der in seiner grundlegenden Klassifizierung den «cinematic narrator» als hierarchisch höchste Erzäh­ linstanz festsetzt, der die Geschichte zeigt.285 Dabei weist der ruizsche Nar- rator eine komplexe Struktur auf, die sich in den Kategorien von Modus und Stimme nachvollziehen lässt. 4.1.1 Modus und Stimme in Ruiz’ Le Temps retrouvé 4.1.1.1 Die homodiegetisch narrative Kamera mit interner Fokalisierung Die Eingangsszene präsentiert zunächst den moribunden Proust als Erin­ nernden und den Einbruch der folgenden Sequenzen als Erinnerung. So führt Ruiz einen scheinbar homodiegetischen Erzähler ein, der sich als Autor des Gezeigten gibt. Konsequenterweise ergäbe sich hieraus eine point- of-view-shot-gebundene Erzählform, die die Kamerawahrnehmung und die Wahrnehmung einer Erzählerfigur der Darstellungsebene (annähernd) in Deckung bringt286. 283 Kuhn 2011: S. 75. 284 Lohmeier 1996: S. 188; Kuhn 2011: S. 128. 285 Cf. Kuhn 2011: S. 113. 286 In Kuhns Modell wird in diesem Fall in Anlehnung an Josts Weiterentwicklung von Genette von «interner Fokalisierung bei interner Okularisierung» gesprochen (Kuhn 2011: S. 140 f.), bzw. von einem «Ich-Kamera-Film» (Kuhn 2011: S. 167 ff.) Die Abbildungsebene – die Kamera als Erzähler 127 Lohmeier bindet hierbei die Subjektivität der Darstellung streng an die Kamera, sodass das fokalisierte Objekt nur im Spiegel erscheinen darf.287 In der Erzählung der subjektiven Kamera interagieren die von Lohmeier getrennten Ebenen der Abbildung und Darstellung: In der filmischen Ich-ES wird […] Identifikation des fiktiven filmi­ schen Erzählers mit dem technischen Apparat zu einer faktischen dergestalt, dass die Kamera nicht nur als narrative Vermittlungs­ instanz (S 2), sondern zugleich auch als Figur (S / E 1) der erzähl­ ten Geschichte und damit als Kommunikationspartner der übrigen fiktiven Figuren in Funktion tritt, selbst zu einem der Akteure der Geschichte wird [sic].288 Dies entspricht der erklärten Autodiegese der Recherche, in der der Erzähler aus der Ich-Perspektive sein eigenes Leben erzählt; augenscheinlich ist alles Erzählte begrenzt durch das Blickfeld bzw. das Zugetragene und somit an den Horizont des Erzählers gebunden. Proust, der sich für die jamessche Technik des point of view interessiert hatte,289 hatte sich erklärtermaßen die interne Fokalisierung des Helden auferlegt, die sich an dem «Blickwin­ kel des Helden» orientiert «mit seinen Einschränkungen des Feldes, sei­ nen augenblicklichen Wissenslücken und dem, was der Erzähler von seiner Warte aus als Jugendsünden, als Irrtümer, Naivitäten oder ‹Illusionen, die man verlieren muss›, betrachtet», wie Genette feststellt.290 Auf Grund der Bindung an die Augen des Erzählers kann dem Leser kein Einblick in die Figuren der Geliebten gegeben werden, sei es Odette, Gilberte oder Albertine, denn: Lohmeier spricht in Anlehnung an Stanzel von einer Ich-Erzählsituation (Lohmeier 1996: S. 189 ff.). 287 So auch Deleyto (Deleyto 1996: S. 221, 224 ff.). Michaela Bach fasst dagegen die Sub­ jektivität im Film freier: Da im Film keine grammatischen Regeln existieren, könne sich eine etwaige Subjektivität nur über die gesamte Analyse der Montage sowie des Kon­ textes von Zeit-, Genre- oder Autorkonventionen im Zusammenspiel mit dem Zuschauer ergeben (cf. Bach 1999: S. 241 ff.). 288 Lohmeier 1996: S. 196. 289 Insbesondere in What Maisie Knew, in dem die Fokalisierung die eingeschränkte Perspektive des Kindes einnimmt: James 2010 (1897). Cf. Berry 1927. 290 Genette 2010: S.  141. Die folgenden Ausführungen basieren grundlegend auf der Erzähltheorie Genettes, da diese direkt auf die Recherche Bezug nimmt und sich leicht auf die filmische Erzählsituation übertragen lässt. 128 Zur narration Un être réel, si profondément que nous sympathisions avec lui, pour une grande part est perçu par nos sens, c’est-à-dire nous reste opaque, offre un poids mort que notre sensibilité ne peut soulever (RTP I: S. 85, Hervorhebung d. Verf.). Wie die Häufung der modalisierenden Wendungen (vielleicht, wahr­ scheinlich, als ob, wie es scheint), auf die unter anderem Spitzer hinge­ wiesen hat, suggeriert, ist jeder Gegenstand der Erzählung durch den Fil­ ter der Wahrnehmung gegangen.291 Hier wird die körperliche Präsenz des erlebenden Ich offenbar, der wie eine Kamera aufzeichnet, was hörbar und sehbar ist. Dabei scheint die grundsätzliche Differenz zwischen dem erlebenden und erzählendem Ich zunehmend zu schmelzen: Wenn gegen Ende des Romans das «je pensais» des Helden sich schreiben lässt als «je comp­ renais», «je remarquais», «je sentais», «je savais», «je compris» (RTP III: S.  869–899) ist die Trennung zum «je savais» des Erzählers kaum mehr spürbar.292 Die Verschmelzung der Ebenen des Erlebenden und Erzählenden äußert sich im Medium Film in der klassisch subjektiven Kamera, die den «Subjekt­ status des Apparats wörtlich» nimmt und «aus dem stummen Wahrneh­ mungssubjekt filmischer Bilder tatsächlich ein, wie Stanzel es nennt, ‹Ich mit Leib›» macht.293 Sie wird unterstützt von der homodiegetischen Voice- over-Stimme, die die filmische Erzählung passagenweise mit den Reflexio­ nen des Erzählers begleitet. Tatsächlich finden sich einige Einstellungen, die in auffälliger Weise an Szenen aus Lady in the Lake erinnern, ein Film, der häufig als Beispiel für eine konsequente Ich-Perspektive herangezogen wird (Abb. 4.1).294 Proust erscheint in Ruiz’ Verfilmung häufig im Spiegel. So wird er gleich zu Beginn des Films eingeführt (Abb. 4.2). 291 Cf. Spitzer 1961: S. 365–497. 292 Genette 2010: S. 165. 293 Cf. Lohmeier 1996: S. 196. 294 Cf. u. a. Garard 1991: S. 2; Monaco 2002: S. 46. Kuhn kritisiert diese Reduzierung auf ein filmisches Beispiel, das kommerziell schei­ terte, und verweist als erfolgreiche Beispiele u. a. auf: Der Florentiner Hut (1939), Dark Passage (1947), MASH, episode Point of View (1978), La Femme défendue (1997), Being John Malkovich (1999), Thomas est amoureux (2000), Le Scaphandre et le Papillon (2007) (cf. Kuhn 2011: S. 182 f.). Die Abbildungsebene – die Kamera als Erzähler 129 Abb. 4.1 Lady in the Lake (Standbild aus Monaco 2002: S. 46). Abb. 4.2 Erster Auftritt im Spiegel (0:04:05). In Rachels Umkleidekabine ist er präsent, wird jedoch nur indirekt durch den Spiegel in die Inszenierung einbezogen, wie eine wahrnehmende Ins­ tanz, die aus der Entfernung zuschaut, doch nicht in die Handlung der Die­ gese eingreift (Seq. 4.1). 130 Zur narration Seq. 4.1 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609762) Im Hintergrund des Spiegels (0:24:52–0:25:32). Während in dieser Szene das Spiegelbild Prousts bei einmaligem Sehen unentdeckt bleiben kann, lässt Ruiz in der Dialogszene zwischen Proust und Morel Proust aus dem im Vitrinenschrank gespiegelten Bild sprechen. Statt einen Gegenschuss zu setzen, verharrt die Kamera in der Einstellung – spä­ testens da fällt dem Zuschauer die ungewöhnliche Bildkonfiguration auf (1:26:45 ff.; Seq. 4.2). Seq. 4.2 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609763) Morel im Gespräch mit Prousts Spiegelbild (1:24:36–1:26:54). Die Abbildungsebene – die Kamera als Erzähler 131 Ein ähnliches Kameraverhalten findet sich gegen Ende, als der bärtige Proust (Engel) im Zimmer seiner Kindheit eine Unterhaltung mit seinem kind- lichen Alter Ego (Du Fresne) führt (Abb. 4.3). Abb. 4.3 Marcel im Gespräch mit dem Spiegelbild aus der Zukunft (2:26:22). Dennoch tritt der Spiegel in Ruiz’ Film nicht in den Dienst der Illustrierung einer bestimmten Fokalisierung. […] c’est l’image qui crée les situations et les justifie. Tout ce qu’il y a dans le cadre raconte.295 Der Spiegel verselbstständigt sich als serielles Motiv in unterschiedlicher mise en scène: Er verleiht dem Raum eine (virtuelle) Tiefe, setzt die Figuren in eine unüberwindbare Distanz296 und tritt nicht zuletzt als Zeitzeichen in Erscheinung, wie die Untersuchung der Raumzeit zeigen wird. Auch ist der Effekt des Sprechens aus dem Spiegel nicht allein Proust vorbehalten. In Seq. 4.3. zum Beispiel spricht Odette aus dem Spiegel. Die Kamera bewegt sich in einer Kamerafahrt Richtung Hand und lässt die Auflösung der Raumsituation mit Odette im Bildkader erwarten – kurz vorher hält die Kamera jedoch in der Bewegung inne und verbleibt bei Marcel. Die im Spiegel kadrierte Odette erscheint so als das zweite wahrneh­ mende Subjekt der Einstellung. Hier weist das Filmbild implizit auf litera­ rische Passagen hin, in denen der Einblick in die Wahrnehmung nicht dem 295 Barde 1999: S. 1. 296 Cf. Ruiz 2000: S. 79. 132 Zur narration Seq. 4.3 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609764) Der Spiegel im Spiel der Wahrnehmung (2:21:16–2:21:28). erzählten «Ich» vorbehalten bleibt, wie etwa im Gespräch zwischen dem «Ich» und Mme de Cambremer,297 oder – noch verwunderlicher – in der Voyeurszene Montjouvains, in der die eingeschränkte Sicht- und Hörbar­ keit einhergeht mit einem vollkommenen Einblick in die zarte Gefühlswelt Mademoiselle Vinteuils. «Allem Anschein nach kann der Beobachter zwar weder alles sehen noch alles hören, dafür aber sämtliche Gedanken erra­ ten», schreibt Genette und führt dies auf die doppelte Fokalisierung zurück, die zwei getrennte Wirklichkeitsebenen erfasst (ibid.). Gemeint ist mit den ruizschen Spiegelungen des erlebenden Ichs dem­ nach keine homodiegetische Instanz mit stringenter interner Fokalisie­ rung. Doch bleibt der Eindruck einer Anthropomorphisierung, die Kuhn dem Spiegeltrick zuschreibt.298 Auch wenn Anspielungen auf die Lady-in- the-Lake­Perspektive bewusst gebrochen werden, wird der Kamera auch in spiegellosen Einstellungen oftmals eine körperliche Präsenz zuteil, die sie als «Ich mit Leib» auf den Plan treten lässt. Es ließen sich etliche Szenen aufzählen, in denen man förmlich einen Kameramann spürt, eine Art menschlicher Wahrnehmung, die zu dem Auge gehört, das den Kader wahrnimmt, und die menschlich reagiert. So zum Beispiel beim Abend der Verdurins, an dem die Kriegsmode vorgestellt 297 Genette 2010: S. 148. 298 «So wird verstärkt, dass das, was zu sehen ist, der physiologischen Wahrnehmung einer menschlichen Figur zugeschrieben werden soll» (Kuhn 2011: S. 180). Die Abbildungsebene – die Kamera als Erzähler 133 wird. Die Kamera ist in ständiger Bewegung, dabei gibt es wenig Schnitte. Als der Modeschöpfer Mme Verdurin seine Kriegskreationen zeigt, springt die Kamera nicht etwa in Deckung mit dem Blickfeld der Gastgeberin, son­ dern bleibt wie eine weitere Instanz der Wahrnehmung stehen, bis sich der Couturier ihr annähert und sie einen Blick in die Mappe wirft, als vollziehe sie eine Bewegung höflichen Interesses nach, bevor sie den Modeschöpfer mit Mme Verdurin weiterziehen lässt (Seq. 4.4). Seq. 4.4 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609765) Die wahrnehmende Kamera (0:40:04–0:40:26). In anderen Szenen dagegen achtet die Kamera sichtlich auf Abstand und gebärdet sich wie ein Spion oder Voyeur. So zeigt sie beispielsweise Proust, der im Restaurant nach Charlus sucht, seitlich aus dem Parallelgang und nimmt dafür in Kauf, dass er immer wieder von Säulen, Pflanzen oder Men­ schen verdeckt wird und zeitweise gar nicht zu sehen ist (0:46:11 ff.; Seq. 4.5). Auch bei der Beerdigung Roberts (1:26:40  ff.) oder in der Schlussse­ quenz des unterirdischen Labyrinths legt die Kamera so viel Wert auf Dis­ tanz, dass sie die Figuren mehrmals aus dem Kader verliert, während sich andere Gegenstände in den Bildvordergrund schieben, die nicht dem pri­ mären Kamerainteresse entsprechen. Besonders deutlich wird das Versteck­ spiel der Kamera in der Szene, in der Proust von Albertine träumt: In dem Moment, in dem Proust aus dem Traum aufschreckt, duckt sich die Kamera hinter einen Stuhl (Seq. 4.6). Die Kamera demonstriert ihre Unabhängigkeit von jeglicher personaler Bindung sehr eindrucksvoll in der Szene, in der Robert Proust im Restaurant vom Krieg erzählt. Es wirkt fast so, als würde sie sich bei seinem langen 134 Zur narration Seq. 4.5 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609766) Die spionierende Kamera (0:48:55–0:49:32). Seq. 4.6 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609767) Versteckspiel der wahrnehmenden Kamera (0:20:42–0:21:00). Monolog etwas langweilen. Statt die beiden in klassischem Schuss­Gegen­ schuss in ihrer Unterhaltung zu begleiten, schaut sie zunächst von einer eigenartigen Position unter dem Tisch auf die Gesprächspartner (wäh­ rend Proust zurückblickt), bewegt sich dann durch den Raum, zeigt die reich gedeckte Tafel und weitere Details, um schließlich wieder zum Tisch zurückzukehren (1:01:57–1:01:39). Der Blick aus Augenhöhe und lange, Die Abbildungsebene – die Kamera als Erzähler 135 ununterbrochene Kamerafahrten kennzeichnen die Gegenwart der Kamera als von der Wahrnehmung der Bühnenfiguren unabhängige Größe. Häufig dreht sie sich während der Fahrt, zeigt den Raum dabei in seiner Tiefe, die Figuren aus verschiedenen Perspektiven:299 Hier spricht der cinematic narra- tor der filmischen Erzählung; es bleibt bei einem «als ob» der ontologischen Deckung: Die subjektive Kamera steht für den menschlichen Blick, kann ihn nur suggerieren, nicht aber vollkommen nachahmen […].300 Das erzählende «Ich» ist ein anderes. Die duale Trennung des Ich in die erzählende und die erlebende Instanz, auf die Spitzer abzielt,301 deckt sich auch in der Recherche nie vollständig; wenn gegen Ende des Romans das «ich glaubte» des Helden sich schreiben lässt als «ich wusste», «mir wurde klar» (RTP III: S. 869–899) ist die Trennung zum «ich weiß» des Erzählers zwar kaum mehr spürbar302 – doch noch immer vorhanden. Diese Erzählform, die eine duale Trennung zwischen einem aus der Distanz audiovisuell zeigenden Erzähler, der ein Anderer ist als der in der Diegese erinnerte, dessen Horizont er jedoch teilt, soll folgend unter der Kategorie der «heterodiegetischen narrativen Kamera mit interner Fokali­ sierung» näher betrachtet werden. 4.1.1.2 Die heterodiegetische narrative Kamera mit interner Fokalisierung Diese Erzählform bezeichnet Lohmeier als «personale Erzählsituation»,303 als Form einer Er / S ie-Erzählung, die «im Grunde einzig plausible Form fil­ mischen Erzählens, weil sich die kinematographische Ästhetik nur in ihr voll entfalten kann» (S. 201  f.). Dabei geht die pseudomenschliche Anwe­ senheit der Kamera als des «Anderen» über ihre bloße Rolle der Aufzeich­ nung hinaus, in einigen Passagen scheint sie durch ihre Blickführung in 299 So z. B. in der Szene, in der Marcel seine Laterna benutzt (0:09:28  ff.), nach dem plötzlichen Regenschauer in Tansonville, als Proust und Gilberte beim Herboriste Schutz suchen (0:23:17 ff.), als Charlus im Restaurant über die Artikel Morels redet, oder in der Szene, die Proust im Gespräch mit Robert zeigt (ebenfalls im Restaurant) (1:00:02–1:03:27). 300 Kuhn 2011: S. 181; cf. auch Lohmeier 1996: S. 198. 301 Spitzer 1961: S. 365–497. Diese Dualität wurde auch von Jauß beschrieben (Jauß 2009: S. 282). Zur Schichtung der «Ich-Ich-Struktur» cf. jüngeren Datums auch Vogt (Vogt 2008: S. 71). 302 Genette 2010: S. 165. 303 Lohmeier 1996: S. 198. 136 Zur narration die Diegese einzugreifen. Hier beispielsweise lenkt sie den Blick des Prota­ gonisten auf ein Holzkästchen, das sich auf dem Kamin befindet, bis dieser sich dem Kästchen nähert, um es schließlich zu öffnen (Seq. 4.7). Seq. 4.7 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609768) Die wahrnehmende Kamera verweist auf das Kästchen (0:32:15–0:32:39). Dass die Kamera nicht mit der Wahrnehmung der dargestellten Person in Deckung zu bringen ist, ist offensichtlich. Doch scheint es zunächst so, als würde sie den Horizont des Protagonisten teilen: Der aufmerksame Zuschauer entdeckt Proust immer wieder im Hintergrund, auch in Szenen, in denen er keinen Sprechpart hat, in denen er eigentlich keine Rolle spielt. Hier ist er Zeuge, als Mme Verdurin mit Morel intim vereint Tee trinkt und ihn nach seinem Treffen mit Charlus fragt (Seq. 4.8). Einen Moment lang sieht der Zuschauer Proust in der Tür, kurz darauf wendet sich dieser zum Gehen ab. Hierin ähnelt die Inszenierung Prousts Anwesenheit in Rahels Umkleidekabine – obwohl Proust kein sprechender Part zukommt, ist er als Wahrnehmender zugegen (cf. 0:24:52–0:25:32). Auch auf der erstmals erinnerten Matinée tritt Proust nicht als Handelnder auf. Während die Kamera die Unterhaltung zwischen Mme Verdurin und Odette fokussiert, durchquert er jedoch im Hintergrund das Bild (Seq. 4.9). Doch wie könnte Proust die inszenierte Erinnerung Morels an das Zusammentreffen mit Charlus auf dem Jahrmarkt kennen? Zu diesem Zeitpunkt hatte er den Raum schließlich bereits verlassen. Dies gilt auch für die Unterhaltung zwischen Gilberte und ihrem Mann Robert in Tan­ sonville: Er ist hier nicht zugegen, wie also konnte er die gesprochenen Worte oder die Gesten erfahren? Ist es ihm erzählt worden? Ruiz hätte Die Abbildungsebene – die Kamera als Erzähler 137 Seq. 4.8 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609769) Proust an der Türschwelle (1:06:29–1:06:47). Seq. 4.9 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609770) Proust durchquert den Bildhintergrund (0:06:49–0:07:19). solche Szenen in eine Binnenerzählung einbetten können, das hat er aber nicht getan. In diesen unaufhebbaren Paralepsen, die der eingeschränkten Sicht widersprechen, klingt eine Nullfokalisierung an, die Genette auch in der Recherche ausgemacht hat: So teilt uns der Erzähler beispielsweise unver­ mittelt die Gedanken von Madame de Cambremer in der Oper mit, die des 138 Zur narration Dieners, der auf der Soirée de Guermantes die Gäste ankündigt, die des Historikers der Fronde und die des Archivars bei der Matinée Villeparisis sowie die von Basin und Bréauté während des Diners bei Oriane.304 Ebenso erfahren wir von den Gefühlen Swanns für seine Frau (RTP I: S. 522–525), von denen Saint-Loups für Rachel (RTP II: S. 122, 156) – oder, der Gipfel der Unwahrscheinlichkeit für die Ich-Perspektive – von den letzten Gedanken des sterbenden Bergotte (RTP II: S. 187). Michel Raimond spürte darüber hin­ aus jene Szene als Beleg der «ubiquité» des Erzählers auf, in der Charlus Cottard in ein abgelegenes Gemach führt, um sich dort ohne Zeugen mit ihm zu unterhalten: Il recouvre même le privilège d’ubiquité, car Cottard, qui a été mandé par Charlus comme témoin, est emmené par lui dans une pièce iso­ lée: Marcel n’y était pas présent, mais l’auteur raconte leur entrevue dans tous ses détails.305 Die Narration ohne Zwischenstation weist hier auf die Nullfokalisierung hin, das heißt auf die Anwesenheit eines allwissenden Erzählers. 4.1.1.3 Die heterodiegetische narrative Kamera mit Nullfokalisierung Diese Art der Erzählung wird gemeinhin als die dem filmbildlichen Medium nächstliegende betrachtet306 – die erzählende Kamera zeichnet sich hier durch ihre Unabhängigkeit von der Diegese aus. Die teilweise irritierende Markie­ rung dieser Unabhängigkeit stellt die Kamera im Sinne Lohmeiers persönlich auktorialer Erzählerfigur dar, die ein «kommentierendes Abbildungsverhal­ ten»307 mit auffälliger Kameraarbeit und Montage an den Tag legt. Ihre potentielle Ubiquität beweist die Kamera beispielsweise in folgen­ der Sequenz, in der sie Proust und Odette bei einer Unterhaltung in einer Kutsche zeigt (Seq. 4.10). 304 Cf. Genette 2010: S. 147. Genette weist auf folgende Textstellen hin: RTP II: 56 f., 636, 215, 248, 524 f. 305 Raimond 1966: S. 541. 306 Cf. dazu neben Lohmeier 1996: S. 210 auch Deleyto 1996: S. 217 ff. und Kuhn 2011: S.  131. Die Begriffe für den «nobody’s shot» divergieren: Lohmeier spricht von einer «auktorialen Erzählsituation» (Lohmeier 1996: S.  210), Kuhn von «Nullfokalisierung» (Kuhn 2011, S. 131), Deleyto und Griem / V oigts-Virchow von einer «externen Fokalisie­ rung» (Deleyto 1996: S. 221 f., 224 f.; Griem / V oigts-Virchow 2002: S. 169). 307 Lohmeier 1996: S. 211. Die Abbildungsebene – die Kamera als Erzähler 139 Seq. 4.10 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609771) Die antropomorphe Unabhängigkeit der Kamera (0:42:54–0:43:12). Anfangs gibt sich diese Szene noch wenig auffällig: Sie begleitet die Unter­ haltung von Odette und Proust aus der Nähe, bis die Kutsche hält. Dann macht sich die Kamera jedoch als vom Zuschauerinteresse unabhängige Instanz bemerkbar. Als wäre ein weiterer Körper präsent, der sein Fahrtziel noch nicht erreicht hat, bleibt die Kamera auch nach dem Ausstieg der Pro­ tagonisten in der Kutsche. Das Anrücken der Kutsche gibt dem Zuschauer tatsächlich für einen Moment die Illusion, die Kamera bewege sich nun voll­ ends vom Schauplatz des Geschehens fort, da erscheint schon das vogel­ perspektivische Bild, das Proust und Odette am oberen Treppenabsatz in Empfang nimmt. Die Kamera lenkt die Erzählung aus der Perspektive der Allwissenheit und Ubiquität: Sie kann mit der Kutsche abfahren und gleich­ zeitig im oberen Geschoss auf die Gäste warten. Darüber hinaus offenbart sie ihre Distanz zur Diegese in der Macht über deren Inszenierung. Sie kann dem Zuschauerwunsch entsprechen und die Protagonisten in Nahaufnah­ men darbieten, kann sie aber auch aus dem Kader verschwinden lassen. In dieser Szene scheint sie explizit ihre mögliche Omnipräsenz zu inszenieren. Obwohl die Kamera in der Kutsche wieder den Eindruck figürlicher Kör­ perlichkeit erweckt, ist sie nicht an diese gebunden. Sie kann an mehreren Orten zugleich sein, sie kann fliegen oder Orte und Personen aus extravag­ anten Perspektiven zeigen. So zum Beispiel nähert sich die Kamera in 90-Grad-Drehung unter der Decke schwebend dem Bankett im Hotel des Verdurin (Abb. 4.4): 140 Zur narration Abb. 4.4 Die leiblose Kamera im Hotel des Verdurin (0:33:17). Es folgt ein horizontaler Schwenk aus dieser extremen Vogelperspektive einmal quer durch den Raum. Wie das folgende Standbild zeigt, stellt doch auch die Zimmerdecke keine Begrenzung für die Kamera dar: Die Kamera, die hier den bärtigen Proust im Boulevard Haussmann kadriert, scheint durch die Zimmerdecke hindurchzublicken (Abb. 4.5). Abb. 4.5 Die leiblose Kamera im Boulevard Haussmann (0:39:02). Die anthropomorphe Gebärdung der Kamera ist ein gewählter Modus, der ohne Schwierigkeit von einem leiblosen Modus abgelöst werden kann. Die Abbildungsebene – die Kamera als Erzähler 141 4.1.2 Die Polymodalität als präfilmische Erzählform Die Annäherung des Kameraverhaltens an eine menschliche Wahrneh­ mung ist nicht unidirektional. Das zeigt der Vergleich der folgenden Szenen: In der Kadrierung des Spaziergangs von Proust und Saint-Loup im Bois de Boulogne äußert sich die freie Bewegung der Kamera als langsame Kran­ fahrt Richtung Erde (Seq. 4.11). Seq. 4.11 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609772) Kranfahrt der Kamera (2:17:14–2:17:37). Offensichtlich sind die Bewegungsmöglichkeiten Marcels auffallend ähn­ lich frei: In der folgenden Szene wird Marcel zunächst hinter dem Fenster im Innenraum Tansonvilles kadriert. Er blickt nach draußen auf die spielen­ den Kinder, um nach dem Schnitt tatsächlich vor dem Fenster zu stehen, um dann fröhlich grüßend mit dem Kran der Kamera vor der Fassade herunter­ zufahren (0:11:32 ff.; Seq. 4.12). Im Wechsel der Einstellung von over-the-shoulder-shot und Halbnahe wird die Kameraarbeit als Kommentar lesbar: Erst blickt sie aus der Dis­ tanz des Anderen auf Marcel, dann teilt sie seine Wahrnehmung bis zum Eindruck einer visuellen Fusion, die nun ihre kameraspezifische Wahrneh­ mungsmöglichkeit der Leiblosigkeit, die sich in der freien Kranfahrt äußert, mit der Figur der Darstellungsebene teilt. Wie die Figur der Darstellungsebene sich in der anthropomorphen Kamera doppelte, so doppelt sich hier die Kamera in der Figur der Dar­ stellungsebene. Dieser filmische Kommentar zielt weniger auf die Fokali­ sierung in Hinsicht der Wissensbegrenzung ab, die Kuhn in Abgrenzung 142 Zur narration Seq. 4.12 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609773) Marcels Kranfahrt (0:10:37–0:11:53). zu Genettes Wahrnehmungsbetonung entwickelt, sondern tatsächlich auf eine filmkameranahe Wahrnehmung. Für die visuellen Beschreibungen der Recherche wurden bereits zahlreiche Analogien zur Kamera ausgemacht: Mieke Bal führt die alle körperlich-optischen Beschränkungen sprengen­ den «Großaufnahmen» in der literarischen Beschreibung an, die sie explizit als «zoom» bezeichnet,308 wie die Beschreibungen von Albertines Nacken in der Kussszene oder die voyeuristischen Passagen in Montjouvain und später im Hotel Jupiens.309 Poulet bezieht die Analogie der visuellen Erzählweise auf die ständig wechselnden Perspektiven der Personenbeschreibung «des personnages du roman proustien, que l’on ne perçoit jamais que selon tel ou tel angle, aussitôt remplacé par un autre.»310 Die Narration der Recherche, die sich in ihrer widersprüchlichen Erzähl­ haltung einer eindeutigen «démarcation» zugunsten einer «multiplen Fokalisierung» entzieht, steht darüber hinaus den medialen Erzählmöglich­ keiten der Filmkamera nahe, wie diese Untersuchung hinzufügen möchte. Die dreifache narrative Position in Proust, die «bedenkenlos und scheinbar völlig unbekümmert  […] nach Belieben aus dem Bewusstsein seines Hel­ den in das des Erzählers hinüberwechselt, aber auch abwechselnd in das der verschiedensten Figuren schlüpft», fasst Genette als Verstoß gegen ein 308 Bal 1997: S. 201 ff. 309 Ibid.: S. 203. 310 Poulet 1982: S. 54. Die Abbildungsebene – die Kamera als Erzähler 143 «Gesetz des Geistes», das es verbietet, gleichzeitig innen und außen zu sein unter der musikalischen Metapher der Polymodalität.311 Es ist dies gleich­ zeitig das Gesetz des Geistes filmischer Erzählung, bei der nur in Ausnah­ mefällen eine bestimmte Fokalisierung über den gesamten Film aufrechter­ halten wird.312 Stimme und Modus der Kameraerzählung bei Ruiz sind trotz ihrer ausgestellten Tendenz zur Anthropomorphisierung genauso frei in ihrer Erzählung wie im literarischen Prätext. Sie können sich von Einstellung zu Einstellung neu konfigurieren, zwischen einer voyeuristischen Körperlichkeit, und ihrer von körper­ lichen Beschränkungen völlig befreiten Aufzeichnung, die als eindeutig heterodiegetische Instanz ihre Ubiquität, ihre Nullfokalisierung und ihre zur menschlichen Wahrnehmung differente Bildlichkeit in fehlender oder markierter Nachbearbeitung ausstellt. Die Distanz zwischen Kamerawahr­ nehmung und Figurenwahrnehmung kann verschwimmen, doch wird sie nie vollständig nivelliert. Sie kann «innen und außen» zeigen, wie in der subjektiven Kamera der Kutschfahrt, die gleichzeitig eine allwissende im Restaurant ist. So fliegt das erzählende Ich des literarischen Prätextes im rêve éveillé auf dem «fauteuil magique» durch Räume und Zeiten der Erinnerung (RTP I: S. 5) wie die Kamera des ruizschen Schamanen-Kinos (Abb. 4.6 und 4.7): Abb. 4.6 Le rêve éveillé (0:12:14). 311 Genette 2010: S. 127–128. 312 Kuhn 2011: S. 126. 144 Zur narration Abb. 4.7 Prousts Fliegegeste (0:12:17). Le Chaman voyage en rêve, survole des territoires lointains, entre par les fenêtres et les cheminées.313 Wenn Ruiz die Figur Prousts demonstrativ nicht nur vor, sondern auch hin­ ter der Kamera kadriert und im Wechselspiel die Wahrnehmungsformen der Figur Prousts mit der der Kamera austauscht, kommentiert er die Paral­ lelen der Narration in Film und Roman. In der körperlichen, doch prinzipiell von allen Kategorien frei erzählenden Kamera fasst er das literarisch erzäh­ lende Ich in seinem filmischen Äquivalent. 4.2 Die Darstellungsebene – Theater im Film Die Darstellungsebene wird von Lohmeier als «Selbstdarstellung des Erzählten: Dramatische Informationsvergabe im Film»314 bearbeitet. Sie unterscheidet dabei die sprachliche Informationsvergabe als «Figurenrede im Film» (S.  215–227) von der «nonverbalen Informationsvergabe» (zum Beispiel Mimik und Gestik; S. 228–269), schlägt verschiedene «Kategorien der Figurenanalyse» vor (S. 270–273) und schließt das Kapitel mit der Funk­ tion der Schauplätze, die sie in «eigentliche» und «uneigentliche Raumkon­ zepte» unterteilt (S. 274– 283). 313 Ruiz 2006: S. 37. 314 Titel des 5. Kapitels in Lohmeier 1996: S. 214–283. Die Darstellungsebene – Theater im Film 145 Die Untersuchung der Darstellungsebene zeigt das Verhältnis auf, das der Film zum Medium Theater eingeht.315 Dünne und Kramer verstehen «Theatralität» als intermedial übertragbare Form, als komplexes Medi­ endispositiv aus Körperpraktiken und medialen Formen», dessen Perfor­ manz sich aus dem Wechselspiel von «Inszenierung» / « Körperlichkeit» /  «Verkörperung» und «Wahrnehmung» zusammensetzt.316 Im Theater­ raum ist diese Wahrnehmung anders geartet als im Kinosaal: Die Räume des (gefilmten) Schauspiels und des Zuschauersaales sind absolut getrennt; es ist nicht möglich, den Raum des Schauspiels zu betreten. Darüber hin­ aus fehlt die körperliche Präsenz der Schauspieler, die durch das Bild der Schauspieler ersetzt wird. Für die Inszenierung haben sich eigene Konven­ tionen ausgebildet, die Lohmeier auf die photographische Natur des Film­ bildes zurückführt: Theaterzuschauer bringen der Künstlichkeit der Bühnenwelt und ihren unübersehbaren Abweichungen von Wirklichkeit – aufgrund der hier geltenden Spielregeln – eine weitaus höhere Toleranz ent­ gegen als Filmzuschauer der Künstlichkeit der filmischen Welt. Die normative Kraft des optischen Realismus, der das photographische Bild ausgesetzt ist, hatte und hat zwangsläufig Folgen auch für die Sprache der Figuren, legte die Annäherung der Figurensprache an die Normalsprache von vornherein nahe.317 Von einer natürlichen Figurenrede kann bei Ruiz allerdings nur in Aus­ nahmefällen die Rede sein. Wie Philippon herausstellt, legt Ruiz in seinen Filmen stets Wert darauf, seine «personnages-acteurs» als der Bild ästhe- tik gleichwertige Größe gegenüberzustellen.318 Die doppelte Sprechsitu­ ation des Films von Darstellungs- und Abbildungsebene tritt so eher als Spannungsgefüge «figurative(r)  […] Intermedialität»319 auf, denn als «Medienverschmelzung».320 315 Zur intermedialen Auseinandersetzung von Film und Theater cf. Knopf 2005. 316 Dünne /  Friedrich / K ramer 2009: S. 29. 317 Cf. Lohmeier 1996: S. 215; cf. auch Kracauer: «To be more precise, the film actor must act as if he did not act at all» (Kracauer 1997: S. 94). 318 Philippon 1983: S. 54. 319 Cf. Wolf 2004: S. 296. 320 Rajewsky 2004: S. 14 f. 146 Zur narration 4.2.1 Die (Selbst-)Inszenierung der Schauspieler – Figurenrede Die Figurenrede bei Ruiz ist eine auffällig inszenierte Rede, und das liegt nicht nur an den druckreifen (da meist wörtlich aus der Recherche über­ nommenen) Sätzen. Die langen Tiraden und monologartigen Reden erin­ nern tatsächlich eher an das Theater als an den Film. Lohmeier spricht von «dialogisierten Monologen», wenn die Repliken nicht aufeinander Bezug nehmen bzw. die Figuren aneinander vorbeireden, sei es, weil sie zu sozialer Interaktion nicht fähig sind, sei es, weil sie auf die Replik des Dialogpart­ ners nicht eingehen wollen.321 Ruiz’ Dialoge zeichnet in diesem Sinne ein extremes Ungleichgewicht der Redeanteile aus, es sind eher Monologe im Gewand von Dialogen. Die Unfähigkeit, den anderen zu begreifen, ist nicht auf das visuelle Erfassen beschränkt, sie äußert sich auch im sprachlichen Austausch. Im Medium Film ermöglicht diese Dialogisierung darüber hinaus die (Selbst-)Inszenierung der Schauspieler als Schauspieler, denn Ruiz’ Fokus liegt weniger auf dem Gesprochenen als auf der Erforschung des Sprechen­ den. Die Kamera umkreist ihn, fährt nahe heran und zeigt so den Schau­ spieler im Beweis seiner Schauspielkunst. Pascal Greggory wird beispielsweise in einer auffallend langen Einstel­ lung (1:04:06–1:06:35) dabei beobachtet, wie er den Krieg kommentierend sein Fleisch verschlingt («mmmh, la viande est bonne!»). Er spricht mit vol­ lem Mund und lenkt so die Aufmerksamkeit auf das Sprechen (Seq. 4.13). Seq. 4.13 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609774) Kadrierung der Sprache I: Robert spricht mit vollem Mund (1:04:06–1:06:11). 321 Lohmeier 1996: S. 226. Die Darstellungsebene – Theater im Film 147 Dies geschieht ähnlich bei Marie-France Pisier, die als neuerliche Mme Ver­ durin auf dem bal de têtes ebenfalls mit vollem Mund spricht. Auch Edith Scob entbehrt nicht der theatralischen Selbstinszenierung, wenn sie ihre Tirade geradewegs in Prousts Ohr zischt, um kurz darauf etwas zurück­ zutreten und ein Lächeln aufzusetzen (1:52:42–1:53:27). Charakteristischer­ weise schneidet die Kamera nach diesen monologisierten Dialogen nicht zu einem neuen Gegenstand des Interesses, sondern kadriert die Schauspiele­ rin auch noch beim Abtreten (Seq. 4.14). Seq. 4.14 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609775) Kadrierung der Sprache II: Mme Verdurin zischt (2:11:07–2:11:58). Bouquet machte auf das doppelbödige Spiel aufmerksam, das Ruiz mit der realen Identität und der Rolle der Schauspieler spielt: So lässt er Arielle Dombasle als Mme de Farcy Französisch mit einem leicht amerikanischen Akzent sprechen, amerikanisch dagegen mit einem starken französischen Akzent – ganz offensichtlich spielt hier eine Französin das Schauspiel einer Amerikanerin (Seq. 4.15).322 Auffällig sind in dieser Reihe auch die monologartigen Reden von Char­ lus: John Malkovichs Aussprache stockt, der amerikanische Akzent ist unüberhörbar. Dies kann nur auf den Schauspieler zurückgeführt werden, nicht auf die Figur im Film. Zwei Einstellungen begleiten den Schauspieler in den Reden: Die lange Tirade, mit der er den jugendlichen Marcel im Bade­ kostüm verwirrte (1:39:41–1:40:49), und die nicht weniger aufrührende Rede, 322 Cf. Bouquet 1999: S. 45. 148 Zur narration Seq. 4.15 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609776) Kadrierung der Sprache III: Der aufgesetzte Akzent (1:53:36–1:53:56). die er, nach dem erlittenen Schlaganfall, mit dem rhythmischen Schlagen seines Gehstocks begleitet (Seq. 4.16). Seq. 4.16 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609777) Kadrierung der Sprache IV: Charlus rhythmisierter Monolog (1:36:35–1:38:03). Diese Art der Selbstinszenierung, die sowohl die Rollenfigur als auch die Schauspielerinszenierung umfasst, tritt als das eindringlichste Moment der Figurenrede auf. Die Darstellungsebene – Theater im Film 149 So spinnt sich ein komplexes Gefüge von Sein und Schein: Es sind einer­ seits in der Diegese die Figuren, die sich durch die Selbstinszenierung eine Rolle überhängen und so zur Hieroglyphe werden, die ihr wahres Sein ver­ birgt, wie etwa Robert, der sich als männlicher Militär inszeniert und dabei ausgerechnet seinen ebenfalls homosexuellen Onkel Pate stehen lässt, wenn er Proust im Restaurant erklärt: Et sur ce point je suis d’accord avec mon oncle Charlus: Un homme ne doit rien avoir de féminin. (1:02:09 ff.). Hinter Schmiss, Uniform und den groben Tischmanieren verbirgt er jedoch nur schlecht seinen Wunsch, ein «amour fanatique» (ab 1:02:45) bei seinen Männern zu erwecken. Offen zu Tage tritt diese Selbstdarstellung auch in den gesellschaftlichen Salons, in der artifiziellen Pose, in die das Publikum von Musik oder Schauspiel verfällt (Seq. 4.17).323 Seq. 4.17 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609778) Schauspiel vor dem Schauspiel (0:39:46–0:40:03). Damit verweist Ruiz intermedial auf das literarisch ausgestaltete gesell­ schaftliche «Welttheater» der Jahrhundertwende. Die Figuren der Recher- che spielen ihre Identität, sie spielen die Rolle eines Geschlechtes und einer 323 Wie Beugnet und Schmid festgestellt haben, fällt das Schauspielern selbst den Figu­ ren der Diegese als overacting auf: So kommentiert Gilberte Saint­Loups Selbstbeschul­ digungen («Je m’en veux, vous ne pouvez pas savoir autant que je m’en veux!») mit den Worten «tu en fais trop, beaucoup trop» (0:15:24–0:16:07; cf. Beugnet / S chmid 2006: S. 158). 150 Zur narration sozialen Position (als Stars der Jahrhundertwende). Dieser Schein wird durch die Inszenierung des schauspielerischen Könnens und durch die Anspie­ lung auf die Identität des Schauspielers auf die dem Film eigene Darstel­ lungsebene geführt. Treffend formuliert Frodon in seiner Rezension: Emmanuelle Béart et Gilberte, Pascal Greggory et Saint-Loup, Vincent Perez et Morel, Chiara Mastroianni et Albertine, Elsa Zylberstein et Rachel, Melvil Poupaud et le prince de Foix … C’est à chaque fois comme un couple de danseurs (l’acteur et son personnage) qui s’élance pour interpréter son pas de deux, et entraîner dans son sillage le souvenir du texte et le plaisir du spectacle, réunis par-delà les débats scolastiques.324 Lohmeier ordnete die ostentative Künstlichkeit der Darstellungsebene der Bühnenwelt zu.325 Wenn Ruiz seine Schauspieler inszeniert, übernimmt er Konventionen des Theaters, ohne das eigene Medium zu verleugnen. In der auffällig präsenten Kamera ergibt sich ein stetes Spannungsgefüge von Dar­ stellungs­ und Abbildungsebene, das den Film als Film ausweist, dessen inter­ mediale Referenz auf das Theater theatrale Aspekte ins Bewusstsein führt, mit denen Film und literarischer Prätext gleichermaßen ihr Spiel treiben. Als weitere Kategorie schlägt Lohmeier für die Analyse der Figurenrede die quantitative und qualitative Dialoganalyse vor. Aufschlussreich ist in Ruiz’ Film vor allem die quantitative Analyse,326 die Frequenzen des Spre­ cherwechsels innerhalb eines Dialogs und die Verteilung der Redeanteile auf die Figuren aufdeckt und damit unter anderem Aufschluss über die Struk­ turierung des Personals in Haupt- und Nebenfiguren gewährt: Hier stehen Figurenpräsenz (nach Lohmeier die quantitativen Dominanzrelationen327) und Sprechanteil in auffälliger Diskrepanz: Der annähernd omnipräsente Proust hat meist die Rolle des stummen Beobachters inne; er tritt als Auge bzw. als Ohr auf, als Beobachter, der dem Welttheater beiwohnt, und gleicht damit in auffälliger Weise der audiovi­ suellen Aufzeichnung einer Kamera. In der Analyse der Abbildungsebene 324 Frodon 1999: S. 30. 325 Cf. Lohmeier 1996: S. 215. 326 Lohmeiers weitere Untersuchungskriterien der Kategorie Figurenrede, wie eine sprechakttheoretische Analyse der Dialoge, in Unterscheidung von Proposition, Illoku­ tion und Perlokution führen in dieser Hinsicht nicht weiter und werden daher an dieser Stelle unterlassen. 327 Lohmeier 1996: S. 270. Die Darstellungsebene – Theater im Film 151 wurde der Kamera ein Zwischenstatus zugesprochen, der sie in einigen Ein­ stellungen intuitiv der Darstellungsebene der Figuren zuschlagen lässt. Im stummen Beobachter Proust findet sie ihr figürliches Pendant. Die trau­ mähnliche filmische Situation manifestiert sich hier in der Konstruktion der Selbstprojektion bzw. des Selbstspiegels im Anderen: Die Nähe der Kamera­ wahrnehmung zur Zuschauerwahrnehmung, die laut Belting in der Projek­ tion durch den Vorführapparat die filmische Situation entstehen lässt, sorgt dafür, dass der Betrachter sich mit der «imaginären Situation» identifiziert, «als sei er selbst ins Bild geraten».328 Hier wird diese Wahrnehmungsform in der Figur Prousts verkörper­ licht und in dieser Veräußerlichung wiederum zum Objekt der Betrach­ tung. Eben dies geschieht in der Narration des literarischen Prätextes in der Ich-Spaltung: Der die Erzählung «zeigende» Erzähler erzählt sich selbst als Wahrnehmenden. Wenn Proust dagegen in monologartigen Reden das Wort ergreift, ver­ liert der Gesprächspartner jede konstruktive Anteilnahme am Gespräch. Ob er Albertine einen Diskurs über Kunst hält (2:00:27 ff.) oder gegenüber Gilberte (0:12:14) oder dem kleinen Marcel seine Gedanken über Tod und Liebe darlegt (2:26:12 ff.) ist belanglos. Die Dialogpartner sind austauschbar. Die Figur Marcels kann nicht über das Mittel der Sprache in Interaktion zu den Sono- und Optozeichen treten, die sie umgeben. So finden auch keine Dialoge statt, die nach Lohmeiers Kategorie der qualitativen Dialoganalyse interpretiert werden könnten. Wenn es nicht um die Selbstinszenierung der Sprechenden geht, die dem Dialogpartner keine Relevanz zukommen las­ sen, sondern tatsächlich ein konfliktiver Inhalt zur Debatte steht, hebelt die Kameraarbeit semantische Kategorisierungen aus: Als Proust Morel zur Kontaktaufnahme mit Charlus bewegen will (0:12:14  ff.), findet der Form nach ein konfliktorientierter Dialog mit seman- tischen Richtungswechseln (s. u.) mit hoher Wechselfrequenz statt, der nach Lohmeier und Pfister als «partnerorientiert»329 einzustufen ist. Hier setzt die Kamera mit starkem Weitwinkel und der Bildkomposition, die immer wieder Morels Schuh abwehrend in den Vordergrund schiebt, die enorme Distanz zwi­ schen den beiden Figuren in Szene. Es ist hier völlig belanglos, ob die Wech­ selfrequenz des Dialogs «Partnerorientiertheit» impliziert; die beiden Figuren scheinen Meilen voneinander entfernt zu sein, weit mehr als in vielen Dialogen, die auf Grund ihrer Wechselfrequenz eher wie Monologe wirken (Seq. 4.18). 328 Belting 2001b: S. 75. 329 Bezeichnenderweise entnimmt Lohmeier (1996: S. 225) die semantischen Zuschrei­ bungen der Dramenanalyse (Pfister 1982: S. 199), die selbstredend den Eingriff der erzäh­ lenden Kamera nicht berücksichtigen kann. 152 Zur narration Seq. 4.18 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609779) Der distanzierte Dialog (1:24:36–1:26:54). Hier wird offenbar, dass im «Multimedium» Film die einzelnen media­ len Momente des Schauspiels und der Kameraarbeit nicht mehr als Ein­ zelmedien funktionieren: Während im Theater das Schauspiel ohne ver­ mittelnde Instanz auftritt, das heißt die Performanz sich direkt aus dem Zusammenspiel von Inszenierung, Verkörperung und Wahrnehmung ableiten lässt, so ist die Performanz im Film eine doppelte, die stets um die Abbildungsebene der Kamera ergänzt wird. Untersuchungskriterien, die für eine Theaterinszenierung greifen, können hier von der Kameraarbeit konterkariert werden, die so die Darstellungs­ und Abbildungsebene in ein interdependentes Spannungsgeflecht setzt, in der die primäre Infor­ mationsvergabe über Dialoge von der filmischen Inszenierung ausgespielt werden kann. Der Mangel an charakterlicher Zugänglichkeit der Figuren äußert sich auch in den qualitativen Strukturen des Personals, für deren Darstellung Lohmeier eine «Matrix von Merkmalsoppositionen» vorschlägt, «in der die einzelne Figur als Bündel von Kontrast- und Korrespondenzmerkma­ len erscheint».330 Zusammen mit den quantitativen Strukturen ergeben sich so Interaktionsmuster der Figurenkonstellation. Klassischerweise treten in konfliktorientierten Stücken bzw. Filmen ein Protagonist (Held), ein Anta­ gonist (Gegenspieler) und ein Helfer (Komplize) auf. Eine figürliche Anord­ nung um einen Zentralkonflikt, den Ruiz vehement ablehnte, ist auch in der 330 Lohmeier 1996: S. 271. Die Darstellungsebene – Theater im Film 153 Recherche nicht vorhanden. Konflikte ergeben sich vielmehr in emotionaler Hinsicht aus der Geschlechterdifferenz und der (eifersüchtigen) Liebe und in gesellschaftlicher Hinsicht aus Ansehen und sozialem Stand. Diese Konflikte werden jedoch nicht durch das Agitieren auf der Dar­ stellungsebene ausgetragen, vielmehr zerfallen sie von selbst als Produkte der Zeit: Die Liebe stirbt und verwandelt die vormalige Qual in Gleich­ gültigkeit; die sozialen Pole kollabieren. Dies erfährt der Erzähler endgül­ tig auf dem bal de têtes: Dort sucht Proust noch kurz nach dem aktuellen Stand und Namen Odettes, der ehemaligen Prostituierten, die nun vom Duc verehrt wird; dort ist Morel, der flüchtige Deserteur, der sich vormals in einem Hotel versteckt gehalten hatte, ein Mann, vor dessen «haute mora­ lité» (1:52:23) die Richter sich verneigten und von dem Mme de Guermantes erwartet, persönlich begrüßt zu werden; dort präsentiert sich Mme de Ver­ durin als de Guermantes und Oriane de Guermantes, das vormalige Fabel­ wesen der Adelswelt, begrüßt ihn als ihren «plus vieux ami» (1:51:10). Dass die scheinbar unüberwindbaren Klassenschranken gegen Ende des 19. Jahr­ hunderts durchbrochen und neu konfiguriert werden, ist allein der Zeit zuzusprechen, die hier als Protagonist in Erscheinung tritt und die Hand­ lungsmöglichkeiten der Figuren in den Schatten stellt. Wenn die Figuren sich in der verbalen Informationsvergabe selbst cha­ rakterisieren, steuern sie meist zielsicher an ihrem Charakter vorbei, bei Fremdcharakterisierungen wird offensichtlich Wert darauf gelegt, sie bald für ungültig zu erklären. So schimpft Bloch beispielsweise auf Roberts Feig­ heit, kurz bevor Robert seinen Wunsch äußert, in der Schlacht zu sterben; Mme de Guermantes erklärt Proust auf dem bal de têtes, Gilberte habe Robert nicht geliebt, er habe darum den Tod in der Schlacht gesucht (2:11:15  ff.), kurz nachdem Gilberte voller Liebe und Verehrung von ihrem toten Ehe­ mann sprach (2:07:54  ff.). Gilberte schimpft auf Mme de Guermantes, die Amerikanerin lobt sie als «élégante» und «fine» (2:12:55), bezeichnet dage­ gen Odette als «rose stérilisée» (2:12:21) und «glove» (2:12:27), kurz bevor Proust sie eine Allegorie der ewigen Jugend nennt (2:15:56). In dieser Insze­ nierung nimmt Ruiz sich einige Freiheiten mit der literarischen Vorlage, die der Verdichtung dienen. Der Ball der Schauspielinszenierung ist einer der unfassbaren «silhouettes plates» (RTP III: S. 620). 154 Zur narration 4.2.2 Nonverbale Informationsvergabe 4.2.2.1 Besetzung / V erkörperung Ruiz lässt die literarischen Figuren von Stars verkörpern: Catherine Deneuve, Vincent Perez, Emmanuelle Béart, John Malkovich, Pascal Greg­ gory usw. sind Schauspieler, deren Bekanntheit er beim Zuschauer voraus­ setzen kann. In einem Interview mit Les Inrockuptibles erklärt der Regisseur: La première idée générale était qu’avec de nombreux acteurs con­ nus, les spectateurs auront naturellement une première impression proustienne qui ne coûte rien: ils se souviendront de chaque comé­ dien dans un autre film.331 Auf diesen Zusammenhang wurde bereits in der Auseinandersetzung mit der Schauspieler-Einführung über die Schwarz-Weiß-Photographien der fil­ mischen Exposition verwiesen:332 Statt die Figuren handelnd einzuführen, wird dem Zuschauer die Gelegenheit gegeben, Porträts der Schauspieler unter der Lupe zu betrachten. Außer den Tonfetzen und Prousts begleiten­ der Stimme, die die Filmnamen nennt, geschieht nichts. Dem Zuschauer wird Zeit gelassen, Gesichter mit früheren Filmen zu assoziieren und mit den neuen Namen zu verbinden. Dass der Zuschauer die Deneuve aus frühe­ ren Filmen kennt, bewirkt nicht nur eine Assoziation mit speziellen Rollen, sondern auch das Verfolgen ihres Alterungsprozesses (Abb. 4.8–4.13).333 Als Deneuve ihren ersten divenhaften Auftritt im Film hat, hört man Mme Verdurin tuscheln «elle a vieilli, ou je rève», worauf ihre Gesprächs­ partnerin antwortet «vous revez, ma chère, elle est superbe!» (0:07:36– 0:08:38). Damit nimmt sie wohl in ähnlicher Weise die außerfiktionalen Erinnerungen des Zuschauers auf wie in der Szene, in der Proust sie auf dem bal de têtes als «l’allégorie de l’éternelle jeunesse» bezeichnet (2:15:56). Ein weiterer Coup gelingt Ruiz mit dem Einsatz ihrer Tochter Chiara Mas- troianni als Albertine, der Rolle, für die früher einmal die Mutter im Gespräch war.334 In der Recherche ist es die Tochter Gilbertes, die dem Erzähler auf dem 331 Bonnaud / K aganski 1999: S. 37. 332 Cf. S. 34 ff. 333 Alle Bilder sind der Internetseite Le Soir. Filmographie de Catherine Deneuve entnommen (http://portfolio.lesoir.be/main.php?g2_itemId=590648), zuletzt besucht am 15.10.2013. 334 «Proust me guette depuis trente ans. Alors que j’en étais à mon deuxième film, on m’a proposé le rôle d’Albertine, mais les années ont passé et le projet a été repris par quelqu’un d’autre. Avec le temps, j’ai commencé à davantage coller au personnage Die Darstellungsebene – Theater im Film 155 Abb. 4.8–4.13 (von oben links nach unten rechts) Buñuel – Belle du jour (1967) / Truffaut – La Sirène du Mississipi (1969) / Truffaut – Le dernier métro (1980) / Varda – Les 101 nuits (1995) / Ozon – 8 femmes (2001) / Charhon – Cyprien (2009). bal de têtes die Idee der vergangenen Zeit vor Augen führt,335 hier übernimmt die Tochter Deneuves diesen Part für den Zuschauer. In seiner in Le Monde erschienenen Kritik erwähnt Frodon weiterhin das tonale Erinnerungsspiel um Marie-France Pisiers bzw. Mme Verdurins perlendes Lachen: d’Odette.» Nachzulesen im Interview mit Catherine Deneuve, Contact 1999 (http:// tout surdeneuve.free.fr/Francais/Pages/Interviews_Presse9099/Contact99.htm), zuletzt be­ sucht am 10.02.2016. 335 «L’étonnement de ces paroles et le plaisir qu’elles me firent furent bien vite rem­ placés, tandis que Mme de Saint-Loup s’éloignait vers un autre salon, par cette idée du Temps passé, qu’elle aussi, à sa manière, me rendait, et sans même que je l’eusse vue, Mlle de Saint-Loup» (RTP III: S. 1029). 156 Zur narration «[…] il ne vient pas de chez Gallimard mais de François Truffaut. C’est Marie-France Pisier en Mme Verdurin, chacun ses sonates de Vinteuil, le cinéma est ici réservoir inépuisable de souvenirs autant que la mémoire de Marcel Proust.»336 Ruiz engagierte ein veritables Puzzle aus international agierenden Stars, die zwar in irgendeiner Weise mit der französischen Nation in Verbindung zu bringen, jedoch unabhängig von nationaler Vereinnahmung sind: Ema­ nuelle Béart, Vincent Perez, John Malkovich,337 die Namen sprechen das kollektive Gedächtnis des aktuellen Kinogängers an. Das eigene Theater, das sich um die «Stars» entspinnt, interagiert so mit dem Welttheater des 19. Jahrhunderts und spielt eventuell – es ist nicht unmöglich – auch mit dem Theater um den Star Proust und seine Verfilmung. 4.2.2.2 Maske und Kostüm Diese filmischen Elemente der Darstellungsebene haben nach Lohmeier «nahezu ausnahmslos die Aufgabe,  […] [die] künstlichen Veränderungen als Natur erscheinen zu lassen».338 Beim bal de têtes, der die Sequenz der subtil inszenierten künstlichen Ver­ änderung hätte werden können, optiert Ruiz für den Ersatz der Schauspie­ ler. Dafür nimmt er weitgehend unbekannte Personen, die den Zuschauer vor ein ähnliches Rätsel der Wiedererkennung stellen wie den Protagonis­ ten des Films: Gilberte (Emmanuelle Béart) wird nun von Raymonde Bron­ stein gespielt, Mme Verdurin (Marie-France Pisier) von Madeleine Lechoux, Rachel (Elsa Sylberstein) von Alberte Barbou. Die Zeit tritt hier hinter den Kulissen als mächtiger Agens auf, der die Schauspieler nicht einfach nur schminkt, sondern – wie ein Regisseur  – im Stande ist, sie komplett zu ersetzen (Seq. 4.19). 336 Frodon 1999: S. 30. 337 Emmanuelle Béart machte als französische Schauspielerin auch in Hollywood Kar­ riere (Mission impossible, 1996); Perez begann seine Karriere in Frankreich, ging dann nach Hollywood (The Crow [1996], Amy Forster [1997]), um schließlich wieder nach Frank­ reich zurückzukehren. John Malkovich lebt und arbeitet heute in Frankreich (mit Ruiz arbeitete er noch 2006 für Klimt zusammen). 338 Lohmeier 1996: S. 268. Die Darstellungsebene – Theater im Film 157 Seq. 4.19 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609780) Die Zeit substituiert die Protagonisten (2:09:22–2:09:41). Auch im Einsatz des Kostüms, das nach Lohmeier Alter, Geschlecht und Gruppenzugehörigkeiten indiziert,339 gestaltet Ruiz sein Kino als onirisches: Bei mehrmaligem Betrachten fällt auf, dass die Kostüme weit über die kon­ ventionelle Bedeutung hinausführen, eine Figur in einer sozialen Klasse und einer bestimmten Epoche anzusiedeln: Das Kostüm löst sich oftmals als Bildelement, um zum verbindenden Glied der Montage zu werden. So öffnet beispielsweise Odette die Tür zum Nebenzimmer ohne rote Kopfbe­ deckung (Abb. 4.14). Abb. 4.14 Schuss … (0:08:08) 339 Cf. Lohmeier 1996: S. 269. 158 Zur narration Wird der Blick durch die Tür circa eine Minute später aus dem Raum der Kindheit in den der Matinée gerichtet, erscheint sie im Gegenschuss neu kostümiert (Abb. 4.15). Abb. 4.15 … und Gegenschuss (0:09:22). In dieser roten Abendrobe wird sie erst wieder gegen Ende des Films auf dem bal de têtes erscheinen (Abb. 4.16). Abb. 4.16 Zeitsprung der Kostümierung (2:15:35). Die Darstellungsebene – Theater im Film 159 Dieses Spiel mit den filmischen Wahrnehmungsbildern und den Erinne­ rungsbildern der Vorstellung wiederholt sich auf der Matinée de Guer­ mantes. In der eingeschobenen Erinnerungssequenz visualisiert offen­ sichtlich der erwachsene Proust seine erste Begegnung mit Odette. Dem Kind zeigt sie sich im rosafarbenen Kleid der dame en rose. Als Marcel sich nach der Verabschiedung erneut umwendet, erscheint Odette dage­ gen in einem eye-matching cut lachend in der roten Abendrobe. Vor dem blendend hell leuchtenden Fenster richtet sie bereits das Wort an Blochs amerikanische Begleitung, um den Satz im Raum der Matinée zu beenden (Seq. 4.20). Seq. 4.20 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609781) Raumsprung der Kostümierung (2:22:28–2:23:13). Das Kostüm und der Ton verbinden in diesem Fall zwei aufeinanderfol­ gende Szenen, die in verschiedenen Zeiten und Räumen spielen, über einen im gleißenden Licht unzuweisbaren Zwischenraum. Zwei differente Zeit­ Räume werden über das Kostüm kontrahiert. Während dies in der Binnenerinnerung in einer sequentiellen Klammer gefasst wird, die sich unmittelbar schließt, verweist die rote Robe des erste­ rinnerten Raumes auf einen zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu definieren­ den Bruch in Zeit und Raum, der erst gegen Ende aufgeklärt werden kann. Der Einsatz des Kostüms widerspricht jeglichem Realismus. Das Kostüm wird lesbar als außerzeitliches und zwischenräumliches Mnemozeichen, das verschiedene, weit entfernte Zeiten und Räume des Vorher und Nach- her in der Gleichzeitigkeit des erinnerten Raumes zusammenfallen lässt. So entsteht, wie die Untersuchung der Raumzeit ergeben wird, eine mentale Topographie des Gedächtnisses, in der die imagines mit den loci in Interak­ tion treten.340 340 Cf. Kapitel «5.3 Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwarts- spitzen»: S. 262 ff. 160 Zur narration 4.2.2.3 Mimik und Gestik Mimik und Gestik341 informieren den Zuschauer über das Innenleben der Figuren. Bei Ruiz führen diese Zeichen jedoch häufig gerade zu einer Ver­ wirrung der Personeneinsicht. Warum lacht Gilberte auf, nachdem sie Morel auf seine unangemessene Präsenz bei der Beerdigung Saint-Loups angesprochen hat (Seq. 4.21)? Seq. 4.21 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609782) Gilbertes Geste bei der Beerdigung (1:32:06–1:32:40). In der Unverständlichkeit solcher Zeichen in Mimik und Gestik liegt wohl auch ihre eigentliche Bedeutung. Sie bilden einen losen Faden, werfen eine Frage auf, die nicht beantwortet wird. Ruiz spricht in seiner poétique du cinéma 2 von «solécisme», einer Art syntaktischer Inkongruenz, die Fragen stellt, auf die es keine Antworten gibt.342 Diese unerklärliche Körpersprache ist in der Recherche ebenfalls präsent: 341 Lohmeier klassifiziert diese Zeichen paralinguistischer und kinesischer Natur als «transitorische»: «Transitorische Zeichen» sind «mimische, gestische, proxemische Zei­ chen»; «nicht-transitorische Zeichen» sind angeborene bzw. habitualisierte Merkmale von Menschen (Stimme, Physiognomie, Körpergröße, Gang usw.) oder Merkmale ihrer äußeren Aufmachung (Maske, Kostüm usw.) (cf. Lohmeier 1996: S. 229). 342 Ruiz 2006: S. 15. Die Darstellungsebene – Theater im Film 161 Je me rappelai alors que la dernière fois que je l’avais vue, le jour où sa mère l’avait empêchée d’aller à une matinée de danse, elle avait soit sincèrement, soit en le feignant, refusé tout en riant d’une façon étrange de croire à mes bonnes intentions pour elle. Par association, ce souvenir en ramena un autre dans ma mémoire. Longtemps aupa­ ravant, ç’avait été Swann qui n’avait pas voulu croire à ma sincérité, ni que je fusse un bon ami pour Gilberte. Inutilement je lui avais écrit, Gilberte m’avait rapporté ma lettre et me l’avait rendue avec le même rire incompréhensible. (RTP I: S. 630). Die Passage steht im Kontext einer Traumdeutung («À la fois Joseph et Pha­ raon, je me mis à interpréter mon rêve», RTP I: S. 629), in der Gilberte dem Held als Mann erschienen war. Die mehrdeutigen Zeichen der Figuren, bei denen Schein und Sein sich in der androgynen Figur verdichten, tragen die surrealistischen Züge des rêve éveillé. 4.2.3 Zur Theatralität der Recherche Die Integration von Theatralem in die Literatur geschieht über die inhaltliche Thematisierung oder die metapoetische Reflexion. Ihre Bedeutung für die Lite­ raturwissenschaft wurde von Neumann ausgemacht, der Theat ralität bereits auf der Ebene elementarer Sprachoperationen ansiedelt.343 Demgegenüber eta­ bliert Huber das heuristische Potential von Körper und Wahrnehmung: Die sinnlich erfahrbare Einheit von Sprache, Körper und Wahrneh­ mung ist so nicht in den Text zu übernehmen. In der Literatur wird das skizzierte Modell als Medium der Selbstbeobachtung vielmehr zu einem narrativen Sinnprinzip, das in der literarischen Inszenierung die Beobachterverhältnisse, die das Theatermodell vorgibt, erst reflexiv in der Kommunikation zwischen Text und Leser ausreizen kann. Hierin liegt der Mehrwert einer «narrativen Inszenierung» gegenüber dem Theaterspiel, das diese Verhältnisse ja ausagieren muss.344 Theater wird in der Recherche nicht nur als Kunstform Gegenstand der Beschreibung, wie in den Aufführungen der Berma, auch die «dispo­ sitiven Strukturen des Theaters, d. h. die Ebenen der Inszenierung, der 343 Neumann / P ross / W ildgruber 2000: S. 17. 344 Huber 2003: S. 78. 162 Zur narration Verkörperung sowie der Wahrnehmung»345 werden in der literarischen Erzählung ausgestaltet. So erscheint die bildhafte Ästhetik der Combray II einleitenden Passage als theatrale Inszenierung: Et dès que j’eus reconnu le goût du morceau de madeleine trempé dans le tilleul que me donnait ma tante […], aussitôt la vieille maison grise sur la rue, où était sa chambre, vint comme un décor de théâtre s’appliquer au petit pavillon […] (RTP I:S. 47) Es öffnet sich ein Bühnenraum für die Szenen der Erinnerungsbilder, auf dem die Schauspieler der Recherche ihren Auftritt haben werden. Doch bleibt es offensichtlich nicht bei der theatralen Wahrnehmung346 eines vor­ gespielten Stückes – der Erzähler der Recherche verkörpert eine eigenartige Mittlerstellung, indem er gleichzeitig Betrachter des Schauspiels als auch Figur auf der Bühne ist. Was in der Dopplung der eigenen Person als Betrachteter sowie Betrach­ tetem ausgestaltet wird, verweist eher auf die filmische Wahrnehmungssi­ tuation, das heißt auf die Immersion des Zuschauers, die in der theatralen Wahrnehmungssituation durch die körperliche Präsenz des Schauspielers unterminiert wird, wie unter anderem Bazin dargestellt hat.347 Der erin­ nernde Erzähler verbindet darüber hinaus Zuschauer- und Bühnenraum über den Filter seiner Wahrnehmung und nimmt damit de facto die Funk­ tion einer Filmkamera ein. Dies wird am offensichtlichsten in Passagen des Voyeurismus, in denen der Betrachter sich als Zuschauer einer theatralen Inszenierung in die erzählte Szene integriert und in der Erzählung gleichzei­ tig zum Vermittler der audiovisuellen Informationen wird, wie in der Insze­ nierung der Vaterprofanation Mlle Vinteuils348 oder der Beobachtung der sadomasochistischen Bordellszene des M. de Charlus. Roloff bezeichnet die 345 Theatralität wird hier «als komplexes Mediendispositiv aus Körperpraktiken und medialen Formen» verstanden (Dünne / F riedrich / K ramer 2009: S.  29), dessen Perfor­ manz sich aus dem Wechselspiel von «Inszenierung» / « Körperlichkeit» / « Verkörpe­ rung» und «Wahrnehmung» zusammensetzt (Dünne / K ramer 2009: S. 15 f.). 346 «Wahrnehmung: Sie umfasst die Relation zwischen Bühne und Zuschauerraum und in eins damit die jeweiligen Grenzziehungen zwischen beiden Räumen sowie die daraus resul­ tierenden unterschiedlichen Perzeptions- und Rezeptionsmodi» (Dünne / K ramer 2009: S. 16). 347 Cf. Bazin 2002: S. 152. 348 Mieke Bal vergleicht die Textstelle mit einem liturgischen Spiel, konzentriert ihre Analyse jedoch auf die Photographie (Bal 1997: S. 218). In Ellisons Prousteinführung wird die Passage dezidiert als Theaterstück bezeichnet: «To say that the narrator presents the scene ‹theatrically› is an understatement: the scene is pure theater, with the narrator occu­ pying the place of the audience, hidden immediately outside the illuminated windows of the house, while the young woman enacts a drama of their own making» (Ellison 2010: S. 45). Die Darstellungsebene – Theater im Film 163 Figur des Erzählers hier als den «unsichtbaren Dritten», «der […] eine merk­ würdige Zwischenposition einnimmt zwischen Faszination und Distanz, Skopie und Skepsis».349 Er stellt die filmgleiche Situation heraus, bezieht sie jedoch auf das Medium der Literatur, in der der «unsichtbare Dritte» in der Zwischenposition zwischen «Schaulust und […] Suche nach dem Grund des Rätselhaften […] die Rolle des neugierigen Lesers» präfiguriert. Er spricht bei diesen Voyeurszenen zwar von einer gleichzeitigen «mise en scène» und «mise en abîme» der Situation des Lesers, dessen Lust sich an den beschrie­ benen Vorstellungsbildern der «theatergleichen Szene» entzündet,350 lässt jedoch den kameraähnlichen Wahrnehmungsfilter unkommentiert, der die Szene dem Leser tatsächlich wie eine Filmszene darbietet. Aufschlussreich stellt sich in dieser Hinsicht der Besuch des erleben­ den Ich im Männerbordell dar: Während der Protagonist im Roman betont unbeabsichtigt dorthin gelangt351, lässt Ruiz seinen Proust mit Stock und Hut um das Hotel herumschleichen und zweimal hinter einem Wandvor­ sprung hervorlugen. Im Hotel schließlich stellt er einen Stuhl vor das über­ dimensionierte Guckloch des Hotelzimmers. Das Schauspiel und Beobach­ ter trennende «Glas» ist diesmal ein «Spion» (Abb. 4.17). Abb. 4.17 Proust als Voyeur (1:14:26). 349 Roloff 2006: S. 159. 350 Ibid. 351 Als das erlebende Ich Saint-Loup des Nachts aus dem Hotel treten sieht (RTP III: S. 810), richtet sich seine Neugier zunächst auf den Spionagevorwurf, den man Saint-Loup machte: «Cet hôtel servait-il de lieu de rendez-vous à des espions?» (RTP III: S. 811). Als sei das noch kein ausreichendes Motiv, um den Salon zu betreten, fügt er hinzu: «J’avais d’autre part ext­ rêmement soif» und schließt mit «Je ne pense donc pas que ce fut la curiosité de cette ren­ contre qui me décida à monter le petit escalier de quelques marches au bout duquel la porte d’une espèce de vestibule était ouverte, sans doute à cause de la chaleur» (RTP III: S. 811). 164 Zur narration Als die Kamera enthüllt, was Proust sieht, überschreitet sie, ganz wie im literarischen Prätext, die okular mögliche Wahrnehmung aus dessen Per­ spektive. In den Groß- und Detailaufnahmen des Kamerablicks spritzt das Blut wie in einem Splattermovie (Abb. 4.18).352 Abb. 4.18 Genrewechsel als ironischer Verweis: vom Kostüm zum Splatter (1:14:47). Die Lust am beobachteten Bild, das die Kamera als unsichtbarer Dritter dem Zuschauer im Kinosaal darbietet, der in der Dunkelheit und Anonymität des Vorstellungsraums als Double des unsichtbaren Dritten der Szene bei­ wohnt, verleiht in Kombination mit der visuellen Beschreibung des Blicks, der ohne technische Hilfsmittel die Szene gar nicht in der geschilderten Detailgenauigkeit wahrnehmen könnte, dieser theatralen Passage die dop­ pelte Kommunikationssituation von Darstellungs- und Abbildungsebene und zeichnet sie somit als quasi-filmische Wahrnehmung aus. 352 In der Recherche wird häufig dem damals eindringlich und fast pathetisch Wahr­ genommenen im rückblickenden Erzählvorgang alle Schwere genommen: «Eben dies bestimmt den Witz-Effekt: Was das erinnerte Ich erlebt, ist sozusagen todernst, den humour gewinnt Proust durch eine ironisierende ‹discrépance› zwischen Erleben und Erinnern / E rzählen einerseits und der ‹faktischen› Analogie oder besser: Identität des Erlebenden und Erinnernden / E rzählenden andererseits» (Billermann 2000: S. 266). Dies kann der Film in der Narration durch die inhärente Diskrepanz zwischen dem unmit­ telbarem Erzählen (des schauspielernden Erzählers) und dem distanten Erzählen (der Kamera) wiedergeben. Ruiz steht in der Literaturverfilmung jedoch auch noch das Mit­ tel zur Verfügung, die gesamte Inszenierung in Schauspiel, mise en scène und Kamera aus ironischer Distanz darzustellen: Der Erzählung hat sich ein weiterer kommentierender Erzähler hinzugefügt. Die Darstellungsebene – Theater im Film 165 Wie Nitsch anmerkt, «stellt sich der junge Protagonist von Prousts Recherche vor seinem ersten Theaterbesuch die Bühne bezeichnenderweise wie ein großes, von jedem Zuschauer für sich betrachtetes Kaiserpanorama vor».353 Hier wird die räumliche Wahrnehmungssituation des Theaterzu­ schauers ersetzt durch den gleichzeitig kollektiven wie individuellen Blick auf ein vom eigenen Körper getrenntes Bild, das der filmischen Situation entspricht. Als Ruiz Proust las, erfasste der Cineast den filmischen Grund­ charakter der proustschen Theatralität und übersetzte ihn in sein Medium, indem er den Erzähler als Wahrnehmer in die Diegese integrierte und immer wieder in ein Wechselspiel mit der Wahrnehmungsform der anth­ ropomorphen Kamera führte. So ist die ruizsche Erzählsituation lesbar als Kommentar zur Erzählerkonstellation der Recherche, der das Theatralische der Beschreibung zum Kinematographischen deklariert.354 Die Schaulust enthält dabei neben der Komponente des reinen Voyeurismus immer auch das Verlangen nach einem Verständnis der Inszenierung: Je me souviens avec plaisir, parce que cela me montrait que j’étais déjà le même alors et que cela recouvrait un trait fondamental de ma nature, avec tristesse aussi en pensant que depuis lors je n’avais jamais pro­ gressé, que déjà à Combray je fixais avec attention devant mon esprit quelque image qui m’avait forcé à la regarder, un nuage, un triangle, un clocher, une fleur, un caillou, en sentant qu’il y avait peut-être sous ces signes quelque chose de tout autre que je devais tâcher de découvrir, une pensée qu’ils traduisaient à la façon de ces caractères hiéroglyphiques qu’on croirait représenter seulement des objets matériels (RTP III: S. 878). 353 Nitsch 2009: S. 253. 354 An dieser Stelle soll auf eine Theateradaption aufmerksam gemacht werden: Guy Cassiers, Erwin Jans und Eric de Kuyper stießen sich offensichtlich an der Problematik der theatralen Erzählung, die die doppelte Ich-Erzählung nicht wiedergeben kann, in der das erinnernde das erinnerte Ich darstellt. Sie entschieden sich für eine Verdopplung der Kommunikationssituation, indem sie Textmaterial einblendeten, das Regieanweisungen für eine Kamera enthielt. «[…] Ortsangabe, Daten, Angaben zu akustischen Elementen (z. B. Glockenläuten, Schritte auf Kies usw.), Angaben zum Verhalten der Figuren selbst (Schamröte auf seinen Wangen, Kuss etc.) oder auch Texte, die wie Regieanweisungen, Angaben für einen Kamerazoom oder für Instruktionen zu den Einblendungen einer imaginären Kamera wirken, wie etwa ‹seine Augen›, ‹ihre Augen› usw. Diese Textein­ blendungen sind für alle vier Teile des Zyklus neben den gesprochenen Texten wesent­ liches Element der räumlichen, zeitlichen, atmosphärischen und auch psychologischen Orientierung und Strukturierung für den Zuschauer, wobei sie vom Szenischen selten komplementär gestützt werden» (Metzger 2010: S.  206). Hier wurde offensichtlich die Darstellungsebene um Elemente einer Abbildungsebene ergänzt und somit das theatrale zum filmähnlichen Dispositiv umgestaltet, dessen Strukturierung sich über den kom­ mentierenden Wahrnehmungsfilter ergibt. 166 Zur narration Die Interpretationsversuche beziehen sich sowohl auf die Elemente der mise en scène («un nuage, un triangle, un clocher, une fleur, un caillou») als auch auf das Spiel der Figuren auf der Bühne, die Ebene der Verkörperung, mit Kramer und Dünne verstanden als «bestimmte Form der Organisation von Körperbewegungen und sprachlichen Äußerungen».355 Es ist bei weitem nicht nur die Schauspielerin Rachel, deren Verwand­ lung auf der Bühne Marcel staunen lässt356 und die Mimik und Gestik in Verstellung einsetzt. Mme de Guermantes lässt ebenso auf der mondänen Bühne der Soiréen bewusst ihre Augen strahlen: Dans l’ordinaire de la vie, les yeux de la duchesse de Guermantes étaient distraits et un peu mélancoliques, elle les faisait briller seu­ lement d’une flamme spirituelle chaque fois qu’elle avait à dire bon­ jour à quelque ami […] après avoir jeté sur sa robe ce dernier regard rapide, minutieux et complet de couturière qui est celui d’une femme du monde, Oriane s’assura du scintillement de ses yeux non moins que de ses autres bijoux (RTP II: S. 661 f.). Wie die Analyse von Figurenrede, Mimik und Gestik ergeben hat, ist die Ebene der Verkörperung nicht darauf angelegt, die Erzählung zu tragen, wes­ halb Lohmeiers Vorschlag, die qualitativen Strukturen des Personals in einer «Matrix von Merkmalsoppositionen» zu fassen, «in der die einzelne Figur als Bündel von Kontrast- und Korrespondenzmerkmalen erscheint»357, für den ruizschen Film ins Leere laufen muss. Dies ist im literarischen Prätext angelegt, bei dem die Figuren hinter ihrer Selbstinszenierung jede Kontur verlieren. Das Spiel der Verkörperung erschöpft sich in der Darstellung einer Oberfläche, die nicht durchdrungen werden kann. Im Versuch der Interpretation des erzählenden Beobachters gewinnen die Figuren nie an Tiefe; es bleibt bei der Multiplizität unzugäng­ licher bildhafter Oberflächen, wie der Erzähler etwa nach dem Tode Alber­ tines feststellt: […] rapide et penchée sur la roue mythologique de sa bicyclette, san­ glée les jours de pluie sous la tunique guerrière de caoutchouc […]; les soirs où nous avions emporté du Champagne dans les bois de Chan­ tepie, la voix provocante et changée […]. Petite statuette dans la pro­ menade vers l’île, calme figure grosse à gros grains près du pianola, 355 Dünne /  Kramer 2009: S. 16. 356 «Mais vue ainsi, c’était une autre femme» (RTP II: S. 175). 357 Lohmeier 1996: S. 271. Die Darstellungsebene – Theater im Film 167 elle était ainsi tour à tour pluvieuse et rapide, provocante et diaphane, immobile et souriante, ange de la musique. Chacune était ainsi atta­ chée à un moment, à la date duquel je me trouvais replacé quand je la revoyais. Et ces moments du passé ne sont pas immobiles; ils gardent dans notre mémoire le mouvement qui les entraînait vers l’avenir, – vers un avenir devenu lui-même le passé –, nous y entraînant nous- même (RTP III: S. 488). Die Unzugänglichkeit hat eine duale Gründung: Auf der Darstellungsebene ist sie bedingt durch die Objekte der Betrachtung, die sich hinter verschie­ denen Masken verstecken; auf der Abbildungsebene ist sie bedingt durch die Zersplitterung des wahrnehmenden Subjekts, das als «Ort der Bilder»358 die Darstellungsebene stets aus unterschiedlichen (Kamera-)Perspektiven fasst. Die Oberflächlichkeit der theatralen Verkörperung, die keine gültige Interpretation gestattet, nimmt den Darstellern der Recherche ihre Körper­ lichkeit und macht sie zu Spiegelflächen des in der Zeit zerstückelten Ich:359 […] je me disais combien il est difficile de savoir la vérité dans la vie. J’avais bien remarqué le désir et la dissimulation d’Albertine pour aller chez Mme Verdurin et je ne m’étais pas trompé. Mais alors même qu’on tient ainsi un fait, des autres on ne perçoit que l’apparence; car l’envers de la tapisserie, l’envers réel de l’action, de l’intrigue – aussi bien que celui de l’intelligence, du cœur – se dérobe et nous ne voyons passer que des silhouettes plates dont nous nous disons: c’est ceci, c’est cela; c’est à cause d’elle, ou de telle autre (RTP III: S. 620). Der Betrachter bemerkt das offensichtliche Schauspiel, kann aber dennoch nicht hinter die «apparence» der flächigen Silhouetten blicken. La dissimu- lation bleibt das einzige visuell entschlüsselbare Moment. In dieser Hinsicht ist das Schauspielern der Figuren mit dem Kom­ plex von Lüge und Wahrheit als einer spezifischen Form einer filmnahen Erzählkonstellation verbunden, der sich auch im sprachlichen Code der schauspielenden Figuren äußert. Wie Mecke herausstellt, spielen «Ehren­ worte, Hyperbeln und Beschwörungen […] auch in Marcel Prousts Roman- zyklus […] als Lügenindikatoren eine große Rolle. Dort pflegt Albertine […] 358 Belting 2001: S. 12. 359 In ihrer visuellen Lesart macht Bal hier einen Grundzug der ästhetischen Beschrei­ bung fest: «The Proustian subject spreads himself out over the long pages of La Recherche by ‹pressing› himself against all of the characters, who are nothing more than puppets, flat images that end up being flat images of himself» (Bal 1997: S. 244). 168 Zur narration ihre Aussagen durch Schwüre zu unterstreichen»360 und kaschiert eine Lüge mit einer anderen. Veltkamp macht darauf aufmerksam, dass die Inquisiti­ onen gegenüber Albertine aus späteren Manuskriptergänzungen stammen: Daraus lässt sich ein zunehmendes Interesse Prousts am Phäno­ men der Lüge und dem durch es bedingten Klima der Unsicherheit schließen. Dabei formuliert die Reflexion über die Lüge diese nie als ethisch­moralisches Problem, sondern stets als ein (im weitesten Sinne) sprachliches.361 Der Wahrnehmungsfilter bzw. die Kamera des erzählenden Ich weiß um die Zeichen der Kunst und führt daher das Schauspiel und die Lüge, deren Zeuge er als erinnertes Ich wird, nicht auf ein ethisches Problem zurück, sondern inszeniert es als künstlerisches Phänomen in Rekurrenz auf das Medium Theater. Im Theater versteckt sich das Gesicht hinter der Maske, das Sein hinter dem Schein, das eine hinter dem anderen. Wenn Ruiz so den Seins-Aspekt des Theaters in der Identität der Schauspieler betont, ver­ schiebt er das Gewicht von Schein und Sein zu einem Gleichgewicht und verweist damit im Spiel mit dem eigenen Medium auf die Grundstruktur der Zeichen der Kunst, wie sie die Recherche entwickelt. So stellte die Bildbeschreibung des Port de Carquethuit sich programma­ tisch unter die Prämisse des Falschen, indem sie den Gegenentwurf zur gött­ lichen Trennung und Benennung zum Ausgangspunkt der eigenen Ästhe­ tik einer «illusion première» der bildlichen Atmosphäre werden ließ (RTP I: S. 835). In der Räumlichkeit des Bildes kristallisierte das Bild in der Unun­ terscheidbarkeit von Meer und Land, von Festem und Flüssigem, von Virtu­ ellem und Aktuellem. In der Zeitlichkeit der Erzählung verschreibt sich die gesamte Recherche in ihrer Makrostruktur einer zeitlichen Unmöglichkeit: Der offensichtlich geschriebene Roman verbleibt ein Zukunftsprojekt. Die Unwahrheit der Makrostruktur gewinnt dadurch, dass sie sich selbst nicht verhehlt, an Wahrhaftigkeit. Mecke nimmt Bezug auf das Kino der Autorenpolitik der Regisseure, die in der Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma in den fünfziger und sechziger Jahren diskutiert wurde und sich dem Komplex der «Moral»362 im Film zuwandte. 360 Mecke 2003: S. 276. Eine ausführliche Untersuchung der Lüge bei Proust bietet Mil­ ler 1996: S. 405–429. Miller bezieht sich auf Derridas Feststellung, dass gar keine sprach­ lichen Anzeichen existierten, um Lüge von Wahrheit zu unterscheiden, führt das Phä­ nomen der Lüge also auf ein semiotisches Problem zurück. 361 Veltkamp 1987: S. 82. 362 «Les travellings sont affaire de moral» (Godard 1959: S. 5). Die Darstellungsebene – Theater im Film 169 Im Unterschied zu den verlogenen Bildern des Hollywoodkinos, die dem Zuschauer Wahrhaftigkeit vortäuschen, sind die Bilder des Kinos der Lüge wahr, weil sie zugeben, dass sie lügen.363 Er bezeichnet diese Art der Authentizität als «postmoderne» (ibid.). Die Kri­ tik, die der Erzähler der Recherche am Realismus übt, zielt auf ein analoges Konstrukt von Lüge und Wahrheit ab: C’est ce mensonge-là qui ne ferait que reproduire un art soi-disant « vécu », simple comme la vie, sans beauté, double emploi si ennu­ yeux et si vain avec ce que nos yeux voient et ce que notre inte­ lligence constate  […]. La grandeur de l’autre art véritable, au con­ traire, […] , c’était de retrouver, de ressaisir, de nous faire connaître cette réalité loin de laquelle nous vivons […], cette réalité que nous risquerons fort de mourir sans avoir connue, et qui est tout simple­ ment notre vie (RTP III: S. 895). Aus der ausgesprochen unrealistischen Erzählperspektive der Recherche heraus wird die Fiktion zur wahren Realität erklärt: L’artiste qui renonce à une heure de travail pour une heure de cause­ rie avec un ami sait qu’il sacrifie une réalité pour quelque chose qui n’existe pas (RTP III: S. 875). «Réalité» bedeutet diese Fiktion allerdings nur, wenn sie sich nicht realis­ tisch gibt, wenn sie ihre Fiktionalität, man könnte auch sagen ihre ‹Lügen­ haftigkeit› ausstellt. Verleugnet sie diese, ist sie Lüge. «Realität» beinhaltet demnach, die eigene Lügenhaftigkeit nicht zu verleugnen. Je m’en assurais par la fausseté même de l’art prétendu réaliste et qui ne serait pas si mensonger si nous n’avions pris dans la vie l’habitude de donner à ce que nous sentons une expression qui en diffère telle­ ment, et que nous prenons au bout de peu de temps pour la réalité même (RTP III:S. 881). Die Recherche entspricht in ihrer Prozessorientierung einem Werden, wie es Deleuze für das moderne Kino formuliert hat; dieses Kino des Werdens umfasst nach Deleuze zwei zentrale Aspekte: einen zeitlichen und einen fälschenden. 363 Mecke 2003: S. 298. 170 Zur narration Der zeitliche Aspekt des Werdens äußert sich in der «Serie der Zeit, die das Vorher und Nachher in einem Werden zusammenführt»364 und ist damit das Moment, mit dem der Erzähler der Recherche die Größen von Lüge und Wahrheit in der Erzählung kollabieren lässt («Si Albertine laisse passer quel­ que temps, mes mensonges deviendront une vérité», RTP III: S. 461). Der fäl­ schende Aspekt beinhaltet die ästhetische Komponente dieses Bruchs mit dem Wahren als offensichtlicher «Legendenbildung»,365 die sich in der Die­ gese der Recherche sowohl in der Selbstinszenierung der Figuren äußert als auch in der zeitlich unmöglichen Konstruktion von zu schöpfendem und geschöpftem Werk. Eine Tendenz, eine solche Legendenbildung filmisch aus­ zustellen, sieht Deleuze seit den sechziger Jahren unabhängig voneinander im cinéma direct von John Cassavetes und Shirley Clarke, im cinéma du vécu von Pierre Perrault und im cinéma-vérité von Jean Rouch.366 Perrault hatte sich mit seinen Dokumentarfilmen gegen eine Fiktion ausgesprochen, die ein Modell einer schon bestehenden Wahrheit darstellt, da diese notwendi­ gerweise den herrschenden Vorstellungen oder dem Blickwinkel des Koloni­ sators Ausdruck verleihe. Für Perrault ist dies eine «Vergötzung» der Fiktion, die dafür sorgt, dass die Fiktion in der Religion, der Gesellschaft, dem Film und allgemein in den Bildsystemen als wahr erscheint. Jean Rouchs Grund­ lagen des cinéma-vérité leiten sich aus diesem Kinoverständnis ab, von dem Deleuze schreibt: «Das Kino kann sich nun mit Fug und Recht cinéma-vérité nennen, um so mehr, als es jedes Modell des Wahren zerstört haben wird, um Schöpfer und Erschaffer von Wahrheit zu werden: dies ist dann kein Kino der Wahrheit mehr, sondern die Wahrheit des Kinos.»367 Ruiz stellt sich in diese Tradition, wenn er die Theatralität des eigenen Mediums ausstellt: Jamais Ruiz ne recherche seulement l’effet pour l’effet, l’illusion pour la seule séduction; il donne toujours à voir en même temps qu’il y a effet, procédé, trucage. Il souligne, désigne qu’il y a illusion. Maî­ tre incontesté du faux semblant, il révèle qu’il y a fausse semblance, montre que l’image ment, faisant ainsi paradoxalement œuvre de vérité en désignant un mensonge.368 364 Deleuze 1991b: S. 204. 365 Deleuze 1991b: S. 198. Diesen Bruch setzt Deleuze mit dem Kino der Nouvelle Vague an (cf. S. 179). 366 Deleuze 1991b: S. 198 ff. 367 Ibid.: S. 199. 368 Buci-Glucksmann / R evault-D’Allones 1987: S. 42 f. Die Darstellungsebene – Theater im Film 171 Veltkamp hatte darauf hingewiesen, dass die Lüge in der Recherche «nie als ethisch­moralisches Problem, sondern stets als ein (im weitesten Sinne) sprachliches» auftritt.369 Es betrifft das Zeichensystem, in dem sich die Literatur bewegt, um die projektierten «vérités» auszudrücken; doch «Wahrheit gibt sich nicht, sie entzieht sich, am deutlichsten in den Worten».370 Genette zeichnet in «Proust et le langage indirect» die Ebene des Bil­ dungsromans nach, die in der «théorie proustienne»371 vom «âge des noms» zum «âge des choses» führt (diesen Titel hatte Proust ursprünglich für Le Temps retrouvé vorgesehen): Im «âge des mots» hatte der Erzähler die «incapacité du langage à révéler cette vérité [intérieure] autrement que d’une manière dérobée, déplacée, déguisée, retournée, toujours indirecte et comme seconde […]» (ibid.) festgestellt. Im «âge des choses» schließlich manifestiert sich die Defizienz der Langage als Essenz, «qui se donne dans l’expérience de la réminiscence et se perpétue dans l’exercice de la méta- phore  – présence d’une sensation dans une autre, ‹miroitement› du sou­ venir, profondeur analogique et différentielle, transparence ambiguë du texte, palimpseste de l’écriture» (S. 294). Die «incompatibilité de l’être et du paraître» stellt den Signifikanten grundsätzlich in Frage, «qu’il soit ver­ bal ou gestuel» (S.  266). Diese Flüchtigkeit der Bedeutung führt Doetsch mit Baudelaire als Charakteristikum der Moderne an, der Flüchtigkeit als ergänzenden Pol zur Ewigkeit entwickelt.372 Auch Kristeva sieht in der «Flüchtigkeit der Bedeutung» der investigativen Passagen der Eifersucht ein Prinzip des gesamten Textes.373 «Dies ist dann kein Schreiben der Wahrheit mehr, sondern die Wahr­ heit des Schreibens»  – ließe sich in Anlehnung an Deleuze formulieren. So gründen Bild und sprachliches Zeichen auf einer figurativen Basis, die Schein neben Sein, Aktuelles neben Virtuelles, Wahrnehmung neben Pro­ jektion bzw. Imagination stellt und letztendlich das Zeichen zum Spiegel des heterogenen Komplexes eines in sich gebrochenen Subjekts werden lässt, das «die Gespaltenheit des Selbst in die Zeichen» einträgt, «deren ständige Dekonstruktion von Verweisungszusammenhängen der De- und Re-Konfiguration von Anschauungen»374 entspricht. 369 Veltkamp 1987: S. 82. 370 Doetsch 2004: S. 343. 371 Genette 1969: S. 293. 372 «La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable» (Baudelaire 1976: S. 686; cf. Doetsch 2004: S. 1). 373 Kristeva 1994: S. 44. 374 Doetsch 2004: S. 319. 172 Zur narration 4.2.4 Das Raumkonzept der Darstellungsebene Lohmeier unterscheidet als Funktionen des fiktiven Raumes «eigentliche Raumkonzepte» von «uneigentlichen Raumkonzepten».375 Dabei ergeben sich die eigentlichen Raumkonzepte aus «räumlich-praktischen» Faktoren, konventionsbedingten Vorstellungen oder filmspezifischen Traditionen, die einen bestimmten Raum für bestimmte Stimmungen, Handlungen, Per­ sonen usw. nahelegen (etwa die dunkle, suspekte Hafenszenerie für einen Mord). Die uneigentlichen Raumkonzepte dagegen leiten sich aus der Aus­ stattung der Räume ab, die als symbolisches Arrangement eine Allegorie des Lebensraumes der Figuren darstellt.376 Der Raum dient nach dieser Unterscheidung folglich entweder der Untermalung der Handlung oder der Beschreibung der Charaktere. Wie bereits dargestellt, sind in Ruiz’ Film jedoch weder konfliktive Handlungen noch bestimmte Charaktere aus­ schlaggebend für die filmische Entwicklung. Die mise en scène der Räume wird dagegen bestimmt durch die Fokali­ sierung des erinnernden Subjekts, die einzelne Einstellungen einzufärben scheint. So motiviert die Farbe Rosa als Anagramm des EROS offenbar die gesamte Erinnerungssequenz um Gilberte: Als Marcel in Combray vor der zart altrosa getünchten Hausfassade in den Garten herabfährt, sieht der Zuschauer die rosa Rosen des Gartens und, kurz darauf, Gilberte mit der damals unerklärlichen Geste im hellen rosa Kleid mit rosa Blümchen. In der folgenden Szene schneidet die nunmehr erwachsene Gilberte rosa Rosen, wieder im rosafarbenen Kleid (Abb. 4.19 und 4.20). Abb. 4.19 Gilberte als Kind mit rosa Rosen (0:11:04). 375 Lohmeier 1996: S. 274 ff. 376 Cf. Lohmeier 1996: S. 281. Die Darstellungsebene – Theater im Film 173 Abb. 4.20 Gilberte als Erwachsene mit rosa Rosen (0:11:34). Von den rosa geschminkten Wangen über das rosa Kostüm bis hin zur Aktion des Rosenschneidens: Die Farbe Gilbertes prägt in dieser Sequenz die gesamte mise en scène. Wenn wir etwa sagen: eine Tasse sei blau, dann denken wir an ein Ding, das durch die Farbe Blau bestimmt ist, also von anderen unter­ schieden. Diese Farbe ist etwas, was das Ding hat. Zusätzlich zu ihrem Blausein kann man noch fragen, ob es eine derartige Tasse gibt. Ihr Dasein wird dann durch eine raumzeitliche Lokalisierung bestimmt. Das Blausein der Tasse kann aber auch ganz anders geda­ cht werden, nämlich als die Weise oder, besser gesagt, eine Weise, in der die Tasse im Raum anwesend ist, ihre Präsenz spürbar macht. Das Blausein der Tasse wird dann nicht als etwas gedacht, was auf die Tasse in irgendeiner Weise beschränkt ist und an ihr haftet, son­ dern gerade umgekehrt als etwas, das auf die Umgebung der Tasse ausstrahlt, diese Umgebung in gewisser Weise tönt oder «tingiert», wie Jakob Böhme sagen würde.377 Pasco hat in The color-keys to «À la Recherche du temps perdu» auf die gene­ relle Begleitung der Farbe Rosa mit dem Begehren eines möglichen physi­ schen Kontaktes hingewiesen, das er «the sensation of ‹potential reality›» nennt.378 Wie bereits Matoré und Bailey herausstellten, verbinden sich in dieser Farbe verschiedene Zeiten in Eindrücken aus früher Kindheit und 377 Böhme 2007: S. 296 f. 378 Pasco 1976: S. 47. 174 Zur narration der «sensualité juvénile».379 Dies bedeutet, dass nicht etwa die rosafarbene Gilberte als Ausstrahlungspunkt der Einfärbungen auszumachen ist, son­ dern der Projektor des erinnernden und erinnerten Ich, aus dessen Affekten die semantisch gefärbten Kolorierungen die mise en scène der Erinnerungs­ räume tönen bzw. «tingieren». So wird im literarischen Prätext die mise en scène der Côté de Swann von blau getränkt, die Seite der Guermantes von sonnigem Gelb380, die Objekte der Begierde von der Farbe Rosa. Die rosafarbenen Rosen kehren leitmotivisch, doch niemals identisch, im Dekor wieder (Abb. 4.21 bis 4.26). Als Proust im Boulevard Haussmann von Rosen deliriert, nehmen sie eine räumliche Sonderstellung ein: sie situieren sich in einem durch eine trübe Glasscheibe zweigeteilten Raum diesseits des gefilmten Raumes wie in einem außerfilmischen espace-off, das die Bildlichkeit des Bildkaders in ihrer verfremdenden Sicht entscheidend prägt. Hier werden vor und hinter der Glasscheibe zwei Bilder in eines geführt (Abb. 4.27). Die Rose stellt sich in dieser Einstellung aus dem (kadrierten) Außen als außerzeitliches Moment dar, das das gesamtfilmische Raumkonstrukt unterläuft. Sie erscheint sowohl im Außen­ als auch im Innenraum Com­ brays, im Paris des erwachsenen Proust und im Zimmer des Sterbenden. Wenn sie sich nun auch noch im espace-off des gefilmten Raums ansiedelt, das sich scheinbar zwischen Zuschauer und Film befindet, proklamiert sie darüber hinaus eine Mittlerstellung zwischen dem erinnernden Zuschauer und dem Filmbild als ein imago des édifice du souvenir. In diesem in der Tiefe geteilten Bild geschieht, was Astruc der Schärfentiefe zuschrieb: Die Inte­ gration des «Denkens» in das Bild des modernen Kinos: Die Schärfentiefe «macht aus dem Ablauf des Films ein Theorem und nicht mehr eine Bilder­ folge [association d’images], sie versetzt das Denken ins Innere des Bildes», schreibt Deleuze in Anlehnung an Astruc, der im «Ausdrücken der Gedan­ ken […] das fundamentale Problem des Kinos» sah.381 An späterer Stelle scheinen sich die Rosen ebenfalls aus dem gefilmten Bild zu lösen. Aus dem Gemälde Elstirs, das bei den Verdurins zu sehen 379 Matoré 1958: S.  144. Zu ähnlichen Schlüssen kommen Cocking 1960: S.  71  f. und Butor 1964: S. 39. Ernst ordnet Prousts «multikoloristische Farbästhetik» der Moderne zu (cf. Ernst 2012: S. 52). 380 Die Spazierwege auf Swanns Seite sind gesäumt von Fliederbüschen, von blauen Ver­ gissmeinnicht-Blüten und violetten Lilien und werden bei unsicherem Wetter unternom­ men – die der Côté de Guermantes dagegen stehen stets im Kontext des sonnigen Wetters (cf. Zaiser 2004: S. 79). Zaiser weist nach, wie sich aus der Farbdominanz der Wirklichkeit eine subjektive Semantik ergibt, die das Blaue als Greifbares und das Gelbe als Fliehendes schlüsselt – bis der Fokalisator diese Festschreibung durch eine neue ersetzt. 381 Cf. Deleuze 1991b: S. 226. Die Darstellungsebene – Theater im Film 175 Abb. 4.21–4.26 (von links oben nach rechts unten) Rosenstrauß in Innenraum – Tansonville (0:13:34) / Rosenstrauß im Schlafzimmer – Paris, rue Hamelin (0:20:04) / Rosen am Grab von Robert (1:33:15) / Rosen bei Rahel im Theater – Opéra-Comique, Paris (0:24:52) / Rosen bei Morels Geliebter (0:27:04) / Unter Glashauben konservierte Sträuße – 4, rue du docteur Proust, Illiers- Combray (2:26:06). Abb. 4.27 Taufrische Rose vor der Glaswand des nahen Todes (0:12:35). 176 Zur narration ist, treten die Rosen aus der bildlichen Zweidimensionalität offenbar plas­ tisch hervor (0:36:46). Aus der Oberfläche wird Tiefe. Es folgt eine Szene von doppelbelichteten Bildern, die mit dem Gemälde der Rosen schließt (Seq. 4.22). Seq. 4.22 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609783) Rosen in Bild und Raum (0:37:46–0:37:51). In der Kopplung an das Gemälde spielt Ruiz offenbar auf eine Passage aus Sodome et Gomorrhe an, in der Mme Verdurin dem erlebenden Ich stolz das Gemälde Elstirs präsentiert. Während das Bild für sie in Bezug auf die Ähn­ lichkeitsrelation zur Wirklichkeit zählt («derrière les fleurs autrefois cueil­ lies par lui pour elle-même, elle croyait revoir la belle main qui les avait peintes, en une matinée, dans leur fraîcheur, si bien que, les unes sur la table, l’autre adossé à un fauteuil de la salle à manger, avaient pu figurer en tête à tête, pour le déjeuner de la Patronne, les roses encore vivantes et leur portrait à demi ressemblant», RTP II: S. 943), legt es für den Erzähler die Sicht des Künstlers frei («Il avait montré dans cette aquarelle l’apparition des roses qu’il avait vues et que sans lui on n’eût connues jamais», ibid.). So macht sich das Kunstwerk zum Spiegel des Künstlerblicks, nicht der Realität: […] c’est –  […] la révélation de l’univers particulier que chacun de nous voit, et que ne voient pas les autres (RTP III: S. 895). Die Darstellungsebene – Theater im Film 177 In der Integration der Rose in den espace-off des schärfentiefen Bildes pro­ klamiert Ruiz offensichtlich einen Einblick in das «univers particulier» der gefilmten Erinnerung, bei der Motive dazu imstande sind, über die erinner­ ten Räume und Zeiten hinweg ihre «tingierende» Wirkung zu verbreiten. Die Elemente der Raumausstattung verweisen im «Kino des Gehirns» stets in letzter Instanz auf den körperlichen Erinnerungsraum, dem die Cha­ rakterisierung der Figuren auf der Darstellungsebene untergeordnet sind. Dabei ist der untergründig wirkende páthos die treibende Kraft, die sowohl die Kostüme der Darsteller als auch die Elemente der Raumausstattung bestimmt. Der Raum tritt demnach weder im Sinne des «eigentlichen Raum­ konzeptes» auf, als atmosphärische Ausgestaltung der Handlung, noch im Sinne des «uneigentlichen Raumkonzepts», als Allegorie des Lebensraumes der dargestellten Figuren.382 Vielmehr verweist er auf die Affekte des fokali­ sierenden Subjekts, dem in der hier aufgestellten Dichotomie kategoriell die Kameraarbeit zugeordnet wurde. Hierin äußert sich die duale Funktion des cinematic narrator: Wie bei einem Kinematographen erfüllt er nicht nur die Funktion der Aufzeichnung einer Objektebene, sondern außerdem die Auf­ gabe des Projizierens, die ihn als Ursprung der augenscheinlichen Objekt­ welt in Erscheinung treten lässt. Wie dieses Kapitel zeigen konnte, weist die Narration der Recherche zahl­ reiche Parallelen zur filmischen auf: Das erzählende Subjekt wurde hier als cinematic narrator verstanden, der kameraanaloge Funktionen und Montage vereint. Seinen Wahrnehmungsfilter musste jeder Gegenstand durchlaufen. In Passagen voyeuristischer Beschreibung zögert er nicht, als «unbeteiligter Dritter» seinen Zoom einzusetzen. Er erscheint in seiner Verdopplung als gleichzeitig zeigend­erzählende wie gezeigt­erzählte Instanz, als Bindeglied zwischen Abbildungs­ und Darstellungsebene. Dabei projiziert er nicht nur sich selbst als Anderen in die Darstel­ lungsebene, sondern macht auch die weiteren Figuren der Diegese zum Spiegel bzw. zum Bild seines Ich. So ist die «Polymodalität» erklärbar, mit der Genette die inkonsequente interne / d oppelte / N ullfokalisierung der Recherche zusammenfasst: Die gesamte Darstellungsebene erweist sich als dependent von der Erzählinstanz (der Kamera), die frei zwischen der Leib­ lichkeit der projizierten Figuren und der eigentlichen Auktorialität schal­ ten kann. Die Figuren, die auf dieser Ebene agieren, wurden als Schauspieler dar­ stellbar, deren Flächigkeit und Entkörperlichung eher auf das Medium Film als auf das des Theaters verweisen. In der Selbstreferenz theatraler Momente der Inszenierung von Mimik und Gestik und der Selbst-Inszenierung der 382 Cf. Lohmeier 1996: S. 281. 178 Zur narration Figuren als Schauspieler wurde das proustsche Spiel um «être und paraître» (Genette) mit dem ruizschen Spiel des Schauspiels vergleichbar, in dem die Fälschung der Fiktion die eigentliche Wahrheit bereithält. Die Zwischenstellung des Erzählers, der sowohl auf der Abbildungs- als auch auf der Darstellungsebene angesiedelt ist und seine Subjektebene dar­ über hinaus in der mise en scène von Kostümierung und Raumausstattung überschreitet, die ebenfalls zu Bildern seines páthos werden, verdeutlicht, dass die proustsche Filmnähe keine des traditionellen Films ist: Die Katego­ rien Lohmeiers, die sie am klassisch erzählenden Film entwickelt hat, wer­ den gerade dort nichtig, wo es Ruiz gelingt, Proust filmisch auszudrücken. Es fällt die klare Trennung Abbildungs- und Darstellungsebene, es fallen die quantitativen sowie qualitativen Analyseverfahren in der steten Büh­ nenpräsenz des beobachtenden, doch meist stummen erinnerten Ich oder der Dominanz der kommentierenden Kamera, die leichterhand klassisch partnerorientierte Dialoge konterkariert. In dieser speziellen Form der Interdependenz der zeigenden und erle­ benden Einheit drückt sich die Sprechart des modernen Kinos aus, bei der alles Dargestellte auf «das Denken» der erzählenden Einheit zurückge­ führt werden kann, das so «ins Innere des Bildes» versetzt wird.383 So überlagern sich die Einheiten von Abbildungs- und Darstellungsebene; sie nähern sich passagenweise an, um sich dann wieder zu konterkarieren, sind gleichzeitig getrennt wie verbunden. In der ontologischen Trennung bei gleichzeitig körperlicher Einheit des literarisch erzählenden und erle­ benden Ichs besteht hier eine grundlegende Gemeinsamkeit, die die lite­ rarische Imagination des Erzählers in der Form eines Kinematographen, der sowohl aufzeichnende als auch projizierende Funktion hat, als Präfi­ guration der filmischen Erzählmöglichkeiten des modernen Kinos fassbar werden lässt. 383 Deleuze 1991b: S. 226. 5 Zur Spatialisierung des discours Der Erzähler hat es sich zum Ziel gemacht, die Figuren im Raum von le Temps darzustellen und dabei eine eigene Art der «psychologie» zu entwi­ ckeln: «par opposition à la psychologie plane dont on use d’ordinaire, d’une sorte de psychologie dans l’espace» (RTP III: S. 1031), in der sich die Zeiten räumlich verschachteln und damit die Sukzession der Ereignisse ausspielen («[…] en introduisant le passé dans le présent sans le modifier […]», ibid.). Die Psychologie des Raums dient – wie dieses Zitat zeigt – dazu, die Zeit in den Raum zu verweisen, sodass zeitliche Distanzen und chronologische Sukzession in sich zusammenfallen. Doch ist der Roman keine räumliche Kunstform, er ist gebunden an die Zeit, in der sich die Erzählung äußert. Im Gegensatz zum Lesevorgang findet das Film­Sehen in einer vorgege­ benen Zeit statt: «Le temps écranique» (Souriau)384 die Zeit der Projektion. In der filmischen Erzählung interagiert die Erzählzeit (bzw. die «Film­Zeit» (Lohmeier) oder «temps diégétique» (Souriau) als messbare Zeit der Diegese mit der erzählten bzw. gefilmten Zeit. In Ruiz’ Verfilmung wie im literarischen Prätext ist die Erzählzeit ausge­ sprochen lang (die über 3000 proustschen Seiten gibt Ruiz in circa dreistün­ diger Filmzeit wieder385), doch im Vergleich zur Zeitspanne eines gesamten Lebens, das die histoire umfasst, liegt selbstredend eine extreme Raffung vor. Diese wird jedoch nicht als Raffung spürbar. Zwei Momente arbeiten einem solchen Eindruck entgegen. 384 Souriau 1953: S. 8. 385 «En fait, si le spectateur a conscience du temps qui passe, c’est parce que le film est beaucoup trop long (environ 2h 40)» (Ifri 2000: S. 173). https://doi.org/10.17885/heiup.310.420 180 Zur Spatialisierung des discours Zu nennen ist zunächst einmal die Metrik des Films, der mit seinen extrem langen Einstellungen ein ähnliches Gefühl von Dauer erregt, wie Prousts schwindelerregend lange Sätze («Les phrases sont incroyables: elles sont bien construites, mais n’ont pas de centre»386). Allein in diesem äuße­ ren Rahmen wird die Gegenüberstellung von chronologischer («temps») und «innerer», psychologischer Zeit («durée») der Recherche spürbar, mit der Proust laut Albersmeier den Film nachhaltig beeinflussen sollte.387 Das zweite essentielle Moment, das die Zeitraffung aushebelt, ist das Fehlen eines zeitlichen Fixpunktes der Erzählung. Wenn die Sequenzen, die mal in zeitlichen Klammern, mal in uferlosen Serien sich substituieren­ der Einstellungen die Vergangenheiten des Protagonisten darstellen, unter Auslassen eines gegenwärtigen Bezugspunktes erzählt werden, wird die Zeitstruktur des Films zum gesamtfilmischen Kristallbild, in dem sich jede Sequenz in unterschiedlichsten Szenen und Einstellungen spiegelt. Dies gilt auch für die temporale Ubiquität388 der literarischen Narration, deren zeitlich springende Sätze sich spiegelkabinettartig ineinander verschränken, wie die multiplen «connexions involontaires proliférant entre les images»,389 die bei Ruiz ein raumzeitliches Konstrukt der Dauer leiten, die als Zeit in der Immanenz des erzählenden Bildes verankert ist. Auch Marcels Narra­ tionsakt ist in erster Linie «instantan». Er «[…] weist keinerlei Zeichen von Dauer oder auch nur einer Unterteilung auf: er ist instantan. Die Gegenwart des Erzählers, auf die wir fast auf jeder Seite stoßen und die den verschie­ denen Vergangenheiten des Helden untergemischt wird, ist ein einziger unteilbarer Moment, ein Fortschreiten gibt es nicht».390 Das vieluntersuchte Prinzip der durée, das sich programmatisch im «longtemps» des ersten Satzes konzentriert und im Iterativ391 des Impar­ fait die erzählte Zeit bestimmt, wurde häufig auf Bergson zurückgeführt.392 So verweist etwa Albersmeier im Hinblick auf den Einfluss der proust­ schen Erzählung auf das Medium Film auf die «ästhetische Dimension der 386 Burdeau 1999: S. 46. 387 Albersmeier 1985: S. 339. 388 Genette 2010: S. 22. 389 Ruiz 2006: S. 17. 390 Genette 2010: S. 159. 391 Nach Flauberts Mme Bovary war Proust der zweite, der den Iterativ von der funk­ tionalen Unterordnung unter den Singulativ der Erzählung befreit hat (cf. Genette 2010: S. 217). Genette analysiert den Iterativ in Proust ausführlich und wird meist als Quelle genannt, bezieht seinerseits die grundlegende These jedoch von Houston 1962: S. 33–44. 392 «[S]i courte qu’on suppose une perception, elle occupe toujours une certaine durée» (Bergson 2008: S. 30 f.). Zur Spatialisierung des discours 181 ‹durée›», die «Proust […] in Anlehnung an die Philosophie Bergsons […] in den Roman einführt […]».393 Deleuze widerspricht dieser Einschätzung in Proust et les Signes:394 Die einzige Parallele, die er zwischen Proust und Bergson gelten lässt, ist die der verschiedenzeitlichen Koexistenz, die Bergson im Begriff der Virtua- lität fasst und die für Deleuze zur Grundlage der Reflexion des filmischen Zeit-Bildes wurde. Diese Koexistenz übersetzt Ruiz in eine Raum­Zeit­Konfiguration, in der sich die Eindrücke von Einheit und Vielheit gegenüberstehen: Die Einheit ergibt sich aus der augenscheinlich räumlichen Gleichzeitigkeit, die Schein­ feigel in Bezug auf Ruiz passend als Labyrinth gefasst hat: Les différents âges de la vie du narrateur sont évoqués dans un entre­ lacs perpétuel et chaque âge étant un présent parfaitement simultané des autres présents, tous sont à la fois actuels et virtuels. Le spectateur erre ainsi dans le labyrinthe du temps et l’errance est aussi aléatoire que l’est la remontée des souvenirs dans la conscience de l’écrivain.395 Alle Gegenwart ist gleichzeitig Vergangenheit. Der Raum erscheint dabei von der Zeit untrennbar als Dimension derselben, als raumzeitliches Laby­ rinth, in dem die Figur Prousts die multiplen Zeiten inkorporiert: «[…] jede Gegenwart koexistiert mit einer Vergangenheit und einer Zukunft, ohne die sie selbst gar nicht vorübergehen könnte. Es gehört zum Film, diese Ver­ gangenheit und diese Zukunft zu erfassen, die mit dem gegenwärtigen Bild koexistieren», so beschreibt Deleuze das Zeit­Bild.396 Die projektierten Giganten, die sich in Gleichzeitigkeit auf den schwin­ delerregend hohen Schichtungen der Zeiten bewegen, führen die Zeiten in den Raum der Erzählung, die sich stets in «Chiasmen der Erinnerung»397 393 Albersmeier 1985: S. 339. 394 Cf. Deleuze 1996: S. 73. 395 Scheinfeigel 2003: S. 224. 396 Deleuze 1991b: S. 57. Blanchot formuliert im Gesang der Sirenen, dass Proust «die faszinierende Struktur» der Sage einfach «kristallisieren läßt» in dem sagenhaften Punkt der Werksschöpfung, «in dem die Gegenwart, die Vergangenheit und, obwohl Proust sie zu vernachlässigen scheint, die Zukunft koinzidieren» (Blanchot 1988: S. 28). 397 Der Ausdruck stammt von Stierle, der diese Überkreuzungen in den Beschreibun­ gen der «petite bande» der jungen Mädchen am Strand von Balbec nachzeichnet, die sich mit der der Engelschar Giottos überkreuzen: Werden diese als «créatures réelles» (RTP III: S. 648) betrachtet, so scheinen die jungen Mädchen einen gemeinsamen «esprit d’oiseau» (RTP I: S. 788) zu besitzen und werden als «créatures surnaturelles» einer «gra­ cieuse mythologie océanique» (RTP I: S. 949) beschrieben. «Da im Gedächtnis frühere 182 Zur Spatialisierung des discours bricht und so vor einer Chronologie feit, die dem Leben unähnlich wäre (RTP I: S. 642). Gleichzeitig bleibt der zeitliche Bruch des Ich, das als «moi de rechange» (RTP III: S. 595) in der Zeit vielfache Tode gestorben ist (RTP II: S. 88), stets spürbar. In der Montage, die die figürlich­ontologischen Einheiten unterläuft, stellt sich das Prinzip des heterogenen Erzählers der Recherche dar, der immer in eine erzählende und in der Zeit multiple erzählte Instanz teil­ bar ist. Dieses Konzept gebrochener Vermittlung ist eines der Moderne, die in Opposition zur klassisch­romantischen Totalvermittlung von Selbst und Sein steht. Aus der divergenten Erzählung wird die «image» von Proust durch raumzeitliche Super­ und Juxtapositionen geknüpft, die sich letztlich nicht auflösen lassen, nie vollständig zusammenfallen (außer in der Imma­ nenz der Erzählung) und daher, wie Poulet dargestellt hat, eher Konfigura­ tionen (im Raum) ähneln und so Bergsons durée um eine spatiale Dimen­ sion ergänzen. Ricœur verweist auf diese räumliche Dimension der durée als Eigenheit der Recherche: Loin donc que la Recherche débouche sur une vision bergsonienne d’une durée dénuée de toute extension, elle confirme le caractère dimentionnel du temps.398 Die enge Relationierung von Zeit und Raum ergibt sich im Medium Film direkt aus dem récit, der über das räumliche Bild funktioniert: «The spatial dimension of film links it closely to photography, on which film is totally dependent  – and which it constantly violates», schreibt Lothe.399  Diese «violation» des photographischen Raums in der Zeit wird auch als die vierte Dimension des Films bezeichnet.400  Im Gegensatz zur Photographie, die gleichsam den Stillstand der Zeit artikuliert, bestand die Faszination des kinematographischen Mediums und spätere Erinnerung kopräsent sind, kann nicht nur die spätere die frühere, sondern auch die frühere die spätere Erinnerung konditionieren» (Stierle 2004: S. 16). 398 Ricœur 1984: S. 224. Ähnlich formulierte Megay in ihrer Studie zum Einfluss von Bergson auf Proust: «[…] c’est bien le temps spatialisé que Bergson rejette comme étant la déformation que notre intelligence pratique opère sur le réel» (Megay 1976: S. 72). Die Verbindung von Bergson und Proust gab auch in jüngerer Zeit Anlass zu Studien (cf. Maxwell 1999 und Slegers 2010). 399 Lothe 2000: S. 10 f. Photographie definiert er in Anlehnung an Lessings Laokoon als «räumliche Kunst» (S. 12; cf. Lessing 1994 [1766]). 400 «Filme teilen sich in der Zeit mit, benutzen aber dazu Gebilde ‹im Raum›. Film – räumlich gesehen – ist zwar zweidimensional und die dritte Dimension ist nur als Illu­ sion vorhanden, dafür ist aber Zeit als vierte Dimension existent». (Schmid 1988: S. 167). Zur Spatialisierung des discours 183 in seinen Anfängen vor allem darin, dass es die Zeit selbst zu visualisie­ ren schien,401 formuliert Oster­Stierle in ihrem Artikel zu Ruiz’ Le Temps retrouvé. Vierundzwanzig Bilder spulen sich pro Sekunde vor dem Zuschauerauge ab und erzeugen die Illusion einer durchgängigen Bewegung. Lyotard defi­ niert die gesamte «Kinematographie» als «das Schriftwerden von Bewe­ gung».402 Die Bewegung ist dabei dem von der Kamera erfassten Raum ver­ haftet und lässt das «Kino als Kunst des Raumes»403 auftreten. Panofsky hatte diese Dimension des Films im Gegensatz zur Photographie als «Dyna­ misierung des Raums und entsprechend als Verräumlichung der Zeit»404 etabliert. Dabei bewegen sich nicht nur Körper im Raum – «der Raum selbst bewegt sich, nähert sich, weicht zurück, dreht sich, zerfließt und nimmt wieder Gestalt an – so erscheint es durch die wohlüberlegte Belegung und Schärfenänderung der Kamera, durch Schnitt und Montage der verschiede­ nen Einstellungen, nicht zu reden von Spezialeffekten.»405 Im von Deleuze konzipierten Bewegungs­Bild entspricht die indirekte Darstellung der Zeit ihrer empirisch erfahrenen Form eines zeitlichen Verlaufs, der sukzessive die Gegenwart von einem Vorher in ein Nachher überführt. Wenn die Zeit als Einheit erscheint, leitet sie sich «aus der Mon­ tage ab, die sie nach wie vor auf die Bewegung oder die Sukzession der Einstellungen bezieht.» Im Aktionsbild sind die sukzessiven Einstellun­ gen auf ein Intervall bezogen, das Deleuze in Scharnierstellung zwischen 401 Oster-Stierle 2005: S. 103. So wurden schon im frühen Film Zeitindikatoren in das Bild integriert, wie Simon betont: «Très vite, le cinéma a introduit un système com­ parable à l’ intérieur de l’ image au moyen de divers ‹déclencheurs›: horloge, montre, calendrier, temps chronique énoncé par les personnages, etc.» (Simon 1981: S. 61). 402 Lyotard 2005: S. 85. Dass ein Filmbild sich nicht bewegen muss, zeigt Ruiz in seinem Kurzfilm Colloque de chiens (1977), einem Film, der nur aus Einzelbildern besteht. Der Ton wird aus dem Off eingesprochen. Obwohl es nur Standbilder, also keine Illusion der Bewegung gibt, handelt es sich um einen «Film», der eine Geschichte als eine Bilderge­ schichte erzählt. Die Bewegung ist also keine notwendige Bedingung des Mediums – allerdings besteht im Film immer die Möglichkeit der Bewegung. Die Standbilder hätten von einer Szene zur nächsten zu Filmbildern werden können. Chris Marker führte dies in Am Rande des Rollfelds (1962) vor, in dem nur eine Einstellung in Bewegung fällt, wäh­ rend alle weiteren im Stillstand der Standbilder verharren. 403 Cf. den einschlägigen Aufsatz von Rohmer und Schérer mit dem Titel: Le cinéma, art de l’espace (Rohmer / S chérer 1989: S. 33–45). 404 Diese Überlegungen erschienen erstmals 1936 unter dem Titel On movies. Dann in der überarbeiteten Fassung Style and medium in the motion pictures (1947). Hier wurde zitiert aus: Panofsky 1993: S. 22. 405 Panofsky 1993: S. 23. 184 Zur Spatialisierung des discours der empfangenen Bewegung (Perzeption, Situation) und der ausgeführten Bewegung (Aktion im eigentlichen Sinne oder Reaktion) ansiedelt.406 Die Zeitlichkeit, die Billermann der métaphore des Port de Carquethuit abspricht,407 bezieht sich auf eine solche Sukzession der Ereignisse. Tat­ sächlich kann das räumliche Bild im Diskurs jedoch auch im Medium Film nicht die zeitliche Reihung in ein Nacheinander verhindern, in der jede Erzählung sich darstellt, wie Jauß im Rückgriff auf den Zauberberg erin­ nert, der zu Beginn des letzten Kapitels das Wesen der Zeit in der Erzählung reflektiert:408 Alle Erzählung bedarf, wie auch die Musik, der Zeit zu ihrer Ers­ cheinung, weil sie nur als ein Nacheinander, nicht anders denn als ein Ablaufendes sich zu geben weiß. […] Die Erzählung hat zweierlei Zeit, ihre eigene erstens, die musikalisch­reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspekti­ visch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, dass die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammen­ fallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann.409 Wie die Proust­Forschung mit Jauß schon früh festgestellt hat, entfernt die Form der Zeitdarstellung der Recherche sich tatsächlich «sternenweit» von dem Nacheinander der Erzählung, das in der Abfolge von Bewegungsbil­ dern Ausdruck finden könnte. Jauß führte dies primär auf die Distanz des erinnernden und erinnerten Ich zurück, die erlaubt, dass sich der Kreis vom «nunc terminal» zum «nunc initial» allein in der Immanenz der Erzäh­ lung vollendet und «ein ‹univers particulier› umschließt, das nur die Kunst offenbaren kann: die ‹Welt› des Einzelnen im Spiegel der Zeit».410 Wie Jauß im Bild des Spiegels andeutet, handelt es sich hier um ein Ein­ schluss­Verhältnis, das der traditionellen Zeitdarstellung neu ist: Das Ein­ geschlossensein der Figuren in die Zeit entspricht der deleuzeschen Umkeh­ rung der Zeitdarstellung im Image-Temps in der Erzählung des modernen Films. Der Raum der Zeit umfasst dabei sowohl die Dualität von erin­ nerndem und erinnertem Erzähler als auch die von ihm beschriebenen Figuren. In der Beschreibung, die Poulet im Diskurs als «Superposition» 406 Deleuze 1991b: S. 347. 407 Billermann 2000. 408 Jauß bezieht sich im Kontext auf Manns Zauberberg (cf. Jauß 2009: S. 706 ff.). 409 Jauß 2009: S. 9. 410 Jauß 2009: S. 282. Zur Spatialisierung des discours 185 verschiedener aufeinanderfolgender Bilder ausmacht,411 schafft die Recher- che eine allumfassende Schichtung verschiedener Erinnerungsbilder, die sich in der Zeit überschreiben, doch von der Erinnerung wieder sichtbar gemacht werden können. Mais même en dehors des rares minutes comme celles­là, où brus­ quement nous sentons l’entité originale tressaillir et reprendre sa forme et sa ciselure au sein des syllabes mortes aujourd’hui, si dans le tourbillon vertigineux de la vie courante, où ils n’ont plus qu’un usage entièrement pratique, les noms ont perdu toute couleur comme une toupie prismatique qui tourne trop vite et qui semble grise, en revanche quand, dans la rêverie, nous réfléchissons, nous cherchons, pour revenir sur le passé, à ralentir, à suspendre le mouvement per­ pétuel où nous sommes entraînés, peu à peu nous revoyons apparaî­ tre, juxtaposées, mais entièrement distinctes les unes des autres, les teintes qu’au cours de notre existence nous présenta successivement un même nom (RTP II: S. 12). In der Juxtaposition der verschiedenen Farben für ein und denselben «nom» erscheint die Zeit im Raum nicht in Form des Bewegungsbildes, das die Zeit in sukzessiver perspektivischer Kameraverschiebung oder der Bewegung der Darsteller im Raum manifestiert, sondern in der räumlichen Inklusion von Vergangenheit in die Gegenwart, wie der Erzähler in Le Temps retrouvé wieder ganz auf der Linie des filmischen «Zeitbildes» formuliert: […] la mémoire, en introduisant le passé dans le présent sans le modi­ fier, tel qu’il était au moment où il était le présent, supprime préci­ sément cette grande dimension du Temps suivant laquelle la vie se réalise (RTP III: S. 1031). Dieses Prinzip erkennt er im Raum der Kirche Sainte­Hilaire: […] tout cela faisait (de l’église) pour moi quelque chose d’entière­ ment différent du reste de la ville: un édifice occupant, si l’on peut dire, un espace à quatre dimensions  – la quatrième étant celle du Temps (RTP I: S. 61). 411 «Notre moi est fait, écrit Proust, de la superposition de nos états successifs. Ce qui est vrai de nous­même, l’est plus encore de l’ image, ou plutôt de la suite des images pré­ sentées par les êtres que nous connaissons» (Poulet 1982: S. 113). 186 Zur Spatialisierung des discours Die «vierte Dimension» der Zeit ergibt sich demnach nicht aus einer beweg­ ten Handlungs­ bzw. Bilderkette von sukzessiver Aktion und Reaktion, son­ dern bestimmt den Raum, der das Nacheinander der Erzählung immer wie­ der in ein geschichtetes Über- bzw. Nebeneinander führt: So wird es nach Deleuze dem Film möglich, die Zeit im «Reinzustand»412 zu zeigen. Mit die­ sem Reinzustand meint Deleuze ein Ausbrechen aus der ausschließlichen Zeit des être-là vivant des Filmbildes413 zugunsten einer Koexistenz von prä­ sentischer Wahrnehmung und imaginierter Vergangenheit und Zukunft. Er entleiht diesen zentralen Begriff des Zeitbildes der Recherche, ohne das Verhältnis zum literarischen Text näher zu kommentieren.414 Nach der Häu­ fung der Epiphanien in Le Temps retrouvé heißt es dort: Rien qu’un moment du passé? Beaucoup plus, peut-être; quelque chose qui, commun à la fois au passé et au présent, est beaucoup plus essentiel qu’eux deux. Tant de fois, au cours de ma vie, la réalité m’avait déçu parce que au moment où je la percevais, mon imagination qui était mon seul organe pour jouir de la beauté, ne pouvait s’appliquer à elle en vertu de la loi inévitable qui veut qu’on ne puisse imaginer que ce qui est absent. Et voici que soudain l’effet de cette dure loi, s’était trouvé neutralisé, suspendu, par un expédient merveilleux de la nature, qui avait fait miroiter une sensation – bruit de la fourchette et du mar­ teau, même inégalité de pavés – à la fois dans le passé ce qui permet­ tait à mon imagination de la goûter, et dans le présent où l’ébran­ lement effectif de mes sens par le bruit, le contact avait ajouté aux rêves de l’imagination ce dont ils sont habituellement dépourvus, l’idée d’existence – et grâce à ce subterfuge avait permis à mon être d’obtenir, d’isoler, d’immobiliser  – la durée d’un éclair  – ce qu’il n’appréhende jamais: un peu de temps à l’état pur (RTP III: S. 872). Dieses reinzeitliche Erlebnis ist in Bezug auf die Sukzession von Ereignis­ sen, auf die Billermann anspielt, ein außerzeitliches (situé hors du temps, RTP  III: S.  873), das der Erzähler im flüchtigen visuellen Eindruck eines trompe-l’œil fasst, das dem flächigen Bild eine zeitliche Tiefendimension 412 Deleuze 1991b: S. 347. 413 Den Begriff entwickelt Metz in Abgrenzung des Filmbildes zum barthschen «avoir­ été-là» der Photographie (cf. Metz 1968: S. 16; Barthes 1993: S. 1417–1429.) 414 Ffrench weist in seinem Aufsatz auf Parallelen in Proust et les signes und dem Image- temps hin, für die er das Desiderat weiterer Forschungsarbeit formuliert (Ffrench 2000: S. 161–171). Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 187 verleiht: «Mais ce trompe­l’œil qui mettait près de moi un moment du passé incompatible avec le présent, ce trompe-l’œil ne durait pas» (ibid.). Die Col­ lage von Wahrnehmung und Vorstellung der mémoire involontaire ist eine räumliche.415 Es ist dieses trompe-l’œil, das Welles als der «erste große Zeit­Film»416 in der Integration der Vergangenheit in die Bildtiefe inszenieren sollte. So nutzt der moderne Film die ihm eigene Räumlichkeit in einem proustschen Sinne als Ergänzung der Dauer um eine räumliche Dimension, um die Zeit in den Raum zu überführen. Dem Film stehen als technische Einheiten im Zusammenspiel von Dis­ kursivität und Räumlichkeit Einstellung, Szene und Sequenz zur Verfü­ gung. Deren Möglichkeiten zur zeit­räumlichen Darstellung lotet Ruiz in jeder Hinsicht aus. 5.1 Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit Konventionell wird zwischen Einstellung, Szene und Sequenz als quantita­ tiven Größen unterschieden: Szenen bestehen aus mehreren Einstellun­ gen, Sequenzen aus mehreren Szenen, Filme aus mehreren Sequenzen. Die hierbei implizierte Hierarchisierung (Film  – Sequenzen  – Szenen  – Ein­ stellungen) erweist sich für das Spiegelkabinett des ruizschen Films als kontraproduktiv. Daher wird hier der grundlegenden Einteilung Lohmei­ ers gefolgt, die nicht auf quantitative, sondern qualitative Unterschiede abzielt. Sie versteht die Einstellung als technische (durch den Filmschnitt), die Szene als zeitliche und die Sequenz als semantisch-logische Einheit.417 Dabei lässt sie die Tonspur unerwähnt, was die Unterscheidung unzuläs­ sig vereinfacht: Der Zuschauer ist tatsächlich ein «Sehhörer»418 der Ton prägt die Wahrnehmung des Films entscheidend, trägt als «Atmo»419 die 415 Hier etabliert die mémoire involontaire eine Räumlichkeit, die die Schrift aus der Metapher gewinnt: «Il semble que ce soit précisément le discours figuré qui comporte les structures linguistiques les plus nettement apparentées aux structures spatiales […]. En pertubant la relation codifiée entre un signifiant et son signifié habituel, en le rap­ portant à un autre signifié, la figure introduit du jeu dans le langage, crée un espace, ordinairement inaperçu, où le sens, au lieu d’être toujours­déjà trouvé, est en quête de lui-même […]», schreibt Collot (Collot 1987: S. 84). 416 Deleuze 1991b: S. 134. 417 Lohmeier 1996: S. 148. 418 Butzmann / M artin 2012: S. 60 ff. 419 Ibid.: S. 118 ff. 188 Zur Spatialisierung des discours Raumwahrnehmung und liefert auch im bewegungsbildlichen Kino in sei­ nen Rekurrenzen (meist in der Filmmusik) die Möglichkeit zur direkten Repräsentation der Zeit.420 Der Ton läuft prinzipiell unabhängig von den visuellen Einheiten der Einstellung / S zene / S equenz; er kann diese unterstützen, konterkarieren oder untereinander montieren, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. In den folgenden Abschnitten wird grundlegend Lohmeiers Kategori­ sierungen gefolgt, diese jedoch an gegebenen Stellen durch den Einsatz des Tons erweitert. So wird ersichtlich, wie Ruiz’ Film die zeitlichen Darstel­ lungsmöglichkeiten der klassischen Kategorien des Kinos überwindet und wie er nebenbei, indem er die Möglichkeiten des eigenen Mediums auslotet, die grundlegende Struktur des filmischen Zeit-Bildes für den literarischen Prätext der Recherche aufdeckt. 5.1.1 Die Einstellung – die Zeitlichkeit in champ und hors­champ Die technisch durch den Schnitt definierte Einstellung ist die kleinste Ein­ heit des filmischen Sprechens in Bewegung. Sie stellt somit das bewegte Bild dar (Roterberg spricht von einem «bewegten Gemälde»421), das Zeit nur in seine Räumlichkeit integrieren kann, da der Schnitt selbst und die Mon­ tage hier zunächst ausgeklammert bleiben. Die speziellen Möglichkeiten der Zeitdarstellung in der Einstellung umfassen traditionell die Zeit­Indi­ zien im Dekor und das hors-champ, das Zeit quasi im Off der Horizontale impliziert und schließlich, im modernen Kino, die Schärfentiefe, die eine direkte Zeitdarstellung in der Tiefe des Bildes erlaubt. Ruiz spielt mit der gesamten Bandbreite dieser Möglichkeiten und erweitert sie auf eigene Art in Bild und Ton. Die mise en scène der ruizschen Interieurs schwankt zwischen der typi­ schen Innenraumästhetik des 19.  Jahrhunderts und barocken Elementen. Auch das Mittelalter, das für den jungen Marcel im Namen «de Guer­ mantes» mitklingt, wird in die mise en scène integriert: Robert de Saint­ Loup stößt am Strand von Balbec den mittelalterlichen Kriegsschrei seiner Ahnen aus, während die Trauergesellschaft seiner Beerdigung ihn würde­ voll grüßt (Seq. 5.1). 420 Cf. Deleuze 1991b: S. 347. 421 Roterberg 2008: S. 22; S. 38. Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 189 Seq. 5.1 (http://heidicon.ub.uni­heidelberg.de/id/609784) «Combraysis!» – die Legende der Zeiten und der Zeit (1:31:22–1:31:40). Hier verweist das Bild auf die «Legende der Zeiten»,422 die im Zeitkunst­ werk der Recherche in den Anklängen an die alttestamentarische Welt, an Mittelalter und Renaissance, an die französische Klassik und die im Wer­ den begriffene Moderne ebenso enthalten ist wie die Legende der Zeit, die Zeit zum Gegenstand der Erzählung macht. Diesen Aspekt fasst die mise en scène etwa im rekurrenten Motiv der goldenen Uhr (0:08:21; 1:44:00; 2:00:43; 2:01:17; 2:25:54). Auch die Stundenuhr ist von eigenartiger Unabhängigkeit gegenüber dem sie umschließenden Raum-Zeit-Gefüge der Einstellung: In der ersten Einstellung der omnipräsenten Bewegung von Kamera und Mobiliar des Boulevard Haussmann steht sie, den Gesetzen der Schwerkraft trotzend, als einziges Dekorelement wie eingefroren still. Als dieses Zimmer circa zehn Minuten darauf wieder gezeigt wird, steht sie Kopf – die Zeit rieselt in die den Gesetzen der Schwerkraft entgegengesetzte Richtung, als wür­ den hier nur ihre Gesetze gelten (0:13:35) – ein frühes Indiz der besonderen Zeit-Raum-Hierarchisierung des ruizschen Films (Seq. 5.2). Neben den Elementen der mise en scène ist klassischerweise das zeitliche Element der Einstellung das hors-champ, als der Ort der virtuellen Zukunft dessen, was kurz darauf im Kader erscheinen wird. Aumont formuliert: Corollairement, le cadre est ce qui institue un hors­champ, autre réserve fictionnelle où le film va puiser, à l’occasion, tels effets 422 Cf. zu diesem Aspekt den Sammelband Oster / S tierle 2007. 190 Zur Spatialisierung des discours Seq. 5.2 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609785) Die Autonomie der Zeit (0:12:51–0:12:55). nécessaires à sa relance. Si le champ est la dimension et la mesure spatiales du cadrage, le hors­champ est sa mesure temporelle, et pas seulement de façon figurée: c’est dans le temps que se déploient les effets du hors champ.423 Die langen Einstellungen des Films bestimmen zunächst den Rhythmus der Erzählung, doch stößt Ruiz den Zuschauer auch in der genuin klassisch fil­ mischen Zeitdarstellung des sukzessive kadrierten hors-champ auf die dis­ tanzierte Wahrnehmung des Kinodispositivs. So wird in der Beerdigungsszene Saint­Loups mit der langsamen Kame­ rafahrt eine gespannte Erwartungshaltung aufgebaut, die den Zuschauer geradezu nach dem hors-champ dürsten lässt. Dieser bleibt jedoch über weite Strecken der Einstellung außerhalb des Rahmens der Leinwand – die Kamera demonstriert die Unabhängigkeit ihres Blickes gegenüber dem des Zuschauers (Seq. 5.3). Diese Einstellung behandelt das hors-champ der Form nach klassisch: Was erwartet wird, gleitet sukzessive ins Bildfeld. Auch die Stimme Mme Verdurins aus dem Off, die folgend ins Bild tritt, entspricht der klassi­ schen Ausgestaltung des hors-champ. Doch wird hier allein durch die fühl­ bare Dauer (erst nach 30 Sekunden, nach Gilbertes Ausruf «Regardez qui arrive!», tritt Morel ins Bild) die Macht der filmischen Kamera greifbar und die unüberwindbare Raumtrennung des betrachtenden Körpers und 423 Aumont 1989: S. 30. Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 191 Seq. 5.3 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609786) Gilberte: «Regardez qui arrive!» – die Autonomie der Kamera (1:32:06–1:32:40). der Leinwand spürbar. Hier bricht die traumhafte Illusion der Fusion von Kamera- und Zuschauerauge; der Zuschauer muss auf den Blick der Kamera warten, um selbst zu sehen: […] die Dinge, die eben noch «unschuldig» und für sich selbst da waren, scheinen nun plötzlich einem fremden Blick und einem frem­ den Zweck zu gehorchen, und sie scheinen, alle gemeinsam, auf einen «unsichtbaren Anderen» zu verweisen, der den Blick der Kamera beherrscht und damit vor allem auch das, was auf der Leinwand nicht zu sehen ist.424 Darüber hinaus zwingt der Film den Zuschauer hier zur Reflexion einer bildlichen Leerstelle: Wessen Auftritt könnte Gilberte als Frechheit emp­ finden? Warum tritt Charlus ab? In welcher Beziehung stehen die ernst blickenden Figuren Proust und Françoise zur erwarteten Figur? Wen kann Mme de Verdurin so herzlich empfangen? Selbst in Momenten klassisch bewegungsbildlicher Inszenierung bricht Ruiz die Illusion des Kinodispositivs, um das Sehen bzw. Nicht­Sehen in eben diesem Kinodispositv zum Gegenstand der Reflexion zu machen. In einer ähnlich langen Einstellung (Seq. 5.4: 0:37:41–0:38:51) gelingt Ruiz dieser Effekt in zeit­bildlicher Inszenierung, wenn er die Kamera in der Eisenbahn fahren lässt; neben dem Film eine weitere technische 424 Winkler 1992: S. 56. 192 Zur Spatialisierung des discours Seq. 5.4 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609787) Die Zugfahrt als Zeitreise (0:37:41–0:38:51). Errungenschaft des 19.  Jahrhunderts, die die Wahrnehmung nachhaltig beeinflussen sollte. Die Kopplung von Eisenbahn und Film als neuen Rei­ semöglichkeiten in Zeit und Raum ist mittlerweile ein Gemeinplatz, der bereits zu zahlreichen Untersuchungen geführt hat.425 Die Kamera, die nach und nach das hors-champ der Außenwelt von der Innenwelt des Zugs her abbildet, inszeniert die Zugfahrt als Zeitreise: Von den im Sommer spielenden Kindern (darunter Marcel), an denen die Eisen­ bahn vorbeizieht, über den verregneten Herbst, die Winterlandschaft mit Soldaten bis hin zum kleinen Marcel in militärisch anmutender Winter­ kleidung: Hier ermöglicht das sukzessive Einfangen des hors-champ eine Zeitdarstellung, die nicht zeitdeckend ist wie in der oben beschriebenen Einstellung, sondern innerhalb von 45 Sekunden Jahre fassen kann – und zwar ohne Schnitt. So ähnelt das Erlebnis der Filmbetrachtung dem des vom Erzähler beschriebenen Leseerlebnisses: […] voici qu’il déchaîne en nous pendant une heure tous les bonheurs et tous les malheurs possibles dont nous mettrions dans la vie des années à connaître quelques­uns, et dont les plus intenses ne nous seraient jamais révélés parce que la lenteur avec laquelle ils se pro­ duisent nous en ôte la perception (RTP I: S. 88). 425 Cf. Boillat et. Alt. 2005, sie verweisen als maßgebende Studien u. a. auf Kirby 1997; Belloï 2002; Mélon 2002: S. 47–68 und Aumont 1995: S. 43 ff. Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 193 Zudem ist das Ereignis des hors-champ hier kein Zukünftiges, das in die Gegenwart überführt wird, sondern bleibt im Bezug zur Jetzt-Zeit, die sich im Zug situiert, stets ein Vergangenes. Deleuze weist als Exempel der «direkten» Zeitdarstellung des «moder­ nen Kinos» auf Visconti und Welles hin; Visconti begleitet zu Beginn von Vaghe stelle dell’orsa die Heldin mit einer Kamerafahrt in ihr Geburtshaus, wo sie sich zunächst ein schwarzes Kopftuch kauft, um dann andächtig («als handele es sich um eine Zauberspeise») einen Fladen zu essen. Die Kamera begleite die Figur hier in einer Reise durch die Zeit. Welles dagegen lasse Kane bei statischer Kamera aus der Bildtiefe wie aus der Vergangen­ heit kommen, als er seinen Freund, den Journalisten, treffen will, um mit ihm zu brechen.426 In der hier besprochenen Einstellung geht Ruiz eigene Wege, indem die Kamerafahrt die Zeitreise nicht nur als virtuelles Moment spürbar werden lässt wie bei Visconti, sondern sie – gleich der umgekehrten Stundenuhr – im Bild aktualisiert: Die tiefenscharfen Bilder teilen den Kader mit dem Vor­ der­ und Hintergrund ebenfalls in zwei Zeiten. Im Gegensatz zu Welles, bei dem Kane sukzessive aus der Vergangenheit zu nahen scheint, geht hier ein Schnitt durch die Einstellung, eine Montage findet statt, die einen Bruch darstellt, statt eine Kontinuität zu etablieren. Ein Innen (im Zug) und ein Außen stehen sich gegenüber, eine Gegenwart und eine sich in Zeitsprün­ gen ersetzende Vergangenheit treten in Gleichzeitigkeit auf. Sowohl die Kamerafahrt als auch die Tiefenschärfe geben hier für einen Augenblick ein direktes Zeitbild wieder: […] ce trompe­l’œil qui mettait près de moi un moment du passé incompatible avec le présent […] (LTR: S. 873). Es ist nicht mehr die Bewegung, aus der die Zeit abgeleitet wird, sondern die Zeit, die das bewegte Bild bestimmt. Die Einstellung zeigt so eine dop­ pelte «Perspektive der Zeit».427 Durch den Bruch der Zeiten, der tatsächlich im Bild ersichtlich und nicht nur vom Bild ableitbar ist, kann diese Einstel­ lung noch eindeutiger als die von Deleuze herangezogenen als Exempel für die Einstellung als «Matrix oder Zelle der Zeit»428 dienen, ebenso für die Hinfälligkeit der «Alternative zwischen Montage und Einstellung»,429 denn hier vollzieht sich die für Visconti und Welles konstatierte zeitliche Mon­ 426 Cf. Deleuze 1991b: S. 56 f. 427 Deleuze 1991b: S. 37. 428 Ibid.: S. 54. 429 Ibid.: S. 62. 194 Zur Spatialisierung des discours tage tatsächlich in der Bildtiefe und in der Fläche. Hier ist Ruiz ganz der «montrage»430 verpflichtet – alles wird gezeigt. Nicht mehr, was abwesend ist, lädt hier zur Reflexion ein (wie in der Beerdigungseinstellung: Was wird als Nächstes gezeigt?), sondern das sichtbare Bild selbst: Was bedeutet das Gezeigte? Wie ist der schnelle Wechsel der Jahreszeiten zu erklären? Wieso steht der kleine Marcel so allein in Winterkleidung vor der Eisenbahn? Wie sind die Bilder örtlich und zeitlich einzuordnen?. Das Zeit­Bild fordert dem Zuschauer eine neue Tätigkeit ab: Sie SEHEN, und das Problem des Zuschauers wird nun heißen: «Was ist auf dem Bild zu sehen?» (und nicht mehr: «Was ist auf dem nächs­ ten Bild zu sehen?»).431 Im ersten wie im zweiten Beispiel der Einstellung gehen die Filmbilder einher mit einer Reihe semantischer Leerstellen, die diese Einheit zur Hie­ roglyphe werden lassen, die auch dann, wenn sie alles zeigt, noch Rätsel aufgibt. Nicht zufällig entwickelt Ruiz die Montage in der Einstellung aus dem Zugbild heraus; offensichtlich ist hier der intermediale Verweis auf die visu­ elle Beschreibung der Zugfahrt des literarischen Prätextes enthalten. Diese Beschreibung findet sich in À l’ombre des jeunes filles en fleurs: Elle s’aviva, le ciel devint d’un incarnat que je tâchais, en collant mes yeux à la vitre, de mieux voir car je le sentais en rapport avec l’exis­ tence profonde de la nature, mais la ligne du chemin de fer ayant changé de direction, le train tourna, la scène matinale fut remplacée dans le cadre de la fenêtre par un village nocturne aux toits bleus de clair de lune, avec un lavoir encrassé de la nacre opaline de la nuit, sous un ciel encore semé de toutes ses étoiles, et je me désolais d’avoir perdu ma bande de ciel rose quand je l’aperçus de nouveau, mais rouge cette fois, dans la fenêtre d’en face qu’elle abandonna à un deuxième coude de la voie ferrée; si bien que je passais mon temps à courir d’une fenêtre à l’autre pour rapprocher, pour rentoiler les frag­ ments intermittents et opposites de mon beau matin écarlate et ver­ satile et en avoir une vue totale et un tableau continu. (RTP I: S. 655) 430 Deleuze gebraucht diesen Begriff für die gewandelte Bedeutung der Montage, die sich nun nicht auf das Zeit­Bild bezieht und in ihm die zeitlichen Beziehungen freisetzt, von denen nunmehr die abweichende Bewegung (frz. mouvements aberrants) abhängt (ibid.: S. 61). 431 Ibid.: S. 348. Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 195 Hier befindet sich der Erzähler ebenfalls im Innern des Zuges vor dem «car­ reau de la fenêtre» (RTP I: S. 654), das ihm Bilder anbietet, die unterschiedli­ cher nicht sein könnten. Le jour et la nuit, le proche et le lointain, la gauche et la droite, bref, l’éternel côté de Guermantes et l’éternel côté de Méséglise apparais­ sent ici enfin comme concilié, unifiés.432 Wie Poulet betont, findet in dieser Passage die Überbrückung der räumli­ chen Diskontinuität in der «coincidence des contraires» (ibid.) statt. Den Bruch, der die beiden Seiten trennt, inszeniert Ruiz nicht als links­rechts sondern als Vorder- / H intergrund. Trotz der augenscheinlich unterschied­ lichen Zeiten können diese in einem einheitlichen Bild bzw. einer einzigen Einstellung gefasst werden. Monika Mayr, die in Ut pictura descriptio? diese Passage als für die metapoetische Bildreflexion essentiell herausstellt,433 führt sie über Adornos Feststellung einer «Hinfälligkeit des Festen», das sich in einer «Flucht von Bildern»434 äußere, auf die Ästhetik des Impressi­ onismus zurück. Die «Hinfälligkeit des Festen» und die «Flucht von Bildern» sind eben­ falls Charakteristika von Filmbildern. Im Erlebnis der Zugfahrt wird es möglich, das Prinzip des bildlichen Zusammenschlusses differenter Ele­ mente als bewegtes tableau zu fassen: «pour rentoiler les fragments inter­ mittents et opposites de mon beau matin écarlate et versatile et en avoir une vue totale et un tableau continu» (RTP I: S. 655). Die Zeit, die es zu beschreiben gilt, ist auch in der Bewegung keine der kontinuierlichen Veränderung, sondern wird in der Opposition (von hell /  dunkel, Tag / N acht im Zugfenster, Stillstand / B ewegung im Gemälde) zum Raum. Erscheint das metapoetische Manifest des Port de Carquethuit in ers­ ter Linie als Verwirrspiel von Aktuellem und Imaginärem, so aktualisiert die Zugpassage zwei divergente optische Eindrücke mit identischem Wirk­ lichkeitswert gleichzeitig im zeitlich heterogenen tableau. Poulet bringt es auf den Punkt: La discontinuité temporelle est elle­même procédée, voire même commandée par une discontinuité plus radicale encore, celle de l’es­ pace. […] Le temps proustien est du temps spatialisé.435 432 Poulet 1982: S. 101. 433 Mayr 2001: S. 220 f. 434 Adorno 1981: S. 206 f. 435 Poulet 1982: S. 5. 196 Zur Spatialisierung des discours Die Zugpassage überführt das abstrakte Prinzip der stofflichen «coin­ cidence des contraires»436 von Meer und Land, das sich im Port de Car- quethuit äußert, explizit auf den zeitlichen Aspekt der «discontinuité tem­ porelle» in bildlich­räumlicher Darstellung. Diese inszeniert Ruiz in der Einheit der Einstellung und entledigt sich dabei wie nebenbei den Zwän­ gen der Segmentierung durch den Schnitt, und damit der zeitlichen dé - marcation des Films. Das filmische Werden macht Jean­Louis Schefer in seiner eigenen Begriff­ lichkeit in Bewegungsabweichungen des kinematographischen Bildes fest, für die er den Effekt einer «Suspension der Welt oder eine Trübung des Sicht­ baren» feststellt.437 Schefer hatte die Suspension der Welt im Bild an Kurosa­ was Nebeleinsatz in Macbeth aufgezeigt; hier wird dem Denken das Sichtbare erschlossen, doch nicht als ein Gegenstand, sondern als eine Art Handlung, die in unaufhörlichem Entstehen und Sich­Entziehen begriffen ist.438 Die Länge der Einstellung wurde hier als technisch durch den Schnitt begrenzt eingeführt, doch segmentieren in der oben beschriebenen Einstel­ lung die Nebelschwaden des Zuges (0:38:09 und 0:38:21) in ganz ähnlichem Effekt das Sichtbare wie in Kurosawas Macbeth (Abb. 5.1). Abb. 5.1 Nebel als Schnittersatz (0:38:33). 436 Poulet 1982: S. 101. 437 Deleuze schließt sich ihm an, führt die Ursache jedoch nicht wie Schefer auf «das Verbrechen», sondern auf die «Macht des Falschen» zurück (Deleuze 1991b: S. 220). 438 Ibid.: S.  221. In diesem Zusammenhang sei hingewiesen auf Endres et. al. 2005, der den Schleier als Element der Sichttrübung in Bezug auf Medien und Metaphern untersucht. Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 197 In der ruizschen Einstellung geht es jedoch primär um ein Entstehen und Sich-Entziehen von Zeiten. Jahreszeiten und ganze Jahre werden für einen Moment der Sicht entzogen, um dann in voller Klarheit wieder als neue Zeit zu erscheinen. In den Momenten der getrübten Sicht vollzieht der Betrachter Zeitsprünge, die den Zuschauersessel zum «fauteuil magique» werden lassen, der verschiedene Zeiten in ihrer zeit­räumlichen Einheit durchfliegt. Die «Alternative zwischen Montage und Einstellung»439 wird hier tat­ sächlich hinfällig: Zeitliche Montage vollzieht sich schnittlos in der Einstel­ lung und fasst so die bildlichen Zeichen von «Kindheit», «Jugend», «Som­ mer», «Herbst» und «Winter» in eine «vue totale et un tableau continu». Die «première illusion du regard» dieser Einstellung unterschlägt so durch den Schnittersatz der Nebelschwaden und die kontinuierliche Zugfahrt, aus der die statische Kamera erzählt, jede zeitliche Unterscheidung im Außen­ raum des Zuges: Die Zeitreise wird erst in der wiederholten und distanzier­ ten Betrachtung augenfällig. So verfilmbildlicht Ruiz das vom Erzähler der Recherche als transmedial konzipierte Prinzip: […] que faire chanter doucement la pluie au milieu de la chambre et tomber en déluge dans la cour l’ébullition de notre tisane dût pas être en somme plus déconcertant que ce qu’ont fait si souvent les peintres quand ils peignent, très près ou très loin de nous, selon que les lois de la perspective, l’intensité des couleurs et la première illusion du regard nous les font apparaître, une voile ou un pic que le raisonnement déplacera ensuite de distances quelquefois énor­ mes (ibid.). So gelingt es Ruiz, die Prinzipien der première illusion du regard, wie sie Le port de Carquethuit programmatisch ausführt, mit der metapoetischen Wahrnehmungsbeschreibung der Wirklichkeit (der Landschaft hinter den Zugfenstern) zu verbinden und in ihrem gemeinsamen Kern als heterogenes und doch einheitliches filmisches Bild auszustellen, als Einstellung, in dem die «coincidence des contraires» als zeitliche aktualisiert wird. 439 Deleuze 1991b: S. 62. 198 Zur Spatialisierung des discours 5.1.2 Die Szene – das Aushebeln «zeitdeckender Erzählung» im Spiegel der Zeit Erweitert man den Blick von der Einstellung zur Szene, deren «conditio sine qua non» Lohmeier als das «zeitdeckende Erzählen» angibt,440 so tritt die Bedeutung des Schnitts auf den Plan, der hier klassischerweise den Ein­ druck der zeitlich einheitlichen Sukzession nicht gefährdet, wie es etwa in Dialogszenen der Fall ist, in denen zwischen den Gesprächspartnern hin­ und hergeschnitten wird. Der erste Schnitt folgt auf die besprochene Einstellung mit der Kadrie­ rung des kindlichen Marcel in Winterkleidung (0:38:26). Die Kamera situiert sich nach dem Schnitt so im Zug, dass sie das Fensterbild samt Rahmen fasst, das ein Diesseits des erwachsenen Proust im Zug und ein Jenseits des kindlichen Betrachteten als zwei durch die Fensterscheibe getrennte Ein­ heiten in ein Bild integriert. Proust betrachtet sein kindliches Ich, um dann seinen Blick abzuwenden und die Augen zu schließen. Wieder folgt ein Schnitt (0:38:28). Die Kamera fängt Fotos ein, die unter anderem Proust in verschiedenen Altersstufen darstellen – in deren Mitte, beleuchtet, das eben gezeigte Winterbild des kleinen Marcel (Seq. 5.5). Seq. 5.5 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609788) Schnitt der trennenden Fensterscheibe (0:37:38–0:38:47). Hier entfaltet die Szene nun ihrerseits, was im Kino möglich ist. Dabei wird in dem Schnitt, der durch verschiedene Positionierungen der Kamera von der Ansicht «vor dem Fenster» in den Raum «hinter dem Fenster» führt, 440 Lohmeier 1996: S. 150. So auch Schwab 2006: S. 161. Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 199 die Fenstermetapher des filmischen Mediums in Kopplung an das filmische Zugbild vollzogen: Wie Hickethier formuliert, ist «das, was im Bild gezeigt wird, eine in sich abgeschlossene Welt, die durch die Bildgrenzen ihr Ende findet, durch sie definiert wird, in der sich alles aufeinander bezieht. Zum anderen ist das Filmbild wie ein Fenster, durch das hindurch wir auf eine andere Welt sehen, die vor allem dann, wenn wir uns mit der Kamera zu bewegen beginnen, ein umfassenderes Ensemble sichtbar macht. Wir fin­ den diese Auffassung in der Metapher von Film und Fernsehen als einem ‹Fenster zur Welt› popularisiert wieder.»441 Paech hatte verdeutlicht, inwiefern die Wahrnehmung der distanten, vorüberziehenden Landschaft hinter der Glasscheibe des Zugfensters als Äquivalent zum Kinodispositiv gelten kann.442 Ruiz rückt dieses Fenster nach dem Schnitt in den Bildkader und verdoppelt dabei den erwachsenen Proust als Betrachtenden und Betrachteten. Der erwachsene Proust betrachtet seine Vergangenheit filmgleich, istwäre die Aussage paraphrasierbar. Da es sich um ein und dieselbe Person handelt, die Subjekt und Objekt der Betrach­ tung ausmacht, liegt der Schluss nahe, dass mit diesem Fenster gleichzeitig ein Spiegel am Werk ist, eine Art magischer Spiegel, der ein Bild aus der Vergangenheit zurückwirft. In diesen beschreibenden Opto­ und Sonozei- chen kann das filmische Bild des modernen Kinos gefasst werden, so wie es Deleuze unternimmt, wenn er es an das Moment der Koaleszenz zwischen dem aktuellen und dem virtuellen Bild bindet. Deleuze illustriert dies in einem zweiseitigen Bild, das ebenso als Opto­ und Sonozeichen aktuell ist, wie es mit seinem eigenen virtuellen Bild «auf dem kleinen inneren Kreis­ lauf»443 kristallisiert. Die Ununterscheidbarkeit wird generiert von Bildern, die von Natur aus doppelt sind. Als Beispiel führt er den Spiegel an, in dem der Kreislauf als Austauschsystem auftritt: Das Spiegelbild ist in Bezug auf die aktuelle Person, die es einfängt, virtuell, aber zugleich ist es aktuell im Spiegel, der von der Person nicht mehr als eine einfache Virtualität zurücklässt und sie aus dem Bild – hors champ – verdrängt.444 441 Hickethier 2001: S. 49 f. Cf. auch Paech: «Die Projektion des Bewegungsbildes lässt die Kinoleinwand transparent werden zu einem vermeintlichen Fensterblick auf eine unwirkliche, imaginäre Wirklichkeit» (Paech 2009: S. 143). 442 Paech 1989: S. 71. 443 Deleuze 1996: S. 96. Mit diesem Kreislauf meint Deleuze die Ununterscheidbarkeit zwischen Virtuellem und Aktuellem, die Wahrnehmung und Erinnerung, Reales und Imaginäres, Physisches und Mentales bzw. deren Bilder in gegenseitigen Verweisen umkreisen (cf. ibid.). 444 Ibid.: S. 97, Hervorhebung d. Verf. 200 Zur Spatialisierung des discours In der beschriebenen Szene wirkt die Konstellation von Proust und sei­ nem kindlichen Ich durch die Mittlung des Fensters / S piegels wie eine Exemplifizierung dieser These: Auf den zwei Seiten des Spiegelbildes ste­ hen der aktuelle sowie der virtuelle Proust, doch enthebt die filmische Rahmenkonstruktion den Fixpunkt, die Zuweisung, wer hier virtuell und wer aktuell ist. Wie im Zeit­Bild Deleuzes gilt hier die Ununterscheid­ barkeit im kristallinen Bild; die beiden Identitäten sind nunmehr gleich­ zeitig vorhanden, eine nicht minder real als die andere. «La méthode de la juxtaposition»445 konfiguriert hier die sukzessive erlebten Zeitschich­ ten, die Deleuze als geologische «Fazies»446 bezeichnet, im Raum der Gleichzeitigkeit. Wenn Ruiz’ Proust in dieser «je est un autre»­Inszenierung durch das Glas auf sein kindliches Selbst blicken lässt, vollzieht er dabei kinematogra­ phisch die von Jauß für die Recherche festgestellte «Welt des Einzelnen im Spiegel der Zeit»,447 in der das erinnernde und erinnerte Ich nie zusammen­ fallen. Dabei ist das betrachtete Ich – hier ganz der Recherche verpflichtet – ein «moi de rechange»,448 das durch seine «états successifs» (RTP III: S. 544) in verschiedene «moi successifs» (RTP III: S. 696) bzw. in «innombrables et humbles ‹moi›» (RTP III: S. 430) zerfällt, die sich nicht etwa in zeitlicher Kon­ tinutiät ineinander verwandeln, sondern sich nach Schnitten gegenseitg ersetzen, die der Erzähler als «morts successives» (RTP III: S. 1038) bezeich­ net. Ruiz schreibt in seiner ersten Poetik: El juego de espejos – uno de cuyos ejemplos más sencillos sigue siendo el teatro de espejos concebido por Athanasius Kircher – nos permite examinar una imagen o un grupo de personas que parecen posar unos junto a otros, aunque sintamos que algo indiscernible los separa.449 Zwischen dem Gespiegelten und dem vor dem Spiegel Stehenden besteht eine unüberwindbare sowohl räumliche als auch zeitliche Differenz, die das Ich zum Anderen werden lässt. Hier gelingt es Ruiz erneut, ein Leitmotiv seiner eigenen Filmpoetik als proustsches Konzept darzulegen, das Deleuze mit Bergson als Charakteristikum des modernen Kinos beschreibt: 445 Poulet 1982: S. 111 ff. 446 Deleuze 1996: S. 316. 447 Jauß 2009: S. 282. 448 «[…] moi de rechange que la destinée tient en réserve pour nous et que, sans plus écouter nos prières qu’un médecin clairvoyant et d’autant plus autoritaire, elle substitue malgré nous, par une intervention opportune, au moi vraiment trop blessé» (RTP III: S. 595). 449 Ruiz 2000: S. 79. Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 201 Unsere aktuelle Existenz, je nachdem, wie sie sich in der Zeit entwic­ kelt, verdoppelt also ihre virtuelle Existenz durch ein Spiegelbild. Jeder Augenblick unseres Lebens bietet demnach diese beiden Aspekte: er ist aktuell und virtuell, einerseits Wahrnehmung und andererseits Erin­ nerung […]. Derjenige, der von der unaufhörlichen Verdopplung seiner Gegenwart in Wahrnehmung und Erinnerung Kenntnis nimmt, wird sich mit einem Schauspieler vergleichen, der automatisch seine Rolle spielt und der dieses sein Spiel zugleich hört und sieht.450 Der Film verbildlicht die zeitliche Leerstelle, die Billermann für die gesamte Recherche «zwischen je und me»451 ansiedelt, indem er nach dem technischen Schnitt virtuelle und aktuelle Zeiten im Außen und Innen des Zuges sichtbar durch die Fensterscheibe trennt und nach dem folgenden Schnitt a posteriori an ein photographisches Standbild bindet – das als Photogramm der kleins­ ten Einheit filmischen Erzählens entspricht. Dieses siedelt Ruiz wieder im Raum des moribunden Diktierenden an, der zu Beginn durch das geschrie­ bene Wort eingeführt wurde, im Raum des Erzählers. Indem das Kind und der Erwachsene bildlich substituierbar werden, wird die Einheit «zeitde­ ckender Erzählung» durch die eines vielfach gespiegelten Zeitraums ersetzt. Was zunächst als traumhafte Sicht auf die eigene Vergangenheit konzipiert wurde (der Blick aus dem Zug), wird in einem zeitlich nicht zuweisbaren Rück­ oder Vorgriff an den Blick auf eine Photographie der Vergangenheit gebunden. Die Szene entledigt sich mit diesem Schnitt ihrer zeitlichen Kohä­ renz, die sie durch die Kohärenz des Bildes ersetzt. Ist die Zugpassage eine Visualisierung des mentalen Erinnerungsfilms, den das Betrachten der Pho­ tographie ausgelöst hatte? Ist das photographische Bild die nachträgliche bildliche Konzentration des Erinnerungsfilms, die der erwachsene Proust in dem Moment als mentales Bild vollzieht, in dem er seine Augen schließt? Die kadrierte Kindheitsphotographie im Schnee ist zudem keine Dopp­ lung eines kadrierten Bildes; die Photographie Marcels, die anfangs mit der Lupe betrachtet wurde, ist eine andere. Auch in der späteren mise en scène der auf dem Boden verteilten Photographien ist sie nicht auszumachen (Abb. 5.2–5.4). 450 Deleuze 1991b: S. 136–139. 451 «Der ganze Roman Prousts ist bestrebt, die Leerstelle des Vergessens und damit des Verlusts von Identität zwischen dem ‹je› und dem ‹me›, der ‹insignifiante réalité› und der ‹réalité profonde›, dem ‹longtemps› und dem ‹dans le Temps› auszuschreiten und immer neu experimentierend auszufüllen. In der Reflexivform spaltet sich das Subjekt, umkreist sich und lenkt den Blick auf sich selbst zurück. Dabei fällt dieser Blick auf ein fremdes und zugleich doch vertrautes Ich und rückt es in ironische Nähe und auratische Ferne» (Billermann 2000: S. 459 f.). 202 Zur Spatialisierung des discours Abb. 5.2 Die Photographie hinter dem Lupenglas (0:06:14). Abb. 5.3 Die zentrale Photographie im Bilderhaufen (0:38:47). Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 203 Abb. 5.4 Auf dem Boden zerstreute Photographien (0:39:02). Ruiz unterbindet eine zeitliche Zuweisung. Charakteristischerweise nimmt sein Proust kein Fotoalbum in die Hand, sondern Einzelbilder eines Hau­ fens, der unterschiedliche Gestalt annimmt. Was bleibt, wenn der filmbild­ lichen Reihung die zeitliche Reihung genommen wird, ist die Aussage des Bildes: Diese konstatiert die Trennung zwischen einem multiplen «je» und «me» in der Diskrepanz von Betrachtendem und Betrachtetem, die sich sowohl in der Zugscheibe manifestiert als auch im Bildcharakter der Photo­ graphie, die den körperlichen Ausschluss des Betrachtenden immer voraus­ setzt. Darin entspricht sie sowohl der situation filmique als auch dem litera­ rischen Prätext, der in seiner Distanz von erzählendem und erlebendem Ich alles zum Bilde macht (Blanchot452) und dabei die Einheit des erlebenden Ich zeitlich auffächert, die in ihrer «je est un autre»-Konstruktion als multipler Anderer in der Zeit betrachtet wird. Darüber hinaus manifestiert sich in der Kopplung bzw. Spiegelung der imaginierten und aktuellen Bilder die Kris­ tallbildstruktur des modernen Kinos.453 Diese setzt den Raum der Erzäh­ lung und den der Zugfahrt sowie den Außen­ und Innenraum des Zuges in 452 «Es ist in der Tat so, dass in dieser Zeitdimension alles zum Bilde wird […]» (Blan­ chot 1988: S. 26). 453 Deleuze konzipiert das filmische Kristallbild als «direkte Darstellung» der Zeit, die sich nicht mehr aus ihrem «empirischen Verlauf der Zeit als Sukzession der Gegenwar­ ten» oder ihrer «indirekte(n) Repräsentation als Intervall oder Ganzes» ableitet, son­ dern sich direkt darstellt als «strikte Gleichzeitigkeit der Gegenwart mit der Vergan­ genheit, die sie sein wird, der Vergangenheit mit der Gegenwart, die sie gewesen ist» (Deleuze 1991b: S. 350). 204 Zur Spatialisierung des discours ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis, das die Recherche als raumzeitli­ che Verschränkung in Bezug auf den Traum reflektiert: J’ai dit deux temps; peut-être n’y en a-t-il qu’un seul, non que celui de l’homme éveillé soit valable pour le dormeur, mais peut­être parce que l’autre vie, celle où on dort, n’est pas – dans sa partie profonde – soumise à la catégorie du temps (RTP II: S. 983). In dieser traumähnlichen Zugfahrt durch die Jahreszeiten gelingt Ruiz eine kinematographische Inszenierung der multiplen Diskrepanz zwi­ schen Erzählendem und Erzähltem und gleichzeitig in der Struktur der traditionell «zeitdeckenden» Erzählweise die Inszenierung einer dualen Zeit in einem traumzeitlichen bloc (RTP  II: S.  983), der sich sowie einer Zuweisung von Vorher und Nachher als auch der Unterscheidung von virtu- ellem und aktuellem Bild des Erinnerungsraumes und des erinnerten Rau­ mes entzieht. Der erste Schnitt der Szene integriert mit der Fensterscheibe den visu­ ellen Bruch in Raum und Zeit, der den Innen­ vom Außenraum des Zuges trennt. Der folgende übernimmt die im übertragenen Sinne filmbildliche Inszenierung, in der ein Zuschauer eine Szene hinter dem Glas betrachtet als filminhärente, indem er vom Innenraum des Zuges in den Innenraum der Erzählung schaltet. Auch hier werden differente Zeiten und Räume über das Bild verbunden. Der Schnitt verweist somit auf einen Bruch im raumzeitlichen Kontinuum, dessen Leerstelle nicht gefüllt werden kann. Diese offensichtliche Leerstelle der filmischen Erzählung wird – neben der hier besprochenen Zugszene – deutlich in Szenen, die traditionell auf dem Schnitt Schuss­Gegenschuss fußen, also in dialogischen Szenen. Bei Ruiz kommt es vor, dass der Gesprächspartner nach dem Gegenschuss ver­ schwindet, er wurde «herausgeschnitten»454 Die Schnitte in der Szene sug­ gerieren eine zeitliche Kontinuität, doch fehlt etwas. Diese Leere entspricht nicht dem Schnitt der «Zeitraffung»,455 der ausspart, was unbedeutend ist, sondern verleiht dem Schnitt eine eigene Bedeutung. Ruiz formuliert in sei­ ner ersten Kinopoetik: Todo film, en efecto, es por naturaleza incompleto, puesto que está hecho de segmentos interrumpidos por la interjección « !Corten! » proferida por el realizador […] siempre harán falta algunos fragmentos 454 So in 2:24:13 ff. 455 Cf. Lohmeier 1996: S. 150. Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 205 vacíos o inertes que sobrevuelen el film en búsqueda de un aero­ puerto que no hallarán nunca: tal es « el fragmento ausente ».456 «El fragmento ausente» bewirkt eine Ansammlung virtueller Bilder, die als Katalysator der «mentalen Montage»457 fungieren, da der Zuschauer, wie der Zugfahrer der Recherche, stets bestrebt ist, das Gesehene zu einer plausib­ len Einheit zusammenzuführen.458 Darüber hinaus ist das zeitliche Vakuum ein Konstituendum der Zeitstruktur des Romans, wie Shattuck festgestellt hat. Als zentral stellt er dabei zeitliche Leerstellen heraus, insbesondere die Unterbrechungen durch Prousts drei Aufenthalte in zwei maisons de santé und durch den Kriegseinbruch 1914 (RTP III: S. 723, 751, 755, 854). La nouvelle maison de santé dans laquelle je me retirai alors ne me guérit pas plus que la première; et beaucoup d’années passèrent avant que je la quittasse. Durant le trajet en chemin de fer que je fis pour rentrer à Paris, la pensée de mon absence de dons litté­ raires, […] que […] j’avais à peu près identifiée, en lisant quelques pages du journal des Goncourts, à la vanité, au mensonge de la littérature, cette pensée, […] qui ne m’était pas depuis bien long­ temps revenue à l’esprit me frappa de nouveau et avec une force plus lamentable que jamais.459 (RTP III: S. 854; wörtlich übernom­ men in 1:35:28 ff.). Shattuck sieht in diesem Zwischenraum, in der Ellipse der «beaucoup d’années», ein Äquivalent zu dem «spatial gap between our eyes»,460 das durch die Einzelbilder der beiden Augen entsteht und in einem Tiefenbild vom Gehirn aufgelöst wird. Für ihn ist dieses Moment der Nicht­Darstel­ lung essentiell, da es den «oubli»461 begründet, ohne den die Ereignisse 456 Ruiz 2000: S. 134. 457 Der Begriff stammt von Balázs 2004: S. 46. 458 Auch in zwischen den Photographie­Inszenierungen fehlen spürbar Stücke. Lag möglicherweise das Bild von Marcel im Schnee oben auf dem mit den Lupen betrachte­ ten Bildern und wurde es herausgeschnitten? Hatte Proust die Bilder nach der Betrach­ tung in die Luft geworfen, oder wie gelangen sie auf den Boden? Im Verweis auf ein missing link zwischen den Zeiten bzw. auf das fragmento ausente laufen die Fäden der Erzählung im Außerhalb der Diegese zusammen. 459 Ruiz übernimmt diese Textstelle nahezu wörtlich ab 1:35:28 ff. 460 Shattuck 2000: S. 120. 461 W. Benjamin und S. Beckett verweisen in ihren Proust­Lektüren ebenfalls auf die Bedeutung des Vergessens in der Recherche, die Bedingung für das schöpferische Erin­ nern ist (cf. Benjamin 1972–1989: S. 310–324; Beckett 2001, cf. auch Kasper 2003. 206 Zur Spatialisierung des discours kinematographisch­chronologisch wären. Die Juxtaposition der Zeiten, die über den oubli getrennt und in der mémoire involontaire vereint werden, las­ sen es zu, Zeit als Dimension zu sehen: It allows us not to see across time, but to see time itself.462 Die Zeitstruktur des récit wird von Leerstellen und Sprüngen durchzogen. Was Shattuck hier für die Makrostruktur nachgewiesen hat, analysiert Genette in dem Standardwerk «Erzählung» auch mikrostrukturell an einer Passage aus Sodome et Gomorrhe (RTP II: S. 712). Dort macht er die «tempo­ rale Ubiquität oder Allgegenwart» aus, «die für die Proustsche Erzählung so typisch ist» und die das Fehlen eines narrativen Fixpunktes, das Fehlen einzelner Zeitabschnitte sowie ein teilweise schwindelerregendes Springen der histoire beinhaltet.463 Die Parallele zur filmbildlichen Darstellung wird offensichtlich: In der von Schnitten geprägten Erzählung kann die Kamera frei zwischen verschiedenen Zeiten und Orten hin und herschalten. Poulet formuliert dies ohne die filmische Analogie formuliert: Aussi peut­on dire de l’œuvre entière de Proust ce que, dans les Plai- sirs et les jours, il disait lui­même de cette époque de sa vie, que c’était « une suite, coupée de lacunes ».464 Das Phänomen des Schnitts, so wie es Ruiz inszeniert, ist das filmische Äquivalent des spacial gap, das dank der medialen Eigenschaften sowohl dazu imstande ist, die Leerstellen als Konstituendum der diachronen Nar­ ratio zu zeigen, als auch ein zeitliches und räumliches gap in die Syn­ chronie des Filmbildes zu integrieren, wie es sich in der Fensterscheibe materialisiert, die in ihrer Materialität zwei Zeiten und Orte voneinan­ der trennt. Der Schnitt wird zum Mittel eines zeitlichen Gegenmodells des défilé cinématographique. «Das Intervall befreit sich, der Zwischen­ raum wird irreduzibel, bekommt einen eigenen Wert»,465 um mit Deleuze zu sprechen. So nähert sich der Schnitt dem Konzept der Recherche an, nach dem zeitlich durch den oubli getrennte Momente in verschiedenarti­ ger Verknüpfung zusammenfallen und die Leerstelle zum Faszinosum der Imagination wird: 462 Shattuck 2000: S. 118. 463 Genette 2010: S. 22. 464 Poulet 1982: S. 54. 465 Deleuze 1991b: S. 354. Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 207 […] mon imagination qui était mon seul organe pour jouir de la beauté, ne pouvait s’appliquer à elle [la réalité] en vertu de la loi inévitable qui veut qu’on ne puisse imaginer que ce qui est absent (RTP III: S. 872). Die «zeitdeckende Erzählung» der Szene wird hierbei aufgeworfen in eine spiegelkabinettähnliche Erzählstruktur, die von An­ und Abwesendem gekennzeichnet ist. Dabei trennt der Schnitt wie der Schlaf den erinnerten Körper, um ihn in unterschiedlichen Zeiten und Räumen anzusiedeln. Im Kontext der Traumuntersuchung wurde der Schnitt als Zwischenraum auf die beiden appartements von Schlaf und Wachzustand bezogen, die sich im Schwellenzustand des rêve éveillé durchkreuzen. Das spacial gap, das nach Shattuck den oubli kennzeichnet,466 wird in den Erlebnissen der mémoire involontaire wieder heraufbeschworen. Es ist eine Art dritter Raum der Zeit im Reinzustand (RTP III: S. 872), der gleichzei­ tig außerzeitlich ist, da er nicht auf einer diachronen Zeitachse markierbar wäre, wie auch in der Zeit, da er die Zeit in den Raum wirft. Genette spricht von einer «scheinbar unhaltbare[n] Ambiguität», mit der «der Proustsche Held zugleich nach dem ‹Außerzeitlichen› und der ‹Zeit im Reinzustand› sucht; wie sehr er und mit ihm sein künftiges Werk sowohl ‹außerhalb der Zeit› als auch ‹in der Zeit› sein will».467 Das Medium Film kann über das Phänomen der Schnitte und die raum­zeitliche Verschachtelung von Orten und Zeiten dieses Paradox im Zeit­Bild inszenieren. Ruiz entwickelt als Pointe der im Zug doppel­zeitlichen Inszenierung das Filmbild als photographiertes Bild, das außerhalb der zeitlichen Kette des Films anzusiedeln ist, doch räumlich immer wieder auf den Raum des Sterbenden verweist, der als Keimzelle der erinnernden Suche ebenso her­ hält wie als Keimzelle der filmbildlichen Erzählung von Zeit und Raum, als sei es ein bildlich konzentriertes quod erat demonstrandum für das erzäh­ lerische Potential des Films. 466 Shattuck 2000: S. 120. 467 Genette 2010: S. 113. 208 Zur Spatialisierung des discours 5.1.3 Die Sequenz – die Rahmenhandlung im Zeitraum Die Sequenz wird von Lohmeier als «handlungslogisch definiertes Segment» bestimmt, dessen Anfang und Ende durch handlungslogische Kategorien verbunden sind.468 Die Anordnung der Sequenzen gehorcht im klassischen Fall den Gesetzen der Chronologie in Form von Nachzeitigkeit.469 Als Schema der Ursache­Wirkungs­Verkettung ist dies die Regel des Bewegungsbildes. Um in einer Sequenz Gleichzeitigkeit zu vermitteln, wird die alternierende Montage (Lohmeier 1996: S. 174) bzw. Parallelmontage (Hickethier 2001: S. 140) eingesetzt, die Aumont eher als räumliches, weniger als zeitliches Problem begreift: Da der Film keine weit auseinanderliegenden Orte in Gleichzeitig­ keit fassen kann, muss er sie nachträglich darstellen: «l’une des plus gran­ des violences jamais faites à la perception naturelle.»470 Die dritte Katego­ rie der Montage eines handlungslogisch definierten Segmentes liegt in der Verschachtelung bzw. «Einschachtelung»471 von zurückgreifenden oder vorweggreifenden Szenen, die einer Rahmenhandlung der Sequenz erzähl­ logisch untergeordnet sind. Die Ausgestaltung der Sequenz ist bei einer Proustverfilmung ein beson­ ders interessanter Aspekt. Wie Genette in seiner formalisierten Struktur auf der Mikroebene solch handlungslogisch definierter Segmente nachge­ wiesen hat, findet dort ein schwindelerregendes Springen innerhalb ein­ zelner Abschnitte statt,472 die nicht alle als Pro­ oder Analepsen auf einen Ausgangspunkt zurückzuführen sind, sondern oftmals «auf derselben sub­ ordinierten Ebene» «nur untereinander koordiniert»473 sind. Diese Forma­ tion entspricht der ruizschen «vision simultanéïste […] suivant en cela notre pratique du réel qui ne colle pas avec la conception linéaire».474 So unterläuft Ruiz in der alternierenden Montage die konventionelle «violence […] faites à la perception naturelle», indem er die in verschiedenen 468 Lohmeier 1996: S. 148. 469 «Die Normalform der Anordnung von Sequenzen und Subsequenzen auf der nar­ rativen Zeitachse ist das an der zeitlichen Abfolge der Sequenzen orientierte chronolo­ gische Nacheinander, das ja stets auch handlungslogisch begründet ist insofern, als der kausallogische Zusammenhang von Handlungen als Ursache­Wirkungs­Zusammen­ hang ein zeitliches Nacheinander von selbst erfordert» (Lohmeier 1996: S. 173). 470 Aumont 1989: S. 97. Cf. dazu auch Gaudreault / J ost 1990: S. 87. 471 Lohmeier 1996: S. 174. 472 So unterscheidet er an einer Passage der Soirée des Prinzen von Guermantes fünfzehn narrative Segmente, denen er neun Zeitpositionen zuweist, die komplex miteinander verschachtelt sind (Genette 2010: S. 27). 473 Genette 2010: S. 23. 474 Lageira 1999: S. 11. Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 209 Räume wahrgenommenen Ton­ und Bild­Elemente ineinander verschränkt. Hier soll als Beispiel die Bibliothek der Guermantes dienen als der Raum der gehäuften Erinnerungsepiphanien (Seq. 5.6): Seq. 5.6 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609789) Raumüberlagerung in der Bibliothek der Guermantes (1:44:48–1:46:48). Zunächst wirkt die Parallelmontage zwischen dem Raum der Bibliothek und den Erinnerungsräumen der Zugfahrt und Balbecs durch die Erinne­ rung des Protagonisten klassisch motiviert. Doch ist die Gleichzeitigkeit der Erinnerung keine auf der Zeitachse (der aktuelle Moment erinnert den vergangenen), sondern vielmehr eine räumliche Gleichzeitigkeit: Der vergangene Moment wird im aktuellen erinnert. Ruiz verschränkt die Raum­Zeiten über die klassische Parallelmontage hinaus: Die Geräusche (das Klopfen auf die Zugräder; Meeresrauschen und Möven Balbecs) ertö­ nen sowohl vor als auch nach dem Bildwechsel im Raum der Bibliothek. Die überdimensionale Statue der Venus Kallipygos am Strand von Balbec, die unter den Augen des jugendlichen Proust (Pierre Mignard) fortgetra­ gen wird, während dieser sich mit der Serviette über das Gesicht fährt, befindet sich nach dem Erinnerungseinbruch auf dem Servierwagen, während auf der Tonspur die Geräusche nachklingen. Visuelle und audi­ tive Spuren der Erinnerung werden im aktuellen Raum inszeniert. Kra­ vanja führt dies auf die gleichzeitige Berührung zeitlich unterschiedlicher Dimensionen zurück: La coexistence des dimensions temporelles, selon laquelle les êtres humains «  touchent simultanément à des époques entre lesquelles 210 Zur Spatialisierung des discours tant de jours sont venus se placer », est ainsi rendue sensible, comme sur un palimpseste où des signes se superposent sans vraiment s’annuler.475 Die Sequenz folgt hier einer eigenen Logik  – die Ursache-Wirkungs-Ver­ kettung von Erinnerungsauslöser und Erinnerung hat keine in der Diegese dargestellte Auswirkung auf die Handlung, sondern auf den Raum, der «psy­ chologie dans l’espace». Nach der Erinnerung wird er nicht mehr gleich wahr­ genommen bzw. nicht mehr gleich ausgestattet.476 Die Superposition der Zeit­ räume in der erinnernden Wahrnehmung, die in der Recherche angelegt ist («en introduisant le passé dans le présent […]», RTP III: S. 11031), präfiguriert das «Kino des Gehirns», in dem zwischen Raum und Zeit kein hierarchisches Verhältnis mehr existiert: Die Wahrnehmung der Rahmenhandlung hat sich durch die eingeschachtelte Erinnerung verändert. Die Erinnerung fällt in den Ausgangsraum, Raum der Erinnerung und erinnerter Raum bedingen sich gegenseitig. So spielt der Raum die Zeitachse des Diskurses aus. – Bref, c’est précisément ce qui se passe dans un film lorsqu’on se désintéresse du déroulement proposé par la narration et que nous nous laissons emporter par les connexions involontaires proliférant entre les images.477 Die ruizschen «images» erlauben in der Einstellung den Fokus auf das Absente wie ein sukzessives Gleiten und Sich­Entziehen gleichzeitig prä­ senter aktueller und virtueller Zeiten, das den Schnitt in Sichttrübungen ausspielt. In der Szene ermöglichen diese «images» eine raumzeitlich nicht zuweisbare kristalline Verkettung von Einstellungen, in der die filmische Rezeptionssituation mit der Erzählsituation der Recherche in ihren multip­ len Selbstbetrachtungen fassbar wird und in der der Schnitt als raumzeitli­ che Distanz zwischen «je» und «me» zu Tage tritt, die jegliche zeitdeckende Erzählung durch eine Spiegelkonstruktion verschiedener Zeiten ersetzt, und in der der Schnitt als trennender Sprung in Raum und Zeit einen Eigen­ wert erhält. In der Sequenz präsentiert die Erzählung der Filmbilder eine 475 Kravanja 2003: S. 101. 476 Als etwa Proust in Gilbertes Salon die Zeichnung aus Das Mädchen mit den Goldau- gen ansieht, auf der ein junger Mann zwei Frauen betrachtet, von denen eine männlich, eine weiblich gekleidet ist ( 0:17:29–33), erinnert er sich an eine ähnliche Szene im Bois de Boulogne, die visualisiert wird (0:17:34–42). Im Anschluss an diese Szene kehrt die Kamera wieder in den ursprünglichen Raum zurück, wo sie die Ausgangsszene erneut einfängt – jedoch in eigenartig veränderter Belichtung (0:17:43 ff). 477 Ruiz 2006: S. 17. Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 211 Raum­Zeit­Montage, die die Zwänge der chronologischen Zeit überwindet (RTP III: S. 889), indem der Rückblick Eingang in den aktuellen Raum findet. Mit seinen Einschüben, Verzerrungen und Verdichtungen ist der proust sche Roman, wie er selbst laut verkündet, sicherlich ein Roman der verlorenen und wiedergefundenen Zeit, aber er ist auch, vielleicht etwas leiser, ein Roman der beherrschten, gefangenen, verhexten, heimlich subvertierten oder besser pervertierten Zeit. Müssen wir über diesen Roman nicht sagen, was sein Autor, vielleicht nicht ganz ohne Hintergedanken eines Vergleichs, über den Traum sagt: Er spielt mit der Zeit, macht sie zu einem Spiel?478 Indem Ruiz alle ihm zur Verfügung stehenden technischen Einheiten der filmischen Erzählung auf ihr Potential befragt, mit der Zeit ein Spiel zu trei­ ben, trifft der Cineast eben diesen «leisen» Subtext der Recherche in konge­ nialer Weise in der ihm eigenen zeit­bildlichen Inszenierung und macht so den literarischen Prätext als Präfiguration des filmischen Zeit­Bildes lesbar. 5.1.4 Die mentale Montage von Bild und Ton Im Medium Film laufen permanent visuelle und auditive Eindrücke paral­ lel. Deleuze verleiht dem Akustischen im modernen Film in der Möglichkeit des heautonomen Bildes, in dem Ton und Bild sich lösen und ihre eigenen Verbindungen eingehen, einen besonderen Stellenwert. Ruiz stellt in seinen heterogenen Bildern den Ton häufig als vom Bild unabhängige Größe aus, die nicht gezeigte Orte und Zeiten in der Vorstel­ lung erscheinen lässt und unterstützt so den imaginären Anteil der filmbild­ lichen Wahrnehmungssituation. Als Beispiel wurde im ersten Kapitel die Bild­Klang­Collage der erstinszenierten Erinnerungssequenz genannt, in der das Ausrufen der Gäste bereits im gezeigten Raum des greisen «Proust» einsetzt und so den Raum der Matinée heraufbeschwört, noch bevor dieser aktualisiert wird.479 Im Spiel mit der Zeit ist diese auf den Schnitt folgende Aktualisierung der tonalen Elemente keine Bedingung. Ebenso generieren 478 Genette 2010: S. 114. In der Anmerkung führt er aus: «c’était peut-être aussi par le jeu formidable qu’il fait avec le Temps que le Rêve m’avait fasciné» (RTP III: S. 912). Beto­ nen wir im Vorbeigehen das hier verwendete Verb: ‹faire (und nicht: jouer) un jeu avec le Temps›, was nicht nur heißt, mit ihr spielen, sondern auch, ein Spiel aus ihr machen; ‹en faire un jeu›» (ibid.). 479 Cf. Kapitel «»: S. 34 ff. 212 Zur Spatialisierung des discours die in der Erzählzeit weit gestreuten Rekurrenzen über die Tonspur ein men­ tales Konstrukt der Zuschauererinnerung. Zu nennen sind hierbei vor allem Zeitzeichen wie das Ticken von Uhren, das Schlagen von Glocken oder das Lachen von Kindern. Das Kinderlachen wird erstmals eingespielt, als Marcel vor dem Land­ haus in Combray herunterschwebt, als befände er sich auf einem Kamera­ kran (Seq. 5.7). Seq. 5.7 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609790) Kinderlachen in Combray (Außenraum) (0:10:46–0:10:53). Obwohl Kinderbild und Kinderstimme zeitlich in Konkordanz stehen, sperrt sich die spezifische Tonbearbeitung in ihrer leicht hallenden Ver­ zerrung gegen den Eindruck einer audiovisuellen Einheit. Deleuze begreift in solchem Zusammenhang den Ton als Bild-Äquivalent und spricht mit Fieschi von einer «Kadrierung» des Akustischen.480 Dieser Bruch zwi­ schen Bild und Ton führt jedoch nicht zu einer irreversiblen Trennung des Audiovisuellen,481 sondern verleiht ihr eine neue Qualität, eine neue Art der Übereinstimmung (correspondance), die einer Nicht-Übereinstimmung 480 Den Begriff führt Deleuze (Deleuze 1991b: S.  334) zurück auf Fieschi und Glenn Gould: Fieschi spricht von einer «Kadrierung […] der Rede», Glenn Could vom «encad­ rer» in der Tonmontage (Fieschi 1977: S. 55; Payzant 1984). 481 Eine solche Trennung findet in der Recherche in den Telefonaten statt, in denen zwar der Ton (als Stimme) präsent ist, der Raum der geliebten Person doch visuell und körperlich absent. Die Stimme außerhalb des Bildkaders – aus dem Off des Telefons – kann den Raum nicht überwinden, sie lässt die Räume als «vases clos» bestehen (cf. Poulet 1982: S. 71) und begründet so die angoisse des Erzählers (cf. S. 64). Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 213 entspringt.482 «Der irrationale Schnitt als Grenze oder Zwischenraum geht in besonderem Maße zwischen visuellem und akustischem Bild hindurch», wie Deleuze schreibt.483 So wird die «occurrence liée d’un son» zur «occur­ rence libre»,484 welche die als akustisches Noozeichen verschüttete auditive Fazies in verschiedene audiovisuelle Einheiten öffnet. Die Kinderstimmen haben auch in der Zugerinnerungsszene in den spielenden Kindern einen Halt im Bild. Doch geht auch durch diese Ton-Bild-Kombination ein Riss; die Stimmen könnten nicht in dieser Form im Zugabteil wahrgenommen werden, sie setzen vor der Kadrierung der Kinder ein und blenden mit deren Kadrierung wieder aus, um von der Filmmusik ersetzt zu werden. So wirken sie als akustisches Zeichen der Kindheit eher (wie die Filmmusik) dem Off zugehörig als den kadrierten Kindern (Seq. 5.8). Seq. 5.8 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609791) Kinderstimmen aus dem Off (0:37:51–0:38:51). Auch in der Venedig­Erinnerung, das heißt in einem Erlebnis der Zeit im Reinzustand, ertönt der Klang der Kindheit (Seq. 5.9): 482 Cf. Deleuze 1991b: S. 333. 483 Ibid.: S. 356. 484 Das heißt, sie stimmen nicht mit dem visualisierten Raum überein (Gaudreault /  Jost 1990: S. 97). 214 Zur Spatialisierung des discours Seq. 5.9 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609792) Kinderlachen in Venedig (1:41:44–1:41:48). In der Schlusssequenz (2:25:10 ff.), als das Auffinden der Kindheitslektüre die Erinnerung bedingt, wird erneut Kinderlachen aus dem Off eingespielt. Auch hier stehen Bild (mit Erwachsenem) und Ton (mit Kinderstimme) in Diskordanz zueinander (Seq. 5.10). Seq. 5.10 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609793) Kinderlachen in Combray (Innenraum) (2:26:04–2:26:10). Zu Beginn des Gangs durch das unterirdische Labyrinth sind ebenfalls Kin­ derstimmen zu hören (Seq. 5.11). Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 215 Seq. 5.11 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609794) Kinderstimmen der Tiefenschichten (2:27:25–2:27:37). Die Kinderstimmen verbinden die zeitliche Fazie von Combray mit dem Raum des Alters, koppeln Anfang und Ende des Romans. Sie bleiben als auditives Zeitzeichen der ewigen Kindheit auch im espace-off des fortgeschrittenen Alters als virtuelle Seite des aktuellen Bildes immer bestehen. Besonders bezeichnend ist hierbei der Einschub, in dem Ruiz seinen Protagonisten eine der proustschen boîtes öffnen lässt (0:32:30 ff.). Der Ton suggeriert, dass das Lachen der Kindheit in dem kleinen Holzkästchen auf­ bewahrt war. Untermalt vom Ticken einer ebenfalls nicht kadrierten Uhr öffnet der Ton einen zweiten Kader, der den des Bildes über einen Bruch hinweg ergänzt (Seq. 5.12). In der Inszenierung geht der Glockenton eine synästhetische Einheit mit der zerbrochenen Tasse ein, der Ton scheint aus der Tasse aufzustei­ gen. Lériche zieht in ihrer Auseinandersetzung mit der Verfilmung von Ruiz gerade für die Darstellung der Synästhesien die Grenzen des filmi­ schen Mediums.485 Die Einheit von Bild und Ton in der hier beschriebenen Einstellung ergibt sich auch nicht aus einer syntaktischen Austauschfor­ mation zwischen Form, Farbe und Geräusch, doch ist die audiovisuelle Einheit, die Kästchen und Ton hier eingehen, dem Betrachter offenkun­ dig. Diese Form von Synästhesie ist beschreibbar mit der Erfahrung des 485 Als Beispiel gibt sie die Glockenbeschreibung der Recherche an, den «tintement ovale et doré de la clochette» (RTP I: S. 14; cf. Lériche 2005: S. 179). 216 Zur Spatialisierung des discours Seq. 5.12 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609795) Kinderlachen aus dem Holzkästchen (0:32:30–0:32:37). Gemeinsinns,486 wie sie Aristoteles in de anima definierte. Wie Böhme darstellt, ist dieser Gemeinsinn nicht, wie es häufig später verstanden wurde, ein weiterer Sinn, sondern bezeichnet einen gemeinsamen Punkt im Koordinatensystem der dimensional unterschiedenen Wahrnehmun­ gen, in dem sich die Hauptachsen in einer gemeinsamen synästhetischen Wahrnehmung schneiden (S. 92). In der Interaktion von Ton und Bild wird die zerbrochene Tasse zum Zeitzeichen; das Kästchen, in dem sie bewahrt bleibt, enthält (so wie die boîtes, vases, ballons oder lueurs der Recherche) die Zeit, die hier in auditiver Collage sowohl das Kinderlachen als auch die tickende Uhr umfasst und von den Zwängen der Chronologie befreit auf­ steigen kann, sobald sich die verschlossenen boîtes der Erinnerung öffnen. Kinderlachen und Ticken der Uhr könnten als auditive Zeitzeichen gele­ sen werden, die für verschiedene Zeitsysteme stehen: Den chronologischen «défilé cinématographique» (RTP III: S. 882), der in der Recherche dem Rea­ lismus zugeschrieben wird, und das außerzeitliche Zeitsystem der Ewig­ keit. Doch werden in Ruiz’ Film selbst die Zeichen des Chronos zu außer­ zeitlichen. Dies kündigt er bereits in der umgekehrten Stundenuhr an. Im 486 Cf. Böhme 2001: S. 92. Sie nimmt nicht den Umweg über eine Urteilsästhetik, die dem sprachlichen Code verhaftet bliebe. Böhme weist für die synästhetische Wirkung von Bildern auf das Reklamefoto eines kühlen Glases Bier hin. «Der Effekt, insbesondere der Reklameeffekt, besteht doch gerade darin, dass ich angesichts des Bieres tatsächlich Kühle fühle und mir keineswegs bloß eine ‹wahrgenommene Struktur› erlaubt, ‹eisge­ kühltes Bier in einem Glas› zu denken, wie Eco sagt» (Böhme 2007: S. 289, Anmerkung 4). Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 217 Glockenschlagen (als Markierer der Stunden) wird die Entzeitlichung der Zeitzeichen auf den literarischen Prätext beziehbar: Das erste Kadrieren des Glockenschlagens koinzidiert mit dem Bild der Diegese, leitet jedoch unmit­ telbar in die Kadrierung des Flusses über, der im Schwanken der Kamera in wilde Bewegung gerät (0:00:11–0:00:20). Dies wird circa zehn Minuten später wieder aufgegriffen, als die Kamera im freien Flug aus dem Fenster des Kin­ derzimmers die in theaterdekorhafter Manier auseinanderfahrenden zwei­ dimensionalen Bäume überwindet, um die Sicht auf den Glockenturm von Combray freizugeben. «Je le trouve tout d’un air naturel et distingué […] je suis sûr, que s’il jouerait du piano, il ne jouerait pas sec» (0:13:41–0:14:13; cf. RTP  I: S.  64), kommentiert die Großmutter. Die ihre Stimme untermalende Musik bricht ab, um dem Glockenläuten vollen Raum zu geben und damit den Ton wieder an das Bild zu binden. Hier greift Ruiz im Zusammenspiel von Bild und Ton die zeitbildliche Passage des Primärtextes auf, in der gegen Anfang von Le Temps retrouvé der Kirchturm im vom Fenster umrahmten tableau erscheint: Je ne regardais en somme tout cela avec plaisir que parce que je me disais, c’est joli d’avoir tant de verdure dans la fenêtre de ma cham­ bre jusqu’au moment où dans le vaste tableau verdoyant, je reconnus, peint lui au contraire en bleu sombre, simplement parce qu’il était plus loin, le clocher de l’église de Combray, non pas une figuration de ce clocher, ce clocher lui­même, qui mettant ainsi sous mes yeux la distance des lieues et des années, était venu, au milieu de la lumineuse verdure et d’un tout autre ton, si sombre qu’il paraissait presque seulement dessiné, s’inscrire dans le carreau de ma fenêtre (RTP III: S. 698, Hervorhebung d. Verf.). Der Kirchturm, der dem Erzähler anfangs als Objekt perspektivisch­zeit­ licher Anschauung zu erster künstlerischer Produktivität angeregt hatte, wird hier in seiner bildlichen Umrahmung des Fensters zum Katalysator der Erkenntnis einer Raum­Zeit­Montage im schärfentiefen Bild. In Ruiz’ Inszenierung wird die zeitliche Distanz im filmischen Raum durch die freie, erzählende Instanz der Kamera überwunden, die im Flug aus dem Fenster die Zeitentiefe des Raums samt ihrer oberflächlich fassba­ ren Fazies durchfliegt, die Ruiz in dieser Einstellung wie Theaterkulissen auf Schienen zur Seite fahren lässt (Seq. 5.13). 218 Zur Spatialisierung des discours Seq. 5.13 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609796) Der Kirchturm von Combray. «Il ne jouerait pas sec» (0:13:41–0:14:13). Durch die Bindung von Bild und Ton und den intermedialen Text, der stets mitgelesen werden muss, verliert der Glockenton seine semantische Ein­ ordnung in das Wortfeld des Chronos, um zum auditiven Bestandteil einer komplexen intermedialen Hieroglyphe zu werden, wie sie folgende Szene in besonderer Dichte darbietet (Seq. 5.14): Seq. 5.14 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609797) Glockencollage (0:19:12–0:19:45). Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 219 Wenn die Inszenierung das Scheinwerferlicht auf Proust intensiviert und dieser in Gedanken versunken lächelt (0:19:35 ff.), wird der Zuschauer nicht etwa über eine Off­Stimme über sein Innenleben informiert, sondern über eine Ton­Collage: Die Glocke, die im Kader dem praktischen Zweck diente, Augustine herbeizurufen, überlagert sich in einer akustischen Doppelbe­ lichtung mit der helleren Glocke der Kindheit, dem entscheidenden Zeitmar­ kierer, der den Abgang Swanns bekundete. Zudem überlagert sich der kad­ rierte Ton mit dem Glockenschlagen des Kirchturms, der seinerseits seinen Charakter des chronologischen Zeitmessens relativierte, indem er in Film und Buch an Stilfragen gekoppelt wurde. So öffnet der gefilmte Raum über seine visuellen und auditiven Signifikanten zeitliche Tiefenschichten der Zuschauererinnerung, die von Einstellung zu Einstellung an semantischer Dichte gewinnen. [Cela]  […] nous donne la possibilité de lier des idées, des séquen­ ces, des situations qui, placées en différentes parties d’un film, aussi éloignées puissent­elles être les unes des autres (et je dirai que plus elles sont éloignées, mieux c’est), peuvent se connecter entre elles et se réintensifier.487 Bedeutungstragend sind im körperlichen Vorgang der Filmrezeption nicht die syntaktischen Neukreationen, sondern die audiovisuellen, die im syn­ ästhetischen Zusammenspiel von bildlichen «Atmosphären» und Ton vom Gemeinsinn erfasst werden. Ruiz’ Film gibt dem Zuschauer in den langen Einstellungen viel Zeit zum In­Bezug­Setzen der zeitlich getrennten Schichten, um das filmeigene Spiel mit der Zuschauererinnerung zu ermöglichen. In der Rezeptions­ situation entspinnt sich parallel zu den Erinnerungen des Erzählers ein Erinnerungsgeflecht des Lesers, das Iser als «ästhetischen Pol» des Werks ausmacht, der den «künstlerischen» (den Text des Autors) um die men­ tale Realisierung des Lesers ergänzt.488 Dabei bedeutet der Lesevorgang wie jede Wahrnehmung eine Interaktion der eigenen außerliterarischen Erinnerungen mit den Erinnerungen, die über die Lektüre des Romans entstehen. 487 Ruiz 2006: S. 39. 488 Cf. Iser 1994: S. 38. Ricœur spricht in Temps et récit von der mimésis III, in der sich die Welt des Textes und des Lesers durchkreuzen. (Ricœur 1984: S. 85–129). Perrier fügte hinzu, wie die im Text thematisierte Erinnerung mit einer Ars Memoria des Lesers einhergeht (Perrier 2011). 220 Zur Spatialisierung des discours Da ist die Malerei, da sind die Reisen, die Zeit, die Religion, die Eifersucht, die Androgynität, die Ambivalenz der Zeichen, die entfesselte Farbe …; die Serie der Leitmotive im literarischen Prätext ließe sich noch lange fortset­ zen. Ruiz übersetzt das Prinzip der leitmotivischen Erzählung sowohl in der Darstellungs­ als auch in der Abbildungsebene als audiovisuelles: Im Kame­ raverhalten rekurrieren extreme Vogelperspektiven (0:33:14, 0:25:40, 0:38:52, 2:07:11  ff.) und auffällige Drehbewegungen bzw. Kreisfahrten:489 (0:04:49, 0:09:28, 0:23:17, 0:49:50, 1:00:02 ff.), als wolle der cinematic narrator von Zeit zu Zeit an die Perspektive der literarischen Erzählung erinnern, von der es heißt: «J’avais le vertige de voir au­dessous de moi et en moi pourtant, comme si j’avais des lieues de hauteur, tant d’années» (RTP III: S. 1046, 1047). Im Bildkader häufen sich Spiegel (0:04:47, 0:19:56, 0:24:53, 0:24:53, 0:56:25- 26, 1:15:58, 2:21:21, 2:25:54) und Statuen (0:30:18; 0:38:45; 0:29:28; 1:04:00  ff.; 1:13:03–1:13:46; 1:19:99 ; 1:24:25; 1:44:01 ff.; 1:46:50-55; 1:47:00; 1:47:06 ff.; 2:01:22; 2:27:55 ff.). Durch das Lösen von Bild­ und Ton­Elementen, die sich über den Ablauf des Diskurses hinweg untereinander verschränken und verdichten, gewinnt der Anteil der mentalen Konstruktion entscheidendes Gewicht. Cette tension constante, qui rend l’abstraction impossible au cinéma, peut faire penser à une espèce de courant souterrain qui accompagne toute série d’images, un courant qui, appuyé sur des objets identi­ ques ou similaires, comme s’il s’agissait de signalisations de trafic, poursuit une histoire à moitié digérée par les objets montrée, à moitié attribuée par nous.490 So wird der Bilderablauf unterlegt von einem Netz der Erinnerung, das eigene Geschichten einflicht, wie die Geschichte des kadrierten Glocken­ tons, der in seiner multiplen audiovisuellen Bindung vom Ton der frühen Kindheit, der die freie Mutter ankündigte, von der Serie der quälenden Lie­ ben und schließlich vom drohenden Tod erzählt.491 489 «Zu den augenfälligsten ‹Verstößen› der Kamera gegen normale Wahrnehmungs­ bedingungen gehören Verschiebungen der Horizontale durch Drehungen (‹Rollen›) der Kamera um ihre Blickachse […], die nur in besonderen Fällen referentiellen Notwendig­ keiten folgen (Schifffahrt, Karussellfahrt u. a.). Wo sie nicht um des bloßen Effekts wil­ len eingesetzt werden, haben sie eine relativ konstante funktionale Tradition als Anzei­ ger einer aus dem Gleichgewicht geratenen Welt» (Lohmeier 1996: S. 86). 490 Ruiz 1978: S. 25. 491 Der Glockenton tritt ebenfalls als auditiver Schnittmarker auf: Er trennt Cottards Gesicht, der letzte Liebesdienste Odettes in Anspruch nimmt (0:57:49), von der Beerdi­ gungsszene (0:57:50–1:00:02), auf der sich das Glockenschlagen in Form der cloches fortsetzt. Technische Einheiten der filmischen Erzählung von Raum und Zeit 221 La surface du roman est occupée par la série des prédelles, et cela de telle manière qu’en dépit du découpage, des lacunes et des limites marquées par les cadres, l’imagination saisit immédiatement le prin­ cipe qui unit les prédelles, et reconstitue la totalité dont elles ne sont que des sections.492 So filmisch formuliert Poulet die mentale Montage in Bezug auf den litera­ rischen Prätext. Diese mentale Montage konstruiert die Kathedrale der Erinnerung493 im Film wie im Roman in der Rezeptionssituation neu: Ainsi un amateur d’art à qui on montre le volet d’un retable se rappel­ le dans quelle église, dans quel musée, dans quelle collection particu­ lière, les autres sont dispersés (de même qu’en suivant les catalogues des ventes ou en fréquentant les antiquaires, il finit par trouver l’ob­ jet jumeau de celui qu’il possède et qui fait avec lui la paire, il peut reconstituer dans sa tête la prédelle, l’autel tout entier (RTP III: S. 973), stellt der Erzähler auf dem bal de têtes fest. In der Re­Konstruktion der Erin­ nerung veranlasst die aktuelle Wahrnehmung zur métaphore­ähnlichen Montage der schriftbildlich evozierten Referenten, die das zeitliche Nach­ einander in einem mentalen Konstrukt spatialisiert:494 […] la circonstance était l’unité complète, et le personnage seulement une partie composante. Et ma vie était déjà assez longue pour qu’à plus d’un des êtres qu’elle m’offrait je trouvasse, dans mes souvenirs des régions opposées, pour le compléter, un autre être (RTP III: S. 972, Hervorhebung d. Verf.). In der Verräumlichung des Discours doppeln sich die erinnernde Mon­ tage des Erzählers und die erinnernde Montage des Rezipienten und füh­ ren den «ästhetischen» und den «künstlerische[n] Pol»495 des Werks in eine Spiegelrelation. 492 Poulet 1982: S. 131. 493 Das erlebende Ich erwähnt gegen Ende der Recherche, sein Romanprojekt wie eine Kathedrale zu bauen (RTP III: S. 1033). Cf. dazu u. a. Tadié 1992 ( La Cathédrale du temps) und Westerwelle 2004. 494 Wie Collot unter Verweis auf Genette darstellt, impliziert das Konstrukt der Meta­ pher immer eine räumliche Dimension (cf. Collot 1987: S. 84–95; Genette 1966). 495 Iser 1994: S. 38. 222 Zur Spatialisierung des discours Disons qu’un spectateur est le visiteur du palais mental où habite le film que nous sommes en train de voir.496 In der von Ricœur theoretisierten Mimesis III wird der filmische «édifice du souvenir» genauso wie der literarische zum palais mental des Erzählers, den der Rezipient durchschreitet. 5.2 Die narrative Montage Die mentale Montage hängt sich an Elementen des récit auf, der seiner­ seits durch die narrative Montage strukturiert wird, die Ton und Bild in ihren unterschiedlichen Einheiten als Einstellungen, Szenen und Sequen­ zen in ein spezifisches diskursives Gefüge von Raum und Zeit stellt.497 Die­ ses Gefüge hatte Genette unter dem Begriff der «Ordnung» als konstantes Springen von Zeiten und Räumen nachgezeichnet, das die narrative Mon­ tage des Textes in zehn Makro­Segmente gliedert: Die Recherche du temps perdu beginnt also mit einer weit ausschwin­ genden Bewegung, in deren Zentrum als strategische Schlüsselpo­ sition die Position 5 (schlaflose Nächte) steht, zusammen mit ihrer Variante 5’ (die Madeleine), beides Positionen des schlaflosen bzw. vom unwillkürlichen Gedächtnis übermannten «intermediären Subjekts», dessen Erinnerungen für die Gesamtheit der Erzählung bestimmend sind, was dem Punkt 5–5’ die Funktion einer Art notwendigen Schaltstelle verleiht oder, wenn ich so sagen darf, die 496 Ruiz 2006: S. 13. 497 Während sich die ersten Filme an den drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung des klassischen Theaters orientierten (eine Handlung wurde in einer Einstellung an einem Drehort gedreht, wie in L’Arroseur arrosé [Lumière, 1895], oder L’arrivé en gare), gab es schon sehr früh Versuche, mit verschiedenen Zeit­Konstellationen zu arbeiten (für eine ausführlichere Darstellung cf. Gaudreault /  Jost 1990: S.  24  ff.). Meliès arbei­ tete noch mit einer Aneinanderreihung von Einzelszenen, um größere Filmerzählungen darzubieten. Edwin S. Porter führte in seinem frühen Western The Great Train Robbery (USA 1903) die Parallelmontage ein. Die Montageregeln von Griffith entwickelten die normativen Hinweise, um Fehlinterpretationen des Raum- und Zeitgefüges in der Mon­ tage zu verhindern, die später die Grundlage für das Continuity System der Hollywooder­ zählung wurden (cf. Bordwell, dieser kanonisierte dieses System in Bordwell /  Staiger /  Thompson 1985, insbesondere S. 194–213). Borstnar bietet eine zusammenfassende Über­ sicht über diese Regeln (cf. Borstnar / P abst / W ulff 2008: 149 ff.). Wie Bordwell in seiner Neuveröffentlichung darlegt, ist das heutige Hollywoodkino jedoch nicht mehr das der 60er-Jahre; es spielt mit seinen eigenen Konventionen (cf. Bordwell 2006). Die narrative Montage 223 eines narrativen Dispatchers: Um von Combray I zu Combray II zu kommen, von Combray II zu Un amour de Swann, von Un amour de Swann zu Balbec, muss man immer wieder zu dieser zentralen, wenn auch gleichzeitig exzentrischen Position zurückkehren (denn chronologisch kommt sie ja später), deren fester Griff sich erst beim Übergang von Balbec nach Paris lockert, obwohl dieses letztere Segment (J3), sofern es dem vorigen koordiniert ist, ebenfalls der Gedächt nisaktivität des intermediären Subjekts subordiniert und mithin analeptisch ist. Der  – gewiss entscheidende  – Unterschied zwischen dieser Analepse und allen früheren liegt darin, dass diese offen bleibt und von ihrem Umfang her fast die gesamte Recherche abdeckt: was unter anderem bedeutet, dass sie – ohne es zu sagen und so, als merkte sie es nicht – ihren eigenen Ausstrahlungspunkt im Gedächtnis erreicht und diesen, der scheinbar in einer ihrer Ellip­ sen versunken ist, sogar überschreitet […].498 Aus diesem «Ausstrahlungspunkt» heraus findet die Projektion der Geschichte statt, «die uns von Zimmer zu Zimmer und von Lebensalter zu Lebensalter führ[t], von Paris nach Combray, von Doncières nach Balbec, von Venedig nach Tansonville» (ibid.). Paech stellt in seinem historisch argumentierenden Buch Literatur und Film dar, wie sich die Montagemöglichkeiten des modernen Films erwei­ tert haben499 und verweist auf «die Mimesis einer montageförmig erlebten Realität» als einer «filmischen Schreibweise», mit der der moderne Film die Literatur beeinflussen sollte. Diese Schreibweise entstehe durch «die Konstruktion von Bedeutungen aus der Reihung oder dem Zusammenprall von Elementen zu einem neuen Zusammenhang, die Dekonstruktion beste­ hender Zusammenhänge und ihre Auflösung in heterogene Elemente, die in einer offenen textuellen Struktur variable Verbindungen eingehen».500 All dies sind Montageprinzipien, die nicht auf die Mimesis einer außer­ filmischen Realität abzielen, sondern auf die Mimesis einer Wahrnehmung, die immer gleichzeitig auch Erinnerung ist. Diese Form der «Mimesis» wird im literarischen Prätext gekoppelt an das Stilmittel der métaphore, das als diskursives Ordnungsprinzip eine Prä­ figuration des modernen filmischen Zeitbildes bereithält, wie das folgende Kapitel ausführen soll. 498 Genette 2010: S. 25. 499 Paech 1997b. 500 Paech 1997b: S. 129; cf. auch Hickethier 2001: S. 144. 224 Zur Spatialisierung des discours 5.2.1 Die métaphore als zeitbildliches Montageprinzip Wie im Teil, der sich Bild und Bildlichkeit widmete, deutlich wurde, eta­ bliert der Erzähler der Recherche zwei Bildkonzepte in Kontrast zueinan­ der: Das «tableau uniforme» des Realismus einerseits, das auf eine Ähn­ lichkeits­ bzw. Selbigkeitsbeziehung zur Wirklichkeit hinauswill, und die heterogene bzw. «antilogische» Hieroglyphe andererseits, wie sie sowohl die Beschreibung des Lesebildes als auch des photographischen Bildes, des Traums oder des Gemäldes (Le Port de Carquethuit) etabliert. Diese Dichoto­ mie des (spatialen) Bildes setzt sich im diskursiven Medium der Literatur als einer in der Zeit reihenden Erzählform fort mit einer Kontrastierung zweier Montageformen. Die erste Montageform entspricht der sukzessiven Abfolge in einem bebilderten Buch: Certes, on peut prolonger les spectacles de la mémoire volontaire qui n’engage pas plus de forces de nous­mêmes que feuilleter un livre d’images. […] je m’étais dit en cataloguant ainsi les illustrations de ma mémoire: « J’ai tout de même vu de belles choses dans ma vie » (RTP III: S. 873). Sie wird in Le Temps retrouvé als filmische ausgemacht: Ce que nous appelons la réalité est un certain rapport entre ces sen­ sations et ces souvenirs qui nous entourent simultanément – rapport que supprime une simple vision cinématographique, laquelle s’éloigne par là d’autant plus du vrai qu’elle prétend se borner à lui – rapport unique que l’écrivain doit retrouver pour en enchaîner à jamais dans sa phrase les deux termes différents (RTP  III: S.  889, Hervor- hebung d. Verf.). Bluestone versteht die Montage als kinematographische Analogie zur Meta­ pher, bei der in dieser Weise zwei unvergleichbare Elemente, wie in der Trope, verbunden werden, um ein «tertium quid» zu schaffen, «ein neues, (drittes) Element, dessen Qualität keine der Einzeleinstellungen hat, solange sie voneinander unabhängig sind».501 Tatsächlich entwickelt der Erzähler in Le Temps retrouvé im Sinne einer solchen kinematographischen Metapher das Gegenkonstrukt der bloßen Bilder­Folgen: 501 Bluestone 1984: S. 55. Die narrative Montage 225 On peut faire se succéder indéfiniment dans une description les objets qui figuraient dans le lieu décrit, la vérité ne commencera qu’au moment où l’écrivain prendra deux objets différents, posera leur rapport, analogue dans le monde de l’art à celui qu’est le rapport unique, de la loi causale, dans le monde de la science et les enfermera dans les anneaux nécessaires d’un beau style, ou même, ainsi que la vie, quand en rapprochant une qualité commune à deux sensations, il dégagera leur essence en les réunissant l’une et l’autre pour les soustraire aux contingences du temps, dans une métaphore, et les enchaînera par le lien indescriptible d’une alliance de mots (RTP III: S. 889, Hervorhebung d. Verf.). Das Gegenkonstrukt, so wird hier deutlich, äußert die Recherche in der métaphore, die, wie Billermann (2000) nachgewiesen hat, als makrokosmi­ sches Stilprinzip für die gesamte Recherche gilt.502 In diesem Sinne liegt die Analogie der proustschen «métaphore» mit dem Montage­Konzept des modernen Kinos unerhört nahe, das «Ähnlichkeiten im Unähnli­ chen» setzt, «ohne dabei kategoriale Differenzen zu tilgen»503 und dabei als außersprachliche Bezugsreferenz auf das erinnernde Subjekt bzw. den «Ausstrahlungspunkt» des Gedächtnisses verweist, in dem erinnerndes und erinnertes Ich interagieren. Die «métaphore» (RTP I: S. 836) des Port de Carquethuit strebte die Auflö­ sung jeglicher «termes» an. In diesem Kontext wurde die Versöhnung von Stillstand und Bewegung als eine von Chronos und Aion angedeutet, in der die Gemäldebeschreibung die literarische Sukzession im räumlichen Bild aushebelte und dabei im «Bild» etablierte, was Deleuze als «Antilogos» bzw. als «Ordnung des Risses»504 bezeichnet. In der Diachronie der Erzählung hat das Prinzip der métaphore nun die Funktion, die «contingences du temps» zu überwinden (RTP III: S. 889). Dies geschieht subtil in der gesamten Beschreibung, in der sich, wie Genette nachgewiesen hat, Räume und Zeiten komplex ineinander verschachteln, ohne zwingend auf einen zeitlichen Bezugspunkt zurückführbar zu sein. Offensichtlich markiert und der Reflexion dargeboten geschieht dies in den Momenten der mémoire involontaire, die Genette als stilistisches Äquivalent zur métaphore bezeichnet.505 Die Reflexion dieser Erinnerungsepiphanien, 502 Cf. dazu auch Jaeck 1990. 503 Billermann 2000: S. 256. 504 Deleuze 1991b: S. 343. 505 Genette 1966: S. 40. 226 Zur Spatialisierung des discours die der Erzähler im hôtel de Guermantes anstellt, erfolgt jedoch im Text erneut dezidiert im Kontrast zum Film: Quelques-uns voulaient que le roman fût une sorte de défilé ciné­ matographique des choses. Cette conception était absurde. Rien ne s’éloigne plus de ce que nous avons perçu en réalité qu’une telle vue cinématographique (RTP III: S. 882 f.). Bei genauer Betrachtung spricht sich der Erzähler hier wie in dem obigen Zitat, das die Wahrheit der métaphore dem Kino entgegensetzt (RTP  III: S. 889), jedoch nicht gegen das Medium und schon gar nicht gegen filmische Montage aus, sondern gegen die realistisch­chronologische Erzählung auf­ einanderfolgender Bilder.506 Die Realismuskritik, die sich im «défilé ciné­ matographique des choses» äußert, ist keine Frage des Mediums, sondern eine der Form. Der Erzähler bezieht sie ebenso auf das Medium der Literatur: […] La littérature qui se contente de « décrire les choses », de donner un misérable relevé de leurs lignes et de leur surface est malgré sa prétention réaliste la plus éloignée de la réalité, celle qui nous appau­ vrit et nous attriste le plus ne parla­t­elle que de gloire et de gran­ deurs, car elle coupe brusquement toute communication de notre moi présent avec le passé dont les choses gardent l’essence, et l’avenir où elles nous incitent à le goûter encore (RTP III: S. 885). Auf der Suche nach der Form der festzuhaltenden Erlebnisse («j’étais maintenant décidé à m’attacher à elle, à la fixer, mais comment? par quel moyen?», RTP III: S. 876) sind die beiden Momente, die im bildhaften Ver­ gleich gegeneinander ausgespielt werden, die der «surface» aufeinander­ folgenden Beschreibungen von «tableau uniforme» und des zeitlich schär­ fentiefen Bildes, in dem die unterschiedlichen Zeiten in der Raumzeit des erinnernden Ichs montiert werden. Das angestrebte Prinzip ist nicht das der Selbigkeit oder Ähnlichkeit mit der äußeren Umwelt, sondern eines, das über den Umweg der grundlegenden Alterität der äußeren Umwelt die Sel­ bigkeit der eigenen Person in der Zeit wiederherstellt. Folgend entwickelt der Erzähler, nachdem er sich gegen ein Kino des Bewe­ gungs­Bildes (défilé cinématographique) ausgesprochen hat, ein Gegenmodell einer montageförmig erlebten Realität (ce que nous avons perçu en réalité): 506 «En réalité, [Proust] s’exprimait davantage contre la littérature que contre le cinéma, contre la littérature qui raconte les choses cinématographiquement, c’est­à­dire par l’action» (Bouquet 1999: S. 48.). Die narrative Montage 227 Et tout en poursuivant mon raisonnement, je tirais un à un, sans trop y faire attention du reste, les précieux volumes, quand au moment où j’ouvrais distraitement l’un d’eux: François le Champi de George Sand, je me sentis désagréablement frappé comme par quel­ que impression trop en désaccord avec mes pensées actuelles, jus­ qu’au moment où, avec une émotion qui alla jusqu’à me faire pleu­ rer, je reconnus combien cette impression était d’accord avec elles (RTP III: S. 882 f.). Der erinnerte Erzähler spürt den Bruch in der gegenwärtigen Wahrnehmung (frappé comme par quelque impression trop en désaccord avec mes pensées actu- elles) und rekonstruiert eine Einheit größerer emotionaler Dichte (Deleuze) – «jusqu’au moment où, avec une émotion qui alla jusqu’à me faire pleurer, je reconnus combien cette impression était d’accord avec elles». Was dem Erzähler hier zu gelingen scheint, ist eine Art irrationaler Schnitt,507 der die Eindrücke unterschiedlichen Klassen zuschreibt, die ihren Schnittpunkt im Außerhalb der beiden Einheiten finden. Solange das Ganze die indirekte Repräsentation der Zeit ist, ver­ söhnt sich das Kontinuierliche mit dem Diskontinuierlichen in Gestalt rationaler Punkte und gemäß kommensurablen Beziehun­ gen (Eisenstein hatte im Goldenen Schnitt sogar deren mathema­ tische Theorie gefunden). Wenn nun aber das Ganze zur Macht des Außen wird, das in den Zwischenraum übergeht, dann ist es entwe­ der die unmittelbare Darstellung der Zeit oder die Kontinuität, die sich, entsprechend den achronologischen Zeitbeziehungen, mit der Folge der irrationalen Punkte versöhnt. In diesem Sinne verändert sich zunächst bei Welles, später bei Resnais und schließlich auch bei Godard die Bedeutung der Montage, bestimmt die Verhältnisse im unmittelbaren Zeit­Bild und versöhnt das Zerstückelte mit der Sequenzeinstellung.508 507 «Der Schnitt [ist] im modernen Kino zum Zwischenraum geworden, er ist irratio­ nal und ist weder Bestandteil des einen noch des anderen Ensembles, von denen das eine ebenso wenig ein Ende wie das andere einen Beginn hat» (Deleuze 1991b: S. 236, Hervor­ hebung von Deleuze). Den Begriff «irrational» übernimmt er von Albert Spaier. Er besagt, dass: «die rationale Zahl entweder in der niederen oder in der höheren Klasse des Schnitts enthalten sein muss, während die irrationale Zahl weder Teil der einen noch der anderen Klasse ist, die sie trennt» (Spaier 1997: S. 158; cf. Deleuze 1991: S. 405). 508 Deleuze 1991b: S. 236. 228 Zur Spatialisierung des discours Dabei weist Deleuze explizit darauf hin, dass ihm nicht etwa das wenig hochwertige Literaturprodukt der «romans berrichons de George Sand» (RTP III: S. 883) den Glauben an die Literatur zurückgibt als vielmehr das Verfahren, das über den optischen Eindruck die Vergangenheit in der Gegenwart lebendig werden lässt: Le souvenir de ce qui m’avait semblé inexplicable dans le sujet de François de Champi, tandis que maman me lisait le livre de George Sand, était réveillé par ce titre […] (ibid.). Die Essenz des Romans, so wie die Essenz der féodalité, gebiert sich nicht notwendigerweise aus der Literatur, sondern aus dem transmedialen Prin­ zip der synthetisierenden Aisthesis, die in zeitlicher Distanz und diffe­ rentem Kontext stattgefunden hatte, um in ihrer Differenz mit der gegen­ wärtigen montierbar zu werden. Dabei bleibt der Bruch des heautonomen Bildes spürbar: A ce moment­là l’idée que telle personne dont j’avais fait la connais­ sance dans le monde était la cousine de Mme de Guermantes, c’est­ à­dire d’un personnage de lanterne magique me semblait incompre­ hensible (RTP III: S. 884). Gefasst wird die bildliche Fusion der körperlichen Erinnerung im Gegen­ satz von surface und profondeur: Dans un dîner quand la pensée reste toujours à la surface, j’aurais pu sans doute parler de François le Champi et des Guermantes, sans que ni l’un ni l’autre fussent ceux de Combray. Mais quand j’étais seul, comme en ce moment, c’est à une profondeur plus grande que j’avais plongé (RTP III: S. 883 f., Hervorhebung d. Verf.). Der Gegensatz, der hier an Gesellschaft / E insamkeit festgemacht wird, ist im Prinzip auf einen der zeitlichen / b ildlichen Strukturierung zurückzu­ führen – es ist der Gegensatz zwischen rein aktueller Wahrnehmung und mentaler Schärfentiefe der Erinnerung, von dem das Subjekt in Gesellschaft abgelenkt wird. Dieses zeitlich schärfentiefe Vorstellungsbild enthält eine komplexe Montage: C’était une impression d’enfance bien ancienne où mes souvenirs d’en- fance et de famille étaient tendrement mêlés et que je n’avais pas recon­ nue tout de suite (ibid., Hervorhebung d. Verf.). Die narrative Montage 229 Die Form dieser Impression beschreibt der Erzähler an einer Textstelle, die auf die gleiche Wirkung der mentalen Montage abzielt, als Vasen, die als einzelne Momente (dort Stunden) gefüllt sind mit einer synästhetischen Zusammenstellung «de parfums, de sons, de projets et de climats» (RTP III: S. 889). Das Behältnis, das Deleuze in Proust et les signes als das essentielle Moment der Zeichenlehre auf der Suche nach Wahrheit herausarbeitet,509 ist eines der synästhetischen Aisthesis, die sich auch aus dem reinen visuellen Eindruck eines Gemäldes entspinnen kann: Elstir faszinierte an Chardin seine Art bildlich­synästhetischer Verdichtung (RTP II: S. 420), die das Bild zum «sanctuaire» machte, oder wie Proust in Contre Sainte Beuve schreibt: Chardin va plus loin encore en réunissant objets et personnes dans ces chambres qui sont plus qu’un objet et peut­être aussi qu’une personne, qui sont le lieu de leur vie, la loi de leurs affinités ou de leur contras­ tes, le parfum flottant et contenu de leur charme, confident silencieux et pourtant indiscret de leur âme, le sanctuaire de leur passé.510 Die synästhetische Aisthesis ist hier allein der unmittelbaren Wirkung des Bildes geschuldet. In der Zeit reichern sich die wahrgenommenen optischen Eindrücke mit den verschiedenen vergangenen Wahrnehmungen an, sodass jede Wahr­ nehmung ein stetes Wechselspiel mit Vergangenem eingeht. Oui, en ce sens-là [dans le domaine de sa propre sensibilité], […], une chose que nous avons regardée autrefois, si nous la revoyons, nous rapporte, avec le regard que nous y avons posé, toutes les images qui le remplissaient alors (RTP III: S. 885). Dieses Prinzip, das jedes Filmerlebnis prägt, bezeichnet Ruiz treffend als «re­regarder».511 Die Schichtung der Bilder im Gehirn, die zeitweilig zum «oubli» führen kann, der im Kontext des Schlafes mit dem Tod gleichgesetzt wurde, wird in Momenten der Erinnerungsepiphanien über das «Palimpsest des Hirns»512 überwunden, das Räume und Zeiten der frühen Subjekte in den aktuellen 509 «Mais, formellement, les signes ont deux types qui se retrouvent dans toutes les espèces: ces boîtes entrouvertes, à expliquer; ces vases clos, à choisir» (Deleuze 1996: S. 156). 510 Proust 1971: S. 379. 511 Ruiz 1978: S. 31. 512 Billermann 2000: S. 128. 230 Zur Spatialisierung des discours Wahrnehmungsraum montiert. In der Erinnerung des bal de têtes nun wird die «alliance de mots» zu einer alliance audiovisuelle. Unter dem Begriff der Metapher hatte Deleuze das Bewegungs­Bild mit der Trope versöhnt, das sich nicht auf eine Einstellung bezieht, sondern sich aus mehreren zusammensetzen kann, die es entweder zusammenschmilzt (als Metapher, welche die Bilder vereinigt), oder teilt (in Form einer Met­ onymie). So betrachtet er die Montage von Griffith als metonymisch und die von Eisenstein als metaphorisch.513 Das moderne Kino, das «Zeit» nicht mehr indirekt aus der Bewegung ableitet, sondern direkt repräsentiert, ersetzt nach Deleuze das «figurative Kino» durch das «Kino des Theorems» (cf. u. a. S. 226 f.). Doch ist die «Metapher» der Eisenstein-Montage, die über gemeinsame Obertöne funktioniert, nicht gleichzusetzen mit der proust­ schen métaphore. Vielmehr teilt Prousts métaphore die Eigenschaft des Theo­ rems, den irrationalen Schnitt zum konstitutiven Element aufzuwerten und in ihrer zeit­bildlichen Verschränkung das Denken ins Bild zu werfen. Die proustsche métaphore ist explizit keine des Bewegungs­Bildes, sie zielt nicht auf eine sensomotorische Einheit ab, sondern überwindet die «contingences du temps» (RTP III: S. 889) des «défilé cinématographique» (RTP III: S. 882), indem sie als Ausgangspunkt der mentalen Verschmelzungen der unter­ schiedlichen Impressionen ein «Dazwischen [l’entre­deux]» der modernen Zeit­Bild­Montage kreiert, das Deleuze mit Blanchot Kraft der «Verstreuung des Außen» oder den «Taumel der Verräumlichung» nennt.514 Die Metapher, die Robbe­Grillet erst viele Jahre später als Romancier in Verruf brachte, indem er deren Prämisse der Pseudo­Einheit von Mensch und Natur oder des Pseudo­Bandes von Mensch und Welt kritisierte,515 wurde schon von der Recherche in der proustschen métaphore aufgelöst, die in jeder Verschmelzung einen grundsätzlichen Bruch impliziert. So entwickelt das moderne Kino unter drei Gesichtspunkten neuar­ tige Beziehungen zum Denken: unter dem Gesichtspunkt der Auslös­ chung des Ganzen oder der Totalisierung der Bilder zugunsten eines Außen, das sich zwischen sie einfügt; der Auslöschung des inneren Monologs als des Ganzen des Films zugunsten einer freien indirek­ ten Rede und Sicht; der Auslöschung der Einheit des Menschen mit der Welt zugunsten eines Bruchs, die uns nicht mehr als den Glauben an ebendiese Welt belässt.516 513 Cf. Deleuze 1991b: S. 210. 514 Deleuze 1991b: S. 234 f. verweist auf Blanchot 1969: S. 65, 107–109. 515 Robbe-Grillet 1963: S. 55–84. 516 Deleuze 1991b: S. 243. Die narrative Montage 231 All dies hatte Proust vorweggenommen: Er nahm dem Roman den Zirkel­ schluss und führte damit das Ganze dem Außen zu, das in Form von Leer­ stellen zwischen die literarischen Bilder trat und so die Zeit direkt repräsen­ tierte; er vervielfachte den Sprechakt zeitlich zwischen den zerstückelten Moi sowie räumlich in Verbildlichungen des Selbst im Anderen, die er in der Sicht des «je est un autre» präsentierte; er löschte mit den seriellen Momenten von Differenz und Wiederholung des heautonomen Bildes die Topographie einer kohärenten Welt, eines kohärenten Ich und eines kohärenten Anderen und verwies statt an das Band mit der Welt an den Glauben an das Kunstwerk. Die métaphore als Stilprinzip der Alterität bürgt dabei für die Brücke zwischen dem Ich und dem Anderen, die einen konstitutiven Bruch impli­ ziert. So ist sie Garant des Glaubens an die Kunst, als Glaube an die «vérité», die nicht mehr im aristotelischen Sinn eine Selbigkeitsrelation mit der Umwelt, sondern im zerstückelten Ich etabliert, und so Alterität zum Sel­ bigkeitsprinzip ausruft. Das Stilprinzip der métaphore erfordert für die diskursive Montage, Heterogenes zu verbinden. Hier gesellt sich zeitlich Distantes in unmittelbare Nachbarschaft des Textes,517 überlagern sich aktuelle und virtuelle Zeiten der Erinnerung518 und wird die Substitution zum Moment der Verbindung.519 5.2.2 Kontiguität der Zeiträume – «une distance qui relie» Ricœur führt die räumliche Dimension der proustschen durée auf die Funk­ tion der Distanz, die nicht mehr trennt, sondern verbindet, zurück: L’itinéraire de la Recherche va de l’idée d’une distance qui sépare à celle d’une distance qui relie.520 Ruiz inszeniert diesen «itinéraire» in buchstäblichem Sinne als Gang. So lässt er Odette in der ersten Erinnerungssequenz das Esszimmer durch­ schreiten, um in einer theatralischen Geste langsam die laut knarrende Tür zu einem Nebenzimmer zu öffnen. Als sie die Gäste auffordert, ihrem Blick zu folgen, hat sich nicht nur ihr Kostüm in das der Matinée de Guermantes verwandelt, auch die Tür ist nun die des spät­inszenierten 517 Cf. Kapitel «5.2.2 Kontiguität der Zeiträume – ‹une distance qui relie›»: S. 231 ff. 518 Cf. Kapitel «5.2.3 Superposition der Zeiträume – die Laterna Magica als Montage­ prinzip»: S. 237 ff. 519 Cf. Kapitel «5.2.4 Das Montageprinzip der Substitution»: S. 248 ff. 520 Ricœur 1984: S. 224. 232 Zur Spatialisierung des discours Raumes. In verfremdender Weitwinkeleinstellung sitzt der junge Marcel tief im Nebenraum mit seiner Laterna Magica, die er auf die Gäste richtet (Seq. 5.15). Seq. 5.15 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609798) Odette öffnet das Zimmer der Kindheit (0:07:35–0:08:30). Du Fresne wird nun seinerseits im over-the-soulder-shut beim Öffnen einer Tür gezeigt, die in der mentalen Raumkonstruktion des Zuschauers der zum Salon entsprechen müsste. Wieder ist das laute Knarren der Tür vernehm­ bar (Seq. 5.16). Seq. 5.16 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609799) Marcels Gang in die Zukunft (0:09:30–0:10:26). Die narrative Montage 233 Ruiz lässt seinen Marcel den langen Weg durch den mit Weitwinkel zusätz­ lich vertieften Raum spielerisch durchspringen, als bewege er sich Richtung Zukunft, ohne dem regelmäßig aufgestellten schwarzen Zylinder, über des­ sen Krempen weiße Handschuhe liegen, weitere Beachtung zu schenken. Wieder ist der Raum von einer irrealen Dunkelheit gekennzeichnet, wäh­ rend hinter dem Fenster gleißende Helligkeit herrscht. «Die zeitliche Eigenschaft des Kontinuums, die Kontinuität der Dauer, bewirkt, dass die Bildtiefe der Zeit und nicht dem Raum zugeschrieben wird», hatte Deleuze festgestellt.521 Darauf hatte Claudel bereits bei Rembrandt hin­ gewiesen; dort sei die Bildtiefe eine «Einladung, sich zu erinnern».522 Deleuze verweist weiterhin auf Bergson und Merleau­Ponty, die ihrerseits konstatier­ ten, dass die «Entfernung» (Matière et mémoire) und die «Tiefe» (Phénoméno- logie de la perception) eine zeitliche Dimension ausmachten.523 Der erwachsene Saint­Loup hält ein Stereoskop in den Händen, das er in der klassischen Schuss­Gegenschuss­Konversation mit dem kindlichen Marcel nicht abnimmt. Erst als Marcel das Stereoskop übernimmt, teilt der Zuschauer mit der Kamera den Blick Roberts, der augenscheinlich einen Gegenstand hinter dem Fenster betrachtet hatte (Seq. 5.17): Seq. 5.17 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609800) Im Graben sterbendes Pferd (0:10:04–0:10:28). Das Schwarz­weiß­Filmbild eines im Schlachtgraben sterbenden Pferdes wirkt wie ein Einschub aus einem Buñuel­Film, wie Kravanja festgestellt 521 Deleuze 1991b: S. 145. 522 Claudel 1965: S. 195. 523 Deleuze 1991b: S. 145. 234 Zur Spatialisierung des discours hat.524 Aus der subjektiven Kamera heraus werden die onirischen Filmbilder als die Bilder des Stereoskops ausgestellt. «[…] nous isolons, en voyant un cheval courir, les positions successives que nous montre le kinétoscope» (RTP I: S. 7), heißt es auf den ersten Seiten der Recherche in Bezug auf das Kinetoskop, den Vorläufer der Filmprojekto­ ren. Ruiz spielt ein Spiel mit der Bewegung des Kinetoskops, indem er das (laufende) Bild des in spasmischen Bewegungen sterbenden Pferdes durch das unbewegte, aber dreidimensionale Bild des Stereoskops zeigt. So vereint der Blick durch das ruizsche Stereoskop die präfilmische Ästhetik der Bewegungs­ darstellung mit der Illusion räumlicher Tiefe im zweidimensionalen Bild. Normally, we confine this stereoscopic effect, which gives an impress of reality in depth of the world around us, to perception in space. Proust undertakes a transposition of spatial vision into a new dimension. The accumulation of optical figures in the Search gradua­ lly transposes our depth perception of space into time,525 schreibt Shattuck. In Ruiz’ filmischer Interpretation des Stereoskopeffekts wird das laufende zum sterbenden Pferd. Wenn die Zeit zum Raum wird, wird der Tod sichtbar. Marcel setzt seinen Gang Richtung Fenster fort und sieht ohne optisches Instrument heraus. Ein Gegenschuss fängt ihn nun von außen hinter dem Fenster stehend ein – er steht in Tansonville. Es folgt die Einstellung, die Marcel auf dem (nicht kadrierten) Kran der Kamera vor der Häuserwand Tansonvilles herabgleiten lässt. (Seq. 5.18) In dieser schwindelerregenden Erinnerungssequenz wird der Raum als vom sukzessiven Diskurs unabhängige Größe ins Spiel gebracht. In dieser Sonderstellung wird er mit Bedacht inszeniert; häufig in schärfentiefer Zeitlichkeit, in einer Beleuchtung, die das Sehen erschwert und gespickt mit intermedialen Hieroglyphen. Der Raum wird zum topographischen Rätsel. Rohmer denkt den «espace filmique» als mentales Zuschauer­Konst­ rukt der architektonischen Räume einzelner Einstellungen zu einem grö­ ßeren, kontinuierlichen Raum. Es ist die Vorstellung der dargestellten Welt, wie der Film sie in seiner Gesamtheit konstruiert, ein räumliches Pendant zur Diegese.526 Die hier inszenierte Kontiguität verschiedener Zeit­Räume 524 Kravanja 2003: S.  100. Beugnet /  Schmid erkannten hier darüber hinaus eine Anspielung auf Dalis Klassiker Un Chien Andalou (Beugnet / S chmid 2006: S. 147). 525 Shattuck 2000: S. 118. 526 Rohmer 2000: S. 93 ff. Die narrative Montage 235 Seq. 5.18 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609801) Ausschreiten der Vergangenheit (0:10:33–0:10:50). etab liert das gesamtfilmische Konstrukt, in dem die Räume in unterschied­ lichen Konstellationen erneut zum Objekt der Erinnerung werden, als durchschreitbares Gebäude, in dem weit entfernte Erinnerungsräume (etwa das Tansonville der Kindheit und das Paris des Alters) sich in Gleichzeitig­ keit nebeneinander konfigurieren. Damit greift Ruiz strukturell die Anlage der Recherche auf, die im «Zickzack»527 ihrer Makrostruktur die Mikrostruktur der Keimzelle des Erwachens übernimmt. «Die Zeitbilder lassen die chronologische Sukzes­ sion hinter sich»,528 schreibt Deleuze. Diese wird in der hier beschriebenen Sequenz ersetzt durch eine räumliche Kontiguität von zeitlich und räumlich weit entfernten Erinnerungen. Poulet hat in seiner grundlegenden Untersuchung zum Raum in der Recherche die Aspekte der Trennung und Überwindung des Raums als Leit­ motive der Erzählung herausgestellt, deren Ziel es ist «les lieux […] des îles dans l’espace, des nomades, de ‹petits univers à part›»529 zugänglich werden zu lassen. Im Prinzip der kollabierenden Distanzen analogisiert die Reise in der Recherche das Motiv der mémoire involontaire. In dieser Hinsicht defi­ niert Poulet jede Reise als magisches, ja sogar übernatürliches Erlebnis.530 527 Genette 2010: S. 49. 528 Deleuze 1991b: S. 204. 529 Poulet 1982: S. 51. 530 «Tout voyage, même sans tapis volant, est pour Proust une action magique, magique ou, si l’on veut, surnaturelle» (Poulet 1982: S. 94). 236 Zur Spatialisierung des discours Die ideale Reise schafft die Distanzen ab und plaziert Orte, die vormals unvereinbar schienen, in direkter Nachbarschaft.531 Der Erzähler der Recherche spricht hier von einem Sprung («en un bond»532), der im Reiseerlebnis wie in deren Imagination von einem Aus­ gangs- zu einem Zielort führt, als würde er zwei unvereinbare Individuen zusammenführen. Der «bond» entspricht einer literarisch formulierten Montage durch den Schnitt, insbesondere durch den deleuzeschen «irrati- onalen,533 der unvereinbare Klassen in Beziehung setzt und dabei als Zwi­ schenraum spürbar bleibt: «Un village, qui semblait dans un autre monde que tel autre, devient son voisin.»534 Im theatralisch inszenierten Moment des Türöffnens äußert Ruiz das transmediale Prinzip der de Hoochschen Interieurs, das der Erzähler in Bezug auf die Musik etabliert: Il commençait par la tenue des trémolos de violon que pendant quel­ ques mesures on entend seuls, occupant tout le premier plan, puis tout d’un coup ils semblaient s’écarter et, comme dans ces tableaux de Pieter de Hooch, qu’approfondit le cadre étroit d’une porte entr’ou­ verte, tout au loin, d’une couleur autre, dans le velouté d’une lumière interposée, la petite phrase apparaissait, dansante, pastorale, inter­ calée, épisodique, appartenant à un autre monde.535 So montiert Ruiz mit der ersten Erinnerungssequenz die distanten Räume als unmittelbar begehbare. Auf das Kinodispositiv übertragen, rekonstru­ iert das proustsche Montageprinzip der «distance qui relie» die Trennung der Räume im Kinodispositiv, deren Nähe­Illusion zwingend an die Dis­ tanz gekoppelt ist,536 als Charakteristikum des erzählten Erinnerungsge­ 531 «Bref, le voyage idéal est, pour Proust, celui qui, abolissant d’un coup les distances, place côte à côte, comme s’ ils étaient contigus et même communicants, deux de ces lieux dont l’originalité faisait pourtant qu’ ils semblaient devoir exister pour toujours à part l’un de l’autre, sans possibilité de communication» (Poulet 1982: S. 95). 532 «Mais enfin le plaisir spécifique du voyage … c’est de rendre la différence entre le départ et l’arrivée non pas aussi insensible, mais aussi profonde qu’on peut, de la ressen­ tir dans sa totalité, intacte, telle qu’elle était en nous quand notre imagination nous por­ tait du lieu où nous vivions jusqu’au cœur d’un lieu désiré, en un bond qui nous semblait moins miraculeux parce qu’ il franchissait une distance que parce qu’ il unissait deux individualités distinctes de la terre …» (RTP I: S. 644). 533 Deleuze 1991b: S. 236. 534 RTP II: S. 996. 535 RTP I: S. 218. 536 Cf. u. a. Paech 1991: S. 782. Die narrative Montage 237 bäudes. Auch hier spiegeln sich der artistische und der ästhetische Pol der Filmbetrachtung. Wenn das moderne Kino über den irrationalen Schnitt Nähe über Distanz schafft, verweist es hierin auf ein Kennzeichen der filmischen Rezeptions­ situation, die das continuity system des Bewegungs­Bildes verdrängt. Allem Anschein nach zeichnet sich die Recherche in ihrer Konstruktion von Erin­ nerung, die in der Narration in der Distanz von Erzählendem und Erzähltem und im discours in der Zerstückelung der erzählten Einheiten sowie im Mon­ tageprinzip der verbindenden Distanzen immer wieder eine Einheit über den Bruch entwickelt, durch eine aisthetische Nähe zum Kinodispositiv aus. 5.2.3 Superposition der Zeiträume – die Laterna Magica als Montageprinzip Das Prinzip der «distance qui relie» konzentriert sich in der Doppelbild­ lichkeit der Laterna Magica, dem historischen Vorläufer des Films, deren an einandergereihte unbewegte Bilder im 17.  Jahrhundert noch manuell bewegt werden mussten.537 Für die Recherche kann dieses Bildmedium durch die Platzierung in der «Keimzelle» und die leitmotivische Wiederaufnahme in unterschiedlichen Kontexten als programmatisch aufgefasst werden. Proust entwickelt in der Laterna­Passage der Recherche die Beschreibung der geisterhaften Übernatürlichkeit, die sich bereits in Jean Santeuil538 fin­ det, weiter, indem er die historischen Phantome nun entscheidend an Wirk­ 537 Zielinski 2002 stellt in seiner Archäologie der Medien die filmgeschichtliche Bedeu­ tung Athanasius Kirchers Ars magna lucis et umbrae (Kircher 1646) heraus, ein Werk, auf das Ruiz in Bezug auf seine filmischen Spiegel-Spiele verweist (Zielinski 2002: 160 f.; Ruiz 2000: S. 79). Der Jesuit Kircher hatte die zweite Ausgabe seiner Ars magna um eine Bauanleitung der Zauberlaterne erweitert, als deren Erfinder er nunmehr galt. In sei­ nen Abhandlungen zur Optik bindet Kircher den metaphysisch­göttlichen Aspekt des Lichts an den wissenschaftlichen. Dabei entwirft er ein neues Bildverständnis, welches das Bild aus der Reflex-Relation zur Wirklichkeit führt und ihm eine eigene Realität zuschreibt. «Ars magna lucis et umbrae in mundo, atque adeo universa natura, vires, effectusque uti nova, ita varia novorum reconditiorumque scpeciminum exhibitione, ad varios mortalium usus, panduntur», untertitelt er sein Werk. 538 «[…] ayant ôté de la vieille lampe de travail son abat­jour de carton vert, on appli­ quait à son verre un réflectuer: et déjà, la lumière, tout à l’heure paisiblement étalée sur la table, dans la chambre soudain obscucie éclairait mystérieusement une place sur le mur. Et voici tout d’un coup sur ce simple mur tendu de papier à dessins gris, au­dessus du veux canapé noir, comme si un vitrail surnaturel, non pas en verre bleu, rouge, violet, mais comme une apparition de vitrail en apparence de verre, en clarté rouge, bleue, vio­ lette, s’avançait en tremblant, en avançant et reculant, à la manière des fantômes et des reflets» (Proust 1952: S. 180 f.). 238 Zur Spatialisierung des discours lichkeit gewinnen lässt. Die fiktiven Gestalten verleiben sich den realen Raum ein; der Schein interagiert mit dem Sein: Si on bougeait la lanterne, je distinguais le cheval de Golo qui con­ tinuait à s’avancer sur les rideaux de la fenêtre, se bombant de leurs plis, descendant dans leurs fentes. Le corps de Golo lui-même, d’une essence aussi surnaturelle que celui de sa monture, s’arrangeait de tout obstacle matériel, de tout objet gênant qu’il rencontrait en le prenant comme ossature et en se le rendant intérieur, fût­ce le bouton de la porte sur lequel s’adaptait aussitôt et surnageait invinciblement sa robe rouge ou sa figure pâle toujours aussi noble et aussi mélancoli­ que, mais qui ne laissait paraître aucun trouble de cette transverté­ bration (RTP I: S. 9 f., Hervorhebung d. Verf.). Zwei Aspekte prägen die visuelle Ästhetik der Laterna Magica; die unauf­ haltsame Bewegung der stillstehenden Bilder («Et rien ne pouvait arrêter sa lente chevauchée», RTP I: S. 9 f.) und die Neu-Konfiguration von Raum und Zeit der unmittelbaren Umgebung. In der Projektion auf die Wand des Kinderzimmers legt sich ein Bild aus mittelalterlicher Zeit über die Gegen­ wart des Raumes, verhüllt diesen jedoch nicht: Wand und Bild erscheinen in gleichzeitiger räumlicher Schichtung, wie Poulet festgestellt hat: En projetant une image sur un mur, la lanterne recouvre le mur, mais elle ne le voile pas; si bien que l’image et le mur apparaissent simul­ tanément l’un au­dessous de l’autre (RTP I: S. 11). Poulet sieht hier eine bildästhetische Parallele zum Ende von Le Temps re - trouvé, der «géants […] juchés par Proust sur des hauteurs faits de couches successives et semi­transparantes de durée»539  – im Erlebnis der Later­ naprojektion wird die räumliche Dimension der durée greifbar. Die Nähe der Laterna Magica zur kinematographischen Darstellung ist kaum jeman­ dem entgangen, der sich mit dem Komplex von Film und Proust beschäf­ tigt hat:540 Howard Moss macht in The Magic Lanterne of Marcel Proust 539 Poulet 1982: S. 117. 540 Roloff formuliert: «Was das Kino betrifft, so scheint es, als ob bei Proust die Spann­ weite zwischen einer ‹ursprünglichen› Faszination der Laterna magica und der spä­ teren programmatischen Skepsis gegenüber einer nur vordergründigen ‹vision ciné­ matographique› in Le Temps Retrouvé besonders groß ist; aber beide Positionen sind in der medienästhetischen Konzeption der Recherche unlösbar miteinander verbunden» (Roloff 2005: S. 15). Kravanja betont das fantastische Moment, das Laterna Magica und Film teilen (Kravanja 2003: S.  98  f.). Den metapoetischen Schwerpunkt der Laterna Die narrative Montage 239 die grundlegende Dualität des Laternabildes sogar als gesamtliterarische Struktur der Recherche aus: If there is a duality in the viewpoint of the novel (Marcel, the obser­ ver; Marcel, the observed), in its structure (the two ways) and in its theme (the problem of a reality equally perceptible in the opposed dimensions of the microscope and the telescope, the present and the eternal), there is also a duality in its subject matter in plain terms of human consciousness.541 Was Moss grundsätzlich in der Gestalt Mlle de Saint­Loup inkarniert sieht542 – die Verschmelzung der heterogenen Elemente – findet ein weiteres Bild in der Laterna Magica. In ihrer essentiellen Durchtränkung von zeit­ lich Ungleichem, von Aktuellem und Virtuellem, von Realem und Imagi­ närem und dem dadurch entstehenden Bruch im visuell einheitlich auftre­ tenden Bild wird sie zu einem weiteren Ausdruck des literarisch­bildhaften Stil­Programmes, wie es in Bezug auf die métaphore­Inszenierung des Port de Carquethuit und die Zugpassage bereits dargestellt wurde. Es ist darüber hinaus das Prinzip des deleuzeschen Zeitbildes: Blicken wir in den Kristall, dann nehmen wir nicht mehr den empi­ rischen Verlauf der Zeit als Sukzession der Gegenwarten wahr, auch nicht mehr ihre indirekte Repräsentation als Intervall oder Ganzes, sondern ihre direkte Darstellung, ihre konstitutive Verdopplung in vorübergehende Gegenwart und sich bewahrende Vergangenheit, die strikte Gleichzeitigkeit der Gegenwart mit der Vergangenheit, die sie sein wird, der Vergangenheit mit der Gegenwart, die sie gewesen ist.543 Magica (im Gegensatz zum Film) erklärt Warning mit der medial assoziierten «Umpo­ lung von der Veranschaulichung imaginärer Zeit auf die Vorstellbarkeit der Zeit des Imaginären. Weist Veranschaulichung noch auf Mimesis von Zeit an Objekthaftes, so Vorstellbarkeit auf das reine Simulacrum, auf ein Faszinosum, das zusammenbricht, um gleich darauf in neuer Form wiederzuerstehen – eine auf den Tod zulaufende Alternanz von Aufschwung und Absturz» (Warning 2000: S. 227). Oster-Stierle fügt das Moment des Palimpsests hinzu: Mit der Laterna Magica «[…] gelingt es ihm, einen bewegten, dyna­ mischen Palimpsest der Erinnerungsbilder zu visualisieren» (Oster-Stierle 2005: S. 118). 541 Moss 1962: S. 14. 542 «[…] in the person of Mlle de Saint­Loup, Swann’s way and the Guermantes way become one. […] beyond the outwardly perceptible, we come upon a world equally illu­ sory. Nothing exists until it is connected by memory to a former experience; the connec­ tion between two nonrealities gives them an existence» (Moss 1962: S. 110). 543 Deleuze 1991b: S. 350. 240 Zur Spatialisierung des discours Ruiz integriert dieses fundamentale Prinzip der Erinnerung in die Sequenz der benachbart­fernen Zeiträume: Als die Kamera den neugierigen Blicken der invités in das Nachbarzimmer folgt, zeigt sie dort in verfremdender Weitwinkeleinstellung tief im Raum den jungen Marcel mit seiner Laterna Magica (0:09:20). Nur die untere Bildhälfte ist ausgeleuchtet. Im Zwielicht des Bildrandes wird über Doppelbelichtung ein anderer Raum angedeutet, der zunehmend an Wirklichkeit gewinnt, obwohl die Statisten, allesamt sekundäre Darsteller der späteren Matinée, in unnatürlichem Stillstand verharren. Die von Odette herbeigerufenen Gäste, die folgend im Türrah­ men kadriert werden, erscheinen in ihrer statuesken kalkweißen Maske noch irrealer (Seq. 5.19). Seq. 5.19 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609802) Die Gäste als Statuen (0:08:25–0:08:50). Nachdem die erinnerten Gäste in Maske, Kostüm, Licht und Musik verfrem­ dend entindividualisert wurden, fungieren sie in Marcels Projektion der Laterna als farblose Leinwände, auf denen sich das mittelalterliche Eifer­ suchtsdrama materialisieren kann. Dabei interagieren Projektionsfläche und Projektion in gleichzeitiger Aktualität und Virtualität miteinander und entheben damit das Bild jeder Zeitzuweisung. Die in der Kindheit geschaute (und damals auf Swann projizierte) Eifer­ sucht wird als überzeitliches Motiv auf verschiedenen Projektionsflächen Halt finden. Aus der Interaktion von Projektionsfläche und Projektion kris­ tallisiert sich ein serielles Motiv, das zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Aktualität und Virtualität keiner Zeitzuweisung bedarf. In einem der wenigen expliziten Hinweise auf den Zusammenhang des Zeit­Bildes mit der Recherche formuliert Deleuze: Die narrative Montage 241 Proust bedient sich folglich kinematographischer Begriffe: «die Zeit lässt den Schein ihrer Laterna Magica über (die Körper) hingleiten» und die Einstellungen in der Bildtiefe koexistieren.544 Wenn Ruiz seinem Marcel eine Laterna Magica in die Hand gibt, führt er die Form, in der Marcel seine Figuren zu flächigen Leinwänden seines eige­ nen páthos macht, auf einen Vorläufer des Films zurück. Dies betont er im Moment der omnipräsenten Bewegung, die sowohl das projizierte Bild als auch den Projizierenden kennzeichnet: Statt das Medium auf dem Nacht­ tisch zu platzieren, bewegt sich Marcel im Raum, im Schattenbild wird er einem Kameramann erstaunlich ähnlich (Seq. 5.20 und 5.21). «Je vous gêne peut­être? Vous voulez que j’arrête?», fragt Marcel mit sei­ ner unschuldig kindlichen Stimme (0:10:16). Mit dem kurzen Blick des Kin­ des in den Zuschauerraum und dem Aufblenden des Projektorenlichtes in der Kamera wird deutlich, dass diese Frage auf den Zuschauer abzielt. Wie Beugnet / S chmid anmerken, muss dieser durch den Einbruch des kindlichen Marcels die Zusammenhänge von Zeit und Raum neu deuten,545 Marcel als Kind «stört» demnach tatsächlich die bequeme fascination der Zuschauer. Wenn folgend im klassischen Gegenschuss nun wieder die Gesellschaft in Farbe eingefangen wird (0:09:23), scheint für einen Augenblick die verstö­ rende Entmenschlichung wie eine optische Täuschung. Doch schließt sich mit diesem Schnitt keineswegs die Rückblende aus dem Salon Verdurin. Nach dem nächsten over-the-shoulder-shut ist die Tür, die in der mentalen Raumkonstruktion des Zuschauers der zum Salon entsprechen müsste, wie­ der verschlossen. Wenn Marcel sie nun öffnet, wiederholt der Ton das laute Knarren der Tür, das anschließend von den düster­onirischen Impression n°3 unterlegt wird (0:10:35). Marcel betritt nun den zeitlich nicht zuweisbaren leeren Salon, um mit einer Figur einer anderen Zeit (dem Militär Saint-Loup) in Konversation zu treten – die Verstörung des Zuschauers wird über die gesamte Sequenz fortgetragen. Das Stören der fascination setzt sich in der distanciation fort; die visuellen Hieroglyphen wollen dechiffriert werden – doch ist ihr Antilogos nie vollends aufzulösen. Die grundlegenden hermeneutischen Fragen nach der Strukturierung der Zeit und den Wirklichkeitsebenen (was ist imaginär, was real?) sind nicht zu beantworten. Ist Marcels Kindheit ein virtueller Nebenraum der Matinée oder ist der Blick auf die Gäste gleichsam ein Blick in die Zukunft? Die «vue optique des années» (RTP III: S. 925) der Laternaprojektion ist eine der Entzeitlichung. Das mittelalterliche Spektakel tritt in den aktuellen 544 Deleuze 1991b: S. 58 f. 545 Cf. Beugnet / S chmid 2006: S. 159. 242 Zur Spatialisierung des discours Seq. 5.20 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609803) Die Gäste als Leinwand (0:08:54–0:09:16). Seq. 5.21 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609804) Marcel: «Je vous gêne peut-être?» (0:09:17–0:09:22). Raum (der seinerseits wie alle anderen erinnerter Raum ist). Der erzählende Diskurs, der dieses räumliche Prinzip verzeitlicht, springt in den Zeiten, die sich gegenseitig durchtränken können, da sie im «édifice du souvenir» gleichzeitig auftreten. Keine erinnerte Zeit ist prinzipiell aktueller oder vir­ tueller als eine andere. Dies wurde bereits am Beispiel der Zugfahrt deutlich, in der die Ein­ heit der Einstellung das schärfentiefe Bild im Diesseits und Jenseits der Die narrative Montage 243 Fensterscheibe als vorläufig intellektuell trennbare aktuelle und virtuelle Zeit vorführt, bis nach dem Schnitt die Realität der gesamten Zugfahrt in Frage gestellt wird, indem sie das aus dem Zug betrachtete Bild als Photo­ graphie in den Boulevard Haussmann verfrachtet. Ob die Zugfahrt stattge­ funden hat, oder nur als Metapher des Ich auf der Zeitreise der Erinnerung zu verstehen ist, bleibt offen. Die Laterna Magica verdichtet dieses Prinzip in ihrer Doppelbildlichkeit, die eine Hierarchisierung der Wirklichkeitse­ benen untergräbt. Indem Ruiz die Gäste der Matinée als Projektionsflächen der kindlichen Laterna in einem Gegenschuss aus dem Blick in den Kind­ heitsraum durch die offenstehende Tür fasst, analogisiert er das Nebenein­ ander mit dem Übereinander von Imaginärem und Realem und setzt in der Form eine Interdependenzrelation zwischen (räumlicher) mise en scène und (zeitlicher) Montage. Virtualität und Aktualität werden als ununterscheid­ bare Räume begehbar, wie die «appartements» (RTP II: S. 980) von Traum und Wirklichkeit, die sich im Moment des Erwachens superpositionieren (RTP II: S. 985). Poppe betrachtet die Doppelbelichtung als adäquates cineastisches Gestaltungsmittel und moniert den sparsamen Einsatz: Diese Überlagerung […] hat ihr filmisches Pendant in der Doppelbe­ lichtung zweier Bilder. […] Allerdings setzt er (Ruiz) dieses filmische Mittel relativ selten und in eher banaler Weise ein (cf. Ruiz, Le temps, 0:21, 0:37, 0:38, 0:39). Die filmische Möglichkeit der Doppelbelichtung, die bereits im Text angedeutet wird und strukturell der «memoire involontaire» sehr nahe kommen würde, bleibt von Ruiz demnach weitestgehend ungenutzt. Statt dessen setzt er wiederholt Spiegel ein, um zwei verschiedene Perspektiven oder Bilder miteinander zu verbinden; das Spiegelmotiv hat allerdings bezüglich der «memoire involontaire» keine Funktion. Für die Darstellung des Erinnerungs­ mechanismus wird folglich kein spezifisch filmisches Äquivalent eingesetzt, was ihrer Vermittlung auf visueller Ebene die Komplexi­ tät nimmt.546 Einmal abgesehen davon, dass die mémoire involontaire gerade in der von Athanasius Kircher bis hin zu Deleuze dicht semantisch besetzten Hiero­ glyphe des Spiegels einen kongenialen Ausdruck findet, lässt diese Kri­ tik außer Acht, dass sowohl Literatur als auch Film als diskursive Medien beide Aspekte der Zeit auszuführen haben: Nicht nur den außerzeitlichen in der spatialisierten Form doppelbelichteter Aktualität und Virtualität 546 Poppe 2007: S. 162. 244 Zur Spatialisierung des discours (der mémoire involontaire), sondern auch die Übertragung dieses métapho- re­Prinzips in die Diachronie der Erzählung. Die damit einhergehende Spa­ tialisierung des Diskurses übersetzt Ruiz geradezu genial in das Motiv des ausschreitenden Ganges, der Tür um Tür die gleichermaßen aktuellen wie virtuellen Räume öffnet. Mit der Relationierung von Laterna Magica und den de Hooch’schen Türen als verschiedenen Ausdrucksformen derselben Idee von Raumzeit in ihrer spatialen und diskursiven Form entgeht Ruiz einer wörtlichen Umsetzung von Superpositionen als Häufung von Dop­ pelbelichtungen und entwirft stattdessen auf subtile Art das Prinzip zeitli­ cher Beschreibung der Recherche als umfassendes filmisches Hyalozeichen der Montage, in der Bilder fähig sind, aus dem Jetzt in das Früher, in das Später und in die Außerzeitlichkeit zu spiegeln. Diese zeitlichen Spiegel, in denen sich Aktuelles mit Virtuellem bricht, unterlaufen, wie Genette in der mikrostrukturellen Ordnung des Textes nachgewiesen hat, die gesamte lite­ rarisch­diskursive Bewegung des Prätextes, in deren Erzählung kein Zeit­ punkt als aktueller ausgemacht werden kann.547 Ruiz hatte dies als Charakteristikum seines Kinodispositivs im rezipro­ ken Blick zwischen Zuschauerraum und Raum der Leinwand festgemacht, deren Wirklichkeitswert in ihrer gegenseitigen Projektion nicht zu unter­ scheiden ist. Dieses Verhältnis von Imaginärem und Realem hatte er in Le Temps retrouvé verbildlicht, indem er dem kindlichen Marcel einen Kine­ matographen in die Hand gegeben hatte, der den Zuschauerraum zur Lein­ wand werden ließ. So ist das Spiel von Aktuellem und Virtuellem sowohl auf die Konstruktion der Narration als auch auf die narrative Montage des literarischen Diskurses zurückführbar  – und verweist wie nebenbei die kristalline Ästhetik des Zeit-Bildes auf die gleichsam kristalline Aisthetik des ruizschen Kinodispositivs. Wenn Ruiz über längere Passagen tatsächlich die Doppelbelichtung ein­ setzt, geschieht dies nicht allein als Übersetzung der zeitlich überlagerten Bilder des literarischen Prätextes, sondern als komplexer intermedialer Kommentar. Die Lektüre des Journal des Goncourt evoziert in ihrer Visuali­ tät schwindelerregende Kameraachsen auf das Hotel der Verdurin. Sobald die Stimme Goncourts als direktes Zitat aus dem Off eingespielt wird, prä­ sentiert sich das Bild als Begleitung, als mehrfach gebrochenes, dessen bildliche Information in ihrer allumfassenden Bewegung sich der Detail­ genauigkeit der sprachlichen Information widersetzt. Die nächste Einstel­ lung gibt durch die geöffnete Tür den Blick in die langen Gänge des Hotels frei, durch die der nächste Gang gebracht wird (Seq. 5.22). 547 Cf. Genette 2010: S. 25 ff. Die narrative Montage 245 Seq. 5.22 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609805) Die langen Gänge des Hotels (0:33:05–0:34:10). In der onirischen Inszenierung der Räumlichkeiten (und der begleitenden Filmmusik) ruft diese Sequenz Erinnerungen an einen Meilenstein der Filmgeschichte wach: Die Koproduktion von Romanautor und Filmemacher zu Robbe­Grillets bzw. Resnais L’Année dernière à Marienbad (1961), in deren erster Sequenz die Erzählerstimme aus dem Off die schier endlose Kame­ rafahrt durch die Hotelgänge begleitet: Une fois de plus – je m’avance, le long de ces couloirs, à travers ces salons, ces galeries, dans cette construction  – silencieux, déserts, surchargés d’un décor sombre et froid de boiseries, de stuc […].548 Auch in Ruiz’ Le Temps retrouvé begibt sich die Kamera auf labyrinthi­ schen Wegen durch Gänge und Räume, in denen sich die Zeiten brechen, als führe die Kamera die Windungen der Synapsen des Erzählers ab. Ruiz setzt hier dem literarischen Pastiche ein filmisches gegenüber:549 Nach dem nächsten Schnitt spricht Goncourt am Tisch der Verdurin  – es ist Robbe­Grillet. In Ruiz’ Film spricht ausgerechnet der Schöpfer des oniri­ 548 Robbe-Grillet 1961: S. 24 f. 549 Im mise-en-abîme-Spiel hängt der Cineast einen Gobelin an die Wand, auf dem die Gäste abgebildet sind. Der Tafelraum wird Teil des mentalen Palastes, in dem sich der (erinnerte) Blick auf das Objekt und das blickende Subjekt gegenseitig bedingen und das Erinnerungsgebäude als weitere Ausdrucksform des Ich fassbar wird. So interagiert die Darstellungsebene der Erzähler­Kamera mit dem kadrierten Erzähler und dem kadrier­ ten Filmraum in einer komplexen Figuration von Blicken und Erblicktwerden. 246 Zur Spatialisierung des discours schen ciné-roman par excellence, der mit seinem Film um Lüge und Wahr­ heit, Erinnern und Vergessen Geschichte schrieb, in der Rolle des (wahr­ haften) Realisten (Seq. 5.23). Seq. 5.23 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609806) Robbe-Grillet (0:34:10–0:34:17). Deleuze beschreibt Resnais’ Kino als Reise im Gehirn. Mit der Anspielung aus L’Année dernière à Marienbad kommentiert Ruiz die ungeheure Nähe, die der literarische Prätext im Ausschreiten seiner Erinnerungsräume mit dieser Form von Film aufweist. Die Ebene der diskursiven Bewegung des Geistes ergänzt dabei die des körperlichen Raumes, die in Bezug auf die mentale Montage von Bild­ und Ton­Elementen le Temps zugeschrieben wurde. Gegen Ende des literarischen Diskurses führt in Le Temps retrouvé die verschachtelte Erinnerung an in der Zeit früher und später erfahrene Momente, die sich über den gleichen Affekt superpositionieren lassen, für den Erzähler zum Beschluss, ans literarische Werk zu gehen. Dies geht ein­ her mit dem Bestreben, Zeit sichtbar zu machen. Alors, je pensai tout d’un coup que j’avais encore la force d’accomplir mon œuvre, cette matinée  – comme autrefois à Combray certains jours qui avaient influé sur moi  – qui m’avait, aujourd’hui même, donné à la fois l’idée de mon œuvre et la crainte de ne pouvoir la réa­ liser, marquerait certainement avant tout, dans celle­ci, la forme que j’avais pressentie autrefois dans l’église de Combray, et qui nous reste habituellement invisible, celle du Temps (RTP III: S. 1045). Die narrative Montage 247 Hier bezieht der Erzähler den Affekt des schriftstellerischen Wollens in der Zeit auf eine Idee der Zeit als Dimension. In dieser spatialisierten Form wurde le Temps in seiner allegorischen Gestalt etwa hundert Seiten vorher in visueller Analogie zur Laterna Magica gefasst: Le Temps qui d’habitude n’est pas visible, qui pour le devenir cherche des corps et, partout où il les rencontre, s’en empare pour montrer sur eux sa lanterne magique, écartelant les morceaux et les traits d’un visage qui vieillit, suivant sa dimension inconcevable (RTP III: S. 924 f.). Die Laterna Magica ist als Medium dazu imstande, die Zeit in der Schich­ tung von Virtuellem und Aktuellem sichtbar zu machen. Ruiz, den beson­ ders die Vorstellung der proustschen Zeit als Dimension faszinierte, führt in einem Interview die Problematik ihrer Sichtbarkeit an: [Einstein], pendant longtemps, se demandait pourquoi, si le temps est une dimension, on ne pourrait pas la voir, comme on voit la pro­ fondeur, la largeur ou la longueur. Pourquoi le temps, qui est aussi une dimension comme celles qui forment l’espace, ne peut­il être vu que par bribes. Pourtant, en des moments particuliers, certains mys­ tiques, paraît­il, parviennent à avoir la perception du temps comme totalité. Non que l’on soit en dehors du temps, comme si celui­ci n’existait plus, mais on est au contraire pris par le temps en tant que dimension.550 Indem Ruiz den kleinen Marcel (als Objekt der Erinnerung) zum Subjekt der Projektion doppelbildlicher Konstellationen macht, in der die zeitlich später einzuordnende Gesellschaft als Leinwand herhält, gelingt es ihm, die Visua­ lisierung dieser Zeit als Dimension an die filmische Rezeptionssituation zu binden, in der Imagination und Realität im Moment der Lichtprojektionen gleichermaßen wirklich erscheinen. Der filmische Diskurs, der diese Art der Zeitbilder über irrationale Schnitte ineinander spiegelt, macht über das Moment des Türöffnens den Palast der Erinnerung in der Form ineinander verschachtelter Räume ausschreitbar und überführt damit die räumliche Zeitdimension in das filmisch-zeitbildliche Lichtbad, in dem die «géants […] juchés par Proust sur des hauteurs faits de couches successives et semi­trans­ parantes de durée»551 ihren Platz finden. So wird der Körper der Zeit zum schärfentiefen Raum und der Geist der Zeit zur diskursiven Bewegung. 550 Ruiz 1999: S. 75. 551 Poulet 1982: S. 117. 248 Zur Spatialisierung des discours 5.2.4 Das Montageprinzip der Substitution Die Wahrheit der métaphore wurde oben als Stilmittel auf das Erkennen der subjektbezogenen Selbigkeit zurückgeführt, das über die grundlegende Alterität führt.552 Sie ist dabei gleichzeitig der Weg wie das Obstakel zur Erkenntnis, da sie die Eigenheit hat, in der für sie konstitutiven Substitution des Einen mit dem Anderen die Sicht auf das Selbige zu verschleiern. Dies gilt ebenso für die eigene Substitution des «moi de rechange» wie für die verschiedenen Bilder, in die das Ich seine Affekte übersetzt. Ruiz legt die lose Reihung sich ersetzender Bilder als komplexe Methode filmischer Montage dar. Dies zeigt sich am eindringlichsten in einer Sequenz um das Sujet der Eifersucht bzw. der Libertinage, die weder in Anfang noch Ende eindeutig bestimmbar ist und damit letztlich allein in der offenen tex­ tuellen Struktur des Films verankert bleibt: Es ist die Sequenz der Erinne­ rung an die erhaltenen Briefe der Geliebten, die hier im Beginn an die Erin­ nerung der Herboristerie in Tansonville angesetzt wird (Seq. 5.24; 0:23:17 ff.): Seq. 5.24 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609807) Albertinage – Libertinage (0:23:05–0:27:05). Die Klammer, die mit der Erinnerung im Raum der Herboristerie begonnen wird, in die Proust und Gilberte sich vor dem Regen geflüchtet hatten, wird nicht geschlossen – das «handlungslogisch definierte Segment» der Sequenz bleibt in einer sowohl räumlichen als auch zeitlichen Schwebe, in der sich Momente aus der Einstellung zu lösen scheinen, als würde sich das Bild 552 Cf. Kapitel «5.2.1 Die métaphore als zeitbildliches Montageprinzip»: S. 224 ff. Die narrative Montage 249 verselbstständigen. Die Dunkelheit, das Unwetter, die Unsicherheit der Identitäten (Albertine / G ilberte?), die über die Unsicherheit des Geschlech­ tes (Alberte?) zum Motiv der Libertinage führt, ersetzt eine sensomotorische Handlungslogik mit der semantischen Explosion des Bildes. Dabei fasst die Kamera etwa die Dunkelheit und das Unwetter als schein­ bar überzeitliches und überräumliches Moment,553 das sowohl die Zeit von Prousts Kindheit mit der nahen Vergangenheit verbindet als auch den Raum Gilbertes mit dem Raum Rahels. Gestützt wird diese Verbindung wie in den oben beschriebenen Momenten der unwillkürlichen Erinnerung über Interferenzen in der Tonspur. Neben Lichtgebung und Ton verweben Farben (Rosa) und Dekor (die Photographien, Spiegel, Fensterscheiben) die erzäh­ lenden Bilder zu einem dichten Teppich, in dem sich Räume in Tonmischun­ gen verschachteln und Zeiten in visuell­leitmotivischer Inszenierung ihrer Chronologie enthoben werden: Hier ist die Öffnung absolut, Photographien, Fensterscheiben bzw. Spiegel, Dunkelheit und Unwetter öffnen die Sequenz spiegelkabinettartig über irrationale Schnitte554 in verschiedenste Räume und Zeiten, während der Raum der anfänglichen Erinnerung nicht mehr erwähnt wird. Die Denkbewegung der Inszenierung führt nicht mehr zum hand­ lungslogischen Segment, sie löst sich als «azentrische Struktur»555 in stete Neuverkettungen. Die Schriftzüge Albertines bzw. Gilbertes weisen nicht mehr wie in Stummfilmzeiten als Erklärung in die nächste Szene ein, son­ dern verweisen essentiell auf die Veränderung der Zeiten und damit gleich­ zeitig auf die Unmöglichkeit endgültiger Dechiffrierung. «Libertinage» bleibt als einziges Moment der apparence bestehen, das Albertine, Gilberte, Rahel und schließlich auch Robert in ihrer sexuellen Ambivalenz verbin­ det. Der Schriftzug tritt als Hyalozeichen auf, in dem das Aktuelle mit dem eigenen Virtuellen in Beziehung tritt – «Es verdoppelt sich, verzweigt sich, widerspricht sich.» Deleuze nennt diese Art von Zeichen «Spiegel der Zeit». 553 Wie die rosafarbene Rose in der Deliriumssequenz wird der Regen in der Einstel­ lung auf die Photographie bzw. den Brief Gilbertes / A lbertines in das hors-champ vor dem Raum der Diegese versetzt. Dies wird deutlich, wenn die Photographie umgedreht wird: Eine Lichtquelle projiziert den Regen durch eine Glasscheibe auf das Bild. Hier äußert sich die deleuzesche Theorem­Struktur, die bei Ruiz nicht nur das Denken «in das Bild» versetzt, sondern es gleichzeitig in ein «Außerhalb» verweist (cf. Deleuze 1991b: S. 226). 554 «Der Schnitt [ist] im modernen Kino zum Zwischenraum geworden, er ist irratio­ nal und ist weder Bestandteil des einen noch des anderen Ensembles, von denen das eine ebenso wenig ein Ende wie das andere einen Beginn hat.» (Deleuze 1991b: S. 236; «irrati­ onal» hier wiederum zitiert von Albert Spaier, nach dem «die rationale Zahl entweder in der niederen oder in der höheren Klasse des Schnitts enthalten sein muss, während die irrationale Zahl weder Teil der einen noch der anderen Klasse ist, die sie trennt» (Spaier 1997: S. 158, Deleuze 1997: S. 236). 555 Ibid.: S. 272. 250 Zur Spatialisierung des discours Wenn Ruiz über den Schriftzug der «libertinage» eine ganze Kette sich ersetzender, mit qualvoller Eifersucht betrachteter Figuren entfesselt, die sich durch integrierte Standbilder (Photographien) untereinander in Bezie­ hung setzen, weist er damit auf einen Grundzug der proustschen Bildkon­ figuration hin, die sich in der Ästhetik des rêve éveillé leitmotivisch äußert: die Substitution des Bildes bzw. des Namens. Die kinematographische Leitung der Sequenz um die libertinage über Photographien, in der sich aktuelles und imaginäres Bild gegenseitig sub­ stituieren, verdichtet sich in der doppelseitigen Photographie, die auf ihrer Rückseite ein weiteres Bild (der Eifersucht) bereithält (Seq. 5.25). Seq. 5.25 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609808) Doppelseitige Photographie (0:27:28–0:27:41). Der bildhafte Austausch einer Person durch eine andere geschieht in der Recherche offensichtlich in Träumen, wird jedoch explizit in metapoetische Nähe zur schriftstellerischen Tätigkeit gesetzt: Im Traum Swanns wird er mit einem schriftstellerischen Verfahren analogisiert,556 in Le Côté de Guer- mantes wird dieses Verfahren unabhängig vom Traum als «lois […] du lan­ gage» (RTP II: S. 235 f.) bezeichnet.557 556 «[…] comme certains romanciers, il avait distribué sa personnalité à deux personnages, celui qui faisait le rêve, et un qu’il voyait devant lui coiffé d’un fez» (RTP I: S. 379). 557 Im Kontext geht es um M. de Guermantes, der sich gemäß seiner «classe mentale» (RTP II: S. 236) daran hält, Aussagen über sich selbst über die Substitution der eigenen Person zu leiten. Es ist der Ausdruck «quand on s’appelle [le marquis de Saint­Loup]», der implizit auf die eigene Stellung verweist (RTP II: S. 235). Die narrative Montage 251 Als das erlebende Ich den Traum der Geliebten in À l’ombre des Jeunes Filles en Fleurs als «Joseph et Pharaon» in einer Person deutet, stellt er fest: Je savais que dans beaucoup d’entre eux il ne faut tenir compte ni de l’apparence des personnes lesquelles peuvent être déguisées et avoir interchangé leurs visages, comme ces saints mutilés des cathédrales que des archéologues ignorants ont refaits, en mettant sur le corps de l’un la tête de l’autre, et en mêlant les attributs et les noms. Ceux que les êtres portent dans un rêve peuvent nous abuser. La personne que nous aimons doit y être reconnue seulement à la force de la douleur éprouvée. La mienne m’apprit que devenue pendant mon sommeil un jeune homme, la personne dont la fausseté récente me faisait encore mal était Gilberte (RTP I: S. 629 f., Hervorhebung d. Verf.). Der Erzähler verweist als tertium comparationis auf ein Ur-Gefühl  – die schmerzliche Verlustangst des Liebenden  – die sich in der Recherche in immer anderen Gestalten zeigt. Es sind Bilder der «angoisse», die sich in quälender Liebe entzünden, sobald die Figur sich zu entziehen scheint, so wie es im Ursprung der kleine Marcel im drame du coucher erlebt hatte: […] cette angoisse qu’il y a à sentir l’être qu’on aime dans un lieu de plaisir où l’on n’est pas, où l’on ne peut pas le rejoindre, c’est l’amour qui la lui a fait connaître, l’amour auquel elle est en quelque sorte prédestinée, par lequel elle sera accaparée, spécialisée; mais quand, comme pour moi, elle est entrée en nous avant qu’il ait encore fait son apparition dans notre vie, elle flotte en l’attendant, vague et libre, sans affectation déterminée, au service un jour d’un sentiment, le len­ demain d’un autre, tantôt de la tendresse filiale ou de l’amitié pour un camarade. Et la joie avec laquelle je fis mon premier apprentissage quand Françoise revint me dire que ma lettre serait remise, Swann l’avait bien connue aussi […] (RTP I: S. 30 f., Hervorhebung d. Verf.). Diese «angoisse» (RTP  III: S.  112) manifestiert sich in La Prisonnière in Gestalt Albertines, von deren Gutenachtkuss er so abhängig ist, dass er ihn sich notfalls selbst aufdrückt, indem er die Lippen der Schlafenden an seine Wange führt (RTP III: S. 113). Hier wird ganz offensichtlich die Mutter durch Albertine substituiert: C’était un pouvoir d’apaisement tel que je n’en avais pas éprouvé de pareil depuis les soirs lointains de Combray où ma mère, penchée sur mon lit, venait m’apporter le repos dans un baiser (RTP III: S. 77). 252 Zur Spatialisierung des discours Nichtigkeiten genügen, um die Angst um die Abwesende zu entfachen – «on se croit tranquille, et il suffit d’un mot: ‹Gilberte ne viendra pas›, ‹Mademoi­ selle Vinteuil est invitée›» (RTP III: S. 224). Die «angoisse», den anderen zu verlieren, ist ein omnipräsenter Beglei­ ter jeder Liebe, sie bestimmt die Binnenerzählung um Swann (RTP I: S. 30) ebenso wie die Gefühlswelten der homosexuellen Figuren (cf. RTP III: S. 49). Für das erlebende Ich wird Gilberte durch Albertine substituierbar. Beide verschmelzen in der Signatur des Briefes, den Marcel in Venedig erhält und auf den Ruiz’ Inszenierung anspielt, in der Bedeutungslosigkeit vergange­ ner Lieben einer vorherigen Existenz.558 An späterer Stelle führt der Erzäh­ ler dezidiert alle Geliebten als «filles de notre angoisse» auf die Vergangen­ heit zurück: Or à partir d’un certain âge nos amours, nos maîtresses sont filles de notre angoisse; notre passé, et les lésions physiques où il s’est ins­ crit, déterminent notre avenir. Pour Albertine en particulier, qu’il ne fût pas nécessaire que ce fût elle que j’aimasse était, même sans ces amours voisines, inscrit dans l’histoire de mon amour pour elle, c’est­ à­dire pour elle et ses amies (RTP III: S. 505). Als dezidives Moment der Liebe wirkte auch hier die Eifersucht; hätte etwa Andrée ihre Intimität mit Mlle Vinteuil bekundet, wäre nach Einschätzung des Erzählers seine Liebe auf diese gefallen. Albertines Offenbarung der intimen Freundschaft wird ausdrücklich mit dem Kindheitstrauma von Combray verglichen (RTP  II: S. 1114–1121), die primäre angoisse wird auch hier als Urmotiv der Liebe greifbar. Ruiz nimmt mit Morel und Charlus ein Figurenpaar auf, das der Erzähler selbst im literarischen Prätext als eine Reihe von Substitutionen interpretiert: Ou que son amour pour Morel ayant modifié le type qu’il cherchait, pour se consoler de son absence, il cherchait des hommes qui lui ressemblassent. Une supposition que je fis aussi fut que peut­être il n’avait jamais existé entre Morel et lui, malgré les apparences, que des relations d’amitié et que M. de Charlus faisait venir chez Jupien des jeunes gens qui ressemblassent assez à Morel pour qu’il pût avoir 558 An der entsprechenden Stelle der Recherche konstatiert der Erzähler, dass Albertine durch die Signatur des Briefes nicht wieder auferstehen konnte, weil es dazu einer Wie­ derauferstehung seines vormaligen Ich bedurft hätte, das mit dem Erlöschen der Leiden­ schaft ebenfalls gestorben ist (RTP III: S. 642). Die narrative Montage 253 auprès d’eux l’illusion de prendre du plaisir avec lui. Il est vrai qu’en songeant à tout ce que M. de Charlus a fait pour Morel, cette suppo­ sition eût semblé peu probable si l’on ne savait que l’amour nous pousse non seulement aux plus grands sacrifices pour l’être que nous aimons mais parfois jusqu’au sacrifice de notre désir lui­même qui d’ailleurs est d’autant moins facilement exaucé que l’être que nous aimons sent que nous aimons davantage. Ce qui enlève aussi à une telle supposition l’invraisemblance qu’elle semble avoir au premier abord (bien qu’elle ne corresponde sans doute pas à la réalité) est dans le tempérament nerveux, dans le caractère profondément pas­ sionné de M. de Charlus, pareil en cela à celui de Saint-Loup et qui avait pu jouer au début de ses relations avec Morel le même rôle et plus décent et négatif qu’au début des relations de son neveu avec Rachel (RTP III: S. 818; Hervorhebung d. Verf.). Wenn gilt, dass alle Figuren des Romans Bilder des erzählenden Selbst sind,559 lässt diese Erklärung von Charlus Geliebten den Rückschluss auf die primäre Unterdrückung der physischen Mutterliebe des Erzählers zu, deren spätere Substitutionen nicht über äußerliche, sondern über motivische Ana­ logien ausgelöst werden; über die Verlustangst des schrecklich benötigten Wesens: Ce terrible besoin d’un être, à Combray, j’avais appris à le connaître au sujet de ma mère, et jusqu’à vouloir mourir si elle me faisait dire par Françoise qu’elle ne pourrait pas monter. Cet effort de l’ancien senti­ ment, pour se combiner et ne faire qu’un élément unique avec l’autre, plus récent, et qui, lui, n’avait pour voluptueux objet que la surface colorée, la rose carnation d’une fleur de plage, cet effort aboutit sou­ vent à ne faire (au sens chimique) qu’un corps nouveau, qui peut ne durer que quelques instants. Ce soir­là, du moins, et pour longtemps encore, les deux éléments restèrent dissociés (RTP II: S. 733). In dieser Textstelle wird Albertine zur Oberfläche, zur neuen Projekti­ onsfläche der frühkindlichen angoisse. Die Einheit all der Bilder, die diese Angst im Roman umfasst, entspricht der nachgeburtlich bzw. postnocturn 559 So liest u. a. Mieke Bal die Leseversuche aller bildlichen Zeichen der Recherche pri­ mär als Selbstprojektionen und führt die Passage der Signatur als Beispiel für Prousts «flächige» Wahrheiten an: «With Proust the deepest secrets are not to be found in the depths. […] It is a signature (like Gilberte’s illegible signature). The signature thus traced contains the secret of the hidden identity of the self that is projected onto all the others in whom this ‹I› discovers himself» (Bal 1997: S. 178). 254 Zur Spatialisierung des discours empfundenen Einheit aller Bilder, dem ersten Bild, dessen Suche mit der Suche nach der verlorenen Zeit identisch scheint. Dabei widersetzt sich die komplizierte Natur der Zeichen der Entschlüs­ selung, indem sie hinter der sichtbaren Oberfläche eine unsichtbare Rück­ seite verbirgt, die in der Serie der Zeichen ein Motiv der Eifersucht durch ein anderes ersetzt, um nur die apparence bestehen zu lassen: […] je me disais combien il est difficile de savoir la vérité dans la vie. J’avais bien remarqué le désir et la dissimulation d’Albertine pour aller chez Mme Verdurin et je ne m’étais pas trompé. Mais alors même qu’on tient ainsi un fait, des autres on ne perçoit que l’appa­ rence; car l’envers de la tapisserie, l’envers réel de l’action, de l’intri­ gue – aussi bien que celui de l’intelligence, du cœur – se dérobe et nous ne voyons passer que des silhouettes plates dont nous nous disons: c’est ceci, c’est cela; c’est à cause d’elle, ou de telle autre (RTP III: S. 620, Hervorhebung d. Verf.). Im Kunstgriff auf die doppelseitige Photographie, in der Rahel die Photogra­ phie des Geliebten «à l’envers de la tapisserie» spiegelt (0.27:36 ff.), gelingt es Ruiz, das Hyalozeichen der proustschen angoisse wahrnehmungsbildlich zu fassen. So zielt das sich substituierende Bild sowohl auf die virtuelle Ver­ gangenheit frühkindlicher Erlebnisse als letztendlich auch auf die Zukunft ab – als finale Angst, das literarische Werk nicht beenden zu können. Mais une raison plus grave expliquait mon angoisse; je découvrais cette action destructrice du Temps au moment même où je voulais entreprendre de rendre claires, d’intellectualiser dans une œuvre d’art, des réalités extra­temporelles (RTP III: S. 930). Hier taucht die «angoisse», selbst außerzeitliches Motiv immer neuer Ver­ bildlichungen, im Kontext der Werkschöpfung eines «œuvre d’art, des réa­ lités extra­temporelles» auf. So bindet sich das erste Bild an das letzte, das außerhalb des zu rezipierenden Romans steht, an die tatsächliche Werks­ niederschrift, mit der ihm die Sublimierung der angoisse gelingen wird. Die stete Substituierung des Bildes, die hier über die Doppelseitigkeit der Photographie oder der Veränderung der Signatur ausgedrückt wird, ist nach Ruiz allgemein kennzeichnend für die Filmbetrachtung, bei der jeder Einstellung am Ende der substitutive Schnitt folgt.560 Dabei garantiert die image-mère, die Ruiz zufolge unbewegt hinter den Mosaiken der Filmbilder 560 Cf. Ruiz 2006: S. 10. Die narrative Montage 255 steht, eine ganz ähnliche Einheit wie der «terrible besoin d’un être», den der Erzähler «au sujet de ma mère» kennengelernt hatte: Ce que l’on postule ici est que la cohésion des images qui s’accumu­ lent à la surface de l’écran ne vont et ne proviennent pas de et jusqu’à une histoire résumable en mots, elles sont plutôt issues d’un modèle ouvert que l’on perçoit parfois comme image­mère d’où procèdent toutes les images que nous voyons, mais qui possède également la propriété d’être modifiée par les images qui la montrent et l’occul­ tent. Dit sous forme de lieu commun: il se produit une interaction entre l’image immobile et l’ébullition tempétueuse d’images mosaï­ ques qui l’enveloppent.561 Wenn Ruiz im freien textuellen Spiel des Films die image-mère wie im litera­ rischen Prätext in unterschiedlichsten Gestalten manifestiert, bindet er das Motiv der Substitution an das Medium Film zurück. Diese Ebene erschließt sich nicht nur anhand seiner Poetiken, Ruiz demonstriert es im Film selbst: Für die Abbildungsebene führt er das doppelseitige Bild der Photographie an, das nach der Wendung (im Film nach dem Schnitt) das Substitut des vor­ herigen Bildes präsentiert. Für die Darstellungsebene führt er das Schau­ spiel des Films an, in dem Figuren ihre personale Identität ersetzen: So setzt sich die Sequenz um die Libertinage fort über ein Werbeplakat der Opé­ ra­Comique, das Gilberte zum Vorbild nimmt, wenn sie im Versuch, ihren Ehemann zurückzugewinnen, in die Rolle Rahels schlüpft (0:28:02–0:28:25). Dazu legt sie deren Maske und Kostüm an («d’avoir toujours des nœuds rouges dans les cheveux, un ruban de velours noir au bras, et se teignait les cheveux pour paraître brune», RTP III: S. 702), während Robert im Salon mit der Erzählung seiner Geliebten nicht weniger offensichtlich schauspielert (Seq. 5.26; 0:28:27 ff.). Auch im literarischen Prätext wird der Vergleich zum Schauspiel gezogen: Un jour où Robert devait venir pour vingt­quatre heures à Tanson­ ville, je fus stupéfait de la voir venir se mettre à table si étrangement différente, non seulement de ce qu’elle était autrefois, mais même les jours habituels, que je restai stupéfait comme si j’avais eu devant moi une actrice, une espèce de Théodora. (RTP III: S. 702). 561 Ruiz 2006: S. 20. 256 Zur Spatialisierung des discours Seq. 5.26 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609809) Gilberte kleidet sich als Rahel (0:28:02–0:28:25). In den Film übersetzt führt dies in eine mise-en-abîme-Struktur, in der das Schauspielern im medialen Rahmen des Films gedoppelt wird, der seine Figuren leitmotivisch als Schauspieler zur Schau stellt. Ruiz führt das Schauspiel in dieser Einstellung auf die Frage der Iden­ titäten zurück. Aus dem Halbdunkel des Flurs setzt zunächst offensicht­ lich die als Rahel kostümierte Emmanuelle Béart den Fuß ins Licht, wobei sie kurz zögert, als würde sie eine Bühne betreten. Die Kamera wechselt ihre Einstellung mit dem nächsten Schnitt, um, während die durchgehende Filmmusik eine zeitliche Kontinuität suggeriert, nun Elsa Zylberstein beim Herabschreiten der Treppe zu zeigen. Sie positioniert sich so, dass ein Trep­ penabschnitt verborgen bleibt. So kann Zylberstein verschwinden und – ohne trennenden Schnitt – Béart ihre Rolle doubeln. Als nun auch Béart hinter dem unsichtbaren Treppenabschnitt verschwindet, tritt in schein­ bar zeitlicher Kohärenz Zylberstein auf die letzten Stufen, um sich zu ver­ beugen (Seq. 5.27). Beide Schauspielerinnen waren gleichermaßen real vor der Kamera und können es doch im Universum der Diegese nicht sein. Das diegetische Ver­ wirrspiel um Schein und Sein wird auf das extradiegetische des filmischen Mediums geführt, in dem die Abbildungsebene nicht alle Winkel preisgibt und die Darstellungsebene ein Schauspiel ist, in dem sowohl Gilberte Rahel doubelt als auch Rahel Gilberte. Die persönliche Identität hinter der Rolle ist unkenntlich und dadurch substituierbar. Die Doppelbelichtung der Nahaufnahme stellt die Identitäten Die narrative Montage 257 Seq. 5.27 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609810) Rahel doubelt Gilberte (0:29:33–0:33:36). von Gilberte und Rahel in gleicher Weise in Frage, keine erscheint realer als die andere. Im Moment des Schauspielerns (Mimik, Gestik und Kostüm doppeln sich vollständig im Moment der theatralischen Verbeugung) fallen die Figuren Rahels und Gilbertes letztendlich ununterscheidbar zusammen (Seq. 5.28). Seq. 5.28 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609811) Gilberte doubelt Rahel (0:30:37–0:30:05). 258 Zur Spatialisierung des discours Die Inszenierung der Kamera, die Gilberte, Albertine, Morel, Robert, Morels Geliebte, Rahel und schließlich wieder Gilberte in ein stetes Substi­ tutionsverhältnis rückt und die oben als filmisches Äquivalent des Erzäh­ lers gelesen wurde, lässt die verschiedenen Figuren im Kristall der liber- tinage in wechselseitigen Spiegeln erscheinen, deren Qual (Gilberte bricht anschließend weinend zusammen, 0:31:54  ff.) auf kein gezeigtes Ur-Bild zurückgeführt wird. Die Substitute gehen untereinander in einer offenen Struktur variable Verbindungen ein. Die musikalische Unterlegung mit der Sonate Vinteuils, die in dem Moment einsetzt, in dem Robert hinter einer Frauenskulptur ein Fotohervor­ zieht, das er auf dem Boden zerschmettert (0:26:18 ff.), und das Sujet der Profa- nation, das sowohl in der Figarokritik, die Robert Morel vorliest (0:25:20 ff.), als auch im Werbeplakat Rahels erwähnt wird,562 verweisen dabei jedoch über die Tonspur auf das literarische Erinnerungsbild Montjouvains, das der erin­ nernde Erzähler in Sodome et Gommorrhe als Sündenfall liest. À ces mots prononcés comme nous entrions en gare de Parville, si loin de Combray et de Montjouvain, si longtemps après la mort de Vinteuil, une image s’agitait dans mon cœur, une image tenue en réserve pendant tant d’années que, même si j’avais pu deviner, en l’emmagasinant jadis, qu’elle avait un pouvoir nocif, j’eusse cru qu’à la longue elle l’avait entièrement perdu; conservée vivante au fond de moi – comme Oreste dont les Dieux avaient empêché la mort pour qu’au jour désigné il revînt dans son pays punir le meurtre d’Aga­ memnon – pour mon supplice, pour mon châtiment, qui sait? d’avoir laissé mourir ma grand’mère, peut-être; surgissant tout à coup du fond de la nuit où elle semblait à jamais ensevelie et frappant comme un Vengeur, afin d’inaugurer pour moi une vie terrible, méritée et nouvelle, peut­être aussi pour faire éclater à mes yeux les funes­ tes conséquences que les actes mauvais engendrent indéfiniment, non pas seulement pour ceux qui les ont commis, mais pour ceux qui n’ont fait, qui n’ont cru, que contempler un spectacle curieux et divertissant, comme moi, hélas! en cette fin de journée lointaine à Montjouvain, caché derrière un buisson où (comme quand j’avais complaisamment écouté le récit des amours de Swann) j’avais dan­ gereusement laissé s’élargir en moi la voie funeste et destinée à être douloureuse du Savoir (RTP II: S. 1115, Hervorhebung d. Verf.). 562 «Mlle Rachel, de l’Opéra­Comique, actuellement au Dejazet dans ‹la Profanation›» (0:28:04). Die narrative Montage 259 Die Aufladung an Bedeutung dieser simplen Voyeurszene stellt sich in einen Komplex von Schein und Sein, von Verstecken und Sehen, indem das Wissen bzw. Sehen der «image tenue en réserve pendant tant d’années» zur schrecklichen Strafe wird. Das inszenierte «spectacle» der lesbischen Szene in Montjouvain wird zur «image» verdichtet, die den Bezug zum hinter dem Busch versteckten Ich offenlegt, das nun nicht mehr «unbeteiligter Drit­ ter» bleibt, sondern in seiner Anwesenheit als Voyeur selbst verstrickt ist: Das erlebende Ich wurde schuldig, als es in der Position des nur scheinbar unbeteiligten Voyeurs die eigene Lust im Bild der Anderen kleidete, deren Bericht er hörte oder deren Szene er beobachtete. Doch führt der Erin­ nert­Erinnernde das «Savoir» um die verstörende «image» nicht auf den Grund, sondern kleidet den Bezug auf das Ich wiederum in das vage Bild des Anderen: […] pour mon châtiment, qui sait? d’avoir laissé mourir ma grand’mère, peut-être […] (ibid.). Sobald ein Bild dem Ur­Bild nahekommt, das Gegenstand der steten Substi­ tution war, und damit droht, die Verschlüsselungsarbeit aufzubrechen, um tatsächlich zu einem savoir zu führen, das an die eigene Person rührt, droht das erlösend­sublimierende métaphore­Konstrukt in sein Gegenteil umzu­ schlagen, «frappant comme un Vengeur, afin d’inaugurer pour moi une vie terrible, méritée et nouvelle» (ibid.). «Der Grund der Metapher als einer Figur der Artikulation mit dem Fremden ist […] offenbar diese elementare Spannung von Wissen und Nicht­ wissen im Zentrum von Bedeutungsbildung und Verstehen»,563 schreibt Poppenberg in seinem Aufriss zur figurativen Erkenntnis. Der Erzähler braucht das Bild des Anderen, das direkte Rühren an dem nicht einlösbaren Begehren der Mutter, deren unmöglicher Besitz wäre zu schmerzhaft («dou­ leureuse», RTP II: S. 1115). Ob die Figur die verlorenen Paradiese wieder auferstehen lässt (RTP III: S. 870) oder ob es die Vertreibung aus dem Paradies bedeutet, hängt von dem Gleichgewicht von Wissen und Nichtwissen ab, das den Erzähler zwingend an die Trope bindet. Dies könnte der Grund sein für die Not­ wendigkeit des «Antilogos», dessen Entschlüsselung mit steter Neuver­ schlüsselung einhergeht und so vor einer abschließenden Wahrheit des savoir bewahrt. Ruiz lässt in der Szene der personalen Doppelbelichtung von Gil­ berte und Rahel das Bild der Profanation, die Rahel in ihrer theatralischen 563 Poppenberg 2009: S. 180. 260 Zur Spatialisierung des discours Verkleidung verkörpert, mit dem musikalischen Thema der Adoration per- pétuelle interagieren. Dabei lässt er es nicht bei der reinen Doppelbelich­ tung bewenden, sondern inszeniert das Moment der personalen Substitu­ ierbarkeit in Kopplung an das Moment der Serialität. Béart und Zylberstein führen ihre Substituierbarkeit nacheinander vor. Während die Kamera den verdeckten Treppenabschnitt zumindest teilweise freilegt, wird im Hinter­ grund die Venus sichtbar (Abb. 5.5). Abb. 5.5 Venus im Hintergrund (0:30:30). Hier enthebt nun Ruiz das «spectacle» seiner Zeitlichkeit in der audiovi­ suellen image des Films, in der die Motive der allseitigen Verstrickung in die Homosexualität als multiple Bilder der Libertinage und der Profana- tion in der stilistisch markierten Übersetzung in Erscheinung treten, die Substitution und Serialität aneinander bindet. So integriert der Cineast in dieser offenen Sequenz nicht nur das Standbild der Photographien in die Laufbilder des Films, die im ersten Raum die Erinnerung initiier­ ten, sondern auch das der Statue, die den letzten Gang des Protagonisten säumen und im Epilog das Schlusswort setzen wird. In der vielschichtig ineinander verwobenen Verkettung von erinnerten Zeiten und Räumen, die schließlich allein auf die Immanenz der Erzählung zurückführbar ist bzw. auf deren Werden, muss die Montage von Zeit und Raum letztendlich allein im Filmganzen Halt finden. Der Text wird zum Spiegelkabinett. Borsó führt hierfür das Gesetz einer écriture an, wie es Roland Barthes in S / Z 564 in Form einer musikalischen Partitur dargestellt hat, einer 564 Barthes 2001. Die narrative Montage 261 metonymischen Verkettung, die das Heterogene in einer Spatialisierung der syntaktischen Reihenfolge verbindet und nicht dem Vektor der konse­ kutiven Logik gehorcht. Sie verweist darüber hinaus auf Derridas L‘écri- ture et la différence,565 der «diese performative Konzeption der écriture – im Sinne eines spatialisierten Zeichenraums […] zu einem epistemologischen Modell erhoben [hat], ein Modell, das die topologische Bewegung an die Stelle des Strukturdenkens bringen sollte». «Das Lesen wird verräumlicht und verzeitlicht, die Haltepunkte sind fragmentarisch und beweglich», fol­ gert Borsó.566 In den sich gegenseitig ersetzenden Substitutionen, deren «image mère» nicht benannt wird, überführt der récit der Recherche die pathologische Mutterliebe in die sublimierte Form eines spatialisierten Zeichenraums, das als Montageprinzip im gesamten Textkörper ankert. Diese Form der litera­ rischen Sublimierung lässt er in der histoire zum Objekt der Suche werden, das, wie der récit zeigt, bereits präsent ist. Hier unterläuft die Räumlichkeit der métaphore («le terme même de métaphore spatiale est presque un pléo­ nasme»567), die dazu aufruft, stets das Eine mit dem Anderen zu denken, die Diskursivität des Mediums und etabliert so in der Form die vielbedachte räumliche Struktur des Romans. Diese ist, wie hier deutlich wurde, nicht nur in den Begriffen der «cathédrale», «robe» oder «toile»568 zu fassen, sondern auch im filmi­ schen Begriff des Zeit­Bildes, wie es Deleuze im Kristall­Bild entwickelt hat, das die Zeit direkt repräsentiert. So ist es Ruiz möglich, das Streben in narration, histoire und récit nach der spatialen Form eines gigantischen Zeitraumes, in dessen Einheit sich Aktualität und Virtualität ineinander brechen, im Film zu manifestieren, der in seiner Form auf sein eigenes Medium verweist. 565 Derrida 2003. 566 Borsò 2005: S. 57. Auf diese Verräumlichung in der Recherche hatte Frank bereits 1945 hingewiesen. «[…] Proust forces the reader to juxtapose disparate images of his cha­ racters spatially» (Frank 2005 [1945]: S. 249). Mit diesem Aufsatz hatte Frank einen Mei­ lenstein in der Literaturtheorie der Moderne vorgelegt, dessen Tradition zu verfolgen sicher in Hinsicht auf die vorliegende Fragestellung aufschlussreich wäre, aus Gründen des Umfangs hier jedoch nur angerissen werden kann. 567 Genette 1966: S. 107 f. Daran knüpft Collot an, in: Collot 1987: S. 84–95. 568 Cf. Deleuze 1996: S. 218. 262 Zur Spatialisierung des discours 5.3 Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen In einem «fragmentarisch[en] und beweglich[en]» Diskurs ist die Wieder­ gabe der Ordnung sekundär. Selbstverständlich erwecken diese Regionen (meine Kindheit, meine Jugend, meine Reife usw.) den Anschein des Aufeinanderfolgens. Doch sie folgen aufeinander nur aus dem Blickwinkel der früheren Gegenwarten, die die Grenze einer jeden markieren,569 schreibt Deleuze im Zeit­Bild. Der Moment der Todesnähe konfiguriert als «Ausstrahlungspunkt» des Gedächtnisses dagegen jede Lebensepoche der Vergangenheit in prinzipieller Gleichzeitigkeit.570 Dies ist die Grundlage der erinnernden Montage, die Zeiträume je nach raumzeitlicher Fokalisierung im «Chiasmus der Erinnerung» (Stierle) bricht. Sie impliziert in der spezifischen Bildungsromanstruktur der Recher- che auch die Zukunft – im Projekt einer literarisch zu formulierenden Raumzeit, in der sich das sujet des eigenen Lebens im récit spatialisieren solle; eine Zukunft, deren Produkt der Leser in der instantanen Erzählung bereits rezipiert. Für das moderne Kino beschreibt Deleuze diese Struktur als «Simultaneität der Gegenwartsspitzen, die mit jeder äußeren Sukzes­ sion brechen und Quantensprünge zwischen den Gegenwarten bewirken, die durch die Vergangenheit, die Zukunft und die Gegenwart selbst ange­ reichert sind.»571 Gleich in den ersten Bildern demonstriert Ruiz mit der Emanzipation von der Ordnung der Recherche eine Konzentration auf die gesuchte (und gefundene) Form der Darstellung, die die im Raum der semitransparenten Fazies geschichtete Zeit im Domus der Erinnerung diskursiv ausschrei­ tet, indem er die «images», wie in der Keimzelle der Recherche, als Rei­ hung onirischer Räume auf die Leinwand des dunklen Kinosaals projiziert. Dabei vergegenständlicht sich die diskursive Bewegung im Stillstand des Zeitraums in der cineastischen Ausgestaltung des leitmotivischen Weges, auf dem die Kamera dem Protagonisten und seinen Figuren durch Räume, 569 Deleuze 1991b: S. 133. 570 «Marcel Proust  […] zertrümmert in seiner Suche die chronologische Zeitfolge, belebt die Vergangenheit durch die Kräfte des Erinnerns und erzeugt dadurch den Ein­ druck der Simultanität von Vergangenem und Gegenwärtigem», fasst Stepath zusam­ men (Stepath 2006: S. 156). 571 Deleuze 1991b: S. 351. Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 263 Zeiten und Realitäten folgt. Dabei entwickelt er von den ersten Filmbil­ dern an über den intermedialen Verweis auf Schrift und Photographie die Erzählung des heautonomen Bildes, in der sich der erstgezeigte Raum mit dem Ton über die ersten Bilder der mondänen Gesellschaften legt, und folgt den Wegen der Figuren über die raumzeitlich distante «Kontiguität der Räume» in ein komplexes raumzeitliches Labyrinth der verschach­ telten Erinnerungen. Auch aus dieser «Keimzelle» werden Elemente des Dekors und ganze Szenen in den Raum der Geschichte geworfen, die wie ein Echo an verschiedenen Stellen des Diskurses zurückhallen: Die erst­ gezeigte gesellschaftliche Zusammenkunft der Mme Verdurin koinzidiert beispielsweise in Bild- und Tonelementen mit der etwa 40 Minuten spä­ ter gezeigten Matinée zu Kriegszeiten, in denen Mme Verdurin Odette mit den gleichen Worten empfängt und bei der Morel ebenfalls die deutschen Tänze Beethovens spielt. Dieses musikalische Motiv wird gebrochen wieder aufgenommen im Raum der letzten Matinée, dem bal de têtes, zu dem die gealterte Mme Ver­ durin nunmehr als Mme de Guermantes geladen hatte (1:49:52 ff.) und deren Salon abermals zum Ausgangspunkt eines durch Türen und Gänge verbun­ denen Labyrinths wird. Der Ball markiert einen Wendepunkt in den offensichtlich zu Tage tre­ tenden «Verschmelzungsprozessen»,572 die sich zum einen figürlich in den Mesalliancen manifestieren, zum anderen in der mentalen Montage der zeitlich so different wahrgenommenen Personen zu körperlichen Einhei­ ten. Dies wird dem Erzähler hier als Prinzip der wahrnehmenden Erinne­ rung bewusst, deren «Faden» der Erzähler nun zu einer «robe» zusammen­ flicht573 und das als stilistisches Prinzip (der métaphore) sein Romanprojekt bestimmen wird. 572 Köhler /  Corbineau-Hoffmann 1994: S.  31.Swanns Tochter Gilberte heiratet den Marquis de Saint­Loup, Odette den Duc de Guermantes. Die Nichte des Schneiders Jupien heiratet den Sohn des Marquis de Combremer. 573 «Et la diversité des points de ma vie par où avait passé le fil de celle de chacun de ces personnages avait fini par meler ceux qui semblaient le plus éloignés, comme si la vie ne possédait qu’un nombre limité de fils pour exécuter les dessins les plus différents. Quoi de plus séparé, par exemple dans mes passé divers, que mes visites à mon oncle Adolphe, que le neveu de Mme de Villeparisis cousine du Maréhal, que Legrandin et sa sœur, que l’ancien giliter ami de Françoise, dans la cour? Et auourd’hui tous ces fils dif­ férents s’étaient réunis pour faire la trame, ici du ménage saint­Loup, là du jeune ménage Cambremer, pour ne pas parler de Morel, et de tant d’autres, dont la conjonction avait concouru à former une circonstance, qu’ il me semblait que la circonstance était l’unite complète, et le personnage seulement une partie composonte. Et ma vie était déjà assez longue pour qu’à plus d’un des êtres qu’elle m’offrait je trouvasse, dans mes souvenirs des régions opposées, pour le compléter, un autre être» (RTP III: S. 972). 264 Zur Spatialisierung des discours Ruiz’ Kunstgriff der Mehrfachbesetzung ermöglicht hier die Einschübe junger Darsteller inmitten der grotesk gealterten «poupée extériorisant le Temps» (RTP III: S. 924) und verfilmbildlicht so im «tableau vivant» der Ein­ stellung eine zeitbildliche Montage, die Veränderung in der Zeit aus dem Diskurs in den Raum versetzt.574 Auch Ruiz flicht die Fäden seiner Erzählung auf dem bal de têtes zusam­ men: Als Morel am Piano von Mme Verdurin (bzw. de Guermantes) gefragt wird, was er nun spielen wolle, antwortet dieser «Beethoven» – und setzt mit Ragtime ein. Damit irritiert er Mme Verdurin sichtlich, ganz so als ver­ stieße er gerade gegen das Drehbuch (Seq. 5.29). Seq. 5.29 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609812) Morel spielt nicht Beethoven (2:23:19–2:23:47). Tatsächlich wurden auch vom Zuschauer die zwölf deutschen Tänze erwar­ tet, mit denen Morel die ersterinnerte Gesellschaft musikalisch begleitet hatte (Seq. 5.30). 574 In Bezug auf den Austausch der alten Gilberte durch die junge Besetzung betont Jean Milly die Möglichkeiten des Films, die besondere Form der Zeiterfahrung in der Recherche intermedial zu transponieren: «le cinéma se révèle un moyen idéal de rendre évidentes les transformations brusques, les enchainements inattendus, les effets de superposition et de transparence, comme lorsque Gilberte, d’abord aperçue vieillie et laide lors de la dernière matinée, se transforme aux yeux du héros et du spectateur en la belle jeune femme qu’elle était autrefois. Ces procédés confèrent un équivalent à l’épais­ seur temporelle et psychologique que Proust manifeste, par son style, dans ses phrases et dans ses paragraphes» (Milly 1999: S. 176 f.). Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 265 Seq. 5.30 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609813) Morel spielt Beethoven – I (0:06:12–0:06:28). Es handelt sich hier ausdrücklich nicht um eine reine Wiederholung: Im Hintergrund des Hotel de Guermantes stehen übergroß die Füße der Venus Kallipygos (2:23:41) und gemahnen an die gerade im Vorzimmer der Matinée erinnerte mémoire involontaire, die mit dem Einbruch Balbecs in die Biblio­ thek ebenfalls zwei heterogene Raumzeiten zusammenfallen ließ. Auch als Morel das zweite Mal im Diskurs tatsächlich zu Beethoven ansetzt, handelt es sich nicht um eine reine Wiederholung. Während die Kamera in der erstinszenierten Erinnerung den Modeschöpfer in die mise en scène integriert, doch seine Worte («Ce qui m’a guidé dans ma réfle­ xion […]») weder auf Interesse der Gastgeberin noch der Kamera stoßen, hat der Couturier in dieser Version seinen großen Auftritt. Die Kamera zeigt ihn hier jedoch während der musikalischen Begleitung der Tänze nicht mehr, sondern widmet sich nun Odettes divenhaftem Auftritt und weicht so von der zunächst identischen Kadrierung Morels ab (Seq. 5.31). Das in der Doppelbildlichkeit der Laterna verdichtete Prinzip, das Vir­ tuellem und Aktuellem, Schein und Sein den gleichen Wirklichkeitswert zumisst, wird hier in den Diskurs der Gegenwartsspitzen geführt. Die in der Erzählzeit (mindestens 40 Minuten) weit voneinander entfernten Sequenzen werden auf vielfache Weise ineinander verwoben, keine ist wirklicher oder fiktiver als die andere. Als die Begrüßungsszene zwischen Mme Verdurin und Odette (0:07:36 ff.) etwa 40 Minuten später wiederholt wird (0:42:58 ff.), handelt es sich eben­ falls nicht um eine reine Dopplung: Ein Mann, der von rechts ins Bild tritt, 266 Zur Spatialisierung des discours Seq. 5.31 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609814) Morel spielt Beethoven – II (0:42:36–0:43:01). wird kurz aufgehalten, auch läuft Proust nicht durch das Bildfeld. Es wirkt so, als gäbe ein imaginärer Spiegel die Sequenz an verschiedenen zeitlichen Stellen in leichter Verzerrung wieder «comme des fragments d’un autre uni­ vers» (Seq. 5.32 und 5.33).575 Seq. 5.32 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609815) Mme Verdurin begrüßt Odette – I (0:06:49–0:06:19). 575 RTP  II: S.  1028  f. So beschreibt der Erzähler den Eindruck der Meeresszenerie in Sodome et Gomorrhe. Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 267 Seq. 5.33 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609816) Mme Verdurin begrüßt Odette – II (0:42:54–0:43:12). Hier kommt das Prinzip der Inkompossibilität zum Tragen, wie es Deleuze für den modernen Film mit der Hilfe von Leibniz formuliert hat: Die Seeschlacht kann stattfinden oder auch nicht stattfinden, doch ereignet sich dies nicht in derselben Welt: in der einen Welt findet sie statt, in der anderen Welt findet sie nicht statt; beide Welten sind möglich [possibles], aber nicht zusammen möglich [compossibles].576 Nach Leibniz geht aus dem Möglichen nicht das Unmögliche hervor, son­ dern das Inkompossible (ibid.). Deleuze erinnert in diesem Zusammenhang an Borges, der diese Inkompossibilität in «El jardín de los senderos que se bifurcan» zu einem Labyrinth der Zeit potenzierte, als einer Linie, die im Durchlaufen der inkompossiblen Gegenwarten nie aufhört, sich zu ver­ zweigen, und dabei auf die nicht notwendigerweise wahren Vergangenhei­ ten zurückkommt.577 576 Deleuze 1991b: S. 174. 577 Ibid.; Borges 1942. Traditionell wird im Film die Illusion der Bilder als Wirklichkeit gelesen; offensichtliche Dissimulation in Filmbildern darzustellen, läuft der unmittelbaren Zuschauererwartung zuwider. Die ersten filmhistorisch relevanten Versuche hat dabei Kurosawa in Rasho- mon (J 1950) unternommen, indem er fünf verschiedene, sich gegenseitig relativierende Versionen desselben Mordes präsentiert, die sich allein über das Wort (aus dem Off) als Nicht­Wirklichkeit demaskieren. Hitchcock lässt in Stage Freight (GB 1950) die Lügen 268 Zur Spatialisierung des discours Wenn sich die Matinée wie in 0:07:36 ff. zugetragen hat, dann kann die­ jenige in 0:42:58 ff. nicht existiert haben und umgekehrt. Doch Ruiz unter­ lässt es, die Wahrheit der einen oder anderen Sequenz zu kommentieren. In dieser Hinsicht entziehen sich die «silhouettes plates» der ruizschen Film­ bilder in gleicher Weise wie die Figuren und deren Sprachspiele dem Schluss auf eine Wahrheit («de savoir la vérité dans la vie»), da die Wahrheit als Wahrheit der métaphore tatsächlich allein auf «ästhetisches Verhalten […]» zurückzuführen ist,578 das sich jenseits von Lüge und Wahrheit ansiedelt, indem es seine eigene Form zur Wahrheit macht. So äußert sich die «vraie vie» (RTP III: S. 895) und jedes «univers par­ ticulier» (ibid.) stets im Gewand des Anderen bzw. des fiktiven Kunst­ werks. Das Universum des Künstlers ist vergleichbar mit einer Laterna Magica (in Bezug auf Elstirs Atelier benutzt der Erzähler diesen Vergleich). In der zeitlos erinnernden Wahrnehmung liegen die Zeiten, die Räume, die Erleb­ nisse und Träume des Ich gleichzeitig und ohne scharfe Trennung vor. Die Erzählung projiziert ihre Bilder aus der zeitlichen Leerstelle wie der Film aus dem Licht: […] une lueur est un vase rempli de parfum, de sons, de moment; d’humeurs variées, de climats.579 Die synästhetischen Momente der Wahrnehmung verbinden distinkte Räume und Zeiten – in Bezug auf die subjektive Memoria als Referenzgröße der Bildprojektion ist die Superposition der zeitlichen und räumlichen Inkompossibilitäten wahr. Die «falsifizierende Erzählung», die der «kristallinen Beschreibung» in der «Ununterscheidbarkeit von Realem und Imaginärem» entspricht und «in der Gegenwart unerklärliche Differenzen und in der Vergan­ genheit unentscheidbare Alternativen zwischen dem Wahren und dem der Erzählung Jonathans gegenüber der Schauspielerin Eve zunächst in unmarkierten Sequenzen des Rückblicks ablaufen. Der Zuschauer kann diese Bilder erst nach der Auf­ lösung des Mordes als Lüge entziffern, bei der sich Jonathan als der wahre Täter offen­ bart. Ruiz geht einen Schritt weiter: Im Ausschreiten seines Erinnerungsgebäudes wer­ den die offensichtlichen Inkompossibilitäten zu keinem Zeitpunkt aufgelöst. 578 Nietzsche 1994: S. 317. Warning sieht in der proustschen métaphore Nietzsches eine originelle Anschauungs­ metapher (cf. Warning 2000: S. 27). Sicher könnte der Hinweis auf Nietzsches Sprach­ philosophie noch weiter auf das Universum der proustschen Zeichen befragt werden, darauf wird hier jedoch aus Gründen des Umfangs verzichtet. 579 RTP III: S. 1136. Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 269 Falschen»580 darstellt, ist in diesem Sinne die einzige Möglichkeit wahr­ haftiger Erzählung. Wird der Faden der Erinnerung auf dem bal de têtes zu einem Kleid bzw. Netz verwoben, wird der Weg des filmischen Protagonisten, der ihn im Domus der Erinnerung der «senderos que se bifurcan» abschreitet, zu einem Labyrinth in der Zeit. So steht der erwachsene Proust nach den Erlebnissen des Balls wie­ der vor der goldgeschmückten Tür (2:24:03), vor der in der anfänglichen Sequenz der kleine Marcel gestanden hatte (10:38). Während sich diese wie aus eigener Kraft öffnet, wiederholt die Tonspur die düstere Impres- sion n°2 und die verfremdete Kinderstimme. Doch steht in dem mit Zylin­ dern bestückten Raum diesmal der Hausangestellte der Guermantes, dem Proust das Champi­Exemplar gereicht hatte, bevor er den Raum der Matinée betreten hatte. Dieser wird mit einem kurzen Monolog in einer halbnahen Aufnahme fokussiert: C’est un petit salon reservé pour les familiers. Je vous confie cette clé. Vous me la rendrez tout à l’heure. (2:24:13). Daraufhin löst er sich mitsamt der Raumaustattung mit dem folgenden Schnitt in Luft auf (2:24:40), so wie es Saint-Loup in der Szene der Kindheits­ erinnerung (11:30) getan hatte (Seq. 5.34 und 5.35). Seq. 5.34 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609817) Der entleerte Raum – I (2:24:09–2:23:47). 580 Deleuze 1991b: S. 175. 270 Zur Spatialisierung des discours Seq. 5.35 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609818) Der entleerte Raum – II (0:10:26–0:10:37). Un homme qui dort, tient en cercle autour de lui le fil des heures, l’or­ dre des années et des mondes. Il les consulte d’instinct en s’éveillant et y lit en une seconde le point de la terre qu’il occupe, le temps qui s’est écoulé jusqu’à son réveil; mais leurs rangs peuvent se mêler, se rompre581 (Proust). Je nachdem welcher Natur die Erinnerung ist, der wir nachgehen, müssen wir in den einen oder anderen Kreis springen582 In den gleichzeitigen Schichten der Vergangenheit bewegen sich Ruiz’ Figuren zwischen den Schnitten, die in der Recherche der Schlaf ausdrückt, hin und her. Dabei wird der Schnitt als trennender Bruch zum konstituti­ ven Element der Erzählung. Dieses Prinzip wurde im Bildprogramm des Port de Carquethuit verdichtet, das wie Sprenger formuliert, im Diskurs der Recherche «die Brechung auffangen wird durch die stilistische Einheit».583 In der Rekurrenz auf das Bild des Gemäldes drückte die Recherche in ihrer literarisch­visuellen Form ein Charakteristikum des deleuzeschen Zeit­Bil­ des aus: 581 RTP I: S. 5. 582 Deleuze 1991b: S. 133. 583 Sprenger 1995: S. 7. Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 271 Nur indem man eine Trennung vornimmt oder eine Leere aufreißt, lässt sich das gesamte Bild wieder finden.584 Statt der metafilmischen Verweise über den Blick durch das Stereoskop und den kameragleichen Flug aus dem Fenster folgt die Raumkonfiguration des Filmendes nun einem steten Weg durch labyrinthische Räume, die sich in einen oberirdischen und einen Tiefenkomplex gliedern. Doch verbirgt Ruiz die zuvor ostentativ inszenierte Tür nun hinter einem Paravent585. Mit dem folgenden Schuss wurde er durch André Engel substituiert. Der Zuschauer, der sich womöglich während der Matinée de Guermantes darüber gewundert hatte, dass Proust inmitten der Greise so offensichtlich wenig gealtert war und doch von Oriane nur schwerlich wiedererkannt wurde (1:50:04–1:51:02), sieht Proust nun als alten Mann. Die wahrnehmende Kamera hatte augen­ scheinlich ihr anderes Ich während der Matinée noch für unverändert gehal­ ten, kadriert sich nun jedoch als den todesnahen Erzähler, der das Diktat der Recherche sprechen wird bzw. gesprochen hat. Dieser hält in der übertrieben theatralischen Haltung eines Schlafwandlers den Schlüssel vor sich her, als trete er nun an, gegen Ende des Films die Hieroglyphen der gezeigten Räume zu «entschlüsseln», indem er sie erneut ausschreitet (Seq. 5.36). Seq. 5.36 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609819) «Une fois de plus – je m’avance, le long de ces couloirs» (2:24:54–2:25:28). 584 Deleuze 1991b: S. 36. 585 Es handelt sich um den im Musée Carnavalet (Paris) ausgestellten Paravant, mit dem Proust 1919 noch in die Rue Hamelin umzog. 272 Zur Spatialisierung des discours Er betritt nun den erstgezeigten Raum der filmischen Erzählung, der anfangs dem diktierenden moribunden Proust vorbehalten war. Dieser wird zur Station innnerräumlicher Zeitüberlagerung: Der bärtige Proust bückt sich, um das Buch seiner Kindheit aufzuheben, während buntes Licht auf ihn fällt, als sei er die Leinwand einer Laterna-Magica-Projek­ tion (Seq. 5.37). Seq. 5.37 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609820) Subjektive Kamera (2:25:29–2:26:10). Wurde der abgetrennte Raum der Zylinder noch über die mentale Monta­ gearbeit des Zuschauers in die Relation zu dem analogen Kindheitsraum gesetzt, aktualisiert hier die Kamera die Inszenierung dieser Montage im Bild in der Interaktion der Wahrnehmungen von Protagonist und Kamera: Proust dreht sich langsam im Kreis, um den Raum mit seinem Blick zu erfas­ sen, der daraufhin vom Blick der Kamera übernommen wird. Diese zeigt als subjektive einen anderen Raum: Den der Kindheit Marcels (Abb. 5.6), den Odette den Gästen als Nebenzimmer der anfänglichen Soirée präsentiert hatte (Seq. 5.15). Der «Chiasmus der Erinnerung» ginge bildlich auf, wenn Ruiz Marcel nun abermals bei der Projektion der Laterna Magica gezeigt hätte. Die bunten Projektionen auf dem greisen Alter Ego wären so als Pro­ jektionen aus dem Raum der Kindheit lesbar, die in den Raum des Alters geworfen werden. Doch steht das präfilmische Gerät dieses Mal unbenutzt auf dem Nachttisch, während der kleine Marcel (nun in beigem Kostüm) ein ebenfalls rot eingebundenes Buch in den Händen hält (Abb.  5.7–5.8; 2:25:46 ff.). Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 273 Abb. 5.6 Blick in den Raum der Kindheit (0:08:30). Abb. 5.7 Die Projektion der Laterna auf dem Hemd im Ausgangs­ raum der Erinnerung (2:25:53). Abb. 5.8 Zeitsprung im Raum der Kindheit (2:26:07). 274 Zur Spatialisierung des discours Wieder untergräbt Ruiz eine Anordnung der Einstellungen auf einer Zeitachse. Die bunten Bilder können nicht auf einen Zeitpunkt der Pro­ jektion zurückgeführt werden, wohl aber auf einen räumlichen Punkt: Sie gehen offenbar von der Lichtquelle des Fensters aus. Hier verweist nun zum dritten Mal das Fenster auf ein «au­delà» der räumlichen Begrenzung, auf ein «Außerhalb» der filmischen Diegese. Nachdem sich die Kamerawahrnehmung mit der Wahrnehmung Engels in Deckung gebracht hat, treten nun zwei Figuren (und Zeiten) im Raum auf. Im «Spiegel der Zeit»,586 in dem Marcel sein greises Ich zu Gesicht bekommt (2:26:22), nehmen die beiden eine direkte Konversation auf: «[…] il me sem­ blait que j’étais moi­même ce dont parlait l’ouvrage», schreibt der Erzähler, als er die abendliche Lektüre träumt (RTP I: S. 3). Der Spiegel, in dem er sich selbst nach der Lektüre sieht, spiegelt, ganz der rêve-éveillé-Ästhetik ver­ pflichtet, in einen anderen Zeitraum, in dem «moi­même» ein Anderer ist. Dabei ist austauschbar, ob hier das Kind in die Zukunft oder (wie bei der Zugfahrt) der Erwachsene in die Vergangenheit blickt. Im kristallinen Film­ bild wird wie im photographischen Medienpastiche der Großmutterphoto­ graphie der Raum sichtbar, in dem le Temps residiert, als ein überzeitlicher, in dem aktuelle und virtuelle Zeiten gleichzeitig sichtbar werden. «Das moderne Kino hat sich der Rückblende ebenso entledigt, wie es mit dem Off und dem hors­champ aufgeräumt hat»,587 schreibt Deleuze. Proust hatte dies mit dem steten Durchkreuzen der raum­zeitllichen Erzähl­ schichten und der makrokosmischen Inkompossibilität von projektierter und erfolgter Erzählung bereits vorweggenommen. Für die Abwendung vom Zentralkonflikt, der die Räume des Bewegungsbildes kennzeichnete, und die Zuwendung zu den gleichzeitig existierenden und sich dennoch in der Zeit ständig überlagernden Zeitspitzen, in denen sich Aktuelles und Virtuelles spiegelt, lieferte Proust dem modernen Kino ein erzählerisches Vorbild: Les jours anciens recouvrent peu à peu ceux qui les ont précédés, et sont eux-mêmes ensevelis sous ceux qui les suivent.  […] Notre moi est fait de la superposition de nos états successifs. Mais cette super­ position n’est pas immuable comme la stratification d’une montagne. 586 Deleuze 1991b: S. 350. «Und das visuelle Bild kadriert seinerseits einen beliebigen – leeren oder abgetrennten – Raum, der einen neuen Wert annimmt, weil er das Ereignis unter stratigraphischen Schichten verschütten wird und es – gleich einem ständig verdeckten unterirdischen Feuer – versenkt» (ibid.). 587 Deleuze 1991b: S. 356. Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 275 Perpétuellement des soulèvements font affleurer à la surface des cou­ ches anciennes (RTP III: S. 544 f.). Wenn die Zeitschichten früherer Vergangenheiten in die späteren einbre­ chen, entsteht das zeitlich heterogene Bild, das der Erzähler der Recherche in der Passage der Zugfahrt in ein «tableau contigue» fassen konnte. Dies gelingt auch in der filmbildlichen Beschreibung: Die ältere und junge Beset­ zung Prousts zeigen sich durch den Spiegel getrennt im einheitlichen Film­ bild. Die Blickführung Marcels, der sein erwachsenes Alter Ego zunächst hinter der Kamera fokussiert, sich dann jedoch aus seinem Sessel erhebt, um in Konversation zu dessen Spiegelbild zu treten (und so der angesproche­ nen Person den Rücken zuzukehren), verdoppelt die Distanz zwischen den Zeitreisenden, die zwar gleichzeitig auftreten, doch dabei unüberbrückbar getrennt bleiben.588 Hier vollzieht Ruiz die Ästhetik des Bruchs bzw. des Ris­ ses, die sich auch im tableau der Zugfahrt äußerte und bildprogrammatisch im Antilogos des Port de Carquethuit verankert werden konnte. Die Kame­ raführung betont dabei die rekurrenten Motive der goldenen Uhr und der Rosen unter Glashauben, die im Dekor Anfangs­ und Schlusssequenz verei­ nen, als frei über das édifice du souvenir verteilte Imago­Figuren (Seq. 5.38). Seq. 5.38 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609821) «Le temps incorporé»: der Klang der frühkindlichen Erinnerung (2:26:18–2:26:29). In diesem Zeit­Raum, in dem sich nun Alter und Kindheit aufhalten, wird eine Glocke vernehmbar: 588 Ruiz 2000: S. 79. 276 Zur Spatialisierung des discours Swann est partie, Maman va enfin pouvoir monter me dire bonsoir (2:25:58 ff.). Der zentrale Ton der frühkindlichen Erinnerung wird in dieser Einstellung sowohl seitens des erwachsenen als auch des kindlichen Proust wahrge­ nommen. In der entsprechenden Passage des Romans eröffnet sich hiermit dem älteren Erzähler die körperliche Kontinuität der Zeit, «le temps incor­ poré» (RTP III: S. 1046): Quand il avait tinté j’existais déjà et, depuis, pour que j’entendisse encore ce tintement, il fallait qu’il n’y eût pas eu discontinuité, que je n’eusse pas un instant pris de repos, cessé d’exister, de penser, d’avoir conscience de moi […] (RTP III: S. 1047). Ruiz übersetzt die Einheit der konsequent über den Spiegel getrennten Personen über einen bildlichen Chiasmus des Dekors  – eines Buches der Bibliothek: – Tiens, tu connais? C’est Victor Hugo. Il faut que l’herbe pousse et que les enfants meurent. – Tu lis Victor Hugo?- Et tu François le Champi (02:26:2–2:26:43). Dass die Kinder sterben müssen, ist das aktuelle Sujet des alten Proust auf dem bal de têtes; François le Champi dagegen war die Schlüssellektüre des kleinen Jungen, der eine Nacht mit seiner Mutter verbringen durfte. Dieses Objekt, das in der filmischen Erzählung in der Bibliothek der Guermantes das kindliche Ich wiederauferstehen ließ, und dann im unzu­ weisbaren Raum den Zylinder, der an filmisch distanten Stellen sowohl vom Kindheitsraum als auch vom Salon des bal des têtes aus zugänglich war und vom Hausangestellten der Guermantes gehalten wurde, um dann im erstgezeigten Raum der Erzählung, 102, Boulevard Haussmann, von André Engel vom Boden aufgelesen zu werden, hält der greise Proust die­ ses Mal über die raumzeitliche Montage des Kamerablicks hinweg in den Händen, die den Pariser Raum des Alters in den Raum der Kindheit Com­ brays eintauschte. Mais chaque jour ancien est resté déposé en nous comme, dans une bibliothèque immense où il y a de plus vieux livres, un exemplaire que sans doute personne n’ira jamais demander. Pourtant que ce jour ancien, traversant la translucidité des époques suivantes, remonte à la surface et s’étende en nous qu’il couvre tout entier, Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 277 alors, pendant un moment, les noms reprennent leur ancienne sig­ nification, les êtres leur ancien visage, nous notre âme d’alors, et nous sentons, avec une souffrance vague mais devenue supporta­ ble et qui ne durera pas, les problèmes devenus depuis longtemps insolubles et qui nous angoissaient tant alors (RTP III: S. 544, Her­ vorhebung d. Verf.), heißt es in La Fugitive. Anstatt solche explikativen Passagen über das Wort aus dem Off einzuspielen, lässt Ruiz das Bild sprechen. Mit François le Champi hält der gealterte Proust das Kondensat einer solchen Vergangen­ heit als mnemotechnischen Imago in den Händen.589 Nach dem folgenden Schnitt nimmt die Kamera einen Blickwinkel ein, der ein Nebeneinander des greisen und kindlichen Proust erlauben würde – hier wird André Engel jedoch zum Schatten, der zwischen die Reprodukti­ onen der Allegorien von Infidelitas und Inconstantia an die Wand projiziert wird, während das schärfentiefe Bild die Laterna Magica als Objekt des ersterinnerten Kindheitsraums groß im Vordergrund platziert. In diesem bildlichen Kontext erklärt der todgeweihte walking shadow Prousts seinem kindlichen Ich zwischen den Bildern von Untreue – bzw. der «idôlatrie» des Abbildes (RTP  I: S. 886) – und von geschlechtlicher (bzw. zeichentheoreti­ scher) Unbeständigkeit, schon mehrere Male gestorben zu sein, sodass ihm der Tod langsam gleichgültig werde. Auf die Frage Marcels, ob er das nur sage, um sich zu beruhigen, entgegnet der Schatten: […] non, ce n’est pas pour moi que j’ai peur, c’est pour mon livre. Il me faut encore un peu de temps (2:26:38–2:27:06; cf. RTP III: S. 1037 f.). 589 In einem Interview mit Frodon für Le Monde gibt Ruiz an, die mögliche Befrei­ ung der Objekte in der mise en scène erst in der Auseinandersetzung mit der Recherche entdeckt zu haben. Die Heautonomie der ruizschen Zeichen, die sich selbst ihre neuen Gesetze geben, sind demnach in Zusammenhang zur Moderne der proustschen Zeichen­ lehre zu setzen: «Exactement. Dans les années 70, j’ai écrit un texte pour les Cahiers du cinéma intitulé ‹Les relations d‘objets au cinéma›, (Ruiz 1978: S. 23–32) qui plaidait pour des films dont tous les éléments seraient reliés entre eux. Mes réalisations ont toujours cherché à inventer des formes narratives de ce type, susceptibles de remplacer la const­ ruction classique en trois ou cinq actes. Et c’est ce que font aujourd’hui sous une forme industrielle les CD­Rom. Mais mes mises en scène recouraient souvent à des contraintes formelles que je m’ imposais pour sortir de la structure narrative habituelle. Au moment de réaliser Le Temps retrouvé, j’ai compris que ces procédés n’étaient pas nécessaires, que je pouvais modifier à ma guise les codes de représentation sans respecter une règle du jeu définie à l’avance» (Frodon 1999: S. 30). 278 Zur Spatialisierung des discours Die im Buch der Bibliothek kondensierte Vergangenheit mitsamt der kind­ lichen angoisse wird hier übertragen auf das zu schöpfende Buch – die Film­ bilder lassen dabei die vordergründige Prämisse der Laterna Magica und damit der frühkindlich erinnerten Binnenerzählung der Eifersucht um Geneviève de Brabant, die bildästhetisch an eine Überlagerung von aktu­ eller und imaginärer Wahrnehmung gekoppelt war, in Interaktion mit der Positionierung des Schattens zwischen infidelitas und inconstantia treten. Während Mamans Schritte sich auf der Tonspur nähern, setzt nun das Motiv der «adoration perpétuelle» ein (2:27:15  ff.), das es erlaubt, die Ein­ stellungen der folgenden drei Minuten an das Muttermotiv zu binden, ohne diese im Bild zu aktualisieren, also in Form einer auditiven Substitution. Mit dem Musiktitel der «adoration perpétuelle» spielt Ruiz auf den Titel an, den Proust ursprünglich für den zweiten Teil von Le Temps retrouvé vorgesehen hatte. Diese Titelwahl erhöht die Erzählung mit explizit religiösen Anklän­ gen in metaphysische Dimensionen. Während die Großmutter (als Double der Mutter)590 in der Recherche als Tote betrachtet wurde, bleibt die Mutter, selbst von dieser Art der Betrach­ tung verschont, als ewiges Motiv der «adoration perpétuelle» bestehen. L’ambivalence par rapport à l’imago de la Mére sera parfaitement réglée et gérée dans la Recherche au moyen d’une bipartition: à la mère sanctuarisée, l’adoration perpétuelle de l’éternel petit garçon de Combray: […]; à la grand-mère maternelle […] toute une gamme d’affects incluant une récurrente « irritation » qui ne s’apaisera que dans la longue mis en scène de son agonie, de sa mise à mort par l’écrivain […].591 Indem Ruiz sowohl im Titel eines Filmkapitels als auch in der Komposition von Jorge Arraigada die Dimension der ewigen Verehrung aufrechterhält, gelingt es ihm, die literarisch­narrative Sublimierung an die audiovisuellen Erzählmöglichkeiten des Films zu koppeln: Nach der Doppelseitigkeit des filmischen Bildes592 tritt hier der Ton des heautonomen Bildes als substitu­ tives Moment auf den Plan, das formell Anfang (0:04:10–0:06:19) und Ende (2:27:15–2:29:06) klammert. Wie im literarischen Prätext nähern sich erinnerndes und erinnertes Ich gegen Ende des Diskurses an: Mit zunehmendem Licht wird zunächst der Schatten André Engels weggeblendet, um dann  – ohne zeitliche 590 Barthes 2003: S. 34. 591 Géraud 2003: S. 143. 592 Cf. Kapitel «5.2.4 Das Montageprinzip der Substitution»: S. 248. Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 279 Schnitttrennung – Mazzarella zum kleinen Marcel (George du Fresne) ins Bild treten zu lassen (2:26:34). Die Fusion des erzählten Ich gelingt im Film­ bild, das den Bruch in der Besetzung aufrechterhält (Seq. 5.39). Seq. 5.39 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609822) Von der Ober- in die Unterwelt (2:27:10–2:27:27). In der anschließenden Szene begibt sich das multiple Ich auf den Gang durch eine unterirdische Skulpturenlandschaft (2:26:50–2:27:85), in der sich Ruiz’ Gedanke der traumhaften Literaturverfilmung zu konzentrieren scheint: Si on imagine le roman, si on le rêve, en faisant intervenir toutes les anamorphoses du rêve, on peut trouver une manière de l’adap­ ter. Il doit y avoir condensation, dans la mesure où un roman, par définition est plus vaste qu’un film. Il doit y avoir aussi déplacement d’intensité. Et là où dans le livre il y a disjonction, dans le film il y a conjonction. Le film ne dit pas « ceci ou cela », mais « ceci et cela ». Ces procédés rejoignent le travail du rêve selon Freud.593 Hier werden die filmisch rekurrenten Objekte als Tiefenschicht verdichtet und stellen so, weiterhin musikalisch begleitet von der adoration perpétuelle, der oberirdischen Verschachtelung der Räume einen onirischen unterirdi­ schen Raum der Tiefe gegenüber, der an die steinerne Skulpturenlandschaft erinnert, in der sich der Erzähler mit einem Bildhauer verglich: 593 Burdeau 1999: S. 53. 280 Zur Spatialisierung des discours […] je me donnais l’excuse d’être attiré par un certain égoïsme esthé­ tique vers les belles femmes qui pouvaient me causer de la sou­ ffrance, et j’avais un certain sentiment d’idolâtrie pour les futures Gilberte, les futures duchesses de Guermantes, les futures Albertine que je pourrais rencontrer, et qui, me semblait­il, pourraient m’inspi­ rer, comme un sculpteur qui se promène au milieu de beaux marbres antiques (RTP III: S. 988). Die leitmotivische idôlatrie des Liebesleides wird hier im Raum ausgestellt: Die Kamera verweist zunächst auf aus steinernen Wänden geschlagene Por­ traits, die an die mittelalterliche Erzählung der Eifersucht Brabants gemah­ nen, vereint dann Dekorelemente Balbecs (in der Marcel Albertine als idôla- trie gesehen hatte) mit der im Hintergrund angeleuchteten Rückenseite der Venus Kallypigos, nimmt schließlich in langsamer Fahrt die steinernen Köpfe in Variation wieder auf, um hinter diesen maritime Dekorelemente Venedigs in direkter Nachbarschaft zu denen Balbecs zu zeigen (Seq. 5.40; 2:27:26). Seq. 5.40 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609823) Der unterirdische Gang (2:27:12–2:28:24). Dieser Raum von le Temps ist körperlich durchschreitbar – «wir [sind] viel­ mehr der Zeit gegenüber innerlich», schreibt Deleuze, «einer sich teilen­ den, verlierenden und wieder findenden Zeit, die die Gegenwart vorüber­ gehen lässt und die Vergangenheit bewahrt».594 In der Verdichtung und Verschiebung der im Film leitmotivischen Dekorelemente wirkt die Kame­ 594 Deleuze 1991b: S. 113. Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 281 rafahrt durch den onirischen Raum wie eine weitere Ausdrucksform der Innenlandschaft des Ich­Erzählers, in dem sich Ich und Raum gegensei­ tig bedingen, in dem Dunkelheit das Moment der Selbstprojektion in der Zeit entfaltet, wie beim nächtlichen Spaziergang in Paris, und dabei in der Bewegung stets einen doute visuel vorbehält: Bewegt sich die im Standbild eingefrorene Statue in dieser Szene oder ist das eine Illusion von Licht und Schatten? Die Einstellung folgt Marcel, der seinerseits gefolgt von André Engel an der Statue der Venus Kallipygos vorbeigeht, und fasst dabei ein eigenartiges Bild, das die Venus im Hintergrund zu verdoppeln scheint (2:28:42). Beide werden von hinten beleuchtet, doch zeigt sich die Venus im Hintergrund der Kamera von ihrer Vorderseite. Dabei nimmt sie eine spiegelverkehrte Pose ein: Sie hebt ihr Tuch mit dem rechten Arm, als wolle sie die Unmöglichkeit der Betrachtung der Vorderseite beweisen, die doch stets noch auf eine Illu­ sion zurückzuführen ist; auf eine Spiegelung. Die Kamera lässt diese Anspielung im Vagen: Als das Kind den lichteren Bereich des Labyrinths betritt und der Greis direkt vor der Venus steht, ver­ lässt sie den unterirdischen Ort mit einem Schnitt, um in der folgenden Auf­ nahme den Himmel über Balbec einzufangen, von dem aus sie in langsamer Abwärtsbewegung, die Schwenk und Fahrt kombiniert, beide Schauspieler auf der Treppe des Hôtel de Balbec zeigt, wo sie nun in direkte Konversation zueinander treten (Seq. 5.41; 2:28:20 ff.). Seq. 5.41 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609824) Von der Unterwelt nach Balbec (2:28:42–2:29:23). 282 Zur Spatialisierung des discours Die letzten von Marcel gesprochenen Worte im audiovisuellen Medium Film schließen mit der Aufforderung, den Seh­Sinn einzustellen: «Jetzt musst du die Augen zumachen», erklärt der kleine Marcel und läuft zum Meer herun­ ter, während der erwachsene Proust mit Schnurrbart hinzutritt, um die titi­ ansche Konfiguration in den Tiefenschichten des Filmbildes zu komplettieren (2:29:23). Hier endet die musikalische Einspielung der adoration perpétuelle. […] es geht nicht mehr darum, den alltäglichen Körper zu verfolgen und zu jagen, sondern ihn in eine Zeremonie einzuführen, ihn in ein Glasgefäß oder einen Kristall, in einen Karneval oder eine Maske­ rade zu versetzen […].595 Indem Ruiz die Meeresszenerie als Schlussakkord setzt, umgeht er Genettes Fazit des «Bildungsromans», der mit dem «zum Schriftsteller werdende(n) Marcel» schließt.596 Ruiz lässt seine Erzähler mit dem unterirdischen Gang, der von der Matinée de Guermantes wegführt, immer tiefer in den eigenen, filmischen, Kristall treten. Eben dies geschieht auf dem von Ruiz durch die Unterwelt inszenierten Weg der traumhaften Verdichtung, indem die Zeit sich verviel­ fältigt und im bildlichen Kontext des statuesken Stillstands wie die proust­ sche métaphore verschiedene virtuelle und aktuelle Zeiten im außerzeitlichen Raum ansiedelt. Die mit dem Schlüssel eingeführte Szene führt folglich nicht zu einer Entschlüsselung, sondern, ganz der Zeichenlogik des literarischen Prätextes verpflichtet, zu einer stetig neuen Hieroglyphisierung, die als abschließendes Bild das Meer setzt. Die «image­mère d’où procèdent toutes les images»597 wird hier zur image-mer als dem «proustsche(n) Zeitmeer».598 However, the sea does not merely represent the return to the mater­ nal, founding element. The ultimate counterpoint to the stereotypical 595 Ibid.: S. 245. 596 Genette 2010: S. 162. Visconti hatte dieses Moment an das Filmende transponiert, um eine Reihe von Rückblen­ den in die Vergangenheit des kindlichen Erzählers einzuleiten, die in der Schwebe bleiben. 597 Ruiz 2006: S. 20. 598 «[…] Generalthema Zeit, die bei Proust nicht als einsinnig linear verlaufender ‹Fluß› erscheint, sondern eher als ein Meer, das sich in verschiedene Richtungen durch­ schiffen lässt» ( Schmitz-Emans 2003: S. 335). «[…] c’était un souvenir que je n’avais pas revu depuis bien longtemps, car il était resté dissous dans la fluide et invisible étandue de ma mémoire […]» (RTP III: S. 491), heißt es beispielsweise, als der Erzähler aus dem Meer seiner Erinnerung die Duschepisode um Albertine isoliert. Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 283 description of flowing water as the passing of time, the image of the moving sea fuses, in the eternally repeated backwash movement of the waves, the simultaneous representation of the beginning and the end.599 Ruiz wählt das Bild des Meeres als Zeitbild der éternité, vor deren Hinter­ grund sich die «moi successif» (RTP III: S. 696) im Raum der Gleichzeitigkeit konfigurieren. So führt Ruiz einmal mehr die Schärfentiefe als Theorem an, die zwei Zeitbilder enthält: Das Meer als außerzeitliches Bild der éternité600 und die im Diskurs entwickelte Serialität in Form der zeitlich differenten Protago­ nisten, die sich im «tableau contigu» des filmischen Kunstwerks vor das Meer gesellen, das sie im Zeitraum des Äon umfasst. Tout se passe comme si les lignes du temps se brisaient, s’emboîtaient les unes dans les autres. Ainsi c’est le Temps lui-même qui est sériel; chaque aspect du temps est maintenant lui­même un terme de la série temporelle absolue, et renvoie à un Moi qui dispose d’un champ d’ex­ ploration de plus en plus vaste et de mieux en mieux individualisé. Le temps primordial de l’art imbrique tous les temps, le Moi absolu de l’art englobe tous les Moi,601 schreibt Deleuze. So führt der Gang des Protagonisten aus der mise-en-scène, die ihn als gefangenen Schatten zwischen die Gemälde der inconstatia und infidelitas sperrte, über die serielle unterirdische Landschaft in eine mise- en-scène, die der personalen Vielheit als Vordergrund des allumfassenden Meeres eine atmosphärische Einheit verleiht. Statt den Film mit dem Bild der zeitlich multiplen Entitäten vor dem Meer enden zu lassen, lässt Ruiz einen freien Epilog folgen, der ebenso wie die Photographiebetrachtung der ersten Sequenz nicht im literarischen Prä­ text festzumachen ist: Die Kamera folgt Mazzarella, der über die Terrasse des Hôtel de Bal­ bec flaniert, um Informationen zu einigen Details einer Stickerei einzu­ holen, die ihm am Ärmel einer nicht weiter bekannten Dame aufgefallen war. Dabei spielt im Ton Morel nun in raumzeitlicher Inkongruenz zum 599 Beugnet / S chmid 2006: S. 167. 600 «[…] le temps qu’elle (la spéculation sur le temps) porte au jour n’est pas d’abord Le Temps Retrouvé, au sens de temps perdu retrouvé, mais la suspension même du temps: l’éternité, ou pour parler comme le narrateur, ‹l’ extra-temporel›» (Ricœur 1984: S. 213). 601 Deleuze 1996: S. 107 f. 284 Zur Spatialisierung des discours Bildkader zu den auf der Matinée erwarteten Tänzen Beethovens auf, die er vormals durch die Ragtime ersetzt hatte (2:29:06–2:30:07). Die intermedialen Verweise zielen schließlich in der prominenten Positi­ onierung des Filmendes nicht mehr auf den Roman oder den Film, sondern auf die Bildhauerei ab: Eine junge Frau liest einem Blinden ein Pastiche von Karen Blixen vor (Abb. 5.9): Abb. 5.9 Das Pastiche von Blixen: «Le jour où le sculpteur Salvini mourut […]» (2:30:42). Le jour où le sculpteur Salvini mourut, il lui fut accordé, comme au reste des mortels, le temps de parcourir tous les lieux et les instants de sa vie sur Terre. Le sculpteur refusa cette grâce: « Ma vie n’est qu’une suc­ cession d’aventures extraordinaires et leur rendre visite ne ferait que m’attrister davantage » dit-il, « Je préfère me servir du temps que l’on m’a accordé pour parcourir ma dernière oeuvre, Nemesis Divine, que tous connaissent mieux sous le nom de Triomphe de la mort ». Ainsi fit­il. Peu de temps après, l’Ange de la Mort apparu pour lui annoncer que le temps de grâce était passé. « Il y a un paradoxe dans tout cela » s’exclama Salvini, « J’avais assez de temps pour visiter tous les instants de ma vie qui dura 63 ans et ce même temps n’a pas suffit pour parcou­ rir une œuvre que j’ai faite en trois mois ». « Dans cette œuvre il y a toute ta vie et la vie de tous les Hommes » répondit l’Ange de la Mort, « Pour la parcourir, il t’aurait fallu une éternité » (2:30:30 ff.). Hier spielt Ruiz im Schluss mit der filmeigenen Multimedialität, indem er das Schlusswort einem Buch entspringen lässt, das filmisch über das gesprochene Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 285 Wort vermittelt wird (der Adressat ist offensichtlich ein Blinder)  – und gleichzeitig das Stand­Bild der Skulptur als Metapher ins Spiel bringt, die dem bewegten Medium als Pointe das Moment des Stillstands verleiht. Nachdem Ruiz erwiesen hat, dass die Tiefenschichten der Laterna­ Magica­ Projektionen filmisch gleichermaßen spatial als Doppelbelichtung übersetzbar sind (als bildlicher Zusammenfall von imaginärer und aktueller Zeit im schärfentiefen Bild) wie auch diskursiv (in der benachbarten Situie­ rung ferner Zeiten und Räume bzw. in der fernen Situierung benachbarter Zeiträume), dass die bildliche Substitution in der proustschen Erzählung mit dem steten Ersatz der Einstellungen in der filmischen Montage vergleichbar ist dass der Schnitt als «spacial gap» einen Eigenwert hat und nachdem er den kindlichen Marcel zum Projektierer der Laterna und zum Kameramann gemacht hatte, deklariert er am Ende die grundsätzliche Transmedialität des proustschen Zeitkonzepts. Buch, Skulptur und Film gehen eine Synthese ein, als Medien menschlicher Zeitdarstellung, die im Kunstwerk die Dimen­ sion der außerzeitlichen éternité einnimmt. Dem letzten Wort der Recherche, der Zeit mit allegorischer Majuskel,602 stellt Ruiz als letztes Wort die Ewig­ keit in der Verdichtung der steinernen Form entgegen, als der Kunstform des Nunc stans, des stehenden Jetzt als Standbild im wörtlichen Sinne.603 Der Erzähler der Recherche wird als künftiger Schriftsteller von seiner «angoisse» erlöst werden, indem er sie von der Angst des «terrible besoin d’un être» in die Angst der Werksvollendung vor dem nahenden Tod über­ setzt. Mit der Konzeption eines Stilprinzips, das die Zerstückelung der eige­ nen Person wie der wahrgenommen Welt in der fusionierenden Montage des Zeit­Bildes überwindet, findet er einen Glauben an die Kunst, die ihn zum Salvatus machen wird. Si du moins il m’était laissé assez de temps pour accomplir mon œuvre, je ne manquerais pas de la marquer au sceau de ce Temps dont l’idée s’imposait à moi avec tant de force aujourd’hui, et j’y décrirais les hommes, cela dût­il les faire ressembler à des êtres monstrueux, comme occupant dans le Temps une place autrement considérable que celle si restreinte qui leur est réservée dans l’espace, une place, au contraire, prolongée sans mesure, puisqu’ils touchent simulta­ nément, comme des géants, plongés dans les années, à des époques vécues par eux, si distantes – entre lesquelles tant de jours sont venus se placer – dans le Temps (RTP III: S. 1048). 602 Cf. RTP III: S. 1048. 603 Für die Anregungen zu diesem Komplex einen Dank an Herrn Poppenberg und das Doktorandenkolloquium. 286 Zur Spatialisierung des discours Wenn Proust im letzten Abschnitt le Temps als einen Raum entwirft, indem sich die erzählten Giganten entfernter Epochen in Gleichzeitigkeit berüh­ ren, dann ist dies ein Raum der Ewigkeit bzw. des Aion als Gegenkonstrukt zum Nacheinander des Chronos, der Anfang in Ende überführt. Dass dieses stehende Jetzt keinen Stillstand bedeutet, verdeutlicht die letzte Einstellung (Seq. 5.42). Seq. 5.42 (http://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/id/609825) Das stehende Jetzt des Meeres (2:32:42). Während Proust den Anfang in die sich drehenden Kreise des Erwachens fallen lässt und das Ende auf einen Zeitpunkt nach dem letzten Wort schiebt, löst Ruiz mit der Konzentration auf den letzten Band der Recher- che über den freien filmischen Pro­ und Epilog den Fluss der Zeit ins Meer auf und setzt das Moment des nahen Todes in den erst­ und letzterzählten Raum, der in seiner Verschachtelung in den Diskurs der Gegenwartsspit­ zen ausstreut. Das dichte Verweben der sich in Differenz stetig wiederholenden Ele­ mente auf Abbildungsebene, Darstellungsebene sowie auf der Tonspur sug­ geriert auch durch die Länge des Films einen Eindruck von Zeitlosigkeit bzw. von einer außerzeitlichen Ewigkeit eines spiegelkabinettähnlichen Domus der Erinnerung, in dem der erste und letzte Raum des Diskurses tat­ sächlich dem gleichen Gebäude der Geschichte einer Raum­Zeit angehören, in dem alles in Bewegung ist. Über diesen verschränkten Diskurs, der das aktuelle Bild stets mit einem virtuellen interagieren lässt, um beide von Zeit zu Zeit in Gleichzeitigkeit in das tiefenscharfe Bild fallen zu lassen, äußert sich das Prinzip der verschränkten Zeit der Recherche, denn, wie Benjamin Vom Anfang zum Ende – Der Diskurs verschachtelter Gegenwartsspitzen 287 anmerkte, ist die «Ewigkeit, in welcher Proust Aspekte eröffnet, […] die ver­ schränkte […] Zeit. Sein wahrer Anteil gilt dem Zeitverlauf in seiner reals­ ten, das ist aber verschränkten Gestalt […].»604 In der Verfilmung von Le Temps retrouvé, , der dieses Konzept auf die Montageform der métaphore zurückführt («Seule la métaphore peut donner au style une sorte d’éternité», RTP III: S. 895), lag Ruiz ein Prätext vor, der sich selbst explizit die Frage seiner metapoetischen Gestaltung stellt, die es ermöglichen sollte, die Zeitschichten ineinander zu integrieren und dadurch die Dimension der zeitlichen Abfolge auszuspielen (cf. RTP III: S. 1931). Die «beauté nouvelle» (ibid.), die der Erzähler hier festmacht, lieferte dem Film die Vorlage für die Montageprinzipien des modernen Kinos, das seinerseits wiederum den modernen Roman beeinflussen sollte.605 Wie Ruiz in der Parabel Salvinis impliziert, ist das abschließende Betrachten eines solchen Kunstwerks zu Lebzeiten nicht möglich. Das gilt auch für die Verfilmung, die, wie hier deutlich wurde, dem literarischen Prätext an Vielschichtigkeit und Komplexität sehr nahekommt. Ruiz hat noch vor Ende seiner Lebenszeit der Proustforschung Entschei­ dendes hinzugefügt, indem er mit den «verres grossissants» (RTP III: S. 1033) des Cineasten den Roman als Film las. Das ist der schwindelerregende Status des narrativen Adressaten bei Proust: Er soll nicht, wie Nathanael, «das Buch wegwerfen», son­ dern es neuschreiben, völlig untreu und doch auf wunderbare Weise exakt, so wie Pierre Ménard, der den Don Quijote Wort für Wort neuerfindet. Jeder begreift, was diese Fabel, die zwischen Proust und Borges zirkuliert und in den kleinen benachbarten Salons der Mai­ son Nucingen so vortrefflich illustriert wird, besagt: «Der wahre Autor der Erzählung ist nicht nur der, der sie erzählt, sondern auch, und mitunter noch mehr, der, der sie hört.»606 Mit der Verfilmung von Le Temps retrouvé hat sich Ruiz als überaus treuer Proustleser erwiesen. In seinem Meisterwerk, das er selbst als Höhepunkt seines Schaffens betrachtete,607 gelang es ihm, das proustsche Zeitspiel als filmisches vorzuführen. 604 Benjamin 1972–1989: S. 320. 605 «Film et roman se rencontrent en tout cas, aujourd’hui, dans la construction d’ in­ stants, d’ intervalles et de successions qui n’ont plus rien à voir avec ceux des horloges ou du calendrier» (Robbe-Grillet 1963: S. 130). 606 Genette 2010: S. 170. 607 Barde 1999: S. 1. 6 Zusammenfassung der Ergebnisse Ausgehend von Fendlers Medienbegriff des «Kommunikationsdisposi­ tivs»608, der sowohl die semiologische als auch die aisthetische Komponente einschließt, die in den metapoetischen Reflexionen der Recherche in Interde­ pendenz abgehandelt werden, konnte die vorliegende Untersuchung darle­ gen, wie frei sowohl der literarische Prätext als auch der Film von Raoul Ruiz mit der jeweils medienspezifischen Vorstellungs­ bzw. Wahrnehmungsbild­ lichkeit umgehen, um die Pointe der entchronologisierten Zeit von Le Temps retrouvé in ihrem zeit­bildlichen Gehalt zu treffen. Dabei liegt die Essenz der Bildlichkeit beiderorts nicht mehr in ihrer ontologischen Gestalt (als Wahr­ nehmungs­ bzw. Vorstellungsbild), die auf der differenten Abbildrelation von Zeichen und Bezeichnetem fußt, sondern wird zur Beziehungsfigur, die sich in Interaktion mit dem Betrachter konstituiert. Die Frage nach dem Ikonologischen und Narratologischen, die Le Temps retrouvé explizit als metapoetische aufwirft (RTP III: S. 876), beantwortet sie implizit in ihrem eigenen récit. Wie die Analysen exemplarischer Textpas­ sus zeigen konnten, versetzt dieser in der literarischen Rezeptionssituation seiner «rhétorique mouvante»609 Wahrnehmungs­ und Vorstellungsbilder in chiastische Austauschverhältnisse, macht das Photoobjektiv zum episte­ mologischen Katalysator und schöpft im rêve éveillé seines Incipits den eige­ nen «image»­Begriff aus einer Fusion von Stillstand und Bewegung, Licht und Dunkelheit, Flächigkeit und Tiefe. 608 Fendler 2004: S. 214. 609 Barathieu 2002: S. 325 ff. https://doi.org/10.17885/heiup.310.420 290 Zusammenfassung der Ergebnisse In der metapoetischen Gemäldebeschreibung des Port de Carquethuit schließlich ruft er die figurativen, sich in der Wahrnehmung ersetzenden Hieroglyphen, die Virtuellem und Aktuellem den gleichen Wirklichkeits­ wert zukommen lassen, zum stilistischen Ideal der métaphore aus. Wie die Analyse der fiktiven Ekphrasis zeigte, treten die Ebenen des beschriebenen Bildes wie der Beschreibung des Bildes, also die semiotisch­hieroglyphische und die narrativ­erläuternde Ebene hier in eine Spiegelrelation, die sich einem monosemierenden Erfassen entzieht und die über den Einsatz litera­ rischer Termini für die Gemäldebeschreibung eine grundlegende Transme­ dialität des bildlichen Prinzips postuliert, die in ihrer dispositiven Struktur als modern­filmische ausgewiesen werden konnte. In der Narration zeigte sich die kinematographische Form in der Ana­ logie zwischen literarisch erzählendem Ich und der filmischen Kamera, die Ruiz hintergründig in der wechselseitigen Annäherung zwischen dem kameraähnlichen Erzähler der Diegese und dem anthropomorphen Kame­ raverhalten kommentierte. Dieser Kommentar öffnete den Blick für eine neue Kontextualisierung der bereits wiederholt konstatierten Besonderheiten der literarischen Nar­ ration; zu nennen ist in diesem Zusammenhang primär die konsequente Trennung von erzählendem und erlebendem Ich bei gleichzeitiger perso­ naler Identität, die hier mit der Operationsweise eines Kinematographen verglichen und auf die traumähnliche Wahrnehmungssituation im Kinodi­ spositiv geführt werden konnte.610 Wie in der Beschreibung des Port de Carquethuit ist der oftmals markierte Wahrnehmungsfilter, den Albers und Townsend als «photographischen»611 bezeichnen, in der gesamten narrativen Beziehungsfigur ein elementa­ res Konstituens, das die Narration mit der Ebene der um Entschlüsselung bemühten Aisthesis anreichert und auf breiter Ebene auf das Kinodispositiv übertragbar ist: Dies betrifft zum einen das Charakteristikum der materiellen Tren­ nung von Kinosaal und diegetischem Raum, das sich in der Recherche in der von Bal konstatierten «flatness» der proustschen Figurenbeschreibung äußert, die als einzige Annäherungsform des Betrachtenden ein «pressing 610 In der kinospezifischen Aisthesis wird der Schauspieler zum Spiegel des Betrachten­ den «als sei er selbst ins Bild geraten» (Belting 2001b: S. 75). Die Differenz zwischen dem eigenen und dem fremden Kamerablick fasst der Betrachtende dagegen in den ruizschen Momenten der «distanciation», die den Kinosaal zum Denkraum werden lassen, indem sie das gesamte Kinodispositiv in seiner metapoetischen Dimension enthüllen. 611 Albers 2004: S. 205–239; Townsend 2008: S. 138 ff. Zusammenfassung der Ergebnisse 291 against»612 erlaubt. Des Weiteren führten die «Polymodalität»613 im diver­ genten Einsatz von Modus und Stimme und das «Tingieren»614 der jewei­ ligen Erinnerungsschicht mit spezifischen Farben auf das Konzept des cinematographischen Erzählers, der nicht nur aufzeichnet, sondern auch projiziert und dabei wie im deleuzeschen «Kino des Gehirns» das Denken «ins Innere des Bildes»615 versetzt. Der Wahrnehmungsfilter, der im literarischen Prätext die okularen Möglichkeiten offensichtlich transgrediert, artikuliert sich vornehmlich in Passagen markierter Theatralität, die das Phänomen von Sein und Schein gleichzeitig als personales wie als (im weitesten Sinne) «sprachliches»616 fassen. Im Sinne der These wurde dieser Aspekt auf die Problematik von Lüge und Wahrheit geführt, wie sie von Cassavetes, Clarke und Perrault in den 60er-Jahren im Kontext des Films betrachtet wurde, in deren Tradition sich Ruiz einreihen lässt: Maître incontesté du faux semblant, il révèle qu’il y a fausse sem­ blance, montre que l’image ment, faisant ainsi paradoxalement œuvre de vérité en désignant un mensonge.617 Unter diese Prämisse fällt auch die unrealistische Narration aus dem Futur II, die dem Erzählakt eine grundlegend dynamische Konzeption zuweist, wie sie Deleuze unter dem Begriff des «Kino des Werdens»618 entwickelt. Dieses umfasst sowohl den fälschenden als auch den zeitlichen Aspekt des modernen Kinos, die sich beide im literarischen Prätext präfiguriert finden. So offenbart der cineastische Kommentar die narrative Anlage der Recherche als eine Präfiguration des modernen Kinos, die bisher nicht in ihrer Vielschichtigkeit ersichtlich war. Der intermediale Griff rührt dabei bis an die autopoetischen Reflexionen, die die problematische Dechiffrierung der omnipräsenten Zeichen auf eine problematische Aisthesis zurückführ­ ten, die sich den hermeneutischen Entzifferungsbestrebungen widersetzt; Figuren sind stets Schauspieler, Lüge die einzige Wahrheit, Wahrneh­ mung bedeutet immer auch Projektion und die Brüche in Zeit und Raum, 612 Bal 1997: S. 244. 613 Genette 2010: S. 149. 614 Cf. Böhme 2007: S. 296 f. 615 Deleuze 1991b: S. 226. 616 Veltkamp 1987: S. 82. 617 Buci-Glucksmann /  Revault-D’Allones 1987: S. 42 f. 618 Cf. Deleuze 1991b: S. 204 ff. 292 Zusammenfassung der Ergebnisse Betrachtendem und Betrachteten, die in Momenten der «fascination»619 (das heißt in der Recherche in Momenten des Zwischenzustands von Schlaf und Erwachen und in denen der mémoire involontaire) als Einheit erscheinen, zerfallen in der hermeneutisch­distanzierten Reflexion in ihre Vielheit. In der Betrachtung des Diskurses, dessen Spatialisierung in der Form sich Le Temps retrouvé zur Aufgabe erklärt, lässt Ruiz’ kongeniale Bearbei­ tung erkennen, dass das metapoetische Manifest des Port de Carquethuit, dem Billermann die Zeitlichkeit abgesprochen hatte, das Zeitkonzept des modernen Kinos in seiner kristallinen Koexistenz von Virtualität und Aktualität gerade konzentriert. Die Pointe der zeitlichen Entchronologisie­ rung, die Proust dazu veranlasste, den Film als Negativkontrast heranzuzie­ hen, ist die des Zeit­Bildes, das Deleuze im Kontrast zum Bewegungs­Bild entwirft. Die Probleme in der bewegungsbildlichen Aisthesis (insbesondere das Übertünchen des Intervalls über kohärente Aktionen, die ein Vorher in ein Nachher überführen) werden im Zeit-Bild zu montagedeterminieren­ den Elementen, die sich über irrationale Schnitte in das Filmganze öffnen und damit die «contingences du temps» (RTP III: S. 889) überwinden, da sie, gleich der proustschen métaphore (RTP I: S. 836), in den Raum führen.620 Mit der Inszenierung des kindlichen Erzählers hinter dem Medium der Laterna Magica führt Ruiz subtil auf das Prinzip einer geschichteten Räum­ lichkeit, für deren literarische Beschreibung bereits Deleuze Proust «kine­ matographische Begriffe»621 attestierte. Im Spiel mit dem schärfentiefen Raum, dem Schnitt bzw. Schnittersatz und dem Gang durch die Räume der Erinnerung, die sich in mise en scène und Montage ineinander brechen, findet Ruiz in der kinematographischen Formsprache das grundlegende Prinzip der im literarischen Text anvisier­ ten Verräumlichung des Diskurses, der in beiden Medien über den fehlenden zeitlichen Fixpunkt der Narration als Sukzession simultaner «Gegenwarts­ spitzen» lesbar wird, «die […] Quantensprünge zwischen den Gegenwarten 619 Ruiz 2006: S. 36. 620 In diesem Zusammenhang scheint die frühere Konzeption des proustschen Romans aufschlussreich, die ebenfalls eine Zweiteilung vorsah: Im «âge des noms» sollte sich die Unzulänglichkeit des sprachlichen Zeichensystems zur Wiedergabe der Aisthesis des erzählend­erzähltem Subjekts zeigen, die dann im «âge des choses» zur figurati­ ven Form wahrer Wirklichkeitswiedergabe wurde, die das Eine an das Andere bzw. das Virtuelle an das Aktuelle koppelt, beiden Elementen den gleichen Wirklichkeitswert zumisst und sie in der Zeit in ihrer Semantik verschiebt bzw. in ihren Komponenten ersetzt. 621 Deleuze 1991b: S. 58 f. Zusammenfassung der Ergebnisse 293 bewirken, die durch die Vergangenheit, die Zukunft und die Gegenwart selbst angereichert sind»622. Die Problematik der Recherche um Subjekt und Identität, um Wahrneh­ mung und Beschreibung, um sich entziehende Zeichen und deren Lesbar­ keit führt die Recherche an ihrem Schlusspunkt in die Zeit als Raum, die eine gleichsam erlösende Funktion hat, indem sie eine Einheit über die Zer­ stückelungs­ und Austauschformationen wirft und indem sie in ihrer for­ malen Analogizität mit der metaphorischen Figur für eine «vérité» (RTP III: S. 889) des Kunstwerks als Beziehungsfigur bürgt. Raoul Ruiz trat mit seinem Kunstwerk den Beweis seiner eigenen These an und legte damit offen, dass die von Deleuze grundlegend in Cinéma 2 – l’image-temps konzipierten Denkformen des modernen Kinos, die histo­ risch erst mit dem Neorealismus bzw. der Nouvelle Vague einsetzen, bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in Prousts Recherche auf überraschend breiter Ebene antizipiert wurden. Le seul véritable voyage, le seul bain de jouvence, ce ne serait pas d’aller vers de nouveaux paysages, mais d’avoir d’autres yeux, de voir l’univers avec les yeux d’un autre (RTP III: S. 258). Der cineastische Kommentar von Raoul Ruiz bereicherte die Proustfor­ schung um eine Perspektive, die die häufig intermedialen Reflexionen des literarischen Prätexts um die problematischen Kategorien von Ich und Anderem, räumlicher wie zeitlicher Trennung und Fusion, Ferne und Nähe, Aktualität und Virtualität, Perzeption und Projektion, Flächigkeit und Tiefe, Licht und Schatten, Zeit und Raum, Einheit und Vielheit, Bewegung und Stillstand, Flüchtigkeit der bildlichen Atmosphären und Interpretati­ onsdrang, Wachzustand und Traum etc. auf eine für das Kinodispositiv spe­ zifische Aisthesis zurückführen lassen bzw. auf die eingangs zitierten «pro­ blèmes cinématographiques», die ein gemeinsames Fundament mit dem discours der Recherche und der in ihrer histoire angelegten Formsuche teilen. So gelingt es, im ästhetischen Prinzip der Visualität eine stilistische Einheit auszumachen, die die Brechung auffängt.623 Lesarten, die sich nicht explizit der Dekonstruktion verschrieben haben, standen meist vor dem Dilemma, die Brüche zugunsten einer stilistischen Einheit auszuklammern (Impressionismus, Religion, Chiaroscuro, Photographie etc.). Die Analo­ gie zum Dispositiv des modernen Kinos dagegen erlaubt es, diese über die «Ästhetik des Risses» gerade als elementare Konstituenten darzustellen. 622 Ibid.: S. 351. 623 Cf. Sprenger 1995: S. 7. 294 Zusammenfassung der Ergebnisse Die Analogisierung der Wahrnehmungsbeschreibung der Recherche und des Kinodispositivs ist nicht nur ein gedankliches Spiel, das sich selbst genügt. Sie deckt in der Lösung vom Medium der Literatur die Transme­ dialität der proustschen Form auf: Indem Ruiz sich über den letzten Band der Recherche beugte, der als âge des choses die Zeichen der Kunst gefunden hatte, die jetzt nur noch ihrer Literarisierung harrten, stellte er sich der Herausforderung einer Inszenierung von Medium und Form. Die Form, auf die die Entwicklungslinie als «Zeichen der Kunst» hin­ ausläuft, ist die Form der Trope als Struktur, die über das Moment der Subs­ titution das Anwesende mit dem Abwesenden denken lässt und sich so zum Spiegel einer in sich gespaltenen Subjektkonstitution macht. Ruiz erkannte die Analogie zum Kinodispositiv, in der diese «vérité» in der Trennung von Ich und Anderem zur Wahrnehmungssituation des hellen Traums wird. Dieser Bezug enthüllt das Moderne der Recherche, in der die Zeichen der Kunst über den Bruch konstruiert, alle Wahrnehmung zwischen Trennung und Suture von Subjekt und Objekt angesiedelt und die Zeichen der Kunst als antilogische etabliert werden. Diese spiegeln und verschleiern gleich­ zeitig das Subjekt und versetzen es über die Gestalt der Trope in ein Span­ nungsfeld von Wissen und Nichtwissen, das sich visuell als Spannungsfeld von Virtuellem und Aktuellem äußert und mit diesem Kunst­Griff die Zeit als Dimension sichtbar macht. Hier wird das Medium zum palais mental der Memoria (Ruiz), das Flüchtigkeit als ergänzenden Pol zur Ewigkeit624 kon­ zipiert, indem es das erzählende und erlebende Ich in den geschachtelten Raum der Zeit führt. Mit der Präfiguration einer modern­kinematographischen Erzählform skizziert die Recherche in ihrer Anlage eine Aisthesis von Subjekt und Objekt, die das Medium Film erst nach dem Zweiten Weltkrieg, das heißt zu Zeiten, in denen es den Status des Leitmediums gewonnen hatte, ausge­ stalten sollte. Den Bruch im «Welt­ und Selbstverhältnis des Subjekts»625, den Deleuze Cinéma 2, l‘Image-Temps626 mit dem Zweiten Weltkrieg ansetzt, erkannte Proust bereits mit der Jahrhundertwende in der Auflösung der Standesdistinktionen, die schließlich auch eine Auflösung der kindlichen Topographie (der Seiten der Guermantes und Swanns) bedeutete. Auf der Suche nach einer entsprechenden Kunstform strebte bereits die Recherche nach einem Bildkonzept, das sich nicht mehr dem Abbild ver­ pflichtet, sondern dem Dispositiv, das über die brüchige Heterogenität von 624 «La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art dont l’autre moitié et l’éternel et l’ immuable» (Baudelaire 1976: S. 686; cf. Doetsch 2004: S. 1). 625 Kramer 2009: S. 13. 626 Cf. Deleuze 1991b Zusammenfassung der Ergebnisse 295 Wahrnehmendem und Wahrgenommenen hinweg eine Einheit in der atmo­ sphärischen Dichte der Kunst findet. Es ist das Verdienst von Raoul Ruiz, uns dieses Konzept als filmisches vorzuführen: Gerade die Passagen, in denen der Film sein eigenes Medium sondiert, lassen sich geradezu als Zitate zu den metapoetischen Einlassun­ gen von Le Temps retrouvé lesen. «Tous les problèmes que pose Proust sont, à mon avis, cinématogra­ phiques»627 schreibt Ruiz. «Tous les problèmes cinématographiques sont au fond des problèmes proustiens», möchte man nach Ruiz’ Verfilmung hin­ zufügen. Die Metapoetik der Recherche ist gleichzeitig eine metafilmische. 627 Burdeau 1999: S. 46. 7 Bibliographie und Filmographie Bibliographie Adorno, Theodor W. (1981): «Kleine Proust-Kommentare», in: ders., «Noten zur Lite- ratur», Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 203–215. Albers, Irene (2001): «Prousts photographisches Gedächtnis», in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 111, S. 19–56. 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