montage 19/2/2010 Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation [Filmologie/Soziologie] Impressum montage AV 19/2/2010 Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation Herausgeber: Gesellschaft für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation e.V. ISSN 0942-4954 ISBN 978-3-89472-473-3 Redaktion: Andrea B. Braidt (Wien), Christine N. Brinckmann (Berlin), Evelyn Echle (Potsdam), Britta Hartmann (Bonn/Berlin), Vinzenz Hediger (Bochum), Judith Keilbach (Utrecht), Frank Kessler (Utrecht), Guido Kirsten (Zürich), Kristina Köhler (Zürich), Stephen Lowry (Stuttgart), Jörg Schweinitz (Zürich), Patrick Vonder- au (Stockholm/Bochum), Hans J. Wulff (Kiel) Korrektorat: Jacqueline Eikelmann (Bochum) Redaktionsanschrift: c/o Britta Hartmann, Körnerstr. 11, D-10785 Berlin, Tel./Fax: 030 - 262 84 20, E-Mail: montage@snafu.de Die Redaktion freut sich über eingesandte Artikel. www.montage-av.de Preis: Einzelheft 12,80 Euro / Sfr 22,50 UVP Abonnement: zwei Hefte im Jahr, 22,– Euro / Sfr. 37,50 UVP Studenten: 18,50 Euro / Sfr. 31,90 UVP Verlag: Schüren Verlag GmbH, Universitätsstr. 55, D-35037 Marburg, Tel.: 06421 - 63084, Fax: 06421 - 681190, E-Mail: info@schueren-verlag.de Gestaltungskonzept: Ivy Kunze (Berlin) Satz: Nadine Schrey Druck: difo-Druck, Bamberg Anzeigen: Katrin Ahnemann, E-Mail: ahnemann@schueren-verlag.de © Schüren Verlag 2010 Titel: Bild aus Chronique d’un été (Jean Rouch & Edgar Morin, F 1961). Herzlichen Dank an die Dokumentationsstelle der Cinémathèque suisse in Zürich, aus deren Sammlung das Foto stammt. Bildnachweise: Bei den Autoren. Inhalt Editorial 4 Guido Kirsten: «Tout film est un document social». Zum prekären Verhältnis von Filmologie und Kinosoziologie 7 Georges Friedmann / Edgar Morin: Soziologie des Kinos 21 Edgar Morin: Forschungen zum Kinopublikum 43 Edgar Morin: Das Problem der gefährlichen Auswirkungen des Kinos 61 Edgar Morin: Das Kino aus soziologischer Sicht 77 Siegfried Kracauer: Nationalcharaktere – wie Hollywood sie zeigt 91 Leonardo Quaresima: Falsche Freunde: Kracauer und die Filmologie 103 Philippe Gauthier: «Fernseh-Revolution» und Filmerfahrung in der Revue internationale de filmologie 125 Franziska Heller / Barbara Flückiger: Zur Wertigkeit von Filmen. Retrodigitalisierung und Filmwissenschaft 139 Claus Tieber / Hans J. Wulff: Pragmatische Filmmusikforschung: Vom Text zum Prozess 153 Christa Blümlinger: Im Dickicht der Film-Wörter: Zu Serge Daneys Begrifflichkeit 167 Zu den Autorinnen und Autoren 183 Call for Papers 187 Editorial «Filmologie. Die wissenschaftliche Untersuchung des Films. Die Filmo- logie hat einen psychologischen Zweig, der die Wirkung des Films auf die Zuschauer untersucht; in diesem werden Beobachtungen, Statisti- ken und Experimente eingesetzt [...]. In ihrem soziologischen Zweig, der vor allem von statistischen Untersuchungen ausgeht, wird die ge- sellschaftliche Funktion des Films erforscht, seine sozialen Auswirkun- gen, die Reaktionen des Publikums in Abhängigkeit von seiner so- zialen Herkunft etc. Sie hat einen historischen Zweig, da der Film oft reale historische Ereignisse widerspiegelt und als selbst historisches Objekt Zeugnis von seiner Epoche ablegt. Schließlich hat sie einen ästhetischen Zweig, der seit langem Gegenstand von Forschung und Lehre ist (so wurden in den Jahren zwischen 1945 und 1950 die Revue internationale de filmologie und das Institut für Filmologie an der Uni- versität Paris gegründet, womit die Existenz der bereits entwickelten filmologischen Untersuchungen anerkannt wurde)» [Übers. GK]. So lautet der erste Teil eines Lexikoneintrags von Anne Souriau im von ihrem Vater Etienne Souriau betreuten, nach seinem Tod von ihr he- rausgegebenen Vocabulaire d’esthétique (Paris: PUF 1990). Auch wenn sich der Begriff ‹Filmologie› hier nicht nur auf die im engeren Sinn fil- mologischen Arbeiten bezieht, sondern auch auf historisch ältere und jüngere Filmwissenschaft, legt der Eintrag doch Zeugnis ab vom inter- disziplinären Selbstverständnis des eigentlichen ‹filmologischen› Pro- jekts, an dem Anne Souriau beteiligt war. Neben der – in der Filmolo- gie nur sporadisch adressierten – filmhistorischen Forschung nennt sie deren drei Kernbereiche: Psychologie, Ästhetik und Soziologie. Den psychologischen Studien, die sich in Experimental-, Entwicklungs- und Wahrnehmungspsychologie auf der einen und in psychoanalytisch inspirierte Überlegungen auf der anderen Seite differenzieren lassen, hat Montage AV Schwerpunkte in den Heften 12,1 (2003) und 13,1 (2004) gewidmet. Die filmologische Ästhetik war bereits 1997 Ge- genstand dieser Zeitschrift mit der Übersetzung von Etienne Souri- Editorial 5 aus «Struktur des filmischen Universums», einem weiteren Text dieses Autors im Heft 12,1 (2003) und schließlich dem von Souriaus Be- grifflichkeit inspirierten Themenheft zum Konzept der Diegese (16,2, 2007). Im Themenschwerpunkt der vorliegenden Ausgabe widmen wir uns nun dem auf Deutsch bislang nicht zugänglichen Bereich der ki- nosoziologischen Arbeiten der filmologischen Schule. Als Autoren ste- hen Siegfried Kracauer und Edgar Morin im Zentrum dieses Ar- beitsfeldes. Die nicht immer unproblematische Beziehung zwischen Kracauer und der Filmologie beschreibt Leonardo Quaresima ausführ- lich in seinem Beitrag. Dokumentiert wird Kracauers Einbindung ins filmologische Projekt mit Auszügen aus einer Studie zur Darstellung von Briten und Russen im Hollywoodfilm, die 1950 in der Revue in- ternationale de filmologie veröffentlicht wurde. Als wichtigster soziologischer Autor der Filmologie muss aber Ed- gar Morin gelten, zweifellos einer der einflussreichsten Anthropologen, Soziologen und Politologen des 20. Jahrhunderts. Bevor er mit seinen Büchern Le cinéma ou l’homme imaginaire (1956) und Les stars (1957) zu einer filmtheoretischen Größe wurde, war Morin als junger Mitarbeiter von Georges Friedmann am soziologischen Institut des Centre natio- nal de la recherche scientifique beschäftigt. Die Texte, die wir hier zum ersten Mal auf Deutsch präsentieren, dokumentieren seine filmsoziolo- gischen Arbeiten aus dieser Zeit. Sie beschäftigen sich mit allgemeinen methodologischen Fragen sowie dem Versuch, die gesamte Breite der gesellschaftlichen Aspekte des Kinos aufzureißen (im gemeinsam mit Friedmann geschriebenen Aufsatz «Sociologie du cinéma», 1952), au- ßerdem mit Fragen der Publikumssoziologie und den vermeintlichen Gefahren, die das Kino für die Jugend darstellt. In all diesen Texten, be- sonders aber in «Le cinéma sous l’angle sociologique» (1953) wird auch der autoreflexive Zug von Morins Methode deutlich, die später zu ei- nem Kennzeichen seiner Arbeiten wurde. Sein Gegenstand ist stets ein doppelter: Nicht nur das Kino, sondern auch dessen soziologische Er- forschung (ihr Kontext und ihre Methoden) werden zu Objekten der kritischen Befragung. Gleichzeitig deutet sich an vielen Stellen auch der Übergang zu den anthropologischen Positionen seiner beiden Kinobü- cher an. Die Übersetzungen der frühen Morin-Texte ergänzen also nicht nur die bislang in dieser Zeitschrift zugänglich gemachten Arbei- ten der École de filmologie, sondern tragen auch bei zur Rekonstruktion des intellektuellen Werdegangs dieses bedeutenden Theoretikers, dessen Arbeiten die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kino in den 1950er Jahren nicht nur in Frankreich geprägt haben. 6 montage AV 19 /2 / 2010 Als Ergänzung zum filmologisch-soziologischen Schwerpunkt dru- cken wir einen Beitrag von Philippe Gauthier, der sich mit der filmo- logischen Behandlung von Fragen der Filmerfahrung (damit an unser letztes Themenheft «Erfahrung» anschließend) im Zeitalter des Fern- sehens beschäftigt. Er beschreibt die Herausforderungen, vor die sich die Filmologen in erfahrungstheoretischer und terminologischer Hin- sicht im Moment der sich abzeichnenden «Fernsehrevolution» gestellt sahen, und zieht Parallelen zur heutigen Situation der Filmwissenschaft angesichts der Diversifizierung von Dispositiven des Bewegtbilds. Auf ganz andere Weise werden die Herausforderungen neuer me- dialer Bedingungen für die Filmwissenschaft im Beitrag von Franzis- ka Heller und Barbara Flückiger thematisiert. Die Autorinnen stellen das Schweizer Projekt AFRESA (Automatisches System zur Erfassung und Rekonstruktion von Archivfilmen) und dessen Beitrag zur digi- talen Restaurierung von historischem Filmmaterial vor. Dabei gehen sie unter anderem der Frage nach, wie sich der historische Wert von Filmen bestimmen lässt und welchen Beitrag die Filmwissenschaft im ökonomisch formierten Kontext der Gegenwart zur Klärung dieser Frage leisten kann. Einem weiteren Bereich zwischen den Disziplinen widmet sich der Beitrag von Claus Tieber und Hans J. Wulff: der Filmmusik. Die Au- toren begreifen Filmmusik als eine der Strategien der Bedeutungs- erzeugung und die Filmmusikanalyse entsprechend als integralen Teil der Textanalyse. Sie plädieren darüber hinaus dafür, die musikalische Komponente produktionsästhetisch als Teil einer umfassenden «pro- zessualen Textanalyse» und damit die am Ende gefundene textuelle Form als Ergebnis von kreativen Problemlösungsprozessen sowie zu- gleich als Ausgangspunkt für die Bedeutungszuweisungen in der Re- zeption aufzufassen. Als Abschluss dieser Ausgabe stellt Christa Blümlingers Text das filmkritische Denken und Schreiben Serge Daneys vor. Sie hält Rück- schau auf ihre Übersetzungsarbeit an dem Sammelband ausgewählter Texte Daneys (Von der Welt ins Bild. Augenzeugenberichte eines Cinephi- len), den sie vor zehn Jahren herausgegeben hat. Am Beispiel der raffi- nierten Sprachspiele Daneys macht Blümlinger auf die Probleme der interkulturellen Übersetzbarkeit filmkritischer Beschreibungssprache und damit des «Theorietransfers» aufmerksam. Die sprachlichen Dif- ferenzen markieren zugleich Unterschiede in der Konzeption des Ge- genstandes, die sich der Übersetzung entziehen. Guido Kirsten «Tout film est un document social» Zum prekären Verhältnis von Filmologie und Kinosoziologie Guido Kirsten Die Filmologie, dieser erste großangelegte Versuch der Konstituierung einer genuinen Filmwissenschaft im Paris der Nachkriegszeit, war bekanntlich von Anfang an multidisziplinär ausgerichtet (vgl. Lowry 1985; Kessler 1997). Während «[d]ie Hauptrolle unter den Disziplinen, die sich an der Filmologie beteiligten, [...] aber für die Dauer des Pro- jektes aus systematischen wie institutionspolitischen Gründen die Psy- chologie» spielte (Hediger 2003, 56), blieben den Soziologen im Rei- gen der Philosophen, Psychologen, Physiologen und Psychoanalytiker zunächst nur Nebenparts.1 Methodisch ergibt sich die Marginalisierung soziologischer zu- gunsten psychologischer Fragestellungen schon aus der Definition des filmologischen Gegenstandes (vgl. Leveratto 2009). Mario Roques, selbst Literaturhistoriker und Leiter des Institut de filmologie an der Sorbonne,2 nimmt in seinem programmatischen Text «Filmologie» in 1 An den Veröffentlichungen in der Revue internationale de filmologie (RIF) lässt sich die Dominanz der Psychologie ebenso ablesen wie an der Aus- und Einrichtung des In- stitut de filmologie an der Sorbonne. Nach dessen Gründung werden folgende Institute offiziell mit ihm assoziiert: das «laboratoire de psychobiologie» (unter Leitung von Henri Wallon), das «laboratoire de psychologie et physiologie des sensations» (Henri Pieron), das «laboratoire de psychologie de l’hôpital Henri-Roussell» (René Zazzo) und das Zentrum der Neuropsychiatrie für Kinder (geleitet von Georges Heuyer). Das Studienprogramm wird in vier Bereiche eingeteilt: psychologische Untersu- chungen, technische Studien, allgemeine Filmologie und Philosophie, Komparatistik (vgl. Lefebvre 2009, 65; Kling 2002, 23f). 2 Gemeinsam mit Cohen-Séat hat Roques schon 1946 die «Association pour la re- cherche filmologique» gegründet, die Anfang 1947 zur offiziellen Gesellschaft wur- 8 montage AV 19 /2 / 2010 der ersten Ausgabe der Revue internationale de filmologie (fortan: RIF) die wichtige Unterscheidung zwischen «fait filmique» und «fait ci- nématographique» von Gilbert Cohen-Séat auf und macht aus erste- rem das eigentliche Objekt filmologischer Untersuchung: «[D]ie fil- mischen Tatsachen, auf die sich die Filmologie bezieht, sind vor allem – ob sie einzeln oder in Mehrzahl auftreten – individuelle Tatsachen» (Roques 1947, 5).3 Zwar relativiert Roques diesen rein individuellen Charakter der filmischen Tatsachen gegen Ende seines kurzen Textes, wenn er darüber spekuliert, wie sie sich bei massenhaftem Auftreten zu sozialen Tatsachen auswachsen können; die wichtigsten Problema- tiken siedelt er jedoch auf psychologischem Gebiet an (vgl. ibid., 6ff).4 Auch in dem programmatischen Text von Etienne Souriau wird der Psychologie ein deutlich breiterer Platz eingeräumt als der Soziolo- gie. Den Beitrag letzterer zur Filmästhetik scheint Souriau tendenziell auf die Untersuchung der Werturteile des Publikums zu beschränken (vgl. 2003 [1947], 82f). Es ist insofern nicht erstaunlich, dass neben sei- nen konzeptuell-terminologischen Arbeiten (z.B. 1997 [1951]) die be- deutendsten Untersuchungen in den ersten Jahren des filmologischen Projekts sämtlich von Psychologen stammen.5 Zu denken ist beson- ders an die in Montage AV 13,1 (2003) und 14,1 (2004) abgedruckten Texte von Albert Michotte, Henri Wallon und Cesare Musatti. Innerhalb der Filmologie wurde nur leise Kritik an der systematischen Vorherrschaft der Psychologie geäußert. So kann der Beitrag des Kunst- soziologen Pierre Francastel zur Raumtheorie des Films (1949) in die- sem Sinne gelesen werden. Für ihn besteht ein zentrales Problem der individualpsychologischen Erklärungen in der Vernachlässigung kultu- reller Determinanten. Unter anderem von Erwin Panofskys berühmter Theorie der Perspektive als symbolische Form (1974 [1927]) inspiriert, behauptet Francastel, die filmische Raumillusion beruhe nicht allein auf der Verarbeitung durch den menschlichen Wahrnehmungsappa- rat per se, sondern vielmehr auf der «Korrespondenz zu den mentalen de und im Sommer desselben Jahres die erste Ausgabe der RIF herausgab (vgl. Le- febvre 2009, 62f). Laut Lefebvre hat die Präsenz von Roques, der am renommierten College de France lehrte, nicht unwesentlich zu «einer gewissen wissenschaftlichen Respektabilität» und zur institutionellen Verankerung des filmologischen Projekts beigetragen (ibid., 64; Übers. GK). 3 Wenn nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen der Zitate von mir, GK. 4 Andere Filmologen (etwa Wallon 1947) haben dies offenbar ähnlich gesehen. 5 Hinzu kommt, dass «die empirische Psychologie den forschungspolitischen Vorzug [hatte], dass sie in nützlicher Frist praxisrelevante Forschungsergebnisse zu produzie- ren versprach» (Hediger 2004, 113). Kirsten: Filmologie und Kinosoziologie 9 Strukturen bestimmter sozialer Gruppen» (1949, 73). Aus dieser kultur- historischen Perspektive wirken die wahrnehmungspsychologischen Arbeiten von Michotte und anderen Filmologen reduktionistisch. Al- lerdings basiert die Kritik Francastels nicht unbeträchtlich auf einem die Terminologie des Realitätseindrucks betreffenden Missverständnis, das Michotte in seiner antikritischen Replik (1950) aufgreift. Insgesamt sind filmsoziologische Arbeiten fast so rar wie filmhis- torische (Ausnahme: Sadoul 1947; vgl. Vignaux 2009), filmanalyti- sche und (im klassischen Sinn) filmtheoretische Texte (z.B. Moussinac 1950; Ayfre 1954); «nur eine verschwindend kleine Zahl von Aufsät- zen beschäftigt sich mit einzelnen Filmen oder Regisseuren» (Kessler 1997, 133). Die Distanz zur klassischen Filmtheorie und Filmkritik ist nachgerade Signum der filmologischen Unternehmung und Teil ihrer Strategie: Als wissenschaftliches Projekt legitimiert und nobili- tiert sie sich über den Anschluss an etablierte (natur-)wissenschaftliche Disziplinen. Von Seiten der französischen Filmkritik hat diese Strategie der Fil- mologie den Vorwurf eingebracht, sich überhaupt nicht für das Kino zu interessieren, ja von Filmästhetik und Filmgeschichte im Grunde keine Ahnung zu haben. So ist André Bazin in den Cahiers du ciné- ma unter dem Pseudonym Florent Kirsch (das sich aus dem Vorna- men seines Sohns und dem Mädchennamen seiner Frau Janine zu- sammensetzt) hart mit Cohen-Séats Ausrichtung der Filmologie ins Gericht gegangen: «Er [Cohen-Séat] macht aus dem Desinteresse eine intellektuelle Tugend, aus der Geringschätzung eine wissenschaftliche Zurückhaltung, und fast aus der Unwissenheit eine Vorbedingung» (Kirsch 1951, 35). Es ist den Filmologen zwar nicht verboten, ins Kino zu gehen, aber man wird es ihnen auch nicht raten. Die überflüssigen Erkenntnisse könnten die entstehende Wissenschaft nur verunklaren. Die Filmologie ist die Wissen- schaft des Kinos-an-sich, höchstens nebenbei die seiner Werke und seiner Geschichte. (ibid., 36) In ähnlicher Weise, wenn auch weniger scharf, wurde die Filmologie einige Jahre später auch von Positif kritisiert (vgl. Lowry 1985, 69f).6 6 Wenn die Kritik bezüglich der meisten Texte in den ersten Ausgaben der RIF nicht ganz unangebracht scheint, muss sie doch angesichts des Sammelbands L’univers fil- mique (Souriau 1953) relativiert werden. Viele Beiträge in diesem Band behandeln filmtheoretische Fragen in unmittelbarem Bezug zu einer Vielzahl von Filmen. 10 montage AV 19 /2 / 2010 Gerade die Einbindung renommierter Wissenschaftler aus etablier- ten Disziplinen ins filmologische Projekt scheint aber bezüglich der Soziologie schwierig gewesen zu sein. Der Bedeutung, die soziologi- schen Untersuchungen von einigen Filmologen, etwa Gilbert Cohen- Séat (1962 [1946]; vgl. Lefebvre 68f), dem jungen Jean-Jacques Riniéri (1947) und vor allem Raymond Bayer (1947) durchaus zugeschrie- ben wird, kann zunächst offenbar weder personell noch programma- tisch entsprochen werden. Einfach gesagt fehlen dem filmologischen Projekt in den ersten Jahren SoziologInnen, die in der Lage gewe- sen wären, einen konzeptuellen Rahmen für sozialwissenschaftliche Fragen an den Film und das Kino zu erarbeiten, also die verschiede- nen Ebenen der Durchdringung von Film und Gesellschaft zu ord- nen und eine Methode ihrer Analyse vorzuschlagen. Symptomatisch ablesen lässt sich dies am Text «Filmologie et sociologie», der in der zweiten Ausgabe der RIF erscheint. Geschrieben wurde er von Di- dier Anzieu, der sich noch in deren erster Ausgabe dem Verhältnis von «Filmologie et Biologie» (1947a) gewidmet hatte und später ein nicht ganz unwichtiger psychoanalytischer Theoretiker wurde. Auch er un- terscheidet rigoros zwischen der wesentlich individualpsychologi- schen «filmischen» und der «kinematografischen», «einer unbestreitbar sozialen Tatsache». Seine soziologische Leitfrage beschränkt sich dann allerdings darauf, ob es sich bei letzterer um ein «normales» oder ein «pathologisches Phänomen» handele (Anzieu 1947b, 175). Als Aufgabe des Soziologen betrachtet er in diesem Zusammenhang die Arbeit an einer «Moral des Kinos» (ibid., 177). Anzieu skizziert die filmologi- sche Kinosoziologie mit anderen Worten als ganz und gar normatives Unternehmen. Eine Reflexion soziologischer Methodik oder der ver- schiedenen Ebenen des Verhältnisses von Kino und Gesellschaft fehlt bei ihm vollständig. Bis zu dem wichtigen Text «Sociologie du ciné- ma» von Georges Friedmann und Edgar Morin (1952) mangelt es der Soziologie innerhalb der Filmologie an systematischen Ansätzen und einem ambitionierten Forschungsprogramm. * * * Die Einbindung von Siegfried Kracauer in das filmologische Projekt ist vor diesem Hintergrund zu verstehen (vgl. Quaresima 2010 [2009]). Auf der Suche nach einer genuin soziologischen Problematik stoßen die Filmologen zunächst auf dessen Caligari-Buch, das soeben (1947) in den USA erschienen ist. Unter dem irreführenden, die Intention des Nachdrucks aber klar aussprechenden Titel «Cinéma et sociolo- Kirsten: Filmologie und Kinosoziologie 11 gie» (1948) wird in der Nummer 3/4 der RIF eine Übersetzung der Einleitung dieses Buchs publiziert (Kracauer 1984 [1947], 9-18). Es handelt sich um den ersten Text in der RIF, der das Verhältnis von Film und Gesellschaft detaillierter beschreibt und ein entsprechendes Forschungsprogramm entwirft. Gleichzeitig stellt die Rede von «psy- chologischen Grundmustern», «psychologischen Dispositionen» und «Kollektivmentalität» (ibid., 11f) eine Brücke zwischen Soziologie und Psychologie her – und unterläuft damit die radikale Durkheim’sche Separierung der «faits sociales». Ein weiterer Text Kracauers, «Les types nationaux vus par Holly- wood» (1950), hat dann sogar die Ehre, die sechste Ausgabe der RIF zu eröffnen. Es handelt sich um die Übersetzung von «National Types as Hollywood Presents Them», der ein Jahr zuvor als Ergebnis einer Auf- tragsarbeit für die UNESCO in der Public Opinion Quarterly erschie- nen war. Auf eigenen Vorschlag hin hatte Kracauer von Hadley Cantril, der damals ein UNESCO-Projekt «zur Untersuchung von Spannun- gen, die die internationale Verständigung beeinträchtigen» leitete, den Auftrag zu diesem Artikel erhalten (vgl. Perivolaropoulou 2007, 83ff).7 Ursprünglich hatte Kracauer ein größeres Projekt avisiert, das aus drei Teilen hätte bestehen sollen. Im ersten wäre nach diesem Plan die For- schungsliteratur zum Themenkomplex der ‹Darstellung von sich und anderen› sondiert worden, im zweiten wären detaillierte Filmanalysen zu diesem Thema durchgeführt und im dritten schließlich einige mit der Untersuchung zusammenhängende methodologische Fragen auf- geworfen worden. Da das Projekt jedoch nie über den Status einer Pi- lotstudie hinausgekommen ist, konnte Kracauer nur den zweiten Teil realisieren, und auch diesen nur mit einem auf die Repräsentation von Briten und Russen im amerikanischen Film reduzierten Korpus. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, welches Bild das amerikanische Kino von den Bürgern Großbritanniens und der Sowjetunion zeichne. Kracauer beschränkt sich allerdings nicht auf eine synchrone Analyse, sondern möchte vielmehr die historische Dy- namik veranschaulichen, unter der sich die filmischen Nationalste- reotypen wandeln. Dabei werden nicht nur die tatsächlich gezeigten britischen und russischen Figuren, sondern auch deren zeitweilige Ab- 7 Neben der englischen und der französischen Version erschien der Text 1951 auf Dä- nisch, und erneut auf Englisch in einer stark gekürzten Fassung (vgl. Perivolaro- poulou 2007, 84, Fn 16 & 17). Eine deutsche Übersetzung folgte 1967 (Kracauer 1967); in neuer Übersetzung wird der Text voraussichtlich Ende 2011 im Band 2.2 (Studien zu Massenmedien und Propaganda) der Werke-Ausgabe des Suhrkamp-Verlags erscheinen. 12 montage AV 19 /2 / 2010 wesenheit bedeutsam: Kracauer legt dar, dass oft gerade jene Themen, die in anderen amerikanischen Medien besonders intensiv debattiert werden, zur gleichen Zeit im Kino aufgrund ihres kontroversen Cha- rakters nicht vorkommen. In dieser Hinsicht gibt es offenbar eine Pa- rallele im Umgang mit Deutschland vor Beginn des Zweiten Welt- kriegs und mit England und Russland nach dessen Ende. Kritisch vermerken lässt sich, dass Kracauer die unscharfen Katego- rien objektiver und subjektiver Einflüsse auf die Nationaltypisierung im Film verwendet und seine Studie aufgrund der methodischen Be- schränkung auf den manifesten Filminhalt nicht die Komplexität des Caligari-Buchs erreicht (vgl. Quaresima, 110). Sein gleichzeitig dia- chroner und komparatistischer Ansatz bietet aber die Möglichkeit, so- wohl Tendenzen als auch Unterschiede im Grad der Stereotypisierung aufzuzeigen. Während die britischen Figuren bei aller Überzeichnung noch in der Realität verankert scheinen, wirken die Russen im ame- rikanischen Film als von «Vorurteilen verzerrt», als «reine Klischees», «völlige Abstraktionen» (1950, 127). Erstaunlich ist auch, wie schnell, praktisch nach Belieben, sich das Russenbild offenbar variieren ließ, je nachdem, ob die wirklichen Sowjetrussen gerade (Klassen-)Feinde oder Alliierte im Kampf gegen Nazideutschland waren. Das Interesse der Filmologie an Kracauers Studie ist leicht verständ- lich. Nicht nur bietet sie die wohl erste umfangreiche filmsoziolo- gische Inhaltsanalyse zur nationalen Typisierung und wird daher von Kracauer selbst nicht zu Unrecht als «Pionierarbeit» bezeichnet (vgl. Perivolaropoulou 2007, 84). Sie passt mit ihrem Appell zu ausgewo- generer, objektiverer Figurenzeichnung im Sinne der Völkerverständi- gung auch in das humanistische und internationalistische Gesamtpro- fil der Filmologie. Aus heutiger Sicht ist Kracauers Text nicht zuletzt ein wichtiger historischer Beitrag zur Stereotypen-Forschung (vgl. Schweinitz 2006). * * * Als wichtigster Beitrag der Filmologie zur Film- und Kinosoziologie kann ohne Frage der Text von Georges Friedmann und Edgar Morin gelten. Fünf Jahre nach den ersten Debatten zum Status der Soziolo- gie innerhalb des Projektes und den Forderungen nach einer Inte- gration sozialwissenschaftlicher Fragestellungen findet sich nun end- lich der Aufriss eines ambitionierten Forschungsprogramms. Edward Lowry bezeichnet diesen Text, «Sociologie du cinéma», aus gutem Grund als veritables «Manifest» (1985, 101). Seine Autoren arbeiten Kirsten: Filmologie und Kinosoziologie 13 damals an der soziologischen Abteilung des C.N.R.S. (Centre national de la recherche scientifique), Friedmann als bekannter Arbeits- und Techniksoziologe, Morin als sein junger Assistent. Beide sind unortho- doxe, mit der PCF nicht oder nur kurzzeitig affiliierte Marxisten. Für Morin bedeutet das Kino als Untersuchungsfeld damals zunächst eine Flucht in einen vermeintlich unpolitischeren Bereich, da er zwischen die Fronten der bourgeoisen akademischen Kultur und der stalinisti- schen Welt zu geraten drohte: Ich suchte also ein Thema, das Zuflucht versprach. Auf der anderen Seite sollte es meinem Mentor Georges Friedmann gefallen, der eine wichtige Rolle bei meinem Eintritt ins C.N.R.S. gespielt hatte. [...] Ich wählte das Kino. [...] Inspiriert war ich von der selbst schon komplexen und rekursi- ven Idee, die Gesellschaft mithilfe des Kinos zu verstehen und gleichzeitig das Kino mithilfe der Gesellschaft (Morin 1977, 8). In «Sociologie du cinéma» spannen die Autoren das Untersuchungsfeld anhand dreier zentraler Begriffe auf: dem der kulturellen Technik (die das Kino bereits in eine bestimmte, industrialisierte und technisierte Gesellschaftsform einschreibt), dem der (kommerziellen) sozialen Ins- titution8 und schließlich dem der Widerspiegelung: «Jeder Film, und mag er noch so irreal sein, ist gewissermaßen ein Dokumentarfilm, ein sozi- ales Dokument» (Friedmann/Morin 2010 [1952], 22).9 Angesprochen ist damit die Komplexität des Gegenstandes, da die drei mit den Be- griffen verbundenen Bereiche nicht isoliert, sondern gemeinsam auf- treten («konkret, sogar dialektisch miteinander verbunden»; ibid.) und aus verschiedenen Perspektiven und mit verschiedenen Methoden un- tersucht werden können. Ausführlicher widmen sich die Autoren dann dem Kino produktions- und werkseitig: der technisch-kommerziellen Massenindustrie und der filmischen Inhaltsanalyse. Letztere wird, of- fenkundig von den erwähnten Arbeiten Kracauers inspiriert, weiterhin differenziert in eine Analyse der «sozialen Inhalte» – der filmischen Stereotypen, die als Symptome sozialer Repräsentation entschlüsselt 8 «Vom Kino als von einer Institution zu sprechen heißt, es weniger einfach als Unter- nehmen zu betrachten denn als soziale Organisation: als Dispositiv, das einerseits inte- grativ wirkt, ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt, andererseits Verhaltensnormen vorschreibt» (Casetti 2005 [1993], 131). Vgl. auch den Begriff der «institutionellen Regelung» der Filmrezeption bei Prokop (1974 [1970], 233ff). 9 Nur scheinbar ist dies die vorweggenommene Antithese zum – in ganz anderem Zu- sammenhang geäußerten – berühmten Diktum von Christian Metz «Jeder Film ist ein fiktionaler Film» (2000 [1975], 45). 14 montage AV 19 /2 / 2010 werden können –, der «historischen Inhalte», die vom Zeitpunkt der Produktion des jeweiligen Films determiniert sind – und der «anthro- pologischen Inhalte», die nicht der Spezifik einer bestimmten kulturel- len oder historischen Konfiguration attribuiert werden können, son- dern vielmehr «allen Menschen gemeinsam» sind (ibid., 38). Auf die rezeptionsseitigen Problembereiche der Publikumssoziolo- gie und der Einflussforschung wird in diesem Text nur in einer Fußno- te (ibid., 29) hingewiesen. Sie werden von Morin aber ausführlich in weiteren Artikeln behandelt, die in der RIF erscheinen. Sein Text über das Kinopublikum (2010a [1953]) gilt Marc Leveratto «vor dem Hin- tergrund heutiger Arbeiten über den Kinokonsum als in verschiedener Hinsicht wichtigster Beitrag Edgar Morins zur Soziologie des Kinos» (2009, 200). Leveratto hebt lobend die Diskussion methodologischer und epistemologischer Fragen, die Kritik an den Grenzen der anglo- amerikanischen Publikumsforschung, die Nutzung verschiedener de- mografischer Statistiken und die komparatistische Vorgehensweise Mo- rins hervor.10 Bemerkenswert ist nicht zuletzt die zentrale Stellung des Begriffs des «Kinobedürfnis», der ein allgemeines Bedürfnis bezeichnet, das Geschlechter- und Altersklassen überschreitet und für Morin des- halb nicht nur soziale, sondern auch anthropologische Züge trägt. Auch der Text zum «Problem der gefährlichen Einflüsse des Kinos» zeugt von einem beeindruckenden Überblick Morins über bisherige Arbeiten zu diesem Thema. Auf dieser Grundlage ist er in der Lage, den Lesarten der Forschungsberichte (z.B. jenen der amerikanischen «Payne Fund Studies» der 30er Jahre), die eine eindeutige Gefahr für die Jugend vom Kino ausgehen sehen, konträre Interpretationen ge- genüberzustellen.11 Morins Text kann auch als Kritik an gewissen Re- duktionismen der Einflussforschung gelesen werden. So zeigt er, dass 10 Von diesem Text Morins ließe sich ein weiter Bogen spannen über die kultursozio- logischen Arbeiten Pierre Bourdieus der 60er und 70er bis zu Emmanuel Ethis’ ak- tueller Publikumssoziologie (2009 [2005]). 11 Bei den sogenannten ‹Payne Fund Studies› handelt es sich um die erste großangeleg- te, privat finanzierte Untersuchung zur Wirkung des Kinos auf Kinder und Jugend- liche. Die Ergebnisse der Studien, die zwischen 1929 und 1932 durchgeführt wur- den, sollten zeigen, dass Filmkonsum sowohl die Einstellungen als auch das Verhalten der jugendlichen Rezipienten negativ beeinflussen konnte. Häufige Kinobesuche sollen sich demnach negativ auf die schulischen Leistungen auswirken und sogar Delinquenzverhalten befördern. Die Studien wurden allerdings verschiedentlich für ihr unzureichendes methodisches Design kritisiert und die Ergebnisse deshalb an- gezweifelt. So bemängeln Lowery und De Fleur: «their lack of control groups, prob- lems in sampling, shortcomings in measurement, and other difficulties that placed technical limitations on their conclusions» (1995, 382). Kirsten: Filmologie und Kinosoziologie 15 in den wenigsten Studien die ästhetische Dimension der Zuschauer- situation bedacht wird, dass zu selten die jeweils spezifischen histori- schen Bedingungen der Filmproduktion und -rezeption in Betracht gezogen werden, dass aus Korrelationen keine Kausalrelationen abge- leitet werden können und dass schließlich der problematische Einfluss weniger in der «Kindlichkeit» filmischer Abenteuer als in der Infanti- lität liege, die erst ein bestimmter (selbst nicht mehr kindlich-naiver) Aneignungsmodus derselben erzeuge: «Folgerichtig wäre es also, das Verbotssystem umzudrehen und Erwachsenen jene Filme zu verbieten, die dann ‹nur unter 16 Jahren erlaubt› wären» (Morin 2010b, [1953], 75). Eine ernsthafte Filmzensur sieht er jedoch durch die von ihm ana- lysierten Studien in keinem Fall gerechtfertigt. Vor der Folie aktueller Auseinandersetzungen über die vermeintlichen Gefahren so genann- ter ‹Killerspiele› wirkt Morins metakritische Studie wie ein Déjà-vu; viele kritische Argumente gegen eine kurzschlüssige Verursachungslo- gik finden sich dort vorweggenommen. In umgekehrter historischer Richtung ruft der Text auch die Referenz zur «Kinoreformdebatte» in Deutschland um 1910 auf, sowie vergleichbare Diskussionen in ande- ren Ländern zur gleichen Zeit, in denen bereits der behauptete ver- derbliche Einfluss auf die Jugend das Hauptargument der Kinogegner war. Zwei weitere Artikel Morins zur Kinosoziologie, die nicht in der filmologischen Revue veröffentlicht wurden, sind im hier behandelten Zusammenhang von Bedeutung. In «Le cinéma sous l’angle sociolo- gique» (2010c [1953]) in einem Sammelband zu Ehren von Lucien Febvre erschienen, kommt zum ersten Mal eine Methode zum Tragen, die später zu einem der Markenzeichen des Ansatzes von Morin ge- worden ist: die reflexive Anwendung der Soziologie auf sich selbst (vgl. 1994 [1984], 17-82). Er beschreibt zunächst die spezifischen Umstän- de, unter denen die sozialwissenschaftliche Beobachtung des Kinos in den USA in den späten 20er Jahren begann. Weiterhin diskutiert er die Voraussetzungen, die der Kinosoziologe seines Erachtens mitbringen muss: die Lust an der intensiven Beschäftigung mit Filmen (d.h. nicht zuletzt: häufige Kinobesuche) auf der einen, die Fähigkeit zur histori- schen wie anthropologischen Distanznahme auf der anderen Seite. In diesem Zusammenhang tauchen auch erstmals Überlegungen zur Ent- stehung des Kinematografen sowie zum Übergang vom Kinematogra- fen zum Kino auf, die später Eingang in Morins wichtigste filmtheo- retische Studie Le cinéma ou l’homme imaginaire (2002 [1956]) finden. Bemerkenswert ist, dass er hier eine Kritik an der impliziten Teleologie 16 montage AV 19 /2 / 2010 der klassischen Filmgeschichtsschreibung formuliert, die später zentral für die ‹New Film History› geworden ist (vgl. Kusters 1996).12 Der letzte Text, in dem sich Morin dem Titel nach der Filmsozio- logie widmet, erscheint 1954 in den Cahiers internationaux de sociologie. Auch er hat eine metatheoretische Ausrichtung; auch hier geht es um die Frage, was es eigentlich bedeutet, eine Soziologie des Kinos zu schreiben. Im Vordergrund steht nun das Problem der Komplexität. Beschrieben wird das Dilemma, dass es einerseits falsch wäre, das Kino als Gegenstand von der sozialen Totalität, die es hervorgebracht hat, zu isolieren, andererseits aber die Gefahr besteht, es in derselben zu «er- tränken» (Morin 1954, 102). Morin spricht hier zum ersten Mal von dem Versuch, Kino und Gesellschaft wechselseitig zu erhellen und von einer «méthode auto-regulatrice» (ibid., 103). Dieser Ausdruck deutet schon das kybernetische Denken an, das ab den 70er Jahren Morins sechsteiliges Hauptwerk La méthode inspirieren wird. Aus filmtheoretischer Perspektive markiert dieser Text vor allem den Übergang zu dem anthropologischen Ansatz des bereits erwähn- ten L’homme imaginaire. Ein Auszug aus dessen Schlusskapitel erscheint als Vorabdruck wiederum in der RIF (1955). Die Kernthese des Buchs besagt, dass sich im Kino anthropologische Anschauungsformen be- obachten lassen, die aus einer archaischen Weltsicht tradiert sind. Der Glaube an Doppelgänger, Magie und Metamorphosen sowie eine glei- chermaßen anthropozentrische wie kosmomorphe Weltanschauung findet sich nach Morin im Kino technisch objektiviert und fiktional sublimiert. Neben dieser anthropologischen These gibt es in L’homme imaginaire aber auch diverse Stellen, an denen Morin soziohistorische Determinanten geltend macht (vgl. ibid., 147, 196). Er bleibt hier – wie auch in seinem Buch Les stars, aus dem ebenfalls ein Kapitel in der Revue gedruckt wird (1956) – dem Credo treu, es könne eine gültige Anthropologie ohne Soziologie sowenig geben wie eine Soziologie ohne Anthropologie. 12 «Aus dieser Distanz erst tritt der soziologische Skandal zutage, den die Umwandlung des Kinematographen ins Kino darstellt und den die Filmhistoriker unter dem Ge- sichtspunkt einer naiven Finalität betrachten. Für sie sind die Anfänge des Kinos eine Geburtsalter- und eine Lehrlingsphase, in der eine Sprache und jene Mittel zur Aus- arbeitung kommen, die dazu bestimmt sind – prädestiniert, ist man versucht zu sagen – die siebte Kunst zu bilden. Die Filmhistoriker versäumen es dabei, sich bei dem er- staunlichen Phänomen länger aufzuhalten, das darin besteht, dass der Kinematograph, das Produkt einer unablässigen Laborarbeit während des ganzen 19. Jahrhunderts, die darauf abzielte ein Instrument der wissenschaftlichen Forschung zu schaffen, im Moment seiner Geburt radikal von seinem Weg abgebracht und vom Spektakel und der Zer- streuung erfasst und zum Kino gemacht wurde» (Morin 2010c [1953], 80f). Kirsten: Filmologie und Kinosoziologie 17 Tatsächlich verfolgte Morin zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Le cinéma ou l’homme imaginaire noch den Plan, dieser Anthropolo- gie des Kinos einen zweiten, soziologischen Teil in Buchlänge folgen zu lassen (vgl. Morin 1977, 12), zu dem seine Veröffentlichungen in der RIF dann nur den Auftakt geboten hätten. Da es dazu nie gekommen ist, sind die hier vorgestellten Artikel die einzigen Zeugnisse seiner in- tensiven Beschäftigung mit dem Kino aus soziologischer Perspektive. Gleichzeitig bilden sie die wichtigsten soziologischen Reflexionen im filmologischen Projekt und die ersten Schritte zur Etablierung einer akademischen Filmsoziologie in Frankreich (vgl. Leveratto 2009, 183). * * * Ein letzter Aufruf zu einer schwerpunktmäßig soziologischen Aus- richtung der Filmologie findet sich in der Nummer 25 der RIF. Luigi Volpicelli, Pädagogikprofessor aus Rom, beklagt in seinem Text die Vorherrschaft der Psychologie innerhalb der Filmologie und be- müht ähnliche Argumente wie Friedmann und Morin. (Stellenweise klingt der Text auch wie ein fernes Echo von Kracauers berühmtem «Ladenmädchen»-Aufsatz; 2004 [1927]). Seines Erachtens ist die ex- perimentalpsychologisch untersuchte Beziehung von Film und Zu- schauer immer eine unzulässige Reduktion, da es sich bei der Filmre- zeption je schon um eine Relation von drei Elementen handele: Film, Zuschauer und Gesellschaft. Wobei letztere für ihn die wichtigste Grö- ße darstellt, da aus ihr die anderen beiden hervorgingen (vgl. Volpicelli 1956, 22). Volpicelli prägt, um diesen Zusammenhang auf den Begriff zu bringen, den Ausdruck des «esserci social» (sozialen Daseins) des Ki- nos, den er an verschiedenen Stellen wiederholt. Sein Appell zur Neu- ausrichtung des filmologischen Projekts ist der letzte soziologische Beitrag in der RIF geblieben,13 in deren letzten Ausgaben, wie schon in den ersten, die psychologischen Arbeiten deutlich dominieren. Die Soziologie ist innerhalb der Filmologie eine Episode geblieben.14 13 Quaresima erwähnt noch einen allerletzten Appell von Jacques Durand von 1961 (vgl. 2010 [2009], 119). 14 Eine Episode, die sich freilich als fruchtbar erweisen sollte. Wie schon erwähnt, schreibt Jean-Marc Leveratto der Filmologie einen großen Anteil an der Entstehung und akademischen Institutionalisierung eines filmsoziologischen Ansatzes in Frank- reich zu (vgl. 2009). Ablesen lässt sich dieser auch an einer neueren Veröffentlichung wie der Sociologie du cinéma et de ses publics von Emmanuel Ethis, in der Kracauer und Morin nach wie vor als wichtige Theoriereferenzen fungieren (vgl. 2009 [2005], 51ff). 18 montage AV 19 /2 / 2010 Edgar Morin, der wichtigste Vertreter der filmologischen Soziologie, hat sich nach dem Erscheinen seiner beiden filmtheoretischen Bücher vom Kino ab und einer breiter angelegten Kulturanalyse der Massen- medien zugewandt. Seine Vorarbeiten zum geplanten Kinosoziologie- Buch sind 1961 in L’esprit du temps eingegangen (vgl. 1977, XII); ein kurzer Text in der ersten Ausgabe der von ihm mitgegründeten Zeit- schrift Communications zur französischen Nouvelle Vague belegt sein anhaltendes Interesse am zeitgenössischen Kino (Morin 1961). Zur gleichen Zeit hat Morin sein Ziel, nicht nur das Kino gesellschaftsthe- oretisch, sondern umgekehrt auch die Gesellschaft mittels des Kinos zu beleuchten, noch auf andere Weise realisiert, als ursprünglich gedacht: Mit Chronique d’un été (F 1961) schafft er gemeinsam mit Jean Rouch das Paradebeispiel des ‹Cinéma vérité› und damit eine Sozio- logie des französischen Lebens um 1960 – in filmischer Form. Literatur Anzieu, Didier (1947a) Filmologie et Biologie. In: Revue internationale de fil- mologie 1,1 S. 19–22. – (1947b) Filmologie et sociologie. In: Revue internationale de filmologie 1,2, S. 175–177. Bayer, Raymond (1947) Le cinéma et les études humaines. 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Soziologie des Kinos* Georges Friedmann und Edgar Morin Das Kino ist aus einer langwierigen Laborarbeit hervorgegangen, die darauf abzielte, einen Apparat zur Analyse und Erfassung von Bewe- gung zu schaffen; damit ist es zunächst eine Technik, die sich durch die stetige Verbesserung ihrer Geräte entwickelte und immer noch weiter entwickelt. Diese Technik ist an sich bereits eine soziale Tatsache der Zivilisation (fait de civilisation), so wie Marcel Mauss den Begriff ver- wendete (Mauss 1930).** Soziale Tatsache einer von Technik und Ma- schinen dominierten Zivilisation. Und zugleich soziale Tatsache einer Zivilisation in Bewegung, besessen von der Frage der Bewegung. So ist es kein Zufall, dass sich die Technik, die Künste, wissenschaftliche Theorien und Philosophien zur gleichen Zeit – jede auf ihre Weise – darum bemühten, die Bewegtheit der Dinge zu erklären. Mehr noch: Aus der kinematografischen Technik gingen die Indus- trie, der Handel und das Spektakel des Films hervor. Eine Gesetzge- bung wurde eingesetzt, um diese Industrien, Geschäfte und Spektakel zu regulieren und zu kontrollieren. Ein riesiges Massenpublikum bil- dete sich weltweit und stand bald unter dem Einfluss der Filme. In all diesen Eigenschaften hat die kinematografische Technik auch eine In- stitution hervorgebracht: das Kino. * Dieser Text erschien zuerst 1952 als «Sociologie du cinéma» in der Revue internati- onale de filmologie (Nr. 10, S. 95–112). Wir danken Edgar Morin für die freundliche Erlaubnis zur Übersetzung. ** [Anm.d.Ü.:] Mit der Übersetzung von Mauss’ Begriff fait de civilisation als «sozia- le Tatsache der Zivilisation» folge ich Schüttpelz, Erhard (2002) Der Fetischismus der Nationen und die Durchlässigkeit der Zivilisation. Globalisierung der techni- schen Medien bei Marcel Mauss (1929). In: 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien. Hg. v. Stefan Andriopoulos & Bernhard J. Dotzler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, S.158–172. 22 montage AV 19 /2 / 2010 Aber es wäre unzureichend, die kinematografische Institution ledig- lich als Rädchen, als bedeutende und zugleich aufschlussreiche Struk- tur im Getriebe der zeitgenössischen Gesellschaft zu sehen. Das Kino ist darüber hinaus auch eine Widerspiegelung dieser Gesellschaft. Als wahrhaft aufzeichnendes Auge erfasst es Dinge und Menschen nicht nur in ihrer sichtbaren Realität, sondern gehört durch die Geschich- ten, die es erfindet, und die imaginären Situationen, die es erträumt, zu den subjektiven (d.h. psychologischen und traumähnlichen) Realitä- ten kollektiven Charakters. Jeder Film, und mag er noch so irreal sein, ist gewissermaßen ein Dokumentarfilm, ein soziales Dokument. Als Technik, Institution und Widerspiegelung eines menschlichen Univer- sums ist das Kino also eine Tatsache totaler Zivilisation. Es ist eine Art Mikrokosmos, durch den hindurch sich das Bild einer Zivilisation – wenn auch in deformierter, stilisierter und geordneter Form – erken- nen lässt, eben jener Zivilisation, aus der es hervorgegangen ist. Darum ist das Kino Gegenstand der Soziologie. Doch aus dem gleichen Grund verlangt das Kino der Soziologie auch viel ab. Letztere kann die Fragen der Technik, der Industrie, des Spektakels und der kollektiven Psychologie nicht getrennt voneinan- der betrachten: Sie sind ganz konkret, sogar dialektisch miteinander verbunden. So erfordert die soziologische Betrachtung des Kinos eine Kenntnis, ein Bewusstsein und einen analytischen Scharfsinn, die weit über das Kino selbst hinausreichen. Eine solche Betrachtung wäre auf sonderbare Weise abstrakt, um nicht zu sagen unmöglich, wenn sie nicht von einer Gegenwartssoziologie einerseits und der Anthropolo- gie andererseits unterstützt würde. Sie muss also unaufhörlich zwischen verschiedenen Untersuchungsebenen hin- und herwechseln, von den Strukturen der Imagination, der Repräsentation und des Wissens, bis hin zu jenen der Industrie, der Finanzen und der Wirtschaft. Natürlich kann ein solcher Artikel diese Fragen nicht in ihrem gan- zen Umfang behandeln: Ja, er vermag noch nicht einmal, eine Be- standsaufnahme der Problemstellung und Fakten zu liefern. So werden wir uns darauf beschränken, den Grundstein für zwei mögliche Her- angehensweisen neben anderen zu legen. Die erste nimmt die sozio- filmologischen Gegebenheiten in den Blick, die aus den industriellen Strukturen des Kinos hervorgehen, die zweite die Funktion der sozi- alen Widerspiegelung, die im Inhalt der Filme angelegt ist. Friedmann/Morin: Soziologie des Kinos 23 I. Industrielle Strukturen und filmische Strukturen Versucht man, die spezifischen Merkmale der Filmproduktion zu be- stimmen, fällt einem sogleich das Paradox ins Auge, dass diese gleich- zeitig Industrie und Kunst ist – eine enorme Unternehmung, in der sich Tendenzen der Konzentration, der Rationalisierung, der Standar- disierung mit solchen der Individualisierung mischen. Gehen wir kurz auf jeden einzelnen der Begriffe dieses Gegensatzes ein. Es ist weithin bekannt, wenn auch zeitweise in Vergessenheit gera- ten, dass das Kino – zunächst Kind der Laboratorien, dann Spielzeug der Jahrmärkte – bereits früh zu einem mächtigen Geschäftszweig her- anwuchs. Dieser war schon bald auf dem höchsten Entwicklungsstand industrieller Organisation angelangt (vgl. Bächlin 1945). Zunächst in- sofern, als dass bereits vor 1914 die ersten großen Unternehmens- zusammenschlüsse zu verbuchen waren: zum einen horizontale Zu- sammenschlüsse, mittels derer führende Produktionsgesellschaften das faktische Monopol einzunehmen versuchten; zum anderen vertikale Zusammenschlüsse, durch die dieselben Gesellschaften die Bereiche des Vertriebs und der Auswertung zu kontrollieren suchten.1 Diese Bewegungen der Konzentration waren Teil größerer Wirtschaftsge- füge, insbesondere des Trust-Systems der elektrischen Industrie und der großen Banken.2 Sie stehen zudem in engem Zusammenhang mit der Ausweitung des Kino-Publikums auf ein weltweites Publikum, der Verbesserung und steigenden Komplexität der Produktionstechniken und -maschinen, sowie der immer komplexer werdenden Filme selbst, deren Produktionskosten stetig steigen. Diese sich wandelnden wirtschaftlichen Merkmale finden in den technischen Strukturen der Filmindustrie ihre Entsprechung, wel- 1 1908 wird in den Vereinigten Staaten der Konzern der M.P.P.C. (Motion Picture Patents Company) gegründet; 1907-1909 bilden Pathé und Gaumont europäische Produktions- und Vertriebskonzerne. Im Jahr 1917 wird in Deutschland die UFA gegründet. 1928 dominieren sieben Konzerne den amerikanischen und weltweiten Markt (Fox, Warner Bros, Paramount, Universal, United Artists, First National, Me- tro-Goldwyn Mayer). 2 Ab 1919 werden die führenden Gesellschaften durch das Bankenkapital finanziert. Mit dem Aufkommen des Tonfilms kontrollieren die zur Morgan-Gruppe gehören- de American Telephone and Telegraph und die der Rockefeller-Gruppe angehörende R.C.A. Photophone alle acht großen vertikalen Firmenverbünde. In Deutschland schließt sich im Jahr 1928 die von Siemens und A.E.G. gegründete Klang Film Ge- sellschaft mit der Tobis zusammen. Vgl. dazu: Bächlin 1945; Huettig 1944 sowie das USA Temporary National Economic Committee 1941. 24 montage AV 19 /2 / 2010 che rationalisiert, also durch Arbeitsteilung und -segmentierung ge- kennzeichnet sind. Diese Eigenschaften zeichnen sich nicht nur auf der technischen Ebene der Maschinisten (Kameramänner, Fotografen, Toningenieure etc.) ab, sondern – und das ist das Wichtige und Neue daran – machen sich auch auf der Ebene der intellektuellen und künst- lerischen Arbeit bemerkbar (vgl. Buchanan 1951). Bekanntermaßen tendieren auch gewisse Bereiche des modernen Journalismus zur Ar- beitsteilung; so kann es in gewissen ‹Zeitungsfabriken› vorkommen, dass derselbe Artikel einmal oder mehrmals «rewritten» wird. Doch im Bereich des Kinos hat diese Aufteilung ein extremes Ausmaß ange- nommen: Von der Synopsis bis hin zur Montage setzt die Konfektio- nierung eines Films neben der Arbeit des Regisseurs auch die hoch- spezialisierten Eingriffe von Drehbuch- und Dialogautoren, Gag Men, Schnittmeistern etc. voraus. Mit der gleichen Segmentierung der Ar- beit sind auch die Schauspieler konfrontiert, die sich oftmals gezwungen sehen, einen Film in unzusammenhängenden Fragmenten zu spielen, über dessen Handlung sie oft gar keinen Überblick haben. Mitunter muss der jugendliche Liebhaber gar über dem Grab einer Geliebten schluchzen, die er noch nicht kennengelernt hat. Industrialisierung, Konzentration, Rationalisierung, Arbeitsteilung und -segmentierung produzieren letzten Endes standardisierte Objek- te, das heißt Filme in Serienanfertigung, die unaufhörlich die glei- chen Situationen, die gleichen Liebesgeschichten, die gleichen Witze wiederholen und neu miteinander kombinieren... In dieser Hinsicht ist das Kino in der Tat eine Massenindustrie wie jede andere rationa- lisierte und standardisierte Industrie, eine «Traumfabrik» wie Ilja Eh- renburg befand. Diese wirkmächtige industrielle Realität, die den Film bestimmt, erlaubt uns also, ihn als Standarderzeugnis zu verstehen und untersuchen. Umgekehrt besteht die Spezifik der Filmindustrie aber auch darin, parallel zu ihrer Konzentrierung, Rationalisierung, Standardisierung, einer genau entgegen gesetzten, inneren Dynamik zu gehorchen, die die Zusammenschlüsse zu zersetzen, die Rationalisierung zu kompen- sieren und gegen die Standardisierung anzukämpfen scheint. Diese Dynamik drängt auf sämtlichen Ebenen zur Individualisierung. Eine gewisse Individualisierung handwerklicher Art tritt tatsächlich inmitten der industriellen, kapitalistischen Konzentration selbst auf. So erfordert die Produktion eines Films keine festen Kapitalanlagen in Form von Maschinen, Immobilien etc. Man kommt sogar ohne Stu- dios und Szenenbauten, ohne Stars aus, wie in Toni (Jean Renoir, F 1935) oder La terra trema (Luchino Visconti, I 1947). Das heißt, man Friedmann/Morin: Soziologie des Kinos 25 kann im Prinzip einen Film ausschließlich mit jenem Kapital machen, das für diesen notwendig und ausreichend ist. Damit erklärt sich auch die stetige Vermehrung von Kleinproduzenten (nämlich von Schau- spielern, die zu Produzenten, teilhabenden Regisseuren, Mäzenen, Genossenschaften etc. werden). Dies wiederum hält die Unterneh- menszusammenschlüsse der Filmindustrie in Grenzen. In Frankreich, England und selbst in den USA kann der Bereich der ‹Kleinprodu- zenten›, des individualisierten Unternehmens, auch im Schatten der großen, mehr oder weniger miteinander assoziierten Firmen seinen Fortbestand sichern. Dieses Potenzial sowie dieser Fortbestand der unabhängigen Pro- duktion sind sicherlich auch auf noch nicht abgeschlossene Entwick- lungen der Konzentration sowie auf größere sozio-ökonomische Zu- sammenhänge zurückzuführen, die in den nationalen Gesetzgebungen verankert sind; wie in Frankreich oder den USA bemühen sich diese – mal mehr, mal weniger effizient –, mittlere Unternehmen zu schützen. Aber diese Maßnahmen wären vergeblich, wenn sie nicht in dieselbe Stoßrichtung wie jene tiefer liegenden Realitäten verliefen; und den bereits genannten müssen wir zwei weitere hinzufügen, welche wiede- rum eng miteinander verknüpft sind: das Risiko, das der kinematogra- fischen Unternehmung innewohnt, sowie die Individualität des Films. Jeder Film ist ein risikoreiches Unternehmen, das sich seines Pub- likums und seiner Einnahmen nie ganz sicher sein kann, selbst dann nicht, wenn die zuverlässigsten «Anti-Risiko»-Strategien (Stars, auf- wändige Produktionen) eingesetzt werden. Für den Fall wirtschaft- licher Engpässe oder eines Misserfolgs beim Publikum bringt die absolute, vertikale oder horizontale Konzentration zu viele Unwäg- barkeiten mit sich, als dass die großen Produktionsgesellschaften es wagen könnten, sich über solch beträchtliche Kapitalbindungen zu- sammen zu schließen. Krisen haben die in den Grundlagen der kinematografischen Un- ternehmung verankerte Ungewissheit bisher nur noch deutlicher zu Tage treten lassen. Die Produkte hängen immer von einem Erfolg beim Publikum ab, den selbst die elaboriertesten «Box-Offices» nie- mals zuverlässig voraussagen können. In den USA wie auch in Europa haben Börsenkrachs, sowohl vor 1914 als auch während der Krise von 1929-1935 die Produktionsstrukturen wieder in Großkonzerne und Kleinunternehmer zergliedert, die Auswertungsmöglichkeiten durch den Rückgang der beteiligten Kinoketten vermindert und auf diese Weise eine an handwerkliche Strukturen erinnernde Streuung wie- derhergestellt; darüber hinaus haben sie, zumindest in Frankreich, die 26 montage AV 19 /2 / 2010 organischen Verbindungen zwischen den Eigentumsverhältnissen der Studios und den großen Produktionsgesellschaften gekappt und die Konzentrationstendenzen der Distributionsgesellschaften zum Erlie- gen gebracht. Wirtschaftliche wie soziale und psychologische Unru- hen, das Aufkommen neuer technischer Faktoren (wie die Konkur- renz durch das Fernsehen) nähren somit kontinuierlich das Risiko, das dem Film innewohnt. Zwar begünstigt dieses Risiko Konzen- tration und Standardisierung, da es die fortwährende Wiederholung der immergleichen Erfolgsformeln und die Vervielfachung der Filme pro Produzenten nahelegt (welcher sich von dieser Strategie, statis- tisch gesehen, erhofft, seine Investitionen wieder einzuspielen); aber zugleich verstärkt es auch die Individualisierung derselben Produkti- on und bewahrt damit das abenteuerliche Wesen der kinematografischen Unternehmung. Und mag dieser risikofreudige Geist aus der Frühzeit des Kinos (vgl. Drinkwater 1931) heute noch so verkümmert sein, so besteht er auch im Zeitalter serieller Produktionen, des «Box Offices» und der «Fan Mail Departments» (jener durchrationalisierten und auf die Optimierung der Produktion zielenden Publikumsumfragen). Noch heute setzen Produzenten auf ihr Gespür, ihre Intuition. Noch heute läuft der kinematografische Kapitalismus dort Gefahr, seinen eigenen Risiken zu erliegen, wo das Finanzkapital fortwährend allzu vorsich- tig eingesetzt wird. Demgegenüber begünstigt die Risikofreude, die häufig bei den Kleinproduzenten am vitalsten ist, die Fortentwick- lung der kinematografischen Kunst.3 Diese Risiken, dieser Wagemut und diese Möglichkeiten bestehen nur, weil der Film nach Indivi- dualisierung verlangt (vgl. Bächlin 1945). Selbst wenn es sich um ein «Remake» handelt, braucht der neue Film im Vergleich zum alten eine neue, individuelle Prägung. Denn auch wenn die gesamte Filmindus- trie zur Standardisierung neigt, so hat eben diese Standardisierung mit der Monotonie ihrer Wiederholungen zugleich die Tendenz, die Ren- tabilität eines Films zunichte zu machen. Daher die interne Notwen- digkeit der Individualisierung; daher auch, von Seiten der Produzen- 3 Dieser «Wagemut» der Produzenten kann sich unter mehr oder weniger günstigen soziologischen Bedingungen äußern. Soziale Erschütterungen wie die Libération, welche zum Zusammenbruch der Produktionsgesellschaften führte, die den abge- schafften Regimen verpflichtet waren, ermöglichten kooperative oder individuelle Umsetzungen wie La Bataille du Rail (René Clément, F 1946) oder auch Paisà (Roberto Rossellini, I 1946). Unter dem Einfluss der ciné-clubs, Kritiker und Festivals wurde zudem das Bedürfnis nach Kultur größer und die Forderung nach Filmen mit Originaldrehbuch lauter. Friedmann/Morin: Soziologie des Kinos 27 ten, die immerwährende Suche nach dem ‹Neuen›, dem ‹Originellen›, dem ‹Einfall›. Verständlicherweise tritt dieses Bestreben häufig (wenn auch nicht immer) sehr viel deutlicher dort zu Tage, wo die Produktionsbedin- gungen als individualisierte bestehen bleiben: bei den Kleinproduzen- ten. Aber es ist auch in den großen, rationalisierten und standardisier- ten Firmen spürbar, die unaufhörlich auf der Suche nach neuen Ideen sind und versuchen, Talente aus den Bereichen des Romans, des Ra- dios und des Theaters abzuwerben, den neuen Star oder die neue Exo- tik zu entdecken. Dieses Bestreben wird durch die standardisierende Tendenz fortlaufend aufgewogen: So klagen die Produzenten unauf- hörlich über das Fehlen guter Drehbücher und reagieren misstrauisch, sobald man ihnen solche vorlegt. Die Erfordernisse der Individualisierung erklären die kreative Rol- le, die den Filmemachern (Regisseuren) zukommt. Ihre Aufgabe ist es, ihre Originalität einzubringen und die segmentierte Arbeit der einzel- nen Mitwirkenden am Film zu einer Einheit zu führen. Aber zugleich bewegt sich der talentierte Regisseur auf einem schmalen Grat zwi- schen Knechtschaft und Halbfreiheit... Folglich sind Standardisierung und Individualisierung auf dialekti- sche Weise mit den industriellen Bedingungen des Films verbunden, ebenso wie mit den Bedürfnissen der ‹Masse›, die durch diese Industrie geweckt und zugleich befriedigt werden. Diese Dialektik ist auf allen Ebenen am Werk: Sie liefert dem Schauspieler eine Erweiterung seiner Persönlichkeit, während sie ihn depersonalisiert und damit zum My- thos (zum Star) werden lässt. Sie wirbt den talentierten Schriftsteller ein, zwängt seine Erfindungsgabe jedoch in die vorgefertigten Guss- formen des standardisierten Kinos. Sie erklärt auch, warum es einer- seits routinierte Kleinproduzenten gibt, die darauf bedacht sind, ihren Erfolg über Strategien der Standardisierung zu sichern, und anderer- seits mitunter risikofreudige Großproduzenten, die auf die Individua- lisierung setzen. Anders gesagt: Das Kino standardisiert, was individu- alisiert ist. Aber umgekehrt individualisiert es auch, was standardisiert ist. Dies ist auch der Grund, warum wir es im ersteren Fall mit einer unglaublichen Verschwendung von Talenten, von künstlerischen Mög- lichkeiten und menschlichen Ressourcen zu tun haben; der Automat zur Fabrikation von Filmen spuckt alles wieder aus, was sich nicht in seine Formen pressen lässt. Doch dies erklärt auch, warum es – im zweiten Fall – inmitten der Serienproduktion unzählige Filme gibt, die originelle Züge aufweisen. 28 montage AV 19 /2 / 2010 Die Dialektik von Individualisierung und Standardisierung erlaubt uns also zu begreifen, dass es nicht auf der einen Seite die kinemato- grafische Kunst und auf der anderen Seite die Filmindustrie gibt, son- dern dass die objektiven Bedingungen dieser Massenindustrie in sich bereits alle Virtualitäten enthalten – die Banalität ebenso wie die Kul- tiviertheit, die Innovation ebenso wie die Plattitüde, die Ästhetik und die Anti-Ästhetik, welche sich im Inneren des Films entfalten, sich ge- genüberstehen und sich miteinander verbinden. Im Übrigen, und vielleicht vor allem anderen, führt uns diese Dia- lektik zu einem der Gründe für die große Wirkmacht der filmischen Tatsache. Denn die Standardisierung eröffnet dem Film ein Massen- publikum, während die Individualisierung dieses wiederum als Kunst zu überzeugen vermag. Über die Wiederholung lässt die Standardisie- rung den Einfluss des Kinos immer tiefer vordringen: Wiederholungen von standardisierten Situationen, von standardisierten Verhaltensmustern, von standardisierten Figuren. Inmitten dieser zwanghaften Wiederholungen versieht die Individualisierung wiederum dieses oder jenes Ereignis, dieses oder jenes Gesicht, diese oder jene Landschaft mit einer einzigar- tigen Präsenz und bietet so den verlockenden Reiz eines neuen Einfalls, einer stets unerwarteten Variation desselben Themas. In diesem Sinne ähnelt die Wirkmacht des Kinos vielleicht derjenigen des Traums oder des Mythos, die beide dieselben archetypischen Situationen, dieselben monotonen Handlungsmuster, denselben «latenten» Gehalt wiederho- len, aufgrund der unendlichen Vielfalt ihres imaginären Überbaus je- doch immer verschieden bleiben. Die Probleme, die sich im Zusammenhang mit dieser Wirkmacht ergeben, werden wir hier nicht weiter erörtern. Diese sind ebenso wirt- schaftlicher wie politischer und sozialer Natur. In wirtschaftlicher Hin- sicht: Das Kino zieht eine große Anzahl parakinematografischer in- dustrieller Aktivitäten nach sich, welche die Autorität der filmischen Tatsache als Bürgschaft für ihre Produkte nutzen.4 In politischer Hinsicht: Der Film wird vom Staat und den obersten Verwaltungs- und Justiz- behörden sowohl überwacht als auch benutzt. In sozialer Hinsicht: Das Kino prägt mimetisches Verhalten, verändert Meinungen (Blumer 1933; Mayer 1948). An dieser Stelle begnügen wir uns mit dem Hinweis, dass die Wirkmacht des Films bei weitem über den dunklen Saal hinaus- reicht und kontinuierlich in alle Gefilde der Gesellschaft eindringt. 4 So hat Snow White and the Seven Dwarfs (USA 1937) von Walt Disney zu 117 Lizenzen für die Herstellung von 2.183 Produkten, insbesondere Nachbildungen von Filmfiguren, geführt. Friedmann/Morin: Soziologie des Kinos 29 Wir werden hier auch nicht näher auf die Frage eingehen, inwie- fern die Realität im Kino zum ‹Spektakel› wird. Wenn das Kino in dem Sinne die realistischste aller Künste ist, dass es alle Elemente der Realität fotografisch abbildet und diese projiziert, ohne ein einziges davon zu unterschlagen, so verwandelt es diese Elemente zugleich in eine Art Spektakel, eine Aufführung. Wir entdecken hierin eine der grundlegenden Ursachen seiner Wirkmacht, die, indem sie, wie Eisen- stein befand, sich in erster Linie an die Emotionen richtet, zunächst durch die Bilder Gefühle hervorzurufen sucht, um diese sodann zu Ideen werden zu lassen. Aber auch hier besteht die Stärke des Films in der Mischung von Imagination und Realität, im Realen des Imaginä- ren, im Imaginären des Realen. Das Imaginäre spiegelt die Wünsche und Wertvorstellungen wider, die im Publikum bereits vorhanden sind. Das Reale selbst wird durch diese Wünsche und Wertvorstellungen umgewandelt, was bedeutet, dass wir uns im Zentrum soziologischer Fragestellungen befinden. II. Der Inhalt der Filme Wie lässt sich der Inhalt von Filmen freilegen?5 Ein Film hat unter- schiedliche, manchmal gar widersprüchliche Inhalte. Er bringt nicht nur die Gegebenheiten einer gewissen Gesellschaft zum Ausdruck: Er korreliert mit einem bestimmten Zeitpunkt einer solchen Gesellschaft und verfügt daher über eine historische Dimension. Er überschreitet zudem seinen räumlichen Kontext, um sich einem weltweiten Publi- kum darzubieten. Auf der anderen Seite kann er über seinen histori- schen Moment hinausgehen, um in der Zeit anzudauern. Diese poten- zielle Universalität des Films wirft das Problem der psychologischen und anthropologischen Inhalte auf. A) Soziale Inhalte Der Film übersetzt und enthüllt sämtliche Realitäten einer Gesell- schaft. An dieser Stelle muss der Analytiker bedenken, dass die Gesell- schaft keine abstrakte Größe ist, sondern eine Verflechtung sozialer Be- ziehungen und Faktoren. Besonders augenfällig unter diesen Faktoren 5 Da wir nicht ausreichend auf das Thema eingehen können, schließen wir aus den folgenden Betrachtungen solche Studien aus, die sich mit Fragen des Publikums (au- dience analysis), der Medienresonanz (response analysis) sowie allgemeinen Wirkungen des Films auf Gruppen und Individuen (social control) befassen. 30 montage AV 19 /2 / 2010 sind zweifellos jene, die den Einfluss der etablierten Institutionen be- treffen. Diese Einflussnahme kann ebenso gut über eine dezidiert ‹po- litische› wie auch eine ‹apolitische› Haltung des Films in Erscheinung treten. Mit politischer Haltung ist hier nicht so sehr der propagandisti- sche Charakter gewisser Produktionen gemeint, sondern vielmehr die Konformität eines Films mit den Normen einer gesetzlich abgesicher- ten Moral, in der das Gute mit dem Gesetzmäßigen und das Böse mit dem Rechtswidrigen gleichgesetzt scheint. Dieses Werteraster bleibt so dauerhaft bestehen, dass es mitunter gar nicht mehr in Frage ge- stellt wird. Die ‹apolitische› Haltung von Filmen, das heißt ihr Unter- haltungscharakter, offenbart sich wiederum genau im Rahmen dieses Werterasters. Dieser ‹Apolitismus› zeugt im Übrigen selbst dort vom Einfluss sozialer Tabus, wo die Filme nicht explizit auf diese eingehen. «Alles, was Du verschweigst, gibt uns Auskunft über Dich.» Diese Maxime gilt auch für die Soziologie des Kinos. Politische Tabus wett- eifern mit sexuellen. Die Zensur lauert der Länge eines Kusses auf den Mund ebenso auf wie jeder Dialogzeile, welche die Moral der Trup- pen untergraben könnte. Nicht nur eine offizielle, sondern auch eine interne Zensur: Insofern sie im Kopf der Produzenten und Regisseure allgegenwärtig ist, schlägt sie sich in jedem Filmprojekt nieder. Für jede Gesellschaft könnte man eine Liste der filmischen Tabus erstellen. Die politische sowie apolitische Haltung der Filme machen, getrennt voneinander oder gemeinsam, den Druck sichtbar, den die Wertvorstellungen der bestehenden Ordnung je nach Gesellschaftstyp ausüben. Studien zu diesem Thema wären nur dann überzeugend, wenn sie sich vertiefend Serien von Standardfilmen innerhalb einzelner natio- naler Produktionskontexte widmen würden. Zugleich würden sie uns wertvolle Einblicke in andere Bereiche als die des dominanten politi- schen Wertesystems liefern, die auf unbekannte Weise das Universum eines Films mitbestimmen. Es handelt sich um ‹kollektive Vorstellun- gen›, Mentalitäten oder Ideologien, die im Inneren einer Gesellschaft vorherrschen. Diese korrespondieren mit einem Ensemble von Wer- ten, Haltungen, Vorurteilen und in diesen Sitten angelegtem Wissen, mit einer Art alltäglicher ‹Praxis› von Gemeinschaften. Der Standardfilm vermeidet nicht nur, gegen diese kollektiven Vor- stellungen zu verstoßen, sondern strebt vielmehr danach, sich ihnen anzupassen. Er ‹korrespondiert› mit ihnen, er richtet sich mit einer Sprache an sie, die sie umso besser verstehen, als dass er sich bemüht, ihnen treu zu bleiben. Das ist das berühmte «Das Publikum will» der Produzenten. Auch der Film selbst übernimmt – zu einem Ausmaß, Friedmann/Morin: Soziologie des Kinos 31 das genauestens zu bestimmen wäre – die Werte, Haltungen und Vor- urteile, die seinem Publikum eigen sind; und dies durch die Allerwelts- symbole, die Stereotype des filmischen Universums. Aus der Perspektive des Soziologen bilden diese Stereotype das Grundgerüst der Filmsprache. Sie betreffen die Figuren, die Situatio- nen, die Verhaltensweisen, die sozialen Rollen, das Dekor, die Kleidung. Von der turtelnden «Dame von Welt», dem zynischen Geschäftsmann, dem schüchternen Lehrer, dem verträumten Dichter, dem redseligen Italiener, dem phlegmatischen Engländer – über die sympathischen Typen, auf die uns die Gesichtszüge, der Gesichtsausdruck, Details der Kleidung, die Gesten hinweisen – bis hin zum Dekor der Romanze, der Bootsausflug oder der Spaziergang im Mondlicht, das Wien der Walzer oder «gay Paris»: Stereotype jeglicher Art sind allesamt Symbo- le, mit deren Hilfe dem Publikum ein Wissen über die Handlung und die Bedeutung des Films vermittelt wird. Ebenso wie die Stereotype Haltungen, Werte, Vorurteile, Meinun- gen, eine Art Weltanschauung* des Alltags reflektieren, entsprechen sie auch einem Wissen. Anhand dieser Symbole ließen sich fast die Prämis- sen einer Sozialpsychologie aufstellen, die uns anzeigen würde, welchen Wissensstand die Standardfilme jeweils repräsentieren. Dieses neue Er- kenntnisinteresse verfolgen auch die Studien Lester Asheims (1951). Sie zeigen uns anhand einer Auswahl von 24 durchschnittlichen amerika- nischen Filmen, die auf 24 klassischen Romanvorlagen beruhen – von Les Miserables bis hin zu Tom Sawyer über Wuthering Heights –, dass die Verfilmungen ebenso die Handlung wie auch die Figuren abwandeln, vereinfachen, um sich einem Wissens- und Erfahrungsstand anzupassen, der laut Autor dem mentalen Alter eines 14-Jährigen entspricht.6 Das Buch wird also gemäß des geringst möglichen Wissens- und Aufmerksamkeitsniveaus umgestaltet. Dieses Niveau gibt Aufschluss über den homo cinematographicus, über seine Mythen, Vorurteile und * [Anm.d.Ü.:] Deutsch im Original 6 Gemäß des gründlichen und unseres Erachtens vorbildlichen Vorgehens, hat sich Asheim einen genauen und minutiösen Vergleich zwischen den literarischen Tex- ten des Drehbuchs und den Filmen auferlegt, um die wiederkehrenden Muster der vorgenommenen Modifikationen freizulegen. Er stellt fest, dass die Veränderungen zwischen dem Roman und dem Drehbuch ebenso entscheidend sind wie jene zwi- schen dem Drehbuch und dem fertigen Film und dass diese intellektuelle sowie ideologische Veränderungen implizieren. Es gehe darum, jeden Hinweis auf einen historischen Kontext, der dem Publikum unbekannt sein könnte, zu eliminieren, die Figuren zu vereinfachen (Wuthering Heights, Anna Karenina), die wesentlichen Züge der dramaturgischen Entwicklung hervorzuheben, die Aufmerksamkeit eines passi- ven Zuschauers zu lenken. 32 montage AV 19 /2 / 2010 Wertvorstellungen, an die sich der Standardfilm richtet. Inwiefern ist dieser homo cinematographicus realer als der «homo economicus» der al- ten Abhandlungen zur politischen Ökonomie? Diese zentrale Frage können wir hier nur flüchtig streifen. Ist der homo cinematographicus lediglich der Mensch eines gewissen Publikums, einer gewissen sozia- len Mittelschicht, die Béla Balázs (1930) als Kleinbürgertum bezeich- nete und die sich karikaturistisch zugespitzt durch das junge, naive Mädchen, den «Backfisch» versinnbildlichen lässt? Oder bietet dieses Konzept tatsächlich einen elementaren und gemeinsamen menschli- chen Nenner, über den sich auch sehr heterogene Zuschauergrup- pen im dunklen Kinosaal vereint fühlen könnten? Wir glauben daran, dass sowohl der eine wie auch der andere Standpunkt wahr sind. Der Film geht insbesondere mit einer Ideologie der Mittelschichten ein- her, spiegelt aber auch eine mittlere Kollektivpsychologie wider: Die Tatsache, dass sich sein Publikum eben nicht auf die Mittelschicht be- schränkt, scheint dies zu belegen. Wenn hier also ein «Backfisch» im Spiel ist, dann ist es jener «Backfisch», der in jedem schlummert und den der Film in uns weckt. Darüber hinaus spiegelt er die sozialen Fakten nicht nur auf stati- sche Weise wider. Vielmehr erzählt er eine Geschichte, deren Hand- lungskonflikte auf dynamische Weise Wertekonflikte verhandeln und ideale Verhaltensweisen freilegen, die wiederum kollektive Ideale ver- mitteln. Einige der Konflikte, die der Film aufdeckt, stellen die geset- zeskonforme Moral nachgerade in Frage: The Mark of Zorro (Rou- ben Mamoulian, USA 1940) und The Adventures of Robin Hood (Michael Curtiz & William Keighley, USA 1938), all diese «guten» Ge- setzesbrecher der Leinwand, bestrafen die Bösen und beschützen die Armen. Zwar spielen diese Handlungen in längst vergangenen Zeiten, einem märchenhaft anmutenden Mittelalter (Robin Hood) oder zu Zeiten der Sezessionskriege (Zorro). In diesem Sinne wird die aktuell waltende Gesetzesmoral nicht direkt untergraben. Sie wird dafür je- doch indirekt ins Visier genommen. Wenn es dem Film widerstrebt, Klassenkonflikte zu thematisieren, so wiederholt er bis zum Überdruss und in allen möglichen Varian- ten jenen Konflikt, der Individuum und Gesellschaft einander anta- gonistisch gegenüberstellt. Den Kampf von Pflichterfüllung und Lie- be verhandelt zum Beispiel der Spionagefilm geradezu in Reinform. Der Held ist sowohl vom Ruf des Vaterlandes als auch von seiner Lei- denschaft für die schöne, feindliche Spionin angetrieben. Bei solchen Konflikten treten ideale Verhaltensweisen hervor, die auf einen mögli- chen Ausweg aus der misslichen Lage hinweisen. Friedmann/Morin: Soziologie des Kinos 33 Manchmal beharrt der Film auf der Unlösbarkeit des Konflikts. Wo ist die Gerechtigkeit? Nach den letzten Einstellungen von Justice est faite (André Cayatte, F 1950), bleibt diese noch aufzufinden. Wo ist die Freiheit? Der Zement erstickt den Helden von Give us this day (Edward Dmytryk, GB 1949). Wo ist das Glück? In den fantastischen Welten von Juliette ou la clef des songes (Marcel Carné, F 1951). In diesem Extremfall ist der Tod die Lösung. In den meisten Fällen hebt der Film jedoch vielmehr das ideale Verhalten hervor, jenes moralische pattern, das die soziale Autorität na- helegt und welches die mustergültige Lösung herbeiführt. Ausgehend von einer wahren Begebenheit veranschaulicht der sowjetische Film Povest o nastoyashchem cheloveke (Der Wahre Mensch, Aleksan- dr Stolper, UdSSR 1948) die grenzenlosen Möglichkeiten patrioti- scher Willenskraft. Dank dieser gelingt es einem russischen Flieger, der auf feindlichem Gebiet abgeschossen wurde, zu seinen Angehörigen zurückzukehren; nach der Amputation beider Beine lernt er mit un- gebrochener Willensstärke, seine künstlichen Gliedmaßen zu benutzen und schließlich wieder ein Flugzeug zu fliegen. Ebenso wie hier sind auch in vielen anderen sowjetischen Filmen realistischen und epischen Typs die Grenzen zwischen dem wahren und dem idealen Menschen fließend. Die mustergültige Lösung kann sich selbst im Angesicht des To- des noch aufdrängen. Morning Departure (Roy Ward Barker, GB 1950) erzählt die Geschichte eines U-Boots, das im Morgengrauen aufbricht, von einer Mine getroffen wird und untergeht. Am Beispiel dieses tragischen Abenteuers zeichnet sich mit feierlichem Gestus der Idealtypus des Briten ab, so wie ihn die Erziehung, das Leben und die englischen Institutionen zu modellieren suchen. Im Verlauf der ge- meinschaftlichen Zerreißprobe im Inneren des U-Bootes, das auf dem Meeresgrund vergeblich auf Rettung wartet, wohnt man den psycho- logischen Wandlungen der verschiedenen Protagonisten bei. Sie wer- den nach und nach von einer Atmosphäre, einem wahrhaft ‹kollektiven Gewissen› im Sinne Durkheims ergriffen, sodass der junge Aufrührer schlussendlich – geläutert, ruhmreich und an die Wert- und Ehrvor- stellungen der His Majesty Navy angepasst – sterben wird. In dem gleichen Maße wie der Film Probleme oder Konflikte der Gesellschaft sichtbar macht, präsentiert er also – im Guten wie im Schlechten – ideale Verhaltensweisen zu diesen Problemen oder Kon- flikten. Auch auf dieser Analyseebene spiegelt der Film soziale Reali- täten wider, und zwar ebenso durch das, was er zeigt, wie durch das, was er verhüllt. 34 montage AV 19 /2 / 2010 B) Historische Inhalte Darüber hinaus birgt der Film einen Inhalt, der – mehr oder weniger genau – durch seinen Produktionszeitpunkt bestimmt ist. Im einen Fall vermischen sich historische und soziale Inhalte, insofern letzte- re nicht loslösbar sind von der jeweiligen Phase der Sozialgeschichte und erstere nicht von sozialen Problemen abstrahiert werden kön- nen. So stellt zum Beispiel das soziale Problem des Ehebruchs, das im französischen Theater, Roman und Film ausführlich behandelt wird, auch ein historisches Problem dar, ist es doch eng gekoppelt an ein Krisenstadium in der Geschichte der modernen Familie. Im anderen Fall sind die historischen Inhalte in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit, Situiert- und Datiertheit markiert. So sind Kriegsfilme, die im Lau- fe eines Krieges gedreht werden, genaue Produkte eines historischen, nationalen oder weltweiten Moments. Die Analyse beginnt, schwierig zu werden, wenn der Inhalt des Films sich vom Zeitgeschehen ablöst oder diesen völlig zu ignorieren scheint. Das Beispiel der Kriegsfilme mag hier lehrreich sein. Je größer die zeitliche Distanz zwischen ei- nem Krieg und den Filmen, die ihn widerspiegeln, desto menschlicher werden die Figuren des feindlichen Lagers dargestellt, während der Krieg zunehmend unmenschlicher inszeniert wird. Der Inhalt reicht über sich selbst hinaus. Der Film Morning Departure, fünf Jahre nach Kriegsende produziert, verzichtet auf jedwede platte Verklärung der Kampfhandlungen: Er wendet sich vielmehr der emotionalen Ebene zu, dem anonymen Opfer, das die einfachen Matrosen der Royal Navy für das Wohl Englands erbringen. Es handelt sich um eine retrospek- tive Hommage Englands an seine Toten. Der Grundton des Films ist wesentlich feierlicher und andächtiger als er es 1942 gewesen wäre, wo die gleichen Grundzüge als ‹defätistisch› gegolten hätten. Betrachtet man die Filme der Periode 1918 bis 1939, die sich mit dem ersten Weltkrieg beschäftigen, so wird man erkennen, dass ihr Inhalt sich verändert. Ein bekannter Film von Abel Gance* geht gar so weit, eine pazifistische Anklagerede und zugleich einen Schrei der Empörung gegen den neuen Krieg zu lancieren, der seine Schatten bereits voraus- wirft; die Toten von Verdun richten sich auf, um Frieden einzufordern. Auch der Inhalt von Spionagefilmen durchläuft eine Entwicklung. Nach den retrospektiven Spionagefilmen, in denen die tragisch-pa- triotischen Spätfolgen des vergangenen Krieges zu beobachten sind, * [Anm.d.Ü.:] Es handelt sich hierbei um J’accuse! (F 1938), ein Remake seines gleichnamigen Stummfilms von 1919. Friedmann/Morin: Soziologie des Kinos 35 kommen prospektive Spionagefilme wie Double Crime sur la ligne Maginot (Félix Gandéra, F 1937) auf, welche die Bedingungen der neuen internationalen Spannung widerspiegeln. Ein retrospektiv ange- legtes Spionagethema wie in dem Film Marthe Richard au service de la France (Raymond Bernard, F 1937) bekommt in den 1935er Jahren eine prospektive Bedeutung. Die neue Bedrohung verleiht ihm neue Aktualität. Selbst wenn sich ein Film nicht direkt auf das Zeitgeschehen zu beziehen scheint, kann er in Wirklichkeit eine Umgestaltung zeitge- nössischer Tatsachen darstellen. Die Literatur und das zeitgenössische Theater liefern uns zahlreiche Beispiele solcher Umgestaltungen, wie zum Beispiel L’État de siège. So könnte man in Bezug auf den Film eine Art soziale Psychoanalyse vornehmen, die versuchen würde, die laten- ten Inhalte zutage zu fördern, die sich unter den manifesten Inhalten verbergen. Sie würde uns zeigen, dass gewisse Filme, die von einer ge- nauen historischen Referenz losgelöst scheinen, in soziologischer und historischer Sicht einen umso reicheren allegorischen Gehalt aufwei- sen als ein realistischer Film, der durch die Tabus von Zensur und Pro- duktion eingeschränkt ist. In diesem Sinne gibt es Filme, die besonders aufschlussreich sind für tiefgreifende Krisen einer Gesellschaft. Weithin bekannt ist Siegfried Kracauers Analyse von Fritz Langs Das Testament des Dr. Mabuse (D 1933) (Kracauer 1948). Der Film scheint von jeglichem sozialen und historischen Kontext des Realen losgelöst – ein verrückter Arzt führt in Berlin eine Bande Krimineller an, die Plünderung, Zerstörung und Brandstiftung anzetteln – doch durch das Datum seines Drehs fällt er his- torisch mit den Monaten vor der Machtergreifung Hitlers zusammen. Der Film kann nicht nur wirtschaftliche und institutionelle Kri- sen widerspiegeln, sondern auch die kollektiven Krisen des Gewissens, die zu «Nervenkriegen» oder Kalten Kriegen führen. Sind gewisse amerikanische Filme wie Give us this day, Fourteen Hours (Henry Hathaway, USA 1951), Rope (Alfred Hitchcock, USA 1948) oder The Thing from Another World (Christian Nyby, USA 1951) mit ihrem semi-psychoanalytischen Gehalt und ihrer gemeinsamen Grundstim- mung der Angst nicht viel eher Ausdruck des Kalten Krieges als die antikommunistischen Filme, da sie nicht Erzeugnis eines Propaganda- Apparates sind, sondern aus der unbestimmten Sorge der Gemein- schaft hervorgehen? Betrachtet man unter diesen Prämissen die Filme von Marcel Car- né und Jacques Prévert, die dem Krieg von 1939 unmittelbar voraus- gingen, so kann man sich fragen: Steht der von Jean Gabin verkörperte, 36 montage AV 19 /2 / 2010 tragische Deserteur in Quai des Brumes (Marcel Carné, F 1938) für den Wunsch, dieser immer bedrückender werdenden Wirklichkeit zu entfliehen und zugleich auch für die Gewissheit, dass diese Flucht zum Scheitern verurteilt ist? Vor den Toren des Meeres im Morgengrauen muss Gabin dennoch sterben ... All das kann hier nur hypothetisch dargelegt werden. Eine allzu me- chanische Vision ist dabei zu vermeiden, begünstigt die Krise doch zur gleichen Zeit Filme gegensätzlichen Typs und Inhalts. Aus der Wirt- schaftskrise von 1929 bis 1935 sind Hollywoods Superproduktionen wie Gold Diggers of 1933 (Mervyn LeRoy, USA 1933)7 hervorge- gangen, aber auch Our Daily Bread (King Vidor, USA 1934), der das Problem der Arbeitslosigkeit unverblümt anspricht. Die Krise kann also ebenso einen Film hervorbringen, der die latente Angst der Ge- müter zum Ausdruck bringt, wie auch einen, der sie durch den Aufruf zur Unterhaltung vertreibt, den realistischen wie auch den fantasti- schen Film. Der eskapistische Film impliziert die schnöde Wirklich- keit, vor der zu entfliehen er trachtet. Je strenger die Zensur, desto mehr wird sich der Film ins Fantasti- sche und Mystische flüchten (vorausgesetzt natürlich, die Zensur lässt dies zu), da er ja die Probleme nicht in ihren konkreten Gegebenhei- ten darstellen kann. So drehen Carné und Prévert, die Quai des bru- mes gemacht hatten, unter dem Vichy-Regime einen Film wie Les Visiteurs du Soir (Marcel Carné, F 1942). Während es für die Analyse äußerst heikel ist, sich auf das Gebiet von Filmen mit legendärem oder mythischem Charakter zu begeben, so scheint es dagegen weniger problematisch, historische und soziale Inhalte von Filmen mit Gegenwartsbezug zu untersuchen, da diese mit deutlichen und genauen Symbolen aufwarten. Ein solcher Film ist Frieda (Basil Dearden, GB 1947), ein englischer Film, in dem ein Pilot der RAF eine junge Deutsche in sein Land mitbringt, die ihm bei der Flucht behilflich war. Die Reaktionen des provinziellen Mi- lieus auf diese junge Frau sind typisch: Von der vorbehaltslosen Auf- nahme durch die Mutter bis hin zu den aggressiven Feindlichkeiten der Tante, über die freundliche Haltung des Pfarrers und des Schuldi- rektors. Durch jede dieser Figuren kommt auf unterschiedliche Art der britische Moralismus, Puritanismus und Liberalismus zum Ausdruck. 7 Die prunkvolle und spektakuläre Superproduktion war Hollywoods beste Ant- wort auf die allgemeine Abkehr vom Kino im Kontext der Wirtschaftskrise. So er- wiesen sich diese Filme – die teuersten ihrer Zeit – paradoxerweise auch als die gewinnträchtigsten. Friedmann/Morin: Soziologie des Kinos 37 Letzten Endes versucht die junge Frau, sich umzubringen und es ist ausgerechnet die Tante, die nach einem bedeutsamen Moment des Zö- gerns Alarm schlägt und sie damit rettet. Dieser letzte Zug ist wichtig für die Einschätzung einer globalen psychologischen Haltung gegen- über dem deutschen Problem. Durch die Rettung des Fliegers hatte Frieda zwar bereits bewiesen, dass sie – gemäß der Formel von Jean Paul – zuvorderst zur Gattung der Menschen und nicht zur Gattung der Deutschen gehört. Und doch wird von ihr ein äußerster Beweis an Aufrichtigkeit erwartet, bevor die englische Bevölkerung sie vor- behaltlos aufnehmen kann: Und dieser Beweis ist ihr Selbstmord. Da- mit scheinen die letzten Bedenken der furchtbar skeptischen Tante aus dem Weg geräumt. Mehr noch: Sie ist diejenige, die mit ihrem Beispiel lehrt, dass eine Versöhnung möglich und notwendig ist. Der Beweis durch den Suizid drängt sich umso mehr auf, als dass zwischenzeitlich Friedas Bruder aufgetaucht ist, ein SS-Peiniger, der in der polnischen Armee untergetaucht und dann entlarvt worden war. So wird Frieda zum Symbol der guten Deutschen, die unglücklicher- weise mit einem Monster, dem SS-Bruder, verwandt ist. Genau diesem Thema begegnet man auch in dem französischen Roman Un amour al- lemand (Georges Auclair), in dem die junge Angelica ebenfalls die gute Deutsche symbolisiert, die auf fürchterliche Weise mit dem Henker eines Konzentrationslagers, ihrem Bruder, verbunden ist. Ebenso das Kind in Rossellinis Germania anno zero (I 1948)... In diesen drei Fäl- len wird von der «guten» Deutschen ein Opfer erwartet, in dem sie ihr Leben riskiert, um sich vollends von der Kollektivschuld zu reinigen. Ganz anders als diese Filme, die sich in einem bestimmen situierten und datierten Kontext verorten, gibt es solche, die sich jeglicher his- torischer Beeinflussung zu entziehen scheinen. Ebenso wie die faden Liebesromane, die unverändert Zeiten des Friedens, der Krisen und der Kriege durchqueren, wiederholen sich «Romanzen», Tarzan- und vor allem Western-Filme während ganzer Dekaden gemäß dem im- mer gleichen Schema und ohne dass dieses strukturell verändert wür- de. Diese und andere, mitunter sehr bedeutende Filme scheinen sich der streng historischen Analysen und manchmal gar der soziologischen Analyse zu widersetzen. Zwar stehen beispielsweise die Tarzan-Filme in Wirklichkeit in engem Zusammenhang mit den Wunschträumen einer mechanisierten Gesellschaft, die den Naturzustand herbeisehnt, und die Western-Filme bringen die Sehnsüchte eben dieser Gesell- schaft nach einem freien Leben voller Ausritte und Abenteuer zum Ausdruck... Aber sie erfordern schließlich auch eine dritte Analyseebe- ne, jene der psychologischen oder anthropologischen Inhalte. 38 montage AV 19 /2 / 2010 C) Anthropologische Inhalte Nur diese Analyseebene kann der Universalität und dem dauerhaf- ten Wert von Filmen gerecht werden. Die psychologischen, oder bes- ser noch, anthropologischen Inhalte sind allen Menschen gemeinsam. Sie erlauben uns, zu verstehen, dass der homo cinematographicus nicht nur eine Abstraktion der «Box-Offices» ist, sondern eine grundlegen- de Realität. Derselbe Western oder derselbe Tarzan-Film findet sein Publikum in Europa, Japan, Schwarzafrika. Seine Form ist universell, das heißt bis zum Äußersten vereinfacht. Vor allem seine Inhalte sind universell. Sie verhandeln die tiefen Gefühle kindlicher oder archaischer Vertrautheit mit Tieren (das treue Pferd, der hilfsbereite Hund Rin Tin Tin, die Affen, der Elefant, allesamt anthropomorphisiert), die brutalen Ein- griffe des Menschen in die Natur, die elementaren Themen des An- griffs und der Verteidigung, jene nicht weniger elementaren Themen des Kampfes zwischen Gut und Böse... Andere Filme haben einen «höheren» anthropologischen Charak- ter, wie wenn sie in gewisser Weise das menschliche Abenteuer selbst zur Anschauung bringen: so Nanook of the North (USA 1922) von Robert Flaherty und Man of Aran (GB 1934) desselben Autors, wo wir den Mann, seine Frau und seine Kinder, seine Tiere, seine Waffen, alleine, im Kampf mit der erbarmungslosen Natur sehen. An dieser Stelle sei vermerkt, dass die anthropologischen Inhalte in allen Filmen, von denen bisher die Sprache war, gegenwärtig sind: Morning Departure, wo die Themen des Abenteuers auf hoher See, des menschlichen Kampfes gegen den Tod selbst schon ausreichen, um dem Film Leben einzuhauchen – und das selbst Tausende von topo- metrischen, soziologischen und psychologischen Seemeilen vom Ver- einten Königreich entfernt; die Spionagefilme, in denen das anthropo- logische Thema vom Geschlechterkampf, vom Kampf zwischen Gut und Böse zirkuliert; Frieda, in dem das universelle Thema der Fremden auftaucht, die immer zugleich Aufgenommene und Feindin ist. Kurzum, jeder Film kann nacheinander aus soziologischer, psycho- logischer und anthropologischer Perspektive analysiert werden. Eine dreifache Dialektik verbindet diese drei Inhalte. Es liegt auf der Hand, dass sich in einem einflussreichen Film wie All Quiet on the Wes- tern Front (Lewis Milestone, USA 1930) eine Vielzahl sowohl his- torischer und soziologischer wie auch anthropologischer Inhalte ver- birgt. Dies wird auch durch die Tatsache nicht in Abrede gestellt, dass gewisse Filme eine stärker entwickelte, historische, soziologische oder Friedmann/Morin: Soziologie des Kinos 39 anthropologische Polarität aufweisen, ohne dabei die anderen Aspekte zu übergehen. Sie betreffen allesamt Bereiche des Menschlichen, aber jeweils mehr oder weniger stark. Wenn sich das Publikum eines Films verändert, verändert sich auch die Gewichtung der Inhalte. Die Dreiheit von historischen, sozialen und anthropologischen Inhalten ermöglicht dem Film, sich neuen Pu- blika anzupassen, die für einen gewissen dieser Aspekte mehr oder we- niger empfänglich sind. Eroberten die Filme über die Hardy-Familie, You’re Only Young Once (George B. Seitz, USA 1937) und seine di- versen Fortsetzungen, die Vereinigten Staaten, weil sie einen Prototy- pen der amerikanischen Familie repräsentieren, gefielen (oder missfie- len) sie in Frankreich als Filme über jugendliche Abenteuer. Miracolo a Milano (Vittorio De Sica, I 1951) wird von den einen als anthropo- logischer Film geschätzt, der sich für menschliche Güte ausspricht, von den anderen als soziologischer Film; wieder andere sehen in der Taube, die aus der Romanvorlage Totò il buono von Cesare Zavattini stammt, ein präzises historisches und politisches Symbol. Für uns steht fest, dass dieser Film zugleich sozial, historisch, anthropologisch ist und das ge- nau diese Vielseitigkeit seinen Reichtum ausmacht. Filme, die die nationale Prägung des Landes, aus dem sie hervorge- gangen sind, oder bestimmte Merkmale eines bestimmten historischen Kontextes überzeichnen, laufen Gefahr, den psychologischen Kontakt mit den universellen Zuschauerkreisen zu verlieren. Ein «typisch» hin- duistischer, amerikanischer, sowjetischer Film kann als solcher außer- halb des Gebietes, in dem er konzipiert wurde, verwirrend wirken. Dies kann Lachen oder Langeweile hervorrufen, insbesondere dann, wenn er mit leidenschaftlichem Gefühl oder Pathos daherkommt. Diese Ausführungen bedürfen wohl kaum einer organischen Schlussfolgerung. Die Soziologie des Kinos ist gerade erst im Ent- stehen begriffen, noch auf der Suche nach ihren Methoden und ver- mag mehr schlecht als recht, ihre Themenschwerpunkte miteinander zu verknüpfen. Erinnern wir uns nichtsdestotrotz daran, dass die ki- nematografische Tatsache, die sich in Gesellschaften unterschiedlichs- ter Entwicklungsgrade und Organisationsstrukturen beobachten lässt, heutzutage eine soziale Tatsache der Zivilisation ist, typisch für die zeitgenössische technische Zivilisation, und zugleich eine totale so- ziale Tatsache darstellt. Aus diesem Blickwinkel betrachtet liefert das Kino hinsichtlich seiner verschiedenen Aspekte (filmische Inhalte, Zu- sammensetzung des Publikums, Motivationen und Frequenz der Re- zeption, Reaktionen und Verhaltensweisen, Bedürfnisse und Mythen, Werte und Vorurteile etc.) eine Menge wertvoller Daten für die Un- 40 montage AV 19 /2 / 2010 tersuchung von Gemeinschaften, die sich an den unscharfen Grenzen und im engen Zusammenspiel von sozialer Psychologie und Soziolo- gie ansiedelt. Industrie-, Wirtschafts- und Kunst-Soziologie, die Sozio- logie des Wissens und der Moral finden im Kino ein unvergleichliches Material vor, das umso hilfreicher ist, als es soziale «Verdichtungen» aufweist, die häufig relativ leicht aufzuspüren und zu erfassen sind. Umgekehrt muss die Filmologie, um sich wissenschaftlich zu kon- stituieren und weiter zu entwickeln, neben ihren grundlegenden, psy- chologischen, physiologischen und ästhetischen Fragestellungen auch den Problemen und Techniken der Soziologie des Kinos einen Platz einräumen. Ohne eine solche Grundlage wäre sie dazu verdammt, sich im Leeren fortzubewegen, ganz so wie jene chinesischen Malereien, die Michelet in einer vielzitierten Aussage zur Geschichte erwähnt.* Im Rahmen dieses ersten Entwurfs konnten wir nicht näher auf me- thodologische Fragen eingehen. Dafür haben wir wohl deutlich genug unterstrichen, dass die kinematografische Tatsache in unseren Augen eine komplexe Tatsache mit vielschichtigen Facetten, Zusammenhän- gen und Auswirkungen darstellt. Auf der anderen Seite ist sie wieder- um eine menschliche Tatsache, deren Einheit und deren Gegebenheiten sich nur dann ausreichend erfassen und erklären lassen, wenn alle Dis- ziplinen, die den Menschen zu ihrem Gegenstand haben, mit vereinten Kräften zusammenarbeiten. Diese allzu flüchtigen Notizen, über de- ren Unzulänglichkeiten wir uns sehr wohl bewusst sind, werden nicht fruchtlos gewesen sein, wenn sie einigen in Erinnerung zu rufen ver- mochten, welch wichtiges Reflexions- und Forschungsfeld hier ver- borgen liegt und sie vielleicht sogar dazu anregen konnten, gemeinsam und jenseits unserer mehr oder weniger künstlichen Spezialisierungen, die Ärmel hochzukrempeln und sich an die Arbeit zu machen. Aus dem Französischen von Kristina Köhler * [Anm.d.Ü.:] Gemeint ist hier vermutlich der fast schon sprichwörtlich gewordene Verweis auf die chinesischen Malereien, denen an räumlicher Verortung und «Bo- denhaftung» mangele, so Michelet im Vorwort zur Ausgabe seiner Histoire de France von 1869. Friedmann/Morin: Soziologie des Kinos 41 Literatur Asheim, Lester (1951) From Book to Film: Simplification. In: Hollywood Quar- terly 5,3–6. Bächlin, Peter (1945) Der Film als Ware. Basel: Burg Verlag. Balázs, Béla (1930) Der Geist des Films. Halle: Wilhelm Knapp. Blumer, Herbert (1933) Movies and Conduct. New York: Macmillan. (Payne Fund Studien) Buchanan, Andrew (1951) Film-Making, from script to screen [1937]. London: Phoenix House. Drinkwater, John (1931) The Life and Adventures of Carl Laemmle. London: G.P. Putnam’s Sons. Huettig, Mae D. (1944) Economic control of the motion picture industry. A study in industrial organization. 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Diese Forschungen haben ihre Gren- zen in sich selbst: Sie erfassen nicht das Publikum [le public], sondern bestimmte Zuschauergruppen [des publics], überdies nur bestimmte psychosoziologische Schichten dieser jeweils spezifischen Zuschauer- gruppen. Sie betreffen Stichproben, keine Gesamtheiten. Sie betreffen Meinungen, keine Fakten. Gewiss ist methodisch nichts dagegen ein- zuwenden, auf der Basis von Stichproben Gesamtheiten zu rekonstru- ieren, von Meinungen auf Fakten zu schließen und auch die Meinun- gen als Fakten zu betrachten. Doch Stichproben der Kinopopulation können uns zwar über den Zustand eines Gesamtpublikums zu einem bestimmten Zeitpunkt informieren, aber sie ermöglichen es uns nicht, zu den Gesamtbewegungen vorzudringen, die das Publikum steuern, und ebenso wenig, das Phänomen «Publikum» in die soziologische – historische, demografische, ökonomische – Gesamtwirklichkeit ein- zuordnen. Es liegt ein Graben zwischen den «ZuschauerInnen» [les «audiences»] und dem gesellschaftlichen Substrat, den zwar ein paar schwankende deduktive und induktive Stege zu überbrücken vermö- gen; aber der gemeinsame Boden fehlt. Mit ihrem psychologischen Forschungsansatz scheinen sich die Pu- blikumsuntersuchungen auf dem spezifischen Terrain des Kinokon- sums zu revanchieren, der an sich psychologisch ist. Doch so wert- * Dieser Artikel erschien erstmals 1953 als «Recherches sur le public cinématogra- phique» in der Revue internationale de filmologie (4,12, S. 3-19). Wir danken dem Autor für die Erlaubnis zur Übersetzung. 44 montage AV 19 /2 / 2010 voll diese Untersuchungen sein mögen, scheint mir doch, dass sich gerade auf dem Feld der Psychologie ihre größten Unzulänglich- keiten und Grenzen zeigen. Ein Fragebogen für eine Bevölkerungs- stichprobe kann uns beispielsweise Elemente zur Einschätzung ihrer Struktur verschaffen (Gesellschaftsschicht, ökonomisches Niveau, Al- ter, Geschlecht), die gültig sind, weil sie objektive, überprüfbare Fak- ten erfassen. Aber sobald er nach Geschmäckern, Motiven, sogar nach Häufigkeit des Kinobesuchs fragt, stößt er auf das Problem der Auf- richtigkeit und des klaren (Selbst-)Bewusstseins. Mithilfe verschiede- ner Techniken (Test-Retest etc.) kann man wohl die Unaufrichtigkeit der Antworten beseitigen, aber sich keinerlei Gewissheit über das klare Bewusstsein der Befragten über sich selbst verschaffen. Ich glaube drei- mal pro Woche ins Kino zu gehen: tatsächlich gehe ich aber vielleicht nur einmal; ich glaube höchstens einmal im Monat zu gehen, aber ich gehe vielleicht dreimal monatlich. Ich glaube Gangsterfilme zu mögen, tatsächlich mag ich genauso gerne Liebesfilme usw. Ein unbekannter, aber mit Sicherheit vorhandener Teil der Zuschauer ist unsicher und eklektisch in Geschmack und Motiven und sich seiner Praxis oft nur halb bewusst. Diese Unsicherheiten mögen sich statistisch gegenseitig aufheben. Doch die Probleme gehen noch weiter: In Wirklichkeit sind psycholo- gische Zuschaueruntersuchungen mithilfe des Fragebogens ganz und gar nicht psychologisch. Sie können uns wohl lehren, dass die Kino- gänger beispielsweise auch große Zeitschriftenleser und Radiohörer sind (vgl. Lazarsfeld 1947), aber sie sagen uns nichts über das Kino- bedürfnis. Um den tiefsten Kern dieses Bedürfnisses zu erfassen, muss der formelle Fragebogen beiseite gelassen und mit Interviews, «fo- cussed interview», rückblickender Introspektion,1 Beichte (vgl. May- er 1948), Selbstanalyse usw. gearbeitet werden. Das ist eine Rückkehr zur vorwissenschaftlichen oder a-wissenschaftlichen Psychologie, zum menschlichen Kontakt, zu Intuition und Takt, und es ist amüsant zu sehen, dass der Geist der Geometrie in seinem Bedürfnis nach Strenge schließlich im Geist des Feingefühls gipfelt und der hypertechnische Test in einem gewöhnlichen Tête-à-Tête endet. Da ich nicht von der Zuschaueranalyse ausgehe, ist das bei mir nicht der Fall. Mein Ausgangspunkt ist der Begriff des Publikums, nicht die konkreten ZuschauerInnen. «Was ist das Publikum» ist eine Frage, die der nach den ZuschauerInnen vorausgeht und sie zugleich einschließt. 1 Diese Technik wird vom Bureau of Applied Social-Research (Columbia University) verwendet. Morin: Forschungen zum Kinopublikum 45 Was ist das Publikum? Wie groß ist die Zahl der Leute, die ins Kino gehen? Ist diese Zahl veränderlich, nimmt sie zu, nimmt sie ab oder bleibt sie stabil? Wie groß ist der Anteil der Bevölkerung, den das Kino berührt? Wie hoch liegt dieser Anteil in den verschiedenen Ländern? In den verschiedenen Gesellschaftsschichten? Manche Antworten auf diese ersten Fragen können sicher nur Um- fragen liefern, aber diese Umfragen gehen weit über Zuschauerbe- fragungen hinaus, denn sie müssen bei einer repräsentativen Auswahl nicht einer Zuschauerbevölkerung, sondern einer nationalen Bevöl- kerung angewendet werden. Andere machen den Rückgriff auf Zu- schauerzahlen nötig. Diese Zahlen sind noch nie soziologisch ausgewertet worden, auch psychologisch natürlich nicht. Doch sie bringen uns ganz von selbst zur Soziologie und Psychologie. Zur Psychologie – warum denn nicht? –: Die ökonomischen Cha- rakteristika des Kinobedürfnisses, seine Reaktionen auf gesellschaftli- che und finanzielle Krisen im Vergleich zu den Reaktionen nicht nur anderer Freizeitbedürfnisse (Theater, Sport), sondern der Gesamtheit der ökonomischen Bedürfnisse können uns wenn nicht über den Ge- halt, so doch zumindest über die Tiefe dieses Bedürfnisses Aufschluss geben. Zur Soziologie: Sofern solche Zahlen existieren – und leider tun sie das nur beschränkt –, können sie natürlich innerhalb der Geschich- te einer Gesellschaft, deren Entwicklung, Rückschritten, Krisen und Kriegen betrachtet werden. Natürlich können sie zu den Ereignissen in dieser Gesellschaft in Beziehung gesetzt werden. Natürlich können sie zu den demografischen, ökonomischen, sozialen, religiösen Struk- turen in Beziehung gesetzt werden. Und natürlich kann die Häufigkeit des Kinobesuchs zur Häufigkeit von Sportveranstaltungs- und Thea- terbesuchen in Beziehung gesetzt werden. Zwischen den soziologi- schen Gesamtphänomenen und den Gesamtphänomenen des Kinos gibt es einen gemeinsamen statistischen Nenner. Aber natürlich gibt es auch tausend Schwierigkeiten, nicht nur wegen des ungenügend vorhandenen statistischen Materials, sondern weil in manchen Fällen angemessene Vergleichsbedingungen schwer zu bestimmen sind. Doch man muss es versuchen: Die Nutzlosigkeit der Anstrengungen auf diesem Gebiet – und die nüchterne Forschung ist ja das Reich der nutzlosen Anstrengungen – wird nie die der kafkaesken, aufwendigen Formen so mancher Fragebogenforschungen erreichen. Und die Er- gebnisse werden umso trivialer sein – die Wissenschaft ist ja das Reich trivialer Wahrheiten –, desto bescheidener die Anstrengung ausfällt. 46 montage AV 19 /2 / 2010 Ich gehe also von den Besucherzahlen des Kinos aus, ohne freilich die Ergebnisse der Zuschauerforschungen auszuschließen – von vorn- herein schließe ich übrigens gar nichts aus. Diese Zahlen führen uns in zwei Richtungen: Die historische: Die Geschichte des Kinos ist bis heute die Geschich- te der «guten» Filme und kümmert sich weder um die «schlechten» Filme noch um das Kinopublikum. Die experimentelle: Die historischen Bedingungen, in denen das Pub- likum sich bildet, entwickelt und schrumpft, sind zugleich experimen- telle Bedingungen. Die Geschichte ist das natürliche Laboratorium der Soziologie. Vor allem diese letztere Perspektive hat meine – noch sehr unvollständige – Untersuchung über das Publikum geleitet. Aber zu- nächst ein historischer Abriss, der sich aufdrängt. Die allgemeinen Tendenzen Die Geschichte des Kinopublikums von den Anfängen bis heute bleibt die Geschichte der Ausweitung dieses Publikums. Mit dem Auftauchen der Stars (ab 1914) bildet sich ein Basispublikum, ein Publikum von «Fans». Das Aufkommen der Filmkritik und ihre Ausbreitung in der gesamten Presse (in Frankreich zwischen 1918 und 1925) zeugt von der Ausweitung des Publikums auf sämtliche Gesellschaftsschichten. Die Untersuchung der «Payne Fund Studies» (1928) ist eine Nachwir- kung des kontinuierlichen, massiven Vordringens von Kindern und Ju- gendlichen ins Kinopublikum. Nach dem zweiten Weltkrieg gewinnt der Fortschritt bei der nicht standardmäßigen Verwertung die außer- städtische Bevölkerung für das Kino und die Verbreitung der Film- clubs ein Publikum neuen Typs. Aber wenn man die Zahlen dieses wachsenden Besucherstroms näher betrachtet, wird deutlich, dass die Bewegung zeitlich diskontinuierlich, je nach Land anders und Krisen unterworfen ist (vgl. Tab. 1). * * * Das Wachstum der Zuschauerzahlen ist Krisen unterworfen, zumin- dest in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern: USA, England, Deutschland, Frankreich, Holland, Norwegen; und es ist diskontinu- ierlich in der Gesamtheit der Nationen. Im ersten Fall zeigen sich zwei schwere Krisen bei den Besucherzahlen, die eine im Gefolge der Welt- wirtschaftskrise 1929, die andere in denselben Ländern – außer Italien und wohl auch Deutschland – ab 1947. (Halten wir hier schon die be- Morin: Forschungen zum Kinopublikum 47 Tab. 1 Kinobesuchszahlen von 1927 bis 1950 (in Millionen) Benutzte Quellen: USA: Film Daily Year Book; Großbritannien: Board of Trade Journal (1-9-51), Statistics of British Film Industry; Italien: Lo Spettacolo in Italia (Annuario Statistico, 1950); Brasilien: Annuario estatistico do Brasil; Kanda: Motion picture theaters, exhibitors and distributors 1948–1950; Frankreich: Rapport «de Carmoy» au Conseil national économique (Journal officiel, 1936); Pierre Cheret (Cinématographie française n° 1052, 1938); Bulletin d’Information du C.N.C. (1945- 1952). Deutschland: Peter Bächlin, Histoire économique du Cinéma (1947); UdSSR: Documentary News I,9, S. 11. USA Frankr. Großbrit. Deutschl. Italien Kanada Niederl. UdSSR Norwegen Brasilien 1927 2.695 337,3 1928 3.380 352,5 1929 4.160 150 328,3 1930 4.680 200 290,3 1931 3.900 234 273,1 1932 3.120 233 238,4 1933 3.120 219 246,9 1934 3.640 208 280 1935 4.160 231 317 625 1936 4.576 917 253,2 1937 4.576 946 301,6 25,8 1938 4.420 220 987 335 35,1 870 26,4 1939 4.420 990 (441) 345,7 59 950 1940 4.160 1.027 355,6 151,5 33,6 1.200 9 1941 4.420 224,8 1.309 408,8 1942 4.420 281 1.494 459,1 2.700 1943 4.420 304 1.541 1944 4.420 245 1.575 13,2 1945 4.420 402 1.585 215,5 51,7 23,7 1946 4.680 420 1.635 411,2 227,5 88,7 30,0 138,8 1947 4.680 411 1.462 525,3 220,8 78,7 28,5 1948 4.420 387 1.514 579,5 222,4 75 28,7 1949 366 1.430 607,5 64,1 138,5 1950 367 1.396 653,8 178,0 48 montage AV 19 /2 / 2010 merkenswerte Synchronität dieser letzten Krise fest). Im zweiten Fall ist in denselben Ländern plus der Sowjetunion eine starke Zunahme im Gefolge des Tonfilms zu beobachten, und eine zweite starke Zu- nahme, die mit dem Krieg und der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1946 zusammenfällt. Nach jüngsten Hinweisen, die aber leider keine Zahlen nennen, erlebte die Sowjetunion, wiederholen wir es, 1947 keine Krise der Besucherzahlen, aber wir wissen nicht, ob die Zu- wachsrate dort konstant blieb oder nicht. Diese Diskontinuitäten oder Krisen des Wachstums will ich hier nicht unter historischen Gesichtspunkten betrachten, sondern zur Charakterisierung des Kinobedürfnisses nutzen. Wieweit ökonomische, politische, soziale Unruhen (Krisen, Kriege) die Kino-Nachfrage stören; wieweit andere ökonomische, politische, soziale Unruhen diese Nachfrage nicht stören; wieweit schließlich Störungen der Kino-Nachfrage jenseits der augenfälligen ökonomi- schen, politischen, sozialen Unruhen auftreten; all das ist geeignet, uns über den Charakter dieser Nachfrage aufzuklären, also über die Be- dürfnisse, die sich in ihr ausdrücken. Die zweite Bemerkung, die sich bei der Lektüre von Tabelle 1 auf- drängt, ist die Ungleichheit der Besucherzahlen in den einzelnen Län- dern. Der Durchschnitt der Kinobesuche pro Einwohner, einerseits in Bezug auf die Bevölkerung zwischen 10 und 59 Jahren (Ma), die ich summarisch die potenzielle Kinobevölkerung nennen will, und ande- rerseits in Bezug auf die Gesamtbevölkerung (Mb), führt uns zu fol- genden Feststellungen (vgl. Tab. 2): Es ist frappierend, dass a) der Durchschnitt der Besuche in England mindestens genauso hoch liegt wie in den USA, und wenn ich sage mindestens, dann weil die amerikanischen Statistiken des Film Daily Year Book im Vergleich etwa zu denen des Audience Research Institute ab 1947 als opti- mistisch gelten können. b) man die Länder in Gruppen hoher Besuchshäufigkeit (über Ma 20), durchschnittlicher Besuchshäufigkeit (Ma zwischen 10 und 20), niedriger (Ma zwischen 5 und 10) und sehr niedriger Besuchs- häufigkeit einteilen kann. c) die Unterschiede, die Länder wie Frankreich oder Deutschland (wo die Quote der Kinobesuche vor dem Krieg unter 10 lag) auf der einen von England und den USA auf der anderen Seite trennen, beträchtlich sind. Morin: Forschungen zum Kinopublikum 49 Bevölkerung gesamte Land Ma Mb 10-59 Jahre Bevölkerung USA 1945 99.679.000 44 139.585.510 31,66 1947 101.001.000 40 144.034.000 32,5 Großbritannien 1945 34.746.818 45,6 49.150.286 32,3 1947 34.548.974 42,3 49.538.652 29,5 Kanada 1945 8.511.800 25,3 12.102.000 17,8 1947 8.691.100 25,4 12.558.000 17,5 Italien 1947 32.166.673 16,3 45.539.801 11,5 Frankreich 1945 26.189.000 15,3 37.386.000 10,7 1948 28.110.000 13,7 40.420.000 9,6 Holland 1945 6.482.144 8 9.262.298 5,7 1949 6.770.287 9,4 10.026.773 6,4 Es ist also wichtig, nach den Gründen dieser Ungleichheit zu suchen, Tab. 2 und ich werde später auf dieses Problem zurückkommen, das nicht so einfach ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Zur Ungleichheit der Situation kommt noch die Ungleichheit bei der Entwicklung der Kinobesucherzahlen hinzu. In den USA haben sich diese Zahlen von 1922 bis 1929 verdoppelt (von 2.080 Mio. auf 4.160 Mio.), aber seitdem haben sie nur zweimal 4.680 Mio. erreicht. In England haben sich die Besucherzahlen von 1936 bis 1946 fast verdop- pelt (von 917 auf 1.635 Mio.). In Frankreich haben sie sich von 1936 bis 1945 verdoppelt (von 200 auf 402 Mio.). In der Sowjetunion haben sie sich von 1935 bis 1942 vervierfacht (von 625 auf 2.700 Mio.) und zwischen 1929 und 1942 mehr als verachtfacht. In Brasilien haben sich die Zahlen von 1938 bis 1960 versiebenfacht (von 25 auf 178 Mio.). Außer in den USA sind also die Besucherzahlen in allen Ländern beträchtlich, aber mit deutlichen Unterschieden gestiegen. Diese Un- gleichheit der Entwicklung entspricht unterschiedlichen Situationen und Veränderungen, die ich mangels ausreichender Daten hier nicht näher untersuchen will. Doch in dieser Ungleichheit drückt sich eine wichtige Tatsache aus, dass sich nämlich das Publikum zur Universali- tät hin entwickelt: Der große Aufschwung der Besucherzahlen in den 50 montage AV 19 /2 / 2010 letzten Jahren betrifft vor allem die sogenannten ‹unterentwickelten› Länder, die wirtschaftlich schwachen oder politisch neuen Länder und die ländlichen Schichten der entwickelten Länder.2 Der grundlegende Trend zur Universalisierung des Kinopublikums, der die ganze Ge- schichte dieses Publikums regiert, hält an. Während der Kinobesuch zur Universalität tendiert, scheint er in den USA seit 1930 und in den ‹westlichen› Ländern (außer in Itali- en und in Deutschland) seit 1947 zugleich zur Stagnation zu tendie- ren. Die Entwicklung der Besucherzahlen zeigt also drei grundlegende Charakteristika, in deren Licht die soziologische Forschung begonnen werden kann: − Die Tendenz zur Universalität. Sie veranlasst mich dazu, das Publi- kum nicht nur in seiner Unterschiedlichkeit, sondern als Einheit zu untersuchen. − Die Tendenz zur Stagnation, die uns vor das theoretische und prak- tische Problem der Kinosättigung, der Grenzen der Universalität, der Kino-‹Unlust› stellt. − Die Tendenz zu Ungleichheiten, Diskontinuitäten und Krisen. Sie veranlasst mich zur Untersuchung der Autonomie und der Abhän- gigkeit des Kinobedürfnisses innerhalb der historisch-soziologi- schen Bedingungen, die es umgeben, nähren oder beeinträchtigen. Universalität: Die Gesellschaftsschichten Das Kino tendiert zur Universalität... Aber vielleicht hat es in manchen Fällen die Universalität schon erreicht, und manche Fragen nach Un- terschieden sind kaum noch von Belang. Das ist vielleicht bei der Fra- ge der Fall, ob die Gesellschaftsschicht, das «sozioökonomische» oder das «Bildungsniveau» für die Häufigkeit des Kinobesuchs entscheidend sind. Statt Umfragen durchzuführen, habe ich die durchschnittlichen Kinobesuche pro Einwohner in Frankreich a) in Städten mit 20.000 bis 30.000 Einwohnern, b) in Städten mit 30.000 bis 50.000 Einwoh- nern, c) in Städten mit über 50.000 Einwohnern dem Prozentsatz ver- schiedener sozioprofessioneller Gruppen in diesen Städten3 gegen- übergestellt. Das heißt: 2 Während sich die Krise der Besucherzahlen in Frankreich in den Städten seit 1947 zeigt (beim Standardkino), setzt sich der Aufschwung in den ländlichen Gebieten (Substandardkino) fort. 3 In Bezug auf die aktive Bevölkerung insgesamt berechnet. Morin: Forschungen zum Kinopublikum 51 − Arbeiter und Hilfsarbeiter − Handwerker und Händler − Führungskräfte (Chefs und leitende Angestellte, Freiberufler und Intellektuelle, Ingenieure) Das Ergebnis dieser Gegenüberstellung – das ich im Einzelnen erst bei einer anderen Gelegenheit erörtern will – zeigte keinerlei Korrelation zwischen dem Phänomen der Kinobesuchshäufigkeit und den sozio- professionellen Kategorien, außer einer sehr leichten bei den Hand- werkern und Händlern. Wenn man diese Angaben mit den Daten vergleicht, die vor allem in den USA und England auf diesem Gebiet gesammelt wurden, aber mittels Umfragen und Fragebögen, kommen wir zu derselben Fest- stellung, trotz der jeweils unterschiedlichen Momente und Situationen in den Ländern, wo diese Erhebungen durchgeführt worden sind. Der Widerspruch zwischen den Schlüssen, die Leo Handel (1941) einer- seits und Moss/Box (1943) andererseits ziehen, betrifft nur extreme und leichte Differenzen. Ersterem zufolge gehen die Reichsten und Gebildetsten öfter ins Kino als die weniger Reichen und Gebilde- ten, und den beiden anderen zufolge ist es genau umgekehrt. Diese Widersprüche heben sich gegenseitig auf und betreffen, um es noch einmal zu sagen, nur kleine Prozentsätze. Wie auch immer, bei Leo Handel liegt die durchschnittliche Häufigkeit des Kinobesuchs in der «high class» bei 3,7 monatlich, in der «middle class» bei 4, und in der «lower class» bei 3,3. Öfter als viermal pro Monat ins Kino gehen: 30,2 % der «high class», 36,8 % der «middle class» und 27,1 % der «lo- wer class». Nach der Untersuchung von Lazarsfeld (1947) ist bei den unter 45-Jährigen in der Regelmäßigkeit des Kinobesuchs kein vom Bildungsniveau abhängiger Unterschied festzustellen. Hohe Bildung Geringe Bildung Unter 25-Jährige 69 69 25- bis 44-Jährige 40 42 Man kann also annehmen, dass der Kinobesuch ein gesellschaftlich universelles Phänomen ist, das alle Bildungs- und Gesellschaftsniveaus gleichermaßen und in annähernd gleichem Grad betrifft. Allerdings scheint sich eine leichte Dominanz der Mittelschicht zu zeigen, präzi- ser vielleicht noch an der Grenze zur Unterschicht, die im angelsäch- 52 montage AV 19 /2 / 2010 sischen Raum «lower-middle class» und «upper-lower class» heißt (für nähere Angaben verweise ich auf die betreffenden Untersuchungen). Auch wenn der Reiz des Kinos sich auf bestimmte Mittelschichten stärker auszuwirken scheint (was gründlicher zu untersuchen bleibt, vor allem in Bezug auf die Berufe), sind die gesellschaftlichen Struk- turen bei der Häufigkeit des Kinobesuchs keine Scheidelinien. Doch sie verwischen sich auch nicht. Sie spielen eine Rolle innerhalb dieser Häufigkeit, im Innersten des Kinouniversums: Sie entscheiden über die Haltung zu Filmen, über den Einfluss des Films, die Vorliebe für «populärere» oder andere Filme, für spezialisierte Kinos usw. Aber die- se Probleme will ich hier nicht behandeln. Das Geschlecht Ebenso wenig ist das Geschlecht ein Kriterium beim Kinobesuch, au- ßer in den Ländern, wo die Frau noch einen soziologischen Sonder- status hat: in Indien,4 in den arabischen Ländern, im Vorkriegsitalien. In diesen Fällen drückt sich in der unterschiedlichen Besuchshäufigkeit nicht die Einstellung des jeweiligen Geschlechts zum Kino aus, sondern die Haltung der Gesellschaft gegenüber dem weiblichen Geschlecht. In den USA hingegen, dem Reich der «Mom», dem Land der «Middletown», wo das Kino für die Frauen eine so große Rolle spielt (vgl. Lynd/Lynd 1936; Thorp 1939), zeigt die Untersuchung von Leo Handel (1941), durch zahlreiche Gallup-Umfragen erhärtet, folgende durchschnittliche Besuchshäufigkeit: Frauen 3,75 pro Monat; Män- ner 3,70 pro Monat. Es wäre verführerisch, über diese winzige Diffe- renz von 0,05 nachzudenken, aber es genügt, sie starr anzuschauen, um jeder schönen Weiblichkeitspsychologie die Flügel zu stutzen. Doch auch hier kann sich die Psychologie oder Psychosoziologie der Weib- lichkeit innerhalb der Besuchshäufigkeit schadlos halten (Stärke und Unterschiede der Kino-«Motivation» bei Männern und Frauen usw.). Das Klima Bestimmt das Klima – so wie Montesquieu es verstand – die Häufig- keit des Kinobesuchs? Wenn man die Zahlen in den nordischen Län- dern betrachtet, könnte man das annehmen: USA, England, Kanada (siehe die Zahlen oben), Norwegen (1946: Ma 13,5, Mb 9,6). Dann würde das Kino seinen stärksten Reiz in Nebel, Schnee und Regen 4 Von den 68 % der Erwachsenen in Bombay, die ins Kino gehen, sind 10 % Frauen. Morin: Forschungen zum Kinopublikum 53 ausüben, die Sonne hingegen die Fantasmen auflösen... Doch das sehr mediterrane Italien hatte schon vor dem Krieg sehr viel höhere Besu- cherzahlen als Deutschland. In Frankreich sind Lille wie Nizza Städte mit sehr hohen Besucherzahlen. Es gibt keine aussagekräftige Diffe- renz zwischen den Städten an der Côte d’Azur und denen im Nor- den. Die Städte mit niedrigen Besucherzahlen sind vielmehr Toulouse, Nantes, Saint-Étienne, Rennes, Reims, Limoges, Rouen, Le Mans. Fassen wir zusammen: Es ist möglich, dass das Klima ursprüng- lich eine beschleunigende oder bremsende Rolle bei der Entwick- lung des Kinobesuchs gespielt hat, aber es ist bemerkenswert, dass in einem Land wie Frankreich, einem echten klimatischen «Mikrokos- mos», diese Einflüsse für den Kinobesuch keine Bedeutung haben; und erst recht bemerkenswert ist, dass die Sonnenscheindauer in den süd- lichen Gegenden und die Nutzung der entsprechenden Freizeitbe- schäftigungsmöglichkeiten die durchschnittliche Kinobesuchshäufig- keit nicht im geringsten beeinträchtigen. Das städtische Leben. Die städtischen Milieus Das Klima bestimmt also die Häufigkeit des Kinobesuchs nicht, doch scheint es kein Zufall zu sein, dass die beiden Länder mit den höchsten durchschnittlichen Besucherzahlen diejenigen sind, wo, wie in Eng- land, die Stadtbevölkerung größer ist als die auf dem Land, oder, wie in den USA, das Leben auf dem Land am stärksten von städtischen Einflüssen und Techniken geprägt ist. Allerdings sollte man näher hinschauen. Auch wenn meine Unter- suchung in diesem Bereich noch nicht abgeschlossen ist, kann man doch folgende Punkte festhalten: 1. Es steht fest, dass in Frankreich die Kinobesuchszahlen bei der Stadtbevölkerung weit höher liegen als bei der Landbevölkerung. 1938 wurden in jeder Kinoregion 80 % der Rendite eines Films durch Exklusivvorstellungen in der Hauptstadt der Region, Vor- stellungen in den Quartierkinos dieser Stadt, in den Schlüsselorten und in den 20 bis 25 zweitrangigen Städten eingespielt (vgl. Cheret 1938). Seither ist das Land zwar «kinematografiert» und wird wei- ter «kinematografiert», aber der Graben bleibt und wird wohl auch nicht gefüllt werden. Meines Erachtens sind es allerdings geografische, keine soziologi- schen Gründe, die den ländlichen Kinobesuch dauerhaft daran hin- dern, den städtischen einzuholen. Es ist eine Tatsache, dass das Kino 54 montage AV 19 /2 / 2010 Stadtbevölke- Kinobesuche Durchschnitt Regionen rung (1951) 1950-1951 der Kinobesuche ( in Millionen) (in Millionen) pro Einwohner Paris 2,8 76,46 27,3 Banlieue 3,3 38,25 11,6 Paris + Banlieue 6,1 114,7 18,8 Paris + Banlieue (mit Landbevölkerung) 6,9 114,7 17,1 Provinz 15,5 252,59 16,3 Tab. 3 vor allem städtisch ist, aber es wäre ein Irrtum, das Kino nur oder vor allem als ein Bedürfnis des städtischen Lebens zu betrachten (das hektische Leben der Städte versus die «Gesundheit» des Land- lebens). Dort, wo es Kommunikationsmittel gibt, existieren keine Unterschiede in der Kinobesuchshäufigkeit zwischen Stadt und Land (vgl. Lazarsfeld 1947). Das Kino ist ein universelles Bedürfnis, wie seine Verpflanzung nach Afrika und Asien, in noch archaische Bevölkerungen zeigt. Es kann sich überall verwurzeln, wo es Grup- pen gibt, so entwickelt oder rückständig sie sein mögen. Warum es sich in den Städten stärker verbreitet hat, hat technische und öko- nomische Gründe (Bevölkerungskonzentration). Trotzdem bleibt das Kino vor allem städtisch, zwar nicht im Prinzip, aber doch in der Praxis, und diese Tatsache ist maßgebend bei allen Problemen, die mit seinem Einfluss zusammenhängen. 2. Da die durchschnittliche Besuchszahl von Stadt zu Stadt variiert: Gibt es städtische Milieus, die dem Kinobesuch günstiger oder un- günstiger sind? a) Man könnte zwischen «lebendigen» und «toten» Städten unter- scheiden. Die lebendigen Städte wären in diesem Fall die be- triebsamen Handels- oder Industriezentren, die toten eher Städte mit Vorherrschaft von Verwaltung oder Kirche. Allerdings fehlt es dieser Typologie an Präzision. Daher wollte ich anhand des Pro- zentsatzes der von der Industrie lebenden Bevölkerung nur den Industrialisierungskoeffizienten von Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern in Betracht ziehen, der den Grad der Implantation des «technischen Milieus» – so wie Georges Friedmann diesen Begriff versteht – anzeigt. Die Resultate dieser Gegenüberstellung zeigen das Fehlen ei- ner Korrelation zwischen Industrialisierung und Kinobesuch. Morin: Forschungen zum Kinopublikum 55 Prozentanteil an der Prozentanteil Index der franz. Städte gesamten städtischen an allen Kino- Besuchs (mit) Bevölkerung besuchen häufigkeit > 100.000 Einw. 30,5 41 1.34 50–100.000 Einw. 11 8,5 0.74 20–50.000 Einw. 19,5 14,8 0.75 2–20.000 Einw. 39 36 0.92 Tab. 4 Das weist übrigens in dieselbe Richtung wie die Ergebnisse zum Einfluss der «sozioprofessionellen Niveaus» auf den Kinobesuch. b) Man kann annehmen, dass die durchschnittliche Besuchshäu- figkeit eng mit der Bevölkerungsmenge zusammenhängt. Aller- dings ist festzuhalten, dass diese Beziehung weder direkt noch kontinuierlich noch entscheidend ist. Wenn man die durchschnittliche Besuchshäufigkeit für die städtischen Bevölkerungen in Paris und in der Provinz vergleicht (Tab. 3), springt es ins Auge, dass da ein großer Abstand besteht (27,3 gegenüber 16,3). Aber wenn wir nicht den Verwaltungsbezirk Paris, sondern den Großraum Paris berücksichtigen, einschließlich der Banlieue, und wenn wir in die Banlieue-Bevölkerung die «ländliche» einbeziehen, die nur dem Etikett (Siedlung mit weniger als 2.000 Einwohnern) nach ländlich ist, nähern sich die durchschnittlichen Besuchshäufigkeiten eigentümlich an. Dies zeigt, dass der Abstand in der Besuchshäufigkeit zwischen Paris und den Provinzstädten weniger groß ist, als man annehmen könnte. Um die Eigenheiten dieses Abstands genau einzuschätzen, müssten wir Stichproben der Banlieue-Bevölkerung untersuchen, um herauszufin- den, inwieweit sie die Pariser Kinos besucht oder vielleicht weniger empfänglich für den Reiz des Kinos ist als die Bevölkerung in den städtischen Zentren. Andererseits ist es interessant, die Besuchszahlen für die Städte mit über 100.000 Einwohnern, die Städte mit 50.000 bis 100.000 Ein- wohnern und die Städte mit 20.000 bis 50.000 Einwohnern zu ver- gleichen (Tab. 4). Es wird deutlich, dass der Index der Besuchshäufigkeit (das Ver- hältnis vom Kinobesuchsanteil zum Bevölkerungsanteil) in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern höher liegt (man müsste allerdings noch die Banlieue-Phänomene und den Besuch der «schönen» Kinos in der «großen» Stadt durch durchreisende Besucher berücksichtigen). Aber es wird auch deutlich, dass diese Ziffer in den Städten unter 56 montage AV 19 /2 / 2010 50.000 Einwohnern nicht ab-, sondern sogar leicht zunimmt. Man kann also die Hypothese aufstellen, dass die großen städtischen Zent- ren den Kinobesuch stimulieren. Aber auch die enge Atmosphäre der Kleinstädte stimuliert ihn, wenn auch in geringerem Maße. Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass der Kinobesuch von noch unbekannten, vielleicht aber spezifischen Faktoren gefördert oder be- hindert wird, sei es durch die Verwertung (Modernisierung, Komfort der Kinos, intelligente oder im Gegenteil dumme Politik der Kino- betreiber in bestimmten Städten etc.), sei es durch bestimmte Bräu- che bei der Nutzung von Freizeitbeschäftigungen. Es bleibt die Frage zu klären, warum Vichy und Metz die französischen Städte mit dem höchsten durchschnittlichen Kinobesuch sind, warum Toulouse eine der Städte mit dem niedrigsten Durchschnitt ist, warum Nizza, Lil- le und Nancy Städte mit häufigem Kinobesuch und Nantes, Sainte- Étienne, Rennes, Rouen und Le Mans Städte mit wenig Kinobesuch sind. Dies, um herauszufinden, welche psychosozioökonomischen Faktoren den Kinobesuch fördern oder behindern. Sicher bleibt die Universalität, um es noch einmal zu sagen, der Hintergrund dieser Untersuchung. Das Kinobedürfnis ist ein allge- meines Bedürfnis; es ist heute ein Grundelement städtischen Lebens, unabhängig vom mehr oder weniger industriellen, mechanistischen, kommerziellen, administrativen und morphologischen Charakter die- ser Stadt. Trotzdem ist die Bevölkerungskonzentration, die in den gro- ßen Zentren und regionalen Hauptstädten vorherrscht, der entschei- dende Faktor für die statistisch größte Zahl von Kinobesuchen. Aber dieser Faktor wirkt sich in Städten mit weniger als 100.000 Einwoh- nern nicht oder anders aus (vielleicht ist das Leben in Kleinstädten zentralisierter als in mittelgroßen Städten). Noch unbekannte Faktoren haben starken Einfluss auf den Kinobesuch. In dieser Richtung wäre die Forschung meines Erachtens am fruchtbarsten.5 Alter Meine Forschungsmethode macht mir jeden Versuch unmöglich, den Einfluss des Alters auf die Besuchshäufigkeit zu bestimmen. Auf der allgemeinen Ebene erscheint mir diese Arbeit freilich unnütz: Es ist – durch schlichte empirische Beobachtung – schon festgestellt und 5 Ich beabsichtige, die Häufigkeit des Kinobesuchs in Städten je nach Grad des dort herrschenden religiösen Eifers (Religionsausübung), sportlichen Eifers, Häufigkeit der Cafébesuche, Delinquenz usw. zu untersuchen. Morin: Forschungen zum Kinopublikum 57 durch alle Forschungen in den kinematografisch entwickelten Län- dern breit bestätigt worden, dass das Alter der bestimmende Faktor für einen hohen Kinobesuch ist. Das Alter des häufigsten Kinobesuchs liegt bei ungefähr 20 Jahren.6 Sehr grob gesagt, steigt der Kinobesuch bis zum Alter von 20 Jahren regelmäßig, sinkt vor allem nach dem 25. Lebensjahr ab und lässt nach dem 30. und 40. Lebensjahr beträchtlich nach. Das Film Daily Year Book beziffert den Prozentsatz der Kinobe- völkerung im Alter zwischen 15 und 24 Jahren auf 41 % und den der Kinobevölkerung unter 35 Jahren auf 66,75 %. In England gehen 2 % der 16- bis 24-Jährigen, 10 % der 25- bis 34-Jährigen, 16 % der 35- bis 44-Jährigen und 72 % der über 45-Jährigen nicht ins Kino. Der Rück- gang des Kinobesuchs ist bei den «weniger gebildeten» Schichten, etwa bei den Handlangern, deutlicher als bei den anderen «Bildungs-» und «sozioökomischen» Niveaus (Lazarsfeld 1947). Da diese Untersuchun- gen nicht Frankreich betreffen, wäre es freilich interessant zu sehen, ob die Intensität des Kinobesuchs der Jugendlichen und das Sinken des Kinobesuchs nach dem 30. und 40. Lebensjahr hier im selben Verhält- nis stehen wie in den USA. Unter allen Kriterien, die ich untersucht habe, ist das Alter also das einzige, das die Häufigkeit des Kinobesuchs entscheidend bestimmt. Allerdings sollte man sich daran erinnern, dass die Jugend kein Mono- pol auf häufige Kinobesuche hat. Für England zeigt die oben zitierte Erhebung, dass 50 % der regelmäßigen Kinobesucher über 35 sind, ge- genüber 50 % der zwischen 16- und 35-Jährigen, und der Stichprobe von Lazarsfeld zufolge (vgl. ibid.) liegt das Verhältnis zwischen den re- gelmäßigen Kinobesuchern über und unter 25 Jahren für das «hohe» Bildungsniveau bei 71 zu 69, für das «niedrige» Bildungsniveau bei 53 zu 69. Auch drückt die hohe Besucherzahl von Jugendlichen dem Kino nicht ihr Siegel auf. Es ist richtig, dass Filme ständig um die Themen Liebe und Sex, Verbrechen und Gewalt kreisen und so auf die Proble- me der Adoleszenz antworten oder, besser gesagt, auf die Probleme des Erwachsenwerdens junger Menschen. Aber ist es nicht genauso richtig, dass die ganze Literatur und das Theater um dieselben Themen (Gewalt und Liebe, Mord und Sexualität) kreisen? Ist es nicht genauso richtig, dass die Adoleszenz nicht nur eine bestimmte Altersstufe ist, sondern das Alter, in dem sich die universellen Probleme des Menschen mit der stärksten, vitalsten Macht stellen? Die Dominanz von Heranwachsen- den und Jugendlichen im Publikum ist gewiss bezeichnend dafür, wie 6 Vgl. Dale 1933 (Erhebung bei 55.000 Kindern in Ohio und Iowa); Alicoat et al. 1915-1970; Moss/Box 1943; Lazarsfeld 1947; Handel 1941 etc. 58 montage AV 19 /2 / 2010 kindlich und vereinfachend Filme ihre Inhalte darstellen. Aber sie ist auch bezeichnend für die Universalität dieser Inhalte. Erste Schlussfolgerungen In diesem Artikel habe ich zwei Schlüsselprobleme meiner Forschun- gen zum Publikum beiseite gelassen, auf die ich in einem späteren Ar- tikel zurückkommen möchte: a) die Grenze des Kinobedürfnisses (Sättigung, Kinounlust); b) die soziologischen Charakteristika des Kinobedürfnisses (seine Rhythmen, seine Inelastizität, seine Stimuli, seine ursprünglichen Züge). Fassen wir vorläufig zusammen: Viele Unterscheidungskriterien der Besuchshäufigkeit haben sich beim gegenwärtigen Entwicklungsstand von Ländern wie Frankreich, England, USA als gegenstandslos oder wenig bezeichnend erwiesen (Gesellschaftsschicht, Geschlecht, Klima, Indus- trialisierung der Städte); genauso wichtig und oft wichtiger als diese Unterscheidungskriterien erscheint der Begriff Universalität. Er ver- weist uns auf eine ‹Anthropologie des Kinos›, einen der Hauptbegriffe, den schon zu Beginn der Filmologie M. Cohen Seat geprägt hat. Aber der Begriff ‹Anthropologie› beseitigt die soziologischen Prob- leme nicht. (Im Übrigen gibt es keine stichhaltige Anthropologie ohne Soziologie und umgekehrt.) Zum einen ist das Kino potentiell univer- sell, faktisch jedoch nicht: Beim gegenwärtigen Stand der Dinge ist die Entwicklung der Besuchszahlen nicht gleich. Erinnern wir uns, unter den Populationen, die für den Reiz des Kinos empfänglicher sind als andere, befinden sich: a) unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Struktur: die Schich- ten innerhalb und an der unteren Gehaltsgrenze der «Mittelschicht»; b) unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Geografie oder der ge- sellschaftlichen Morphologie: die städtische Bevölkerung und in- nerhalb der städtischen Bevölkerung: die Bevölkerung der großen Zentren und paradoxerweise die der Kleinstädte; c) unter dem Gesichtspunkt des Alters: die Adoleszenz. Diese Determinanten sind nicht alle gleich stark. Das Alter stellt alle anderen in den Schatten. Außerdem gibt es wichtige soziologische Determinanten, die noch nicht bestimmt werden konnten. Weiterhin Morin: Forschungen zum Kinopublikum 59 ist es wichtig, die festgehaltenen Ergebnisse erneut zu überprüfen und über diese Arbeiten hinauszugehen, die, weil sie nur der Vorbereitung dienen, zugleich unerlässlich und noch grob sind.7 Aus dem Französichen von Barbara Heber-Schärer Literatur Alicoate, Jack (Hg.) (1915–1971) Film Daily Yearbook of Motion Pictures. New York: Film Daily. Cheret, Pierre (1938) Premier bilan financier du cinéma français. In: Cinéma- tographie française, Nr. 1052 v. 30.12.1938. Dale, Edgar (1933) Children’s attendance at Motion Picture. New York: Macmillan. Handel, Leo (1941) Studies of the Motion Picture Audience. New York: Motion Picture Research Bureau. Lazarsfeld, Paul F. (1947) Audiences research in the movie field. In: Annals of the American Academy of Political and Social Science, Nr. 254, S. 160–168. Lynd, Robert S. / Lynd, Helen M. (1937) Middletown in transition. A Study in Cultural Conflicts. New York: Harcourt, Brace and Company. Mayer, Jacob P. (1948) British Cinemas and their Audiences. Sociological Studies. London: Dobson. Moss, Louis / Box, Kathleen (1943) The Cinema Audience. London: Ministry of Information. Thorp, Margaret (1939) America at the movies. New Haven: Yale University Press. 7 Die Daten über die Besucherzahlen in Frankreich sind den Bulletins du Centre national de la Cinématographie entnommen, einer unerschöpflichen Quelle für die Forschung. Kündigen wir auch an, dass der Generaldirektor J. Flaud das Dokumentationszen- trum des C.N.C. vor kurzem so umorganisiert hat, dass es für die soziologische Arbeit fruchtbar zu machen ist. Mit der Leitung dieses Zentrums wurde M. Degand betraut. Kino in Toronto, das für den Film SO YOUNG SO BAD (Bernard Vorhaus, USA 1950) wirbt Das Problem der gefährlichen Auswirkungen des Kinos* Edgar Morin Am 10. Januar 1909 bezichtigte die Chicago Tribune die 150 Nickelo- deons der Stadt, in denen Filme wie Le Baromètre de la Fidélité (Georges Monca, F 1909), La Chérie du vieillard, Moderne brigan- dage (Ferdinand Zecca, F 1905), Les bas-fonds de Paris, Bigame und Raffle gentleman cambrioleur liefen, eines verderblichen Einflusses auf die Jugend. Zur gleichen Zeit wurde in einem Kino auf der New Yorker First Avenue The Unwritten Law (USA 1907) gezeigt, wo man sah, wie ein Mann seine Frau ermordete. Die Children’s Society erhob vor Gericht Klage gegen den Film. Nach einer heftigen Kam- pagne erhielt der Polizeichef Sondervollmachten, jede Filmvorführung zu verbieten, die als unmoralisch galt. Nach ähnlichen Kampagnen führte 1912 in England die Filmin- dustrie die Selbstzensur ein. Ebenfalls 1912 warf in Paris Téramont in einem Artikel in La Presse dem Kino seinen verderblichen Einfluss vor. Vier Jahre später führte eine Parlamentsdebatte zur Entstehung der er- sten Zensurkommission im französischen Erziehungsministerium. In einer Broschüre von Édouard Poulain (1917) sind alle Anklagepunkte gegen das Kino versammelt: Jugendliche Delinquenten gestehen, den Helden der Mystères de New York (The Exploits of Elaine, Louis J. Gasnier, George B. Seitz & Leopold Wharton, USA 1914) nachge- eifert zu haben; ein Jugendlicher überfällt eine Schauspielerin mit dem Ruf: «Kohle oder Vitriol»; zwölf junge Einbrecher in Albi geben zu, vom Kino beeinflusst gewesen zu sein. * Erstmals erschienen unter dem Titel «Le problème des effets dangereux du cinéma» in der Revue internationale de filmologie 14-15 (1954), S. 217–231. Wir danken dem Autor für die freundliche Erlaubnis zur Übersetzung. 62 montage AV 19 /2 / 2010 Manche Gerichte verurteilen das «unmoralische Schauspiel ohne- gleichen [...] [für die Jugendlichen,] die sich, wenn sie aus dem Theater kommen, beeilen, selbst Helden so abscheulicher Dramen zu werden» (Urteilsbegründung eines Gerichts in Châlons-sur-Marne nach einer Straßenschlacht). Das Berufungsgericht in Dijon schließt sich der Ein- schätzung der Richter aus Châlons an und brandmarkt das Kino als «Schule des Lasters und Verbrechens». Vor Journalisten beklagt Polizeipräfekt Laurent den «gefährlichen Einfluss der schlechten Filme auf die jungen Gehirne, die verheeren- den Auswirkungen auf ihren noch ungeformten Geist», und der Prä- sident des Jugendgerichts, Rollet, erklärt: «Es ist an der Zeit, der Aus- schweifung der Kriminalfilme Einhalt zu gebieten». In La Croix vom 5. November 1916 bitten bedeutende Persönlichkeiten von der Acadé- mie Française (Henry Joly, René Bazin) die Familien, ihre Wachsam- keit zu verdoppeln, um «die Fantasie, die Sinne und die Seele ihrer Kinder zu beschützen». Auch Édouard Poulain (1917) ruft am Ende seines Pamphlets «mit der ganzen Glut [s]eines Herzens» aus: Nieder mit dem Kino, der Schule des Lasters und Verbrechens! Nieder mit den Übeltätern, die es verbreiten! Zurück mit den Vergiftern der Öffentlichkeit! Nehmt die Geschäftemacher auf die Hörner! Schande über die Gehirnwäscher! * * * Der extrem kriegerische Ton dieser Kampagne rührt nicht nur von der Kriegspsychose oder besser der übersteigerten Wut jener Leute her, die im Hinterland an der Front der Moral kämpfen. In dieser Überstei- gerung zeigt sich auch die Selbstgewissheit und Heftigkeit einer Mei- nung, die sich freilich auf sehr wenige konkrete Beispiele stützt: Die Fälle, in denen das Kino im Lauf eines Kriegsjahrs1 tatsächlich zu ver- brecherischen Taten inspiriert hat, ließen sich an einer Hand abzählen. Es handelt sich also auch um eine Antikino-‹Psychose›, deren Kenn- zeichen sich leicht beschreiben lassen. In erster Linie ist da der magische Gedanke, Vorstellungen führ- ten zwangsläufig zur Tat. Den Shakespeare’schen Hekatomben, den 1 Es ist übrigens bemerkenswert, dass man in einer Periode, in der die jugendliche De- linquenz wieder anzusteigen schien, nicht versucht hat, die Rolle aufzudecken, die der Krieg selbst dabei spielte. Morin: Das Problem der gefährlichen Auswirkungen des Kinos 63 Verbrechen und Morden in der Literatur und den Wettkämpfen im Kampfsport wird allgemein eine kathartische Wirkung zugebilligt. Mit Poulain hingegen behauptet man, dass «Kriminalfilme künftige Ein- brecher, Strolche und Banditen heranbilden» (ibid.), wobei man sich zugleich weigert, an die Möglichkeit zu denken, dass sie auch künftige Polizisten heranbilden könnten. Aus dieser Perspektive könnte man meinen, nur schlechte Beispiele seien imstande, Schule zu machen. Als hätte das Kino nur eine unheil- volle hypnotische Kraft. Damit kommen wir zu einem zweiten magi- schen Element: die hypnotische Macht des Kinoschauspiels. Édouard Poulain ruft aus: «Das Fließen, das hypnotisierende Fließen... Bei Ro- bespierre fielen die Köpfe: im Kino drehen sie sich... das Bild bewegt sich... das Bild stiehlt... das Bild tötet...» (ibid.). In dieser Übersteige- rung zeigt sich der Aspekt des latenten Diabolismus, den viele, vor allem fromme Geister im Kino zu erkennen glaubten. Dieselben Leute, die ihre Kinder auf der Schulbank dem Wüten der Leidenschaften Othel- los anvertrauten, konnten es nicht ertragen, sie dasselbe Verbrechen in The Unwritten Law betrachten zu lassen. Das Kino, vermeintlich im Besitz einer Art schwarzer Magie, zog noch weitere diffuse Ängste auf sich. So konnten sich die täglichen Sorgen der Eltern, die ihre Kinder den «schädlichen Einflüssen» der Außenwelt ausgesetzt sahen, und ihre ebenso tägliche Besorgnis, sie könnten «auf die schiefe Bahn geraten», das heißt aufhören, Kinder zu sein, oft im Kino kristallisieren, das zum Sündenbock für die Qualen, Gewissensbisse und die Ohnmacht der Erwachsenen wurde. Noch vor und außerhalb jeder empirischen Gewissheit, jeder ef- fektiven Prüfung wird so der gefährliche Einfluss des Kinos zu einem institutionalisierten Dogma. Einem Dogma, denn die reale oder po- tentielle Schädlichkeit des Kinos steht außer Zweifel. Und institutio- nalisiert, weil dieses Dogma von selbst das gesellschaftliche Verteidi- gungsorgan hervorgebracht hat: die Zensur. Auch wenn die tiefsten Grundlagen der Kinozensur sich nicht auf den Mythos vom gefährlichen Einfluss des Kinos beschränken lassen, hat dieser Mythos ihr doch ihr erstes Gepräge gegeben. Bei der Lite- ratur kam in Grenzfällen, die noch nicht als Pornografie definiert wer- den konnten, und beim Theater in den Grenzfällen, wo Publikums- tumulte die «öffentliche Ordnung» störten, eine bedingte Zensur im nachhinein ins Spiel. In der Welt des Kinos hingegen ist die Zensur zu einer Schlüsselinstitution geworden. Als wäre es nicht die szenische, nicht die visuelle, sondern die spezifisch kinematografische Darstel- lung, die zur gefährlichen Tat aufruft. 64 montage AV 19 /2 / 2010 Drei Jahrzehnte lang schien die Frage so klar, dass die Filmprodu- zenten nur die ökonomischen Segnungen des Kinos zu nennen wag- ten – oder es höchstens als Charybdis priesen, die vor den Übeln der Skylla bewahre: «Das Kino entreißt allabendlich Tausende von Arbei- tern der Betäubung mit Alkohol», schrieb Gaël Fain (1928), gestützt auf einen «Rückgang der Trunksucht in den Großstädten», den er frei- lich nicht bezifferte. Bis 1930 stellt sich also das Problem des Einflusses des Kinos unter mythischen Vorzeichen. Das heißt aber nicht, dass dieser Einfluss a prio- ri ein Mythos ist. Ich wollte den magischen Komplex an der Wurzel der Antikino-Psychose nicht aufzeigen, um die Frage beiseite zu schieben, sondern um sie zu stellen. Auch wenn wir glauben, dass die Handlung jedes Schauspiels durch psychische Mimesis kathartisch wirkt, wissen wir doch auch, dass es Extremfälle wie die Spiele im Hippodrom von Byzanz gibt, wo diese Handlung in «Praxis» umschlägt. Man kann sich also fragen, ob die der filmischen Darstellung eigene Suggestion, der häufige Besuch dieses Schauspiels nicht solcherart sind, dass sie eine praktische Mimesis bis hin zur Delinquenz provozieren. Eine Antwort auf diese Frage, wenn sie überhaupt möglich ist, kann meines Erachtens nur soziologisch sein. Sie kann nur auf dem Feld der gesellschaftlichen und kinematografischen Gesamtheiten liegen, nicht auf dem Feld von Einzelfällen. Damit will ich sagen, dass die klinische Methode, so nützlich sie sein mag, um den Anteil des Kinos in Fällen von Delinquenz oder Neurosen zu untersuchen, uns keinesfalls Ele- mente zur Einschätzung der tatsächlichen gesellschaftlichen Rolle lie- fern kann, die das Kino als Einflussfaktor von Delinquenz oder Sozial- pathologie spielt. So kann man, etwa wenn man Verrückte untersucht, die sich einbilden, durchs Telefon mit dem Jenseits zu kommunizieren, oder wenn man zufällig eine gewisse Zahl von Wahnvorstellungen über das Telefon entdeckt, daraus keineswegs auf eine gefährliche Wirkung des Telefons schließen. Es geht darum, herauszufinden, ob das Kino nor- malerweise eine pathologische Wirkung hat, nicht einzelne Fälle anzu- zeigen, die, bis weitere Informationen vorliegen, teratologisch bleiben. Die klinischen Untersuchungen halten sich entweder auf der Ebe- ne der reinen Pathologie oder auf der Ebene einer Dialektik, wo die Pathologie ein Licht auf den Normalfall wirft und umgekehrt, wie zum Beispiel die tatsächlichen Morde die Todeswünsche erhellen, die jeden normalen Menschen umtreiben, und umgekehrt. Aber für das Problem, das uns hier beschäftigt, ist die Tat wesentlich, das Verhalten, das den Delinquenten oder Mörder vom «Gesunden» unterscheidet. Man kann den Einfluss des Kinos auf solche Taten nur erfassen, wenn Morin: Das Problem der gefährlichen Auswirkungen des Kinos 65 man einerseits die statistische Bedeutsamkeit solcher vom Kino ge- prägten Taten und Verhalten und andererseits die Tiefe dieser Prägung untersucht. Verbrechen, Gesetzesverstöße Forschungen in dieser Richtung begannen erst in den 1930er Jahren. Die umfangreichste psychologische und soziologische Untersuchung über das Kino ist zugleich die erste. Und ihre Hauptfragestellung, muss auch zugleich gesagt werden, ist die gefährliche Wirkung des Kinos. Es geht um die elf «Payne Fund Studies», die zwischen 1929 und 1932 in den USA an Kindern im Schulalter durchgeführt wurden und deren Resultate in neun Bänden unter dem allgemeinen Titel Motion Picture and Youth2 veröffentlicht wurden. In Movies, Delinquency and Crime ha- ben Herbert Blumer und Philip M. Hauser mithilfe von Fragebögen herauszufinden versucht, welche Rolle Filme im Leben jugendlicher Straftäter und Krimineller spielten, die im Gefängnis oder in Besse- rungsanstalten inhaftiert waren. Obwohl die Mehrheit der Befragten zugab, dass Filme in ihren Wachträumen und Fantasien sehr häufig vorkamen, erklärten nur 10 %, dass Filme über ihre Laufbahn entschie- den hätten. Aus diesen und anderen Antworten schlossen die Autoren, dass das Kino bei den jugendlichen Delinquenten eine große Rolle spielte, ihnen sogar «technische» Modelle für ihre Missetaten lieferte, aber nur selten für ihre Berufung verantwortlich war. Diese mehrdeutigen Ergebnisse konnten in gegensätzlichen Rich- tungen interpretiert werden. Die Gegner des Kinos sahen darin mit Forman den Beweis, dass Filme Kinder verderben. Mortimer Adler (1937) hingegen zerpflückt diese These durch eine kritische Unter- suchung der Ergebnisse.3 Zum einen, so Adler, sei es unmöglich, den Sprung von Träumereien zur Praxis, von der Rolle von Filmen in Wachträumen zu ihrer Rolle im realen Verhalten zu machen. Zum an- deren verliere der erstaunlich niedrige Prozentsatz positiver Antworten auf die Frage «Haben Filme eine direkte Auswirkung auf eure Lauf- bahn gehabt?» nicht nur jede Bedeutung, sondern nehme genau die gegenteilige Bedeutung einer fehlenden Korrelation zwischen Delin- quenz und häufigem Kinobesuch an. 2 Die für mein Vorhaben besonders interessanten Bände sind: Blumer 1933, Cressey/ Trasher 1933 und May/Shuttleworth 1933. 3 Adler bemängelt die Methode der Stichprobenauswahl und das Fehlen einer Kont- rollgruppe in der Untersuchung von Blumer und Hauser. 66 montage AV 19 /2 / 2010 Das ist die Klippe aller derartigen Untersuchungen. Man findet ei- nen leichten Prozentsatz von Resultaten zugunsten der These, dass der Film eine Rolle für die Delinquenz spielt. Aber die Art, wie die Frage gestellt ist, befördert dieses Resultat – erlaubt daher umgekehrt aber auch, es zu bestreiten. Die Untersuchung von Paul G. Cressey und Frederic M. Trasher (1933), in einem New Yorker Vorort an 1.356 Kindern und 109 ju- gendlichen Delinquenten durchgeführt, ergab, dass: 22 % der Delin- quenten und 14 % der Nichtdelinquenten mehr als dreimal wöchent- lich oder öfter ins Kino gehen, während 6 % der Delinquenten und 16 % der Nichtdelinquenten weniger als einmal wöchentlich ins Kino gehen. Aus all ihren Beobachtungen schließen diese Autoren, dass der Beitrag des Kinos zur Delinquenz weder primär noch entscheidend ist. Das Kino lehrt Techniken und kann so Jugendlichen dienen, die zuvor schon motiviert waren, Delikte zu begehen. Ein Satz von Cressey in einem späteren Artikel (1938) fasst das Ergebnis der Payne Fund Stu- dies in diesem Bereich gut zusammen: Unverkennbar ist, dass Kinder und Jugendliche, wenn sie entsprechend prä- disponiert sind, zuweilen die Techniken von im Kino gesehenen Verbre- chen verwenden, Gangsterfilme benutzen, um beeinflussbare Dritte zu Ver- brechen aufzustacheln, und sich gelegentlich bei ihren kriminellen Taten selbst zu der anziehenden Persönlichkeit und den romantischen Taten der Gangsterfiguren auf der Leinwand idealisieren (ibid., 517). Es bliebe herauszufinden, inwieweit die kriminellen Techniken auf der Leinwand dem wirklichen Leben abgeschaut sind (den «Gangster» gab es schon vor den Gangsterfilmen) und inwieweit die reale Gangster- romantik die der Gangsterfilme geprägt hat. Solche Fragen zu stel- len zieht uns natürlich in einen circulus vitiosus, aber verpflichtet uns auch, das Reich der eindeutigen Kausalitäten zu verlassen. Cressey ver- tieft die Frage selbst in dem schon zitierten Artikel, den er sechs oder sieben Jahre nach seiner Payne Fund Studies-Untersuchung schrieb: Man muss die Frage nach dem Verhältnis zwischen Film und Delinquenz im Zusammenhang mit dem sozialen Umfeld, den persönlichen Werten, den Charakteren, den Interessen betrachten, [sämtlich Dinge, um die sich die Payne Fund Studies nicht gekümmert haben; E.M.] sehen, dass Filme über Gangster und Verbrechen gelegentlich ‹Modelle› für Verbrechen waren, manchmal kriminelle Haltungen und Reaktionen provoziert oder gelegent- lich zur romantischen Idealisierung des Kriminellen geführt haben; wenn Morin: Das Problem der gefährlichen Auswirkungen des Kinos 67 man das alles sieht, zeigt sich auch, dass in den meisten Fällen, wenn nicht in allen, die individuellen Werte und vorgefassten Meinungen, persönli- chen Probleme und individuellen Interessen diese Reaktion auf den Film [screen response] zu einem gewissen Grad konditioniert haben (ibid., 522f). Man sieht, wie Cressey in diesem Text zwischen der Payne Fund Stu- dies-Interpretation, die dem Kino einen gewissen, begrenzten Einfluss zuerkennt, und der Interpretation von Mortimer Adler schwankt, die diesen Einfluss bestreitet, die Delinquenz auf ihre tiefen psychologi- schen und soziologischen Ursachen zurückführt und den Film auf sei- ne im Wesentlichen ästhetische Ebene beschränkt. Dasselbe Schwanken werden wir beim Report of the Departmental Committee on Children and the Cinema wiederfinden, der dem britischen Parlament im Mai 1950 vorgelegt wurde. Es handelt sich um eine sehr breit angelegte Untersuchung, die in England, Schottland und Wales über Probleme des Kinobesuchs von Kindern unter sechzehn Jahren durchgeführt wurde. Eines dieser Probleme war «Juvenile Delinquency and Moral Laxity in relation to Attendance to the Cinema». 1.344 Fachleu- te für die Probleme der Kindheit – Lehrer, Leiter von Kinderklini- ken, Polizeipräsidenten, Spezialisten der Jugendgerichtsbarkeit – wur- den befragt, ob nach ihrer Meinung ein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Kinobesuchs und jugendlicher Delinquenz bzw. moral laxity bestünde. Für die Delinquenz finden sich 600 bejahende gegen- über 618 verneinenden Antworten, für die moral laxity 500 bejahende gegenüber 714 verneinenden. Delinquenz ‹moral laxity› schwache starke schwache starke Korrelation Korrelation Korrelation Korrelation Kinder unter 12 Jahren: Jungen 352 74 246 28 Mädchen 269 38 200 20 12–16 Jahren: Jungen 280 208 202 174 Mädchen 213 148 133 200 Tab. 1 68 montage AV 19 /2 / 2010 Diese Fachleute wurden auch gefragt, ob sie einen schwachen oder starken Zusammenhang zwischen Häufigkeit des Kinobesuchs und Delinquenz bzw. moral laxity je nach Alter und Geschlecht erkennen könnten. Viele von ihnen enthielten sich der Antwort, selbst unter den Leitern von approved schools und remand homes. Die Ergebnisse zeigen uns die Unsicherheit, die Unklarheit der Meinungen selbst bei den Fachleuten für Jugendliche und Delinquenz. Sie zeigen auch, dass nur eine kleine Minderheit der Fachleute einen deutlich gefährlichen Ein- fluss von Filmen einräumt. Diese Minderheit erreicht nie 20 % aller Be- fragten. Über die Hälfte hingegen verneint jeden Einfluss dieser Art. Zum anderen bemühte sich die Untersuchung, in den ersten sechs Monaten des Jahres 1948 vor das Jugendgericht gelangte Fälle von Delinquenz oder moral laxity ausfindig zu machen, bei denen irgen- deine Beziehung zu einer Filmepisode festzustellen war. Sie kam auf 141 Fälle von Delinquenz und 112 Fälle von moral laxity, das sind ins- gesamt 253. Im Jahr 1948 wurden 39.259 Kinder zwischen acht und fünfzehn Jahren vor Gericht gestellt, für den Untersuchungszeitraum entsprechend etwa halb so viele. Dem stehen 3 von 4,5 Millionen Kin- der gegenüber, die regelmäßig ins Kino gehen. Die Untersuchungs- kommission schloss also, «wenn das Kino eine regelmäßige Ursache jugendlicher Delinquenz wäre, hätte man eine weit größere Zahl von Delinquenten finden müssen». Doch ein Mitglied der Kommission, Henrietta Bower, legte in ei- nem eigenen Memorandum dar, dass sie diese Interpretation nicht tei- le, und nannte folgende Gründe dafür: «In England wurden ungefähr 70.000 Jugendliche aller Art von Gesetzesverstößen (all kinds of offenses) für schuldig befunden» (diese Zahl ist größer als die oben genannte von 39.000, die nur die strafbaren Verstöße betrifft, während Mrs. Bower von sämtlichen Verstößen ausgeht). Das sind 2,15 % der 3 Mio. Kinder, die regelmäßig ins Kino gehen. In Schottland, wo im Gegensatz zu England kein Gesetz Kindern den Besuch von Filmen der Kategorie A und H verbietet,4 machen die 18.600 Jugendlichen, gegen die Anklage erhoben wurde, 3,92 % der 425.000 regelmäßigen jugendlichen Kinozuschauer aus. Der re- gelmäßige Kinobesuch von Kindern und Jugendlichen zwischen zehn und fünfzehn Jahren liegt in Schottland höher als in England (36 % zu 29 %). Auf dieser Grundlage meint Henrietta Bower, eine deutliche Korrelation zwischen Kinobesuch, Delinquenz und moral laxity fest- stellen zu können. 4 A: nur für Erwachsene; H: «horrifics». Morin: Das Problem der gefährlichen Auswirkungen des Kinos 69 Wir sehen also auch hier, wie bei den Payne Fund Studies, dass die- selben Ergebnisse unterschiedlich interpretiert werden. «Gefährdungszustand» Die Argumentation von Mrs. Bower erscheint nicht überzeugend, was die Delinquenz im strengen Sinn angeht, denn die von ihr angeführten Zahlen umfassen verschiedene offenses, die keine Delikte sind, sondern, wie es im Bericht heißt, «offenses of trivial nature». Vielleicht würde sie gewichtiger, wenn man den Bereich des «Gefährdungszustands» be- trachtet. Dazu ist es sinnvoll, eine Untersuchung der Payne Fund Studies (May/Shuttleworth 1933) heranzuziehen, die sich mit den Unterschie- den beschäftigt, die möglicherweise in Charakter, Verhalten und Ein- stellungen von kinobesuchenden und nicht kinobesuchenden Kindern bestehen, und die an einer Auswahl von Schülern in Connecticut und Ohio (USA) durchgeführt wurde. Der Durchschnitt der Kinobesuche für die Gruppe der Nichtkinogänger liegt bei einigen Filmen pro Jahr, bei der Gruppe von Kinogängern bei 2,8 Filmen pro Woche. Auf beide Gruppen wurde zunächst die Testreihe der klassischen «Character Education Inquiry» angewendet, bei der es um den Ruf des Schülers, sein Verhalten, seine moralischen und sozialen Einstellungen, sein gesellschaftliches «Milieu», die Intelligenz usw. ging. Die Resultate erbrachten keine bedeutsamen Unterschiede, nur einen leichten Vor- teil für die non-movie goers in Betragen und Schulnoten, Selbstkontrolle, Kooperation und schulischer Korrektheit. Bei letzterem Punkt gab es einen großen Unterschied in der school honesty, gar keinen jedoch in der out of school honesty. Hingegen wurden die movie goers in dem Test Guess Who öfter genannt und galten als «bessere Kameraden». Die zweite Testreihe wurde speziell im Hinblick auf das Kino aus- gearbeitet. Die meisten Hypothesen zuungunsten der movie-goers wur- den von den Ergebnissen widerlegt. Zwischen den movie-goers und den non-movie goers gab es keinen Unterschied in der Haltung zu in zeit- genössischen Filmen lächerlich gemachten Pastoren oder Sozialarbei- tern oder zu als Idioten dargestellten Ausländern und Übeltätern oder zu auf der Leinwand idealisierten Gangstern. Überdies schienen die movie-goers sensibler für die Billigung oder Missbilligung der Eltern. Außerdem wurde deutlich, dass der Kinobesuch die anderen Freizeit- beschäftigungen nicht beeinträchtigte. Kurz, denn es kommt leider nicht in Frage, diese Untersuchung (die meines Erachtens interessanteste der Payne Fund Studies) eingehender 70 montage AV 19 /2 / 2010 darzustellen, bei den Verhaltens-Tests gab es in 90 % der Fälle keine be- deutsamen Unterschiede, in 2 % bedeutsame Unterschiede zugunsten der movie-goers und in 8 % zugunsten der non-movie goers. Den Autoren zufolge kann das Kino nicht als primäre Ursache der wenigen Einstel- lungsunterschiede betrachtet werden, die festgestellt wurden: Es sind schon früher vorhandene Interessen, die zum häufigeren Kinobesuch führen, der wiederum diese Interessen fördert. May und Shuttleworth erkennen einen spezifischen Einfluss nur für bestimmte Kinder und be- stimmte Filme. Sie stellen die These auf, dass dieselben Filme verschie- dene Kinder in entgegengesetzten Richtungen beeinflussen können. Allgemeine Bemerkungen Der Nutzen all dieser Untersuchungen liegt darin, die mehr oder we- niger bewussten Dogmen in Frage zu stellen, die aus der «Antikino- Psychose» hervorgegangen sind. Aber sie gehen das Problem auf eine allzu naiv unmittelbare Art und Weise an. Man kann sie nur interpre- tieren, wenn man sie in einen Rahmen stellt, der über sie hinausgeht. 1. Mit Ausnahme von Mortimer Adler hat man vergessen, dass die Si- tuation des Zuschauers ihrem Wesen nach ästhetisch ist. So sehr er von der Filmhandlung in Bann geschlagen sein mag, ist es doch klar, dass er an sie glaubt, ohne an sie zu glauben, sonst würde er auf die Lein- wand springen, um dem Verräter in den Arm zu fallen oder den Kuss von den Lippen der Heldin zu pflücken. Die Phänomene, die die ki- nematografische Darstellung hervorbringt, sind also, mit einem Wort von Etienne Souriau, spektatorielle Phänomene [phénomènes spectatoriel- les].* Daher sollte man mit gutem Grund auf die alten aristotelischen Begriffe Katharsis und Mimesis zurückgreifen, vorausgesetzt allerdings, dass man sie voneinander trennt und sie vervollständigt. Der Zuschau- er glaubt an den Film, ohne an ihn zu glauben. Soweit er an ihn glaubt, nimmt er, einem vielschichtigen Prozess von Projektion und Identi- fikation gemäß, teil an der Filmrealität. Er projiziert seine eigene Per- sönlichkeit auf die Leinwandfiguren und identifiziert sich zugleich mit ihnen. Ich läutere mich durch andere – die als Sündenbock oder Opfer fungieren –, aber ich läutere mich, indem ich mimetisch das dargestell- te Opfer selbst empfinde, das heißt mich mit ihm identifiziere. Man kann diesen zweifachen, komplementären Prozess nicht trennen, der * [Anm.d.Hg.:] Vgl. Souriau, Etienne (1997) Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie. In: Montage AV 6,2, S. 140-157 (hier: 152ff). Morin: Das Problem der gefährlichen Auswirkungen des Kinos 71 überdies nicht nur bei einem, sondern bei mehreren Helden zur Wir- kung kommt. Man kann annehmen, dass die mimetischen Phänomene besonders eng mit der Identifikation zusammenhängen und die kathar- tischen insbesondere aus der Projektion resultieren. Alle Untersuchungen über den Einfluss des Kinos zeigen uns, dass die mimetischen, post-spektatoriellen Einflüsse sich in nebensächlichen Verhaltensweisen auswirken – nebensächlichen sozialen und sexuellen Verhaltensweisen, wobei es schwierig ist, die Grenze zwischen beiden zu ziehen –, im Benehmen, in der Sprechweise, der Frisur oder Klei- dung. Das führt zu der Annahme, dass das Wesentliche, das heißt das auf der Leinwand dargestellte Drama – Verbrechen, Mord und Gewalt – sich kathartisch gelöst hat. Das ist der Grund, warum der Film, wie wir oben gesehen haben, als Faktor von Kriminalität oder Delinquenz keine Rolle spielt, wäh- rend er andererseits das nebensächliche Verhalten, die benutzten Tech- niken beeinflussen kann. Wie Kesterton (1945) sagt: «Ein Film kann eher das Mittel suggerieren, eine antisoziale Tat zu begehen, als die- se Tat auslösen». Außer in Grenzfällen, die der Pathologie angehören, verursacht das Kino Aggressionen nicht mehr als der Revolver, der im Schaufenster des Waffenhändlers glänzt. Wenn man diese Hypothese weiterdenkt, kann man sich sogar fragen, ob der Film nicht in Wahrheit sogar eine segensreiche Rolle spielt, als Sicherheitsventil für den Aggressionstrieb. Das wäre einleuchtend, wenn man sich an das Paar Katharsis und Mimesis hält, wo sich alles, was sich nicht in der Mimesis fixiert, in der Katharsis löst und umgekehrt. Aller- dings muss man hier einen dritten Begriff einführen, der zwischen Ka- tharsis und Mimesis liegt und den man grob «Psychosis» nennen kann. Denn wie der Traum uns nicht wirklich von unseren Fantasmen läutert, sondern im Gegenteil ihre nicht ablassende Gegenwart be- zeugt, kann auch die filmische Darstellung genauso gut, ja sogar eher dem Traumschauspiel nahekommen als der idealen aristotelischen Tra- gödie, die als kaum säkularisiertes sakrales Mysterium ihrem rituellen Wesen nach Läuterung ist. Es ist also möglich, dass der Film, wie der Traum, nach der Katharsis ruft, ohne sie zu verwirklichen, und sich so dem Zuschauer als neurotische Wiederholung von Fantasmen darstellt, die sich nicht in Handlungen freisetzen können. In dieser Richtung muss man suchen, um herauszufinden, ob eine bestimmte Art von Be- suchshäufigkeit zu Kino-«Psychosen» führt oder sie nährt. Man muss die Frage nach dem guten oder schlechten Einfluss des Kinos also a priori mit Rücksicht auf drei mögliche – und miteinan- 72 montage AV 19 /2 / 2010 der vermengte – Richtungen ins Auge fassen: Katharsis, Mimesis und Psychosis, und die «schlechten» Einflüsse sind meines Erachtens nur in letzterer anzutreffen. 2. Das Problem des Einflusses kann nicht von der spektatoriellen Si- tuation gelöst werden. Und es muss in seinem gesellschaftlichen Kon- text betrachtet werden. Es gibt nicht ein Kino, sondern viele konkrete Kinos. Der Inhalt der Filme und die kollektive Psychologie variie- ren je nach Zeit und Ort. Das Kino von 1950 ist nicht mehr das von 1930. Der amerikanische Film ist nicht der sowjetische Film, und man muss auch an die indischen, japanischen, ägyptischen, englischen und französischen Filme denken. Auch die Krisenzeiten, Entwicklungs- momente, Unruhen oder Friedenszeiten, die eine Gesellschaft durch- macht, müssen in Betracht gezogen werden. 3. Wenn man all diese Faktoren berücksichtigt, scheint es mir indessen falsch zu glauben, dass der Film imstande ist, einem «Gefährdungszu- stand» von Jugendlichen Vorschub zu leisten. Nehmen wir wiederum die 1930er Jahre in den USA, in denen die Filme voller Gewalt waren und die größte Menge jugendlicher Zuschauer anzogen, also beson- ders schädlich scheinen. Wie wir gesehen haben, handelt es sich um einen fließenden Bereich, in dem gegensätzliche Interpretationen möglich sind. Man kann Un- terschiede in Einstellungen und Verhalten zwischen kinobesuchenden und nicht-kinobesuchenden Kindern feststellen, aber diese Unter- schiede sind nie bedeutsam, das heißt Hinweise auf Gegensätze in Mo- ral, Einstellung und Verhalten. Doch so geringfügig sie sein mögen, sie sind vorhanden. Ich erlaube mir, sie in einem Sinn zu interpretieren, den May und Shuttleworth übersehen haben. Nach den Ergebnissen ihrer Untersuchung (The Social Conduct and Attitudes of Movie Fans) scheint es in der Tat, als unterschieden sich die Kinofans wesentlich durch schwächere Beteiligung am Schulleben mit den Lehrern und gute Noten und durch stärkere Anteilnahme an den «Freunden» (sie werden, erinnern wir uns, als «bessere Kameraden» be- zeichnet). Korrelativ dazu behaupten sie deutlicher ihre Individualität, sowohl innerhalb ihrer Altersgruppe als auch gegenüber der Autorität der Schule. Sie scheinen aufgrund ihrer Lebhaftigkeit und Umtriebig- keit mehr zu «existieren». Hier die dafür bezeichnenden Antworten: Morin: Das Problem der gefährlichen Auswirkungen des Kinos 73 Auf die Frage nach den «unangenehmsten Dingen» nannten die mo- vie goers der Rangfolge nach: − einem zurückgebliebenen Schüler bei den Hausaufgaben helfen; − Gesetze, die die individuelle Freiheit einschränken; − seinen besten Freund verlieren. Die non-movie goers hingegen wählten: − Hungersnot in Indien; − Lektüre eines Berichts über eine schreckliche Hungersnot in China; − «drinking parties». Die Antworten der einen zeigen vielleicht das, was man «ein gutes Herz» nennt, vielleicht aber auch einen gewissen Konformismus zur religiösen Erziehung. Die anderen, die die individuelle Freiheit und die Freundschaft als höchstes Gut bezeichnen, scheinen intensiver in aktiver Teilhabe an der Gruppe und in der Selbstbehauptung zu leben.5 Das bedeutet vielleicht nur, dass die movie-goers als Gruppe lebhafter und weniger brav sind als die non-movie-goers. Aber wenn man be- denkt, dass Intensität der Selbstbehauptung und Teilhabe jede Persön- lichkeitsentwicklung kennzeichnet, vor allem in diesem Stadium des Erwachsenwerdens, der Krise in der langwierigen Entwicklung vom Kind zum Volljährigen, kann man auch zu dem Schluss kommen, dass die jugendlichen movie-goers früher in dieses Stadium gelangen. Das Kino würde in diesem Fall eine beschleunigende Rolle spielen, man könnte sagen: eine para-initiatorische Rolle. Hier sind wir auf einem Feld, über das die Untersuchungen sich ausschweigen. Die meisten machen bei den Sechzehnjährigen Halt. Vor allem aber sind sie nicht in der Lage, über den Einfluss des Kinos während der Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen Aufschluss zu geben. Eine riesige Lücke, die uns auf Hypothesen beschränkt. Da die Hypothese vom «Gefährdungszustand» trotz angestreng- ter Bemühungen keine empirische Bestätigung hat finden können, scheint es mir plausibel, sie umzukehren: Hilft das Kino nicht im Ge- genteil vielleicht, jenes große Problem aller menschlichen Gesellschaf- 5 Einem zurückgebliebenen Schüler bei den Hausaufgaben zu helfen, missfällt ihnen nur, weil sie die Arbeit in der Schule und alles, was damit zusammenhängt, verachten, nicht weil sie generell, auch außerhalb der Schule, Solidarität ablehnten. 74 montage AV 19 /2 / 2010 ten zu lösen: die Initiation. Sind die leichten Unruhen, die das Kino ins Leben der 11- bis 16-Jährigen bringt, nicht in den meisten Fällen «ge- sund», da die dort gesehenen Verhaltensmodelle Schüchternheit und Hemmungen überwinden helfen, gesellschaftlich und im Liebesleben die Anpassung fördern können? Und wenn die menschlichen Neurosen sich vor allem bei jenen fin- den, deren Initiation «misslungen» ist – Erwachsene, die nie eine Kind- heit hatten, ewige Kinder, die es nicht schaffen, erwachsen zu werden –, kann man dann nicht untersuchen, ob sie nicht zumeist unter jenen zu finden sind, die in ihrer Jugend nicht ins Kino gegangen sind? Auch hier müssen wir, um unseren Standpunkt zu bestimmen, auf die drei möglichen Fortführungen der «spektatoriellen» Phänomene Katharsis, Mimesis, Psychosis zurückgreifen. In der Kindheit liegen die Wirkungen des Kinos im Zusammenspiel von Katharsis und Mime- sis. Sie drücken sich in Spielen aus, in spielerischer Mimesis, und durch diese Spiele löst sich die Mimesis in einer Katharsis. In der Adoleszenz taucht eine sozialisierende Mimesis auf, die positive Verhaltensweisen bei der Selbstbehauptung innerhalb der Erwachsenenwelt fördern kann. Dann würden sich die schlechten – psychotischen – Einflüsse des Kinos womöglich nur im Erwachsenenalter auswirken. 4. In der «westlichen» Zivilisation zumindest – in Asien, Afrika und der Sowjetunion mögen sich die Phänomene anders darstellen – kann man die frappierende Feststellung machen, dass Kinder von einem Film hauptsächlich seinen Gehalt an Abenteuern, Aggressionen, Ver- folgungsjagden und Raufereien in Erinnerung behalten, während für Jugendliche und Erwachsene die selben Inhalte, mit anderen vermischt, stark gesellschaftlich, von Ideologien und Bedeutungen geprägt sind, sie hören auf, kindlich zu sein, und werden kindisch. Diese Verschiebung beginnt, wenn die Archetypen zu Stereotypen aus- arten, wenn die Verklärung des Realen als dessen Entstellung und der fast biologische, animalische Reiz des Abenteuers nur noch als Verblö- dung empfunden werden kann. Manche Mitglieder der Kommission des R.C.C. haben darauf hingewiesen, dass ihres Erachtens die Gefahr nicht in der Gewalt oder der Sexualität liegt, die im Film gezeigt wird, sondern in einer Darstellung des Lebens, die vom wirklichen Leben abweicht; wenn man nach etwas Gefährlichem suchen wolle, so liege es im Stumpfsinn der Motive, die die Helden antreiben. Wie Margaret Thorp (1939) sagt: «Schlecht im Universum des Films ist nicht Immo- ralität, sondern Engstirnigkeit». Morin: Das Problem der gefährlichen Auswirkungen des Kinos 75 Die Filme sind dieselben. Ihre Bedeutung hat sich geändert. Das Kindliche ist zum Kindischen geworden, der mangelnde Realismus zur Idealisierung. Doch einen schlechten Einfluss übt nicht das Kind- liche aus, sondern das Kindische, nicht der mangelnde Realismus, son- dern die Idealisierung. Folgerichtig wäre es also, das Verbotssystem umzudrehen und Erwachsenen jene Filme zu verbieten, die dann ‹nur unter 16 Jahren erlaubt› wären. Wenn ein solches Verbot überhaupt einen Sinn haben kann. Denn die Psychosen bzw. Neurosen, die ein Film nähren kann, sind an sich schon jene, die ein bestimmter Zivilisationstyp hervorbringt. Der Film erfindet die Konflikte und Mythen nicht, die die «Neurotiker unserer Zeit» hervorbringen; er verlängert sie höchstens. Außerdem ist es gewiss nicht meine Absicht, für irgendeine Art von Verboten zu werben. Die Prüfung der Frage nach dem schädlichen Einfluss des Kinos bestärkt mich darin, der Zensur in diesem Bereich jede Rechtfertigung abzusprechen. Die wahren soziologischen Grund- lagen der Zensur reichen viel tiefer als alle nachträglichen Rechtfer- tigungen und Vorwände. Ihr Reich sind die politischen Tabus der be- stehenden Ordnung und die magischen Tabus, die den Schrecken der Verwesung und den Rausch des Liebesakts, die Blöße von Tod und Sexualität in die Nacht des Unberührbaren verbannen.6 Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer 6 Die oben genannten Hypothesen verlangen nach neuen Untersuchungen. Sie müs- sen die Individuen, die Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung, die soziologische Situation, den geschichtlichen, gesellschaftlichen und kinematographischen Moment berücksichtigen; und die gegensätzlichen und eng zusammenhängenden drei Rich- tungen des möglichen Einflusses von Filmen. Sie würden eine totale Revision der Methoden, die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen und vor allem die An- wendung im internationalen Maßstab erforderlich machen, um einer sehr einfachen und dennoch grundlegenden Erkenntnis Rechnung zu tragen, die von der empi- rischen Forschung allzu sehr vernachlässigt wird: dass nämlich ein Phänomen nicht nur unterschiedliche, sondern gegensätzliche Wirkungen ausüben kann. 76 montage AV 19 /2 / 2010 Literatur Adler, Mortimer (1937) Art and Prudence. A Study in Practical Philosophy. New York/Toronto: Longmans, Green and Co. Blumer, Herbert (1933) Movies, Delinquency and Crime. New York: Macmillan. Cressey, Paul G. (1938) The Motion Picture Experience as Modified by So- cial Background and Personnality. In: American Sociological Review 3,4, S. 516–525. – / Trasher, Frederic M. (1933) Boys, Movies and City Streets. New York: Macmillan. Fain, Gaël (1928) Pour une politique française du cinéma. Une industrie-clé intellectu- elle. Paris: Chambre Syndicale Française de la Cinématographie. Kesterton (1945) The recreational Cinema and the Adolescents (Diss. University of Birmingham). May, Mark A. / Shuttleworth, Frank K. (1933) The Social Conducts and Attitudes of Movie Fans. New York: Macmillan. Poulain, Édouard (1917) Contre le cinéma école de vice et de crime, pour le cinéma école d’éducation moralisatrice et vulgarisatrice. Besançon: Imprimeries de l’Est. Thorp, Margaret (1939) America at the movies. New Haven: Yale University Press. Das Kino aus soziologischer Sicht* Edgar Morin Die soziologischen Arbeiten über das Kino sind selbst soziologische Phänomene. Am Anfang der großen Schlüssel-Studien in den Verei- nigten Staaten und in England, von den Payne Fund Studies (1928-33) bis zum Report of the Departmental Committee on Children and the Cinema (1950), steht eine Beunruhigung, die bei Eltern und Erziehern dieser puritanischen Nationen durch das massive und unablässige Strömen der jungen Generationen in die dunklen Kinosäle ausgelöst wurde. Andererseits markiert das Jahr 1931 das Ende des Wachstums des Kinopublikums in den Vereinigten Staaten. Im Gefolge der Besucher- krise und einer dauerhaften Marktkontraktion richtet Hollywood sei- ne Projektoren auf sein eigenes Publikum: Hollywood «looks at its au- dience» (Handel 1949), schaut sich sein Publikum an, und wendet sich zu diesem Zweck an die social scientists. Die Bedürfnisse der Anpassung des Angebots an die Nachfrage bilden also den Ursprung einer For- schung, die, so sehr sie an diese Bedürfnisse gebunden bleibt, den Rah- men der Filmproduktion bald sprengt und unter der Federführung der Universität durchgeführt wird, namentlich des Motion Picture Research Bureau der Columbia University. Parallel dazu entspringen dem ‹progressiven› Geist des New Deal hellsichtige und tiefschürfende Studien sowohl über die Kartellbil- dungen in der Filmindustrie wie auch über eine Mythologie Hol- lywoods, die der Verdummung ein neues Reich beschert (vgl. Thorp 1951). Ebenfalls dem progressiven Geist verdanken wir Studien über die Wirkung anti-rassistischer Filme aus den Jahren unmittelbar nach * Dieser Text erschien 1953 unter dem Titel «Le cinéma sous l’angle sociologique» in L’Éventail de l’histoire vivante. Hommage à Lucien Febvre. Paris: A. Colin, S. 391–399. Wir danken dem Autor herzlich für die Genehmigung zur Übersetzung. 78 montage AV 19 /2 / 2010 dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Wiese/Gole 1946; Rosen 1948). Der Krieg selbst hatte der Soziologie einen Platz im Truppentransporter verschafft, unter anderem, um die Wirkung von Propagandafilmen zu untersuchen. Ebenfalls parallel dazu tritt der Film ins Feld der Erforschung der sogenannten mass-media ein. Neue wissenschaftliche Disziplinen ab- solvieren ihren Probegalopp in der Domäne des Kinos. Die Kultur- anthropologie führt zwei Untersuchungen über die Eingeborenen Hollywoods durch, als würde es sich dabei um eine polynesische Stammesgesellschaft handeln (vgl. Rosten 1941; Powdermaker 1950). Die Psychoanalyse sondiert den Inhalt der Filme (vgl. Leites/Wolfen- stein 1950; Tyler 1947). Mehr noch: Jüngst hat sich Hollywood selbst darauf verlegt, in seinen Filmen soziologische Introspektion zu betrei- ben, etwa in Sunset Blvd. (Billy Wilder, USA 1950) oder The Bad and the Beautiful (Vincente Minnelli, USA 1952). Wäre es unsere Absicht, die soziologischen Arbeiten zum Kino zu beurteilen, würden wir hier die ebenso engagierten wie zurückhal- tenden Untersuchungen aus England würdigen (vgl. Bächlin 1945), und wir würden darauf hinweisen, dass die Anwendung einer marxisti- schen Perspektive auf die Ökonomie des Films von hohem Interesse ist (vgl. Balázs 1930). Wir wollen uns aber darauf beschränken darzulegen, wie aus der amerikanischen Gesellschaft und Geschichte Strömungen der Forschung entstanden sind, die ein höchst bemerkenswertes Ma- terial in genau dem Bereich zusammengetragen haben, der uns inter- essiert. In Frankreich hingegen haben die Bedingungen der Soziologie zu anderen Ergebnissen geführt. In den Vereinigten Staaten wie in England sind die Verantwortli- chen (Eltern, Erzieher, Funktionäre) von einer inneren Unruhe ange- trieben: Als Puritaner nehmen sie das Kino sehr ernst. Diesem Ernst entspricht der Ernst ihrer Nachforschungen. In Frankreich, wo man – dies sei nur in Klammern angemerkt – den Unterschied zwischen zugelassenen Filmen und solchen, die für Kinder verboten sind, nicht kennt, wird das Kino als Ganzes entweder auf die leichte Schulter ge- nommen oder als tragische Gegebenheit angesehen. Einerseits glaubt der größte Teil der öffentlichen Meinung, der sich von der Religion gänzlich entfernt hat, keineswegs, dass die Lockmittel der fleischlichen Irrwege oder des Verbrechens die kleinen, fragilen Seelen der Kino- gänger auf den Weg der Ausschweifung und der Delinquenz bringen könnten. Andererseits wendet sich ein Bruchteil der Bevölkerung, der den Vorgaben der katholischen Kirche folgt, vom Kino einfach ab und verbietet es seinen Kindern. Morin: Das Kino aus soziologischer Sicht 79 In den Vereinigten Staaten zieht die in Hollywood konzentrierte, durchrationalisierte Filmproduktion die social scientists zu Rate, um ihre Marktprobleme zu lösen, und diese folgen dem Ruf. In Frank- reich hingegen sind die Produzenten Individualisten und Handwerker und verlassen sich auf ihr Gespür, auf eine Kenntnis ‹ihres› Publikums. Wenn sie in Schwierigkeiten geraten, suchen sie den Schutz und die Subventionen des Staates. Sie wenden sich so wenig an die Soziologen wie die Soziologen sich für diese Fragen interessieren. So kommt es, dass in Frankreich bis in die jüngste Zeit weder die öffentliche Meinung noch die Produzenten, der Staat oder die Sozio- logen Rufe haben laut werden lassen, die der Forschung den Weg ge- bahnt hätten. * * * Wir haben weder die Absicht uns hier zu beklagen noch wollen wir vorschlagen, dass man in Frankreich dasselbe machen sollte wie in den USA. Unserer Meinung nach ist auf der Suche nach einer Wiederent- deckung der Weisheit der Nationen (und auch der Dummheit der Na- tionen) viel Zeit und Energie für unbedarfte Nachforschungen ver- schwendet worden. Auch finden wir, dass viele der entscheidenden praktischen Probleme des Filmmarktes vom falschen Ende her angegan- gen wurden. So ist zum Beispiel der Publikumsschwund, ein Schlüs- selproblem seit der Krise von 1929, das sich seit 1946 noch verschärft hat, nie in der Gesamtheit seiner Aspekte und hinsichtlich seiner wirt- schaftlichen, sozialen und historischen Implikationen in den Blick ge- nommen worden. Schließlich sind wir der Meinung, dass die verschie- denen Studien aus den USA grundlegende Elemente für eine Soziologie des Kinos bereitstellen, dass ihnen allen aber in der Regel die Sicht aufs Ganze fehlt. Sie wählen den Ansatzpunkt immer ganz nahe am Terrain, zu nahe am Unmittelbaren. Es sind oft bemerkens- werte Arbeiten, bewundernswerte Versuche, schöne Beiträge zu einer Soziologie des Kinos, die selbst noch auf sich warten lässt. * * * Was sind demnach die grundlegenden Herausforderungen einer So- ziologie des Kinos? Manche davon betreffen die Persönlichkeit des So- ziologen. Er lässt uns an ein Vorwort von Nicolas Lorga denken. Wie soll man Kriege und Revolutionen behandeln, sagte er im Wesentli- chen, wenn man selbst nie an einem Krieg oder einer Revolution teil- 80 montage AV 19 /2 / 2010 genommen hat, wenn man selbst keine gelebte Erfahrung der großen historischen Umbrüche hat? Es braucht nicht viel, um diese Idee ad absurdum zu führen, und man kann sich nur schlecht einen Historiker vorstellen, der sich in Attila verwandelt, um die Hunnen besser verste- hen zu können, oder in Caligula, um ein Bild des römischen Reichs entwerfen zu können. Es reicht, eine teilnahmsvolle Erfahrung zu ma- chen wie Michelet, wenn er sich in der Gestalt des Grand Ferré* aus- tobt oder beim Martyrium der Jeanne d’Arc tausend Tode stirbt, um trotz allem weiterhin auf eine ‹vollständige Auferstehung› hoffen zu können. Nichtsdestotrotz glauben wir, um aufs Kino zurück zu kom- men, dass es ein gewisses ‹Erlebnis›** gibt, das die Vorstellungskraft nur schwer wieder herstellen kann. Damit ist nicht das Kennertum der Ci- né-Clubs und der guten Filme gemeint, sondern die Erfahrung dessen, der im Vorortskino mit den Füßen getrampelt, geschrien und geweint hat, der ohne Unterlass seinen Freunden von den Filmen erzählt, die er gesehen hat, der sich an grobschlächtigen Filmen satt gesehen und sich in Aushangfotos versenkt hat, eine unnahbare Brigitte Helm oder Greta Garbo liebend, und der sich von den Frankensteins unwider- stehlich angezogen fühlte, von denen er doch wusste, dass sie ihn vor Angst krank machen würden... Um den Film zu verstehen, muss man ‹Kino›*** in diesem Sinn erlebt haben. Aber die Erfahrung des ‹Kinos› ist nicht alles. Man muss auch Di- stanz gewinnen, eine Distanz, die größer ist als die der unmittelbaren Nachforschung, größer noch als die des Filmhistorikers, auch wenn es sich dabei um eine historische Distanz handelt. * * * Aus dieser Distanz erst tritt der soziologische Skandal zutage, den die Umwandlung des Kinematographen ins Kino darstellt und den die Filmhistoriker unter dem Gesichtspunkt einer naiven Finalität be- trachten. Für sie sind die Anfänge des Kinos eine Geburtsalter- und eine Lehrlingsphase, in der eine Sprache und jene Mittel zur Ausarbei- tung kommen, die dazu bestimmt sind – prädestiniert, ist man versucht zu sagen – die siebte Kunst zu bilden. Die Filmhistoriker versäumen es * [Anm.d.Ü.:] Der «Grand Ferré» ist eine reale Heldengestalt des hundertjährigen Krieges aus der Picardie, der von 1330 bis 1359 lebte und der Legende nach mit herkulischen Kräften ausgestattet war. ** [Anm.d.Ü.:] Deutsch im Original. *** [Anm. d. Ü.:] Im Original spielt Morin hier mit der Unterscheidung von «cinéma» und dem umgangssprachlichen «ciné». Morin: Das Kino aus soziologischer Sicht 81 dabei, sich bei dem erstaunlichen Phänomen länger aufzuhalten, das darin besteht, dass der Kinematograph, das Produkt einer unablässigen Laborarbeit während des ganzen 19. Jahrhunderts, die darauf abzielte ein Instrument der wissenschaftlichen Forschung zu schaffen, im Moment seiner Geburt radikal von seinem Weg abgebracht und vom Spektakel und der Zerstreuung erfasst und zum Kino gemacht wurde. Und wir sagen mit Bedacht «erfasst»: Hätte der Kinematograph doch ebenso sehr wie sein Spektakel-Potenzial seine wissenschaftlichen Möglich- keiten entfalten können, die bislang nur sehr wenig genutzt werden (vgl. dazu Schlitz 1948), ebenso wie seine erzieherischen Möglichkei- ten. Aber der Aufschwung des Kinos hat diesen vermeintlich naturge- mäßen Entwicklungen den Nährboden entzogen. Er hat alles aus dem Weg geräumt. Und das Staunen des Soziologen, wie auch das des His- torikers, müsste in etwa dem entsprechen, das Lumière empfand, als ihm Méliès eröffnete, dass er vorhabe, mit Filmen Geld zu verdienen. Zu diesem ersten soziologischen Skandal kommt noch ein zwei- ter hinzu: Zum Spektakel geworden, strebt das Kino nach Universa- lität. Überall breitet es sich aus, überall gewöhnt es sich ein. Von den großen Städten breitet es sich über die ländlichen Gebiete aus, von den großen Industrienationen ausgehend deckt es bald die Gesamtheit der Erdkugel ab. Es zieht Kinder, Erwachsene und Greise an, Männer, Frauen, ‹Primitive› und Ästheten, Arbeiter, Kleinbürger, Reiche, Arme. Es dringt bis zu den Hindus vor, zu den Muslimen, zu den Buddhisten. Die Forschung zeigt uns deutlich, dass der Film, trotz aller nationalen, ethnischen und sozialen Besonderheiten des Publikums und der Pro- duzenten, eine potenzielle Universalität in sich trägt. Sie zeigt ferner, dass die Attraktivität des Kinos und das Bedürfnis nach Kino wohl bei den Jugendlichen besonders ausgeprägt ist, aber letztlich mit der glei- chen Kraft zur Geltung kommt, was auch immer der Entfaltung dieses Bedürfnisses entgegen stehen mag – ob dies das Geschlecht, die gesell- schaftlichen Klassen, das Klima oder geografische und ökonomische Faktoren seien, wie eine zerstreute Siedlungsstruktur und Schwierig- keiten des Vertriebs (vgl. Morin 2010 [1953]). Gewiss, das Kino ist nicht allein in seiner potenziellen oder effekti- ven Universalität. Es gibt auch noch das Buch, das Theater, die Künste, den Sport. Die Akklimatisierung des Fußballs in Schwarzafrika zum Beispiel wirft aber Probleme auf, die das Kino nicht kennt. Zudem vollzieht sich die Universalisierung der literarischen und dramatischen Werke nur langsam und mühevoll, und sie erreichen immer noch nur einen Bruchteil der Menschheit. Shakespeare ist potenziell universell, aber er ist es noch nicht tatsächlich. Tarzan und der Western hingegen 82 montage AV 19 /2 / 2010 sind tatsächlich universell. Im Film steckt eine Kraft ohne Vorbild. Ist es am Ende genau diese Kraft, die an der Schwelle zum neuen Jahr- hundert, den Kinematographen von seinem Weg abbrachte, um ihn zum Kino zu machen? * * * Es kommt also darauf an, dass man sich mit großer Aufmerksamkeit mit dem Moment der Genese auseinandersetzt, in dem der Kinemato- graph ins Kino übergeht. Zufälligerweise gibt es einen Mann, Georges Méliès, der diesen Übergang in den Jahren von 1897 bis 1902 zugleich symbolisiert und ins Werk setzt. Die Historiker und die Kunsttheore- tiker des Kinos haben sehr deutlich erkannt, dass Méliès nicht nur ein wundervoller Poet war, der Perrault des Kinos, sondern der Erfinder seiner Sprache. Allerdings haben sie diese Sprache nur als Quelle einer neuen Kunst in Betracht gezogen, und nicht als Quelle der Kraft und Faszination des Films. Wie sollen wir uns kurz fassen in einer Angelegenheit, die nach so viel Erklärung und Erläuterung verlangt? Vielleicht indem wir sagen, dass die schöpferische Arbeit, deren erster Ausführender Méliès war, darin bestand, die filmische Darstellung des Realen ins System des magischen Denkens einzubetten. Wenn wir uns nicht nur auf die Fil- me von Méliès beziehen und auf seine ursprüngliche Entdeckung an der Place de l’Opéra, sondern auch auf seinen Schlüsseltext «Les vues cinématographiques» (2004 [1907]), dann scheint es, als stünden die Metamorphosen und Verdoppelungen (die hier viel mehr sind als die Anwendung der Theatertricks eines Robert Houdin) am Anfang aller technischen Verfahren des Kinos, also seiner Sprache. Porter und Grif- fith, die Méliès Werk zur Vollendung bringen, fügen ihm die Allgegen- wart und die Ortsungebundenheit des filmischen Geschehens und die Gestaltung der Zeitabläufe durch die Zerlegung des Films in einzel- ne Einstellungen* hinzu. Metamorphosen, Verdoppelungen, Allgegen- wart und Ablösung der Zeit vom Ort verwandeln das reale Universum in ein magisches, oder vielmehr verleihen dem realen Universum die Qualität des Magischen.1 Denn das magische Universum ist nicht ein- * [Anm. d. Ü.:] Morin verwendet hier den Begriff «découpage», der von «montage», dem Filmschnitt im Sinne der artikulierten Verknüpfung einzelner Einstellungen zu unterscheiden ist. 1 Zum Begriff des magischen Universums, verstanden als Welt der Doppelgänger und der Metamorphosen, und zu dessen anthropologischer Universalität vgl. Morin 1951, 73-169. Morin: Das Kino aus soziologischer Sicht 83 fach fantastisch oder legendenförmig. Es ist das reale Universum, so- weit und insofern es als magisch empfunden wird. Warum der Film? Ohne Zweifel, weil er schon von sich aus eine Verdoppelung der Le- bewesen und der Dinge war, weil er schon das Universum der Dop- pelgänger war; daher übte er potenziell eine magische Anziehungskraft aus, die Méliès mit seinem Genie erkannte und zu nutzen und zu or- ganisieren verstand. Allerdings ist das magische Universum nicht nur das eines archa- ischen oder kindlichen Bewusstseins, sondern auch das des Traums, der Phantasien, der Mythen und der Kunst. Auch wenn wir in vielen Bereichen unseres zeitgenössischen Lebens eine Trennung zwischen unserer rationalen und unserer magischen Sicht der Welt eingerichtet haben (oder glauben, dies getan zu haben), wenn wir sogar glauben (oft auf anmaßende Weise), dass wir die magische Sicht aus unserem bewussten Leben verdrängt haben, so bleibt diese doch nicht minder am Leben und fordert uns heraus. Tatsächlich kann man sagen, dass die magische Weltsicht ein anthropologisches Universalium darstellt. Auf dieses Universalium stellt sich das Kino ein. Die Qualität des Magischen ist eine filmische Qualität. Und man versteht, weshalb der Kinematograph vom Kino vereinnahmt wurde: Wie keine Kunst zu- vor trug er die Möglichkeiten in sich, dieses Universum endlich zum Leben zu erwecken und etwas darzustellen, nach dem sich ein Be- dürfnis bis dato nur anspielungsweise, unter Auslassungen und unvoll- ständig im Traum und in der Ästhetik zum Ausdruck gebracht hatte. Und man versteht damit auch die potenzielle Universalität des Kinos. Wilde und Zivilisierte, Kinder und Erwachsene finden in ihm eine ge- meinsame Sprache, eine gemeinsame Sicht der Welt, eine unmittelbare Intelligenz. Man muss sogar noch weiter gehen: Das Kino entspricht wesentlichen psychischen Prozessen, und die Begriffe, mit denen die Sprache das Kino beschreibt, sind tiefsinnig: Projektion, Repräsentation. Wir glauben sogar, dass das Kino dazu beitragen kann, unsere Kenntnis dieser Prozesse auf eine neue Ebene zu heben, ebenso wie auch die der Identifikation und der Vorstellungskraft. Fügen wir noch dieses an: Das Kino lässt ein verdoppeltes Uni- versum wieder erstehen, es schafft einen Widerschein des realen Uni- versums, indem es sich diesem aufprägt, ausgestattet mit der Qualität des Magischen; und dieses Universum gleicht in einem gewissen Sinn demjenigen, das die archaische Menschheit umgab. Aber dieses Uni- versum muss nicht mehr erduldet werden; es wird mit ästhetischen Mitteln geschaffen, es ist mediatisiert, hergestellt durch Technik und Ausdruck eines rationellen Bewusstseins. Und dieser Aspekt, auf dem 84 montage AV 19 /2 / 2010 wir hier nicht weiter beharren, weil er auf der Hand liegt, ist nicht we- niger grundlegend als der andere. * * * Die Distanz, welche die Soziologie zum Kino gewinnen muss, ist jene historische und anthropologische Distanz, aus der betrachtet das grund- legende Problem der Umwandlung des Kinematographen ins Kino und der Universalität des Kinos Kontur gewinnt. Erst dann, und nur dann, wenn diese Distanz gewonnen ist, kann man den Reichtum der In- halte des kinematografischen Universums in den Blick nehmen. Weil sie über die Qualität des Magischen verfügen, haben Filminhalte nicht nur am ästhetischen Universum teil, sondern auch am kollektiven Universum des Traums. Vermittels einer schrittweisen Anpassung des Angebots an die Nachfrage sind die Filme zum Gefäß nicht nur eines kollektiven Unbewussten à la Jung geworden, das aus transhistorischen «Archety- pen» besteht (vor allem der Mythen, die sich um die Stars ranken), son- dern zum Gefäß aller kollektiven Unbewussten, in denen sich das Emp- findungsvermögen, das Streben und die Träume der Gesellschaften in einer bestimmten historischen und soziologischen Situation ausprägen. Soweit sich die Historiker überhaupt für so etwas wie «Empfin- dungsvermögen» interessieren (und Lucien Febvre weiß wie kein zweiter um die Vernachlässigung der Leidenschaften, der Liebe und des Todes durch die Geschichtswissenschaft), haben sie versucht, die- se anhand von schriftlichen Zeugnissen oder großen Kunstwerken zu rekonstruieren. Und dann gibt es daneben das Kino, das in sich die Wachträume einer Gesellschaft, einer ganzen Welt trägt. Wer sich dar- auf einlässt, sie aus der Nähe zu untersuchen, dem enthüllen die laten- ten Inhalte der Filme die impliziten Werte, die Tabus und die Fetische einer Zivilisation, seine Mythologie des Alltagslebens, die elementa- ren Zusammenhänge, die ihre «mikro-soziologischen» Bezüge steuern, ja sogar die Krankheiten des Gesellschaftskörpers in entscheidenden Momenten (vgl. Kracauer 1979 [1947]). Manche dieser Studien werfen eine Vielzahl von Schwierigkeiten auf, und die erste dieser Schwierigkeiten ist die Einfachheit. Es ist in der Tat zu einfach, in literaturkritischer Manier Urteile auf der Grundlage einiger weniger Filme zu improvisieren, die man für höchst bedeutsam hält. Es fällt Kracauer zum Beispiel leicht, die Hitler-Krise in Das Tes- tament des Doktor Mabuse von 1932 vorweggenommen zu finden, wenn er dieses Urteil zehn Jahre später fällen kann. Solche Studien kann man ohne weiteres in Angriff nehmen, aber sie verlangen, ne- Morin: Das Kino aus soziologischer Sicht 85 ben Vorsicht und Takt, unbedingt eine Untersuchung aller Filme der laufen- den Produktion in einem jeweiligen Land. Die eigentlichen Schwierigkei- ten, die sich dabei stellen, sind Schwierigkeiten der Interpretation, und wenn es uns nicht gelingt, eine Inhaltsanalyse ohne Psychoanalyse zu entwickeln, dann kann sich diese als ebenso gefährlich wie nützlich er- weisen, mit ihrer Tendenz zur eingleisigen Reduktion aller Themen auf zwanghaftes Verhalten, die mit einer unmäßigen Dialektik einhergeht. Eine solche Analyse der laufenden Produktion wäre indes noch nicht ausreichend. Es gibt kollektive Obsessionen, die es nicht auf die Leinwand schaffen. Die Filmzensur geht viel weiter als die Freud’sche Zensur, die ja nur Anliegen verdrängt, die sich dann im Traum trotzdem zum Ausdruck bringen. Hier sind es die Träume selbst, die zensiert wer- den, und die verbotenen Träume verschwinden im filmischen Nichts. Schließlich verweisen die Inhalte – und damit sind wir immer noch bei der Frage der Interpretation – nicht nur auf eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, sondern auch auf die Strukturen dieser Gesellschaft, auf ihre Unterteilung in potenziell miteinander im Streit liegende Klassen. In diesem Sinne scheint es notwendig zu untersuchen, inwie- fern die mythologische «Vulgata» des Kinos, die von der herrschenden Klasse propagiert wird, der Ideologie der Mittelklasse entspricht und ob und inwiefern sie von der proletarischen Klasse angenommen, er- duldet oder zurückgewiesen wird. So sehr Filme auch eine einzigartige Ressource für die Kenntnis ei- ner Gesellschaft darstellen (und auf einer filmologischen Ebene für die Kenntnis des Menschen), so gilt doch, dass sie uns über eine Gesellschaft nur insofern Auskunft geben können, als diese Gesellschaft uns auch über sie aufklärt. Nicht im Sinne einer naiven Überschneidung, bei der wir ver- mittels des Kinos noch einmal neu entdecken, was wir von der Soziolo- gie schon gelernt haben oder umgekehrt, sondern im Sinne einer dop- pelten und dialektischen Vorgehensweise, die es uns erlaubt, vermittels der Filmwissenschaft und anderer soziologischer, ökonomischer, poli- tischer und historischer Untersuchungen Licht in jenen Schattenbereich der Zivilisationen zu bringen, in den die Geschichtswissenschaft und die Soziologie immer nur mit Mühe vorgedrungen sind. * * * Kollektive Wachträume, Alltagsmythen der Gesellschaften. Die Inhalte der Filme sind nicht nur das, aber auch. Und wenn man diese Eigen- schaften bedenkt, kann man den Weg für eine Untersuchung der Rol- le, der Einflüsse, der Effekte des Kinos öffnen. Wiederum ist ein gewis- 86 montage AV 19 /2 / 2010 ser Abstand nötig; und solcher Abstand hätte wohl einige Plattitüden so mancher Untersuchung verhindert, die sich diesen Problemen wid- mete. Tatsächlich sind diese Träume, diese Mythen, welche die Filme ja sind, soziale Produkte. Bevor man nach ihrem Einfluss und ihren Wir- kungen fragt, muss man zunächst bedenken, dass sie selbst bewirkt und beeinflusst sind. Der Film ist nicht eine Droge, die in die Gesellschaft eingeschmuggelt wird. Er ist eine Ausscheidung nicht nur des Gesell- schaftskörpers, sondern des Zuschauers selbst, der ihn aufsucht. Gleichwohl wird der Film dadurch, dass er im Spektakel und als Repräsentation konkrete Gestalt gewinnt und indem er die ihm eige- ne Verzauberung spielen lässt, zu einer Kraft. Zu einer kathartischen Kraft, wohlverstanden: Die Anliegen, das Begehren, die Ängste, die er aufruft, entladen sich im Film und kommen dadurch zur Befriedigung. Zu einer mimetischen Kraft auch: Er provoziert Verhaltensweisen, Meinungen, Handlungen. Wie der Mythos tendiert der Film ebenso sehr zur Reinigung wie zur Aktualisierung. Das Problem besteht darin zu wissen, wie und in welchem Ausmaß Katharsis und Mimesis jeweils zum Tragen kommen. Das hängt natürlich von den Individuen ab, aus denen das Publikum besteht, vom Film selbst, seinen Inhalten und sei- ner Technik, vom Moment seiner Aufführung, von der Gruppe, die ihn aufnimmt. Gleichwohl scheint es, wenn man den westlichen Film und vor allem den amerikanischen Film betrachtet, als ob die mime- tischen Wirkungen des Kinos auf die Zuschauer den Rahmen sekun- därer Verhaltensweisen – d.h. das Imitieren von Manieren, Stilen des Auftretens, Redeweisen, Kleidern, Wohnungseinrichtungen – nicht sprengen würden. Keine Studie, und es hat solche Versuche gegeben, hat je nachweisen können, dass das Kino einen Einfluss auf die Delin- quenz oder die Kriminalität in einer Gesellschaft hat. Ebenso wenig ist je nachgewiesen worden, dass das Kino das allgemeine «Niveau der Moral» senken würde.2 Gleichwohl gibt es einen großen Bereich, in dem das Kino eine mimetische Wirkung entfaltet. Die Soziologie des Kinos wird beson- ders pittoresk, wenn sie sich diesem Bereich zuwendet (vgl. Thorp zit. in Blumer 1933; Mayer 1946; 1948). Von der Art und Weise eine Ziga- rette zu rauchen bis zur Wahl der Unterwäsche, auf dem Umweg über die Kunst, das Glas so zu erheben, dass man seiner Partnerin in die Au- gen schaut, die Spaziergänge, die man bevorzugt, die Sprache und die Gesten des Flirts und der Romance: Überall hinterlässt das Kino seinen 2 Vgl. die Kritik von Mortimer Adler (1937) an den Payne Fund Studies. Morin: Das Kino aus soziologischer Sicht 87 Stempel und prägt den Sitten seine ‹patterns› auf, und es standardisiert sie dadurch auch. Aber wir sehen schon, dass es nicht ausreicht, und sei es im Sinne einer Alternative oder Ergänzung, das Problem des Einflusses des Ki- nos in den Begriffen von Katharsis und Mimesis darzustellen. Vielmehr muss man den spezifischen Rollen Rechnung tragen, die das Holly- wood-Kino genau spielt wie auf seine Weise das sowjetische, das indi- sche oder das japanische Kino. So spielt Hollywood eine eigene Rolle innerhalb der amerikani- schen Gesellschaft und, darüber hinaus, in dem ganzen Universum, über das es seine Strahlkraft ausdehnt. Wenn es vor allem die Jugend- lichen sind, die der Film mit seinem doppelten Leitmotiv von Verbre- chen und Sexualität besonders stark anzieht, dann auch deshalb, weil es ihnen gegenüber eine formgebende Rolle spielt. Diese Rolle hängt nicht nur von der psychologischen Plastizität und einer Stufe der Persönlich- keitsentwicklung ab, sondern auch von der pubertären Krise, der Zeit des Übergangs und der Initiation in die Welt der Erwachsenen. Sie ist also auch eine para-initiatorische Rolle. Zahlreiche Studien weisen den Einfluss des Films auf das «love making» der jungen Leute nach, und wir können ohne Bedenken daraus schließen, dass der Film sie auch in die Riten einweiht, die der Anbahnung der Liebe dienen. Man kann sogar sagen, dass die erotische und romantische Schamlosigkeit des Hollywood-Films die puritanische Schamhaftigkeit der Gesellschaft ebenso aufwiegt wie die bis vor kurzem noch fehlende Wehrpflicht, und dass sie dazu tendiert – auf wie unvollständige Weise auch immer – das Fehlen sozialer Initiationsmechanismen zu kompensieren. Ebenfalls scheint der Gedanke berechtigt, dass das Kino mit dem Thema der Gefahr, des Todes und des Verbrechens auf ein tiefes ju- gendliches Begehren antwortet, sich durch Gefahr und Mordgelüste als Mann zu bewähren, dass es für diese Phantasien einen kathartischen Ersatz liefert. Eine weitere Rolle des Hollywood-Kinos ist diese: Hollywood hat über die ganze Erdkugel, die unter seinem Einfluss steht, nicht nur ein bestimmtes Ritual der Liebe ausgebreitet, sondern auch eine Kon- zeption der Liebe, welche die bereits vorhandenen ‹patterns› in Japan und in Asien auf den Kopf gestellt hat und möglicherweise zu einer Beschleunigung des Umbruchs der traditionellen Familienstrukturen beigetragen hat. Die romantic love, der Kuss auf den Mund und die ma- gischen Bedeutungen, die sich damit verknüpfen, die ‹Idealtypen› der Leinwand bilden die Speerspitze einer Bewegung der Universalisierung der Sitten nach dem Vorbild der amerikanischen Gesellschaft. Hier 88 montage AV 19 /2 / 2010 gäbe es noch viel zu sagen und zu erforschen, was die ‹zivilisatorische› Rolle des Kinos betrifft. Ebenso was eine Art von primärer Bildung betrifft, die es seinem Publikum verschafft. Wir verzichten darauf, die erzieherische Rolle des Kinos als «Volkshochschule der Leinwand» in Erinnerung zu rufen, das, wie immer wieder festgehalten wurde, eine Fülle von Informati- onen aller Art, von technischen über geografische, politische, histori- sche und literarische mit sich herumschleppt. Vielmehr wollten wir im Rahmen dieses Beitrags genau jene Distanz herstellen, die für eine Gesamtsicht des Films ebenso unabdingbar ist wie für die empirische Forschung. Es kommt schließlich darauf an, dass man nicht nur eine Distanz gewinnt, sondern auch einen Vorsprung. Das Kino, so wie wir es kennen, stellt nur eine Momentaufnahme der Kinematografie dar. Es entwickelt sich. Es wird sich auf erstaunliche Weise entwickeln. Das Fernsehen und die aktuellen Experimente, von Cinérama bis 3D, sind nur die Vorboten kommender Revolutionen und unvermuteter Um- brüche. Denn es geht hier um weit mehr als um eine frivole Unterhal- tung und einen müßigen Zeitvertreib. Das Kino bietet dem Menschen einen Widerschein seiner selbst und der Welt und wird das weiterhin tun. In dieser Widerspiegelung wird er stets aufs Neue den Traum und die Magie des Doppelgängers vorfinden und zugleich ohne Unterlass ein neues Bewusstsein daraus schöpfen. Aus dem Französischen von Vinzenz Hediger Literatur Adler, Mortimer (1937) Art and Prudence. A Study in Practical Philosophy. New York: Longmans, Green. Bächlin, Peter (1949) Der Film als Ware. Basel: Burg Verlag. Balázs, Béla (1930) Der Geist des Films. Halle: Willhelm Knapp. Blumer, Herber (1933) Movies and Conducts. New York: Macmillan. Handel, Leo (1949) Hollywood Looks at its Audience. Urbana: University of Il- linois Press. Kracauer, Siegfried (1979) Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films [engl. 1947]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Leites, Nathan / Wolfenstein, Martha (1950) Movies: A Psychological Study. Glencoe: University of Michigan Press. Mayer, Jacob P. 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Zum UNESCO ‹Tensions Project› gehört auch die Untersuchung der Vorstellungen, «die Menschen einer Nati- on von ihrer eigenen und von anderen Nationen hegen». Es liegt in der Tat nahe, dass internationale Verständigung in gewis- sem Umfang von der Art solcher Vorstellungen abhängig ist – vor al- lem dann, wenn sich diese in den Medien der Massenkommunikation durchsetzen. Unter diesen Medien ist der Film möglicherweise das prägendste. Wenn wir die Bilder typischer Vertreter anderer Nationen, wie sie in Filmen gezeigt werden, untersuchen wollen, ergeben sich direkt zwei große Forschungsbereiche. Wie repräsentieren Filme irgendei- ner Nation die jeweils eigene? Und: Wie stellen sie andere Nationen dar? Die erste dieser beiden Fragen, mit der sich gegenwärtig im- mer mehr Veröffentlichungen beschäftigen, kann hier zu Gunsten der zweiten übergangen werden, die für das UNESCO-Projekt bedeut- samer scheint. Es ist dies eine neue Frage, die in dieser allgemeinen * Dieser Text wurde erstmals im Frühjahr 1949 unter dem Titel «National Types as Hollywood Presents Them» im Public Opinion Quarterly veröffentlicht. Eine franzö- sische Übersetzung erschien ein Jahr später als «Les types nationaux vus par Holly- wood» in der Revue internationale de filmologie 6; auf Deutsch wurde der Text erstmals 1967 zugänglich. Die Auszüge, die wir hier präsentieren, stammen aus einer neuen Übersetzung, die vollständig im Band 2.2 (Studien zu Massenmedien und Propagan- da) der Kracauer-Werke-Ausgabe im Suhrkamp Verlag erscheinen wird. Für die Er- laubnis zum Vorabdruck danken wir den HerausgeberInnen dieses Bandes, Christian Fleck, Inka Mülder-Bach und Bernd Stiegler, sowie den Verantwortlichen des Ver- lags ganz herzlich. 92 montage AV 19 /2 / 2010 Form bislang nicht gestellt wurde. Sie geriet, mit einer ganzen Menge verwandter Fragen, erst jetzt in den Blick: in einer Zeit, in der eine Weltregierung möglich scheint und Weltbeherrschung eine reale Ge- fahr ist. Erst damit wurde das Ziel wechselseitiger Verständigung durch Wissen, bislang eher ein intellektuelles Vergnügen, zu einer für Demo- kratien lebenswichtigen Frage. Die folgende Studie beabsichtigt keineswegs, eine umfassende Ana- lyse der diversen Filmbilder zu geben, die die Völker weltweit von- einander gebildet haben und weiterhin bilden. Beabsichtigt ist eine Pilotstudie, also der Versuch, den Boden für eine solche Gesamtunter- suchung zu bereiten. Geschehen soll dies durch Untersuchung eines schmalen Ausschnitts aus dem Gesamtfeld: Es geht um Erscheinung und Auftreten englischer und russischer Charaktere in amerikanischen Spielfilmen seit etwa 1933. [...] Objektive und subjektive Faktoren im Bild anderer Völker Ob es um Individuen oder Völker geht, das Wissen voneinander wird sich von einem Zustand der Unkenntnis hin zu einem partnerschaft- lichen Verständnis entwickeln. Was durchschnittliche Amerikaner etwa von Japanern wissen, ist weit entfernt von den Motiven, die, wie Ruth Benedict jüngst herausgearbeitet hat, Haltungen und Verhaltenswei- sen von Japanern bestimmen. Ihre Studie (2006 [1946]) markiert einen Fortschritt an Objektivität und stellt uns vor die Forderung, die bekann- ten Vorstellungen und verbreiteten Vorurteile abzulegen, die in unsere standardisierten Bilder von diesem Volk eingegangen sind. Allgemein ge- sprochen: Jeder Wissenszuwachs dieser Art ist gleichbedeutend mit einer dichteren Annäherung an das Objekt, das wir durchdringen wollen. Diese Annäherung jedoch wird aus zwei Gründen stets asympto- tisch bleiben. Der eine Grund liegt im Objekt selbst begründet. Ein Individuum oder ein Volk ist kein fixiertes Wesen, sondern ein lebender Organismus, der sich entlang nicht vorhersagbarer Linien entwickelt – daher die Schwierigkeiten der Selbsterkenntnis. Wahr ist, dass die ei- nander ablösenden Bilder, die ein Volk von seinem eigenen Charakter schafft, in der Regel verlässlicher sind als solche, die es von fremden Völkern prägt. Doch sind auch jene weder vollständig noch definitiv. Ein zweites Hindernis, dieses Wissen zu vervollkommnen, das auf dem Weg dorthin von Bedeutung ist, liegt in uns selbst. Wir nehmen Kracauer: Nationalcharaktere 93 alle Objekte in einer Perspektive wahr, die uns von unserer Umgebung ebenso aufgeprägt wird wie von unverlierbaren Traditionen. Unsere Vorstellungen von einem Fremden reflektieren notwendig heimische Denkgewohnheiten. So sehr wir auch versuchen, diesen subjektiven Faktor einzudämmen – was wir im Interesse größerer Objektivität auch unbedingt tun müssen –, wir nehmen Andere von einer Position aus wahr, die ein für alle Mal die unsere ist. Jeder Versuch, mit dem Anderen zu verschmelzen, wäre für uns ebenso aussichtslos wie der, uns in einem Vakuum anzusiedeln. Jedes Bild, das wir uns von einem Individuum oder einem Volk machen, ist das Resultat eines objektiven und eines subjektiven Fak- tors. Der erste kann nicht ins Unendliche wachsen, ebenso wenig lässt sich letzterer vollständig ausschalten. Worauf es also ankommt, ist das Verhältnis zwischen beiden Faktoren. Ob unser Bild eines fremden Volkes sich wirklicher Ähnlichkeit nähert oder nur als Vehikel unse- res Selbstausdrucks dient; ob es eher ein Porträt ist als eine Projektion, hängt davon ab, inwieweit wir in unserer Suche nach Objektivität un- sere naive Subjektivität überwinden. Medieneinflüsse auf das Verhältnis Subjektivität-Objektivität Das Verhältnis von subjektivem und objektivem Faktor variiert je nach dem jeweiligen Medium der Kommunikation. Es liegt auf der Hand, dass Objektivität im Medium des gedruckten Worts am größten sein kann. Auch im Radio spielt objektive Information eine beträchtliche Rolle, selbst wenn dies durch verschiedene Restriktionen beeinträch- tigt sein kann, die zumeist in der Natur dieses Massenmediums lie- gen. Doch trotz all seiner Begrenzungen registriert das Radio jeden bedeutsamen Zuwachs an Wissen. So bezweifele ich nicht, dass die Entwicklung der modernen (Sozial-)Anthropologie – wie sie sich aus den Notwendigkeiten psychologischer Kriegsführung und dem Enga- gement dieses Landes in internationalen Angelegenheiten ergibt – mit ein Grund dafür ist, dass in jüngster Zeit Radiosendungen entwickelt wurden, die von den Lebensverhältnissen in anderen Ländern berich- ten und sich dabei insbesondere auf «Charakter und Ideale des russi- schen Volkes» konzentriert haben.1 1 You and the Russians: A series of five Programs presented on the Columbia Radio System. Eine Broschüre des CBS. Die Sendungen liefen im November 1947. 94 montage AV 19 /2 / 2010 Wie aber verhält es sich mit dem Film? Hollywoods Spielfilme sind kommerzielle Produkte, die für den Massenkonsum im Inland und, wenn möglich, auch im Ausland geschaffen werden. Welche Folgen dieses alles regierende Prinzip hat, ist offensichtlich: Hollywood muss versuchen, die Massen zu faszinieren, ohne dabei seine Verbindun- gen zur Finanzwelt und zu maßgeblichen Interessengruppen zu ge- fährden. Es muss, mit Blick auf die hohen Produktionskosten, stritti- ge Gegenstände meiden, wenn der Kassenerfolg nicht ausbleiben soll. Dafür, was dieses «Muss» für die Darstellung von Ausländern bedeu- tet, liefert der Misserfolg, den All Quiet on the Western Front (Im Westen nichts Neues, Lewis Milestion, USA 1930), der Film nach Remarques Roman, erlitt, ein klassisches Beispiel: Nach nur wenigen Vorstellungen in Berlin im Dezember 1930 musste er abgesetzt wer- den. Der Film, der die Anti-Kriegs-Stimmung deutscher Soldaten im jahrelangen Grabenkrieg zum Gegenstand hat, reizte die Nationalso- zialisten zu gewalttätigen Demonstrationen, woraufhin die deutsche Regierung weitere Vorstellungen verboten hat (vgl. Kracauer 1984 [1947]). Ähnliche Erfahrungen, die kurz vor dem Zweiten Weltkrieg mit gemäßigt antifaschistischen Filmen in neutralen Ländern gemacht wurden, haben die traurige Wahrheit bestätigt, dass ausländische Völker ebenso empfindlich sind wie inländische Gruppen in der Geschäfts- welt und anderswo. Die Filmindustrie schreckt darum davor zurück, «Charaktere oder Situationen in einer Weise zu zeigen, die in ihren aktuellen Auslandsmärkten verletzend wirken können: Warum eine Quelle des Profits aufs Spiel setzen?» (Dobb 1948, 507). So steht Hollywood vor der Aufgabe, Filme zu produzieren, die für die Massen attraktiv sind, insbesondere für amerikanische Massen. Wie es sich dieser Aufgabe stellt, ist eine schon seit langem kontrovers dis- kutierte Frage. Viele behaupten, Hollywood sei, gestützt auf die den Studios angeschlossenen Kinoketten, in der Lage, Filme zu verkaufen, die den Massen das nicht gäben, was diese wirklich wollten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, sieht es so aus, als verkauften Hollywoodfilme das Publikum in der Regel für dumm und verführten es. Die eigene Indolenz und ein riesiger Werbeaufwand bringe es dazu, solche Fil- me zu akzeptieren. Ich glaube nicht, dass sich ein solcher Standpunkt halten lässt. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass nicht einmal totalitäre Regimes die öffentliche Meinung unendlich manipulieren können. Und was für diese gilt, gilt umso mehr für eine Industrie, die trotz monopolistischer Tendenzen immer noch in einer durch Wettbewerb bestimmten Gesellschaft operieren muss. Ihr Profitinteresse zwingt die Filmindustrie, die aktuellen Trends im Massengeschmack aufzuspü- Kracauer: Nationalcharaktere 95 ren und ihre Produkte diesen anzupassen. Dass diese Notwendigkeit der Industrie Raum für kulturelle Initiativen lässt, ändert die Situation nicht. Natürlich bekommt das amerikanische Publikum das, was Hol- lywood wünscht, dass es sich wünschen soll. Auf lange Sicht jedoch bestimmen Publikumswünsche, ob sie nun ausdrücklich sind oder im Untergrund schlummern, den Charakter der Hollywoodfilme (vgl. Kracauer 1984 [1947], 9-18). Das Publikum bestimmt auch, auf welche Weise diese Filme Aus- länder zeichnen. In jedem dieser Bilder ist der subjektive Faktor mehr oder weniger identisch mit den Vorstellungen, die in der öffentlichen Meinung in Amerika über das dargestellte Volk vorhanden sind. Inso- fern wäre es ziemlich ungeschickt, eine Nation, die bei Durchschnitts- amerikanern beliebt ist, unvorteilhaft zu zeigen; ebenso wenig ist wohl zu erwarten, dass aktuell unbeliebte Nationen mit billigender Nach- sicht behandelt würden. Entsprechend werden Filmkampagnen für oder gegen eine Nation wahrscheinlich nur dann gestartet, wenn sie bereits vorhandene, starke Stimmungen nutzen können. Dass es solchen Stimmungen nachgibt, muss Hollywood jedoch nicht daran hindern, Informationen über fremde Völker anzubieten. Es ist sicher richtig, dass wir andere Völker normalerweise deshalb ver- stehen wollen, weil wir ein Interesse an wechselseitigem Verständnis haben. Doch können auch Angst oder Misstrauen, die wir einem Volk entgegenbringen, starke Gründe dafür sein, die Motive hinter dessen Zielen verstehen zu wollen. Der Wunsch nach Wissen, ein wesent- lich unabhängiger innerer Antrieb, lebt aus Sympathie und Antipathie. In welchem Maß nun befriedigen Hollywood-Filme diesen Wunsch? Oder, genauer gefragt: In welchem Verhältnis stehen subjektive und objektive Faktoren in amerikanischen Filmbildern von Ausländern? Und weiter: Ist dieses Verhältnis bislang konstant oder können wir mit Gründen annehmen, dass, zum Beispiel, die Bilder aus dem Jahr 1948 jene von 1933 an Objektivität übertreffen? Hollywoods Einschätzung seines Publikums Ohne damit Antworten vorwegzunehmen, möchte ich ein Prinzip formulieren, das ich aus dem übermächtigen Profitmotiv ableite. Ob und wie Hollywood diese oder jene Informationen präsentiert oder nicht, hängt davon ab, wie man die Reaktion der großen Masse der Kinogänger auf deren Verbreitung durch einen Spielfilm einschätzt. In diesem Zusammenhang scheint mir bedeutsam, dass die Filmindustrie von sich selbst als einer Unterhaltungsindustrie spricht – ein Begriff, 96 montage AV 19 /2 / 2010 der, was immer sonst er an Konnotationen mit sich führt, an Filme bestimmt nicht zuerst in ihrer Funktion als Träger von Wissen denken lässt. Weit verbreitet ist die Tendenz, filmische Unterhaltung nicht nur mit Entspannung gleichzusetzen, sondern auch alles Informative als unerwünschtes Beiwerk zu begreifen. Das Unterhaltungsrezept, dem Preston Sturges schon 1941 in seinem ambitionierten Film Sullivan’s Travels folgte, beruht auf der Überzeugung, dass Menschen, die ins Kino gehen, Entspannung suchen; und das wiederum unterstellt, dass das Bedürfnis nach Entspannung und die Suche nach Wissen einan- der eher widersprechen, als dass sie sich beförderten. Für alle solche Rezepte gilt, dass sie das geistige Klima charakterisieren, ohne jedoch wirklich verbindlich zu sein. Viele Vorkriegsfilme haben sich über das übliche Hollywoodmuster hinweggesetzt und unser Verständnis der Welt vertieft. Erst seit Ende des Kriegs haben die ideologischen Konventionen eine Veränderung durchlaufen, und auch dieser Wandel muss zurück- verfolgt werden auf die Stimmung der Massen. Offensichtlich angeregt durch das allgemeine Bedürfnis nach Aufklärung, das sich infolge des Kriegs entwickelte, befürworten Sprecher der Branche Filme, die Un- terhaltung und Information verbinden. Filme, sagt etwa Jack L. War- ner (1946), «sind Unterhaltung – aber sie sind auch mehr als das». Und er prägt den Terminus «ehrliche Unterhaltung», um den Eindruck zu vermitteln, Hollywood kämpfe für die Wahrheit, für Demokratie, für internationale Verständigung und so weiter. Diese Auffassung vertritt auch Eric Johnston, der Präsident der Motion Picture Association, mit seiner ganzen Autorität. Unter der Überschrift Das Recht auf Wissen erklärt er, und bezieht sich dabei auf Spielfilme ebenso wie auf Do- kumentarfilme: «Als Mittel zur Beförderung des Wissens und des Ver- ständnisses unter den Völkern steht der Film an der Schwelle seiner epochalen Verbreitung».2 Ob der amerikanische Film diese Schwelle bereits passiert hat oder nicht, wird man sehen. In der inneramerikanischen Szene ist das wohl geschehen – zumindest bis zu einem bestimmten Punkt und zeitweilig. Filme wie The Best Years of Our Lives (William Wyler, USA 1946), Boomerang (Elia Kazan, USA 1947) und Gentleman’s Agreements (Elia Kazan, USA 1947) klagen soziale Missstände an und zeigen dabei eine progressive Haltung, die den Kriegserfahrungen zweifellos eine Menge verdankt (vgl. Kracauer 2004 [1948]). Sie laufen noch immer 2 Motion Picture Letter 5,6 (Juni 1946), hg. v. Public Information Committee of the Motion Picture Industry. Kracauer: Nationalcharaktere 97 vor vollen Häusern, allerdings hat politischer Druck die Branche in- zwischen dazu gebracht, diesen Weg wieder zu verlassen. Wird Holly- wood zu seinen alten Rezepten zurückkehren? Derzeit können wir das nur gespannt abwarten. Das Element der Zeit Die ausländischen Völker, die in amerikanischen Filmen zu sehen sind, erscheinen dort nicht kontinuierlich in Filmen über deren jeweils ak- tuelles Alltagsleben. Engländer wurden in einer ganzen Anzahl von Vorkriegsfilmen vorgestellt, die dicht aufeinander folgten – darunter der bereits er- wähnte Cavalcade (Frank Lloyd, USA 1933), Of Human Bondage (John Cromwell, USA 1934), Ruggles of Red Gap (Leo McCarey, USA 1935), Angel (Ernst Lubitsch, USA 1937), Lost Horizon (Frank Capra, USA 1937), A Yank at Oxford (Jack Conway, GB 1938), The Citadel (King Vidor, GB 1938), The Sun Never Sets (Rowland V. Lee, USA 1939), We Are Not Alone (Edmund Goulding, USA 1939), Rebecca (Alfred Hitchcock, USA 1940), Foreign Correspondent (Alfred Hitchcock, USA 1940) und How Green Was My Valley (John Ford, USA 1941). Und kaum waren die Vereinigten Staaten in den Krieg eingetreten, wurden Filme häufiger, die sich mit England und den Engländern beschäftigten, wie sich an Mrs. Miniver (Wil- liam Wyler, USA 1942), The Pied Piper (Irving Pichel, USA 1942), Journey for Margret (W.S. Van Dyke, USA1942), The White Cliffs of Dover (Clarence Brown 1944) und anderen zeigt. Direkt nach dem Krieg verebbte diese Welle. So weit ich sehe, ist die englische Nachkriegsgeneration in den Filmen nicht präsent, mit Ausnahme von The Paradine Case (Alfred Hitchcock, USA 1948), einer Mordgeschichte, die sich allerdings überhaupt nicht auf Aktu- elles bezieht, und des international ausgerichteten Melodrams Berlin Express (Jacques Tourneur, USA), der erst 1948 in die Kinos kam. Zwischen 1945 und 1948 tat sich eine Lücke auf, in der ausschließlich Filme zu sehen waren, die in der Vergangenheit spielen – Lubitschs Cluny Brown (Ernst Lubitsch, USA1946), der vornehme und we- niger vornehme Sitten der Vorkriegszeit ironisierte; So Well Remem- bered (Edward Dmytryk, GB 1947), eine sozialkritische Chronik des Kleinstadtlebens zwischen den Kriegen; Ivy (Sam Wood, USA 1947); Moss Rose (Gregory Ratoff, USA 1947) und So Evil My Love (Le- wis Allen USA/GB 1948). Die drei letztgenannten waren Kriminal- thriller, die im England der Jahrhundertwende oder noch früher spie- 98 montage AV 19 /2 / 2010 len. Nun mögen drei Jahre keine lange Zeit sein, dennoch erscheint das fortgesetzte Desinteresse an der Gegenwart ein wenig seltsam. Während der 1930er Jahre waren weniger Zeitgenossen aus Russ- land zu sehen als solche aus England, sie wurden allerdings auch nicht völlig vernachlässigt. Ninotchka (Ernst Lubitsch, USA 1939) habe ich bereits erwähnt, andere Filme aus dieser Zeit sind Tovarich (Anatole Litvak, USA 1937) und Comrade X (King Vidor, USA 1940). Wäh- rend des Krieges, nachdem Stalin sich den Alliierten angeschlossen hatte, erlaubte Hollywood niemandem, seine Studios mit enthusias- tischen Geschichten von russischem Heldentum zu übertreffen. Zwi- schen 1943 und 1944, mit Filmen wie Mission to Moscow (Michael Curtiz, USA 1943), Miss V. from Moscow (Albert Herman, USA 1942), The North Star (Lewis Milestone, USA 1943), Three Russian Girls (Henry S. Kesler & Fyodor Otsep, USA 1943), Songs of Rus- sia (Gregory Ratoff, USA 1944), erreichte eine regelrechte Welle pro- russischer Filme die Kinos. Dann, und nicht anders als im Falle Englands, verschwanden die Russen für drei Jahre. Ihr Verschwinden war sogar noch vollständiger als das der Engländer, denn ich weiß von nicht einem halbwegs bedeu- tenden Film, der nach A Royal Scandal (USA 1945) gezeigt wurde, allerdings befasst sich diese von Lubitsch inszenierte Wiederbelebung von Katharina der Großen mit der russischen Vergangenheit. Natür- lich übergehe ich damit das Motiv des «verrückten Russen», der in The Specter of the Rose (Ben Hecht, USA 1946) wieder auferstand und der ein vom amerikanischen Kinopublikum favorisiertes Stereo- typ darstellt – in der Regel handelt es sich um einen in Russland ge- borenen Künstler, der im Westen Schutz gesucht hat. Allerdings sind diese Figuren ihrer Heimat bereits so entfremdet, dass sie nicht als So- wjetbürger wahrzunehmen waren. Keine Frage, auch in der Vorkriegs- zeit waren Russen selten auf der Leinwand zu sehen, damals allerdings tauchten sie auch in anderen Medien nicht auf. Denn das eigentlich Erstaunliche daran, dass Sowjetrussland in Filmen der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht vorkommt, ist, dass es in Reden und Printmedien nahezu allgegenwärtig ist. Dieser verbreiteten Obsession schenkte zwi- schen 1945 und 1948 offenbar nur der Film keine Aufmerksamkeit. Doch auch darin, dass es die Russen ignorierte, verhielt sich Holly- wood seinen Mustern entsprechend. Das belegt sein ebenso verdächti- ges Schweigen über den Nationalsozialismus in den Jahren nach 1939. Zwar hatte Deutschland auch vor 1933 in amerikanischen Filmen kei- ne bemerkenswerte Rolle gespielt. Doch genau in den kritischen Jah- ren von 1930 bis 1934 richteten zwei A-Filme den Scheinwerfer dort- Kracauer: Nationalcharaktere 99 hin: All Quiet on the Western Front und Little Man, what now? (Frank Borzage, USA 1934), die Adaption von Hans Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? (1932), der von der Arbeitslosigkeit in den Jahren vor Hitler handelt. Hollywood wurde, so scheint es, nun doch ein wenig aufmerksamer für die deutschen Verhältnisse. Und was folgte darauf? In den folgenden Jahren war Hitler überall Thema, nur nicht auf der Leinwand. Wenn ich mich nicht irre, erschienen in dieser Zeit nur zwei Filme, in denen Deutsche auftauchen: The Road Back (James Whale, USA 1937) und Three Comrades (Frank Borzage, USA 1938), beide nach Romanen von Remarque, dessen Name Geschäfte ver- sprach; beide Filme spielten in der frühen Weimarer Republik, wobei diese, als die Filme in den Kinos liefen, längst tot und begraben war. Zeiten, in denen Schweigen klug erscheint Dieser zeitweise Rückzug von bestimmten Völkern lässt sich nur durch Faktoren erklären, die mit der Kommerzialität der Filmpro- duktion zusammenhängen. Bezeichnenderweise provozierten Vor- kriegsdeutschland und Nachkriegsrussland in den Vereinigten Staaten leidenschaftliche Kontroversen. Vor dem Krieg war das Land gespal- ten in Isolationisten und Interventionalisten; direkt nach dem Krieg entbrannten heiße Debatten darüber, ob die Vereinigten Staaten dem Kreml gegenüber eine harte oder eher eine nachgiebige Linie verfol- gen sollten. Ich glaube, diese Spaltung der öffentlichen Meinung ist der Grund für das ausweichende Verhalten Hollywoods. Die Filmindust- rie ist, wie ich bereits gesagt habe, hinsichtlich ökonomischer Risiken derart sensibel, dass sie geradezu automatisch vor allem zurückschreckt, was kontrovers ist. Deutschland und Russland waren als «heißer Stoff» tabuisiert; und heiße Themen blieben sie solange, wie sich jedermann an den Debatten beteiligte und eine definitive Beilegung dieses lan- desweiten Meinungskampfs nicht in Sicht war. Nicht obwohl sie die Geister beschäftigten, sondern genau deswegen verschwanden die bei- den Länder aus den Filmen. Eine damit vergleichbare Kontroverse über die angloamerikani- schen Beziehungen hat es nicht gegeben. Warum aber sind dann in Hollywoodfilmen nur so wenige Nachkriegs-Engländer zu sehen? Bedenkt man, welchen Einfluss die Massen mit ihren Ansichten und Einstellungen ausüben, könnte diese Seltenheit damit zusammenhän- gen, dass unter Amerikanern ein gewisses Unbehagen gegenüber der Labour-Regierung in London herrscht. Diese Unruhe ist verständlich, denn was derzeit in England vorgeht, stellt eine Herausforderung des 100 montage AV 19 /2 / 2010 amerikanischen Glaubens an freies Unternehmertum und seine be- sonderen Vorzüge dar. Jede Debatte über englische Angelegenheiten könnte sehr leicht einen Streit über Vorzüge und Nachteile des ame- rican way of life auslösen. Und wenn es zu einer solchen Kontroverse kommt, kann man nie wissen, wohin sie führen wird. Das Thema ist ziemlich heikel und verwickelt, und ich unterstelle, dass Hollywoods Produzenten derzeit die lebenden Engländer aus eben diesen Grün- den, vielleicht sogar ohne bewusste Entscheidungen, zugunsten ihrer weniger problematischen Vorgänger vernachlässigen.3 … und Zeiten, seine Meinung zu sagen Ganz unvermittelt können solche Zeiten des Schweigens enden, und aus mimosenhafter Scheu wird ungenierte Deutlichkeit. In der Vor- kriegszeit haben die Jahre 1938/39 eine solche Wende gebracht. In dem Augenblick, in dem die Krise in Europa ihren Höhepunkt er- reichte, nahm der amerikanische Film die Achsenmächte und deren Überzeugungen zum ersten Mal zur Kenntnis. Blockade (William Dieterle, USA 1938), eine Produktion von Walter Wanger, löste den Trend aus. Der Film prangerte das mitleidlose Bombardement spani- scher Städte während des Bürgerkriegs an, sympathisierte dabei mit den Loyalisten, was allerdings nicht ausdrücklich geschah; auch der Name Francos als der des eigentlichen Schurken wurde nicht genannt. Bald jedoch gab Hollywood dieses Zögern auf. Offen brandmarkte The Confessions of a Nazi Spy (Anatole Litvak, USA 1939), eine realistische Darstellung von nationalsozialistischen Aktivitäten in den Vereinigten Staaten, Hitlerdeutschland und alles, wofür es stand. Dann begann der Krieg, und Anti-Nazifilme, meist weniger realistisch als gut gemeint, wucherten üppig. Während der schicksalhaften Jahre 1938/39 meldeten sich auch Filmindustrien anderer Länder. In Frankreich entstand La grande illu- sion (Jean Renoir, F 1937; 1938 als Grand Illusion in amerikanischen Kinos), eine im Geist des Pazifismus erzählte Geschichte aus dem Ers- ten Weltkrieg, und Double crime sur la Ligne Maginot (Félix Gan- déra, F 1937; 1939 als Double Crime in the Maginot Line in ame- rikanischen Kinos), in dem die deutschen Charaktere nicht eindeutig 3 Direktere Gründe für dieses Verhalten Hollywoods könnten auch im «kalten Krieg» zwischen der amerikanischen und der britischen Filmindustrie zu finden sein, eben- so in den derzeit düsteren Aspekten des Lebens in England, das wenig attraktiv ist für Filme, die vom Glamour leben. Doch welches Gewicht solche Gründe haben, ist auch abhängig vom atmosphärischen Druck der politischen Szene. Kracauer: Nationalcharaktere 101 gezeichnet sind. Auch wenn beide Filme davor zurückschreckten, NS- Deutschland beim Namen zu nennen, beschworen sie doch dessen rie- sigen Schatten herauf. Ein ähnliches Mittel nutzte Eisenstein: in seinem Film Aleksandr Nevskiy (Sergei Eisenstein, UdSSR 1938, der 1939 als Alexander Nevski in amerikanischen Kinos lief). Die Darstellung, die er der Niederlage der Deutschritter gegen das Russland des drei- zehnten Jahrhunderts gibt, ist Eisensteins – und mit ihm Stalins – War- nung an Hitler, das alte Spiel nicht noch einmal zu spielen. Kurz nach dem Kinostart von Blockade unterstrich John C. Flinn, ein Korrespondent von Variety, wie aufmerksam Hollywood die Ent- wicklung verfolgte, die dieser Film nach sich zog: «Angesichts des finanziellen Erfolgs gaben einige der großen Studios ihre bis dahin zögernde Haltung zu Storys auf, die sich mit Themen befassten, die in- ternational, ökonomisch wie politisch, kontrovers waren» (1938). Mit seiner Feststellung beleuchtet der Kenner der Szene die Motive, die die Filmindustrie zum Handeln trieben. Trotz der Proteste gewisser katholischer Gruppen war Blockade ein Kassenerfolg. Selbst wenn Hollywood auch schon vor diesem Film geneigt gewesen sein moch- te, Anti-NS-Filme zu produzieren, realisiert wurden sie erst, als man sich sicher sein konnte, dass sie auch landesweit akzeptiert würden. Das Auftreten von Nationalsozialisten auf der Leinwand war verknüpft mit einer Veränderung in der öffentlichen Meinung in den Vereinigten Staaten. Solche Filme erschienen nach den Debakeln in Spanien und Österreich, als die Zeit schwankender Debatten praktisch vorüber war. Weiterhin gab es natürlich isolationistische Tendenzen, doch das ganze Land kochte vor Empörung über die Nationalsozialisten, und eigent- lich zweifelte niemand mehr daran, dass die Welt Hitler und seine Ver- bündeten eines Tages würde stoppen müssen. Weil diese Überzeugung auch in England, Frankreich und anderswo vorherrschte, ging Holly- wood kein großes Risiko ein: Es gab Gefühlen Ausdruck, die univer- sell verbreitet waren. Was 1939 geschah, wiederholte sich 1948. Drei, vier Jahre war es still um die Russen gewesen. Und nun beginnen sie – ebenso unver- mittelt wie die Deutschen zuvor – wieder in amerikanische Filme zu- rückzukehren. Die Parallelen zwischen The Iron Curtain (William A. Wellman, USA), der ab Mai 1948 in den Vereinigten Staaten lief, und The Confessions of a Nazi Spy sind nicht zu übersehen. Wie die- ser ist auch der neue Film ein Spionagethriller – eine Filmerzählung der Ereignisse, die 1946 zur Enttarnung eines von Russland gelenk- ten Spionagerings in Kanada führten. Beide Filme basieren auf Dreh- büchern des gleichen Autors (Milton Krims), beide sind sie im Do- 102 montage AV 19 /2 / 2010 kumentarstil erzählt. Sollten diese Ähnlichkeiten, wie ich glaube, ein Zeichen analoger Zeitumstände sein, dann wäre The Iron Curtain mit seiner ausgesprochenen Feindseligkeit gegen das Sowjetregime ein Symptom dafür, dass die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staa- ten das Stadium der Kontroverse verlassen hat und nun zu einer ent- schiedenen Haltung gegen Russland neigt. […] Aus dem Englischen von Klaus Binder Literatur Benedict, Ruth (2006) Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur [engl. 1946]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dobb, Leonard W. (1948) Public Opinion and Propaganda. New York: Henry Holt. Flinn, John C. (1938) Film Industry Watching Blockade as B.O. Cue on pro- vocative Themes. In: Variety, v. 22. Juni 1938. Kracauer, Siegfried (1984) Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films [engl. 1947]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (2004) Filme mit einer Botschaft [engl. 1948]. In: Ders.: Kleine Schriften zum Filme (Werke Bd. 6.3). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 405-418. Warner, Jack L. (1946) What Hollywood Isn’t [Reklame-Blatt]. Hg. v. Holly- wood Citizen News and Advertizer. Falsche Freunde: Kracauer und die Filmologie* Leonardo Quaresima 1. Es steht außer Zweifel, dass sich die Kracauer-Forschung in Frankreich heute in voller Blüte befindet. Hier erschien 1994 eine der wichtigs- ten Monografien über den Autor, von der mittlerweile bereits eine Neuausgabe auf dem Markt ist (Traverso 2006). Zahlreiche, für fran- zösischsprachige Leser zuvor unzugängliche Texte liegen inzwischen in Übersetzung vor, und eine Reihe wichtiger Kongresse (mit den daraus hervorgegangenen Veröffentlichungen) haben eine Debatte an- gestoßen, die breiten Widerhall fand.1 Die Beziehung Kracauers zu Frankreich – wo er nach seiner Flucht aus Deutschland die wichti- ge Lebensphase von März 1933 bis Februar 1941 (mit dramatischen Entwicklungen während der letzten Monate) verbrachte – wird in einer Studie der Germanistin Claudia Krebs (1998) zum Gegenstand einer sorgfältigen Analyse. Dieses seither anhaltende Interesse ent- wickelte sich allerdings mit einiger Verspätung, im Vergleich zur Wie- derentdeckung Kracauers in anderen Ländern, die sich vor allem der großen Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv Marbach anlässlich seines hundertsten Geburtstags verdankte. Die Hinwendung zu Kra- cauer vollzog sich in Frankreich langsam, und unabhängig davon har- * Ursprünglich «De faux amis: Kracauer et la filmologie» in Cinémas 19, 2-3 (2009), S. 333-358. 1 Vgl. Perivolaropoulou/Despoix 2001; Despoix/Schöttler 2006. Nia Perivolaropou- lou und Philippe Despoix haben für die Wiederentdeckung Kracauers in Frankreich eine zentrale Rolle gespielt. [Seit der Erstveröffentlichung dieses Artikels erschien eine weitere wichtige Monografie: Olivier Agard, Kracauer: Le chiffonier mélancolique (Paris: CNRS Éditions, 2010); Anm.d.Ü.] 104 montage AV 19 /2 / 2010 ren noch immer einige Werke der Übersetzung. Dessen ungeachtet ist Kracauer inzwischen in der französischen Kultur zu einem Bezugs- punkt geworden.2 Paradoxerweise bleibt trotz der eifrigen Übersetzungstätigkeit und der vielen Untersuchungen gerade der Filmtheoretiker Kracauer weit- gehend unbeachtet; so gab es bis 2009 keine französische Ausgabe sei- ner Theory of Film (1960).* Auch ist nur ein geringer Teil seiner Ak- tivität als Filmkritiker in den Jahren zwischen 1921 und 1933, dem «goldenen Zeitalter» des Kinos der Weimarer Republik, bekannt. In der kritischen Auseinandersetzung mit seinem Werk sind Beiträge, die sich mit dem Denken Kracauers auf diesem Feld beschäftigen, in der Minderzahl. Sein 1947 veröffentlichtes Buch From Caligari to Hitler wurde in nahezu totales Schweigen gehüllt.3 Verweise auf Kracauer in filmwissenschaftlichen Debatten sind überaus selten. Dies alles er- scheint umso widersprüchlicher angesichts der Tatsache, dass Kracau- ers Beschäftigung mit dem Film auch nach seinem Exil in Frankreich nicht nur unvermindert anhält, sondern der Keim späterer Arbeiten gerade aus jener Zeit stammt (so die Projekte zu From Caligari to Hit- ler und Theory of Film). Seine Tätigkeit als Kritiker dehnt sich auch auf den französischen Film aus, mit Beiträgen zu zeitgenössischen Filmen von Marcel Carné, Jean Renoir, Sacha Guitry, Marcel Pagnol, Marcel L’Herbier oder Marc Allégret.4 Doch all dies bleibt selbst im Buch von Claudia Krebs ungesagt. Damit erschöpft sich die Beziehung zwischen dem Filmtheoretiker und -historiker und Frankreich jedoch nicht, denn andererseits wur- de gerade dort sehr früh ein erster Auszug aus From Caligari to Hitler in Europa zugänglich gemacht, dem Werk, das die ersten Jahre seiner Forschungen in Amerika zusammenfasst und das den Ruf sowie das Bild der Persönlichkeit des Autors in der Nachkriegszeit begründete. Die Einleitung des Buchs, also dessen wohl wichtigster, aber in theore- tischer wie methodologischer Hinsicht auch umstrittenster Teil – der, wie wir sehen werden, von den Ausführungen in den Analysen ab- weicht und sie verformt – erscheint 1948, nur wenige Monate nach der amerikanischen Erstveröffentlichung, in der gerade gegründeten Revue internationale de filmologie (RIF) (Kracauer 1948). Die Zeitschrift 2 Vgl. z. B. Füzesséry und Simay 2008. * [Anm.d.Ü.:] Erst im Januar 2010 ist die Übersetzung bei Flammarion erschienen. 3 Die französische Übersetzung De Caligari à Hitler erschien 1973 im Verlag L’Âge de l’Homme, Lausanne. 4 Diese Texte erschienen vor allem in der Neuen Zürcher Zeitung sowie der Basler National-Zeitung. Quaresima: Kracauer und die Filmologie 105 wird von dem ein Jahr zuvor eingerichteten Centre de filmologie heraus- gegeben, das die Entwicklung der wissenschaftlichen Auseinanderset- zung mit dem Film in Frankreich nachhaltig prägt und zur Entstehung einer autonomen Disziplin führt, der Filmologie, die 1948 mit der Er- richtung des Institut de filmologie auch an der Universität Einzug hält. Die Grundlagen von Kracauers Untersuchung sind somit sehr schnell der filmwissenschaftlichen und kulturellen Diskussion in Frankreich zugänglich, auch wenn dies auf den ersten Blick eher zu- fällig erscheinen mag und auf einem Wege stattfindet, der die Wir- kung seiner Überlegungen in der Folge beeinflusst. Dennoch handelt es sich hier um das nahezu logische Aufeinandertreffen der «Methode» des Forschers mit den Zielen der Filmologie. Ihre weitere Verbreitung ist damit zunächst an die Fähigkeit der neuen Bewegung gebunden, eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Reflexion über das Kino sowie die Entstehung neuer theoretischer und methodologischer Modelle zu spielen, von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis weit in die 1950er Jahre. Diese Geschichte ist sowohl bei jenen, die sich mit der Filmologie beschäftigen, als auch in der Kracauer-Forschung weit- gehend unbekannt. Es lohnt indes, sich mit ihr zu befassen. 2. Beginnen wir mit den Tatsachen. Die RIF veröffentlicht die Einlei- tung zu From Caligari to Hitler und später den Aufsatz «National Types as Hollywood Presents Them» («Les types nationaux vus par Holly- wood», Kracauer 1950). Dieser Aufsatz ist das Resultat einer im Auftrag der UNESCO ausgeführten Untersuchung und erscheint zunächst als Sonderdruck, dann in der Zeitschrift Public Opinion Quarterly (Kra- cauer 1949; Kracauer 2010 [1949]). Die Einleitung zu From Caligari to Hitler ist Teil des Hefts der RIF, das im Anschluss an den ersten filmo- logischen Kongress herauskommt; sie spielt eine paradigmatische und richtunggebende Rolle im Zusammenhang der soziologischen Orien- tierung der neuen Disziplin. Der Artikel zu den Nationalcharakteren eröffnet die Nummer 6 der RIF. So nehmen Kracauers Beiträge in beiden Fällen eine herausgehobene Stellung in der Zeitschrift ein. In der Folge wird Kracauer eingeladen, am zweiten internationa- len filmologischen Kongress, der 1955 stattfindet, teilzunehmen,5 und 1961 hält er im Rahmen des ersten internationalen Kongresses zur vi- 5 Vgl. den Brief Kracauers an Mario Roques vom 27. November 1954 im Nachlass (Deutsches Literaturarchiv, Marbach a. N., Dok. Nr. 72.1731). 106 montage AV 19 /2 / 2010 suellen Information in Mailand einen Vortrag. Sein Beitrag trägt den Titel seines neuen Buchs, Theory of Film: The Redemption of Physical Re- ality. Das einleitende Kapitel dieser Studie hat er bereits 1952 bei der RIF eingereicht, allerdings ohne Erfolg.6 Schließlich erhält er noch eine Einladung von Edgar Morin, auf dem 5. Weltkongress der So- ziologie in Washington 1962 einen Rapport zu präsentieren.7 Doch obwohl die «Begegnung» Kracauers mit Morin einen der wichtigsten Momente in seiner Beziehung zum Institut de filmologie darstellt (wir kommen hierauf noch zurück), ergeht diese Einladung unabhängig vom Institut. In der Tat sind Kracauers Beziehungen zur Filmologie eher pro- blematisch und widersprüchlich. Sein Interesse an der Unternehmung Cohen-Séats belegen die Beiträge in der Institutszeitschrift – auch wenn nicht bekannt ist, von wem die Initiative ursprünglich ausging: Später wurde er jedenfalls selbst aktiv, wie sein oben erwähnter er- folgloser Versuch zeigt. Kracauers Interesse wird bestätigt durch seine Wertschätzung für die RIF und vor allem durch die zahlreichen Hin- weise auf dort erschienene Artikel sowie auf Cohen-Séats grundlegen- des Werk Essai sur les principes d’une philosophie du cinéma (1946) in sei- ner Theory of Film.8 Kracauer interessiert sich für Cohen-Séat, weil der dem Film eine besondere Beziehung zu den Dingen zuschreibt (Kra- cauer 1964, 76); auch setzt er sich ausführlich (und kritisch) mit der Überzeugung Souriaus (1952) auseinander, derzufolge dem Kino die expressiven Möglichkeiten der Literatur nicht zugänglich seien (Kra- cauer 1964, 309-312). Große Bedeutung hat für ihn auch ein Auf- satz von Gabriel Marcel (1954), dessen Idee er teilt, dass der Film auf besondere Weise eine Verbindung zur Wirklichkeit knüpfe, zu unserer Welt, «dieser Erde, die unsere Wohnstätte ist», eine Formulierung, die er gleich zweimal zitiert (Kracauer 1964, 22 und 394). Wie Marcel glaubt auch er an die Dimension der Erscheinung (Kracauer 1964, 346), und bei beiden findet sich der Begriff der «Erlösung» oder der «Errettung». So zitiert er eine Bemerkung des französischen Autors, um den Gedanken zu untermauern, der Film verfüge über die Fähig- 6 In dem oben genannten Brief an Mario Roques beklagt er sich über diesen Um- stand. Der Text trägt den Titel «The Photographic Approach» (in der Buchausgabe wird daraus «Photography»). 7 Vgl. den Brief Morins an Kracauer vom 28. Dezember 1961 (Nachlass Kracauer, Dok. Nr. 72.2742/2). 8 Alle Verweise im Folgenden beziehen sich auf die deutsche Übersetzung (Kracauer 1964). Quaresima: Kracauer und die Filmologie 107 keit eine intime Beziehung zur Materialität der Dinge und zum All- tagsdasein herzustellen: [...] daß mir, der ich dazu neige, dessen müde zu werden, was ich gewohn- heitsmäßig sehe – das heißt, was ich in Wirklichkeit gar nicht mehr sehe – diese dem Kino eigene Kraft buchstäblich erlösend (salvatrice) erscheint (Marcel 1954, 164; Kracauer 1964, 394). Lucien Séve (den er als «brillanten jungen französischen Kritiker» vor- stellt) wird als Beleg für die Idee herangezogen, der Film sei in der Lage, die Unbestimmbarkeit und Vieldeutigkeit der Wirklichkeit wie- derzugeben (Kracauer 1964, 106).9 Auf Roland Caillois bezieht Kra- cauer sich, um noch einmal den Materialismus des Kinos zu unter- streichen: «Auf der Leinwand gibt es keinen Kosmos, nur Erde, Bäume, Himmel, Straßen und Eisenbahnen: kurz: Materie» (Caillois 1949, 91; Kracauer 1964, 348). Vor allem aber stützt Kracauer sich auf die RIF dort, wo es um die Beziehung zwischen Film und Zuschauer geht, und er die Analogie zwischen Filmerfahrung und Traumerfahrung hervor- hebt (vgl. Kracauer 1964, 222; referierend auf Lebovici 1949, 54) oder den Gedanken aufgreift, dass man im Kino sein «Ich vergesse, über dem, was auf der Leinwand vor sich geht» (Wallon 1953, 110; Kracau- er 1964, 217). Die ersten Reaktionen Kracauers auf das filmologische Projekt waren allerdings freilich völlig anderer Art, nämlich rundheraus ne- gativ: «gewisse Strömungen, die, nach deutscher Gewohnheit bis zu Adam und Eva zurückgehen um nirgendwo anzukommen (zum Bei- spiel eine neue Wissenschaft des Films, eine so genannte ‹Filmologie›)» müsse man den «bedauerlichen Symptomen» der gegenwärtigen Si- tuation in Frankreich zurechnen, hieß es noch in einem Brief von 1947.10 Umgekehrt interessiert die RIF sich nach Kracauers direkter Mitarbeit an den ersten Ausgaben später offenbar kaum mehr für seine Arbeit und lässt, wie erwähnt, den der Theory of Film entnommenen Beitrag unveröffentlicht. 9 Kracauer bezieht sich auf Sève 1947, 45. Lucien Sève ist zu diesem Zeitpunkt Schü- ler der École Normale Supérieur und erwirbt 1949 die Aggrégation de Philosophie. Später ist er Teil der von Georges Politzer geprägten Denkströmung des französi- schen Marxismus. 10 Brief an Friedrich T. Gubler vom 27. Juli 1947, zitiert in Krebs 1998, 259. 108 montage AV 19 /2 / 2010 3. Die Einleitung zu From Caligari to Hitler ist weithin bekannt (viel- leicht sogar zu weit – so hat Karsten Witte schon vor Jahren ange- merkt [1977, 39], dass viele Leser oft nicht darüber hinauskommen...). Die Gleichsetzung der Einleitung mit der «psychologischen Geschich- te des deutschen Films» verzerrt letztlich die Wahrnehmung der Stu- die selbst – und das ganz gegen die Intention Kracauers, der lange und nahezu verbissen an diesem Text gearbeitet hat, um die methodolo- gischen Grundlagen seines Werks deutlich zu machen.11 Sowohl die Grundlagen der psychologischen Methode als auch verwendete Be- griffe wie «Mentalität», «Disposition» (oder «deutsche Seele») sowie die Bezeichnungen für das Kollektivsubjekt («Nation», «Volk» oder – ge- nauer – «Mittelschicht») können zu tiefgreifenden Missverständnissen führen, wenn man sie nicht im Zusammenhang mit Kracauers wei- teren Ausführungen sieht. Die Einleitung skizziert eine von Panofs- ky inspirierte ikonografische Perspektive, doch nur deren Umsetzung in der Analyse macht sie zu einem zentralen und innovativen Aspekt des Werks. Und jenseits der Unschärfe oder Mehrdeutigkeit des Be- griffs «Mittelschicht» knüpft die Auseinandersetzung mit dieser sozia- len Gruppe bei früheren Studien aus den 1920er Jahren an, etwa an die 1930 erschienene Untersuchung Die Angestellten (1971) oder an «Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino» von 1927 (1977). Dieser Punkt verdient es, betont zu werden, denn nur die Lektüre des gesamten Buchs vermag den Eindruck zu widerlegen (den das ein- leitende Kapitel in der Tat vermitteln kann), die Untersuchung richte sich auf eine inhaltliche Analyse der Filme. Dieses Missverständnis hat die Bewertung der Studie bis heute nachhaltig geprägt. In Frankreich hat die Tatsache, dass von From Caligari to Hitler lange nur die Ein- leitung bekannt war, das Urteil über die Arbeiten Kracauers negativ beeinflusst. In einem Brief rechtfertigt sich Edgar Morin gegenüber Kracauer dafür, dessen Forschung zum Film der Weimarer Republik (die er als «kapital» bezeichnet) in seinem Le Cinéma, ou l’homme ima- ginaire nicht zitiert zu haben, so: Er plane in einem zweiten Band, der dann der «Analyse der Filminhalte, der Strukturen des Imaginären im Film» gewidmet sein solle, darauf einzugehen.12 Und mithin erscheint eine französische Ausgabe von From Caligari to Hitler erst 1973 (in ei- 11 Zur Genealogie der Einleitung zu From Caligari to Hitler vgl. auch Quaresima 2009. 12 Brief Edgar Morins an Kracauer vom 23. März 1957 (Nachlass Kracauer, Dok. Nr. 22.2742/1). Quaresima: Kracauer und die Filmologie 109 nem Schweizer Verlag), trotz eines bereits sehr frühzeitigen Interesses der Cinémathèque française13 sowie Daniel Halévys (einem alten Freund Kracauers)14 und trotz des Widerhalls, den der in der RIF veröffent- lichte Auszug findet. 4. Der Text über die Darstellung nationaler Charaktere im amerikani- schen Film ist weit weniger bekannt. Im Sommer 1948 verfasst, han- delt es sich um eine – wie Kracauer schreibt, schlecht bezahlte15 – Auf- tragsarbeit für die UNESCO, die im Frühjahr 1949 in Public Opinion Quarterly erscheint. In der RIF wird der Text also nur wenige Monate später veröffentlicht als in den USA. Die Studie bewegt sich inner- halb genau abgesteckter Grenzen: Sie behandelt die Darstellung engli- scher und russischer Figuren in amerikanischen Spielfilmen zwischen 1933 und dem Zeitpunkt ihrer Abfassung, also 1948, wobei nur zeit- genössische Sujets Berücksichtigung finden, also weder historische Fil- me noch Literaturverfilmungen. In methodologischer Hinsicht geht Kracauer von einem Modell des Individuums wie auch des Volks als «lebende[r] Organismus, der sich entlang nicht vorhersagbarer Lini- en entwickelt» (Kracauer 2010 [1949], 92) aus. Dazu postuliert er die Existenz subjektiver wie objektiver Faktoren, welche die Vorstellung, die wir uns vom jeweiligen Anderen machen, bestimmen, wobei zu- dem noch die Ausdrucksmöglichkeiten des Darstellungsmediums eine entscheidende Rolle spielen. Kracauer stützt sich hier auf die Über- zeugung, dass «auf lange Sicht jedoch [...] Publikumswünsche, ob sie nun ausdrücklich sind oder im Untergrund schlummern, den Cha- rakter der Hollywoodfilme [bestimmen]», was für die expressiven und narrativen Entscheidungen der Filmindustrie ausschlaggebend sei (ibid., 95), da «Unterhaltungsfilme ihrerseits stark von den jeweils vor- herrschenden Tendenzen der öffentlichen Meinung beeinflusst wer- den» (Kracauer 1950, 132). Da nun, so argumentiert Kracauer, die Reaktion der Zuschauer ei- nen tief greifenden Einfluss auf das Hollywood-Kino hat, wird die Filmindustrie danach streben, die Empfindlichkeiten des Publikums so weit es geht zu schonen und «kontroverse Themen auszusparen» (2010 13 Am 8. Januar 1947 schreibt Kracauer an Halévy, die Cinémathèque française wolle sich eine Option sichern. Vgl. Levin 1990, 394. 14 Vgl. den Brief Kracauers an Halévy vom 21. September 1947 in Levin 1990, 399. 15 Vgl. den Brief an Halévy vom 12. Dezember 1948 in Levin 1990. Zur Entstehungs- geschichte des Texts vgl. Perivolaropoulou 2007. 110 montage AV 19 /2 / 2010 [1949], 117). Das erkläre dann auch, warum die Engländer zwischen 1945 und 1948 (die Periode, in denen Labour die Macht übernimmt und eine Wirtschafts- und Sozialpolitik verfolgt, die den Prinzipien des American way entgegensteht) ausgespart bleiben und warum die Russen dasselbe Los trifft (aufgrund des in der amerikanischen Gesell- schaft dominanten Antikommunismus). Die Analyse hebt einige Züge der amerikanischen Filme hervor: den «Snobismus» der englischen Figuren z. B., trotz der «Demokrati- sierung» zu dem Zeitpunkt, als der Krieg ausbricht. Wenn nun die bri- tischen Charaktere Kracauer zufolge meist die «Realität getreu [wie- dergeben]» und in einer «objektiven Darstellung» erscheinen (1950, 123), folgen die russischen Figuren weit stärker den existierenden Kli- schees und Vorurteilen, ob es sich nun um die «unerschrockene russi- sche Kämpferin» oder um die «finsteren Bürokraten» der Nachkriegs- zeit handelt. «Verglichen mit englischen Filmgestalten sind die von Hollywood fabrizierten Russen pure Abstraktionen. [...] [Sie] sind we- niger Porträts als Projektionen» (ibid., 127–130). Davon überzeugt, dass die Nachkriegszeit vom Streben nach inter- nationaler Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe geprägt ist, hofft Kracauer, die Filmindustrie könne diesen Elan aufgreifen und die im Publikum herrschenden widersprüchlichen oder unklaren Vorstellun- gen kanalisieren, insbesondere durch «dokumentarfilmische Techni- ken», die vor allem die objektiven Züge in der Darstellung des Ande- ren herausarbeiten (ibid., 132f). Kracauers Aufsatz weist evidente Schwächen auf. Außer den (sehr allgemein gehaltenen) Bemerkungen zu den objektiven und subjek- tiven Faktoren der Darstellung definiert er keines der Kriterien, auf- grund derer sich so etwas wie ein Nationalcharakter herausarbeiten lie- ße. Obwohl er von einer Untersuchung der Prozesse der Darstellung und der Selbstdarstellung des Anderen ausgeht, bleiben die Prozesse der Identitätskonstruktion ausgespart. Die Studie analysiert eine Rei- he von Elementen, die als «national» spezifisch betrachtet werden (um zu zeigen, wie sie durch Hollywood gefiltert werden), doch Kracauer hinterfragt nirgends die Kriterien für deren Gültigkeit. Zudem han- delt es sich im vorliegenden Fall nun tatsächlich um eine reine In- haltsanalyse. An den Grad der Komplexität von From Caligari to Hitler (das zwar eine thematisch, gleichzeitig aber auch historische, ikono- grafische, phänomenologische, psychoanalytische und technikbezoge- ne Untersuchung bietet) reicht diese Studie dann auch nicht annä- hernd heran. Quaresima: Kracauer und die Filmologie 111 5. Um bewerten zu können, welche Rolle Kracauers Arbeiten für die Aktivitäten des filmologischen Instituts zu dieser Zeit spielten und welchen Einfluss sie ausübten, muss man sie im Zusammenhang mit den anderen dort ausgeführten soziologischen Untersuchungen be- trachten. Dass die Soziologie für die Entwicklung einer «Wissenschaft vom Kino» einen Beitrag leisten kann, gehört zu den Prämissen von Cohen-Séats Überlegungen. Implizit schlägt sich dies in der Definiti- on der «kinematografischen Tatsache» (im Unterschied zur «filmischen Tatsache») nieder sowie im Begriff der «Institution» (der dem Histori- ker Paul Lacombe entlehnt ist). Im ersten Heft der RIF erscheint ein Text des damals noch sehr jungen, vom Redaktionssekretär der Zeit- schrift, Marc Soriano, hoch geschätzten Jean-Jacques Riniéri (Soriano 1947, 10), der in einer für die neue Disziplin autoritativen Synthese erklärt, das Kino stelle «ein außergewöhnliches Forschungsfeld für die Soziologie» dar (Riniéri 1947, 87). In derselben Ausgabe schreibt Ray- mond Bayer der soziologischen Erforschung des Films eine gerade- zu wissenschaftsstrategische Funktion zu: «In Bezug auf die Kunst er- scheint die soziologische Methode als eine Neuerung: Wenn es jedoch ein Feld gibt, auf dem sie sogleich Anwendung gefunden hat, dann ist es das des Kinos» (Bayer 1947, 34). Im Programm des ersten durch das Institut ausgerichteten Kongres- ses ist einer der fünf Arbeitsbereiche der «allgemeinen Ästhetik, Sozio- logie und Philosophie» gewidmet, und eine der Sektionen darin der «allgemeinen Soziologie» mit den folgenden vier Unterabteilungen: 1. Das Kino als Fakt der Zivilisation [...] 2. Universalität und Simultaneität des filmischen Fakts 3. Wechselwirkung zwischen dem Kino und sozialen Gruppen [...] 4. Gesellschaftliche Funktionen des Kinos16 Beim zweiten Kongress 1955 gibt es sieben Arbeitsbereiche, von denen einer sich mit «soziologischen Problemen des Kinos» beschäftigt und aus zwei Sektionen besteht: die von Georges Friedmann koordinierten «Soziologische Studien zu kinematographischen Aufführungen» sowie Arbeiten zu «Soziale Regelungen und Reaktionen, ausgelöst durch das Kino» unter Leitung von Otto Klineberg. In der ersten Sektion geht es unter anderem auch um «Methoden der Inhaltsanalyse von Filmen 16 Vgl. die Übersicht über das Kongressprogramm in Revue de filmologie 1,2, 1947. 112 montage AV 19 /2 / 2010 (latente und manifeste Themen)», in der zweiten um die «Bedeutung des Films als bewusste und unbewusste Propaganda (Darstellung sozi- aler Probleme, Bilder von Fremden usw.)» sowie um die «Bedeutung des Films als Widerspiegelung nationaler Charaktere».17 Somit spielt der «soziologische Pol» nicht nur eine zentrale Rolle für die Forschungen des Instituts, auch der Einfluss der Arbeiten Kra- cauers ist offensichtlich, wie man vor allem anhand des Programms des zweiten Kongresses sehen kann. 6. Welches sind nun die wichtigsten Beiträge der Filmologie im Bereich der soziologischen Untersuchungen? Im zweiten Heft der RIF er- scheint ein Aufsatz von Didier Anzieu (1947), der von den Theorien Durkheims inspiriert ist und sich vor allem auf den Begriff des «kollek- tiven Bewusstseins» bezieht, den auch Cohen-Séat (1946, 33–34) ver- wendet. Doch anders als Edward Lowry (1985, 102) behauptet, steht dieser nicht in Zusammenhang mit den Arbeiten Kracauers. Wenn in From Caligari to Hitler die Rede ist von einer kollektiven Psyche, so verweist das auf die Sozialpsychologie Erich Fromms (1941) sowie auf Untersuchungen des Instituts für Sozialforschungen zum Thema «Au- torität und Familie».18 Kracauer arbeitet den Begriff nicht weiter aus, auch nicht in Hinblick auf dessen Verwendung durch Freud. Die Mo- tive, die er daran koppelt (die Spaltung der Persönlichkeit, die Unreife vieler Figuren), beziehen sich immer auf die Situation bestimmter so- zialer Gruppen. Der Bezug auf den Marxismus bleibt im Hintergrund (selbst dort, wo er im Einleitungskapitel deutlicher zutage tritt als im weiteren Verlauf des Buchs). Am stärksten und produktivsten jedoch sind die Anleihen bei der Soziologie Georg Simmels (in Verbindung mit dem psychoanalytischen Modell), ob es nun um die unendlich kleinen Bewegungen und die Vielfalt transitorischer Handlungen geht, die das Kino zu zeigen im Stande ist, oder darum, dass es den gewisser- maßen unwillkürlichen Charakter der Wirklichkeit enthüllen kann.19 Lowry behauptet dagegen: «Kracauers Methode, die Massenpsycho- logie im Vorkriegsdeutschland zu analysieren, gründet sich auf Durk- 17 Vgl. die Übersicht über das Kongressprogramm in Revue internationale de filmologie 6,20–24, 1955. 18 Das Projekt wird erst im Exil in New York 1935 abgeschlossen und ein Jahr später in Paris mit Beiträgen von Horkheimer, Fromm und Marcuse veröffentlicht; Kracauer verweist explizit auf Horkheimers Aufsatz. 19 Vgl. dazu meine Ausführungen in Quaresima 2009. Quaresima: Kracauer und die Filmologie 113 heims Begriff der conscience collective» (Lowry 1985, 102), doch dem ist nicht so. Durkheim erscheint noch nicht einmal in der Bibliografie des Buchs. Das Heft Nr. 11 der RIF präsentiert eine sehr kurze, aber auf- schlussreiche Zusammenfassung eines Vortrags von Georges Fried- mann (1952) am Institut de filmologie als Teil des Programms 1951-1952. Friedmann lässt verschiedene Perspektiven soziologischer Untersu- chungen Revue passieren, darunter auch die der Inhaltsanalyse, welche «die in den Filmen enthaltenen kollektiven Wirklichkeiten zu verste- hen versucht» (Friedmann 1952, 127), und stellt sie in ihrer histori- schen, anthropologischen und sozialen Ausrichtung dar. Dabei spricht er von der Möglichkeit einer Untersuchung, welche «anhand konkre- ter Beispiele erfassen könnte, wie Filme vermittels der dort aufzufin- denden stereotypen patterns von Handlungen und Mythen den Ort und die Zeit ihres Entstehens mehr oder weniger deutlich widerspie- geln» (ibid.). Der Einfluss der Arbeitsweise in From Caligari to Hitler ist ganz offensichtlich, auch wenn Kracauer hier nirgends erwähnt wird. Doch in der im selben Heft veröffentlichten Bibliografie werden so- wohl das Buch als auch der Aufsatz zu den Nationalcharakteren in der Abteilung «Inhaltsanalysen» aufgeführt.20 In der Einleitung zur Doppelnummer 14-15 der RIF, die den «kontroversen Problemen, die den Begriff der Filmzensur betreffen» (Cohen-Séat 1953, 171) gewidmet ist, spricht Cohen-Séat von einer Äquivalenz der «individuellen Abwehrmechanismen» und der «von Gruppen ausgeübten Zensur» (1953, 172), ohne das jedoch zu ver- tiefen. Wie bei Kracauer wird die Analogie von individuellem und kollektivem Unbewussten nur gestreift. So dürfte letztlich der Aufsatz «Sociologie et cinéma» von Georges Friedmann und Edgar Morin in Heft 10 der RIF der entscheidende Beitrag in soziologischer Perspek- tive sein und gleichzeitig derjenige, in dem die Methode Kracauers am direktesten auf das Terrain der Filmologie geführt wird. Der Artikel von Friedmann und Morin geht von der Spannung zwischen den Prozessen der Standardisierung und der Individualisie- rung aus, die als für die Filmindustrie typisch angesehen wird, die je- doch ihre Kraft eben gerade aus dem Spiel zwischen den Archetypen und den immer neuen Trägern des Mythos zieht (vgl. Friedmann/ 20 Vgl. «États-Unis. Recherches sur le cinéma. Enquête bibliographique», Revue in- ternationale de filmologie 3,11, 1952. Die von Pater Franklin Fearing in Zusammen- arbeit mit Geneviève Rogge zusammengestellte Bibliografie erscheint auch, aller- dings in einer Auswahl, in The Quarterly Reveiw of Film, Radio and Television, 3, 1952, 283–315. 114 montage AV 19 /2 / 2010 Morin 2010 [1952], 24ff). Der Beitrag richtet sich dann im Folgenden auf eine Auffassung vom Kino als Ausdruck «‹kollektive[r] Vorstellun- gen›, Mentalitäten oder Ideologien, die im Inneren einer Gesellschaft vorherrschen» (ibid., 30): «Der Film kann nicht nur wirtschaftliche und institutionelle Krisen widerspiegeln, sondern auch die kollekti- ven Bewusstseinskrisen» (ibid., 35). Kracauers From Caligari to Hitler ist hier ganz offensichtlich ein zentraler Bezugspunkt und wird auch explizit angeführt (wenn auch nur in der Form des in der RIF veröf- fentlichten Kapitels). Allerdings oszilliert der Aufsatz von Friedmann und Morin unausgesetzt zwischen einerseits einer Untersuchung auf der Grundlage von Kracauers Methode, die man vor allem versucht fortzuschreiben, und andererseits einem Rückzug auf eher konventio- nelle Positionen (die letztlich auf der marxistischen Widerspiegelungs- theorie beruhen). Statt nun die Klassengegensätze direkt auszudrücken, «wiederholt [der Film] bis zum Überdruss und in allen möglichen Varianten je- nen Konflikt, der Individuum und Gesellschaft einander antagonistisch gegenüberstellt» (ibid., 32). Da die Zuschauer zu weiten Teilen dem Kleinbürgertum entstammen, wird das Kino zum Sprachrohr einer «Ideologie der Mittelschichten»: Der Film berührt den «‹Backfisch›, der in jedem von uns schlummert» (ibid.). Daher muss er als ein Sym- ptom behandelt werden: durch ihn kommt «die Autorität der etablier- ten Institutionen» zum Ausdruck; das scheinbar «Apolitische» ist die Form, in der sich die bestehenden sozialen Tabus manifestieren (ibid., 30). So ließe sich eine Art «sozial Psychoanalyse» auf das Kino an- wenden, die versucht «die latenten Inhalte zutage zu fördern, die sich unter den manifesten Inhalten verbergen» (ibid., 35). Wie man sieht, werden hier die Modelle Kracauers nicht nur übernommen, sondern auch weiterentwickelt. Gleichzeitig aber bewegen sich die Autoren aus dem Bezugsrahmen von Kracauers Ansatz heraus, wenn sie den Gedanken formulieren, das Kino sei der Ausdruck von «psychologischen, oder, genauer, anthropo- logischen Inhalte[n, die] allen Menschen gemeinsam» sind, dass Filme also auf Archetypen beruhen, wodurch sie «universelle» Inhalte erhal- ten (ibid., 38). Die soziologische Perspektive fließt hier in einen brei- teren anthropologischen Rahmen ein, und die am Ende des Aufsatzes erhobene Forderung nach Analysemethoden, welche die «Vielzahl so- wohl historischer und soziologischer wie auch anthropologischer In- halte» (ibid.) zu beleuchten vermögen, relativiert den Ausgangspunkt noch mehr. Quaresima: Kracauer und die Filmologie 115 Friedmann leitet, wie erwähnt, die dritte Arbeitsgruppe des zweiten internationalen filmologischen Kongresses und er verfasst für die RIF einen zusammenfassenden Bericht über die Diskussionen (Friedmann 1955). Unter den behandelten Themen stechen vor allem die folgen- den hervor: die «Darstellung des ‹Fremden›», die «Darstellung des Ty- pus des ‹Bösen›» sowie die «Darstellung der Geschichte» im Film, dazu die «Romanadaptation aus psychologischem Gesichtspunkt» (ibid., 36). Auch hier ist die Verbindung zu der Methode und zum Ansatz Kracauers offensichtlich (selbst wenn dieser nicht erwähnt wird). In dem bereits zitierten Brief Edgar Morins an Kracauer vom März 1957 erklärt dieser, er arbeite «im Moment an einer Untersuchung über den Fremden in französischen, polnischen, englischen und amerika- nischen Filmen der letzten fünf Jahre», wobei er «großen Gewinn aus Ihren eigenen Arbeiten» ziehe. Doch wenn Douglas Wall (ibid., 71–72) eine Gesamtbilanz des zweiten Kongresses der Filmologie zieht, so un- terscheidet er drei Hauptlinien: «der Film als solcher», «der Effekt eines Films auf den individuellen Zuschauer» sowie «die Effekte von Film und Kino auf Gruppen oder auf die Gesellschaft». Wie man sieht, rich- tet sich das Hauptaugenmerk auf individuelle oder kollektive Adressa- ten und nicht auf die Untersuchung der Prozesse vermittels derer das Kino Tendenzen in einzelnen Subjekten oder in sozialen Gruppen zur Darstellung bringt. Die zweifache Umorientierung (von einer sozio- logischen Perspektive zu einer mehr anthropologischen und die Wen- dung hin zur Wirkung des Kinos auf den Zuschauer) lässt die Distanz ermessen, welche die Entwicklungen innerhalb der Filmologie von Kracauers Ansatz in From Caligari to Hitler trennt. 7. Im ersten Band einer auf zwei Teile angelegten Arbeit mit dem Titel Problèmes actuels du cinéma et de l’information visuelle (Cohen-Séat 1959), der eine monografische Reihe (die Cahiers de la filmologie) eröffnen sollte, unterstreicht Gilbert Cohen-Séat noch einmal die interdiszip- linäre Ausrichtung der Filmologie und er betont die Bedeutung em- pirischer Untersuchungen (die in der RIF und auf dem zweiten fil- mologischen Kongress einen zunehmend höheren Stellenwert haben). Gleichzeitig aber scheint er die Orientierung hin zu einer solchen auf theoretischer Ebene tatsächlich pluridisziplinären Struktur auch voran treiben zu wollen, denn er konstatiert, dass eine derartige Konvergenz «in der Praxis noch lange nicht verwirklicht ist» (ibid., 4). Er bringt erneut den Begriff der Institution ins Spiel, dem er eine Reihe sozio- 116 montage AV 19 /2 / 2010 logischer und psychologischer Kategorien zugrunde legt, doch gerade da, wo er sich den Formulierungen Kracauers anzunähern scheint, zie- len seine Überlegungen auf eine grundlegend andere gesellschaftliche Konzeption des Kinos ab. Der Film und die neuen Kommunikations- technologien (auf denen das basiert, was Cohen-Séat als «Ikonosphäre» bezeichnet) gelten ihm als verantwortlich für eine Art «Mutation in der Natur des Menschen» (ibid., 7). «Der Film bewirkt eine Verände- rung in der diskursiven Ordnung und gleichzeitig einen Umbruch [...] in den Prinzipien der Wahrnehmung und des Urteilens» (ibid., 9). Da- rüber hinaus «bewirkt der Film einen Bruch zwischen dem Ding und seinem herkömmlichen Darstellungszusammenhang, indem er es aus der Biosphäre herauslöst und es in eine neue Umgebung verpflanzt», nämlich in die Ikonosphäre (ibid., 10). Das Kino wird zu einem «Fak- tor der psychologischen Verstörung, des psychosozialen «Ungleichge- wichts» und des kulturellen Chaos» (ibid., 11). Die aufkommende In- formationsgesellschaft führt zu einer «prinzipiellen Einschränkung der Intelligenz», zu einer «Amputation», «Isolation» und «Entfremdung» (ibid., 17-18). Dennoch sind Kino und Fernsehen, die aus der neuen Massenkultur hervorgehen, im Hinblick auf diese nicht ausschließ- lich funktionell. Die «visuellen Techniken» haben eine «revolutionäre» Bestimmung: «die sie charakterisierenden Informationsformen weisen über ihre ökonomischen, sozialen und kulturellen Entstehungsbedin- gungen hinaus» (ibid., 26). Und dies gilt, obwohl in der Verwendung der neuen Kommunikationsmittel die Beziehung zwischen «der Mas- se» und der (auf einer im Wesentlichen verbalen Tradition beruhen- den) humanistischen Kultur problematisch bleibt. Jedenfalls «wissen wir noch nicht genug über den neuartigen und spezifischen Sachver- halt, der sich aus der Beziehung zwischen den visuellen Techniken und den Massen ergibt. Deren gegenseitige Anziehung ereignet sich in ei- nem Kräftefeld, das uns weitgehend unbekannt ist» (ibid., 26). Cohen-Séat geht also von einer Wirkungsweise des Films aus, wel- che über die perzeptiven und kognitiven Effekte im Rahmen einzel- ner Filmvorstellungen hinausgeht, und damit auch weiter reicht als die experimentellen psychologischen Forschungen (die in der RIF sowie in den Aktivitäten des Instituts mehr und mehr Raum einnehmen). Er stellt selbst die Frage, wie weit der Übertragungseffekt beim Zuschau- er überhaupt geht, doch tut er dies auf einer anthropologischen (wo nicht gar essentialistischen) statt auf einer sozialen Ebene. Das Kino enthält «einen gemeinsamen Nenner so vieler verschiedener Interes- sen», dass es notwendigerweise mit der «Natur des Menschen» zu tun hat und an Bedürfnisse rührt, «die kein kultureller Inhalt in irgend ei- Quaresima: Kracauer und die Filmologie 117 ner Weise aufzunehmen im Stande wäre» (ibid., 45). Der Film enthüllt «eine verborgene Welt» des Zuschauers, «die im Alltagsleben [...] vom kritischen Bewusstsein gezügelt wird» (ibid., 46–47). Doch die Pers- pektive verschiebt sich bei Cohen-Séat hin zu dem, was in der Psy- che des Zuschauers durch den Kontakt mit dem Film freigesetzt wird, statt, wie bei Kracauer in From Caligari to Hitler zu fragen, was sich von dieser Psyche in den Filmen niederschlägt. Zwar notiert Cohen-Séat: «Das Thema der Widerspiegelung im Film, der zu einem bestimmten Zeitpunkt die Seele einer mehr oder weniger großen Gruppe zum Ausdruck bringt, ist in der kinematografischen Literatur in zahlreichen Varianten angesprochen worden», wobei er sich, wenn auch nicht ex- plizit, auf Kracauer bezieht. Doch diese Feststellung dient ihm letztlich dazu, sich von diesem Ansatz abzugrenzen und sie in Frage zu stellen (ibid., 48-50). Die eher anthropologisch ausgerichtete Perspektive da- gegen findet sich dann in den Arbeiten Edgar Morins. 8. Trotz ihrer Bedeutung bleibt die Zahl der Beiträge mit einer psycho- analytischen Ausrichtung in der RIF beschränkt. Jean Deprun (1947a, 1947b), Serge Lebovici (1949) und Cesare Musatti (1950) konzent- rieren sich auf die theoretischen Aspekte der Analogie zwischen dem psychischen und dem kinematographischen Apparat, doch Fragen, welche die individuellen unbewussten Verarbeitungsprozesse hin zu einer «kollektiven» Psyche erweitern (einer der entscheidenden Punk- te, die der Analyse Kracauers zugrunde liegen), bleiben ausgespart. Dagegen schlägt das Institut wie erwähnt vor allem den Weg psy- chologischer Untersuchungen ein.21 Dabei richtet man sich vor al- lem auf die Beziehung zwischen Film und Zuschauer. Hier entstehen – auch heute noch bemerkenswerte – Studien zum Verhältnis Lein- wand/Betrachter, jedoch vornehmlich auf der Grundlage empirisch- experimenteller Methoden.22 Diese Ausrichtung schlägt sich bereits in der Programmatik des im Entstehen begriffenen Instituts nieder. Im Editorial der Doppelnummer 3-4, 1949 umschreibt Cohen-Séat das zentrale Forschungsgebiet der Filmologie wie folgt: «Untersuchungen 21 Zu den psychologischen und psychoanalytischen Beiträgen in der RIF vgl. die von Vinzenz Hediger zusammengestellten Schwerpunkte in Montage AV 12,1, 2003 so- wie 13,1, 2004 (mit deutschen Übersetzungen von Deprun 1947a und 1947b, Lebo- vici 1949 sowie Musatti 1950). 22 Vgl. hierzu in Montage AV 12,1, 2003 die Übersetzungen der Arbeiten von Albert Michotte van den Berck und Henri Wallon. 118 montage AV 19 /2 / 2010 zum kinematografischen Film und seiner Wirkung auf Individuen so- wie Gruppen, zu Vorführung und Kommunikation hin zum Publikum» (Cohen-Séat 1949, 238). Doch bei der Gründung der neuen «Wissen- schaft vom Film» decken die Methoden sowie die Forschungsgegen- stände ein breites Spektrum ab und beziehen verschiedene Disziplinen auch jenseits der experimentellen Wissenschaften mit ein (was einer weiteren Intention der Filmologie entspricht). Letztlich aber setzt die psychologische Strömung sich durch und wird zum Referenzpunkt. Das «Primat der Psychologie» tritt 1956 im Rahmen der Auseinan- dersetzung zwischen Ernesto Valentini und Luigi Volpicelli in Heft 25 der RIF ganz offen zutage. Valentini stellt darin folgendes fest: Ausgehend von der Intuition Cohen-Séats und den frühesten Dokumenten zur Entwicklung der Filmologie kann man es anscheinend als eine Tatsache ansehen und dazu auch als eine fruchtbare Hypothese, dass die Psychologie einen vorherrschenden Stellenwert in der Filmologie einnimmt und alle anderen Aspekte zu begründen und zu beleben im Stande ist (1956, 7). Luigi Volpicelli erklärt in seiner Antwort auf Valentini dagegen, es sei notwendig, dass die Filmologie, «um ihren Weg fortzusetzen, sich von der unzureichenden Perspektive der psychologischen Wissenschaft be- freit und als eine Lehre der filmischen Kommunikation sich als sozial- historische Wissenschaft herausbildet» (Volpicelli 1956, 22f). Zur Stüt- zung seiner Position beruft er sich auf den Aufsatz von Friedmann und Morin, deren Idee er wieder aufgreift, der Film sei «eine Art Mikro- kosmos, in dem man, wenn auch verzerrt und stilisiert, das Bild einer Zivilisation erkennen kann, derjenigen nämlich, deren Produkt er ist» (ibid.; bei diesem Passus handelt es sich um eine direkte Übernah- me). Schließlich kritisiert Volpicelli auch ganz offen das Modell, das die Filmologie mit der Erforschung der Wirkung des Films auf den Zuschauer gleichsetzt: «Wir ziehen es vor, von einem Zusammenklin- gen statt einfach von Einfluss zu sprechen», um dann zu proklamieren, man müsse: [...] die Filmologie von dem vorherrschenden experimentellen Szientismus befreien, das Kino als solches betrachten, als Ausdruck der Industriegesell- schaft und [...] seinen Wert sowie seine Bedeutung in Hinblick auf die vom Industrialismus geschaffene und zur Darstellung gebrachte Welt [....]. Das Kino [darf] nicht nur hinsichtlich der Natur des Films und seiner Wirkung untersucht werden, sondern auch mit dem Ziel einer komplexeren Analyse der Klassen und der sozialen Strukturen (Volpicelli 1956, 22f). Quaresima: Kracauer und die Filmologie 119 Dieser Beitrag scheint die Debatte erneut zu öffnen, indem er unter Rückgriff auf Friedmann und Morin die Methode Kracauers wieder ins Spiel bringt; gleichzeitig ist dies nun aber der Ausdruck einer in- zwischen minoritär gewordenen Position, und auch wenn Volpicelli versucht, die Entwicklung zur Diskussion zu stellen, kann er sie nicht mehr beeinflussen. Die Hegemonie der experimentalpsychologischen Linie zeigt sich am deutlichsten in der Zunahme der «Tests Filmiques Thématiques», wobei kurze Sequenzen dem interpretativen Urteil der Zuschauer unterworfen werden. Ihnen ist vor allem die Doppelnum- mer 30-31 (Cohen-Séat/Bremond/Richard 1953) gewidmet. Auch Roland Barthes (1960) folgt diesem Ansatz bei seiner Untersuchung der Bedeutungskonstruktion im Film. Ein Beitrag von Jacques Durand stellt 1961 einen der letzten Ver- suche dar, innerhalb der Filmologie die soziologische Forschungslinie wiederzubeleben. Die Beziehung zwischen Film und sozialer Wirk- lichkeit beruht hier auf dem alles andere als simplistischen Begriff der «filmischen Sozialität», die «nicht nur die im Film explizit dargestell- ten sozialen Charakteristika umfasst», sondern auch von der (wie man heute sagen würde) enunziativen Instanz abhängt und das Verhältnis zum Zuschauer mit einschließt. Dieser sehe sich selbst als «Zeuge oder als in diese Sozialität eingebundene fiktive Figur» (Durand 1963, 24). Dennoch bewegt sich der von Durand vorgeschlagene Ansatz («In- haltsanalyse der filmischen Sozialität und der Verzerrungen hinsicht- lich der gesellschaftlichen Wirklichkeit; Analyse der Wahrnehmung der filmischen Sozialität durch den Zuschauer») auf einer empirisch-posi- tivistischen Ebene, die hinter From Caligari to Hitler zurückfällt. So ist es auch kein Wunder, dass keine der Arbeiten Kracauers, selbst nicht die in der RIF veröffentlichten, in der ansonsten umfangreichen Lite- raturliste Durands auftaucht. Als Camillo Pelizzi dann auf dem ersten internationalen Kongress zur visuellen Information 1961 in Mailand in seinem Beitrag zu den soziologischen Fragestellungen spricht, erscheinen seine Ausführun- gen eher als ein Relikt aus der Vergangenheit und nicht als die Weiter- führung eines fruchtbaren Forschungsansatzes: Bei der Untersuchung der Einflüsse der wichtigen visuellen Medien auf die Bildung, Stabilisierung und Dispositionen von Einstellungen und Ideen gilt es, auch dem Einfluss der strukturellen Situation sowie der Konjunktur einer gegebenen Gesellschaft sowie der in ihr vorherrschenden Einstellun- gen und Ideen Rechnung zu tragen, die ihrerseits auf die Entstehung und die Produkte visueller Techniken einwirken (Pelizzi 1961, 147). 120 montage AV 19 /2 / 2010 Bei Zbigniew Gawrak schließlich ist die Rede vom «Scheitern eines kühnen Programms» und von der «minimalistischen» Linie, die bei der amerikanischen empirischen Forschung ihre Anregungen findet und «in der europäischen Filmologie praktisch triumphiert» (Gawrak 1968, 116). Christian Metz bestätigt einige Jahre später maßgebend diese Sichtweise: Es sei daran erinnert [...] daß jene Disziplin, die [Filmologie] genannt wird, sich zu einem bemerkenswerten Teil damit befaßte, den Film mit Hilfe der Methoden, die der Psychologie, insbesondere der Experimentalpsycholo- gie und der Sozialpsychologie eigentümlich sind, zu analysieren. Gerade auf diesem Gebiet hat sie im übrigen die genauesten Resultate erzielen können. (Metz 1973 [1970], 15) In der Außensicht und mit dem Blick eines Historikers der filmologi- schen Strömung stellt sich dies für Lowry wie folgt dar: In den [...] Jahren, die auf die [Entstehung der Filmologie] folgen, ist es der Begriff der Wissenschaft und genauer noch des Empirismus, der ent- scheidend dafür war, welche Ideen dominieren sollten und welche an den Rand gedrängt wurden. [Schon zum Zeitpunkt des zweiten Kongresses] hatte die Filmologie die empirisch ausgerichtete Psychologie und Soziolo- gie des Filmpublikums als zentrales Forschungsfeld etabliert. (Lowry 1985, 157-158) Wenn nun im Untertitel von Kracauers Buch von einer «psycholo- gischen Geschichte des deutschen Films» die Rede ist, so muss dieser Aspekt auf eine besondere Weise verstanden werden, die mit den For- schungen der amerikanischen experimentellen Psychologie, von der Gawrak spricht, nichts zu tun hat. Darüber hinaus zeitigt Kracauer zu- folge das psychologische Dasein der Individuen oder der gesellschaftli- chen Gruppen bestimmte kinematografische Resultate (in der thema- tischen Ausrichtung wie bei den symbolischen Formen), während im Rahmen der schon bald in der Filmologie hegemonialen Auffassung die Art und Weise, wie das Kino mit den perzeptiven und kognitiven Prozessen bei Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen zusammen- hängt und diese beeinflusst. Quaresima: Kracauer und die Filmologie 121 9. Dank der Anstrengungen der Filmologie ist Frankreich eines der ers- ten europäischen Länder, in denen Arbeiten Kracauers veröffentlicht und diskutiert werden. Doch dieser Vorsprung ist von kurzer Dauer und schlägt in sein Gegenteil um. Frankreich gehört zu den letzten Ländern, in denen eine Übersetzung von From Caligari to Hitler (unter ganz besonderen Umständen und gewissermaßen auf Umwegen, näm- lich aufgrund des wiederbelebten Interesses sowohl am Marxismus als auch an der Weimarer Republik in den 1970er Jahren) erscheint und Teil der filmwissenschaftlichen Diskussion wird (die italienische Über- setzung wird 1954 veröffentlicht, eine, wenn auch umstrittene, erste deutsche 1958, eine spanische 1961). Wie lässt sich dieser Umstand erklären? Die Tatsache, dass zunächst nur das einleitende Kapitel übersetzt wurde, hat ganz gewiss die vorherrschende Lesart des Buchs als einer Inhaltsanalyse mit geprägt. Das aber verzerrte die Wahrnehmung der Untersuchung und wertete sie ab (und versperrt den Blick auf die Fruchtbarkeit der ihr zugrunde liegenden methodologischen Vorga- ben). Dazu kommt, dass diese soziologische Auffassung von Kracauers Werk, die ein erstes Echo auf seine Arbeit darstellt und neue Wege er- öffnen will, ihrerseits innerhalb der Filmologie an den Rand gedrängt wird. Die «Übernahme» von Kracauers Forschungen durch einen Teil der Filmologen hat gleichzeitig auch deren Rezeption auf dem breiteren filmwissenschaftlichen Feld beeinflusst, weil sie nun im Zusammen- hang mit dem Projekt Cohen-Séats gelesen wurden. Als dann die Tra- dition der «cinephilen», theoretisch engagierten Kritik die Filmologie angreift, was bis in die Mitte der 1950er Jahre andauert,23 hätten die Auffassungen Kracauers einen produktiven Dialog beispielsweise mit Bazin (um nur ein offensichtliches Beispiel zu nennen) ermöglichen können. Kracauers Werk ist jedoch zu diesem Zeitpunkt völlig unbe- kannt innerhalb der cinephilen Fraktion, die aus der Konfrontation mit der Filmologie als Sieger hervorgeht und bis in die 1970er Jahre eine hegemoniale Position einnimmt (der zweite filmologische Kon- gress 1955 markiert gleichzeitig den Höhepunkt der Strömung und den Beginn ihres schnellen Niedergangs). Während jedoch Lotte Eis- 23 Vgl. die Rekonstruktion dieser Auseinandersetzung in Lowry 1985, 66–69. Als es dann zu einer Versöhnung der Positionen kommt, nehmen Lowry zufolge «die Cine- philen die Bedrohung durch die Filmologie nicht mehr ganz so ernst» (1985, 70). 122 montage AV 19 /2 / 2010 ners Dämonische Leinwand (um ein Buch zu nennen, dass durch die Umstände mit From Caligari to Hitler unlösbar verbunden ist) aufgrund des dort eingenommen ästhetisch-kritischen Standpunkts von der ci- nephilen Kritik angenommen wurde, beschränkte sich die Rezepti- on Kracauers meist auf die Kreise der marxistischen Debatten über Kultur.24 Doch wer weiß? Der Furor, mit dem sich die französische Kultur auf den Poststrukturalismus geworfen hat, um ihm dann mit großer Radikalität – und Melancholie – abzuschwören, wird es dereinst viel- leicht auch möglich machen, Kracauer als Filmhistoriker und Film- theoretiker wiederzuentdecken und ihm den ihm gebührenden Rang auf diesem Feld einzuräumen. Aus dem Französischen von Frank Kessler Literatur Anzieu, Didier (1947) Filmologie et sociologie. 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Bei ihrem letzten Treffen im Rahmen der 16th International Film Studies Conference 2009 an der Università degli Studi di Udine wurden die jüngsten Untersuchungen zur Geschichte der Filmtheorie vorgestellt. In vielen dieser Beiträge wurden – durchaus im Geiste einer archäolo- gischen Grabungsarbeit – wichtige Texte wiederentdeckt, die viel zur Bereicherung der Filmwissenschaft beigetragen haben und mit denen sich die Forschung nun erneut auseinandersetzen kann. Ein solches Text-Ensemble, nämlich die Publikationen aus dem Um- kreis des Institut de filmologie und seiner Aktivitäten (Artikel, die in der Revue internationale de filmologie erschienen sind, Kolloquiumsprotokolle, Bücher usw.), ist in den letzten zehn Jahren Gegenstand gleich meh- * Der Autor dankt Francesco Casetti und Vinzenz Hediger für ihre wertvollen An- merkungen zu diesem Text. 1 http://www.arthemis-cinema.ca 2 http://www.museocinema.it/filmtheories 126 montage AV 19 /2 / 2010 rerer Untersuchungen gewesen.3 Der vorliegende Artikel untersucht, wie die Autoren der Zeitschrift in den 1950er Jahren das Problem der Filmerfahrung thematisieren; er versteht sich als weiterer Beitrag zur wachsenden Forschungsliteratur über diese wichtige, aber zuwenig be- kannte Epoche in der Geschichte der Filmtheorie. Von Interesse ist die Debatte über die Filmerfahrung unter den Mitgliedern und Freun- den der 1946 gegründeten Association pour la recherche filmologique (im Folgenden kurz Association) zum einen, weil hier gewissermaßen eine neue historische «Sequenz» der Filmtheorie einsetzt. Die Filmologie ist der erste ernsthafte Versuch eines Zusammenschlusses von verschiede- nen europäischen Universitäten im Zeichen der Erforschung des Films. Zum anderen aber fällt die Geschichte der Filmologie-Bewegung mit der Etablierung des Fernsehens zusammen. Tatsächlich scheint das Fernsehen, glaubt man den Autoren der Revue internationale de filmologie (im Folgenden kurz RIF), die Filmerfahrung des Zuschauers gründ- licher verändert zu haben als andere Neuerungen davor wie etwa die Drive-in-Kinos. Mir geht es hier darum, bestimmte Konzepte (wie das «Standortverhalten» [comportement d’habitat] (Debesse 1956, 103) oder die «Bild-Sphäre» [sphère iconique] (Dieuzeide 1956, 112) herauszuar- beiten, die von den Autoren der RIF entwickelt wurden, um diese re- lativ neue Realität zu erfassen. Wie haben diese Autoren die von ihnen so ausgiebig diskutierten neuen Beziehungen zwischen Film und Zu- schauer vermessen,4 wobei sie als dritten Begriff den «Ort des Kon- sums» [espace de consommation] einführten? Anders gesagt, wie haben sie, mit einem Wort von Henri Dieuzeide, Mitglied der Association, «die Karte eines neuen Kino-Publikums erstellt»? Wie die Publikationen der Association, das heißt in unserem Fall vor allem ihre Zeitschrift, die von 1947 bis 1961 erschienene RIF,5 zeigen, gibt es eine ganze Reihe von 3 So unter anderen die von Frank Kessler kommentierte deutsche Erstübersetzung von Etienne Souriaus einflussreichem Aufsatz «Das filmische Universum und das Vokabular der Filmologie» (Souriau 1997) sowie die beiden von Vinzenz Hediger zusammengestellten Themenschwerpunkte über Filmologie und Psychologie in Montage AV 12,1,2003 und 13,1,2004, und zuletzt ein Themenheft der Zeitschrift Cinéma(s) 19,2–3,2009, zur Geschichte der Filmologie, herausgegeben von François Albera und Martin Lefebvre. 4 Diese Beziehungen sollten bei zumindest einer Definition der Filmologie sogar im Mittelpunkt stehen: «Die Filmologie besteht in der Untersuchung der physiologi- schen, psychologischen, soziologischen und pathologischen Reaktionen des Zuschau- ers auf den Film» (Heuyer 1952, 216). 5 Die RIF erschien bis Dezember 1961 (die letzte Ausgabe, die Nr. 39, mit Datum Ok- tober und Dezember 1961). 1962 änderte die RIF ihren Namen in Ikon, behielt aber im Untertitel den Namen Revue Internationale de Filmologie bei. Im selben Jahr verla- gerte sich die Operationsbasis von Paris nach Mailand. Näheres dazu siehe Gawrak Gauthier: «Fernseh-Revolution» und Filmerfahrung 127 Orten, wo man Filme erleben kann. Mein Ziel hier ist demzufolge nicht so sehr, auf die Frage «Was ist das Kino?» zu antworten, sondern auf die Frage: «Wo ist das Kino?» zu dieser Zeit.6 Die Beziehungen Film-Zuschauer-Ort in der Revue internationale de filmologie Befassen wir uns mit den Quellen zunächst schlicht empirisch. Be- trachtet man diesen relativ überschaubaren Textkorpus, das heißt die Ausgaben der RIF, lässt sich erstens sagen, dass es für manche Auto- ren verschiedene Beziehungen zwischen Film und Zuschauer gab, und zweitens, dass diese Autoren erklärtermaßen die Absicht hatten, diese Beziehungen zu situieren. Nehmen wir die vielleicht deutlichsten Bei- spiele, auf die sich diese Behauptung stützt. Im Protokoll der Diskus- sionsrunde «Integration des Kinos ins gesellschaftliche Leben und die Freizeit» während des 2. Internationalen Filmologie-Kongresses (19. bis 23. Februar 1955) sagte Étienne Souriau, man könne sich nicht damit begnügen, die Wirkungen des Films auf den als isoliert ange- nommenen Einzelnen zu protokollieren: «Die Wirkungen sind sehr unterschiedlich, je nach Art der Umgebung: bei der Vorführung in ei- nem gewöhnlichen Kino oder in einem Film-Club etc.» (1955, 59). Mit Souriau scheint also das Bewusstsein einzusetzen, dass der Ort des Konsums das Filmerlebnis beeinflusst, freilich noch ohne irgendeine Art der Theoretisierung. Der Autor konstatiert lediglich, dass der kri- tische Geist eines Zuschauers bei der Vorführung eines Films in einem vollen großen Kinosaal abnimmt, bei einer Vorführung im kleinen Saal eines Film-Clubs hingegen geschärft wird.7 Diese Ansicht scheint recht weit verbreitet unter den damaligen Beobachtern, die von ihrer intel- lektuellen Warte aus künstlerische Filme den populäreren vorziehen. Die von Souriau lediglich konstatierten unterschiedlichen Verhal- tensweisen bzw. Filmerlebnisse werden im folgenden Jahr, also 1956, von Maurice Debesse und Henri Dieuzeide in zwei Artikeln theo- 1968 und Lowry 1982, 64–65. 6 In einer zweiten Phase dieses Forschungsprojekts werde ich mich mit den anderen Publikationen aus dem Umkreis des Institut de Filmologie (von seinen Mitgliedern veröffentlichten Büchern, Kolloquiumsprotokollen usw.) beschäftigen. 7 Juliane Rebentisch (2003) stellt eine ähnliche Beziehung her zwischen dem Muse- um, wo der Betrachter seinen Standort vor dem Werk frei wählen kann, und dem Kino, wo der Zuschauer bei der Vorführung einen unveränderlichen und festgeleg- ten Platz hat. Diese Bewegungsfreiheit ermögliche dem Betrachter eine intellektuell sehr viel reichere Reflexion, als wenn er in einem «normalen» Kino säße. Ich danke Vinzenz Hediger für diesen Hinweis. 128 montage AV 19 /2 / 2010 retisiert, die im selben Heft erscheinen. Als Maßstab nehmen beide den «üblichen Kinosaal» (ein in der RIF häufig verwendeter Aus- druck), doch Debesse beschäftigt sich mit einer bestimmten Alters- gruppe, Kindern und Jugendlichen, daher auch mit den von ihnen vornehmlich besuchten Orten, das heißt Klassenzimmer und Film- Clubs, während Dieuzeide detailliert die Rezeption von Filmen im Kreis der Familie, das heißt, vor allem in privaten Wohnzimmern ana- lysiert. Anders gesagt, Debesse untersucht das Filmerlebnis, indem er jeweilige Veränderungen im Verhalten des Publikums beobachtet (der Akzent liegt auf dem Zuschauer), Dieuzeide hingegen beschreibt den Raum, in dem das Filmerlebnis stattfindet (der Akzent liegt auf dem Ort des Konsums). Debesse (1956) untersucht das, was er als «Standortverhalten im Kino» bezeichnet (das heißt die Beziehungen zwischen Zuschauer, Film und Ort des Konsums), um es von der Reaktion auf den Film (also der reinen Beziehung zwischen Zuschauer und Film) abzugren- zen, und beobachtet einen Unterschied im Verhalten der Kinder und Jugendlichen, je nachdem, ob sie in der Schule, im Film-Club oder in einem üblichen Kino sind. Sein Ansatz, der dem der Sozialpsychologie sehr verwandt ist, basiert auf mehreren Befragungen der Jugendlichen. Die zusammengetragenen Ergebnisse machen deutlich, wie wichtig die Umgebungsfaktoren (Publikumsdichte, Bequemlichkeit usw.) des Ortes sind, an dem der Film angeschaut wird. Es ist nicht erstaunlich, so Debesse, dass Kinder im Kino vor und während der Vorführung ei- nes Films öfter den Platz wechseln, dass die älteren den jüngeren den Film erklären oder manche sich auf ihren Sitz knien und sich zum Pu- blikum umdrehen, weil sich für sie das eigentliche Schauspiel eher im Kinosaal als auf der Leinwand abspielt. In einem Klassenzimmer oder im Film-Club hingegen ist die Situation völlig anders: Die Anwesen- heit eines Lehrers oder einer Art «Diskussionsmoderators» hindert die Kinder daran, vor und während der Filmvorführung spontan zu re- agieren. Debesse schließt hieraus: Es ist gefährlich, den Film von seinem Kontext, also von der Umgebung der Vorführung zu isolieren [anders gesagt, nur die Beziehungen zwischen Film und Zuschauer zu untersuchen, PhG]. Das hieße, den Film sozusa- gen außerhalb seiner ökologischen Nische zu betrachten; und in dieser künstlichen Situation wäre die filmische Tatsache [fait filmique*] nicht mehr * [Anm.d.Ü.] Das Begriffspaar fait filmique und fait cinématographique wurde von Gilbert Cohen-Séat in Anlehnung an den von Marcel Mauss geprägten Term fait social Gauthier: «Fernseh-Revolution» und Filmerfahrung 129 vollkommen zu erfassen. Stellt man diese hingegen wieder in den Zusam- menhang der Freizeitgestaltung, hat man die Möglichkeit, sie vollständiger zu begreifen (1956, 109). Debesse zufolge bilden Film, Zuschauer und Ort des Konsums ein Ganzes, eine Art ausgeglichenes Ökosystem, und die Umweltfaktoren beeinflussen das Filmerlebnis stark. Dank dem Konzept des «Standort- verhaltens», mit dem er den Ort des Konsums einbezieht, kann sich Debesse von dem Ansatz freimachen, der sich lediglich auf die Untersu- chung der Beziehungen zwischen Zuschauer und Film konzentriert. In derselben Nummer der RIF beschäftigt sich Henri Dieuzeide mit der Ausstrahlung von Filmen im Fernsehen und den daraus re- sultierenden neuen Beziehungen zwischen Film, Zuschauer und Ort des Konsums. Für diesen Forscher führt das Fernsehen zu einem re- gelrechten Bruch mit der alten, gewohnten Art des Filmerlebens. Er schreibt: Die filmwissenschaftliche Forschung war es gewöhnt, bewegte Bilder mit dem Kino zu verknüpfen. Doch das Fernsehen verändert eine Reihe von Grundbedingungen der Filmrezeption radikal, wie etwa die hypnotische Anziehung in der Dunkelheit und die Riten der kollektiven Rezeption [...]. Das Schicksal der außergewöhnlichen Revolution der menschlichen Beziehungen durch das Kino steht auf dem Spiel. Verträgt es das Kino, mit seinen Fabeln, seiner Suche nach Bildern und seinen Symbolen, in andere Kontexte für andere Augen verpflanzt zu werden? (1956, 111ff; Herv. PhG) Für Dieuzeide ist das Fernsehen eine entscheidende Etappe der Er- oberung des Alltags durch die bewegten Bilder: «Zu Hause, mitten unter den häuslichen Gegenständen platziert, überrascht das Bild den entspannten, wehrlosen Menschen von jetzt an in seiner Privatsphä- re» (1956, 111). Um diese neue Beziehung zwischen Zuschauer, Film und Ort des Konsums zu erfassen, entwickelt der Autor das Konzept des «ikonischen Films» [film iconique], das er demjenigen des «lein- wandlichen Films» [film écranique] gegenüberstellt. «Ikonisch» ist, dem Autor zufolge, was «auf der Bildröhre des Fernsehempfängers Gestalt annimmt, [ob dieses Bild] nun ursprünglich filmisch ist oder nicht» (Dieuzeide 1956, 112), «leinwandlich» hingegen nach einer Etienne (soziale Tatsache) eingeführt, um terminologisch zwischen Phänomenen unterschei- den zu können, die sich auf den Film als Artefakt beziehen und solchen, die Teil der Institution Kino sind. Vgl. Lowry 1982, 4. 130 montage AV 19 /2 / 2010 Souriau entliehenen Definition «alle Licht- und Schattenspiele, An- ordnungen, Formen und Bewegungen, welche auf der Leinwand wäh- rend der Projektion beobachtet werden» (Souriau 1997, 157). Eine «ikonische Einrichtung» ist demnach ein Ort, wo man speziell ikoni- sche Filme konsumiert. Werden die dort ausgestrahlten Filme, fragt sich Dieuzeide, unter denselben Bedingungen gezeigt und vom Zuschauer aufgenommen wie der «leinwandliche Film»? Und wenn nicht, wie sehr unterscheiden sich diese Rezeptionssituationen? Daher schlägt der Autor vor, leider ohne es je zu tun (zumindest in der RIF), die Re- aktionen und Motivationen der Zuschauer von ikonischen Filmen in italienischen und belgischen Cafés und den Télé-Clubs in Frankreich, Italien und Japan zu untersuchen, an Orten also, wo die Rezeptions- bedingungen völlig anders seien als im herkömmlichen Kino. Spä- ter analysierte Dieuzeide indessen detailliert die Rezeption ikonischer Filme im häuslichen Kreis und teilt dieses wichtigste Universum des Zuschauers im Feld des Ikonischen schematisch in drei konzentrische Kreise ein (1956, 120). Im Zentrum befindet sich die «ikonische Sphä- re», in welcher der Film unter anderen Bildern auftaucht (den Bildern einer Fernsehreportage beispielsweise). Diese Sphäre liegt innerhalb der «vertrauten häuslichen Sphäre», einem implizit präsenten «nicht gesehenen Sichtbaren», das «sich beim geringsten Riss der ikonischen Sphäre wieder vordrängen» kann. Während zumindest in einem nor- malen Kinosaal alles so eingerichtet ist, dass die Aufmerksamkeit des Zuschauers sich einzig auf die Leinwand richtet, auf die der Film pro- jiziert wird – der Raum wird abgedunkelt, der Projektor ist hinter den Zuschauern verborgen usw. –, befindet sich das Bild des ikonischen Films unter anderen Objekten mit unterschiedlichen «Koeffizienten existenzieller Intensität». Dieuzeide beschreibt es so: Das Bild [des] ikonischen [Films] wird nur durch den polierten getischler- ten Rahmen begrenzt, fügt sich also unter die Möbel ein. Der Bereich au- ßerhalb dieses Bildes verschwindet nicht. Die Stimulation durch die Umge- bung bleibt. Sie wird noch verstärkt durch das gedämpfte Licht im Raum, das für eine gute Wahrnehmung des Fernsehbildes nötig ist (1956, 19). Anders gesagt, im Gegensatz zum Leinwandfilm drängt sich der ikoni- sche nicht auf. Das Ganze wird schließlich umgeben von der «Sphäre der Außenwelt». Auch sie macht sich ständig bemerkbar, durch un- erwartete Bewegungen oder dissonante Geräusche (etwa das Hupen eines Autos). Kurz, in der Privatwohnung werde die «klassische» Be- ziehung zwischen Zuschauer und Film durch zahlreiche Elemente ge- Gauthier: «Fernseh-Revolution» und Filmerfahrung 131 stört, doch vor allem verändere die «affektive Behaglichkeit aufgrund der Sicherheit, Vertrautheit und des Wegfalls aller rituellen Verbote während der Vorführung – insbesondere die Möglichkeit körperli- cher und stimmlicher Betätigung» die Haltung des Zuschauers vor dem ikonischen Film von Grund auf. Das «Theatralisch-Spektakuläre», in dem Méliès das Wesen des Films sah, so Dieuzeide abschließend, weicht nun einem «Häuslich-Spektakulären» (1956, 119). Die «Fernseh-Revolution» Die oben zitierten Texte stellen natürlich nur einen winzigen Teil der in der RIF erschienenen Artikel dar. Aber sie genügen zweifellos, um auf einer soliden empirischen Grundlage die «Karte eines neuen Film- publikums» zu skizzieren, auf der, um Dieuzeides Analogie fortzufüh- ren, die folgenden Regionen zu finden sind: 1. gewöhnliche Kinos; 2. Film-Clubs; 3. Klassenzimmer; 4. Privatwohnungen; 5. Cafés; und 6. schließlich Tele-Clubs. Diese Karte ist offensichtlich unvollständig, doch das ist, so meine ich, unwichtig, denn ihr Wert liegt eher darin, dass sie das bewusste oder unbewusste Interesse der Mitglieder und Freunde der Association belegt, die Theorie aus dem herkömmlichen Kinosaal «herauszuholen». Eine Erklärung für dieses Interesse, so meine Hypothese, ist das relativ neue Fernsehen. Kinematographische Bilder sind zwar schon immer an unterschiedlichen Orten gezeigt worden, doch es scheint, als führe – den RIF-Autoren zufolge – das Fernsehen für das Filmerleben zu sehr viel tiefgreifenderen Veränderungen. Das mag man dem folgenden Protokoll der Diskussionsrunde «Probleme des Kinos und des Fernsehens im Vergleich» während des 2. Internati- onalen Filmologie-Kongresses entnehmen: «Das Fernsehen macht das Kino zu einer neuen Art von Schauspiel, einem Schauspiel zuhause, wobei der Zuschauer sich in einer ganz neuen Umgebung befindet» (Gratiot- Alphandery 1955, 67; Herv. PhG). Gleich mehrere Filmologen halten den Unterschied zwischen der Filmerfahrung in einem üblichen Kino und dem zuhause vor dem Fernseher für so groß, dass man das ganze bis dahin entwickelte Theo- rie-Instrumentarium erneuern müsste. Henri Dieuzeide hat einige be- sonders erhellende Sätze geschrieben, die in diese Richtung gehen: Hier muss man sich fragen: In welchem Maß ist die noch unvollendete filmwissenschaftliche Reflexion über das kinematographische Bild durch das Auftauchen des Fernsehbildes nicht bereits überholt oder widerlegt? [...] Werden das Universum des Films und seine Wirkungen, so wie der 132 montage AV 19 /2 / 2010 Filmologe sie zu umschreiben versucht hat, durch den Übergang auf die Kathodenröhre nicht radikal verändert? In welchem Ausmaß entstellen Fernsehsender und -bildschirm das kinematografische Werk, wenn sie es aufnehmen und verwandeln? (1956, 111ff) Auch die neuartige Technologie des vom Fernsehen ausgestrahlten Bildes trägt ihren Teil zu den Veränderungen des Filmerlebnisses bei. Erinnern wir uns, dass das kinematographische Bild in Drive-In-Kinos oder bei Vorführungen in der Art der Hale’s Tours sichtlich dieselben Eigenschaften hat wie in üblichen Kinos: Das Bild ist das Ergebnis einer Projektion auf eine weiße Leinwand. Das ist beim Fernsehbild nicht der Fall. Dieses neue Bild wird von den meisten Filmologen ne- gativ wahrgenommen. So verlieren für Leboutet «die bewegten Bil- der auf dem kleinen Fernsehschirm gegenüber den großen Bildern im Kino, selbst wenn diese von sehr weit weg gesehen werden, an dramatischer Kraft» (1953, 41). Für Oldfield eignet dem Fernsehbild «eine etwas alberne Unwirklichkeit», man habe «eher den Eindruck, ein Gemälde zu betrachten, das sozusagen lebendig geworden ist, denn als Zuschauer an der Szene teilzuhaben» (1948, 276). Das Fernsehbild führe zu einer gewissen «Desakralisierung des Films»,8 die ihn von sei- nem Sockel hole. Dadurch verändere sich ganz generell die Wahrneh- mung des Films als solchem: Während das kinematographische Bild sich im Allgemeinen wie ein gro- ßes Fenster darbietet, das sich auf eine andere Welt hin öffnet, wird der Fernsehempfänger eher wie ein Haushaltsgerät empfunden, zugleich Mö- belstück und Vergrößerungsglas, und dadurch aller zeremoniellen Magie beraubt. Sein Platz zu Hause, der alltägliche Gebrauch, den man davon macht, vermindert den außergewöhnlichen, ja sakralen Charakter, den das Filmbild haben konnte (Dieuzeide 1961, 23). Aus all diesen Gründen scheint es mir angemessen, im Hinblick auf das Aufkommen des Fernsehens analog zur gegenwärtigen Redewei- se von der «digitalen Revolution» von einer «Fernseh-Revolution» zu sprechen. Damit ist nichts Praktisch-Technisches gemeint, wie man etwa von der Fernbedienung oder dem Videorekorder sagen könnte, sie hätten das Fernsehen revolutioniert. Vielmehr verweist dieser Be- griff hier auf die Zeit, als sich die Theoretiker des Einflusses des Fern- 8 Der Ausdruck stammt von Olivier Séguret (2007). Ich danke André Gaudreault für den Hinweis auf diesen Artikel. Gauthier: «Fernseh-Revolution» und Filmerfahrung 133 sehens auf das Kino bewusst geworden sind. Und natürlich vollzieht sich solche Bewusstwerdung nicht einfach synchron mit dem Auftau- chen einer neuen Technologie. Der Einfluss der «Fernseh-Revolution» auf die damalige Filmtheorie Die «Fernseh-» und die «digitale Revolution» sind zwar gleichartige Ereignisse, was aber nicht heißt, dass sie gleichwertig sind. Die «digi- tale Revolution» scheint jedenfalls, auch wenn das erst noch bewiesen werden muss, einen größeren Einfluss auf die Geschichte und Theorie des Kinos zu haben, als das für die «Fernseh-Revolution» der Fall war.9 Nichtsdestoweniger ist der Einfluss, den das Aufkommen des Fernse- hens auf die Theorie des Kinos hatte, alles andere als bedeutungslos. Es hat die Filmologen dazu veranlasst, Begriffe zu entwickeln oder zumindest manche der schon vorhandenen zu präzisieren, um diese neuen Gegebenheiten besser zu erfassen. So können wir zumindest zwei Auswirkungen der «Fernseh-Revolution» auf die Filmtheorie oder, genauer, auf manche Arbeiten im Rahmen des Institut de Filmo- logie skizzieren. 1. Die Problematisierung der «klassischen Beziehung» zwischen Film, Zu- schauer und Ort: Heute fällt es unstreitig schwer, die der so genannten «digitalen Revolution» geschuldeten Beziehungen zwischen Film, Zuschauer und Ort genau zu definieren. Das Fernsehen scheint die Mitglieder der Association vor ein ähnliches Problem gestellt zu ha- ben. Wie Henri Dieuzeide schreibt: «Das Fernsehen macht [das fil- mische Universum] überall und zu jeder Gelegenheit möglich» (1956, 128; Herv. PhG). Was Dieuzeide hier einigermaßen zugespitzt be- schreibt, hat natürlich auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie die Beziehungen zwischen Film, Zuschauer und Ort theore- tisch gefasst werden. Zwar haben die Mitglieder der Association eini- ge dieser Beziehungen mehr oder weniger genau definiert, aber es scheint ihnen doch schwer gefallen zu sein, sie in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Genauso wie die heutigen Theoretiker sind die Filmo- logen daher darauf verfallen, die verschiedenen Beziehungen, die sie beobachteten, im Hinblick auf die Unterschiede zur so genann- ten «klassischen Beziehung» zwischen Film, Zuschauer und Ort 9 Ein konkretes Beispiel für den Einfluss der «digitalen Revolution» auf die Historio- grafie des Kinos diskutiere ich in Gauthier (2009). 134 montage AV 19 /2 / 2010 des Konsums zu definieren (eine Beziehung, deren Definition sich nicht verändert zu haben scheint!). Während man sich heute fragt, ob das Betrachten eines Films auf dem Computer-Bildschirm oder dem Handy auch nur im geringsten der «klassischen Beziehung» zwischen Film, Zuschauer und herkömmlichem Kinosaal ähnelt, fragten sich manche Mitglieder der Association, «inwiefern sich der im Fernsehen ausgestrahlte Film in den Komplex der Interaktion zwischen Schauspiel und Zuschauer einfügt, die für die kinemato- graphische Tatsache [fait cinématographique] charakteristisch ist» (Di- euzeide 1956, 124). 2. Probleme der Terminologie und der begrifflichen Schärfe: Man scheint nicht nur Mühe damit gehabt zu haben, die Gesamtheit dieser Be- ziehungen zu erfassen, sondern vor allem auch, sie zu benennen. Trotz der häufigen Verwendung der beiden Begriffe Filmschauspiel [spectacle filmique] und Kinoschauspiel [spectacle cinématographique], um ein «mithilfe von Licht und einer Reihe von Bildern auf Zel- luloidfilm erzeugtes Schauspiel» (Ingarden 1947, 127) an jeweils ei- nem anderen Ort zu definieren, genügen sie den Autoren der RIF offenbar nicht. Natürlich verwendet man sie, aber man spricht auch von «Fernsehschauspiel» [spectacle télévisuel], von «Fernsehkino» [té- lécinéma] und «Fernseherfahrung» [expérience télévisuelle] (wenn man ausschließlich über den «ikonischen Film» im Sinne Dieuzeides re- det), aber auch von der «Kinoschauspielsituation» [situation spectacle cinématographique], von «Kinosituation» [situation cinématographique], von «Filmerfahrung» [expérience filmique] und «Kinophänomen» [phénomène cinématographique], um nur die häufigsten Begriffe zu nennen. Manchmal verwendet man in ein und demselben Text so- gar mehrere dieser Ausdrücke, ohne irgendeinen Unterschied zu machen. In einem Artikel mit dem Titel «Der Prozess der Identi- fikation und die Bedeutung der Suggestibilität in der Kinosituati- on» schreiben Bouman, Heuyer und Lebovici über ein Experiment, das sie im Auditorium einer Klinik durchgeführt hatten: «Wir ha- ben das sehr knappe Protokoll eines Experiments vorgestellt, dessen Ziel es war, die Identifikation in der Kinosituation zu untersuchen». Und etwas weiter: «[...] die Identifikation ist für uns der zentrale Aspekt des Kinoerlebnisses» (Bouman/Heuyer/Lebovici 1953, 139; Herv. PhG). In der Zusammenfassung ihres Artikels schließlich ist zu lesen: «Die Autoren stellen einen experimentellen Versuch vor, den Prozess der Identifikation im Kinoschauspiel zu untersuchen» (ibid., 140; Herv. PhG). Gauthier: «Fernseh-Revolution» und Filmerfahrung 135 So entsteht ein regelrechter Wildwuchs an Bezeichnungen, und das trotz Étienne Souriaus ständiger Mahnung, dass man sich in der Fil- mologie auf eine klare und genaue Begrifflichkeit einigen müsse. Die terminologische Vielfalt entspricht einer gewissen Unsicherheit der Filmologen angesichts der durch das Fernsehen entstandenen neuen Gegebenheiten und zeugt wohl von der Schwierigkeit, die neuen Be- ziehungen zwischen Film, Zuschauer und Ort zu benennen. Der kritische Rückblick auf die Veröffentlichungen der Associati- on pour la recherche filmologique, bzw. in diesem Fall ihre Zeitschrift, die RIF, konnte erstens zeigen, dass es für einige Autoren verschiedene Beziehungen zwischen Film und Zuschauer gab, und zweitens, dass diese Autoren erklärtermaßen die Absicht hatten, diese Beziehungen zu situieren. Das Auftreten eines neuen Mediums, in diesem Fall des Fernsehens, hat diese Theoretiker dazu veranlasst, neue konzeptuelle Unterscheidungen zu entwickeln (so z. B. durch die Begriffe «Stand- ortverhalten» [Debesse 1956, 103] «ikonische Sphäre» [Dieuzeide 1956, 112]), um die neuen Formen des Filmerlebens oder genauer die neuen Beziehungen zwischen Film, Zuschauer und Ort des Konsums zu erfassen. Das Hauptanliegen hinter diesen neuen Begriffsbildungen war ganz offenbar, sich von dem damals vorherrschenden Ansatz zu be- freien, der sich fast ausschließlich auf die Beziehungen zwischen Film und Zuschauer konzentrierte. Die von Debesse zusammengetragenen Ergebnisse unterstreichen, wie wir gesehen haben, die Bedeutung der Umgebungsfaktoren der Orte (Publikumsdichte, Bequemlichkeit etc.), wo der Konsum eines Films stattfindet, während Dieuzeide dank der Schematisierung der Filmrezeption im Kreis der Familie zeigen kann, wie grundverschieden dieses neue Filmerlebnis von dem des Zuschau- ers in einem üblichen Kino ist. Es steht außer Frage, dass die Filmtheorie heute von der digitalen Revolution gleichfalls auf verschiedene Weise betroffen ist. Wie Ca- therine Russell erklärt: Die neuen Medien dürften die Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen, die einst mit dem Kino verbunden waren, drastisch verändert haben. [...] Die neuen Medien haben das Kino nicht als auratischen Gegenstand neu erfun- den, sondern als ein komplexes Erlebnis mit vielen Facetten (2004, 84). Diese Aussage über die neuen digitalen Technologien gilt in gewissem Maß auch für das Fernsehen. Es scheint, dass das Fernsehen das Film- erlebnis des Zuschauers von Grund auf verändert hat. Was ich den «Bruch» oder die «Revolution» des Fernsehens genannt habe, hat sich 136 montage AV 19 /2 / 2010 auf die damalige Filmtheorie ausgewirkt. Vor allem aber hat dies die Filmologen dazu veranlasst, sich nicht mehr zu fragen: «Was ist das Kino?», sondern «Wo ist das Kino?»10 Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer. Literatur Bouman, J.-C. / Heuyer, G. / Lebovici, S. (1953) Une expérience d’étude de groupes. Le processus de l’identification et l’importance de la suggestibilité dans la situation cinématographique. In: Revue internationale de Filmologie 4,13, S. 111–141. Debesse, Maurice (1956) L’enfant au cinéma. In: Revue internationale de Filmo- logie 7,26, S. 99–109. Dieuzeide, Henri (1956) Quelques problèmes posés par l’utilisation des films à la télévision. 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Tatsächlich kritisierten zahlreiche Kommentatoren damals die Weise, wie manche Filmologen die Beziehungen zwischen Kino und Zuschauer untersuchten. Ihre Untersuchun- gen fanden oft unter kontrollierten Laborbedingungen statt, nicht an den Orten, wo die Filmbilder normalerweise vorgeführt wurden. Manche der Kritiker waren selbst Filmologen, der vielleicht schärfste war Luigi Volpicelli: «Die Untersuchung der Stimulation durch den Film im Labor wird immer abstrakt bleiben, zumindest in dem Maß, wie diese Stimulation von den Werten einer historisch gewachsenen Gesellschaft losgelöst wird, den einzigen, die ihr wirklich Farbe, Qualität und Kraft verleihen können [...]. Man muss die Filmologie von diesem vorherrschenden expe- rimentellen Szientismus befreien» (Volpicelli 1956, 21-26). Die Kritik hielt zumin- dest bis 1968 an: «[Die Filmologie] wird ihre Richtung ändern müssen, sie darf sich nicht auf das Labor und die psycho-physiologische Forschung beschränken, sondern sollte parallel dazu die Empirie und die theoretische Reflexion weiterentwickeln» (Gawrak 1968, 117). Gauthier: «Fernseh-Revolution» und Filmerfahrung 137 Ingarden, Roman (1947) Le temps, l’espace et le sentiment de réalité. In: Revue internationale de Filmologie 1,2, S. 127–141. Leboutet, L. (1953) Étude comparative de la perception du positif sur papier et de l’image fixe projetée sur écran. In: Revue internationale de Filmologie 4,12, S. 39–52. Lowry, Edward (1982) The Filmology Movement and Film Study in France. Ann Arbor: UMI Research Press. Oldfield, R. C. (1948) La perception visuelle des images du cinéma, de la télé- vision et du radar. In: Revue internationale de Filmologie 1,3–4, S. 263–279. Rebentisch, Juliane (2003) Ästhetik der Installation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 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Graphic User Interface der AFRESA-Software Zur Wertigkeit von Filmen Retrodigitalisierung und Filmwissenschaft Franziska Heller und Barbara Flückiger Die Medientransition von historischem, fotochemischem Film zu digi- talen Daten wirft grundsätzlich eine Vielzahl von ethischen, vor allem aber auch ästhetischen Problemen auf.1 Ein Kernpunkt ist dabei die Frage nach der Funktion und den Denkformen von Wert oder Wertig- keiten: Welche Dispositive und gedanklichen Frameworks, d. h. welche Zuschreibungsmechanismen, -kontexte und -bedingungen (vgl. Fos- sati 2009) bestimmen den Wert von historischen Filmen, der als Re- ferenz maßgeblich die digitale Erfassung und Bearbeitung bestimmt? Die Komplexität dieses Feldes liegt zum einen im industriellen, institu- tionellen wie ästhetischen Objekt begründet, das der Gegenstand Film darstellen kann. Hinzu kommt der Bereich der Memopolitik: grund- legende Entscheidungen in der Einschätzung und dem Gebrauch des audiovisuellen Erbes werden über diese Wertedebatte getroffen und formieren somit die Art und Weise, wie wir heute historische Bewegt- bilder sehen.2 Somit liegt dieser Medienwandel – die sogenannte Re- trodigitalisierung – in einem gesamtgesellschaftlich nachhaltig wirksa- men und sensiblen Feld. 1 Vor allem mit Blick auf die Ästhetik stellt es eine große ungelöste Frage dar, wie sich tatsächlich unsere Bildwahrnehmung über das Ersetzen der Trägermaterialien verän- dert. Diesen Aspekt werden wir andernorts ausführlich besprechen. 2 Hierbei muss betont werden, dass die digitale Medientransition historisch zusam- mengedacht werden muss mit früheren technologischen Innovationen in der Film- geschichte. Unsere These ist, dass die Digitalisierung nicht grundlegend neue Prob- leme schafft, aber herkömmliche Komplexe verdichtet und deutlich zuspitzt. 140 montage AV 19 /2 / 2010 Bei den folgenden Überlegungen geht es darum, über die Refle- xion der interdisziplinären Arbeit in diesem Feld die eigene Positi- on als FilmwissenschaftlerIn näher zu bestimmen. Dieses Anliegen be- gründet sich durch den konkreten Arbeitszusammenhang in einem Forschungsprojekt, das dominiert ist von technischen, informatischen Diskursen wie ökonomischen Interessen. In diesem Umfeld sind wir herausgefordert, die praktischen Möglichkeiten und sozial wirksamen Potenziale von filmwissenschaftlicher Forschung auszuloten. Vor die- sem Hintergrund erfolgt in diesem Aufsatz eine argumentative Eng- führung, in der wir vor allem die sozio-ökonomische Dimension der Medientransition und ihre Denkmuster untersuchen. Dahinter steht auch die Frage, was die Filmwissenschaft in einem von der Ökono- mie und technischen Anwendungsseite her gedachten und dominier- ten Feld leisten kann: Was ist der besondere soziale und kulturelle Wert der Filmwissenschaft im Kontext der Retrodigitalisierung? Ein integriertes System zur Digitalisierung von Archivfilmen Eingangs soll der konkrete Arbeitszusammenhang im Rahmen des Forschungsprojekts AFRESA3 vorgestellt werden, aufgrund dessen wir unsere weiteren Überlegungen entwickelt haben. Dessen Ziel ist es, ein integriertes System zur Digitalisierung und zur nachfolgenden automatischen Bearbeitung von fotochemischem Film zu entwerfen. Dies beinhaltet zum einen die restaurative Bildbearbeitung wie auch zugleich die Extraktion von Metadaten, Ablage der Informationen in Datenbanken und die Generierung unterschiedlicher digitaler Deriva- te des Materials. Das Besondere an dem Projekt ist vor allem der Ge- danke der Integration aller Prozesskomponenten. Denn die einzelnen Systemelemente sind eigentlich bereits auf dem Markt erhältlich.4 3 AFRESA (Automatisches System zur Erfassung und Rekonstruktion von Archiv- filmen) ist ein anwendungsorientiertes Projekt, das – ermöglicht durch die För- deragentur für Innovation KTI – zur Zeit von den Universitäten Basel und Zürich sowie Partnern aus der Industrie in der Schweiz durchgeführt wird. Ziel ist es, ein integriertes System zur Digitalisierung, Rekonstruktion und Erfassung von Archiv- filmen zu entwickeln. 4 Es gibt sowohl Scanner wie auch einzeln zu erstehende Restaurationssoftware. Zu Datenbanken und Bibliothekssystemen sowie zur Speicherung der Metadaten der digitalen Daten gibt es verschiedene Ansätze seitens der Bibliotheks- wie Archiv- wissenschaft. Immer noch kranken – ungeachtet noch zusätzlicher Probleme – die digitalen Speicherungssysteme an der Vielfalt von Formaten, obwohl es zunehmend Standardisierungsinitiativen gibt. Heller/Flückiger: Zur Wertigkeit von Filmen 141 Die Grundidee von AFRESA ist es nun, die beschriebenen Kom- ponenten aufeinander abzustimmen, die Elemente über ein Sichtungs- tool einsehbar und vor allem über eine einfache Schnittstelle (Usabi- lity) für eher philologisch ausgebildetes Archivpersonal kontrollierbar und zugänglich zu machen. Es soll eine mobile Einheit entstehen, die wahlweise von einem Archiv gemietet oder gekauft werden kann. Auf diese Weise soll es ermöglicht werden, den Digitalisierungs- und den damit verbundenen Bestandserfassungsprozess in house durchzuführen – in den Archiven vor Ort. Aufgrund des sonst benötigten Know- hows sowie der tatsächlich vorhandenen Gerätschaften werden üb- licherweise solche Prozesse (vor allem das Scannen) an spezialisierte Labore ausgelagert. Der Forschungsantrag von AFRESA stützt sich auf eine von der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK durchgeführte Studie über die spezifische Situation in der Schweiz. Vor allem kleinere und mittlere Archive, die eben nicht ausschließlich auf Film spezialisiert sind, ver- fügen dort über Filmbestände, die zum Teil nicht konservatorisch kor- rekt gelagert sind, zum Teil noch gar nicht erfaßt und katalogisiert sind. Dieses Kulturgut überhaupt erst einmal sichtbar zu machen, ist nicht nur ein ethisch-moralisches Desiderat, sondern erhält zusätzlich eine kulturpolitische Dimension: aufgrund der zunehmenden Erkenntnis nämlich, die sich vor allem in kleineren Staaten (etwa Schweiz, Nie- derlande, Dänemark, Schweden) manifestiert, dass das audiovisuelle Erbe für die nationale Identitätsbildung innerhalb Europas eine zent- rale Rolle spielt (vgl. Schweizerisches Bundesamt für Kultur 2008). In dem Bestreben, insbesondere den kleineren bis mittleren Archi- ven die digitale Erfassung – entsprechend dem derzeitigen Qualitäts- standard mit einer Auflösung von 2k (entspricht 2048 Pixel in der Horizontalen) – und eine erste digitale Grundversorgung in der Bildbe- arbeitung zukommen zu lassen, ist es eine der wichtigsten Prämissen von AFRESA, dass die Kosten möglichst niedrig gehalten werden. Die Automatisierung ist hierbei ein entscheidender Aspekt. Insofern be- gründet sich vor allem hier der Primat, möglichst simpel und einfach in der Bedienung zu sein und gleichzeitig internationale und ethische Standards zu erfüllen. Konkret beteiligt an dem Projekt ist die Filmtechnik-Industrie mit der Postproduktionsfirma Swiss Effects GmbH und mit dem Hardware- Hersteller Sondor Willy Hungerbuehler AG. Die Software wird vom Imaging & Media Lab (IML) der Univer- sität Basel entwickelt. Der Zweck der Software ist eine pragmatische Erstversorgung. Für den Benutzer besteht die Software aus den Mo- 142 montage AV 19 /2 / 2010 dulen, die er zu Netzwerken – je nach Bedarf der bildbearbeitenden Funktion – verbinden kann. Wie ein solch eingerichtetes Netzwerk aufgebaut wird, bestimmt dann den Ablauf der tatsächlichen Bildbe- arbeitung. In erster Linie werden folgende Fehler im gescannten Ma- terial korrigiert: ausgeblichene Farben, instabiler Bildlauf, Flickering, Staub, Flecken und/oder Löcher auf dem Filmmaterial sowie vertikale Kratzer. Ein besonderes Feature in diesem Zusammenhang – vor allem im Kontext der langjährigen Forschungsarbeit des Imaging & Media Lab der Uni Basel – ist das Modul YMCapp. Diese Algorithmen können auf ausgeblichene Bilder angewendet werden. Danach kann man die Bilder in einer hypothetisch ‹ursprünglichen› Farberscheinung sehen und speichern. YMCapp basiert auf der Forschung des IML über das Ausbleichverhalten unterschiedlicher fotochemischer Materialien, wobei die chemisch-physikalischen Zerfallsprozesse der Farbstoffe un- tersucht wurden. Damit konnte das IML Modelldaten entwickeln, die – in Algorithmen umgewandelt – den Ausbleichungsprozess in der di- gitalen Form des Bildes reversibel machen. Das gedankliche Framework von AFRESA Interessanterweise nennt das Imaging & Media Lab das Verfahren des Mo- duls YMCapp ‹Rekonstruktion›. Die beiden Begriffe ‹Rekonstruktion› und ‹Restauration› werden in der Präservationspraxis und in den ein- schlägigen Publikationen oft miteinander vermengt. Nach Wall-müller (2008, 20) ist Rekonstruktion, mit Rekurs auf Nicola Mazzanti, vor allem ein redaktioneller Eingriff in das Material, während Restauration einen physischen Eingriff ins Bild beschreibt: Schäden werden entfernt. Diese Differenzierung erscheint wichtig, betrachtet man die gedankli- chen Implikationen der Begriffsverwendung bei AFRESA. Durch den Gestus, sich auf chemische Größen zu beziehen, findet eine diskursive Objektivierung der vorliegenden Veränderungen in den Film-Farben statt. Gleichzeitig scheint der Begriff ‹Rekonstruktion› damit auf die integrale und prämissenhafte Automatisierung des Prozesses zu weisen: Er ist objektivierbar, messbar und damit wiederholbar. Der historische Alterungsprozess wird empirisch gesehen. Künstlerische und kulturell bedingte Aspekte, also auch subjektive Elemente in der Farbwahrneh- mung wie -erinnerung, werden in diesem Workflow weniger bedacht. Damit ist das historische filmische Material in erster Linie durch ein diskursives Framework (vgl. Fossati 2009) bestimmt, das sich über seine fotochemischen Determinanten definiert. Heller/Flückiger: Zur Wertigkeit von Filmen 143 Dies ist auch im Kontext des besonderen Förderungszusammen- hangs zu sehen: Die Förderagentur für Innovation ist eine Institution des Schweizer Bundes, welche die Industrie durch die Vermittlung mit universitärer Forschung unterstützt: «science to market».5 Die markt- relevanten Argumente für den Start von AFRESA waren vor allem die bisherigen Kosten der Digitalisierung. Die dadurch möglich werden- de breitere Verwertbarkeit des Materials gilt als Anreiz für die Archive, tatsächlich zu investieren: So gelangen die Informationen (die Inhal- te der fotochemischen Filme) in das «digitale Ökosystem» (Flücki- ger 2008, 40). Die Sichtung und die einfache, zweckorientierte Gene- rierung von digitalen Derivaten (unterschiedliche Komprimierung je nach gewünschtem Sichtungskontext etwa von PodCast bis hin zu Ki- noprojektion) werden wesentlich vereinfacht. Das Material soll für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden – so das ‹digitale Versprechen›. Bereiche der Filmwissenschaft: Soziale Ökonomie und Film Komplexität des Gegenstandes Als FilmwissenschaftlerIn an einem technisch ausgerichteten Projekt, das von der Förderagentur für Innovation KTI finanziert wird, teilzu- nehmen, bietet die seltene Möglichkeit, in einem dezidiert ökonomi- schen Prämissen gehorchenden Umfeld zu forschen. Dies hat nach- haltige Auswirkungen auf unseren Gegenstand und unsere Methoden. Der eigene Arbeitsertrag wird – anders als in eher philologisch oder akademisch ausgerichteten Forschungsprojekten – vor allem in für die Industrie verwertbaren Resultaten gemessen. Publikationen etwa zäh- len nicht dazu. Unser grundsätzlicher Auftrag lautet, dass wir für die ethischen wie die ästhetischen Fragestellungen zuständig sind. Praktisch bedeutet dies für unsere Forschung zur Digitalisierung von Archivfilmen, dass wir ethische Fragen in konkrete Handlungsan- weisungen sowie ästhetische Qualitäten in ökonomische Wertigkeiten wenden müssen. Ein entsprechender Ratgeber, der beschreibt, welche Filme prioritär zu digitalisieren sind, soll dem System als Manual bei- gelegt werden. Ein sehr grundsätzliches Problem für die Modellierung einer öko- nomisch verwertbaren Präservationspraxis liegt für uns bereits im Ge- genstand begründet: Es geht um filmisches Material als kulturelles und 5 Vgl. http://www.bbt.admin.ch/kti/index.html (letzter Zugriff am 22.10.2010). 144 montage AV 19 /2 / 2010 historisches wie aber auch ästhetisches Gut. Hierbei muss in erster Linie geklärt werden, ob es tatsächlich um die Präservation des foto- chemischen Materials als historisches Artefakt geht oder um die Nutz- barmachung der Inhalte – sozusagen der ästhetischen Struktur. Diesen Prozess beschreibt Cesare Brandi (1963) als die Ablösung der Ima- go vom Träger (zit. n. Janis 2005, 26–27). Dann allerdings ist die Fra- ge, wie die spezifische (Material-)Ästhetik des Ausgangsmaterials etwa im Scan- oder im Farbrekonstruktionsprozess abgebildet werden kann und soll. Im Zusammenhang mit der Retrodigitalisierung kommt bei der Bestimmung der Wertmaßstäbe zusätzlich noch hinzu, dass man sich verständigen muss, worauf man den Fokus legt: auf den Erinne- rungswert (vgl. Riegl 1903; Janis 2005, 21–22) der Inhalte oder des Materials? Oder aber man legt den Fokus auf den Gegenwartswert6 der Inhalte. Der Gegenwartswert des Trägers, hier die digitalen Daten, ist insofern bereits geprägt, als dass er technologisch ein Potenzial ver- spricht: Über die Möglichkeit der Vielzahl von unterschiedlichen digi- talen Derivaten bedingt die Datenform den gegenwärtig dominanten Primat der Zugänglichkeit in der Präservationspraxis. Konkurrierende Wertmaßstäbe Karen F. Gracy (2007) analysiert die unterschiedlichen Interessen in der Filmpräservation und die daraus folgenden Wertzuschreibungsme- chanismen, die wiederum nachhaltig die Handlungspraxis bestimmen. Sie bedient sich ethnologischer Perspektiven, um mit Bourdieu zu- nächst die Felder der Sinn- wie Wertproduktion als soziale Ökonomi- en auszudifferenzieren. Damit versucht sie, die aktiv werdenden Funk- tionsweisen offenzulegen und die Konflikte der einzelnen Felder zu illustrieren (ibid., 87). Nach Gracy bewegt sich die Filmpräservation in einem Feld der kulturellen Produktion. Feld bedeutet im Bourdieu- schen Sinne, dass es als ein separates soziales Universum mit eigenen Regeln sowie einer Koexistenz und Interaktion von multiplen spezifi- schen Strukturen anzusehen ist. Insbesondere im Bereich der kulturel- len Institutionen, die Gracy als einen Raum der «restricted production» bezeichnet, gilt zunächst eine spezifische Form der Wertzuschreibung: «restricted production defines success in terms of prestige rather than economics» (ibid., 87); weiterhin gilt, dass ein Großteil des ‹kulturellen Kapitals› symbolischer Natur ist (ibid., 8). Dennoch konstatiert Gracy 6 Nach Riegl differenziert sich der Gegenwartswert eines Objekts über die Wahrneh- mung des Kunstwerts wie vor allem auch des aktuellen Gebrauchswertes (vgl. ibid.). Heller/Flückiger: Zur Wertigkeit von Filmen 145 die zunehmende Verschiebung bzw. Osmose von Mechanismen von einem Feld zum anderen – vor allem vom Ökonomischen hinein in den Kunst-Bereich: Within the field of cultural production, film preservation is becoming a type of work controlled more by the market for economic goods than that for symbolic goods; moving images will be preserved and made available only as the mass market will bear the costs of such activities (ibid., 7). Es komme zu einer verstärkten Hybridisierung der angelegten Maß- stäbe, die in einem Wechselverhältnis zu entwickelten Technologien und den Präservationspraxen wie -politiken stehen: The field of film preservation may be thought of in terms of a struggle over who has the power to define what constitutes film preservation. Position within the field affects every aspect of preservation work, from the selection of films to the physical techniques used (ibid., 90). Genau an dieser spannungsgeladenen Schnittstelle sieht sich die Film- wissenschaft im Kontext der ökonomisch orientierten Forschung zur Retrodigitalisierung, wie sie in AFRESA erfolgt. Wertrelationen des Ästhetischen Vor diesem Hintergrund erscheint es aus unserer Perspektive interes- sant, Gracy dort weiterzudenken, wo sie Denkmuster der Wertmes- sung aus der neoklassischen Ökonomie kritisch hinterfragt – und eben dies im besonderen Kontext von Filmpräservation und digitalen Tech- nologien: Funktionsweisen des Marktes von kulturellen Objekten zu untersuchen, führt zu dem generellen Problem, dass vom ökonomi- schen System Preis und Wert mit Blick auf kulturelle Objekte gleich- gesetzt werden (Gracy 2007, 50). Im Bereich der kulturellen Ökono- mie formuliert William D. Grampp (1989) gar einen Marktkontext von Angebot und Nachfrage. Der Wert sei extrinsisch, der Preis sei der beste Indikator für ästhetischen Wert: «An object – good, service, or whatever – has economic value if it yields utility. If it is a work of art, the utility is aesthetic» (zit. n. Gracy 2007, 51). In dieser Perspektive werden ästhetische Qualitäten als Instrument gedacht, müssen somit also auch bestimmbar oder messbar sein. Wir stehen nun vor dem konkreten Problem, wie eine solche «Mes- sung» erfolgen kann. Ist dies bei historischen Filmen überhaupt mög- 146 montage AV 19 /2 / 2010 lich? Wie bestimmt man den historischen Wert von Filmen – und dies gesehen im ökonomisch formierten Kontext der Gegenwart? Wie kann man zwischen Erinnerungswert als Mehrwert und dem Gegen- wartswert vermitteln? Wie stark insbesondere im Zusammenhang der monetären Wert- schöpfung des Ästhetischen zwei konkurrierende Gratifikationsme- chanismen aufeinander prallen, zeigt die Geistesgeschichte. Bei Kant standen die Kunst und das Ästhetische noch als interesseloses Wohl- gefallen dem pragmatischen Handeln und Interesse gegenüber. Seit Schillers Kantkritik kann man drei Maßstäbe mit Blick auf das Ästhe- tische unterscheiden, die als Matrix möglicher Gratifikation dienen können. Zunächst kann das Ästhetische am Unterhaltungspotenzial, am möglichen Vergnügen bei der Rezeption gemessen werden. Als zweites lässt sich das Ästhetische in Beziehung zu seinen erkenntnisför- dernden Funktionen setzen: Was leistet es kognitiv für den Rezipien- ten? Drittens eröffnet das Ästhetische auch Raum und Entfaltung von gedanklichen Utopien oder imaginären Gegenentwürfen zur Wirk- lichkeit, deren Qualitäten dann zum Maßstab des Realen geraten. Nun verkompliziert sich im Kontext der Retrodigitalisierung ein solches Framework der Wertschöpfung von Filmen: Denn die drei – hier skizzenhaft zitierten – Kategorien können sowohl in der Sparte des Erinnerungswerts in einem historischen Zusammenhang gesehen werden, wie vor allem auch im Bereich des Gegenwartswerts. Letzte- rer als aktueller Gebrauchszusammenhang von Film – so die These – steht durch die Verbindung mit digitaler Technik und dem mit ihr kol- portierten Primat der Zugänglichkeit im Vordergrund. Damit verbindet sich aber auch das ökonomische Diktum: Zugänglichkeit kann ver- standen werden als Massenakquisition von Rezipienten, denen durch die Zugänglichkeit des Materials suggeriert wird, User bei der Rezep- tion zu werden. So entsteht eine ganz eigene diskursive wie praktische Dynamik der medialen Memopolitik. Die im Augenblick wirksamsten Konstruktionen des Gegenwarts- werts von historischem Film orientieren sich dann auch erstaunlich nah an den geistesgeschichtlichen Vorbildern. So beschreibt Gracy (ibid., 90–91), wie von US-Studios und auch Archiven der Wert an sogenannten «Filmtypen» festgemacht wird: an Feature Films, Silent Films, Non-Fiction (wie Newsreels) sowie Avant-Garde-Films. Hier wer- den ästhetische Qualitäten und kontextuelle wie extratextuelle Merk- male (etwa Autorschaft) als ökonomische Mehrwertversprechen gese- hen. Beim Feature Film stehen die Unterhaltung und das Vergnügen als Maßstab der ästhetischen Qualität im Vordergrund: Heller/Flückiger: Zur Wertigkeit von Filmen 147 The mass production system must produce cultural objects imbued with high entertainment value in order to attract a wider audience, thus they strip the cultural product of its original aesthetic position, offering instead the benefits of new technology (i.e. digital enhancement of image and sound) or the pleasures of a nostalgic backward glance (ibid., 94). Der Stummfilm scheint eine besondere Position einzunehmen, da er nicht mehr den zeitgenössischen Sehgewohnheiten entspricht, was den Begriff der ‹Unterhaltung› in ein differenzierteres Spektrum rückt. Stummfilme erfahren durch diese Differenz einen exzeptionellen his- torischen, intellektuellen wie nostalgischen, wenn nicht gar musealen historischen Mehrwert. In den Bereich der erkenntnisleitenden Wertschätzung des Ästhe- tischen lässt sich ein besonderer Aspekt des Mediums Film einordnen. Begreift man Film in seinem abbildenden Potenzial als Dokument, dann bekommt er den Status von (sinnlich äußerst wirkmächtigem) historischem Informationsmaterial. So geraten insbesondere Non-Fic- tion-Materialien wie Found Footage, Newsreels, aber auch Amateurauf- nahmen in einen besonderen, ökonomisch verwertbaren Fokus.7 Vor allem, wenn man etwa solche ‹Dokumente› verwendet und neu mon- tiert, gewinnen filmische Bilder den Status einer commodity – von Ge- brauchsmaterial, definiert durch seinen pragmatischen, interessegelei- teten und sehr situationsgebundenen Zusammenhang. Unter den dritten Bereich der Wertschöpfung könnte man am ehesten noch die letzte Distinktion von Gracy subsumieren: die his- torischen Avant-Garde-Filme. In diesem «Filmtyp» scheint die ökono- misch orientierte Lektüre des Repräsentations- wie Dokumentensta- tus zurückzutreten. Stattdessen erhält die kunsthistorische Dimension ein besonderes Gewicht. Vielleicht könnte man von einem kunstge- schichtlichen Artefakt oder Zeugnis sprechen. Dies gilt auch für so genannte Orphans,8 deren Dokumentenstatus sich noch stärker durch den Kontext definiert: etwa als historische Quelle der Anthropolo- gie, Ethnologie etc. Deren größtes Manko scheint zu sein, dass ih- nen bestimmte Zuschreibungsreferenzen (Frameworks) fehlen. Dies wirkt umso schwerer vor dem Hintergrund, dass noch immer eine autorzentrierte Vorstellung von Filmproduktion dominiert. Gracy be- 7 Dies ist seit Jahrzehnten schon zentrale Aufgabe und Existenzgrund von Produkti- onsarchiven wie denen von Fernsehsendern. 8 Vgl. weiter Gracy 2007, 93. Unter Orphans versteht man Filme, die keinen Urheber bzw. Rechtehalter ausweisen. Zumeist bedeutet dies nicht-fiktionales Material in al- len Ausformungen. 148 montage AV 19 /2 / 2010 obachtet insofern die Wertschätzung folgender Filmtypen als weniger massentauglich: Film types that are currently held in lower esteem include silent films, avant-garde and independent films, and amateur films/home movies due to their lack of appeal to a wide audience, their inability to provide economic profit, or other perceived lack of value (ibid., 93). Es bleibt die Frage, ob sich mit digitalen Distributionsmöglichkeiten dieser Materialien nicht auch eine neue Form der Wertschöpfung er- gibt, gerade weil sie sich flexibler in neue Kontexte einfügen lassen. Vor allem im Bereich der Feature Films wie aber auch der Non-Fic- tion (vor allem der Newsreels) zeitigt die Frage des Copyrights einen be- sonderen ökonomischen Aspekt: Insbesondere die großen Filmstudios betrachten Filme oft als physische Manifestationen von intellektuellem Eigentum und ökonomischem Gut (vgl. Hediger 2005; Gracy 2007, 45). Nimmt man die Besitzlage der Rechte als Orientierungsmarke der Wertschöpfung, verlagert sich die Argumentationsebene vom Film weg auf eine abstraktere Ebene, die nicht mehr in ihren gedanklichen Grundprinzipien medienspezifisch ist: Film wird zunächst als Eigen- tum, als Besitztum begriffen, die ästhetische Dimension des Films – so unsere These – tritt in dieser Matrix zurück. Dennoch bestimmt dieses Denken nachhaltig, welche Filme tatsächlich für ein Massenpublikum sichtbar gemacht werden. An dieser Stelle kommt besonders deutlich die Verquickung von Film als einem ästhetischen wie zugleich indus- triellen Produkt (mit all den institutionellen Begleiterscheinungen) zum Tragen (vgl. Fossati 2010). Wie die bisherigen Überlegungen gezeigt haben, scheint es ange- bracht oder gar notwendig, die Inkongruenzen in den konkurrieren- den Wertmaßstäben aufzuzeigen. Vielleicht ist die wichtigste Konse- quenz, basal festzustellen: Wert hat keinen universellen ontologischen Referenten (vgl. Gracy 2007, 53). David Throsby (2000, 54) schlägt gar vor, Wert als multidimensionale Größe zu denken. Wie schon ange- deutet, scheint eine solche Mehrdimensionalität dem Medium Film als ‹wert-vollem› Gegenstand inhärent. Um in der Filmsprache zu bleiben: Hängt nicht im wahrsten Sinne des Wortes der Wert des filmischen Bildes am Dispositiv und der Montage? Heller/Flückiger: Zur Wertigkeit von Filmen 149 «Film» im digitalen Framework Die Problematik spitzt sich insbesondere zum gegebenen Zeitpunkt zu, da in der augenblicklichen Medientransition von fotochemischem Material zu digitalen Daten eine besondere Verdichtung stattfindet; dies nicht zuletzt auch deshalb, da die Begriffe von Wert, neoklassische Ökonomie-Ideologie und die technologischen Möglichkeiten digita- ler Daten konzeptuell eng miteinander verquickt werden. Dass das Medium Film hier einen besonderen Status einnimmt, ver- sucht Giovanna Fossati (2009) in einer differenzierten Studie herzulei- ten. Sowohl Gracy wie Fossati zielen darauf, nicht nur die Praxis kon- struktivistisch zu theoretisieren, sondern tatsächlich das Denken in der Praxis zu verändern: Man muss sich der eigenen Historizität und der sozialen Gegebenheiten um Technologieentwicklungen bewusst sein.9 Mit Fossati lässt sich feststellen, dass die Transition von fotochemi- schem Material in die digitale Domäne vornehmlich ein Framework der Gebrauchsformen des Films verstärkt, die das bereits erwähnte Po- tenzial der digitalen Zugänglichkeit fokussieren: Whether looking at motion or at the performative aspect of film, the mind/film approach10 shifts the focus from the relation between reality and material film artifact, the photographic reproduction on film, to the relati- on between film and the viewer. This aspect is of particular importance for film archives, especially in the digital age when, as discussed earlier, users have much stronger say on how and what of our film heritage they wish to access (2009, 116). Michael Loebenstein benennt mit Blick auf die Online-Stellung von historischem Material den Prozess als «Amazonisierung» im digitalen Marketplace (Loebenstein 2009; vgl. Cherchi Usai/Frances/Horwath/ Loebenstein 2008). Alexander Horwath geht noch einen Schritt wei- ter. Schon 2005 machte er eine «neo-liberale Rhetorik» aus, die den Begriff «digital» diskursiv überforme; dieser interagiere mit Ausdrü- cken wie user-driven, content management, content on demand, die bedeu- teten, dass allein die Filminhalte (eben nicht Film als historische Praxis oder materielles Artefakt) sich in einem free-flow befänden, wenn sie 9 Fossati (2009, 149ff) arbeitet hier mit dem soziologischen Modell der SCOT Theory (Social Construction of Technology). 10 Der «mind/film approach» versteht «Film» in seiner ästhetischen, sinnlichen, wenn nicht gar phänomenologischen Wahrnehmungsdimension, hier im Gegensatz zur in- dexikalisch verstandenen Film-Definition (vgl. Fossati 2009, 114ff). 150 montage AV 19 /2 / 2010 etwa online, ohne kuratorische Betreuung oder Rahmung zur Verfü- gung ständen (2005, 7f). Zugespitzt könnte man weiterdenken: Domi- niert die Nachfrage dann zusehends das Angebot der Filmgeschichte? Digitalisierungs-Kultur und Möglichkeiten der Filmwissenschaft Wie die obigen Ausführungen schon methodisch deutlich machen sollten, scheint uns die einzige Möglichkeit – zugleich ein besonde- res Potenzial und Wert der Filmwissenschaft – zu sein, eine (semio-) pragmatische Perspektive gegenüber den komplexen Problemstellun- gen einzunehmen. Damit fokussieren wir die binnenstrukturellen wie ästhetischen Bedingungen, die den Bereich der Retrodigitalisierung umgeben und die Wahrnehmung von Film als historisches Medium bestimmen. Dabei ist es nicht unerheblich, dass die gegenwärtige tech- nische Entwicklung – vor allem mit Blick auf die digitale Domäne und ihre rasante Entwicklung – uns in hohem Maße selbst historisiert. Frank Kessler (2002; 2007) hat in diesem Kontext zahlreiche, zentrale Beiträge zur Methodik filmhistorischen Arbeitens vorgelegt, in denen er sich mit den Potenzialen einer historischen Pragmatik auseinan- dersetzt. In seinen Überlegungen, die er auch in Anlehnung an Roger Odin (2002) entfaltet, macht er heuristische «tools» stark, die die His- torizität der Gegenstände (und des Forschers) in den Blick nehmen (Kessler 2002b, 111). Schließlich verbindet er damit sein Plädoyer für einen «pragmatic turn» (Kessler 2007). Was bedeutet dies praktisch für unsere Arbeit als Filmwissenschaft- ler im Kontext der Retrodigitalisierung? Letztendlich haben die vor- gestellten Überlegungen gezeigt, dass sich der Wert von historischen Filmen in der gegenwärtigen Praxis in erster Linie über die Ge- brauchsformen definiert, die sich wechselseitig bedingen mit tatsäch- lichen Möglichkeiten der digitalen Datenform. In dieser handlungs- orientierten Perspektive – gerichtet auf aktuelle Kontexte – kommt dem Gegenwartswert besonderes Gewicht zu. Der historische Erinne- rungswert – vor allem der der Bildinhalte – wird nachhaltig durch das aktuelle Interesse bestimmt und perspektiviert. Dies fordert die analy- tische Fragestellung: Welches Framework wird konkret an das filmhis- torische Material angelegt? Unter welchen Vorgaben wird es digitali- siert und archiviert? Insofern ließe sich – auch konkret angewendet auf AFRESA – weniger eine Wertematrix für die Filme selbst entwickeln als vielmehr eine Dokumentation des situativen Kontextes des Digita- lisierungsprozesses, der Interessen des jeweiligen Archivs, der instituti- Heller/Flückiger: Zur Wertigkeit von Filmen 151 onellen Aufstellung, des kulturellen oder ökonomischen Auftrags und der gegebenen finanziellen Förderung: letztendlich also eine Doku- mentation der Wertkonstitution und -relation. Erst über eine solche selbstreflexive, historisierende Kartografierung ließe sich das jeweilige Dispositiv der Digitalisierung zu einem späteren Zeitpunkt nachvoll- ziehen. Die Selektionsmechanismen gegenüber den Filmen würden damit transparent. Im Begriff Dispositiv wird aber auch deutlich, dass hier praktische und ökonomische Zusammenhänge mit abbildungs- und wahrnehmungstheoretischen Konzepten angegangen werden müssen. Dies trifft in den Kernbereich der Filmwissenschaft und eben hier liegt ihr besonderer Wert im Umgang mit dieser gesamtgesell- schaftlich wirksamen Medientransition. In diesem Sinne haben wir in diesem Aufsatz versucht, unsere Auf- gabe innerhalb eines anwendungsorientierten, interdisziplinären For- schungsfelds zu reflektieren und unsere Eingebundenheit in naturwis- senschaftliche Diskurse und ingenieurwissenschaftliches Denken offen zu legen. Es ist das Aufzeigen von Inkongruenzen in konkurrierenden, gedanklichen Entwürfen von Film und medialer Erinnerungspolitik, ohne dass wir einfache oder gar positivistische Antworten liefern kön- nen. Insofern deutet diese Studie darauf, die digitale Zukunft über ihr Verhältnis zur filmhistorischen Vergangenheit jenseits ihrer binären Bestimmbarkeit diskursiv, konstruktivistisch und dynamisch – eben filmwissenschaftlich – zu denken. Literatur Brandi, Cesare (1963) Theorie der Restauration. München: Siegl. Bundesamt für Kultur (2008) Memopolitik. Bern: BAK. Cherchi Usai, Paolo / Frances, David / Horwath, Alexander / Loebenstein, Michael (Hg.) (2008) Film Curatorship. Archives, Museums, and the Digital Marketplace. Wien: Synema. Flückiger, Barbara (2008) Visual Effects. Filmbilder aus dem Computer. Marburg: Schüren. Fossati, Giovanna (2009) From Grain to Pixel. The Archival Life of Film in Transi- tion. Amsterdam: University Press. – (2010) From Grain to Pixel. Unveröff. Gastvortrag im Filmpodium Zürich, 19. Mai 2010. Gracy, Karen F. (2007) Filmpreservation. Chicago: The Society of American Archivists. 152 montage AV 19 /2 / 2010 Hediger, Vinzenz (2005) The Original is Always Lost. Film History, Copyright Industries and the Problem of Reconstruction. In: Cinephilia. Movies, Love, and Memory. Hg. v. Malte Hagener & Marijke de Valck. Amsterdam: Amster- dam University Press, S. 133–147. Horwath, Alexander (2005) The Market vs. the Museum. In: Journal of Film Preservation, 70, S. 5–9. Janis, Katrin (2005) Restaurierungsethik im Kontext von Wissenschaft und Praxis. München: Meidenbauer. – (2002a) Filmgeschichte und Filmkopien. In: Kinoschriften 5. Wien: Verband der Wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs, S. 199–209. – (2002b) Historische Pragmatik. In: Montage AV 1,12, S. 104–112. – (2007) Notes on Dispositif. Work in progress. [http://www.let.uu.nl/~frank. kessler/personal/dispositifs.html (letzter Zugriff am 09.02.10)]. Loebenstein, Michael (2009) Hat Langzeitsicherung oder Access Priorität? Unveröff. Konferenzbeitrag bei Ist der Dokumentarfilm noch zu retten? Di- gitale Herausforderungen seiner Archivierung im Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart, 22. April 2009. Odin, Roger (2002) Kunst und Ästhetik bei Film und Fernsehen [frz. 1983]. In: Montage AV 11,2, S. 42–57. Riegl, Alois (1903) Der moderne Denkmalkultus. Wien: Braumüller. Rodowick, David N. (2007) The Virtual Life of Film. Cambridge/London: Har- vard University Press. Wallmüller, Julia (2008) Kriterien für die digitale Laufbildbearbeitung in der Restau- rierung. Saarbrücken: Müller. Pragmatische Filmmusikforschung Vom Text zum Prozess Claus Tieber und Hans J. Wulff Arbeiten zwei Disziplinen zusammen, um einen Gegenstand zu erfas- sen, so prallen zwei Welten aufeinander, die sich nur schwer einander annähern oder gar mischen lassen – geschweige denn sich miteinander vermählen und zu einer Einheit verschmelzen. Beschreibungsmodelle und Grundannahmen, Terminologien und erkenntnisleitende Kernin- teressen müssen gegenseitig bekannt gemacht, eine Phase des Lernens und des Aneinander-Herantastens durchschritten werden, bevor es zu einer produktiven Zusammenarbeit kommt. In einer solchen Situation ist die gegenwärtige Filmmusikforschung, in der Film- und Musikwis- senschaftler darauf angewiesen sind, miteinander zu kooperieren. Es handelt sich um ein Gebiet, auf dem bereits eine Reihe von Arbeiten entstanden sind (siehe die Verzeichnisse auf dem Online-Portal www. filmmusik.uni-kiel.de), das aber nach wie vor in Entwicklung steht. Die vorliegende Skizze unternimmt es, drei Kernpunkte anzuspre- chen, die für die Filmmusikanalyse von zentraler Bedeutung sind: 1. die texttheoretische Fundierung der Filmmusikanalyse; 2. die Gegenüberstellung synoptischer und prozessualer Analyse- methoden; 3. die Berücksichtigung des Aufführungscharakters. Unser Ausgangspunkt ist filmwissenschaftlicher Provenienz. Als Film- wissenschaftler sind wir im Feld der Filmmusikforschung (inklusive der Soundforschung) in der Minderheit; noch stammen die meisten Ar- beiten aus der Musikwissenschaft. Interdisziplinäre Forschung eröffnet 154 montage AV 19 /2 / 2010 durch Auseinandersetzung mit anderen Methoden, Denkansätzen und Annahmen die Chance, die Brauchbarkeit des eigenen methodischen Werkzeugs und die Sinnhaftigkeit tradierter Ansätze zu überdenken. In diesem Sinne versteht sich unser Text sowohl als Einladung an die Mu- sikwissenschaft, sich der Filmwissenschaft und ihren Fragestellungen stärker anzunähern, wie als Anstoß zum Überdenken filmwissenschaft- licher Ansätze über das Feld der Filmmusik hinaus. So wäre zu prüfen, ob nicht musikalische Strukturen manchmal bessere Beschreibungs- muster für filmische Verfahren offerieren als die gebräuchliche filmwis- senschaftliche Terminologie. Begrifflichkeiten wie die von Variation und Alternation verweisen ja auch auf spezifisch musikalische Strukturen, die der Film mitunter übernimmt oder sich davon inspirieren lässt. Es geht uns im Folgenden zunächst darum, die Musik respektive den Soundtrack als einen Teil des Films zu sehen und damit von einer abgelösten Analyse nur der Musik wegzukommen. Die Analyse eines Films als Text, dessen elementarer Bestandteil der Sound ist, erscheint uns letztlich aber zu wenig. Wir skizzieren deshalb im Anschluss den nächsten Schritt: die Untersuchung von Prozessen, vom Produktions- bis zum Rezeptionsprozess. 1. Texttheoretische Horizonte der Filmmusikanalyse 1.1 Interdisziplinäre Analyse und Kontext Der filmische Text ist eine in sich geschlossene integrale Struktur. Wer- den die einzelnen Komponenten aus dem Zusammenhang herausge- brochen, entstehen Artefakte, die von den Leistungen, die die Elemen- te im Zusammenhang des Werks erbringen, absehen müssen. Eine rein musikologische Analyse von Filmmusik fördert darum ebenso wenig den Erkenntnisgewinn wie eine kontextlose Filmanalyse. Filmmusik macht nur Sinn im Zusammenhang des gesamten Films – seiner Nar- ration, der dramatischen und thematischen Strukturen, der Register des Vortrags usw. Nötig ist also die Erarbeitung und Verfeinerung von Verfahren, die den Leistungen Rechnung trägt, die Filmmusik im integrierten Film- text erbringt. Es sind Verfahren der textuellen Analyse, die es anzustreben gilt. Die musikwissenschaftliche Analyse ist dadurch nicht ausgesetzt, sondern bildet einen essentiellen Bestandteil der Textanalyse; sie er- schöpft sich aber nicht in der Beschreibung der musikalischen Struk- turen, sondern eruiert sie als Voraussetzung für die funktionale Unter- Tieber/Wulff: Pragmatische Filmmusikforschung 155 suchung im Kontext des Werks. Kurz: Textuelle Analyse ist funktionale Analyse. Der Verweis auf den strukturellen, narratologischen und dramatur- gischen Kontext erscheint an dieser Stelle notwendig, weil Filmmu- sik immer in einen vorgegebenen filmischen Rahmen gebracht wird. Auch beim Einsatz präexistenter Musik verändert der spezifisch filmi- sche Rahmen ihre Konnotationen, kann sie sogar in ihr Gegenteil ver- kehren. Film ist eine synthetische Kunst, fügt Ausdruckselemente aus verschiedenen Einzelkünsten und -handwerken zusammen, bindet sie in umgreifende narrative und stilistische Strukturen ein. Sie konkreti- siert und erweitert die Bedeutungspotenziale der beteiligten ausdruck- gebenden Künste gleichzeitig. Filmmusik ist nie absolute Musik, sie hat immer konkrete Aufgaben. Film- und Musikwissenschaft müssen daher aufeinander zugehen und sich die jeweils anderen Methoden und Begrifflichkeiten erarbei- ten. Interdisziplinäre Forschung heißt dabei nicht einfach Aneignung der jeweils anderen Methoden, sondern auch personelle Kooperation. Film- musikanalyse ist ein kollektives Projekt, welches die Zusammenarbeit meh- rerer Fachwissenschaftler über Disziplingrenzen hinweg erfordert. For- schungspraktisch ergeben sich daraus mehrere komplizierte Aufgaben: − Es gilt, die Ignoranz der Filmwissenschaft gegenüber der Filmmusik zu beenden, die entweder zu naiven bis sachlich falschen (‹küchen- musikologischen›) Beschreibungen führt oder aber die akustische Ebene des Films schlicht ausblendet, weil man sich damit überfor- dert fühlt («Ich kann keine Noten lesen!»). − Es gilt aber auch, die mitunter allzu werkfixierte und daher kon- textlose musikwissenschaftliche Analyse für textuelle Rahmenstruk- turen zu sensibilisieren. Das heißt, dass die Musikwissenschaft in vielen Fällen vom musikalischen Werk ausgeht, das in unterschied- lichen Aufführungen zum Klingen gebracht wird. Diese Konzepti- on eines von der jeweiligen Umsetzung unabhängigen Werkes kann in Konflikt mit der Vorstellung eines fertigen Textes kommen, wie sie die Filmwissenschaft aus der Literaturwissenschaft übernommen hat. Dies führt in der Kommunikation zu unproduktiven Missver- ständnissen. Wenn Filmwissenschaftler von ‹Text› sprechen, meinen sie den konkreten Film, während Musikwissenschaftler oftmals das Notenmaterial als ‹Text› bezeichnen. Im Zentrum unserer Überlegungen gilt die These: Filmmusik ist funk- tionale Musik. Oft sind die Musiken der Narration oder der Argumen- 156 montage AV 19 /2 / 2010 tation subordiniert, die im Spiel der Akteure oder vom Fluss der visuell dargebotenen Stücke realisiert sind; sie können aber auch zur regieren- den Struktur einer Szene, einer Sequenz oder eines ganzen Films wer- den. Die Dominanzverhältnisse sind nicht eindeutig. Filmmusik ist es- sentieller Teil eines Films und erfüllt darin konkrete Funktionen. Diese im Detail zu analysieren und zu interpretieren, wäre die erste Aufgabe von Filmmusikforschung. Sich damit zu begnügen hieße, auf der Ebe- ne der Textanalyse zu verweilen, gewonnen wäre jedoch – immerhin – das Einbeziehen der akustischen Ebene. 1.2 Mikroanalyse und Makrostruktur Der filmische Text ist segmental strukturiert. Es ist unbestritten, dass er ganzheitlich ist, situationsentbindbar, ein eigenes semiotisches Bezugs- und Verweissystem aufbaut. Einige seiner Elemente (Farbdramaturgie, Licht, Schauspielstil, signifikativer Modus, sogar verwendete Optiken und auch Musik) sind sogenannte Suprasegmentalia, Elemente, die meist den ganzen Text über in Geltung sind. Oft werden sie als Indikatoren stilistischer Kohärenz angesehen, spielen aber für die globale Signifika- tion eines Films eine nur untergeordnete Rolle. Es stellt sich nun die Frage, in welchem Verhältnis die Ebenen der Strukturiertheit mit der Analyse der Funktionshorizonte von Film- musik stehen. Die meisten vorliegenden Analysen sind segmental ori- entiert, beziehen sich auf einzelne Sequenzen oder Szenen, die als in sich geschlossene dramatische Einheiten behandelt werden. Derartige Mikroanalysen (oder segmentale Analysen) untersuchen zum Beispiel die Bild/Musik-Koordination (die Koordination von bildkompositionel- len Eigenheiten, von Bewegungen, Handlungen der Akteure, äußeren Gegebenheiten der Handlung), in einer Szene erfolgende Subjekti- vierungen und Psychologisierungen, reflexive Beziehungen zwischen Bild und Ton/Musik, die Koordination von Musik mit dem Hand- lungsverlauf, die Unterstützung dramatischer Höhepunkte und der- gleichen mehr. Manchmal ist das Interesse auf Übergänge zwischen Segmenten konzentriert. Die Analysen, die sich auf den gesamten Film richten, fassen die Musik meist als suprasegmentale Größe auf, suchen ihre stilistische Gesamtleistung für ganze Filme zu erfassen. Beide ste- hen in enger Beziehung zueinander. Wie sie im besonderen Fall mit- einander verwoben werden können, ob und wie es zu einer tatsäch- lichen Integration kommt, ist nicht nur im Einzelfall problematisch, sondern bedarf tieferer Klärung. Ungeklärt ist vor allem, ob und wie Musik zur Artikulation von Makrostrukturen dienen kann. Tieber/Wulff: Pragmatische Filmmusikforschung 157 Raymond Bellour (2001 [1976], 193–216) hat darauf hingewiesen, dass sich filmische und musikalische Segmente nicht entsprechen müs- sen (ohne allerdings näher auf Letztere einzugehen). In beiden Schich- ten des Filmischen können Segmente und Suprasegmente ausgemacht werden. Allerdings scheint es erhebliche Unterschiede in der segmen- talen Struktur der filmischen Szenenfolge oder der filmischen Narra- tion und den segmentalen Mustern von Filmmusik zu geben. Szenen stehen oft unverbunden nebeneinander, die manchmal essentiellen El- lipsen, deren Auffüllung erst die Kontinuität zwischen den Segmenten herstellen kann, müssen vom Zuschauer erschlossen werden. Unter Umständen ist das Spiel mit der Auslassung oder die Instrumentierung der Leerstelle sogar eine grundlegende dramaturgische Struktur. Mu- sik hingegen kennt keine Ellipsen, kann diesen Auslassungscharakter also nicht für sich adaptieren. Ganz im Gegenteil – einer der Verwen- dungszwecke von Filmmusik ist es, Ellipsen und Lücken zu überde- cken, um so eine artifizielle Kontinuität hervorzubringen. Die Tradi- tion der Hollywoodsequenzen spricht eine deutliche Sprache: Es handelt sich um einen schnell geschnittenen Sequenztypus, der vor allem in den 1930er Jahren beliebt war, um Zeit und Raum zu kondensieren und in Kürze viele Informationen zu vermitteln (vgl. Bordwell 2006, 14). Damit werden vor allem Phasen der Handlung zusammenge- fasst, zu metonymischen Kurzdarstellungen (summaries) oft komplexer Handlungszusammenhänge komprimiert. Ein typisches Beispiel mag das folgende sein: Eine Nachricht erreicht die Redaktion, die Setzer arbeiten, die Rotationsmaschinen laufen auf Hochtouren, die Boten werfen die Zeitungsbündel vor die Kioske, die Schlagzeilen am Ende besagen: Es ist Öffentlichkeit hergestellt. Zumeist sind diese Summa- ry-Sequenzen mit Musik unterlegt, deren schneller Rhythmus ihren beschleunigt-raffenden Charakter noch unterstützt. 1.3 Entbindbarkeit von Filmmusik Einzelne musikalische Motive können auch außerhalb des Filmkontex- tes zur Aufführung gelangen und damit eigenen Werkcharakter gewin- nen, es können die Themen der Filmmusik zu einer Suite zusammen- geführt werden – doch das ändert nichts daran, dass der Text, mit dem es die Filmmusikforschung zu tun hat, der Film und nicht die Musik ist. Allerdings eröffnet sich hier ein Seitenbereich vor allem musikwis- senschaftlicher Provenienz: Die Untersuchung derartiger Auskoppe- lungen trägt sowohl ästhetische wie ökonomische Züge. Filmmusik steht einerseits in Verwertungszusammenhängen, sie hat nicht erst in 158 montage AV 19 /2 / 2010 jüngster Zeit einen Eigenwert, der sie zur besonderen Vermarktung befähigt. Andererseits darf sie dann nicht nur funktionale Züge tra- gen, sondern muss sich als eigenständiges Werk bestimmen lassen. Dies besagt, dass die Soundtrack-Analyse der auf Tonträger veröffentlichten Filmmusik der Filmmusikanalyse unmittelbar benachbart, mit dieser jedoch nicht gleichzusetzen ist; denn hier geht es um andere Frage- stellungen, die etwa auch in ökonomische Verwertungsanalysen oder Untersuchungen von Fankulturen führen können. Die Transformati- on von Musiken, ihre Ent- und Refunktionalisierungen durch Ver- wendung in einem bestimmten Film eröffnen ein weites Feld für For- schungsprojekte. Der ursprüngliche Kontext wird aufgegeben, bleibt allenfalls als Hintergrundwissen in den Rezeptionen wirksam. Kon- textentbindung schafft möglicherweise Blicke auf die bis dahin ‹ge- bundene Struktur›, die dem kompositorischen oder ästhetischen Ei- genwert des jeweiligen Stücks Raum geben. 2. Synoptische und prozessuale Analysekategorien 2.1 Vom Text zum Prozess Die Filmwissenschaft hat sich lange Zeit auf die Analyse von Texten beschränkt. Arbeiten, die Film und Kino in ihrem historischen Um- feld untersuchen und Filmgeschichtsschreibung mitunter auch ohne Sichtung von Filmen (vgl. Allen/Gomery 1985, 38) betreiben, sind erst in den 1980er Jahren aufgekommen. An der Fixierung großer Teile der Filmwissenschaft auf den filmischen Text haben diese Arbeiten, die sich auf Produktions-, Aufführungsprozesse und -modi konzentrieren, wenig geändert. Nimmt man ihren Ansatz jedoch ernst, die Rekon- struktion von Prozessen als Kernaufgabe von Filmwissenschaft und Filmgeschichte zu betrachten, die keineswegs teleologisch aufeinander folgen, so stellt dies auch den Textcharakter des Films in Frage. Zu dem von Robert C. Allen, Douglas Gomery und anderen ausgehenden Interesse für Prozesse kommen zudem noch histori- sche wie aktuelle Umstände, welche den Status des filmischen Textes problematisieren: Tieber/Wulff: Pragmatische Filmmusikforschung 159 1. vom Stummfilm und den Habitualisierungen seiner Musikbeglei- tung aus 2. sowie von heutigen Verkaufs- und Marketingstrategien, die unter anderem in die Entwicklung mehrerer Versionen desselben Films einmünden. Ad 1: Musik für Stummfilme ist ohne Berücksichtigung der jeweiligen historischen und regionalen Aufführungspraxen nicht erforschbar. Ein und derselbe Film wurde (und wird) mit unterschiedlicher Musik aufgeführt. Der Untersuchungsgegenstand kann daher nur eine Aufführungspraxis, nicht ein komponierter Score sein, den es in vielen Fällen ohnehin nicht gab. Eine solche Forschung kann sich nur in Ausnahmefällen auf konkrete Musiken konzentrieren. Vielmehr muss sie die unterschiedli- chen Modi der akustischen Begleitung mittels zeitgenössischer Berich- te, Zeitungen, Fachzeitschriften, Cue Sheets, Handbücher, Anzeigen für Instrumente, die fürs Kino gedacht waren (Kinoorgel), Stellenanzeigen von Kinomusikern, Dokumenten der Gewerkschaft der Kinomusiker rekonstruieren. Umgekehrt ist auch die Untersuchung von Filmen aus dieser Zeit ohne Berücksichtigung ihrer akustischen Aufführungspra- xen und deren Einfluss auf die Filme unvollständig. Ad 2: In einer Zeit, in der es von Director’s Cuts, Final Cuts, Definite Editions und von gegenüber der Kinoversion veränderten Fernsehfas- sungen nur so wimmelt, in der bewusst mehrere Versionen eines Films angeboten werden, wird es zunehmend sinnloser, Film als unveränder- baren Text zu betrachten. Angesichts dieser historischen wie aktuellen In-Frage-Stellung ist für eine stärkere Konzentration auf das Prozesshafte zu plädieren, in der Pro- duktion, Vorführung und Rezeption ins Zentrum der Analyse rücken. Die in einem Film eingesetzte oder eigens dafür komponierte Mu- sik formt sich zu keinem selbständigen Text, den zu analysieren und zu kontextualisieren die Aufgabe der Wissenschaft wäre. Die Musik in einem Film ist kein Ganzes, sie besteht aus einzelnen Segmenten, man könnte fast sagen: aus Fragmenten. Dies aber ist das Wesen des Films, der – wie gesagt – aus teilautonomen Segmenten besteht. Diese Ausgangsthese betrifft eine morphologische Qualität; es gilt aber, die vielfältige Variation filmischer Texte auf die Strategien, die Zielvor- stellungen der Veränderung (so die Anpassung an ein anderes Auswer- tungsmedium), die Methoden der Bearbeitung und ähnliche pragma- tische Größen der Filmherstellung zurückzuführen. 160 montage AV 19 /2 / 2010 2.2 Der Text und seine Rezeption Gleiches gilt für die Rezeptionsprozesse, in denen sich dramaturgische Strukturen erst funktional erfüllen. Rezeptionen sind wissensbasiert, re- ferieren sowohl auf Welt- wie auf Film- und Genrewissen. Insbeson- dere gehen metadramaturgische Wissensbestände ein sowie formale Kenntnisse über die Artikulations- und Bauformen filmischen Dar- stellens und Erzählens (‹Filmizitätswissen›). Rezeption umfasst darum ein fundamental reflexives Moment, das den jeweiligen filmischen Text in eine historische und stilistische Reihe einstellt, mit der er interagiert und zu der er sich positioniert. Neben die morphologische Analyse, die von der Strukturiertheit des Textes ausgeht, tritt so die Prozessanalyse als zweite Komponente der filmmusikalischen Verfahren. Die Frage, welche Bedeutungsebenen von Musik – und zwar von jeder, ob sie eigens komponiert wurde oder bereits vorhanden war – ein Film zur Geltung bringt, welche er für seine Zwecke verwendet und welche er ungenützt lässt, entschei- det sich an der Rezeption, am Vorwissen des Publikums. Diese Frage kann nicht allein über die Analyse des filmischen Textes beantwortet werden, sondern zielt auf größere Kontexte. Nicht mehr den Film als Primum der Beschreibung, sondern die damit verbundenen Prozesse der Interpretation und Aneignung in den Mittelpunkt zu rücken, wäre die Aufgabe, der sich Filmmusik- forschung (und in einem weiteren Sinne die Filmwissenschaft über- haupt) zu stellen hätte. Wie schon angedeutet: Prozessanalyse lässt sich nicht allein als rezeptionsorientierte Herangehensweise modellieren, son- dern gestattet es auch, sich der Produktionssphäre anzunähern: Musiken in Filmen sind nicht naturgegebener Teil des Textes, sondern werden in komplexen Planungsprozessen entwickelt und im Film platziert. Sie stehen in einem paradigmatischen Verhältnis zu anderen Musiken oder anderen Platzierungen. Gerade die Untersuchung von Produkti- onsprozessen muss auf die morphologischen Überlegungen und Wir- kungshypothesen zu sprechen kommen, die den jeweiligen Lösungen zugrunde liegen. Welche Leistungen Filmmusiken in einem Film er- bringen, wie sie eingespannt sind in Strategien der Zuschauerlenkung, wie sie (oft verborgene) Subtexte artikulieren, bedarf einer radikalen Öffnung der meist statischen Gegenüberstellung von (realisiertem) Film und Zuschauer. Der Entstehungsprozess wird also als Abfolge von Entscheidungen und damit auch als Wahl zwischen Alternativen aufgefasst. Diesen Pro- zess zu rekonstruieren, wäre die Aufgabe von Filmwissenschaft, um die Tieber/Wulff: Pragmatische Filmmusikforschung 161 Entscheidungskriterien zu finden, nach denen gearbeitet wurde und wird (und die sich regional, historisch und in Hinsicht auf die konkre- ten Produktionsbedingungen deutlich unterscheiden). Die Kriterien, die eine solche genetische Analyse zu erfüllen hat, sind gänzlich andere als die der Kritik, die ja gelegentlich auch auf die Produktionsseite abhebt. Gesichtspunkte der hier angedeuteten gene- tischen Analyse scheinen in der Filmwissenschaft bislang viel zu selten auf. Auf die Filmmusik bezogen bedeutet dies: − die Komposition ist als Auftragsarbeit zu sehen, die in einem be- stimmten (auch zeitlich) vorgegebenen Rahmen stattfindet; − die Auswahl der tatsächlich verwendeten Musik basiert auf Alterna- tiven (die zu rekonstruieren sind); − es geht dabei um Entscheidungen, die nicht ausschließlich auf mu- sikalischen Kriterien beruhen, so wenig wie die Entscheidung für eine bestimmte Drehbuchvariante allein aus deren dramaturgischer Qualität hervorgeht. Eine genetische Analyse stellt viel mehr dar als nur eine Ansammlung von Anekdoten zu möglichen Alternativen. Sie zielt letztlich ins Innere des kreativen Prozesses, der weit weniger geheimnisvoll ist als gemein- hin angenommen. 2.3 Experimentelle Forschung im musikalisch- filmischen Labor Im geisteswissenschaftlichen Bereich orientieren sich Forschung und Lehre allzu oft an traditionellen Leitlinien und wagen es nur selten, neue Formen auszuprobieren oder zu experimentieren, einen Begriff von Praxis zu entwickeln, der in der Lage wäre, bei der Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen hilfreich zu sein. Wir sind überzeugt, dass es auch in der Geisteswissenschaft Sinn macht, ‹Labore› einzurich- ten, in denen theoriegeleitet spielerisch mit dem zu untersuchenden Material umgegangen wird. Auf diese Weise könnten nicht nur neue Formen der Vermittlung gefunden werden, die Studierende wesentlich stärker motivieren und auf die gestalterischen Qualitäten von Filmen verweisen, als dies in kanonorientierten oder formal-analytischen For- men der Lehre geschehen kann. Sie ermöglichen wissenschaftliche Er- kenntnisse, die auf traditionellen Wegen verschlossen bleiben. Gerade im Bereich der Filmmusikforschung böte ein derartiges La- bor ungeahnte Möglichkeiten. Eine ‹explorative Technik der Analyse› 162 montage AV 19 /2 / 2010 ist auch deshalb zu entwickeln, weil eine Analyse ohne Wissen um die Praxis der Filmproduktion unvollständig bleiben muss. Es geht uns hierbei auch um Techniken der teilnehmenden Beob- achtung, die die Wissenschaft und die Studierenden vom bloß Inter- pretativen weg und hin zu einer kreativeren Form des Erkenntnisge- winns führt, der eben nicht mit dem Nachahmen bereits vorhandener Denkmuster und deren Ausdrucksformen machbar ist. Dabei gilt es etwa, den impliziten (und expliziten) Regeln und Wirkhypothesen auf die Spur zu kommen, die in der praktischen Arbeit oft nur realisiert, aber nicht ausgesprochen werden (und wenn überhaupt, dann zumeist verkürzt und mit einem für Außenstehende unverständlichen Vokabu- lar). Das Finden einer gemeinsamen Sprache von Film- und Musik- wissenschaftlern und ‹Praktikern› benötigt dringend Akteure, die in diesem Feld ‹mehrsprachig› kommunizieren, sozusagen als Dolmet- scher fungieren können. Langfristig ist natürlich an einer gemeinsa- men Terminologie zu arbeiten. Beim verstärkten Einbezug des Produktionsprozesses drängt sich eine Neubewertung der Frage nach der Intentionalität auf, der man einen größeren Spielraum wird einräumen müssen, als dies zurzeit der Fall ist. Andererseits ist Vorsicht geboten, um nicht in simple biogra- fische Erklärungen und Sichtweisen von Kunst als individueller Aus- drucksform zurückzufallen. Kommunikation mit Komponisten, Musikberatern, Regisseuren, Produzenten, Drehbuchautoren, Kameraleuten soll also zum essenti- ellen Teil von Forschung und Lehre werden. Dies bedeutet auch die Erarbeitung eines inhaltlichen und methodischen Rahmens, in dem diese Kommunikation nachhaltig Sinn macht, um nicht zum ergrif- fenen Lauschen von Anekdoten und zur unkritischen Affirmation ei- ner unreflektierten Praxis herunterzukommen. Dies betrifft die ganze Bandbreite von Fragen der Dokumentation derartiger Begegnungen bis hin zu ihrer wissenschaftlichen Auswertung. Es geht uns aber auch um die Entwicklung von Verfahren der sys- tematischen, ebenso spielerischen wie wissenschaftlich neugierigen, vor allem an den Effekten interessierten Variierung der Unterlegung von Filmszenen mit Musik. Nur wenn man in das Material eingreift, es systematisch variiert, lassen sich Verarbeitungsprozesse isolieren und benennen, welche die Bedeutung einzelner Variablen der Variation für das Filmverständnis beschreiben. Tieber/Wulff: Pragmatische Filmmusikforschung 163 3. Aufführung / Performance als Kategorien der Filmmusikanalyse Aufführungsanalyse gilt seit Max Herrmann (vgl. neuerdings Hiss 1990) als Herzstück der Theaterwissenschaft, deren Gegenstand nicht der dramatische Text, sondern die lebendige Aufführung ist. Sie stellt Be- griffe zur Analyse und Beschreibung von Theaterereignissen bereit. Ihren Gegenstand betrachtet sie dabei als strukturierten Zeichenzusammen- hang, mithin als Text. Diese theaterwissenschaftliche Überlegung ist insofern für uns von Bedeutung, als die Ereignishaftigkeit von Filmmu- sik für die Untersuchung rezeptiver Effekte, aber auch für die Entfal- tung semantischer Potenziale zentral ist. Will man sich dem annähern, so muss dies über die Aufführungspraxen geschehen. Dies macht Sinn, weil diese tatsächlich so unterschiedlich sind, dass die jeweilige Auf- führung oder Performance mehr als die bloße Reproduktion eines audiovisuellen Ereignisses darstellt. Im Film ist die Reproduzierbarkeit der Projektion eines der Be- stimmungselemente überhaupt. Film kann zwar in Aufführungen der ersten Art – die Variation des dispositiven Settings – einbezogen wer- den (wie in manchen Formen des Expanded Cinema, in Happening- Formen usw.), bleibt aber als reproduzierbare Projektion auch dann erhalten. Eine der wichtigsten Mischformen ist die Projektion von Stummfilmen mit musikalischer Live-Begleitung. Natürlich variieren die situativen Konditionen aber auch im Kino. Es macht Unterschiede, ob ein Film in einem Kinopalast oder in einem Jugendzentrum, ob er vor cinephilem Publikum oder in einem Vorstadtkino läuft. Allerdings sind dies Veränderungen des Aufführungsrahmens, nicht der Aufführung selbst. Eigene Aufmerksamkeit verdient natürlich die Veränderung des dispositiven Rahmens jenseits der reinen Projektion: Inwieweit verschie- dene technische Plattformen wie Filmstreifen, DVD oder Festplatte je- weils eigene Aufführungs-Formate entfalten, steht ebenso zur Debatte wie die situativen Veränderungen im Kinosaal, bei der Besichtigung von Video, DVD oder Fernsehen zu Hause. Ob die Rezeption via Handy, die Online-Nutzung von Filmen etc. eigene Aufführungsformate dar- stellen, zumindest aber die Rezeption wesentlich beeinflussen (ange- sichts der eklatant unterschiedlichen akustischen Wiedergabe), bleibt zu diskutieren. Der Begriff des Performativen hat heute jedoch noch eine zweite Bedeutung. Einer Unterscheidung Mieke Bals folgend sollte man per- formance, das aus der ästhetisch-künstlerischen Praxis stammt, strikt von 164 montage AV 19 /2 / 2010 performativity trennen, das aus der Sprachtheorie stammt. Das englische performance wird aber durchaus auch alltagssprachlich gebraucht: Üblicherweise [bezeichnet das Wort] die Ausführung einer Bandbreite von ‹künstlerischem Tun und Schaffen›. [...] Wir benutzen das Wort ziemlich häufig. Wir sprechen über performances, für die wir eine Eintrittskarte kau- fen – für ein Konzert oder eine Oper oder ein Theaterstück. Oder wir lo- ben oder kritisieren die performances eines Schauspielers oder Musikers (Bal 2001, 201). Derartige Aufführungen sind einzigartig. Gerade im Bereich der – ver- einfacht gesprochen – intra-diegetischen Musik handelt es sich in den meisten Fällen um performances, die als solche auch untersucht werden sollten. Es ist daher sinnvoll, die Performativität von Filmmusik in all diesen unterschiedlichen Bedeutungshorizonten (sowohl in der Ana- lyse von Aufführungspraxen als auch in der Untersuchung innerfilmi- scher performances) anzudenken. 4. Conclusio Es ging uns in diesem Beitrag darum, das weite Feld der Filmmusik- forschung zu skizzieren, Fragestellungen und mögliche Entwicklun- gen aufzureißen, um damit im Idealfall sowohl Film- als auch Musik- wissenschaftler (und alle anderen Interessierten) zu animieren, sich auf dieses Feld zu begeben. Dabei galt es zunächst, Musik und Sound im Kontext des Films zu betrachten. Gegenstand der Untersuchung bleibt der Film und nicht die abgelöste Musik. In einem zweiten Schritt wollen wir von der ausschließlichen Textanalyse zur Analyse von Pro- zessen gelangen, die in der Filmwissenschaft einen mindestens eben- so wichtigen Platz wie die textuelle Einzelanalyse einnehmen sollten. Das Verständnis dieser Prozesse kann einen signifikanten Erkenntnis- gewinn gewähren. Produktions- und Rezeptionsprozesse wären dem- nach verstärkt in den Mittelpunkt interdisziplinärer Forschung zu stel- len. Auch der akademische und handwerkliche Vermittlungsprozess (sowie die damit entstehenden Fragen der Didaktik) sollte von einer Prozessorientierung ausgehen. In einem noch genauer zu definieren- den Labor können neue Formen und Methoden der wissenschaftli- chen Forschung und Lehre experimentell erprobt werden. Tieber/Wulff: Pragmatische Filmmusikforschung 165 Literatur Allen, Robert C. / Gomery, Douglas (1985) Film History: Theory and Practice. New York: Knopf. Bal, Mieke (2001) Performanz und Performativität. In: Kultur-Analysen. Hg. v. Jörg Huber. Zürich: Ed. Voldemeer & Wien/New York: Springer, S. 197– 242 (Interventionen 10). Bellour, Raymond (2001) The Analysis of Film [frz. 1979]. Bloomington: Indi- ana University Press. Bordwell, David (2006) The Way Hollywood Tells It. Story and Style in Modern Movies. Berkeley: University of California Press. Hiss, Guido (1990) Zur Aufführungsanalyse. In: Theaterwissenschaft heute. Hg.v. Renate Möhrmann. Berlin: Reimer, S. 65–80. Faksimile des Covers der Serge Daney (1944– 1992) gewidme- ten Ausgabe von Trafic Im Dickicht der Film-Wörter Zu Serge Daneys Begrifflichkeit* Christa Blümlinger Ich lerne beschreiben, was ich sehe, und da lerne ich alle möglichen Sprachspiele. (Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, § 980) Serge Daney kann kein großer Koch gewesen sein. Zu diesem Schluss bin ich gekommen, als ich mich mit einer Metapher herumschlug, die hinkt und doch Früchte zeitigt. Daney vergleicht einen Text hindurch die Kino-Leinwand mit einer Teflon-Pfanne, um daraus Gedankenbil- der wie «le feu du réel» (das Feuer des Realen) oder Wortspiele wie das unübersetzbare «saisir le signifiant» (den Signifikanten anbraten/ erfassen) zu gewinnen.1 Ich hätte die Teflon-Pfanne ja gerne mit «Je- naer Pfanne» übersetzt, da diese aus feuerfestem Glas besteht und kei- ne undurchsichtige Beschichtung trägt wie jede echte Teflon-Pfanne, die sich durch ihre Antihaft-Qualität auszeichnet. Weil ich aber kein blau-weiß-rotes Pendant zum Jenaer Glas kenne und sich mir eine derartige Germanisierung von Daneys zutiefst französischem Denken verbot, übersetzte ich textgetreu das Sprachbild, zumal es in dem Es- say um den auch nicht gerade Metaphern-müden André Bazin geht. * [Anm. d. Hg.:] Dieser Text erschien zuerst in französischer Übersetzung unter dem Titel «Des mots pour le dire» in: Trafic 37, Frühling 2001, S. 200-209 (Sondernum- mer «Serge Daney. Après, avec»). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet und aktualisiert. 1 Serge Daney: «Die Leinwand des Phantasmas» (Bazin und die Tiere) [frz. 1972], in: Daney 2000a, 68–77, hier S. 70f. 168 montage AV 19 /2 / 2010 Ob Daney kochen konnte oder nicht, ist schließlich Nebensache. Dass dem Kritiker die schrägste Metapher recht war, um das passende Sinn- bild für eine Idee zu finden, zeugt sowohl von seiner Lust am Schrei- ben als auch von seiner Liebe zum Kino. Oder anders gesagt: Verweist der fragliche Essay in seinem Titel auf die «Leinwand des Phantas- mas», so treten im Textkörper die sprachlichen Spuren des (cinephilen) Phantasmas von der Leinwand zutage. Im Folgenden will ich an eini- gen weiteren Beispielen Daneys verbale Bilderrätselwelt beschreiben, wobei mir die Übertragung in eine andere Sprache nicht selten die entsprechenden Aufschlüsse abverlangt hat. Für einen Berliner Verlag habe ich vor nunmehr zehn Jahren ein fast dreihundert Seiten umfassendes Buch zusammengestellt und ko-über- setzt, das weitgehend aus Texten und Interviews besteht, die auch in Frankreich bis dahin nicht in Buchform erschienen waren:2 Eine erste umfassende Vorstellung des Daneyschen Denkens für den deutschen Sprachraum, konzentriert auf seinen weit gefassten, jedoch wesentlich in der Liebe zum Kino verankerten Bildbegriff. Daney ins Deutsche zu übertragen, das bedeutet nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine kulturelle Vermittlung. Es fängt schon mit dem in Frankreich gän- gigen, geschichtsträchtigen Wort cinéphilie an: Der «Cinephile» wurde im Deutschen zum «Cineasten», erst kürzlich hat man in einschlägi- gen Lexika auch die Bedeutung «Filmschaffender» für Cineast hinzu- gefügt; der «Cinephile» existiert offiziell aber immer noch nicht. Ich habe ihn kurzerhand eingeführt, wenngleich man zuweilen auch mit «Filmliebhaber», «Filmfan», «Filmenthusiast» oder dem etwas veralteten «Kinonarr» zurande käme, wollte man das deutsche «Cineast» in der Bedeutung von «cinephil» vermeiden. Da die Tradition der französi- schen Cinephilie einzigartig in der Welt ist, nicht zuletzt deswegen, weil sie in einer bestimmten historischen Periode Gegenstand ernst- hafter Kritikerdebatten war, habe ich mich an diesen Neologismus im Deutschen gehalten. Für den französischen Begriff cinéaste gibt es na- turgemäß ebenso wenig eine deutsche Entsprechung wie für die Idee der mise en scène, wie sie seit Alexandre Astruc die französische Filmkri- tik beschäftigt. Denn der deutsche «Filmemacher» ist eine späte Erfin- dung der Autoren des Neuen Deutschen Films und deshalb eher dem 2 Serge Daney (2000a) Von der Welt ins Bild. Augenzeugenberichte eines Cinephilen. Hg. v. Christa Blümlinger. Aus dem Frz. übers. v. Christa Blümlinger, Dieter Hornig & Silvia Ronelt. Berlin: Vorwerk 8. Seither sind im Verlag P.O.L. (Paris) zwei (der vier geplanten) Bände der von Patrice Rollet chronologisch herausgegebenen Schriften erschienen: La Maison cinéma et le monde 1 (Daney 2001) und La Maison cinéma et le monde 2 (Daney 2002). Blümlinger: Zu Serge Daneys Begrifflichkeit 169 angloamerikanischen filmmaker als dem französischen cinéaste verwandt. Letzterer ist nämlich keine Neuschöpfung junger Filmautoren, die auch ihre eigenen Produzenten sein wollten, sondern ein Begriff der Kri- tik, der laut Grand Robert aus dem Jahre 1922 stammt und einer Ent- lehnung aus dem Italienischen entsprungen ist. Stroheim kann deshalb ebenso als cinéaste gelten wie Straub – im Deutschen kann Stroheim aber kein Filmemacher sein, nicht einmal ein Filmer, von daher bleibt seine Bezeichnung meist Regisseur. Ich habe deswegen das Fremd- wort «Cineast» ausschließlich in seiner zweiten, ursprünglichen Bedeu- tung verwendet und die Verschiebung durch den Gebrauch des Wortes «cinephil» in gewisser Weise korrigiert. Bleibt die Frage zu erläutern: «Qu’est-ce qu’un cinéaste?» Aber das würde hier zu weit führen. Soviel vielleicht, dass Daney in den von mir herausgegebenen Texten so gut wie nie den Begriff réalisateur oder metteur en scène bemüht, es sei denn in Zusammenhang mit dem Fernsehen. Neben dem Cineasten gibt es bei Daney natürlich auch den Autor. Dort, wo das gegenwärtige Kino (Autoren-)Filmer produziert, die Daneys cinephilem Filmverständnis nach weder der Bezeichnung cinéaste noch auteur würdig sind, weil sie zu sehr schon von der Werbung sich haben infizieren lassen, erfindet er neue Begriffe: Luc Besson und Jean-Jacques Annaud nennt er zum Beispiel promoteurs (Promotor-Autoren),3 ein für Daney typisches, aber leider kaum übersetzbares Wortspiel. Oder er greift zu drastischen Me- taphern, wenn die Kunst der mise en scène im Kino seiner Einschätzung nach zugunsten eines «Neo-Naturalismus» verloren geht, wie beim amerikanischen gore, den er cinécharcuterie (Film-Schlachterei) nennt.4 Wie aber den Ton beschreiben, der in Daneys Texten herrscht? Da- ney war ein Mann des Wortes, und zwar im Sinne des deutschen Aus- drucks, der die Bedeutungen von «parole» und «mot» zusammenfließen lässt, wie dies Georges-Arthur Goldschmidt (2006 [1996]) so treffend festgestellt hat. Was Daney schrieb, pflegte er gerne auch in Gesprä- chen zu erläutern, entsprechend seinem Verständnis von Cinephilie, das auf die jugendliche Vorliebe für das Erwecken der Lust auf einen Film abzielt. So kehren manche Gedanken, Begriffe, Wörter und Worte aus Interviews in Texten wieder oder sie werden in Essays variiert und ausgeführt: Zum Beispiel lässt sich in einem der drei Interviews, die die Esprit-Redaktion mit Daney geführt hat, eine stark verdichtete und kurioserweise klarere Form der zentralen Thesen eines Essays über den 3 «Was bleibt uns noch zu sehen? Ein Gespräch mit Serge Daney [frz. 1989]», in: Daney 2000a, S. 166–175, hier S. 171. 4 «Zehn Kinojahre, sechs Fluchtlinien» [frz. 1987], in: Daney 2000a, S. 20–31, hier S. 23. 170 montage AV 19 /2 / 2010 Zusammenhang zwischen der Beweglichkeit des Zuschauers und der Bewegtheit der Bilder nachlesen, gemeint ist der wenig später publi- zierte Text «Du défilement au défilé».5 In ebendiesem Interview findet sich aber auch ein kurzer Kommentar zu dem von ihm zur Legende erhobenen Rivette-Text «Über die Niedertracht» (1989 [1961]),6 den Daney Jahre später unter anderem in seinem letzten Eingangstext für Trafic genauer ausarbeitete, wo er sich von neuem mit der schwierigen Frage der Moral einer Einstellung befasst (Daney 1992). Die Varianten und Variationen eines Gedankens oder eines Begriffs entspringen augenscheinlich beim späten Daney weniger der berufs- bedingten Redundanz des täglichen Schreibens als dem beständigen und aufrichtigen Bemühen, das richtige Wort zu finden. Bei Libération hatte er immerhin die Freiheit, über seine Bemühungen und Begriffe auch nachzudenken, diese nicht der Schnelllebigkeit des journalisti- schen Alltags anheim fallen zu lassen. So begründet Daney in einem Fazit zu seinen Golfkriegskolumnen die begriffliche Unterscheidung zwischen «image» und «visuel» wie folgt: Andererseits ging es nicht an, wieder den Pilgerstab des «Mister Bild» zu er- greifen. Um mir nicht weiterhin das Leben schwer zu machen, beschloß ich, eine klare Unterscheidung zwischen «Bild» und «Visuellem» zu treffen.7 Eine der nachstehenden Definitionsversuche dieser Unterscheidung, die im übrigen in einer anderen Variante auch das Kasseler Documen- ta-Publikum beeindruckte,8 lautet: «Si le visuel est une boucle, l‘image est à la fois un manque et un reste» («Wenn das Visuelle eine Endlos- schleife ist, so ist das Bild sowohl ein Defizit als auch ein Überrest»).9 In diesem einen Satz liegt ein ganzer Ideen- und Sprachhorizont. Wie aber über diesen keineswegs expliziten Horizont entscheiden? «Le vi- suel», «l‘image», «un manque», «un reste». Verweilen wir kurz bei den zentralen Wörtern dieses Satzes. 5 «Was bleibt uns noch zu sehen?» (op cit.) sowie «Vom défilement zum défilé» [frz. 1989], in: Daney 2000a, S. 267–274. 6 Rivette begründet in diesem Text beispielhaft die Verwerflichkeit einer leicht rekad- rierenden Zufahrt auf ein totes KZ-Opfer, eine Einstellung aus dem Spielfilm Kapò (Italien/Frankreich/Yugoslawien 1961) von Gillo Pontecorvo. 7 «Montage unerläßlich. Der Krieg, der Golf und das Fernsehen» [frz. 1991], in: Daney 2000a, S. 198–210, hier S. 205. 8 Im Katalog der von Catherine David geleiteten Documenta X wurde u.a. folgender Text von Daney abgedruckt: «Before and After the Image»; Daney 1997 [frz. 1991]. 9 «Montage unerläßlich», op. cit., S. 207. Blümlinger: Zu Serge Daneys Begrifflichkeit 171 Le visuel Das «Visuelle» sagt im Deutschen nicht viel, es ist die holprige Subs- tantivierung eines adjektivischen Fremdwortes, dessen Bedeutung laut Duden «das Sehen oder den Gesichtssinn betreffend» oder auch «mit dem bloßen Auge wahrgenommen» ist, in etwa entsprechend dem Französischen «qui a rapport/fait appel au sens de la vue», so im Grand Robert. Daney erklärt in dem Katalog zur Documenta X wieder abge- druckten Text «Avant et après l‘image», dass seine pragmatische Ent- scheidung für dieses Wort auch in dessen Verflachung im Gebrauch durch Presse und «art directors» begründet liege. Das «Visuelle» kann als so etwas wie die mediale Ausformung des (post-)modernen Kli- schees begriffen werden (vgl. Blümlinger 2000, 15f). In einem ande- ren Zusammenhang10 führt Daney dieses Wort denn auch explizit als substantiviertes Adjektiv ein, das die Ablösung von einem bestimmten Bildbegriff darstellt, in dem Sinne, in dem man nunmehr auch statt von «Tönen» («sons») vom «Akustischen» («sonore») sprechen könnte. Was dem französischen Substantiv «le visuel» außerdem anhaftet, das schwingt bei Daney ungesagt mit und geht in der Übersetzung verlo- ren, weil es als Bedeutungsfeld im Deutschen nie existiert hat: Einer- seits bezeichnet das substantivische Wort nämlich den Mittelpunkt, das «Schwarze» einer Zielscheibe, andererseits eine «Vorrichtung zur An- zeige auf einer Leinwand oder auf einem Bildschirm». Daney hat also mit dem Begriff des «Visuellen» intuitiv zwei wesentliche Komponen- ten des Golfkriegs erfasst, das Zielen und das Fernsehen. Le manque Ist mit «manque» der psychoanalytische Begriff gemeint, der Lacan- sche Spalt zwischen Signifikant und Signifikat, oder ganz einfach ein (audio-)visuelles (Informations-)Defizit? Daney schreibt im fraglichen Essay hauptsächlich von «Mangel» (z.B. «die Dinge, die in der Fernseh- information mangelten»), aber er spricht dann ausgerechnet an einer Stelle von «Defizit», die sehr «lacanianisch» argumentiert: Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte des Fernsehens hat das Schwinden [raréfaction] der Bilder zugunsten des rein Visuellen ein Vorstel- 10 «Zehn Kinojahre, sechs Fluchtlinien», op. cit., S. 25. 172 montage AV 19 /2 / 2010 lungsdefizit [déficit d‘imagination] hervorgerufen, das auszugleichen immer schwerer wurde.11 Bei Lacan heißt es nur zum Vergleich: Was [das Subjekt] an diese Stelle setzen wird, ist sein eigener Mangel in der Form des Mangels [manque], den es beim Anderen im Falle seines eigenen Verschwindens [disparition] erzeugen würde (1966, 84; Übers. CB).12 «Déficit» und «raréfaction» also statt «manque» und «disparition» – vielleicht kann diese Verschiebung als Paraphrasierung verstanden wer- den, zumal Daney in einem anderen Essay über den Golfkrieg die Alterität als sine qua non des Bildes definiert (Daney 1997). Wie dies dem nachdenklichen Leser vermitteln? Diese Frage mündet in wei- tere Probleme: Wo zum Beispiel liegt die Stelle des Zuschauers, von der Daney auch in diesem Zusammenhang spricht? Im Spalt zwischen dem Bild und dem Visuellen (dem raren Bild im Visuellen), zwischen Hier und Anderswo (zwischen uns und «dem Feind»)? Ist sie eine Frage des Dispositivs, gebunden an das Bild/das Kino oder an das Visuelle/das Fernsehen? Solche Fragen aber sprengen das Übersetzungsproblem. Es ist unmöglich, die lacanianischen Apparatus-Debatten zur Suture und zum Verhältnis von Schuss/Gegenschuss, die hier von Ferne anklingen, mit zu übersetzen. Wie soll man einen theoretischen Hintergrund ver- mitteln, der als solcher nur bruchstückhaft im Deutschen vorliegt und der bei Daney zudem im Lauf der Jahrzehnte sich wandelte und zu ei- ner Art durchschimmernden Bodensatzes seines Schreibens wurde? Image Die Übersetzung des Wortes «image» ins Deutsche bereitet an sich kein Problem, doch auf welche Bildbegriffe Daney hier rekurriert, das ist eine andere Frage. Was bedeutet «Bild», wenn es als Gegensatzbe- griff zum Visuellen nicht an das Fernsehen, sondern an den Film ge- bunden wird? Die Paare Bild/Film/Leinwand versus Visuelles/Fern- sehen/Bildschirm können im Deutschen nicht wie im Französischen abgeleitet werden. Denn was Daney an anderer Stelle über die Lein- wand schreibt, die er dem Bild zuordnet, trifft im Deutschen so nicht 11 «Montage unerläßlich», op. cit., S. 209. 12 «Ce que [le sujet] va y placer, c’est son propre manque sous la forme du manque qu’il produirait chez l’Autre de sa propre disparition.» Blümlinger: Zu Serge Daneys Begrifflichkeit 173 zu: Die Filmleinwand wird im Französischen «grand écran» genannt und hat nichts mit dem Bildträger der Malerei gemein (wie im Deut- schen), während der Bildschirm als «petit écran» bezeichnet wird. «Ec- ran» bedeutet auch «Schirm» im Sinne von «Trennwand». Der folgende Satz ist also ein genuin französisch gedachter, soll er sich auf das Kino beziehen: «Das Bild schützte vor dem Realen (‹Bildschirm› [écran] hat einen doppelten Sinn).»13 Kommen wir aber auf die Bedeutung von «image» im oben erwähnten Satz zurück. Geht es hier letztlich um eine Ontologie des fotografischen Bildes à la Bazin, oder geht es um das Lacansche Bild (vom Anderen)? Der Titel des Textes, «Montage obligé» («Montage unerläßlich»), verweist auf Bazins (damals noch un- übersetzten) Essay «Montage interdit» («Schneiden verboten!»).14 Da- ney hat diesem Problem zwei Jahrzehnte vor «Montage obligé» einen kritischen Essay gewidmet, und zwar wie eingangs erwähnt, «L‘Ecran du phantasme. Bazin et les bêtes». Darin bindet er das Bazinsche Verbot der Fragmentierung an die Natur dessen, was gefilmt wird. Bazins be- rühmtes moralisches Argument gegen die Schuss/Gegenschuss-Insze- nierung einer Jagd dreht Daney mit seinem späteren, nun nicht mehr «kritisch-exorzierenden»15 Bonmot keineswegs um. Wenn Bazin das «Montageverbot» in bestimmten Fällen an die Möglichkeit, den Tod zu filmen, bindet, so will Daney mit seinem «Montagegebot» auf die «feh- lenden Bilder» von den zivilen Opfern dieses Krieges verweisen, die er sich im Kopf zusammenzuschneiden und vorzustellen verpflichtet sah, als es nicht mehr entscheidbar war, ob diese fehlenden Bilder tatsäch- lich verboten wurden oder nur zufällig abgingen. Ganz wie bei John Ford liest Daney zu diesem Behufe in der Tiefe und an den Rändern der televisuellen Einstellungen, um zum Eigentlichen vorzudringen und dem «Visuellen» ein «Bild» abzuringen. Zwei gleichzeitig «bazini- anische» und «lacanianische» Texte aus den Jahren 1972 und 1991 sind also in Von der Welt ins Bild versammelt; zwischen ihnen liegen mehr als 13 «Zehn Kinojahre, sechs Fluchtlinien», op. cit., S. 25. 14 Die deutsche Übersetzung der gesamten von Truffaut im Jahr 1975 herausgegebe- nen Auswahlanthologie der ursprünglichen vier Bände von Bazins Schriften aus den Jahren 1958–1962, Qu‘est-ce que le cinéma? (Bazin 2004), wurde erst nach Erscheinen von Daneys Von der Welt ins Bild vorgelegt. Vgl. auch das Themenheft «Warum Ba- zin», Montage AV 18,1, 2009. 15 Daney kommentiert seinen Versuch aus den 70er Jahren, den Idealismus Bazins mit materialistischen Argumenten zu kritisieren, in einem Interview folgendermaßen: «In Wirklichkeit war ich Richter in eigener Sache, weil ich den Faden exorzierte, der mich selbst mit dem Kino verband, einen Faden, der eher über Bazin verläuft als über Eisenstein» («Bilderleidenschaft. Von den Cahiers du cinéma zu Libération. Ein Gespräch mit Serge Daney» [frz. 1983], in: Daney 2000a, S. 136–165, hier S. 147). 174 montage AV 19 /2 / 2010 hundert Seiten, und es obliegt dem aufmerksamen Leser, sie aufeinan- der zu beziehen, den späten Daney unter Kenntnis des frühen Daney zu verstehen. Soviel oder sowenig zum Problem Bild/Visuelles. Reste Was will Daney schließlich mit «Rest» ausdrücken? Geht es um das Verhältnis zum Realen, um so etwas wie den Freudschen «Tagesrest» im Traum, dessen vordergründige Harmlosigkeit die Zensur vereitelt? Geht es um die Spur des Realen im psychoanalytischen oder aber im phänomenologischen Sinn? Meint er mit «Rest» die Bazinsche Idee vom fotografischen Bild als Mumie oder dessen Idee von der Be- grenzung des cadre (des Bildfelds) durch den cache (den Rahmen), den Verweis auf das hors champ, das visuelle Off? Die theoretischen Refe- renzen, bis hin zur Bazin-Anspielung im Titel, liegen im Unterschied zu den Texten aus den siebziger Jahren hier im Dunkeln. Die theore- tische Unterscheidung zwischen Rahmen und Bildausschnitt ist den deutschsprachigen Lesern ohnehin kaum geläufig – auch Bazins Text «Peinture et cinéma» war in der lange vergriffenen deutschen Bazin- Übersetzung nicht eingeschlossen und lag zum Zeitpunkt des Erschei- nens von Von der Welt ins Bild auf Deutsch noch nicht vor.16 Von dem im Deutschen nicht existierenden Begriff des hors champ (Off-Screen) und weiterhin nicht übersetzten Büchern von Noël Burch (1969) und Pascal Bonitzer (1982) ganz zu schweigen. Während der frühe Daney fröhlich die in den 70er Jahren recht «frische» Lektüre von Lacan, Nietzsche, Lyotard oder Derrida zitiert, verleibt der späte Daney seinen Texten das ein, was ihm aus den Jah- ren der stark theoretisierenden «revolutionären Kulturfront» bei den Cahiers in Erinnerung geblieben ist, was gehalten hat.17 Daney geht mehr und mehr zum impliziten Schreiben über, das sich vor allem in die Wortwahl und in die Wortschöpfungen einschreibt. Ich will mei- ne gezwungenermaßen beschränkten Kommentare mit einem kurzen und willkürlichen, doch wie mir scheint, exemplarischen Glossar an 16 Der Text «Malerei und Film» findet sich in der erwähnten Bazin-Neuausgabe Was ist Film? (2004). 17 Daney kommentiert diese «wilde» Zeit rückblickend in einem Gespräch wie folgt: «Als wir begonnen haben, Lacan zu lesen, mußten wir ihn sofort in einer kleinen Anmerkung über einen total nebensächlichen bulgarischen Film anbringen. Das hat – mit Recht – die wirklichen Universitätsprofessoren schockiert» («Bilderleiden- schaft. Von den Cahiers du cinéma zu Libération», op. cit., hier S. 149). Blümlinger: Zu Serge Daneys Begrifflichkeit 175 Begriffen abschließen, die mir für den Denkstil Daneys wie auch für die Grenzen seiner Übersetzbarkeit symptomatisch erscheinen. Arrêt-sur-l‘image Die in Frankreich stets lebendige Diskussion einerseits über das Ein- zelbild («le photogramme»), andererseits über das «arrêt-sur-image», das freeze frame, dem man im Deutschen mit den Begriffen «Stehkader» oder «Stoppbild», üblicherweise aber mit dem englischen Fachwort beikommt, hat kein Pendant jenseits des Rheins. Barthes‘ Text über den «dritten Sinn» («Le troisième sens») wurde erst in den 1990er Jah- ren ins Deutsche übertragen (Barthes 1990), die dazugehörige Cahiers- Diskussion ist so gut wie unbekannt, das (unübersetzbare) «défilement» ein theoretisches Problem, das im deutschen Sprachraum einzig dem Expanded Cinema (Hans Scheugl, Ernst Schmidt Jr. u.a.) vorbehalten blieb, der gleichnamige Text von Thierry Kuntzel (1973) wurde bis- her nur ins Englische übersetzt und blieb weitgehend unkommentiert. Daney hat der Reflexion über den Zusammenhang zwischen Still- stand und Bewegung im Film zumindest zwei zentrale Texte beigefügt, «Vom défilement zum défilé» und «Das letzte Bild». Meine Daney-Aus- gabe schließt mit diesen beiden Texten.18 Wenn Daney in diesen Essays einerseits das weite Konnotationsfeld des arrêt-sur-image (freeze frame) aufrollt (vom «arrêt de mort», dem Todesurteil, über die «arrestation», die Festnahme, bis zu den angloamerikanischen Metaphern aus der Kryogenik), so analysiert er andererseits das arrêt-sur-image als filmge- schichtliches Symptom, als Moment einer cinephilen Empfindsamkeit bei Truffaut, als leidenschaftliche Erstarrung bei Godard oder als für die Werbung bestimmtes Abzieh- und Automatenbild bei Besson. In- teressanterweise nimmt Daney teilweise bereits im ersten, durchgängig jedoch erst im zweiten Text eine kleine begriffliche Veränderung vor: Er setzt vor «Bild» einen bestimmten Artikel und macht aus dem üb- lichen «arrêt-sur-image» ein besonderes «arrêt-sur-l‘image». Aus dem Innehalten des Laufbildes auf einem Einzelbild wird also ein Innehal- ten auf dem (einen) Bild. Man kann diese Verschiebung im zweiten Fall mit dem von Daney selbst gegebenen Hinweis erklären, dass es sich bei diesem Text ausschließlich um das Innehalten auf einer be- stimmten Kategorie von Bild, nämlich dem letzten Filmbild, handelt. Vielleicht sagt der kleine Zusatz aber vor allem etwas über Daneys 18 «Vom défilement zum défilé» [frz. 1989] und «Das letzte Bild» [frz. 1990], in: Daney 2000a, S. 267–274 bzw. 275–282. 176 montage AV 19 /2 / 2010 eigentliches Interesse, das sich weniger auf das Einzelbild und dessen Vervielfältigung als Möglichkeit eines imaginären Innehaltens des Be- wegungsbildes richtet als auf die ästhetischen Konsequenzen dieses In- nehaltens für den auratischen Status des filmischen Bildes, das für Da- ney immer «das Bild» ist.19 Cinégénie Daney hat viel für Sprachspiele übrig. Er dehnt die Wörter gerne bis ans Äußerste ihrer Bedeutung, lässt die Polysemie zur Geltung kom- men, und wenn es ein Wort nicht tut, dann bildet er eben ein neues. So geschehen zum Beispiel in einem pointierten kleinen Text über Pausenfüller im Fernsehen, der Anfang der 1980er Jahre in den Ca- hiers du cinéma erschien. Daney spricht dort von einer Zeit, in der die Cineasten noch von der Sorge um das photogénie der Objekte, Körper und Landschaften getragen waren, und er fügt hinzu: «Um ihr cinége- nie (Epstein oder Vertov wieder lesen)».20 Man kennt im deutschen Sprachraum zwar die Vertovsche Idee des auf Bewegung konzentrier- ten kinoglaz (Kinoauges), doch Epstein, Delluc und deren Idee des photogénie gehörten lange Zeit zu den blinden Flecken des deutsch- sprachigen Denkens über Film (oder besser: Schreibens, denn der Ex- perimentalfilm hat sehr wohl an Epstein angeknüpft).21 Das deutsche Wort «Photogenität» bezieht sich ganz banal auf die Bildwirksamkeit eines Schauspielers oder einer Person und reduziert sich im Allgemei- nen auf das Gesicht. Der Aspekt der Bewegung, den Epstein zusam- men mit anderen Kategorien der figürlichen Darstellung wie Kadrage und Lichtsetzung als für das photogénie konstitutiv gedacht hat, wird bei Daney durch den Begriff des cinégénie unterstrichen. Gleichzeitig zielt Daneys Wortschöpfung wohl auch auf die Montage ab, auf die Zeit des Stummfilms, auf eine Zeit vor dem (Bazinschen) Verbot: «Die Voraussetzung war, daß es keinerlei Tabu gab, das verboten hätte, diesen Körper zu zerlegen […] und ihn mit anderen Typen von Körpern korres- pondieren zu lassen. Das war die Zeit der Bestiarien und Landschaften».22 19 Zur Theorie des Bildstillstands bei Daney vgl. inbesondere auch Bellour 2001. 20 «Pausenfüller» [frz. 1981], in: Daney 2000a, S. 223–227, hier S. 225. 21 Eine Ausnahme bilden etwa Kessler (1996) und Fahle (2000, bes. 33–80). Epsteins Photogénie-Text wurde erstmals von Frieda Grafe in Das Gesicht im Zeitalter des be- wegten Bildes übersetzt (Blümlinger/Sierek 2002). 22 «Pausenfüller» , op. cit., S. 225. Blümlinger: Zu Serge Daneys Begrifflichkeit 177 Prélèvement Die Möglichkeit der «Versöhnung» mit dem Kino liegt bei Daney in der Projektion, die der Aufnahme folgt. In einem langen Gespräch mit Serge Toubiana sagt er: Der Film hat sehr wohl diese Fähigkeit – das war das Phantasma von Ba- zin –, Bücher durch Bilder, das Fleisch der Realität, aufzuschneiden – und das tut weh –, aber er hat auch die Fähigkeit, das, was in dieser Weise kad- riert, aufgehoben [prélevé], ins Licht gehoben worden ist, wieder freizuset- zen (Daney 2000b [1994], 76). Der Begriff des (filmischen) Bildes wird bei Daney also immer wie- der an den Begriff des Realen zurückgebunden und spaltet sich dort in zwei theoretische Spuren: Bazin einerseits und Lacan andererseits. Bazin entspricht bekanntlich einem Bildverständnis, das über die on- tologische Beziehung zur Realität definiert ist, während Lacans meta- psychologischer Ansatz auf das Reale in seinem Verhältnis zum Sym- bolischen abzielt. Daney situiert das Kino an diesen beiden Polen, in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Bazinschen Realen und dem Lacanschen Imaginären: Das Kino […] ist ein verrufener Ort, der Ort eines Verbrechens und einer Magie. Das Verbrechen: daß die Bilder und Töne lebenden Wesen abgenom- men [prélevé] werden (entrissen, gestohlen, abgenötigt, weggenommen). Die Magie: daß sie auf einem anderen Schauplatz ausgestellt werden (dem Ki- nosaal), um dort die Lust desjenigen auszulösen, der sie sieht.23 Einerseits werden die Bilder also als Abdruck des Realen begrif- fen, andererseits schwingt hier mit dem «anderen Schauplatz» Freuds Traumdeutung und die psychoanalytische Filmtheorie vom imaginä- ren Signifikanten (Christian Metz) mit. Daney setzt an anderer Stel- le den Begriff «prélèvement» (Entnahme, Abnahme) in eine diskurs- geschichtliche Reihe mit den Begriffen «Spur» und «Analogie», um diese als «metaphysisch» zu kritisieren. Weil er damit von der traditi- onellen Unterscheidung zwischen fotografischem und digitalem Bild («image de synthèse») über den (bazinianischen) Realitätsbezug Ab- stand nimmt, kann er dem digitalen Bild die Fähigkeit zugestehen, 23 «Der Therrorisierte. Godard‘sche Pädagogik» [frz. 1976], in: Daney 2000a, S. 85–93, hier S. 91. 178 montage AV 19 /2 / 2010 ein Reales hervorzubringen.24 Gänzlich doppeldeutig wird der Be- griff, wenn Daney ihn in Zusammenhang mit den Effekten der Wer- bung diskutiert, um den sogenannten Manierismus als «bereits lange ‹Geschichte der Entnahme› (alle nur möglichen Arten des Transplan- tierens, Zitierens, Zweckentfremdens und Einnistens)» zu begreifen, «die darauf abzielt, die natürliche Solidarität der Körper mit ihrer Um- gebung zu zerstören».25 Es handelt sich hier um eine ästhetische Ka- tegorie der Disjunktion, die Daney symptomatisch an Kriterien der Gestaltung festmacht – hier etwa an der Disjunktion von Gestalt und Hintergrund. In den Tagebuchnotizen verdeutlicht Daney seinen Ma- nierismusbegriff mit der Enttäuschung des Kindes, das sein Spielzeug kaputtgemacht hat, um dessen Inneres zu betrachten: «Man begibt sich in den Manierismus, wenn man (von innen) entnimmt und man verlässt ihn, wenn man wiederbelebt (von außen)» (Daney 1993, 334; Übers. CB). Mit «prélèvement» (Entnahme) vollzieht Daney also eine theoretische Gratwanderung: Er liest das Bild sowohl bazinianisch da- rüber, was es als Spur mit dem Vorfilmischen verbindet («prélever» im medizinischen Sinne), als auch lacanianisch darüber, was es als Man- gel vom Vorfilmischen trennt («prélever» im Sinne von «enlever», von stehlen). Der Umstand, dass die deutsche Sprache für «prélever» zwei Wörter mit je unterschiedlichen Präfixen (ent- oder ab-nehmen) be- reitstellt, verweist auf genau diese begriffliche Dualität. -iste , -isme Diese beiden Suffixe gehören in das Begriffsgepäck eines jeden The- oretikers. Es wäre also nicht lohnend, zum Beispiel die Substantiva «Elitismus», «Akademismus», «Laxismus» oder aber die Adjektive «intel- lektualistisch», «konformistisch» und «irredentistisch» als für Daney ty- pische Begriffe hervorzuheben. In der deutschen Übertragung springt das eine oder andere Wort freilich als Neubildung ins Auge («Elitis- mus» oder «Laxismus» gibt es eigentlich im Deutschen nicht). Interes- sant werden die Begriffe vor allem dort, wo sie im übertragenen Sinn verwendet werden oder wo die Suffixe bevorzugte Ingredienzien für Neologismen im Französischen sind. Mit der «position irrédentiste» bezeichnet Daney nicht etwa eine politische Haltung, sondern eine gewissermaßen fundamentalistische Beziehung des klassischen Kino- gängers zum Film, eine mystische Position «zwischen dem Seher und 24 Vgl. «Zehn Kinojahre, sechs Fluchtlinien», in: Daney 2000a, op. cit., hier S. 25f. 25 «Kind sucht Bad» [frz. 1991], in: Daney 2000a, S. 236–245, hier S. 238. Blümlinger: Zu Serge Daneys Begrifflichkeit 179 dem Voyeur»,26 die im Gegensatz zum neuen Typus des Lesers im Zeit- alter des Videorekorders steht. Auf der Suche nach begrifflichen Nuan- cierungen zur Beschreibung eines aktuellen Zustands des Kinos oder des Fernsehens greift Daney vorzugsweise im Gespräch zu meist pejo- rativ gewichteten Neologismen: So bezichtigt er etwa Blier und Berri eines arroganten «Poulidorismus»,27 analysiert Spielbergs E.T.: The Ex- tra-Terrestrial (USA 1982) (wohl im Geiste von Deleuze/Guattari) als «familialistische» Fiktion,28 oder beschreibt die Lage des Zuschauers eines Doku-Dramas als die eines «Überlebenden-und-Voyeurs» eines ihn über eine «demokratistische» Ideologie29 scheinbar betreffenden Dramas. Wenn es schließlich um die Kritik an der eigenen Zunft geht, um die lineare Filmgeschichtsschreibung, mit der die Cahiers an den Zeichen der Zeit vorbeizogen, bildet Daney das Adjektiv «ironiste» im Sinne von manieristisch, um es der besseren Verständlichkeit halber im selben Zuge zu erläutern: «[…] man muß ironischer [plus ironiste] sein, eher wie Ruiz, kurz, barocker, und sich sagen, daß es Spiralen gibt.»30 Chaîne Ob er die Vorliebe für das Wort «chaîne» («Kette») von Godard oder Lacan hat, muss dahingestellt bleiben. Sie durchzieht als Spiel mit der Polysemie jedenfalls so manchen Text und steht exemplarisch für seine parataktische Form zu schreiben, mentale Bilder und Gedanken anein- anderzureihen. Daney mag Kettenreaktionen. Dem Übersetzer bleibt hier oftmals nur die Wahl zwischen Struktur und Bedeutung, zwischen einem einzigen Wort (oder einer Wortreihe) und vielen verschiedenen Entsprechungen. Über Godards Week End (F/I 1967) schreibt Daney zum Beispiel: «[…] in diesem schönen und vorausblickenden Film fin- den sich Verkettungen aller Art: Bilderketten, Fließbänder, Autoschlan- gen [chaînes d‘images, chaînes d’usines, chaînes de voitures]».31 In einem an- 26 «Was bleibt uns noch zu sehen?», in: Daney 2000a, op. cit., S. 174. 27 «Die Liebe zum Kino. Ein Gespräch mit Serge Daney. Es leben die Zeitschriften!» [frz. 1992], in: Daney 2000a, S. 176–190, hier S. 180. Raymond Poulidor war ein französischer Radrennfahrer, der als ewiger Zweiter in die Geschichte der Tour de France einging. 28 «Bilderleidenschaft», in: Daney 2000a, op. cit., S. 153 (hier übersetzt mit «Fiktion von Familie»). 29 «Das amerikanische Doku-Drama» [frz. 1981], in: Daney 2000a, S. 228–232, hier S. 232. 30 «Bilderleidenschaft», in: Daney 2000a, op. cit., S. 163. 31 «Vom défilement zum défilé», in: Daney 2000a, op. cit., S. 269f. 180 montage AV 19 /2 / 2010 deren Text, der sich den Reality Shows widmet, lässt Daney das Wort «chaîne» in der Bedeutung von TV-Sender und Kette schwingen: Unter welchen Umständen arbeiten die Fernsehsender [les chaînes] schon heute an neuen Formen der sozialen Kontrolle, um ihre Zuschauer [mail- lons, Kettenglieder] von morgen (Leute wie Sie und mich, aber in gefügi- geren, weniger nörglerischen Ausführungen) zu bilden?32 Später verdichten sich die Fabrik und das Fernsehen zu einem ähn- lich gelagerten Wortwitz: «Es ist, als habe das Fernsehen mit einem Schlag ein ganzes Volk auf den Diwan eines Psychoanalytikers gesetzt, der ‹am Fernseh-Fließband› [à la chaîne] arbeitet […]».33 Das Spiel mit dem Wort «chaîne» treibt Daney bis in die Reihen, die er selbst bildet. So schreibt er beispielsweise in Zusammenhang mit einer Aufzählung der vielfältigen Verbindungen zwischen Gesetz und Doku-Drama, dass der Rechtsanwalt – ob als Figur oder Experte – schöpferisches Glied in der Kette/dem Sender des Doku-Dramas werden könnte.34 Die- ses permanente virtuose Springen zwischen Zeichen und Bedeutung, dieses Suchen und Abklopfen der Wörter in Daneys Schreiben könn- te man schließlich frei nach Lacan als einen analytischen Prozess be- schreiben, in dem jedes Wort sich mit einem anderen verkettet. Man könnte aber auch frei nach Wittgenstein sagen, dass Daney fortwäh- rend alle möglichen Sprachspiele durchspielt, um zur bestmöglichen Be- schreibung dessen zu kommen, was er sieht. 32 «Vermarktung des Individuums und Auslöschen der Erfahrung» [frz. 1992], in: Da- ney 2000a, S. 217–222, hier S. 217. 33 Ibid., S. 220. 34 «Das amerikanische Doku-Drama», in: Daney 2000a, op. cit., S. 228, Anmerkung 1. Blümlinger: Zu Serge Daneys Begrifflichkeit 181 Literatur Barthes, Roland (1990) Der dritte Sinn. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 47–66. Bazin, André (2004) Was ist Film? Hg. v. Robert Fischer. Berlin: Alexander. [Frz.: Qu’est-ce que le cinéma? [1958–1962]. Paris: Éd. du Cerf 1975.] Bellour, Raymond (2001) L‘effet Daney ou l‘arrêt de vie et de mort. In: Trafic, Nr. 37, S. 75–86. Blümlinger, Christa (2000) Ein Seismograph in der Landschaft der Bilder. Zu Serge Daney. In: Daney 2000a, S. 7–17. Bonitzer, Pascal (1982) Le Champ aveugle. Essais sur le réalisme au cinéma. Paris: Cahiers du cinéma/Gallimard. Burch, Noël (1969) Praxis du cinéma. Paris: Gallimard. [Engl. als: Theory of Film Practice. Princeton: Princeton University Press 1981.] Daney, Serge (1992) Le travelling de Kapo. In: Trafic, Nr. 4, S. 5–19. [Wieder- abgedr. in: Persévérance. Entretien avec Serge Toubiana. 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Epstein, Jean (2002) Photogénie des Unwägbaren [frz. 1935]. Aus dem Frz. v. Frieda Grafe & Enno Patalas. In: Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes. Hg. v. Christa Blümlinger & Karl Sierek. Wien: Sonderzahl, S. 263–268. [Neuübers. in: Jean Epstein (2008) Bonjour cinéma und andere Schriften zum Kino. Wien: Österreichisches Filmmuseum, S. 75–79.] Fahle, Oliver (2000) Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre. Mainz: Bender. 182 montage AV 19 /2 / 2010 Goldschmidt, Georges-Arthur (1996) Quand Freud attend le verbe. Freud et la langue allemande II. Paris: Buchet Chastel. [Dt. als: Freud wartet auf das Wort. Freud und die Deutsche Sprache II. Zürich: Ammann 2006.] Kessler, Frank (1996) Photogénie und Physiognomik [frz. 1989]. In: Geschichten der Physiognomik. Hg. v. Rüdiger Campe & Manfred Schneider. Freiburg: Rombach, S. 515-534. Kuntzel, Thierry (1973) Le Défilement. In: Cinéma: Théories, Lectures. Hg. v. Dominique Noguez. 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Zahlreiche Publikationen insbesondere zu Film- theorie und -ästhetik, Dokumentar-, Essay- und Avantgardefilm und zur Medienkunst. Jüngste deutschsprachige Buchpublikation: Kino aus zweiter Hand. Formen materieller Aneignung im Film und in der Medien- kunst (Berlin 2009). Barbara Flückiger, Dr. phil., seit 2007 Gastprofessorin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Arbeitete als Filmtonmeisterin in Europa, Kanada und USA, bevor sie Germanistik, Filmwissenschaft und Publizistik in Zürich und Berlin studierte. Promotion 2001 an der Universität Zürich. Gastdozentin an diversen Universitäten und Film- hochschulen in Deutschland. An der Hochschule für Kunst und Gestal- tung in Zürich erforschte sie im Rahmen des Projekts Digitales Kino die Interaktion von technischer Innovation und Ästhetik. 2007 Habilitation mit einer Schrift zu technischen, ästhetischen und narrativen Aspekten computergenerierter Visual Effects im Film an der FU Berlin; momen- tan Forschungsprojekt zur digitalen Archivierung des audiovisuellen Kulturguts in der Schweiz. Wichtigste Publikationen: Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films. Marburg: Schüren 2001 (4. Aufl. 2010); Vi- sual Effects. Filmbilder aus dem Computer. Marburg: Schüren 2008. Philippe Gauthier, M.A., promoviert an den Universitäten Lausanne und Montréal, wo er zudem als Dozent für Filmgeschichte tätig ist. Zu seinen Publikationen zählen die Monographie Le montage alterné avant Griffith: le cas Pathé (Paris: L’Harmattan, 2008) sowie eine Reihe von Aufsätzen, darunter «The Movie Theater as an Institutional Space and Framework of Signification: Hale’s Tours and Film Historiography» in Film History: An International Journal 21,4 (2009) und «Crosscutting, a Programmed Language» in The Griffith Project 12 (2008). 184 montage AV 19 /2 / 2010 Franziska Heller (*1979), Dr. phil., Oberassistentin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. 2009 Promotion an der Ruhr-Universität Bochum. Von 2008-2010 an der UZH Mitarbeiterin im anwendungsorientierten Projekt AFRESA: Automatisches System zur Rekonstruktion und Erfassung von Archivfilmen. Veröffentlichun- gen vor allem zur internationalen Filmgeschichte, -ästhetik und -the- orie in Sammelbändern sowie Film- und Medienzeitschriften. Jüngste Publikation: Filmästhetik des Fluiden. Strömungen des Erzählens von Vigo bis Tarkowskij, von Huston bis Cameron. München: Fink 2010. Guido Kirsten (*1979), Studium der Filmwissenschaft (Nebenfächer: Soziologie und Philosophie) an der Universität zu Köln, der Sorbonne Nouvelle (Paris III) und der Freien Universität Berlin. Von 2007-2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt «Zurück zur Leinwand» von Prof. Karl Sierek an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit Oktober 2009 Mitarbeiter im NCCR Mediality: Medien- wandel – Medienwechsel – Medienwissen der Universität Zürich mit einem Dissertationsprojekt zur Theorie und Geschichte des filmischen Realismus. Diverse Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und Sam- melbänden. Seit 2007 Mitherausgeber der Zeitschrift montage AV. Siegfried Kracauer (1889-1966), Dr., in Frankfurt a.M. geboren, arbei- tete zwischen 1930 und 1933 als Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Filmkritiken, philoso- phische Essays und soziologische Untersuchungen, bevor er 1933 zu- nächst nach Paris und dann 1941 in die USA fliehen musste. Dort ent- stand in den 1940er Jahren seine einflussreiche Studie zum Kino der Weimarer Republik, die 1947 unter dem Titel From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film erschien. In Theory of Film. The Redemption of Physical Reality (1960) legte er eine auf den fotogra- fischen Realismus hin ausgerichtete Filmtheorie vor. Im Rahmen der bei Suhrkamp erscheinenden Gesamtausgabe (Werke in neun Bänden) werden neben seinen Romanen, seinen soziologischen und philoso- phischen Schriften auch seine Kritiken sowie sämtliche andere Texte zum Film wieder zugänglich gemacht. Edgar Morin (*1921), Dr., emeritierter Professor und Direktor des CNRS (Centre Nationale de la Recherche Scientifique). Studiert in den 1940er Jahren an der Sorbonne und spielt eine aktive Rolle in der französischen Résistance. Nach der Befreiung Frankreichs von der Zu den Autorinnen und Autoren 185 deutschen Besatzung arbeitet er in der Verwaltung des französischen Sektors im besetzten Deutschland und verfasst aus der ethnographisch nüchternen Haltung teilnehmender Beobachtung sein erstes Buch L‘an zéro de l‘Allemagne (1946). 1950 wird er Assistent von Georges Friedmann am CNRS und beginnt seine theoretische Beschäftigung mit dem Kino aus soziologischer und anthropologischer Sicht, die sich später in den Büchern L’homme imaginaire (1956) und Les stars (1957) niederschlägt. Zu seinen lebenslangen Arbeitsgebieten gehört die all- gemeine Soziologie, zeitgenössische Anthropologie und Epistemolo- gie; den Forschungsschwerpunkt der vergangenen Jahre am Centre Edgar Morin bildet die Epistemologie der Komplexität. Zu seinen Hauptwerken gehören neben den genannten Kinobüchern L’esprit du temps (1961) und das sechsbändige La méthode (1977-2004), dessen ers- ter Band (Die Natur der Natur) gerade auf Deutsch veröffentlicht wurde (Turia und Kant, 2010). In Frankreich erschienen zuletzt Pour et contre Marx und Ma gauche (beide 2010). Leonardo Quaresima, Dr. phil., ist Professor für Filmwissenschaft an der Universität Udine und Direktor des DAMS (Dipartimento di Arte, Musica e Spettacolo) in Gorizia. Seit nahezu zwei Jahrzehnten leitet er die International Film Studies Conference von Udine. Zu seinen zahlreichen Publikationen zählen Monographien zu Walter Ruttmann (1994) und den Beziehungen des Kinos zu den anderen Künsten (1996), die neue englischsprachige Ausgabe von Siegfried Kracauers From Caligari to Hitler (2004) und die erste italienische Übersetzung von Béla Balázs Der sichtbare Mensch (L’uomo visible, 2008). Claus Tieber (*1966), Studium der Theaterwissenschaft, Publizistik, Philosophie und Politikwissenschaft. Nach Tätigkeiten als Journalist (Print und Online) sowie vier Jahren als Redakteur in der Abteilung Fernsehfilm des ORF, inzwischen als Filmwissenschaftler tätig. 2008 Habilitation. Leitet zurzeit ein Forschungsprojekt zu Sound und Mu- sik im Stummfilm an der Universität Salzburg und ist Lektor an der Universität Wien. Seit März 2010 Präsident der IG externe Lekto- rInnen und freie WissenschafterInnen. Zahlreiche Publikationen, u.a.: Schreiben für Hollywood. Das Drehbuch im Studiosystem. Münster: Lit Ver- lag 2008; Passages to Bollywood. Einführung in den Hindifilm. Münster: Lit Verlag 2007 (2.Aufl.). 186 montage AV 19 /2 / 2010 Hans J. Wulff (*1951), Dr. phil., Professor für Medienwissenschaft an der Universität Kiel. Nach dem Studium acht Jahre kommunale Kino- arbeit, dann zwölf Jahre als Filmwissenschaftler an der FU Berlin, seit 1997 in Kiel. Arbeitet über Fragen der Textsemiotik und der Psycho- logie des Films und des Fernsehens und der kommunikativen Struk- turen der audiovisuellen Kommunikation. Veröffentlichungen: neben zahlreichen Aufsätzen Bücher zur Gewaltdarstellung, zu Film und Psy- chiatrie, zur Spannungsforschung sowie zur Semiotik des Films. Mit- herausgeber der montage AV und Leiter des Online Projekts Lexikon der Filmbegriffe (www.bender-verlag.de/lexikon/). Call for Papers Montage AV: Bildspannungen Geplant ist ein Heft der Zeitschrift Montage AV, das unter dem The- ma ‹Bildspannungen› filmstilistische Phänomene untersucht, die sich insbesondere auf der Ebene des Kaders, der Bildfläche abspielen. Zu denken wäre an Bildkompositionen zwischen den Polen Fläche und Tiefe, an Besonderheiten des filmischen Lichts oder an hybride For- men, bei denen sich malerische, architektonische oder computerge- nerierte Bildelemente mit filmischen kreuzen, mit ihnen in Dialog treten oder widerständig bleiben. Berührt werden sollen gleicherma- ßen Fragen der Terminologie, welche die Filmwissenschaft zuweilen aus der Kunstwissenschaft oder anderen Disziplinen entlehnt, ohne dass die Begriffe immer synonym verwendet werden könnten (auch im Hinblick auf einen globalisierten Bildtransfer mit seinen visuellen Referenzen auf tradierte Bildmedien), sowie weitere Fragen der Kom- patibilität zwischen den Diskursen, wenn es um die stilistische Analyse der Bildersprache geht. Der Stilbegriff und insbesondere der Begriff der Bildspannung die- nen also der Fokussierung auf ein engeres analytisches Feld, das einer weiter gefassten theoretischen Betrachtung bedarf: einer Neuorien- tierung der Filmwissenschaft, um den Blick auf eine Filmgeschich- te der Bildtechniken und -formen zu weiten und die Verwandtschaft zur Kunstwissenschaft fruchtbar zu machen. Dies jedoch, ohne falsche Konvergenzen zu schaffen oder die Divergenzen aus dem Blick zu verlieren. Wir hoffen auf Beiträge, die sich möglichst spezifisch, möglichst genau einem bestimmten stilistischen Phänomen oder stilbezogenen Pro- blem widmen, das sich unter dem Stichwort ‹Bildspannung› subsu- mieren lässt. Einsendungen im Umfang von max. 35.000 Zeichen erbitten wir bis zum 1. Mai 2011 an die Anschrift der Redaktion, E-Mail: montage@ snafu.de Die Beiträge müssen das Stylesheet der Zeitschrift berücksichtigen: http://montage-av.de/Stylesheet_fuer_Autoren.pdf 188 montage AV 19 /2 / 2010 Rückfragen beantworten gerne Prof. Dr. Christine N. Brinckmann Weimarer Str. 19 10625 Berlin nbrinck@t-online.de Evelyn Echle, M.A. Moosmattstr. 11 CH-6005 Luzern evelynechle@aol.com