MEDIENwissenschaft Rezensionen | Reviews herausgegeben von Angela Krewani · Karl Riha Jens Ruchatz · Yvonne Zimmermann in Verbindung mit Andreas Dörner · Thomas Elsaesser† · Jürgen Felix Andrzej Gwóźdź · Knut Hickethier Jan-Christopher Horak · Anton Kaes · Friedrich Knilli† Gertrud Koch · Hans-Dieter Kübler Helmut Schanze · Gottfried Schlemmer · Matthias Steinle Margrit Tröhler · William Uricchio Hans J. Wulff · Siegfried Zielinski MEDIENwissenschaft Rezensionen | Reviews Begründet von Thomas Koebner und Karl Riha Herausgeber_innen: Angela Krewani (Marburg), Karl Riha (Siegen), Jens Ruchatz (Marburg), Yvonne Zimmermann (Marburg) Redaktion: Vera Cuntz-Leng (verantwortlich) Mitarbeit: Elisabeth Faulstich, Jonathan Knecht Beirat: Andreas Dörner (Marburg), Jürgen Felix (Blieskastel), Andrzej Gwóźdź (Katowice), Knut Hickethier (Hamburg), Jan-Christopher Horak (Pasadena), Anton Kaes (Berkeley), Gertrud Koch (Berlin), Hans-Dieter Kübler (Werther), Helmut Schanze (Siegen), Gottfried Schlemmer (Wien), Matthias Steinle (Paris), Margrit Tröhler (Zürich), William Uricchio (Cambridge, Mass.), Hans J. Wulff (Westerkappeln), Siegfried Zielinski (Berlin) Kontakt: Redaktion MEDIENwissenschaft Philipps-Universität Marburg Wilhelm-Röpke-Straße 6A 35039 Marburg Telefon: (0 64 21) 282 5587 Telefax: (0 64 21) 282 6993 E-Mail: medrez@staff.uni-marburg.de Website: https://mediarep.org/handle/doc/4958 Eine Veröffentlichung der Philipps-Universität Marburg. MEDIENwissenschaft erscheint vierteljährlich im Schüren Verlag GmbH, Universitätsstr. 55, 35037 Marburg, Telefon (0 64 21) 6 30 84, Telefax (0 64 21) 68 11 90. WWW: http://www.schueren-verlag.de, E-Mail: info@schueren-verlag.de Einzelheft: EUR 18,-, Jahresabonnement: EUR 60,- Anzeigenverwaltung: Katrin Ahnemann ISSN 1431-5262 © Schüren Verlag GmbH, Marburg 2024 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer- halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen. Gemäß § 10 des hessischen Pressegesetzes sind wir zum Abdruck von Gegendarstellungen – unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt – verpflichtet. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Printed in Germany. Editorial Liebe Leser:innen, mit großem Bedauern verabschieden wir Burkhard Röwekamp als Herausgeber der Zeitschrift. Ab 1997 war er zunächst als leitender Redakteur, später dann über mehr als zwanzig Jahre als Mitherausgeber dafür verantwortlich, dass die Beiträge im Heft den hohen wissenschaftlichen Standards und Ansprüchen genügen. Röwekamp, der bis vor Kurzem noch als Privatdozent an der Philipps- Universität Marburg lehrte, nun aber beruflich einen anderen Weg jeseits der Wissenschaft einschlagen wird, hat sich vor allen Dingen durch seine Arbeiten zur Ästhetik, Geschichte und Theorie des Films in der deutschen Medienwis- senschaft einen Namen gemacht. Insbesondere seine Dissertation Vom film noir zur méthode noire: Die Evolution filmischer Schwarzmalerei (Marburg: Schüren, 2003) sowie seine Habilitationsschrift Antikriegsfilm: Zur Ästhetik, Geschichte und Theorie einer filmhistorischen Praxis (München: edition text+kritik, 2011) haben einen wesentlichen filmästhetischen und -historischen Forschungsbeitrag geleistet. Wir wünschen dir alles Gute für deine berufliche und private Zukunft, lieber Burkhard! Es gibt aber auch freudige Nachrichten zu vermelden: Die Zeitschrift besteht nun schon seit 40 Jahren - ein beeindruckender Zeitraum. Zu diesem festlichen Anlass planen wir mit der nächsten Ausgabe ein besonderes Jubiläumsheft, auf das Sie sich bereits heute freuen können. Außerdem ist unsere vierteljährliche Buchlisten-Nachricht aus tech- nischen Gründen auf eine Mailingliste umgezogen, die Sie nun unter https://www.lists.uni-marburg.de/lists/sympa/subscribe/medrez-rezensentinnen-pool abonnieren können. Sollten Sie die Buchliste bereits erhalten, wurde Ihre Adresse bereits automatisch den Abonnenent:innen hinzugefügt. Viel Vergüngen bei der Lektüre & kollegiale Grüße Ihre Herausgeber:innen Besuchen Sie uns auf Facebook: https://www.facebook.com/medrez84 2 MEDIENwissenschaft 01/2024 Inhalt Perspektiven Der schöpferische Genuss: Zum epistemologischen Potenzial der audio-visuellen Sprache im Nexus von Wissenschaft und Lehre Judith Rehmann & Jeanine Reutemann .................................................................. 7 Neuerscheinungen: Besprechungen und Hinweise Im Blickpunkt Benjamin Schultz-Figueroa: The Celluloid Specimen: Moving Image Research into Animal Life Dennis Hippe ................................................................................................... 21 Medien / Kultur Ariane Karbe: Museum Exhibitions and Suspense: The Use of Screenwriting Techniques in Curatorial Practice Ilayda Seyhun Gören .........................................................................................25 Stefan Weber: Radikaler Lingualismus: Von Wittgenstein zu Mitterer und einer neuen Philosophie Olaf Hoffjann ...................................................................................................27 Judith-Frederike Popp, Lioudmila Voropai (Hg.): Adorno und die Medien: Kritik, Relevanz, Ästhetik Leon Schultze ...................................................................................................29 Bettina Papenburg: Vitalitätseffekte: Erkenntnis und Affekt in der Medienkultur der Zellbiologie Alisa Kronberger ............................................................................................... 31 Thomas Morsch (Hg.): Der mobile Blick: Film, touristische Wahrnehmung und neue Screen-Technologien Karina Kirsten .................................................................................................33 Michael W. J. Schillmeier, Robert Stock, Beate Ochsner (Hg.): Techniques of Hearing: History, Theory and Practices Anna Schürmer .................................................................................................36 Nadine Taha: Im Medienlabor der US-amerikanischen Industrieforschung: Die gemeinsamen Wurzeln von Massenmedien und Bürokratie 1870-1950 Sven Stollfuß ....................................................................................................38 Inhaltsverzeichnis 3 Tim Wulf, Brigitte Naderer, Diana Rieger: Medienpsychologie Birte Kuhle .......................................................................................................40 Stephanie Waldow, Eva Forrester: Mythos und Mythos-Theorie: Formen und Funktionen. Eine Einführung Christian Benesch .............................................................................................42 Melina Kirchartz: Riskantes Denken: Zur Funktion der Mensch-Maschine- Analogie in der Medienwissenschaft Frank Haase ..................................................................................................... 45 Silvia Schultermandl, Jana Aresin, Si Sophie Pages Whybrew, Dijana Simić (Hg.): Affective Worldmaking: Narrative Counterpublics of Gender and Sexuality Enoe Lopes Pontes ............................................................................................ 47 Bryan J. Carr, Meta G. Carstarphen (Hg.): Gendered Defenders: Marvel’s Heroines in Transmedia Spaces Rolf Löchel .......................................................................................................49 Douglas E. Cowan: The Forbidden Body: Sex, Horror, and the Religious Imagination Timo Güdemann .............................................................................................. 51 Stella Castelli: Death is Served: The Serialization of Death and Its Conceptualization Through Food Metaphors in US Literature and Media Simon Born ...................................................................................................... 53 Rezension im erweiterten Forschungskontext: Realität und Wirklichkeit Tom Poljanšek: Realität und Wirklichkeit: Zur Ontologie geteilter Welten Sven Grampp ................................................................................................... 56 Rezension im erweiterten Forschungskontext: Fantourismus Abby Waysdorf: Fan Sites: Film Tourism and Contemporary Fandom Anne Ganzert ...................................................................................................60 Buch, Presse, Druckmedien Martin Bartelmus, Alexander Nebrig (Hg.): Schriftlichkeit: Aktivität, Agentialität und Aktanten der Schrift Heinz Bonfadelli ..............................................................................................63 4 MEDIENwissenschaft 01/2024 Matthias Bickenbach: Bildschirm und Buch: Versuch über die Zukunft des Lesens Heinz Bonfadelli ..............................................................................................64 Hauke Kuhlmann, Florian Pehlke, Christina Wehnert (Hg.): Beschriebenes und Gezeigtes: Literarische, journalistische und theoretisch-ästhetische Positionen zum Bild im Zeitalter neuer Medientechniken (1840-1910) Thomas Wilke ...................................................................................................66 Eleanor Ty (Hg.): Beyond the Icon: Asian American Graphic Narratives Mario Faust-Scalisi ......................................................................................... 69 Fotografie und Film Ana Grgić: Early Cinema, Modernity and Visual Culture: The Imaginary of the Balkans Barbara von der Lühe .......................................................................................71 Rasmus Greiner, Chris Wahl (Hg.): Audiovisual History: Film als Quelle und Historiofotie Sigrun Lehnert .................................................................................................73 Marcus Stiglegger: Film als Verführung: Einführung in die Seduktionstheorie des Films Phil Rieger ....................................................................................................... 75 Martin Poltrum, Bernd Rieken, Ulf Heuner (Hg.): Wahnsinnsfilme: Psychose, Paranoia und Schizophrenie in Film und Serie Timo Güdemann ..............................................................................................77 Eve Benhamou: Contemporary Disney Animation: Genre, Gender and Hollywood Angelo E. Wiesel ...............................................................................................80 J. P. Telotte (Hg.): The Oxford Handbook of New Science Fiction Cinemas Rolf Löchel .......................................................................................................82 Miriam Kent: Women in Marvel Films Iris Haist ..........................................................................................................84 Nicholas G. Schlegel: German Popular Cinema and the Rialto Krimi Phenomenon: Dark Eyes of London Peter Ellenbruch ...............................................................................................86 Klaus Christian Vögl: Kinoboom – Kinosterben – Kinorenaissance: Kino in Österreich von 1945 bis in die Gegenwart Günter Helmes ..................................................................................................88 Inhaltsverzeichnis 5 Stefan Schmidl, Werner Telesko: Die ewige Schlacht: Stalingrad-Rezeption als Überwältigung und Melodram Günter Helmes ..................................................................................................90 Lisa Schoß: Von verschiedenen Standpunkten: Die Darstellung jüdischer Erfahrung im Film der DDR Jan-Christopher Horak .....................................................................................92 Sammelrezension: Jüdischer Film Lea Wohl von Haselberg, Lucy Alejandra Pizaña Pérez (Hg.): Jüdischer Film: Ein neues Forschungsfeld im deutschsprachigen Raum Johannes Praetorius-Rhein, Lea Wohl von Haselberg (Hg.): Einblendungen: Elemente einer jüdischen Filmgeschichte der Bundesrepublik Andy Räder ......................................................................................................94 Hörfunk und Fernsehen Brenda Boudreau, Kelli Maloy (Hg.): Abortion in Popular Culture: A Call to Action Rolf Löchel .......................................................................................................98 Christina Scharf: Sprachvarietäten in der audiovisuellen Übersetzung: Das Fallbeispiel Game of Thrones Maribel Cedeño Rojas .....................................................................................100 Erin Giannini, Amanda Taylor (Hg.): Deciphering Good Omens: Nice and Accurate Essays on the Novel and Television Series Vera Cuntz-Leng ............................................................................................ 102 Digitale Medien Martin C. Wolff: Digitale Souveränität Hans-Dieter Kübler ........................................................................................ 105 Fabian Schäfer: Konnektiver Zynismus: Politik und Kultur im digitalen Zeitalter Solveig Ottmann ............................................................................................ 107 Mathias Denecke: Informationsströme in digitalen Kulturen: Theoriebildung, Geschichte und logistischer Kapitalismus Hans-Dieter Kübler ........................................................................................ 109 6 MEDIENwissenschaft 01/2024 Vincent Fröhlich, Michael Mertes: #Der neue Konspirationismus: Wie digitale Plattformen und Fangemeinschaften Verschwörungserzählungen schaffen und verbreiten Martin Hennig ............................................................................................... 111 Jörg Phil Friedrich: Degenerierte Vernunft: Künstliche Intelligenz und die Natur des Denkens Jürgen Riethmüller ......................................................................................... 114 Thomas Nyckel: Der agentielle Realismus Karen Barads: Eine medienwissenschaftliche Relektüre und ihre Anwendung auf das Digitale Arantzazu Saratxaga Arregi ........................................................................... 116 John Potts: The Near-Death of the Author: Creativity in the Internet Age Vera Cuntz-Leng ............................................................................................ 119 Kassandra Nakas, Philipp Reinfeld (Hg.): Bildhafte Räume, begehbare Bilder: Virtuelle Architekturen interdisziplinär Sigrun Lehnert ...............................................................................................121 Winfried Gerling, Sebastian Möring, Marco De Mutiis (Hg.): Screen Images: In-Game Photography, Screenshot, Screencast Kevin Pauliks .................................................................................................123 David Church: Mortal Kombat: Games of Death Angelo E. Wiesel .............................................................................................125 Medien und Bildung Nils B. Schulz: Kritik und Verantwortung: Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik Sebastian Stoppe .............................................................................................127 Mediengeschichten Panorama Thomas Koebner: Masken, Puppen und einsame Kinder: Film-Motive Claudia Cabezón Doty ...................................................................................129 Autorinnen und Autoren .............................................................................131 Perspektiven 7 Perspektiven Judith Rehmann & Jeanine Reutemann Der schöpferische Genuss: Zum epistemologischen Potenzial der audio-visuellen Sprache im Nexus von Wissenschaft und Lehre Die audiovisuelle Bildwelt der Wis- senschaft ist divers: von Talking-Heads über abgefilmte Vorträge aus dem Hör- saal, glänzende Studioproduktionen oder hochaufgelöste Simulationen mit Voiceover, vertonte 2D- und 3D-Ani- mationen – von nuanciert bis protzig – bis hin zur dokumentarischen Feld- forschungs- oder Laborbegleitung und Expert:innen-Interviews. Es scheinen viele Wege zu existieren, wie wissen- schaftliche Thesen, Begriffe oder Kon- zepte ins Audiovisuelle transformiert werden können. Die Art und Weise dieser Trans- formation ist jedoch immer wieder Gegenstand kritischer Diskussion. Häufig wird kritisiert, dass audiovisu- elle Medien im Zusammenhang mit der Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte eine spezifische Perspektive auf die in ihnen enthaltene Botschaft transpor- tieren würden. Diese Kritik trifft insbe- sondere Erklärvideos im sogenannten Science-Society-Transfer, wenn also audiovisuelle Medien zur Vermittlung komplexer wissenschaftlicher Sach- verhalte genutzt und für den Laienge- brauch nicht nur sorgfältig bearbeitet, sondern häufig auch bereits für die Betrachter:innen interpretiert werden. So erscheinen sie zwar als hyper-les- bar, sind jedoch weit davon entfernt, transparent oder direkt zu sein. Jene, die diese audiovisuellen Bildwelten zur Vermittlung oder Popularisierung wissenschaftlicher Thesen einsetzen, sind sich deren medientheoretischen und medienrhetorischen Implikationen nämlich selten bewusst – und klären daher das Publikum auch nicht dar- über auf (vgl. Schneider/Walsh 2019; Demos 2017; Demos 2016). Während diese Kritik höchst rele- vant ist, so fehlt es im kritischen Dis- kurs über audiovisuelle Medien im Nexus von Wissenschaft, Lehre und Vermittlung an Positionen zum Poten- zial dieser in audiovisuellen Medien enthaltenen Implikationen beziehungs- weise Perspektiven. In diesem Sinne fokussiert unser Beitrag hier nicht auf eine Wissenschaftskommunikation im Science-Society-Nexus und auch nicht auf die Vermittlung von Wissenschaft im breiteren Sinne (vgl. Hellermann 2015; Verdicchio 2010; Kirby 2003), sondern beleuchtet das Potenzial von 8 MEDIENwissenschaft 01/2024 audiovisuellen Bewegtbildern für die akademischen Kulturen, deren Wis- sensproduktionen und transformative Praktiken. Letztendlich – so unsere Leitthese hier – verbirgt sich in den reflektierten transformativen Prozes- sen der Produktion von audiovisuel- len Bewegtbildern epistemologisches Potenzial. An dieses möchten wir uns hier annähern. Dieses Potenzial unterscheidet sich von der bereits bekannten und historisch verankerten erkenntnis- theoretischen Stärke des Audiovi- suellen insofern, dass es weder das Sichtbarmachen dem menschlichen Auge verborgener Prozesse meint (vgl. Landecker 2006; Regnault 1895), noch den häufig mit Film in Verbin- dung gebrachten Traum einer von der menschlichen Fehlbarkeit befrei- ten wissenschaftlichen Praxis. Dieser existiert seit der Geburtsstunde des Films: „Die Filmtechnik lockte den unerschrockenen Forscher mit einer Reihe von Vorteilen“ (Curtis 2005, S.24). Im Film wurde das Potenzial einer mechanischen und automatisier- ten Aufzeichnung erkannt, die wissen- schaftliche Thesen mit „dem Gewicht substanzieller Beweiskraft“ (ebd.) untermauern kann. Dieses Versprechen einer technischen Bildgenese deutet an, dass „auch über hundert Jahre nach der Erfindung des Films noch immer Erkenntnisgewinn und Evidenz ver- sprechen, und dass die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Einsatzes von Filmen noch lange nicht erschöpft sind“ (Verdicchio 2010, S.10). Analysen und Untersuchungen zur epistemologischen Qualität von audio- visuellen Bewegtbildern, insbeson- dere hinsichtlich technischer Aspekte, sind zahlreich: von der Kamera als methodisches Instrument der Wis- senserzeugung und -speicherung (vgl. Gouyon 2016; Koch 2009), zum Film als vermeintlich objektiver Observa- tion (vgl. Reichert 2007; Reichert 2005; Hediger 2005), zur kinematografischen Methode (vgl. Curtis 2005; Liesegang 1920) und zu Ethnografie-Praktiken der Video-Methodologie (vgl. Pink 2013; Pink 2007; Simpson 2011). Es fällt auf, dass die meisten Diszi- plinen häufig unabhängig voneinander forschen. Grundlegende Erkenntnisse aus den Bereichen Film-, Medien-, Design- und Kulturwissenschaft, die sich intensiv mit den Wissensfacetten und dem Design von Bewegtbildern beschäftigen, werden nicht integriert und noch seltener über die Diszipli- nen hinweg zitiert. Daraus resultieren getrennte, parallel existierende Clus- ter an Analysen von audiovisuellen Bewegtbildern in der Wissenschaft, in welchen zum Teil jahrzehntealte Erkenntnisse ,neu entdeckt’ werden. Noch weniger finden sich Analysen und Diskurse, welche die audiovisuel- len Praktiken an der interdisziplinären Schnittstelle von Expert:innen aus der Wissenschaft und des professio- nellen Mediendesigns (angewandte audiovisuelle Praxis mit medien- und filmtheoretischem Fundament) unter- suchen. Einer der wenigen Vorreiter, der mögliche Synergien zwischen Perspektiven 9 Expert:innen des Mediendesigns und Expert:innen der Wissenschaft untersuchte, war Virgilio Tosi: „The develop ment of audio-visual techni- ques in all fields, the need to promote interdisciplinary co-operation demand the creation of a specialized training so as to permit close collaboration between scientists and audio-visual technologists in the field of scientific research“ (1977, S.39). Tosis Position stimmt mit unse- rer angewandten Erfahrung aus dem EduMedia-Team der ETH Zürich überein: Eine Annäherung an das epis- temologische Potenzial audiovisueller Bewegtbilder kann nur dann stattfin- den, wenn der Übertritt wissenschaft- licher Inhalte von einem anderen Medium ins Audiovisuelle in enger Zusammenarbeit und Kooperation – im Co-Design – mit Expert:innen aus der Theorie, Rhetorik und der Gestal- tung von Medien und Film sowie der Wissenschaft geschieht. Unter diesen Voraussetzungen können einerseits die medientheoretischen und -rheto- rischen Bedeutungen der im Audio- visuellen enthaltenen Perspektiven reflektiert werden und andererseits – so unsere Annahme – ihr Potenzial entfesselt werden. Unter den Voraus- setzungen des Co-Designs, so wollen wir hier argumentieren, können die wissenschaftlichen Inhalte unter den sprachlichen Affordanzen des Audio- visuellen neu reflektiert und inter- pretiert werden. Diese Praxis erlaubt es, bekannte Theorien unter ande- ren sprachlichen Konditionen neu zu denken und so neue Perspektiven zu generieren; es können neue Metaphern, neue Analogien, neue audiovisuelle Formulierungen gefunden werden, die zum kognitiven Verständnis und sogar zur Erweiterung einer wissenschaftli- chen Theorie, eines Konzepts oder Phä- nomens beitragen können. Die Voraussetzungen Die Frage danach, wie wissenschaft- liche Sachverhalte ins Audiovisuelle übertreten, ist für uns im EduMedia- Team von zentraler Bedeutung. Wir agieren an der Schnittstelle zwischen Forschung und Lehre: Wir entwickeln (digitale) mediale Lösungen für inno- vative Lehrinitiativen. Unsere Arbeit hat also zum Ziel, wissenschaftliche Inhalte von einem Gefäß – in aller Regel vom schriftlich-sprachlichen – in eine neue mediale Realität über- treten zu lassen – zum Beispiel in die audiovisuelle. Wir entwickeln aber nicht nur audiovisuelle Medien, son- dern beispielsweise auch Sachcomics, Übersichtsgrafiken, Game Cards oder Podcasts. Es ist unsere Aufgabe, diesen Übertritt aus medienrhetorischer und mediengestalterischer Perspek- tive anzuleiten sowie hinsichtlich der Hochschullehre zu pointieren. Beglei- tet werden wir in diesem Prozess von Expert:innen aus Wissenschaft und Lehre, die dafür zuständig sind, die Wissenschaftlichkeit unserer Medien zu prüfen beziehungsweise zu sichern. Mit diesem Arbeitsmodell positionie- ren wir uns im Nexus des Co-Designs 10 MEDIENwissenschaft 01/2024 (vgl. Zamenopoulos/Alexiou 2018; Steen 2013).1 Es setzt die multidis- 1 In der Literatur werden oft verschiedene Begriffe wie Co-Design, Co-Production, Co-Creation verwendet. Es existieren diverse Überschneidungen der prak- tischen Tätigkeiten. Zur Vereinfachung sprechen wir von Co-Design. ziplinäre Herangehensweise an die gemeinsame und kollaborative Ent- wicklung der Medien voraus, in der die Expertise aller Beteiligten ihren Platz hat und zudem erwartet wird, dass sich alle Personen, die in ein Projekt involviert sind, immer wieder auf neue Wissenscluster ihrer Mitarbeitenden Abb.1: Das Co-Design entsteht an der Schnittstelle aller in die Medienentwicklung involvierten Expert:innen Modell des EduMedia Team der ETH Zürich (Stand Q3/2023) Perspektiven 11 einlassen. Kurzum: Im Co-Design begegnen wir uns auf Augenhöhe. Wir blicken einerseits über den Tellerrand unserer eigenen Expertise, an der wir andererseits die anderen teilhaben lassen (Abb.1). Das Prinzip des Co-Designs für audiovisuelle Bewegtbilder im Nexus von Wissenschaft und Lehre postu- liert also eine multidisziplinäre Allianz zwischen den beteiligten Akteur:innen. Eine essenzielle Voraussetzung für den Erfolg dieses Ansatzes ist die Offen- heit aller, sich auf unbekannte Wis- sensdomänen einzulassen und die jeweilige Expertise der unterschiedli- chen ad-hoc-Projektteams anzuerken- nen. Dies ist der Ansatz, mit dem wir an der ETH Zürich seit 2021 als neues Team operieren. In dieser Konstellation finden wir uns aus den Bereichen der Medien- theorie und des Mediendesigns mit der Frage konfrontiert, was es bedeutet, wissenschaftliche Begriffe, Konzepte oder Thesen audiovisuell auszudrücken. Diesen Ausdruck zu finden, bedeutet, sich auf einen transformativen Prozess einzulassen, der bereits in der Vorpro- duktion unserer Medien reflektiert beziehungsweise mitgedacht werden muss. Es bedeutet insbesondere, mit den medienspezifischen Charakteri- stika, Möglichkeiten und Grenzen des Audiovisuellen vertraut zu sein – und es bedeutet letztlich, eine Übersetzung des wissenschaftlichen Inhaltes aus dem zumeist sprachlich-schriftlichen Medium in die Sprache des Audio- visuellen zu leisten. Innerhalb dieses gemeinsamen Transformationsprozess im Co-Design wird neues Wissen entdeckt, unerwartet werden Erkennt- nisse gewonnen und Unerkanntes wird sichtbar. So schreibt beispielsweise auch der Wissenschaftskommunika- tionsexperte Jean-Baptiste Gouyon: „Through their participation in the film-making process, scientists had witnessed a hitherto unknown beha- viour. This story presents film-making as a participation in the generation of new knowledge about the natural world“ (2015, S.2). Die Sprache finden Was aber ist die Sprache des Audio- visuellen? Sie ist auch bekannt unter dem Begriff der Filmsprache, die seit dem frühen 20. Jahrhundert als Idee existiert und erforscht wird.2 Es exi- stieren unterschiedliche Positionen dazu, was unter der filmischen Sprache verstanden wird: Insbesondere wäh- rend der Stummfilmära wird Film als eine universal verständliche Sprache gesehen. Diese Auffassung lässt sich insbesondere in Béla Balázs’ (1924) Auseinandersetzungen zur Theoriefä- higkeit des Films wiederfinden. Er schreibt von einer sichtbar geworde- nen Sprache, die aufgrund der profilm- ischen Gegenstände sowie Gestik und 2 Berühmt ist die vermutlich apokryphe Anekdote, dass bereits bei der ersten Vor- stellung des Cinématographe Lumière jemand aus dem Publikum ausgerufen habe, dass dies die Geburt einer neuen Sprache sei (vgl. Kessler 2002). 12 MEDIENwissenschaft 01/2024 Mimik der Filmdarsteller:innen als Teile einer rein visuellen Kultur über- all verstanden werden kann. Ebenfalls lässt sich die Idee einer Filmspra- che in den Montagetheorien, wie sie in der Sowjetunion im frühen 20. Jahrhundert entstanden und von Vertreter:innen des russischen For- malismus ausgearbeitet wurden, wie- derfinden. Schliesslich gibt es einige Publikationen zum Stichwort der Filmgrammatik aus den 1930er und 1940er Jahren, die sich jedoch weniger mit einer Grammatik beziehungsweise Sprache des Films beschäftigen, als dass sie eine normative Filmästhetik proklamieren (vgl. Kessler 2002). Darauf, von 1960 bis in die 1980er Jahre, folgt die Filmsemio- tik – mit strukturalistischer Prägung, die als dominanter Ansatz der moder- nen Filmtheorie gilt. Initiiert durch Christian Metz (1972), stösst sie als systematische Erforschung des Films mittels sprachwissenschaftlicher Kon- zepte und Methoden auf Resonanz (aber auch auf Kritik). Sie führt schliesslich zur Institutionalisierung der Filmwissenschaft als Disziplin, wird zur Grundlage der Narratologie und beeinflusst die Genretheorie, die psychoanalytische und feministischen Filmtheorien der 1970er und 1980er Jahre (vgl. Tröhler 2021). Die Filmsemiotik erkennt die Bedeutung von Sprache für die Erfas- sung von Wirklichkeit als eine Welt der Zeichen an, setzt den Begriff der Sprache aber nur als Metapher ein: „Das Kino ist sicherlich keine Spra- che [langue], im Gegensatz zu dem, was viele Theoretiker des Stummfilms gesagt haben oder zu verstehen gege- ben haben […]. Man kann das Kino als eine Sprache [langue] betrachten in dem Maße, wie es signifikative Ele- mente in geregelten Arrangements ordnet, die von denen verschieden sind, die unsere Sprachen [idiomes] bilden können und die auch nicht die perzeptiven Gebilde, die uns die Rea- lität bietet […], abbilden. Die filmi- sche Manipulation transformiert das, was nur das visuelle Abbild der Rea- lität hätte sein können, in eine Rede“ (Metz 1972, S.148). Mithilfe der Filmsprache als Meta- pher wird die Analyse der filmischen Oberflächenstrukturen möglich, also der medienspezifischen beziehungs- weise audiovisuellen Organisations- muster. Die filmische Ausdrucksebene meint dabei sowohl die ,Materien des Ausdrucks’ – also das bewegte Bild, Schriftzeichen, die verbale Sprache, Geräusche und Musik – als auch die ,Form des Ausdrucks’ beziehungs- weise die medienspezifischen Kodes – die Art und Weise, wie audiovisu- elle Bewegtbilder zeigen und erzählen, zum Beispiel die Einstellungsgröße, Kamerabewegung, Montage, Farbe und so weiter. Jene film ischen Parame- ter also, über die sich der Film bezie- hungsweise das audiovisuelle Medium organisiert und dessen Wirkungswei- sen untersucht werden können. Denn die Ausdruckweise des Audiovisuellen wirkt immer auf den Inhalt ein. Perspektiven 13 Wenn wir nun im EduMedia- Team von der Sprache des Audiovisu- ellen sprechen, dann meinen wir damit die filmische Ausdrucksweise oder – in Metz’ Worten, die ,filmische Manipu- lation’ –, die den wissenschaftlichen Inhalt nicht nur abbildet, sondern zur Rede transformiert. Balázs schreibt in seiner Anrede an die Regisseur:innen (und an alle anderen Freund:innen vom Fach): „Ihr liebt die Materie, aber sie wird euch nur wiederlieben, wenn ihr sie kennt“ (Balázs 1924, S.13). Er argumentiert für eine Theorie des Films; dafür, dass Film nicht nur Erfassung der Wirk- lichkeit, Illustration oder Abbild sei, sondern Bedeutung und Ausdruck, die gewählt beziehungsweise konstruiert werden müssen. Dies kann, so Balázs, nur gelingen, wenn jene, die den Film machen, mit der Materie des Films vertraut sind – womit er speziell die Theorie meint (vgl. ebd., S.3-16). Dem zustimmend, lässt sich argumentie- ren, dass die Kenntnis der Sprache des Audiovisuellen notwendig ist, um den Inhalt – ob es sich dabei um ein Drama oder eben um eine wissenschaftliche These handelt, ist einerlei – so wie- derzugeben, dass die Gestaltungsweise ihn nicht verzerrt oder verfälscht; dass sich Inhalt und Ausdruck ,lieben’, um es in Balázs’ Worten zu schreiben. Bei Unkenntnis oder Ignoranz gegenüber der audiovisuellen Spra- che und den spezifischen Ausdrucks- möglichkeiten des Mediums besteht allerdings umgekehrt die medienrhe- torische Gefahr, die ,falschen Worte’ zu gebrauchen oder den ,falschen Ton’ anzuschlagen, unfreiwillig Ambigui- tät oder spezifische Perspektiven zu transportieren, die den wissenschaftli- chen Inhalt verzerren (vgl. Reutemann/ Rehmann/Volk 2023). Ist man aber mit ihr vertraut, können mit ihr ,Dinge auf den Punkt’ gebracht werden. Genau deswegen ist das Arbeitsmodell des Co-Designs eine so wichtige Voraus- setzung für die Entfesslung des audio- visuellen Potenzials. Ein Beispiel Worin liegt nun aber genau das epis- temologische Potenzial der audio- visuellen Sprache? Um diese Frage beantworten zu können, wollen wir zunächst anhand von einem von unserem Team entwickelten Wissen- schaftsvideo zeigen, wie die filmische Ausdrucksebene den vermittelten Inhalt mitbestimmt. Anhand dessen wollen wir in einem zweiten Schritt die oben erwähnte Transformation her- vorheben, und in einem letzten Schritt soll es schließlich darum gehen, die erkenntnistheoretische Stärke dieser zu diskutieren. Für einen interdisziplinären Blen- dend-Learning-Kurs der Fachberei- che Physik, Geowissenschaften und Umwelt- und Naturwissenschaft der ETH Zürich haben wir sieben Videos rund ums Thema „Radionuclides as environmental tracers“ entwickelt. Eines davon konzentriert sich auf die Frage, wie Speläotheme beziehungsweise Sta- 14 MEDIENwissenschaft 01/2024 Abb.2: Gezeigt wird, wie Stalagmiten Informationen über paleoklimatische Konditionen oberhalb der Höhle speichern Aus: How does a Stalagmite form? Educational Media Team ETH Zürich, 2023 Abb.3: Veranschaulicht werden hier die fünf Bedingungen dafür, dass ein Stalagmit wächst: Regenwasser, Vegetation, Erde, Grundgestein aus Kalkstein und eine Höhle Aus: How does a Stalagmite form? Educational Media Team ETH Zürich, 2023 Perspektiven 15 lagmiten entstehen. Es handelt sich dabei um ein dreiminütiges Video, das für den Gebrauch auf Masterstufe im Kontext der Hochschullehre entwickelt wurde, jedoch auch als standalone funk- tioniert. Das heißt, es vermittelt die wissenschaftliche Erklärung, wie ein Stalagmit entsteht, auch für Personen ohne Vorkenntnisse in den genannten Disziplinen. Es gäbe etliche Wege, wie die wissen- schaftliche Erklärung der Entstehung eines Stalagmiten ins Audiovisuelle übertreten könnte. Wir haben uns für eine 2D-Animation mit reduziertem Farbschema, Voiceover und Soundde- sign entschieden. Diese Entscheidung lässt sich damit begründen, dass sich der 2D-Animationsstil hervorragend dazu eignet, komplexe Abstraktionsprozesse zu veranschaulichen (vgl. Abb.2 und 3). Das Animationslayout ermöglicht außerdem, dass wir Prozesse, Positio- nen und Perspektiven sichtbar machen können, die für das bloße Auge unsicht- bar oder unerreichbar wären, wie bei- spielsweise der Querschnitt durch den Stalagmiten in Abbildung 2 oder jenen durch die Gesteine in Abbildung 3. Der Illustrationsstil ist abstrakt, ver- fügt aber zugleich über eine einladende, nuancierte, spielerische Qualität – ohne ins Naive abzudriften. Die in diesem Stil gestaltete Erklärung erhält so dieselbe einladende Beschaffenheit und trans- formiert den komplexen, womöglich kompliziert wirkenden wissenschaftli- chen Inhalt zu etwas Nahbarem. Der zurückhaltende Einsatz von Motion Design unterstützt diesen Effekt: Die Bewegungen im Bild lenken nicht vom Inhalt ab, sondern hauchen ihm Leben ein – lassen also die abstrakte Dar- stellung realistischer beziehungsweise lebendig erscheinen und tragen damit dazu bei, eine gewisse empathische Ver- bundenheit mit dem Inhalt zu gene- rieren. Die illustrativen Nuancen – die feinen Schattierungen, die Details in den Pflanzen, die kleinen Unterschiede in den einzelnen Stalagmiten und Sta- laktiten – kommunizieren eine wissen- schaftliche Differenziertheit, deren Ziel es ist, mit einer verbal-sprachlich diffe- renzierten Ausdrucksweise vergleichbar zu sein. Auch die reduzierte Farbpalette bestimmt mit, wie der Inhalt kommu- niziert wird. Sie ist codiert und fügt sich in ein übersichtliches Farbschema der gesamten, siebenteiligen Serie ein. So verfügen zum Beispiel alle Videos der Serie, die sich mit dem Thema Stalagmiten(-höhlen) befassen, über dieselbe Farbpalette. Sie strukturieren so die Aufmerksamkeit und führen dazu, dass die Botschaft mit spezi- fischen, wiedererkennbaren Farben assoziiert wird, was gemäss der Cogni- tive Load Theory die kognitive Bela- stung beim Lernen reduziert und den Lernprozess vereinfacht. Die Cogni- tive Load Theory – oder die kognitive Belastungstheorie – beschäftigt sich mit der Begrenztheit der kognitiven Ressourcen im Arbeitsgedächtnis. Sie betont die Notwendigkeit, Lernma- terialien so zu gestalten, dass sie die 16 MEDIENwissenschaft 01/2024 kognitive Belastung minimieren, um effektives Lernen zu ermöglichen (vgl. weiterführend Sweller/Ayres/Kalyuga 2011). Außerdem korrespondieren die auditive und die visuelle Ebene mit- einander. Beispielsweise wird das Voiceover „this is how it works“ von einem Zoom in die Totale begleitet, und die nächste Einstellung zeigt die Erdschicht mikroskopisch vergrößert. Dieser Übergang kommuniziert den Zuschauenden, dass die Erklärung nun in die Tiefe geht – im doppelten Sinne: Einerseits werden per Voiceover nun spezifischere Einzelheiten erklärt, andererseits dringen wir auch visuell buchstäblich weiter in die Tiefe vor. Die auf den Zoom folgende Einstel- lung bringt das Bildgeschehen nicht nur näher, sondern es ist auch der Auf- takt zu einer (Erklär-)Reise, die immer tiefer unter die Erde geht. Diese Bewegung wird von den darauffolgen- den Kamerabewegungen weiter aufge- nommen – bis die Zuschauer:innen in der Höhle mit den Stalagmiten sowie Stalaktiten ankommen, wo sowohl die Erklärung als auch das Video zu ihrem Ende finden. Das Video How does a Stalagmite form? zeigt an, wie die audiovisu- elle Sprache den wissenschaftlichen Inhalt mitbestimmt. Eine reflektierte Anwendung audiovisueller Medien transformiert also wissenschaftliche Inhalte sowie Kulturen – mithilfe ihrer einzigartigen medialen und ästheti- schen Bedingungen sowie durch ihre spezifische audiovisuelle Rhetorik – und bringt diese in eine neue mediale Dimension (vgl. Joost 2015). Transformative Bildwelten: Übersetzen, erweitern, verengen Nachdem die medienästhetischen Bedingungen beispielhaft dargestellt wurden, soll nun auf den Kern des transformativen Co-Design-Prozesses eingegangen werden. Dieser Prozess schafft Bedingungen, unter denen eine grundlegende epistemologische Veränderung in der Anwendung von audiovisuellen Bewegtbildern in der Wissenschaft möglich wird. Die Produktion audiovisueller Bewegtbilder der Wissenschaft birgt eine faszinierende Dynamik. Dies ist nicht nur der Fall, weil diese zur Kommunikation von wissenschaftli- chen Inhalten dienen. Vielmehr kann der angewandte Produktionsprozess in-the-making zu einer substantiellen Veränderung wissenschaftlicher und edukatorischer Denk- und Sichtwei- sen führen. Daher ähnelt der Prozess der audiovisuellen Medienproduk- tion in der Wissenschaft eher einer Transformation des wissenschaftlichen Diskurses als einer bloßen Wissen- schaftskommunikation (vgl. Weber/ Antos 2009). Diese Gegebenheit wirft die Frage auf, wie diese mediale Trans- formation abläuft und inwiefern sie zielführend in Mediendesignverfahren integriert werden kann. Infolgedessen werden durch die Überführung wis- Perspektiven 17 senschaftlicher Inhalte in das bewegte Bild neue semantische Dimensionen erzeugt. Diese Dimensionen haben das Potenzial, die Inhalte auf ideale Weise zu re-kontextualisieren und ihre Prä- gnanz sowie Vollständigkeit im Ver- gleich zu einer rein schriftlichen oder mündlichen Darstellung zu erweitern. Insbesondere die sorgfältige Aus- wahl von Bildern stellt für audiovisuelle Bewegtbilder in der Wissenschaft und Lehre eine anspruchsvolle Aufgabe dar: Sie können gezielt in einer bildsprach- lichen Art begleiten, ergänzen oder das, was in gesprochener Sprache nicht ausreichend ausgedrückt werden kann, als visuelle Übersetzungen supplemen- tieren. Ein Beispiel hierfür ist die präzise Wahl eines kleinen Details, um eine besondere Facette eines Themas oder Objekts hervorzuheben (vgl. visuell- verbale Synekdoche [Bonsiepe 1965, S.23]). Die Bildlichkeit dient so der Ergänzung, Ausdehnung und Präzi- sierung der verbalen Darstellung. Nun kann eine solche Auswahl konnotative oder denotative Polysemien, Ambi- guitäten oder gar Diskrepanzen gene- rieren, die das Potenzial haben, die in den Bildern vermittelte Information zu verzerren (vgl. Hellermann 2015). Diese Problematik wird noch komple- xer, da wissenschaftliche Terminolo- gie in schriftlicher Form in der Regel definierte Begriffe verwendet, während bei visuellen Darstellungen oft kein gemeinsames Verständnis spezifischer visueller Ausdrucksweisen vorliegt. In dieser Komplexität liegt jedoch auch das Potenzial, Zusammenhänge und Gleichzeitigkeiten zum Ausdruck zu bringen, die die Grenzen einer strikt chronologisch sequenzierten verbal- schriftlichen Sprache überschreiten. Hier treffen sich Mediendesign, -theorie und -rhetorik und der wis- senschaftliche Inhalt und bestimmen im Austausch miteinander Form und Inhalt des audiovisuellen Ausdrucks: „So trifft das Wissen des Mediende- signs im Co-Design-Prozess immerzu auf andere Wissenscluster. Die Mediendesigner sollten daher, gleich- sam wie Wissenschaftler, autodidak- tisch in die anderen Wissenscluster eintauchen, um zumindest die grund- legendsten Prinzipien der anderen Dis- ziplinen zu verstehen. Nur dann kann eine anwendungsbezogene Vernetzung der wissenschaftlich-filmischen Prakti- ken ermöglicht werden, worin sich im Prozess der audiovisuellen Datenpro- duktion Teile der Disziplinen amalga- mieren“ (Reutemann 2019, S.205). Die Kreation audiovisueller Bewegtbilder in der Wissenschaft ist also nicht nur Kommunikationsmittel von wissenschaftlichen Inhalten. Viel- mehr birgt dieser Prozess das trans- formative Potenzial, wissenschaftliche Abläufe und Perspektiven grundlegend zu verändern. Es wäre dementspre- chend falsch zu sagen, dass im EduMe- dia-Team Wissenschaftsvermittlung betrieben wird. Vielmehr beteiligt sich EduMedia am wissenschaftlichen Dis- kurs. Und durch die Integration von 18 MEDIENwissenschaft 01/2024 Mediendesign entstehen neue seman- tische Dimensionen, die die Präzision und Vollständigkeit der Darstellung erweitern können. Die komplexe Interaktion zwi- schen Mediendesign, Theorie, Rhe- torik und wissenschaftlichem Inhalt schafft Raum für die Gestaltung eines audiovisuellen Ausdrucks, der über die Grenzen der traditionellen sprachli- chen Darstellung hinausgeht. In diesem kreativen Austausch treffen verschie- dene Wissensbereiche aufeinander, wodurch eine einzigartige Synergie entsteht, die den Prozess der audiovisu- ellen Datenproduktion bereichert und die verschiedenen Disziplinen mitein- ander verschmelzen lässt. Perspektiven Das Potenzial der audiovisuellen Spra- che im Nexus von Wissenschaft und Lehre eröffnet eine Welt der Transfor- mation und Erweiterung. Auf dieser Reise von der wissenschaftlichen Abstraktion zur audiovisuellen Kon- kretion entstehen Brücken, die über die Grenzen des Geschriebenen hinausge- hen. Die hier ausgearbeitete Reflexion über den kreativen Prozess der Über- setzung wissenschaftlicher Konzepte in audiovisuelle Formen zeigt, dass die audiovisuelle Sprache nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern auch ein Instrument der Erkenntnis ist. Der Weg zur erfolgreichen Inte- gration von Wissenschaft und audio- visueller Sprache erfordert sowohl ein fundiertes Verständnis der wissen- schaftlichen Inhalte, die es darzustel- len und zu transportieren gilt, als auch der mediengestalterischen und rheto- rischen Prinzipien. Hier kommt das Konzept des Co-Designs ins Spiel, bei dem Expert:innen aus verschiedenen Disziplinen gemeinsam an der Ent- wicklung von audiovisuellen Inhalten arbeiten. So lässt sich die Arbeitsphilosophie und -methodik im Co-Design von der klassischen Wissenschaftskommunika- tion differenzieren, die sich lediglich darauf konzentriert, wissenschaftliche Arbeit und wissenschaftliche Ergeb- nisse – innerhalb wissenschaftlicher Institutionen sowie zwischen ihnen und der Öffentlichkeit – zu vermitteln. Sie ermöglicht, im Gegensatz zum hier vorgestellten interdisziplinären Ansatz, kaum Raum für neue Perspektiven und Erkenntnisse, sondern fokussiert ausschliesslich auf den Vermittlungsa- spekt. Wird die audiovisuelle Sprache aber nicht nur als Kommunikationsme- dium, sondern als Mittel zum Ausdruck genutzt, kann sie nicht nur Wissen ver- mitteln, sondern auch neues Wissen generieren und Denkweisen erweitern. In einer Zeit, in der digitale Medien zum zentralen Medium in der Wis- sensvermittlung geworden sind, sind wir dazu aufgerufen, die Potenziale der audiovisuellen Sprache weiter zu erfor- schen und kritisch zu hinterfragen. Die audiovisuelle Sprache im Kontext von Wissenschaft und Lehre ist eine krea- tive Schnittstelle, an der unterschied- Perspektiven 19 Literatur Antos, Gerd/Weber, Tilo: „Einleitung.“ In: dies. (Hg.): Typen von Wissen: Begriff- liche Unterscheidung und Ausprägungen in der Praxis des Wissenstransfers. Frankfurt: Peter Lang, 2009, S.1-10. Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt: Suhrkamp, 2001. Bonsiepe, Gui: „Visuell-verbale Rhetorik / Visual-verbal rhetoric.“ In: ulm – Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung 14/15/16, 1965, S.23-40. Curtis, Scott: „Die kinematographische Methode: Das ‚Bewegte Bild‘ und die Brownsche Bewegung.“ In: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 14 (2), 2005, S.23-43. 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Im Blickpunkt 21 Neuerscheinungen: Besprechungen und Hinweise Im Blickpunkt Benjamin Schultz-Figueroa: The Celluloid Specimen: Moving Image Research into Animal Life Oakland: University of California Press 2023, 270 S., ISBN 9780520342347, GBP 30,- (OA) (Zugl. Dissertation am Film and Digital Media Department der University of California Santa Cruz, 2018) Zwischen Gewebeproben, Versuchspro- tokollen, Notizen und konservierten Körperteilen finden sich in wissenschaft- lichen Laboren nicht selten Filmaufnah- men. Ebenso wie die anderen Ephemera zeugen diese von den Vorgehens- und Denkweisen sowie Paradigmen, die die jeweils an den Experimenten und Stu- dien beteiligten Wissenschaftler:innen, Institutionen und Aktanten in sie ein- schreiben. Benjamin Schultz-Figueroa untersucht solch wissenschaftliches Filmmaterial, das im Kontext von Tier- experimenten in den USA zwischen 1940 und 1960 entstanden ist. Er ver- steht diese Tierversuchsfilme als die für seine Monografie namensgebenden celluloid specimen und weist mit dieser Benennung unmissverständlich darauf hin, dass diesen eine signifikante epi- stemische wie auch methodische Rolle in der sich auf Tierversuche stützenden Verhaltensforschung zukommt. Cellu- loid specimen machen in dieser Funktion einerseits das Vorgehen, Denken und Selbstverständnis in Laboren analy- sierbar, andererseits veranschaulichen sie auch die medientheoretischen und -praxeologischen Anschauungen und Ansprüche der wissenschaftlichen Verwendung von Film in Experimen- ten mit „nonhuman animals“ (S.10). Diese Doppelfunktion steht im Zen- trum jedes der drei Teile in Schultz- Figueroas Studie, die das Schaffen eines Verhaltensforschers und dessen wissenschaftliche wie auch politische Umgebung in Zusammenhang mit der jeweiligen an den Experimenten betei- ligten Spezies untersuchen. 22 MEDIENwissenschaft 01/2024 Zunächst widmet sich Schultz- Figueroa der Forschung an Primaten von Robert Mearns Yerkes. Die dabei analysierten Versuchsanordnungen und Filme seien durch die Produktion von Sympathie als wissensgenerieren- des Moment gekennzeichnet, wobei dies schlussendlich den Ausgangs- punkt für die Kontrollierbarkeit von Individuen bilde: „Yerkes’s primate films were meant to be institutional tools for controlling racial and species categories in the future“ (S.61). In der Kontextualisierung des wissenschaftli- chen Filmmaterials zwischen Exploi- tation-Filmen und massenweisen IQ-Tests im US-Militär wird die sozi- aldarwinistische Dimension des affek- tiven Potenzials des Films deutlich, die Yerkes‘ Labor zu einem Schauplatz der eugenisch imaginierten „affective labor of racial capitalism“ (S.66) werden lässt. Die Filme von Experimen- ten an Ratten bilden den Unter- suchungsgegenstand des zweiten Teils. Zentral wird dabei das Reiz- Reaktions-Schema des Verhaltens- forschers Neal E. Miller, das in und mit dessen Filmen sowohl erprobt als auch präsentier- und auf andere Spezies übertragbar gemacht werden sollte. Besonders aufschlussreich und schockierend ist dabei Schultz- Figueroas Argumentation, wie cel- luloid specimen dem Rassisten Miller dazu dienten, Lynchmobs an Schwar- zen dahingehend zu legitimieren, als dass mittels filmischer Experimente das gewaltvolle Verhalten der ‚weißen‘ US-Amerikaner:innen1 naturalisiert werden sollte (vgl. S.75ff.). Zugleich eröffnen die weiteren Kapitel über Laborrattenfilme und deren Einsatz in Klassenräumen in Anschluss an Donna Haraways Konzept des shared suffering (vgl. When Species Meet. Minneapolis: Minnesota UP, 2007), dass in film- ischen Experimenten mit Ratten ein utopisches Potenzial einer spezies- übergreifenden Zukunftsmodellierung entdeckt werden könne (vgl. S.96). Im dritten Teil der Studie steht der Verhaltensforscher B. F. Skinner und dessen Arbeit an und mit Tauben im Zentrum. Skinners Verwendung von Film wird dabei im Lichte seiner Theorie der operanten Konditionie- rung gelesen, wobei die Labortauben zu Metaphern des Publikums werden. Ob Tauben als Pilotinnen von Kriegs- raketen, in ironischen Reenactments von Beispielen aus der Geschichte des Laborfilms oder bei populären Fern- sehauftritten: Skinners medientheo- retische und -praktische Bemühungen ließen Film zum Instrument der Kon- ditionierung werden (vgl. S.168). Zusammen mit seiner experimentel- len Skinner’s Box stehen für Schultz- Figueroa Skinners Experimente mit Tauben für eine Vorwegnahme unse- rer zeitgenössischen Medienökono- 1 Das kleingeschriebene ‚weiß‘ verweist ebenso wie das großgeschriebene Schwarz darauf, dass es sich hier um differenzlo- gische Zuschreibungen bzw. um gesell- schaftspolitische Zugehörigkeiten und nicht um essentialistische ‚biologische‘ Eigenschaften handelt. Im Blickpunkt 23 mischen Dingen‘ (vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge: Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen: Wallstein, 2001), die auf Film gebannt diesen selbst zu einem epistemischen Ding werden lassen, wird zentral für eine medienwissen- schaftliche Historisierung im Geiste der New Cinema History, die einen erweiterten Blick auf fach- und insti- tutionsspezifische Kontextualisierun- gen verlangt. Schultz-Figueroa öffnet mit seinen Fallstudien den Fach- diskurs, der sich sonst häufig auf die frühe Filmgeschichte beschränkt (vgl. Gaycken, Oliver: Divises of Curiosity: Early Cinema and Popular Science. New York: Oxford UP, 2015), hin zu einer diachronen Auseinandersetzung einer regional- und fachspezifischen Unter- suchung. Die thematisierten Filmenden sind dabei keine in der Geschichte des wis- senschaftlichen Filmens kanonisier- ten, sondern ambivalente Individuen, deren Arbeit sich zu entdecken lohnt (viele der analysierten Filme sind durch in der Publikation verwendete QR-Codes für die Lesenden zugäng- lich). Die einzelnen Figuren mit ihrer jeweiligen Konfiguration eines verhal- tensforschenden cinema of exploration (vgl. Caminati, James Luca/Cahill, James Leo [Hg.]: Cinema of Explo- ration: Essays on an Adventurous Film Practice. New York: Routledge, 2020) verlangen zudem, eine strikte episte- mische sowie medienpraxeologische Trennung von Laborfilmen und ver- mien, die zwar aktivierend wirken, die Macht der Handlungsleitung jedoch auf Seiten konditionierender Kon- zerne und Infrastrukturen verweilt. Schultz-Figueroa verzichtet in jeder case study auf anthropomorphi- sierende Formulierungen, umgeht anthropozentrische Fragestellungen an das Material. Statt die untersuch- ten celluloid specimen essentialistisch als interspezifische Kontaktzonen zu generalisieren, wird jedes Fallbei- spiel sowohl danach befragt, welche Relationierung von Mensch-Tier- Verhältnissen die Medien verwendung beeinflusst, als auch danach, wie diese medial erst hervorgebracht wird. Methodisch verlangt dies eine genaue Analyse sowohl des filmi- schen Materials als auch der dieses umgebenden Machtgefüge, wodurch Film-, Wissens-, Sozial- und Insti- tutionsgeschichte unabdingbar mit- einander verschränkt gedacht werden. Genau hierin liegt Schultz-Figueroas fachliches Plädoyer: Statt vorschnell anthropomorphisierende Schlüsse über Medienverwendung zu ziehen, gelte es, celluloid specimen genauestens zu situieren, denn „the terms human and animal are essentially meaningless without a historical, contextual frame“ (S.14). The Celluloid Specimen veranschau- licht die Produktivität und Komple- xität, die sich in der Beschäftigung mit non-theatrical film allgemein und mit wissenschaftlichem Film im Besonderen einstellt: Der Entwick- lungsprozess von gefilmten ‚episte- 24 MEDIENwissenschaft 01/2024 meintlich populärwissenschaftlichen Arbeiten infrage zu stellen; vor allem in Hinblick auf die Analysen von Machtzusammenhängen erweist sich Schultz-Figueroas Umgehen einer solchen dichotomen Behandlung der celluloid specimen als überzeugend komplexitätssteigernd. Scott Curtis verlangt von Film- und Medienwissenschaftler:innen, die sich mit wissenschaftlichen Ver- wendungsweisen von Film beschäf- tigen, dass sie sich einer eingehenden Beschäftigung mit der ihnen fremden Disziplin unterziehen, um relevante Aussagen über ihre Gegenstände tref- fen zu können (vgl. The Shape of Specta- torship: Art, Science, and Early Cinema in Germany. New York: Columbia UP, 2015). Schulz-Figueroa beweist in The Celluloid Specimen mit Bravour, dass er diesem Credo einer tactile historiography (vgl. S.191), die Pro- duktion, Distribution und Rezension von Medien berücksichtigt, zu folgen und aus seiner fachwissenschaftlichen Perspektive nicht nur an Diskurse der Verhaltensforschung und der Critical Animal Studies anzuknüpfen ver- steht, sondern diese mit Blick auf die von ihm untersuchten Gegenstände zu verkomplizieren und durch neue Punkte zu erweitern weiß. Die fort- währende Ambiguität des Materials, das zwischen utopischen Zukunfts- entwürfen, Neumodellierungen von Speziesverhältnissen und regressiven bis diskriminierenden Aneignungen oszilliert, wird in den einzelnen Unter- suchungen feinfühlig herausgearbeitet. Dabei wird vor allem Schulz-Figuer- oas Analyse der Verwobenheiten von epistemischen Tugenden und politi- schen Agenden in filmischen Konfi- gurationen für die Beschäftigung mit filmischem Wissen musterbildend. Dennis Hippe (Frankfurt am Main) Medien / Kultur 25 Ariane Karbe: Museum Exhibitions and Suspense: The Use of Screenwriting Techniques in Curatorial Practice Abingdon: Routledge 2023 (Routledge Research in Museum Studies), 175 S., ISBN 9781003153962, GBP 120,- Medien/Kultur In Museum Exhibitions and Suspense: The Use of Screenwriting Techniques in Curatorial Practice, Ariane Karbe takes us on an intellectually stimu- lating journey through the world of museum curation, offering a fresh perspective that merges the worlds of art and storytelling. In this thought- provoking book, Karbe explores the exciting possibilities of incorporating screenwriting techniques into curato- rial practices, ultimately enhancing the museum-going experience for both seasoned art enthusiasts and casual visitors alike. The central research intent of this book is to highlight relations bet- ween suspense techniques. Karbe dives deeply into techniques used in Hol- lywood movies, she describes insight- fully what suspense exactly is and how exhibitions utilize suspense techni- ques. The question is: Can museum exhibitions be as exciting as films? (cf. p.2). The author sets three Hol- lywood masterpieces – All About Eve (1950), The Conversation (1974), and Chinatown (1974) –, in comparison to three exhibitions: Sawn: A Crime Fea- turing Baroque Backdrops (2023-2014), Mountains, a Mysterious Passion (2007- 2014) and, The Passions: A Drama in Five Acts (2012). It is absolutely neces- sary to see the movies in the book in advance, because it can be boring to only read about them while trying to associate them with the screenwriting techniques as well as the exhibitions. Karbe contends that by applying cine- matic techniques, curators can create exhibitions that are not only visually striking but also emotionally gripping. One of the book’s standout features is its comprehensive examination of the intersection between the art world and the world of cinema. Moreover, it was thrilling to read the book’s introduc- tion, wondering how Karbe could have connected these two art worlds: films and exhibitions. My own attention had been drawn into the book by decoding the similarities to create suspense for making the audience curious about what they read or saw, as it is indicated 26 MEDIENwissenschaft 01/2024 in the book: „No matter which approa- ches they choose, screenwriters will do anything to reach their audience. In this sense, they can inspire curators to place the audience even more consi- stently at the centre of museum work... Never be boring! And the opposite of boredom is? Suspense!“ (p.17). Karbe often highlights the narrative quality and constitution of exhibitions. Karbe’s writing style is accessible and engaging. Therefore, complex con- cepts in both curation and screenwri- ting are easily accessible for readers from various backgrounds. One of the book’s key strengths is its exploration of various screenwriting techniques and their potential applications for curatorial practice. Especially the in- depth explanations of screenwriting techniques in the context of suspense – such as telegraphing, dangling cause, dramatic irony, dramatic tension, planting, and payoff – provide readers that are not experts in film studies with valuable information. Moreover, Karbe shows how these techniques are used for museum exhibitions that are not only visually stunning but also emotionally immersive. The book may also be an insightful read for curators who aim at suspenseful exhibition sto- rytelling. Additionally, Karbe’s incorporation of case studies is a highlight of the book. These real-world examples bring the theoretical concepts to life, demon- strating how curators have successfully employed screenwriting techniques to engage and captivate their audiences. The case studies provide concrete evi- dence of the effectiveness of the ideas presented, offering a practical roadmap for those eager to experiment with these concepts in their own curatorial work. Personally, I sensed the usage of suspense and screenwriting techniques when I was reading the film analysis part of the book; in consequence, I became curious to read the comparison to the exhibitions; I also felt some kind of thrill when Karbe designed the sto- rytelling and background information for the three exhibitions, making the reader comprehend the correlations. In conclusion, Karbe invites us in Museum Exhibitions and Suspense to view the art world through a new lens – one that is both illuminating and deeply engaging by demonstrating how screenwriting techniques can ele- vate the impact of museum exhibiti- ons. This book is a thought-provoking and insightful addition to the litera- ture on museum curation, and it has the potential to shape the future of how we experience art in galleries and museums. Ilayda Seyhun Gören (Marburg) Medien / Kultur 27 Der Publikationsrhythmus von Erkenntnistheoretikern scheint immer weniger zu einer sich immer schneller drehenden Wissenschaft zu passen. Der Philosoph Josef Mitterer hat zu seinem Non-Dualismus bislang zwei Monograf ien und einige Aufsätze veröffentlicht (z.B. Mitterer, Josef: Das Jenseits der Philosophie: Wider das dualistische Erkenntnisprinzip. Wien: Passagen, 1992). Stefan Weber spricht in seiner Monografie Radikaler Lin- gualismus davon, dass er sich selbst zwar schon seit 30 Jahren intensiv mit Mitterers Ansatz beschäftige (u.a. in seinem Werk Non-dualistische Medien- theorie: Eine philosophische Grundlegung. Konstanz: UVK, 2005), aber es zwi- schenzeitlich 15 Jahre von der Darstel- lung bis hin zu dessen Kritik brauchte. Das besondere Tempo mag auch daran liegen, dass bei der Erkenntnistheorie das Innovationspotenzial überschaubar erscheint. Weber zeichnet dazu drei Revolutionen nach: Der Streichung des theologischen Jenseits folgte die Abkehr von der Metaphysik, und Mit- terer stehe mit dem Verzicht auf die sprachverschiedene Wirklichkeit für die mögliche dritte Revolution. Hier verortet sich Weber mit seinem Buch und untersucht den „Verdacht, dass eine der grundlegenden Unterschei- dungen der Philosophie, nämlich jene von Sprache und nicht-sprachlicher Wirklichkeit, nicht konsistent ist, ja dass sie erhebliche Lücken aufweist und massive Probleme bereitet“ (S.10). In den ersten drei Kapiteln widmet sich Weber zentralen Fragen dieser Unterscheidung. Das erste Kapitel ist selbst für Dualist:innen wie (Radikale) Konstruktivist:innen noch ein sanfter Einstieg in die mitunter gewöhnungs- bedürftige Welt nicht-dualisierender Redeweise, wenn Weber herausarbei- tet, dass es keine Wahrnehmung ohne Interpretation gebe, ja selbst „‚nackte Fakten‘ immer eine Erstinterpretation, eine Erstdeutung“ (S.28) darstellten. Im zweiten Kapitel folgt mit dem infiniten Regress das resultierende Pro- blem, wenn sprachliche Bezüge auf eine nicht-sprachliche Wirklichkeit unter Rechtfertigungs- und Begründungs- druck geraten, da jede Begründung nur sprachlich vorgebracht werden kann. Mit der Unterscheidung von gut- und bösartigen infiniten Regressen gelingt Weber eine plausible Kritik an Mitterers herausgearbeiteten infiniten Regressen, die er für eine Schärfung von dessen Überlegungen nutzt. Nach einer Kritik und Neukon- zeptionalisierung der Unterscheidung von Objekt- und Metasprache im dritten Kapitel nimmt Weber in den folgenden Kapiteln mit einer Dar- stellung von Mitterers nicht-dualisie- render Redeweise und seiner Kritik daran Anlauf für seine eigene Weiter- entwicklung. Im Wesentlichen zielt Stefan Weber: Radikaler Lingualismus: Von Wittgenstein zu Mitterer und einer neuen Philosophie Weilerswist: Velbrück 2022, 136 S., ISBN 9783958323155, EUR 24,90 28 MEDIENwissenschaft 01/2024 Webers Kritik auf Mitterers zentralen Satz: „Das Objekt der Beschreibung ist nicht beschreibungs- oder ‚sprach- verschieden‘, sondern jener Teil der Beschreibung, der bereits ausgeführt worden ist“ (Mitterer, Josef: Das Jen- seits der Philosophie. Wien: Passagen, 1992, S.56). Weber arbeitet das fol- genreiche Problem plausibel heraus: „Damit man sagen kann, dass etwas Teil von etwas anderem ist, muss es bereits in irgendeiner Form bekannt, gegeben, hier: ‚ausgeführt worden‘ sein“ (S.83). Daher sei die Unterschei- dung zwischen (bereits ausgeführten) Beschreibungen so far und (noch aus- zuführenden) Beschreibungen from now on nicht plausibel, es gebe nur Beschreibungen so far. Hier schlägt Weber eine einfache Modifizierung vor, welche er zwar in Teilen kritisiert, die aber dennoch plausibel erscheint: „Das Objekt einer weitergehenden Beschreibung ist nicht beschreibungs- oder ‚sprachverschieden‘, sondern jener Teil der weitergehenden Beschreibung, der vor ihr bereits ausgeführt worden ist“ (S.84). Mit der Fokussierung auf Beschrei- bungen so far und der Schärfung der inf initen Regresse gelingt Weber sowohl eine überzeugende Kritik als auch die Weiterentwicklung der nicht- dualisierenden Redeweise, die sich verkürzt in dem Satz zusammenfassen lässt: „Sprache fabriziert/bringt her- vor die Idee der (nicht-sprachlichen) Wirklichkeit“ (S.96) Dieser Radikale Lingualismus sei radikal, unter ande- rem weil „auch die Wahrnehmung als Ding bereits eine Interpretation“ (S.97) sei und weil „jede Unterscheidung zwi- schen Sprache und nicht sprachlicher Wirklichkeit Teil der Metasprache ist und somit Sprache zur Voraussetzung hat“ (S.97). Nachdem in den vergangenen Jahren in der Erkenntnistheorie rea- listische Annahmen eine erstaunliche Renaissance erlebt haben, gelingt Weber mit seinem Buch ein neuer Impuls zur zwischenzeitlich etwas erlahmten Diskussion zu nicht-dua- lisierender Redeweise. Dass er seine überaus fundierte Kritik und plausible – wenngleich keineswegs fundamen- tale – Weiterentwicklung als Anlass für das neue Label Radikaler Lingualis- mus nutzt, begründet er zwar, kommt am Ende aber doch überraschend. Olaf Hoffjann (Bamberg) Medien / Kultur 29 Die Meinungen, die sich um Theodor W. Adorno ranken, stimmen meist in folgenden Punkten überein: Adorno müsse die Welt der Medien, des Rund- funks und des Fernsehens und damit auch alle neueren Entwicklungen der Medienwelt abgrundtief verabscheut haben. Zudem sei seine Medien- und Kulturkritik elitär und von oben herab (vgl. S.216). Der Sammelband Adorno und die Medien wirft ein differenzier- teres Licht auf diese gängigen Ein- schätzungen. Denn eines macht die Publikation besonders deutlich: Eine Medienanalyse, die durch Adorno inspiriert ist, verbleibt nicht einseitig, sondern muss die dialektische Bewe- gung von Herrschaft und Freiheit nachvollziehen können. Anlass dieses Sammelbandes war die im Jahre 2019 in Karlsruhe abge- haltene Tagung „Adorno und die Medien“ (S.20). Der Band umfasst ins- gesamt 13 Beiträge in englischer und deutscher Sprache, die in drei Teilab- schnitte gegliedert wurden: „Reflexio- nen der Medienanalyse“, „Kritische Medienanalysen in situ“ und „Adorno und digitale Kultur“. Besonders span- nend sind dabei die Aufsätze, die den Doppelcharakter einer adornitischen Medienkritik betonen. Dass Adorno nicht nur aus seinem Elfenbeinturm heraus über die Medien schimpfte, zeigen Stefano Marino und Rolando Vitali in ihrem Text ein- drücklich am Beispiel der öffentlichen Gespräche Adornos mit Arnold Geh- len. Auch wenn Adornos Medienkri- tik vernichtend ist, bedeutete das für ihn nicht, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Ganz im Gegenteil: „Adorno practically never disdained to use mass media whenever he could, in order to reach a broader audience“ (S. 54f.). Adorno trägt eben jenen Wider- spruch zwischen regressiven Momenten der Aufklärung und partiellen Frei- heitsmöglichkeiten aus, indem er – trotz aller Kritik – seine theoretischen Posi- tionen zum Ausdruck brachte. Sarah Bianchi verdeutlicht, dass die angesprochene Doppelbewegung von theoretischer Kritik und einer praktischen Inanspruchnahme der Öffentlichkeit nicht nur eine persön- liche Vorliebe Adornos war, sondern der Sache selbst geschuldet sei. Sie überträgt diese Gedanken ins digi- tale Zeitalter: Das „Doppelgesicht des digitalen Wandels“ (S.200) besteht Bianchi zufolge darin, dass die digi- talen Räume zwar stets Macht kon- stituieren und reproduzieren, sogleich aber auch immer wieder Räume und Möglichkeiten entstehen lassen, die von den Subjekten progressiv ange- eignet und behauptet werden können. Auch Judith-Frederike Popp schließt an diese Bewegung an und zeigt, wie solche selbstbestimmten Aneignungen aussehen könnten. Sie Judith-Frederike Popp, Lioudmila Voropai (Hg.): Adorno und die Medien: Kritik, Relevanz, Ästhetik Berlin: Kulturverlag Kadmos 2023 (Kaleidogramme, Bd.196), 272 S., ISBN 9783865994943, EUR 29,80 30 MEDIENwissenschaft 01/2024 befragt Adornos ästhetische Theorie bezüglich des Konzeptes der Selbst- bestimmung, das sie in Formen des „albernen Exzesses“ (S.252) angedeu- tet sieht. Digitale Selbstbestimmung sei „das Spiel mit dem Als-Ob, das Erproben von Neuem“ (S.264). Bei- spiele dafür sind laut Popp „Memes“ und „die Kochtipps unter den Videos von Pornhub“ (ebd.). Es geht also um Formen der digitalen Nutzung, die den Logiken der Plattform zuwiderlaufen, sie aufheben und durch den Gebrauch entfremden. Dass mit Adorno auch nach dem ästhetischen Wahrheitsgehalt der tech- nischen Entwicklungen gefragt wer- den muss, zeigt Sulgi Lie am Beispiel von Charlie Chaplins erstem Tonfilm The Great Dictator (1940). Das Bild, das spricht, das die message unvermittelt zum Ausdruck bringt, „verliert […] seinen Bildcharakter, verleugnet also seinen Scheincharakter als ästhetisches Zeichen“ (S.102). Die technischen Entwicklungen stehen damit immer in Gefahr, ihre Erkenntnismöglich- keiten zu verspielen. Und so ist auch die technische Entwicklung in der Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Regression gefangen: „Das technolo- gisch Fortschrittliche kann ästhetisch rückschrittlich sein, während umge- kehrt das ästhetisch Fortschrittliche technisch rückschrittlich sein kann“ (S.103). Filme in 3D oder hyperrea- listische Animationstechniken kön- nen die Differenz von Realität und Fantasie völlig aufheben, verlieren damit aber jeglichen Wahrheitsgehalt abseits empirischer Realität und sind im ästhetischen Sinne gehaltlos. Die medialen Entwicklungen mit Adorno zu betrachten, heißt also auch, sie nach ihrem Beitrag zur Erkenntnis der Gesellschaft zu befragen. Der Sammelband vereint unter- schiedliche Blickwinkel auf die mediale Welt, von denen hier nur ein Ausschnitt dargestellt werden konnte, und ist durch seine Vielschichtigkeit inspirierend als auch voraussetzungs- voll. Wenn aber etwas während der Lektüre deutlich ins Auge sticht, dann die ständig wiederkehrende Doppel- bewegung der dialektisch geschulten Medienanalyse, die zwischen der Kri- tik von Herrschaft und dem Auslo- ten emanzipatorischer Potenziale hin und her schwingt. Mit Adorno auf die Medien zu blicken, bedeutet also nicht, vor ihnen zu fliehen, sondern sich ins Getümmel zu stürzen, ohne dabei den Kopf zu verlieren. Leon Schultze (Frankfurt am Main) Medien / Kultur 31 In der naturwissenschaftlichen For- schungspraxis fungieren digitale Bilder als Medien der Erkenntnis. Technische Bildgebungsverfahren der computer- gestützten Mikroskopie sind für den fachlich geschulten Expert:innenblick ausgerichtet auf Erkenntnisgewinn. Bisher blieb diese bildorientierte Wissenspraxis weitgehend unberührt von medienkulturwissenschaftlichen Analysen, von medienästhetischen, semiotischen und hermeneutischen sowie von wissenschaftshistorischen Untersuchungen. Bettina Papenburg legt in ihrer Habilitationsschrift, die als Monografie unter dem Titel Vita- litätseffekte: Erkenntnis und Affekt in der Medienkultur der Zellbiologie unlängst erschienen ist, aus einer dezidiert medienkulturwissenschaftlichen Per- spektive erstmalig eine umfassende und tiefgreifende Studie mit praxe- ologischer Komponente vor, die sich diesem Desiderat widmet und einen Dialog zwischen Geistes- und Natur- wissenschaften zu stiften sucht. Das epistemische Bild als Ort, an dem eine wissensgenerierende Operation vollzogen wird, setzt die Autorin als „Kristallisa tionspunkt“ (S.17) eines solchen Dialogs. Medienästhetisch argumentierend macht Papenburg überzeugend deut- lich, dass bei der Lebendzellmikro- skopie einer gewissen Lebendigkeit der Zellen Ausdruck verliehen wird, die aus einem „affektive[n] Surplus“ (S.269) resultiert, das sich unter ande- rem durch die Vermittlung von Bewe- gung herleitet. Hier kommt ein zweiter wesentlicher Faktor ins Spiel, der im Untertitel der Monografie anklingt: Auch Affekt gilt es in der Medienkul- tur der Zellbiologie wahr- und ernst zu nehmen. In den auf Wissenszuwachs ausgerichteten Wahrnehmungen, so argumentiert Papenburg, mischt sich als Gegensand dieser Wahrneh- mung eine „affektive Beteiligung an den Filmen“ (S.10). Dieser Befund wird insbesondere im zweiten Teil- abschnitt (Kapitel 3, 4 & 5) anhand von Beispielen und im Rückgriff auf psychologische, ästhetische und phi- losophische Reflexionen ausgearbeitet. Zentral an Papenburgs Hypothese die- ser affektiven Beteiligung erweist sich ihr Plädoyer, Erkenntnis und Affekt nicht als sich oppositionell gegen- überstehende Bestandteile bei der bildgebungsgestützten Erkenntnis- gewinnung zu verstehen, sondern in ihrer Wechselwirkung als sich gegen- seitig erweiternd und bereichernd. Durch diese Perspektivverschiebung auf Korrelationen epistemischer und affektiver Komponenten sei es mög- lich, so die Autorin, Reflexionsraum bei den Bildbeobachter:innen über die individuelle Eingebundenheit in das Bettina Papenburg: Vitalitätseffekte: Erkenntnis und Affekt in der Medienkultur der Zellbiologie Frankfurt: Campus 2023, 308 S., ISBN 9783593517315, EUR 42,- (Zugl. Habilitation an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 2021) 32 MEDIENwissenschaft 01/2024 mediale Gesamtgefüge aber auch soge- nannte ‚Vitalitätsaffekte‘ zu generieren. Geprägt von dem US-amerikanischen Psychiater und Analytiker Daniel Stern bezeichnet der Begriff des Vitalitätsaf- fekts die „Erfahrungsqualitäten“, die „alle vitalen Prozesse begleiten“ (S.16) (vgl. auch Stern, Daniel: The Interper- sonal World of the Infant: A View from Psychoanalysis and Developmental Psy- chology. London: Karnac Books, 1998 [1985]). Der Begriff deutet damit auf das reflexive Gewahr-Werden der eige- nen Lebendigkeit und Sterblichkeit der Beobachtenden hin. Nicht zufäl- lig wählt Papenburg den Titel ihrer Monografie Vitalitätseffekte so nahe an Sterns Begriff. Mit der Akzentu- ierung auf Effekte verweist sie auf das epistemische Bild mit ästhetischem Gehalt als prozesshafte (Aus)Wirkung technischer Sichtbarmachungsverfah- ren; als Bild von ‚etwas‘ und Bild von ‚sich selbst‘, eingelassen zwischen Un/ Sichtbarem und Un/Sagbarem. Historisch perspektiviert stellt Papenburg im ersten Teilabschnitt (Kapitel 1 & 2) überzeugend heraus, dass sich die grundlegende Idee einer „Selbst-Repräsentation der Natur“ (S.59) und ein damit einhergehendes Objektivierungsversprechen von Visu- alisierungstechnologien bis in die Gegenwart naturwissenschaftlicher Rhetoriken fortschreibt. Formen menschlichen Eingreifens sowie auto- matisierte Vermessung und Abstraktion in eine diagrammatische, computerge- stützte Visualisierung bilden jedoch einen Widerspruch zu jener sich hart- näckig manifestierten Idee der Selbst- aufzeichnung von Natur. Vielmehr sei Ziel jener Verfahren „die Vermessung der Natur“, wobei „der Weg dahin […] über ihre Zurichtung, die sie in einen Zustand zwingt, in dem sie Bilder und Zahlen freigibt“ (S.67) führt. Im wei- teren Verlauf stellt sich die Autorin die Frage nach dem „Weltbezug digitaler Bilder“ (S.69) und entwickelt hieraus den Begriff des Datenbildes. Ange- sichts der Bedeutsamkeit der indexika- lischen Referenz jener Bilder gelangt sie schließlich zu einer grundlegenden Dif- ferenzierung zwischen epistemischen und ästhetischen Objekten (vgl. S.121). Diese Differenzierungsfrage führt die Autorin zum zweiten Teilabschnitt ihres Buches (Kapitel 3, 4 & 5), der sich bezugnehmend auf J. Vogls Begriff des ‚Medien-Werdens‘ einer Skizzierung der historisch angelegten und erkennt- nistheoretisch ausgerichteten Medien- ästhetik der Mikroskopie verschreibt (vgl. ders.: „Medien-Werden: Galileis Fernrohr.“ In: Engell, Lorenz/Vogl, Joseph [Hg.]: Mediale Historiographien. Weimar: Bauhaus-Universitätsverlag, 2001, S.115-124). Einblicke in eine Laborstudie, dichte, interdisziplinäre theoretische Bezüge und präzise, komparative Ana- lysen von Visualisierungstechniken der Zellbiologie machen Papenburgs Monografie nicht nur zu einer über- zeugenden und lesensweiten Lektüre, sondern inspirieren und motivieren auch dazu, spartenübergreifend zu for- schen und den Blick über den eigenen Fachdisziplin-Tellerrand zu wagen. Alisa Kronberger (Bochum) Medien / Kultur 33 Ausgangspunkt des vorliegenden Sam- melbands ist die Feststellung, dass die Entwicklung von Bildapparaten, tech- nischen Transportmitteln und Touris- musindustrie im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zuneh- mend eine neue Bild- und Reisekultur prägte. Es erstaunt vor dem Hinter- grund dieser symbiotischen Verbin- dung, dass die Forschung weiterhin ein doppeltes Desiderat verzeichnet, wie Herausgeber Thomas Morsch gleich zu Beginn beklagt. Tourismusforschung und Film-/Medienwissenschaft haben in Bezug auf die Medialität und Medien von Tourismus bisher entwe- der nur Einzelstudien hervorgebracht oder dem Aspekt der Medialität nicht weitreichend Bedeutung beigemessen. Die Aufarbeitung der theorie- und mediengeschichtlichen Parallelen zwi- schen Film/Medien und Tourismus stellt die zentrale Leistung der ersten drei Beiträge des Bandes dar: Anhand der drei Leitideen ‚Performativität‘, ‚Körper‘ und ‚Visualität‘ diskutiert Morsch in der Einführung zentrale Konzepte aus beiden Bereichen, von Vivian Sobchacks Filmphänomeno- logie (The Address of the Eye: A Pheno- menology of Film Experience. Princeton: Princeton UP, 1992) über John Urrys und Jonas Larsens tourist gaze (The Tourist Gaze 3.0. London/Los Angeles: Sage, 2011), wie den mobi- len virtuellen Blick bei Anne Fried- berg (Window Shopping: Cinema and the Postmodern. Berkeley: University of California Press, 1993) und Ellen Strain (Public Places, Private Journeys: Ethnography, Entertainment and the Tourist Gaze. New Brunswick/Lon- don: Rutgers UP, 2003) bis zu Jonas Larsens travel gaze („The (Im)mobile Life of Digital Photographs: The Case of Tourist Photography.“ In: ders./ Sandbye, Mette [Hg.]: Digital Snaps: The New Face of Photography. London/ New York: I.B. Tauris, 2014, S.25-46). In der wechselseitigen Konfrontation ergeben sich produktive Ergänzungen, die Morsch in sein Verständnis des mobilen Blicks „als Anordnung von visueller Wahrnehmung und Bewe- gung, in der sich Film und Tourismus begegnen“ (S.15), aufnimmt. Demge- genüber setzt Alexander Schneiders Film- und Tourismustopologie an der Schnittstelle des Raums an, um Fra- gen des Blicks und der Erfahrung neu zu stellen. Schneiders genealogische Perspektive erlaubt es, den filmischen und touristischen Raum über eine Poetik als mediale Form der Darstel- lung und Gegenstand der Erfahrung zusammenzuführen, die die „Matrix der eigenen Erfahrung“ ergibt, denn „erst über den virtuellen Raum der fotografischen oder filmischen Dar- stellung wird der physische Raum der Sehenswürdigkeit touristisch erfahr- bar“ (S.53). In der sich anschließenden kurzen Mediengeschichte des Reisens zeigt Morsch anhand von Claude- Thomas Morsch (Hg.): Der mobile Blick: Film, touristische Wahrnehmung und neue Screen-Technologien Wiesbaden: Springer 2022, 292 S., ISBN 9783658084110, EUR 69,99 34 MEDIENwissenschaft 01/2024 Glas, Postkarte und Video das Bedeu- tungsfeld optischer Medien in der Entwicklung des Reisens und Struktu- rierung der touristischen Aktivität auf. Hinter diesen genealogisch ausge- richteten Texten reihen sich zehn wei- tere Studien ein, die Fragen nach der medialen Konstitution des Touristi- schen und den Auswirkungen des Tou- rismus auf ästhetische Erfahrungen an jeweils unterschiedlichen Gegenstän- den wechselseitig in Anschlag bringen. Neben Einzelstudien zum Typischen des Niederländischen (Sarah Dellmann), dem frühen Expeditions- film (Anna Jörk), Reisedarstellungen in Wochenschauen (Sigrun Lehnert) und dem Phänomen der spring breaks (Michael Ufer) versammelt der Band auch Beiträge, die Antworten zu über- greifenden Aspekten des Touristischen und seiner medialen Verfasstheit lie- fern. Zur Reise gehört nicht allein der Aufenthalt am Destinationsort, son- dern auch der Weg der Reise selbst, den Susanne Müller in ihrem Beitrag als ‚Passage‘ stark macht. Mit der zunehmenden Nutzung von Eisen- bahn, Schiff, Fahrrad und Auto als Reise- und Transportmittel im 19. Jahrhundert ergaben sich für Rei- sende spezifische Bewegungs- und Blickstrukturen, die, je nachdem wie die Umgebung durchfahren bezie- hungsweise durchflogen wird, neue Erfahrungsqualitäten ausformen. Für Müller fügen sich Verkehrsmittel, Rei- sende und Blick in maschinell-mediale Ensembles ein, die sich nicht nur auf die menschliche Wahrnehmung aus- wirken, sondern auch die durchquerten Landschaften und Streckenführungen mitgestalten. Wie weit die Verbindung von Medien und Tourismus in andere Themenfelder hinreicht, zeigt auch Edith Blaschitz‘ Analyse digitaler Anwendungen im populären Bereich des heritage-Tourismus. Touristische Digitalkonzepte versprechen dabei nicht nur partizipative Zugänge zum touristischen Raum, sondern auch zum Kulturerbe. In zahlreichen Einzelbei- spielen lotet Blaschitz den Einsatz von digital cultural heritage content für die touristische Aufbereitung von Ver- gangenheit aus, allerdings bleibt der tatsächliche touristische Mehrwert von Augmented-Reality-Anwendungen und lokativen Softwarediensten zu vage. Um Reisemotive im westdeutschen Nachkriegskino geht es in Bern- hard Groß‘ Beitrag, der unter ande- rem Natur als Modus der affektiven Adressierung ins Spiel bringt. Über Natur- und Landschaftsaufnahmen vermitteln die Filme spezifische Zeit- lichkeiten, die zwischen Figuren und Zuschauer:innen ein Gemeinschafts- gefühl konstituieren. Die ‚klassische‘ Figur des Touristen steht bei Tina Kaiser im Zentrum, wobei sie unter Rückgriff auf den ‚Flaneur‘ diese gegen den Strich liest. In seiner Absichts- losigkeit und Indifferenz des drifters in Permanent Vacation (1980) entdeckt sie eine sensible und offene Raum- wahrnehmung, die nicht nur surreale Potenziale enthält, sondern auch dem touristischen Blick eine andere Moti- vation und Semiotik verleiht – in den Fokus rücken zunehmend Zufälliges und Flüchtiges. Medien / Kultur 35 Aus Morschs kritischer Ausei- nandersetzung mit Hans Magnus Enzensbergers Text „Eine Theorie des Tourismus“ (In: Einzelheiten. Frank- furt: Suhrkamp, 1958, S.147-168) geht die für den gesamten Band zentrale Erkenntnis hervor, dass der moderne Tourismus nicht nur ein Produkt sei- ner Zeit ist, sondern stets auch eine Kritik an ihr mit sich führt. In seiner Flucht aus den kapitalistischen und industriellen Strukturen des Alltags bilde Tourismus, so Morsch, selbst eine Form der Kritik am gesellschaftlichen Alltagsmechanismus aus, aus dem er auszubrechen wünsche. Schließlich unterzieht Ivo Ritzer den tourist gaze einer postkolonialen Lektüre, in der Sehen und Sterben die von Konflikt, Krise und Krieg durchzogenen Bil- der von Vehicle 19 (2013) existenziell dynamisieren. Das okzidentale Sub- jekt im Film ist in den postkolonialen Konditionen ebenso gefangen wie sein kolonialisiertes Gegenüber. Doch im Versagen des eurozentrischen, tou- ristischen Blicks identifiziert Ritzer zugleich kritisches und produktives Potenzial, neue Allianzen und Kol- lektive einzugehen, um zu einer post- kolonialen agency beizutragen. Insgesamt spiegeln die Beiträge das breite Spannungsfeld wider, das sich zwischen Tourismus, Wahrnehmung und Medien aufspannt. Der thema- tischen Vielfalt fällt mitunter eine analytische Tiefe zum Opfer. Dennoch fügen sich die Beiträge in die über- greifende Einsicht ein, dass die Mobi- lisierung von Wahrnehmung neue Spielräume und Möglichkeiten für aisthetische Erfahrungen birgt. Dass diese allerdings nicht nur den Blick und das Visuelle betreffen, sondern auch andere sensorische Dimensionen umfassen, lässt der Band leider offen. Karina Kirsten (Siegen) 36 MEDIENwissenschaft 01/2024 Wie der Titel Techniques of Hearing deutlich macht, mit dem Michael Schillmeier, Robert Stock und Beate Ochsner ihren Sammelband über- schrieben haben, liegt ihr Fokus auf den sensorischen und körperlichen Dimensionen akustischer Wahrneh- mung (hearing vs. listening, Hören vs. Zuhören). In ihrer Einleitung formu- lieren die Herausgeber:innen ihren sinnestheoretischen Ansatz wie folgt: „Our sensory practices allow for spe- cific techniques of living [...], tech- niques of interacting and socializing with others, techniques of engaging with our environment (and vice versa), techniques that unfold different pro- cesses and modes of societal orde- rings and transformations“ (S.1). Der ‚Sweetspot‘ der insgesamt 14 Texte von 16 Beiträger:innen unterschiedlicher Disziplinen liegt auf den heterogenen Verflechtungen von Hörpraktiken mit Medientechnologien sowie Fragen von Gesundheit und Wohlbefinden. Tatsächlich ist das Hören gerade im Gesundheitsbereich ein wichtiger sonic skill. Man denke etwa an das Stethoskop, das der klangforschende Anthropologe Tom Rice als „hallmark of a doctor“ („The Hallmark of a Doc- tor: The Stethoscope and the Making of Medical Identity.“ In: Journal of Material Culture 15 [3], 2010, S.287- 301) beschrieb, während Alexandra Supper und Karin Bijsterveld damit den Modus des „diagnostischen Zuhö- rens“ („Klingt überzeugend: Arten des Zuhörens und Sonic Skills in Wissen- spraktiken.“ In: Zorn, Magdalena/ Lenker, Ursula [Hg.]: (Zu-)Hören interdisziplinär. Neuhausen: Allitera, 2018, S.133-146, S.137) konturierten. Im vorliegenden Band wird der Fokus dagegen auf Aspekte der ‚(self) care‘ gelegt: So untersucht Eva Schu- rig mobiles Musikhören im Kontext von „Self-Management of Health and Well-Being“ und denkt damit Shuhei Hosokawas berühmten Text zum „Walkman Effect“ (In: Popular Music 4, 1984, S.165-180) weiter. Zu nennen sind auch die Beiträge von Jörg Fachner und von Maren Haffke, die sich mit „Shared Hearing as (a Mode of) Healing“ beziehungsweise den „Temporalities of Sonic Selfcare“ in Ambient-Playlists beschäftigen. Letztere hat die Noise-Canceling- Technologie 2020 in einem Aufsatz als neoliberales „Ideal eines störungs- freien ‚Einschließens mit der Arbeit‘“ („Cancel Culture: Über Noise-Can- celling-Kopfhörer.“ In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 12 [1], 2020, S.190- 196, S.193f.) beschrieben; in diesem Band diskutiert Jens Schröter solche „Technologies of Silence“ als Tools zur Förderung des akustischen Wohlbe- findens. Vielfältige Anschlüsse an die in diesem Band formulierten Fragestel- Michael W. J. Schillmeier, Robert Stock, Beate Ochsner (Hg.): Techniques of Hearing: History, Theory and Practices New York: Routledge 2023 (Health & Social Care), 196 S., ISBN 9781003150763, GBP 96,- Medien / Kultur 37 lungen eröffnen die Disability Studies. In diesem Feld bewegen sich der blinde Soziologe Miklas Schulz, der „Ableism in Relation to the Senses and (Acoustic) Text“ setzt, sowie Markus Spöhrer, der sich mit den „Techno-Sensory Confi- gurations of Playing the Audio Game A Blind Legend“ beschäftigt. Tat- sächlich sind sie nicht die ersten und einzigen, die das Hören mit Bezug zu körperlichen Beeinträchtigungen reflektieren. Prominent zu nennen ist hier Jonathan Sterne mit seiner jüngs- ten Monografie Diminished Faculties: A Political Phenomenology of Impairment ( Durham: Duke UP, 2022). Sterne selbst ist namhafter Soundforscher und auch bei ihm spielt der Umgang mit auditiven Beeinträchtigungen wie Schwerhörigkeit eine tragende Rolle – die er weniger als medizinisches Problem, denn als grundlegende Dimension menschlicher Erfahrung konturiert, die eigene Fähigkeiten her- vorbringt: Dis_Abilities. Damit wird auch die Frage aufge- worfen, was in einer Gesellschaft als ‚normal‘ wahrgenommen und kon- struiert wird. Dies beschäftigt Mit- herausgeberin Ochsner und Shintaro Miyazaki in ihrem Beitrag zu den „Infrastructures of ‚Smart Hearing‘“, wo sie konkret nach den Effekten und Implikationen intelligenter Hörtech- nologien fragen, die „new functionali- ties“ offerieren, „but at the same time enabling health monitoring on the increased self-responsibility of ever better hearing, fitness, and well-being“ (S.92) – was kritische Perspektiven auf „neoliberal circuits of consumerism and techno-capitalism“ (ebd.) eröffne. Seinen Reiz gewinnt der Sammel- band nicht zuletzt daraus, dass seine Beiträger:innen überwiegend dem deutschen Sprachraum entstammen. Dadurch erfahren die englisch domi- nierten Sensory Studies einen „cosmo- politan ring“ (S.xiii), wie David Howes in seinem Vorwort zum vorliegenden Band schreibt: Die hier versammelten Wissenschaftler:innen „take their cue from Simmel rather than Merleau- Ponty, and from […] Friedrich Kitt- ler rather than Marshall McLuhan“ (S.xiii). Anna Schürmer (Köln) 38 MEDIENwissenschaft 01/2024 Die von Nadine Taha vorgelegte Dis- sertationsschrift Im Medienlabor der US-amerikanischen Industrieforschung untersucht die Beziehung von Mas- senmedien und Bürokratie in der Zeit zwischen 1870-1950. Taha hat sich damit eine medienhistorisch aufwen- dige Arbeit vorgenommen, die die Entwicklung von technischen Medien weniger über den zu nobilitierenden Erfindungsgeist einzelner Personen rekonstruiert. Stattdessen widmet sich die Autorin der „gemeinsamen Erfindungsgeschichte technischer und bürokratischer Medien“ (S.10). Das strukturelle und institutionelle Netz- werk aus Patenten und Patentämtern, Gerichten, unternehmerischer For- schungseinrichtungen inklusive deren organisatorischer Umgebungseinheiten wie insbesondere Rechtsabteilungen gerät dabei in den analytischen Blick. Dabei folgt die Arbeit folgenden For- schungsfragen: „In welchem Zusam- menhang standen die bürokratischen Praktiken industrieller Forschung mit der Geschichte der Massen- und Tele- kommunikationsmedien? Machte sich der Einfluss von Amateurkulturen in Industrieforschungslaboren bemerk- bar? Wie wirkten sich die Forschungs- bürokratie und die Patentproduktion auf die Arbeitsbedingungen labora- torischer Einrichtungen aus? Welche Konsequenzen hatte die Kooperation mit dem Militär auf die Industriefor- schung?“ (S.12). Im Zuge dieser Herangehensweise entwickelt Taha eine Perspektive auf das ‚Werden‘ US-amerikanischer industriel ler Forschungseinrich- tungen ‚als Medienlabore‘. Entlang einer historisch-analytischen Suchbe- wegung reflektiert die Autorin auf der ersten Ebene die bürokratisierenden Ausgangsbedingungen und -pro- zesse industrieller Forschung. Auf der zweiten Ebene adressiert Taha jedoch auch gezielt Medienpraktiken, die sich innerhalb bürokratischer Appa- rate bilden und verändern. Entspre- chend dieser Praktiken ist das Buch in sechs thematische Kapitel struk- turiert. Auf die vielleicht etwas zu ausführliche, aber medienhistorisch und forschungs pragmatisch sehr gut kontextualisierende Einleitung (S.7- 39) folgt das erste Kapitel zu den Praktiken „Amateurisieren und Pro- fessionalisieren“ (S.41-84). Hier setzt sich Taha mit dem Unternehmer und Erfinder George Eastman und dem Verhältnis zwischen Amateur- und Expertenfotografie hinsichtlich der Etablierung des Kodak-Kamera- systems auseinander. Nadine Taha: Im Medienlabor der US-amerikanischen Industrieforschung: Die gemeinsamen Wurzeln von Massenmedien und Bürokratie 1870-1950 Bielefeld: transcript 2022 (Locating Media/Situierte Medien, Bd.15), 319 S., ISBN 9783839435335, EUR 35,- (Zugl. Dissertation an der Universität Siegen, 2020) Medien / Kultur 39 Daran schließt das zweite Kapitel „Bürokratisieren“ (S.85-118) an. Taha fokussiert hier die Transport- und Produktionsindustrie im nordameri- kanischen Raum und reflektiert vor dem Hintergrund sich verändernder Organisationsprozesse „Büromedien als eine neue Kategorie von ‚Massen- medien‘“ (S.87) der Zweiten industri- ellen Revolution. Zugleich werden die Rückwirkungen der Bürokratisierung in die industrielle Forschung etwa anhand des Reportsystems am Beispiel der Sprengstoffforschung bei DuPont in den Blick genommen. Das Report- system forme ein auf die Verwaltung ausgerichtetes Verständnis von For- schung auf Seiten des Forschungsper- sonals aus, dessen Praktiken wiederum den epistemologischen Logiken der Kommerzialisierbarkeit von Forschung folgten (vgl. S.88). Das dritte Kapitel „Verrechtlichen und justiziabel Machen“ (S.119-154) setzt sich mit Patenten und Patent- modellen auseinander, während im vierten Kapitel „Entwickeln“ (S.155- 181) als projektübergreifendes Arbei- ten im Kontext des Pallophotophones aufgearbeitet wird. Das fünfte und vorletzte Kapitel nimmt das „Stan- dardisieren“ (S.183-227) als Medien- praktik in den Blick und diskutiert anhand des Versuchs des 13-Monats- Kalenders Ansätze und Vorstellungen von Vereinheitlichung. Neben M oses B. Cotsworth war es vor allem (und im Buch wiederkehrend) Eastman, der mit der Reformierung kalenda- rischer Zeit Standards durchzuset- zen anstrebte, um die Welt im Sinne „industrieller Erfordernisse“ (S.185) berechenbarer zu machen. Das sechste und letzte Kapitel adressiert schließ- lich das „Skalieren“ (S.229-263) und rekonstruiert dies als Medienpraktik in Auseinandersetzung mit der Wol- kenfotografie zwischen Militär- und Industrieforschung. Tahas Arbeit ist eine historisch kenntnisreiche und konzeptuell viel- schichtige tour de force, die den admi- nistrativen Dimensionen media ler Entwicklungen neue Bedeutung zukommen lässt. Das Buch ist stre- ckenweise sicherlich nicht immer leicht zu lesen und der Zugang zu ‚Büro- medien‘ im Dickicht bürokratischer Verästelungen lässt Lesende bisweilen nach einer spezifischen medientheore- tischen Fundierung Ausschau halten. Insgesamt ist Im Medienlabor der US- amerikanischen Industrieforschung aber eine konzeptuell ausgesprochen anre- gende und medienhistorisch zugleich herausfordernde wie bemerkenswerte Publikation. Die Lektüre ist hier zwei- felsfrei empfohlen. Sven Stollfuß (Leipzig) 40 MEDIENwissenschaft 01/2024 Die Medienpsychologie behandelt „ein Themenfeld, das sich vor allem durch einen schnellen, technolo- gischen Fortschritt charakterisie- ren lässt und immer wieder aktuelle, hochrelevante Fragestellungen her- vorbringt“ (S.9). Mit dieser Einord- nung beantworten die Autor:innen des Lehrbuchs Medien psychologie die naheliegende Frage nach der Not- wendigkeit eines weiteren Lehrbuchs zu diesem Themenfeld in der Einlei- tung bereits selbst. Das aktuelle Buch von Tim Wulf (RTL Data), Brigitte Naderer und Diana Rieger (beide LMU München) reiht sich in eine Auswahl deutschsprachiger Lehr- bücher aus den letzten zwanzig Jah- ren ein (z.B. Batinic, Bernad/Appel, Markus [Hg.]: Medienpsychologie. Berlin/Heidelberg: Springer, 2008; Krämer, Nicole/Schwan, Stephan/ Unz, Dagmar/ Suckfüll, Monika [Hg.]: Medien psychologie: Schlüsselbegriffe und Konzepte. Stuttgart: Kohlham- mer, 2016; Trepte, Sabine/Reinecke, Leonard/Schäwel, Johanna: Medien- psychologie. 3. Aufl. Stuttgart: Kohl- hammer, 2021). Die drei Autor:innen verfolgen dabei einen alltags- und praxisnahen Ansatz und führen die Lesenden auf vergleichsweise kurzen 258 Seiten anhand verschiedener The- menfelder in die Medienpsychologie ein. Nach einem einführenden Kapitel zum Mediennutzungsprozess wer- den in neun Kapiteln verschiedene Themenbereiche wie Meinungsbil- dung, Lernen, Gesundheit, Sozial- verhalten und Beziehungen in Bezug zu medien psychologischer Theorie und Forschung gesetzt. Durgehend besonders gut gelungen ist dabei das Ineinandergreifen psychologischer Grundlagentheorien, medienpsy- chologischer Ansätze und aktueller Forschungsergebnisse sowie die Ein- bindung alltagsnaher Beispiele. Die Autor:innen ordnen den Fachbereich in die akademische Disziplinland- schaft ein und bieten einen guten Überblick über die theoretische, methodische und empirische Ent- wicklung des Fachs. Dazu werden Theorien, Konzepte und Forschungs- ansätze kritisch eingeordn