EDITED VOLUMES Martina Bachor, Theo Hug, Günther Pallaver (Hg.) DataPolitics Zum Umgang mit Daten im digitalen Zeitalter innsbruck university press EDITED VOLUME SERIES innsbruck university press Martina Bachor, Theo Hug, Günther Pallaver (Hg.) DataPolitics Zum Umgang mit Daten im digitalen Zeitalter Martina Bachor Institut für Medien, Gesellschaft und Kommunikation, Universität Innsbruck Theo Hug Leiter des Instituts für Medien, Gesellschaft und Kommunikation, Universität Innsbruck Sprecher des interfakultären Forums Innsbruck Media Studies an der Universität Innsbruck Günther Pallaver Institut für Politikwissenschaft und Institut für Medien, Gesellschaft und Kommunikation, Universität Innsbruck Institut für vergleichende Föderalismusforschung/Eurac Research, Bozen Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Moser Holding AG, der Austria Presse Agentur (APA), des Inter- fakultären Forums Innsbruck Media Studies sowie des Vizerektorats für Forschung der Universität Innsbruck. © innsbruck university press, 2021 Universität Innsbruck 1. Auflage Alle Rechte vorbehalten. Umschlagbild: © Christoph Pirker www.uibk.ac.at/iup ISBN 978-3-99106-046-8 Inhaltsverzeichnis Martina Bachor, Theo Hug, Günther Pallaver Editorial – Chancen und Gefahren der politischen Nutzung von Daten ............................. 7 Tilmann Märk, Rektor der Universität Innsbruck Grußworte zum Medientag 2021 ....................................................................................... 13 Hermann Petz, CEO Moser Holding Grußworte zur Eröffnung des Medientags 2021 ............................................................... 15 Clemens Pig, CEO APA Geleitwort für den Medientag Innsbruck 2021 ................................................................. 17 Oliver Leistert Das Phänomen Trump als Effekt von Microtargeting und Psychometrie ......................... 19 Marian Adolf & Nico Stehr Information, Wissen und die Wiederkehr der Sozialen Physik .......................................... 35 Hans-Martin Schönherr-Mann Vom Machiavellismus zur Hospitalisierung – Expertokratie oder Mündigkeit im Zeitalter der Digitalisierung ..................................................................... 55 Elsa-Margareta Venzmer Das digitale Panopticon – Wie die NSA-Überwachung unser Verhalten verändert ........................................................................................................... 73 6 Inhaltsverzeichnis Valentin Dander Datenpolitiken ‚von unten‘ zwischen Aktivismus und Politischer Medienbildung ................................................................................................ 93 Anna-Maria Neuschäfer Datenaktivismus und Digital Citizenship ....................................................................... 111 Silvia Lipp Learning Analytics – Datenschutzrechtliche Bestimmungen als Ausgangspunkt einer verantwortungsvollen Nutzung von Bildungsdaten ................................................ 121 Michaela Rizzolli Umgang mit (digitalen) Forschungsdaten: Rahmungen, Effekte und Herausforderungen .................................................................................................. 135 Andre Wolf Funktionsweisen von Verschwörungserzählungen auf Social Media und der parallel aufkeimende Antisemitismus ...................................................................... 149 Tobias Stadler Ölstandsanzeiger: Über die Unsichtbarmachung und Naturalisierung der Produktion personenbezogener Daten ...................................................................... 163 Leena Simon Digitale Mündigkeit im Spannungsfeld zwischen ich und wir – Ein Ratgeber in zehn konkreten Schritten ...................................................................... 177 Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren ................................................................. 185 Das digitale Panopticon – Wie die NSA-Überwachung unser Verhalten verändert Elsa-Margareta Venzmer Zusammenfassung Als die Überwachungspraktiken der NSA durch den Whistleblower Edward Snowden im Jahr 2013 öffentlich gemacht wurden, rechtfertigte sich die US-amerikanischen Politik damit, dass das massenhafte Sammeln von Daten zur Terrorbekämpfung diene. Aus den Snowden-Dokumenten geht allerdings hervor, dass die Daten von der US-Regierung vielmehr für politische und gesellschaftliche Zwecke genutzt werden. Daten können etwa dafür verwendet werden, um das Verhalten von Menschen vorherzusagen oder zu kontrollieren. So kommen Studien zu dem Ergebnis, dass durch das Gefühl des Beobachtetwerdens Internetnutzer ihr Kommunika- tionsverhalten verändern und ihre Grundrechte, wie Informations- und Meinungsfreiheit einschränken. Diese und andere Gefahren von Überwachung zu untersuchen sowie Lösungen anzubieten, wie man sich vor Datenspionage schützen kann, dem widmet sich der vorliegende Beitrag. Als theoretischer Rahmen soll hierfür Michel Foucaults Theorie des Panoptismus dienen. 1. Der Panoptismus „Der perfekte Disziplinarapparat wäre derjenige, der es einem einzigen Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen. Ein zentraler Punkt wäre zugleich die Lichtquelle, die alle Dinge erhellt, und der Konvergenzpunkt für alles, was gewußt werden muß: ein vollkommenes Auge der Mitte, dem nichts entginge.“ (Foucault 1989, S. 224) Wie Michel Foucault schon 1976 in seinem Werk Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses feststellte, soll es in unserer modernen Gesellschaft einen Macht- mechanismus geben, dessen Ziel es sei, jedes Individuum zu überwachen und sein Verhalten zu kontrollieren, um es letztendlich zu verbessern (vgl. Ruoff 2009, S. 102). Um diese sogenannte Disziplinarmacht zu erläutern, greift er auf Jeremy Benthams Konzept des Panopticons zurück (vgl. Foucault 1989, S. 256-257), nach dem sich Menschen selbst disziplinieren, indem ihnen das Gefühl vermittelt wird, dass ihr Verhalten zu jeder Zeit beobachtet werden könnte (vgl. ebd., S. 258 ff.). Das Panopticon war zunächst als ein Gebäude, genauer gesagt, als ein Gefängnis konzipiert. Es handelt sich dabei um einen ringförmigen Bau, in dessen Mitte ein von außen uneinsehbarer Turm steht. Das Ringgebäude besteht dabei aus Zellen, in denen jeweils ein Individuum untergebracht werden kann wie z.B. ein Schüler oder ein Sträfling. Dieses Individuum ist alleine, ein 74 Elsa-Margareta Venzmer Kontakt zu dem Zellennachbarn ist durch die architektonische Besonderheit ausge- schlossen. Es könnte vom Turm aus von einem Wächter ständig beobachtet werden. Da der Zellenbewohner aber nicht in den Turm hineinsehen kann, kann er letztendlich nie wissen, ob er gerade beobachtet wird oder nicht (vgl. ebd., S. 256 ff.). Das sei letztendlich die Hauptwirkung des Panopticons: „[D]ie Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt.“ (ebd., S. 258) Es gebe also eine Macht, die für sich alleine wirksam ist und von niemandem tatsächlich ausgeübt wird. Dabei sei das Gefühl des Überwachtwerdens permanent, auch wenn die Durchführung tatsächlich nur sporadisch geschehe. Es sei nur von Bedeutung, dass die Macht sichtbar bzw. spürbar ist, aber gleichzeitig uneinsehbar bzw. unsichtbar bleibe (vgl. ebd., S. 258). Foucault betont, dass das Panopticon nicht immer ein Gebäude sein müsse, sondern es sei ein verallgemeinerungsfähiges Funktionsmodell, das generell Machtbeziehungen im Alltag beschreibe (vgl. ebd., S. 263). Nach Foucault sei es Benthams Ziel gewesen, zu beschreiben, wie man Disziplinen im gesamten Gesellschaftskörper zum Einsatz bringen könne, so dass dieser lückenlos überwacht werden kann. Er konstatiert, dass sich dieser Vorgang im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts schon vollzogen habe: die Disziplinar- gesellschaft wurde geboren (vgl. ebd., S. 268-269) und es gebe sie auch heute noch (vgl. ebd., S. 285). Foucault geht davon aus, dass die Voraussetzung für den Panoptismus die Entwicklung in der Gesellschaft und im Strafsystem gewesen sei, dass Individuen nicht länger danach beurteilt würden, was sie getan haben (vgl. ebd., S. 28), sondern danach, „was sie sind, sein werden, sein können“. (ebd., S. 28) Die Gesetzesübertretungen stünden nun also nicht länger allein im Mittelpunkt der Beobachtung, sondern die Menschen selbst (vgl. ebd., S. 28). So hält Reiner Ruffing, der sich mit Foucaults Werk beschäftigte, fest: „Die Individuen werden nicht mehr nur im Hinblick auf tatsächliches Verhalten gestraft, sondern auf ihr potentielles Verhalten und Gefährdungspotential hin geprüft.“ (Ruffing 2008, S. 106) Das Strafsystem gehe also immer mehr von der eigentlichen Bestrafung weg und in die Disziplinierung von Individuen über. Das Ziel der Disziplin sei am Ende, durch Überwachung Verhalten zu steuern und damit Menschen zu verbessern (vgl. Ruoff 2009, S. 102). Die Erfassung von kleinsten Details über Individuen würde Wissen und Daten erzeugen, wodurch wiederum neue Techniken der Überwachung entstünden (vgl. Foucault 1989, S. 181). Es sei schließlich wichtig, zu jeder Zeit zu wissen, wo und auf welche Weise jemand gefunden werden kann (vgl. ebd., S. 183). Die Instrumente dieser Disziplinarmacht seien dabei einfach: Es gebe zum einen den hierarchischen Blick, bei dem jemand sieht, ohne selbst gesehen zu werden, und zum anderen eine normierende Sanktion bzw. Strafen (vgl. ebd., S. 220-221). Strafbar sei alles, was von der Regel abweiche und nicht konform sei wie das Begehen von Fehlern (vgl. ebd., S. 231). Diese Fehler würden wiederum gezählt und die Disziplinarapparate könnten Individuen Das digitale Panopticon – Wie die NSA-Überwachung unser Verhalten verändert 75 daraufhin in die Kategorien „gut“ und „schlecht“ einteilen bzw. hierarchisieren (vgl. ebd., S. 233-234). Foucault fasst an diesem Punkt zusammen: „Das lückenlose Strafsystem, das alle Punkte und alle Augenblicke der Disziplinaranstalten erfaßt und kontrolliert, wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend.“ (ebd., S. 236) Einerseits wirke diese Normalisierungsmacht homogenisierend, aber gleichzeitig individualisierend, da beispielweise die Besonderheiten von Menschen festgehalten würden. (vgl. ebd., S. 237) Durch solche Einzelbeschreibungen würden Registrierungs- verfahren implementiert, die auf den Verhaltensweisen der Beobachteten beruhen. Das Individuum werde klassifiziert, um es daraufhin korrigieren oder normalisieren zu können. (vgl. ebd., S. 246) Die individuellen Unterschiede würden letztendlich fixiert, indem jeder seine charakterisierenden Eigenschaften zugewiesen bekommt. Aus jedem Menschen werde demnach ein Fall, wobei in einem Disziplinarsystem die Anormalen mehr individualisiert würden als die Normalen. (vgl. ebd., S. 246 ff.) Es werde allerorts geprüft, ob jemand der Norm entspreche oder nicht. (vgl. Ruffing 2008, S. 106) Als durch Edward Snowden 2013 bekannt wurde, dass der US-amerikanische Geheimdienst National Security Agency (NSA) die weltweite Online- und Telefonkom- munikation überwacht und speichert (vgl. Beuth 2013), wurde deutlich, dass Foucaults Theorie des Panoptismus im Informationszeitalter perfektioniert wurde. Durch Überwachungsprogramme wie PRISM1 ist der NSA besagter Disziplinarapparat gelungen, indem sie buchstäblich alle Informationen aus dem Internet sammeln, analysieren (vgl. Greenwald 2015, S. 83) und für sich auf einen Blick sichtbar machen kann. (vgl. ebd., S. 236) So erfuhr man durch die Bürgerrechtorganisation American Civil Liberties Union (ACLU), dass die NSA in ihren Datenbanken Einzelbeschreibungen über Menschen speichert wie die Krankheitsgeschichte, politische Einstellungen, intime Beziehungen und das allgemeine Online-Verhalten. (vgl. ebd., S. 275) Daraufhin werden die Individuen, wie Foucault es beschreibt, registriert und klassifiziert wie z.B. durch das Programm XKeyscore2, das sogar Live-Überwachung erlaubt (vgl. Greenwald 2015, S. 229). Wie beim Panopticon können sich Internetnutzer also nie sicher sein, ob sie gerade beobachtet werden oder nicht. Analog zu Foucaults Ausführungen wird von der NSA der gesamte Gesellschaftskörper lückenlos überwacht. So kommt der Journalist Glenn Greenwald zu dem Schluss: 1 Bei dem NSA-Programm PRISM werden IT-Unternehmen wie Google und Facebook dazu verpflichtet, mit dem Geheimdienst zusammenzuarbeiten und ihm alle Kundendaten zur Verfügung zu stellen (vgl. Greenwald 2015, S. 168 ff.). 2 Hierbei handelt es sich um ein Tool, mit dem die NSA bestimmte Informationen nicht nur sammeln und sortieren, sondern auch konkret nach ihnen suchen kann. Dabei geht es sowohl um Metadaten als auch um Inhalte. XKeyscore erlaubt zusammengefasst einen direkten Zugang zu allem, was ein herkömmlicher Nutzer im Internet tut und das sogar in Echtzeit (vgl. Greenwald 2015, S. 229). 76 Elsa-Margareta Venzmer „Es ist keineswegs übertrieben zu sagen, dass es das erklärte Ziel des Überwachungsstaates ist, sicherzustellen, dass jegliche elektronische Kommunikation von und zwischen Menschen rund um den Globus von der NSA erfasst, gespeichert, überwacht und analysiert wird. (ebd., S. 151) Wie aus den Snowden-Dokumenten hervorgeht, werden die Spionagetechniken der NSA – entgegen der Rechtfertigung der US-amerikanischen Regierung – seit dem 11. September nicht mehr vorrangig zum Bekämpfen von Verbrechen eingesetzt, sondern es werden in großem Umfang Daten von Personen gesammelt, ohne dass es Hinweise auf konkrete Straftaten oder andere Gefahren gibt (vgl. Schaar 2014, S. 96-97). Vielmehr dient das Datensammeln des Geheimdienstes heutzutage zur Wirtschaftsspionage (vgl. Greenwald 2015, S. 203), der Vorhersehbarkeit von politischen Unruhen (vgl. Rosenbach/Stark 2015, S. 283-284) sowie gesellschaftlichen Bewegungen (vgl. Ammann/Aust 2015, S. 38) und vor allem dazu, um die Vorherrschaft im Internet sicherzustellen (vgl. Rosenbach/Stark 2015, S. 15). Durch Letzteres entstanden gravierende soziale Folgen. Wie in diesem Beitrag erläutert werden soll, verändern Menschen durch zunehmende Überwachung im Internet ihr Kommunikationsverhalten und schränken ihre Grundrechte wie ihre Informations- und Meinungsfreiheit aus Angst vor Sanktionen von Seiten der Regierung selbst ein. Die erläuterten Theorien von Foucault sollen dabei helfen, diese Phänomene zu erklären. 2. Veränderung des elektronischen Kommunikationsverhaltens 2.1. Begrenzung der Informationsfreiheit Wie Foucault schreibt, werden in der Disziplinargesellschaft nicht mehr nur Straftäter überwacht, sondern auch das Verhalten von normalen Bürgern dahingehend überprüft, was diese tun könnten. Sie würden individualisiert, um ihre Denk- und Lebensweisen herauszufinden. Das Ziel sei schließlich, die Individuen zu kontrollieren, zu korrigieren oder zu normalisieren (vgl. Foucault 1989, S. 127). Dieses Phänomen lässt sich seit der NSA-Affäre bei normalen Internetnutzern beobachten. Im Zusammenhang mit der elektronischen Kommunikation spricht man jedoch von so genannten Chilling Effects. Datenschützer verwenden diese Theorie häufig, um auf die Gefahren von Überwachungs- programmen aufmerksam zu machen. Nach dieser Theorie schränken Menschen, die sich beobachtet fühlen, völlig legale Verhaltensweisen ein, da sie Angst haben, sich verdächtig zu machen. Zu diesen Verhaltensweisen gehört z.B. das Äußern einer Meinung oder die Informationssuche nach stigmatisierenden Krankheiten im Internet. Durch eine Studie aus dem Jahr 2016 wurden diese Chilling Effects schließlich nachgewiesen. So haben kanadische Forscher um den Wissenschaftler Jon Penney vom Citizen Lab der Universität Toronto ermittelt, dass nach den Snowden-Enthüllungen die Abrufzahlen brisanter Das digitale Panopticon – Wie die NSA-Überwachung unser Verhalten verändert 77 Wikipedia-Artikel wesentlich sanken. Um solche kontroversen Artikel herauszufiltern, hatte Penney eine Liste von verdächtigen Begriffen gebraucht, die vom US-Heimat- schutzministerium verfasst wurde. Solche Listen dienen beispielsweise dazu, rechtzeitig terroristische Bedrohungen zu erkennen, indem Soziale Netzwerke nach den Begriffen durchforstet werden. Der Wissenschaftler wählte letztendlich 48 Wikipedia-Artikel aus, die Begriffe wie „schmutzige Bombe“ oder die Namen von Terrororganisationen beinhalten. Es stellte sich heraus, dass nach den Snowden-Aufdeckungen im Juni 2013 die Abrufe der ausgewählten Artikel nur innerhalb eines Monats um fast 30 Prozent absanken. Der Effekt war also unmittelbar nach der Affäre enorm. Aber auch eine Analyse, die sich über 32 Monate erstreckte, legte offen, dass die ursprünglichen Abrufzahlen vor den Snowden- Veröffentlichungen nie wieder erreicht wurden. Für die Studienautoren ist deswegen klar, dass die NSA-Überwachung einen nachhaltigen Einfluss auf das Verhalten von Wikipedia-Usern hat. Penney betont, sollten sich Bürger künftig davor fürchten, sich über kontroverse Themen zu informieren oder ihre Meinung zu äußern, bedrohe das die politische Willensbildung (vgl. Kleinz 2016). „Um das klarzustellen: Diese Aktivitäten sind nicht nur legal, sondern wohl auch für eine gesunde Demokratie wünschenswert“ (Penney zitiert nach Kleinz 2016, o.S.), so der Forscher. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine Untersuchung der norwegischen Datenschutzbehörde NDPA. So sagten 46 Prozent der Befragten aus, dass sie seit den Snowden-Veröffentlichungen Angst um ihre Privatsphäre im Internet hätten. Deswegen schränkten sich ca. 16 Prozent selbst ein und suchten nicht länger nach Dingen im Netz, die sie in die Bredouille bringen könnten (vgl. Steinschaden 2014). Im Sinne Foucaults haben sich die Nutzer selbst diszipliniert, normalisiert und dahingehend verbessert, wie sie denken, dass ihre Beobachter es bevorzugen würden. Im Disziplinarraum des Internets kann die NSA so unerwünschte Verhaltensweisen unterbinden (vgl. Ruoff 2009, S. 105). In diesen konkreten Fällen schränkten Menschen ihre eigene Informationsfreiheit ein. Wie auch Jon Penney erklärte, ist diese allerdings ein wichtiger Wert für eine funktionierende Demokratie. Problematisch speziell an solchen Listen mit verdächtigen Begriffen ist, dass es völlig legitime Gründe dafür geben kann, warum ein Nutzer auf Wikipedia oder in Suchmaschinen z.B. nach „Bombe“ suchen könnte. Man stelle sich vor, dass ein Schüler für ein Referat im Chemieunterricht recherchieren soll, wie eine Bombe zusammengesetzt ist. Er ist vielleicht von arabischer Abstammung oder gehört dem Islam an. Die NSA registriert daraufhin seine Recherchen im Internet und hat ihn im Visier, da dem Geheimdienst der Kontext für die Suchanfragen nicht klar ist und er dazu noch Racial 78 Elsa-Margareta Venzmer Profiling3 betreibt. Somit würde ein unschuldiger Internetnutzer verdächtigt, auch wenn er völlig legal sein Recht auf Informationsfreiheit ausübt. Die NSA macht es damit Foucaults Disziplin nach, indem sie Individuen in die Kategorien „gut“ und „schlecht“ einteilt, sie also kategorisiert und hierarchisiert. Mit Foucaults Worten wird so „die soziale und moralische Trennung zwischen Unschuldigen und Schuldigen in Frage“ gestellt. (Foucault zitiert nach Schneider 2004, S. 120) Deswegen könnten Minderheiten wie in diesem Fall Muslime ihr Verhalten einschränken, um erst gar nicht verdächtig zu wirken. So fand eine Studie, die bereits im Jahr 2007 veröffentlicht wurde, heraus, dass über 71 Prozent der Muslime in den USA denken, dass speziell ihr Online-Verhalten nach den Anschlägen vom 11. September vom Staat überwacht werde. Deswegen änderten 8,4 Prozent ihr Verhalten im Internet (vgl. Steinschaden 2014). Und ihre Annahme wurde bestätigt. So berichteten Medien im Jahr 2012, dass die CIA ganze muslimische Gemeinschaften, die in den USA leben, überwachen lassen will, sowohl physisch als auch elektronisch, auch wenn es keinerlei Hinweise auf Straftaten gebe (vgl. Greenwald 2015, S. 273). Neben der Diskriminierung von Minderheiten ist das Problem an solch einem Vorgehen der Nachrichtendienste, wie auch Jan-Peter Kleinhans auffällt (vgl. Kleinhans 2013, S. 103), dass man nie wissen könne, wie ein jeweiliger Staat den Begriff „Terrorismus“ definiere. Wenn es in einem Land einen Regierungswechsel gebe, könnte die neue Regierung etwas völlig anderes unter Terrorismus verstehen als die vorherige. Durch das langzeitige Speichern der Daten könnte sie aber noch auf ältere Kommunikationsdaten der Bürger zugreifen und diese nachträglich sanktionieren. So sind unter den verdächtigen Begriffen, nach denen Geheimdienste online suchen auch harmlose Wörter wie „beobachten“ oder „Schweinefleisch“ (vgl. Heuer/Tranberg 2013, S. 76). Vielleicht wird es inzwischen schon als Terrorismus angesehen, wenn jemand Überwachung in Frage stellt und sich im Internet über die NSA informiert oder nach Aktivistengruppen sucht, die sich für Datenschutz einsetzen. So wurden nach der Bürgerrechtsorganisation ACLU Gegner des Irakkriegs wie Studenten oder gewaltlose Demonstranten vom Pentagon überwacht und Informationen über sie in einer militärischen Antiterror-Datenbank gespeichert (vgl. Greenwald 2015, S. 272). Man kann also nie wissen, wer bei Sicherheitsbehörden als sanktionswürdig gilt. All das passt zu Foucaults Thesen, dass in unserer Gesellschaft durch Einzelbeschreibungen Registrierungsverfahren implementiert würden, die auf den Verhaltensweisen der Beobachteten beruhen. Dabei würden die Anormalen häufiger registriert als die Normalen. Wer allerdings als anormal oder normal gilt, das bestimmt die jeweilige Regierung. 3 Bei der Überwachung wird so genanntes Racial Profiling betrieben. Nach diesem werden schwarze oder arabisch aussehende Menschen detaillierter überwacht als weiße Menschen (vgl. Henschke 2017, S. 169-170). Das digitale Panopticon – Wie die NSA-Überwachung unser Verhalten verändert 79 2.2. Einschränkung der Kommunikations- und Meinungsfreiheit Aber Bürger werden nicht nur davon abgeschreckt, sich zu informieren, sondern auch davon, sich über ihre eigene Regierung zu äußern. Nach einer weiteren Studie aus dem Jahr 2016 von Elizabeth Stoycheff von der Wayne State Universität in Michigan beeinflusst Überwachung auch die Bereitschaft zur Meinungsäußerung auf Facebook. Für die Studie wurde das Verhalten von 225 Personen untersucht. Der Hälfte der Studienteilnehmer wurde mitgeteilt, dass der Staat ihr Online-Verhalten überwacht. Allen Befragten wurde daraufhin ein erfundener Facebook-Post über US-Luftangriffe gegen den Islamischen Staat im Irak gezeigt, der nur ein Bild, eine Überschrift und einen Vorspann beinhaltete, aber keine normative Beurteilung der Angriffe. Danach wurden sie befragt, ob sie bereit sind, öffentlich zu dem Thema ihre Meinung abzugeben und auch darüber, wie andere Amerikaner über das Thema wohl denken. Zudem sollten sie die Frage beantworten, für wie gerechtfertigt sie selbst die Internetüberwachung halten (vgl. Jonjic- Beitter 2016). Das Ergebnis der Studie war, dass sich generell diejenigen Teilnehmer nicht gern äußerten, wenn ihre eigene Meinung von der wahrgenommenen Mehrheitsmeinung abwich. Speziell waren aber diejenigen Personen eher davon abgeneigt, ihre Minder- heitsmeinung zu posten, denen gesagt wurde, dass sie überwacht werden. Interessant war für die Studienleiterin außerdem, dass vor allem Personen, die die staatliche Überwachung für gerechtfertigt halten und denken, nichts zu verbergen zu haben, ihre Minderheits- meinung nicht öffentlich mitteilen wollten. Nach Stoycheff hätten diese Personen vermutlich weniger Angst davor, sozial von ihren Mitmenschen isoliert zu werden, sondern vielmehr davor, von ihrer Regierung verfolgt, sanktioniert oder benachteiligt zu werden. Die Studienautorin sieht durch diese Ergebnisse die Gefahr, dass durch solche Schweigespiralen Menschen mit abweichenden Meinungen aus der öffentlichen Diskussion verdrängt würden (vgl. Rötzer 2016). „Demokratie gedeiht durch die Verschiedenheit der Ideen, Selbstzensur erstickt sie“, so Stoycheff. (Stoycheff zitiert nach Rötzer 2016, o.S.) Vergleichbares ergaben auch Umfragen zum allgemeinen Kommunikationsverhalten. So fand das Pew Research Center im Jahr 2014 heraus, dass 68 Prozent der amerikanischen Internetnutzer Angst um ihre Sicherheit haben, wenn sie persönliche Informationen über Instant-Messenger oder Chats teilen. Dasselbe unsichere Gefühl haben 57 Prozent bei E- Mail, 58 Prozent bei SMS, 46 Prozent beim Handy und 31 Prozent bei Festnetzanschlüssen (vgl. Kolkmann 2016). In Europa gab es bei Umfragen ähnliche Erkenntnisse. Nach einer Befragung des Vodafone-Instituts von 2016 haben 51 Prozent der Europäer Angst um ihre Daten, bei den Deutschen sind es sogar 56 Prozent. Deswegen würden diese 56 Prozent ihre digitale Kommunikation einschränken (vgl. E-Mail, Facebook, SMS und Co. 2016). Nach dem Technikforscher Sandro Gaycken geschieht diese Verhaltensanpassung dabei oft ohne Absicht. Er hält fest: „Überwachung fördert die innere Zensur. Sie unterdrückt Widerspruchsgeist. Die große Gefahr ist, dass dies 80 Elsa-Margareta Venzmer unterbewusst geschieht. Man passt sich an und merkt es gar nicht.“ (Gaycken zitiert nach Schulz 2007) Eine hohe Anzahl von Menschen scheint ihr Kommunikationsverhalten also anzupassen bzw. völlig einzustellen. Denn den Menschen wurde im Sinne Foucaults beigebracht, sich selbst zu überprüfen und zu kontrollieren. Sie folgen den Normen, von denen sie denken, dass die Autoritäten sie verlangen (vgl. Ruffing 2008, S. 111). Dadurch würden laut dem Philosophen Individuen geschaffen, die nicht mehr außergewöhnlich, sondern gewöhnlich seien und die eine Machtapparatur ihr Leben regeln ließen – eingeordnet und eingeengt durch Disziplinarmechanismen (vgl. Schneider 2004, S. 127). Aber warum genau schränken Menschen ihre Kommunikations- und Meinungsfreiheit und damit ihr Verhalten ein? Es liegt wohl daran, dass immer wieder Fälle bekannt werden, bei denen harmloses Online-Verhalten zu harten Konsequenzen führte. So gab es einmal den Fall, dass zwei Briten in den USA Urlaub machen wollten, aber am Flughafen in Los Angeles verhaftet und fünf Stunden lang vom Department of Homeland Security verhört wurden. Denn vor ihrer Reise hatten sie aus Spaß ihren Freunden getwittert, dass sie „Amerika zerstören“ sowie „Marilyn Monroe ausgraben“ wollen. Sie meinten damit auf Englisch umgangssprachlich, dass sie eine wilde Party feiern wollen, doch die Software der Behörden interpretierte ihre Posts als Terrorismus. Sie konnten letztendlich nicht in die USA einreisen und wurden wieder nach England zurückgeschickt (vgl. Heuer/Tranberg 2013, S. 75). Wenn Fälle wie dieser bekannt werden, schränken sich Menschen lieber selbst ein, um nichts zu riskieren und nicht sanktioniert zu werden. Nach Foucault (vgl. Foucault 1989, S. 119 ff.) sollen Strafen einen Abschreckungseffekt haben. Sie sollen ein Exempel statuieren, um zukünftiges Verhalten, das nicht der Norm entspreche, zu verhindern. Die Strafen müssen also auch diejenigen abschrecken, die nicht straffällig geworden sind. Wie man anhand der besprochenen Studien erkennen kann, funktioniert solch eine Abschreckung auch von Seiten der US-amerikanischen Geheimdienste. Ihre Macht dringt mit den Worten Foucaults in das Innere der Individuen ein, wo sie als Kontrollinstanz funktioniert (vgl. Schröder 2010, S. 30). Wie der Philosoph beschreibt, ist zwar das tatsächliche Ausüben der Macht nur sporadisch, das Gefühl des Überwachtwerdens dafür aber permanent. Wie Foucault erörtert, lässt sich an diesem Punkt resümieren, dass sich Machtwirkungen bei vielen Verhaltensweisen im Alltag erkennen lassen (vgl. Schneider 2004, S. 132). Zuletzt soll noch darauf eingegangen werden, wie durch Überwachung speziell die Persönlichkeitsbildung von Individuen beeinflusst werden kann. Das digitale Panopticon – Wie die NSA-Überwachung unser Verhalten verändert 81 3. Persönlichkeitsentwicklung durch Überwachung 3.1. Privatheit als Bedingung für die Identitätsbildung Foucault ist der Auffassung, dass die Seele bzw. die Identität eines Menschen erst durch Überwachung konstituiert wird. Der Panoptismus halte eine Maschinerie in Gang, die eine Mächteasymmetrie unterstütze und das moderne Individuum hervorbringe (vgl. Sarasin 2005, S. 143). Durch Strafmaßnahmen wie die Disziplin würden Menschen normalisiert und normiert. So bezieht er seine Machttechnologien auch auf Schulen, in denen Kinder und Jugendliche von jung auf und ein Leben lang diszipliniert würden (vgl. ebd., S. 132). Reiner Ruffing (vgl. Ruffing 2008, S. 59) hält in diesem Zusammenhang fest, dass die moderne Macht nach Foucault das Bewusstsein von Individuen durch Bestrafungen und Belobigungen präge und „ihn mit einer individuellen Biographie, Lebensgeschichte, Fähigkeiten, Charaktereigenschaften“ ausstatte. (ebd., S. 59) Das kann sicherlich positive Auswirkungen haben, wenn Menschen so erzogen werden, dass sie lernen, moralische bzw. ethisch richtige Entscheidungen zu treffen, indem Kindern und Jugendlichen z.B. beigebracht wird, dass man anderen Menschen nicht schaden darf. Durch permanente Überwachung und Disziplinierung könnte die Identität allerdings auch geschädigt oder nicht vollständig ausgeprägt werden. So gehen Privatheitsforscher wie Alan Westin (vgl. Westin 1970, S. 34) davon aus, dass jeder Mensch Privatheit brauche, um seine eigene Persönlichkeit zu formen. Generell hat Privatheit für ihn vier Funktionen: „[P]ersonal autonomy, emotional release, self- evaluation and limited and protected communication.” (ebd., S. 32) So sei in demokratischen Gesellschaften jeder Mensch individuell und diese Individualität würde durch Autonomie bewahrt – also dadurch, dass Individuen von anderen nicht dominiert oder manipuliert werden. Man brauche Zonen der Privatheit, um sein Innerstes für sich selbst zu offenbaren. Wenn die Autonomie gestört werde, seien Geheimnisse des Individuums wie seine Ängste und Träume nicht mehr geheim und würden es unter die Kontrolle derjenigen Personen bringen, die seine Geheimnisse wissen. Jeder Mensch sollte nach Westin aber selbst darüber entscheiden dürfen, was die Öffentlichkeit von ihm wissen darf und was er nur sich selbst oder seinem Freundes- und Familienkreis vorbehalten will. Es gebe vielleicht Eigenschaften eines Menschen, die er selbst noch nicht versteht und langsam erforscht, während er sich entwickelt. Die durch Privatheit ermöglichte Autonomie sei deswegen fundamental für die Entwicklung der Individualität. Man brauche Privatheit, um seine Gedanken und Gefühle zuerst für sich selbst ausprobieren zu können. Man kann mit seinen Ideen und Meinungen experimentieren und diese eventuell ändern, bevor man sich traue, diese öffentlich zu machen. Dafür sei es von Nöten, dass man diese ohne die Angst erprobt, dass man bestraft oder erniedrigt werden könnte. Individualität und Non-Konformität seien letztendlich wichtig für eine Demokratie, die auf Vielfalt basiere. 82 Elsa-Margareta Venzmer Was die Funktion emotional release angeht, so sei diese Freilassung von Gefühlen wichtig, um Druck im Alltag abbauen zu können. Man brauche sowohl eine Pause von Rollen und Normen in der Gesellschaft als auch das Recht, man selbst zu sein und sich gehen zu lassen. Man sollte z.B. auch ein Mal fluchen oder Autoritäten kritisieren dürfen, ohne für solche Kommentare verantwortlich gemacht zu werden (vgl. ebd., S. 33 ff.). Ohne diese Gefühlsausbrüche stehe man ständig emotional unter Druck (vgl. ebd., S. 36 ff.). Zu den letzten beiden Funktionen, der Selbstevaluation und geschützten Kommunikation, hält der Privatheitsforscher fest, dass man Privatheit dafür brauche, um Erfahrungen aus dem Alltag zu verarbeiten, diese zu evaluieren und Schlüsse für sein eigenes Verhalten daraus zu ziehen. Man würde lernen, moralisch zu handeln, indem man sein eigenes Verhalten mit dem anderer vergleiche. Zuletzt sei Privatheit essenziell, um mit Freunden oder der Familie über intime Dinge zu kommunizieren bzw. gebe es auch Situationen, in denen man auch einmal objektive Ratschläge von fremden Personen brauche, etwa von Psychologen (vgl. ebd., S. 36 ff.). Neuere Forschungen gehen davon aus, dass in unserer heutigen Zeit private Räume von Medien eine wichtige Rolle zur Identitätsbildung spielen (vgl. Schröder 2010, S. 76), etwa Soziale Netzwerke (vgl. ebd., S. 81). So erzählte Edward Snowden dem Journalisten Glenn Greenwald in einem Gespräch, dass Medien wie Videospiele und vor allem das Internet wesentlich dazu beigetragen hätten, wie sich seine Persönlichkeit entwickelte. Das Internet sei ein Raum der Freiheit gewesen, in dem man neue Dinge entdecken und geistig wachsen konnte. So hätte er in seiner Jugend im Netz mit den unterschiedlichsten Menschen kommunizieren können, die weit weg wohnten und die er sonst nicht hätte treffen können. Generell hätte er in der virtuellen Welt seine Gedankenwelt erforschen können. Deswegen sei das Internet extrem wertvoll und seine Möglichkeiten müssten um jeden Preis geschützt werden (vgl. Greenwald 2015, S. 80 ff.). So sagte Snowden gegenüber Greenwald überzeugt: „Für viele junge Leute ist das Internet ein Mittel der Selbstverwirklichung. Es ermöglicht ihnen herauszufinden, wer sie sind und wer sie sein wollen, aber das geht nur, wenn wir uns dort anonym und auf einer Basis der Vertraulichkeit bewegen können – und Fehler machen, ohne dass sie uns ewig nachhängen. Meine große Sorge ist, dass meine Generation die letzte sein wird, die in den Genuss dieser Freiheit kommt.“ (Snowden zitiert nach Greenwald 2015, S. 82) Es gibt Studien aus der Zeit, in der das Internet noch in den Kinderschuhen steckte, die Snowdens Erfahrungen bestätigen. Das digitale Panopticon – Wie die NSA-Überwachung unser Verhalten verändert 83 3.2. Identitätskonstruktion im Internet Anke Bahl beschäftigte sich in ihrem Buch Zwischen On- und Offline. Identität und Selbstdarstellung im Internet damit, welchen Einfluss das Netz und Online-Spiele auf die Persönlichkeitsentwicklung von jungen Erwachsenen hatten. Sie führt aus, dass vor allem das Gefühl der Anonymität in virtuellen Räumen – das es in den Anfangsjahren des Internets noch gab – ein Gefühl der Sicherheit vermittelte, das emanzipierend wirken könne (vgl. Bahl 1997, S. 34-35). Um diese Annahmen zu stützen, führte sie Interviews mit Internetnutzern durch, die alle in ihren jungen Zwanzigern waren (vgl. ebd., S. 50 ff.). Diese legten konkret dar, dass sie die Anonymität des Internets als befreiend empfanden, da niemand wusste, wer man ist und wo man gefunden werden kann. Man konnte sein, wer man wollte, ohne dass man von anderen Menschen verurteilt oder zurechtgewiesen wurde. Man konnte sich also von den Erwartungen der Offline-Welt befreien und sich mit seiner eigenen Persönlichkeit auseinandersetzen. Zudem nutzten viele Studienteilnehmer das Netz, um sich Ratschläge von neutralen Gesprächspartnern zu holen, wenn sie privat Probleme hatten (vgl. ebd., S. 83). Andere Vorteile der Anonymität des Internets seien gewesen, dass man mit seiner Identität spielen konnte. So hätte man z.B. seine Nationalität (vgl. Bahl 1997, S. 100) oder sein Geschlecht verstecken können, um daran anheftenden gesellschaftlichen Erwartungen in der wirklichen Welt zu entfliehen. Durch Online-Rollenspiele wie das Multi User Dungeon (MUD) konnte man die Rollenerwartungen aus dem Alltag hinter sich lassen und diejenige Rolle übernehmen, die man gerne spielen wollte. Eine Userin erzählte, dass ihr das Spiel auch dabei geholfen habe, die Person zu sein, die sie offline sein wollte. Denn man musste im Internet nicht viel darüber nachdenken, wie man sich zu verhalten hatte (vgl. ebd., S. 105). „[D]as MUD gab ihr den möglichen Handlungsspielraum, um sich freier zu entfalten als ihr dies in der Offline-Welt möglich war“ (ebd., S. 105), resümiert Bahl an dieser Stelle. Gleichzeitig half das Internet auch einigen Studienteilnehmern dabei, ihre Identität in der wirklichen Welt zu bilden. Denn durch das Wunsch-Ich im Internet konnte man sich langsam dem Ich annähern, das man auch offline sein wollte. Durch den virtuellen Raum konnte man die Online-Identität zunächst ausprobieren und dann offline weiterentwickeln (vgl. ebd., S. 105-106). Eine Spielerin berichtete: „The character that I figured was who I wanted to be […] And the more I played it the more I found that it was easier to be that person in real life. It’s kind of like you have practice.“ („Amy“ zitiert nach Bahl 1997, S. 106) Sich in der wirklichen Welt auszuprobieren könne für manche Individuen Gefahren mit sich bringen, aber online habe man alles unter Kontrolle (vgl. Bahl 1997, S. 131). Allgemein hätte das Spiel mit den Rollen online einen therapeutischen Effekt gehabt, da man mit Problemen umgehen lernte und auch einiges über sich selbst lernen konnte (vgl. ebd., S. 125). 84 Elsa-Margareta Venzmer In der Untersuchung werden viele Aspekte angesprochen, die auch Alan Westin formu- lierte. Die jungen Erwachsenen haben ihre Identität noch nicht vollständig ausgebildet, weswegen sie zunächst Eigenschaften ihrer Persönlichkeit online in einem privaten Raum erproben, bevor sie diese in die wirkliche Welt übertragen. Durch die von Privatheit gewährleistete Autonomie wird ihnen dabei geholfen, ihre Persönlichkeit frei zu ent- wickeln, ohne dass jemand ihr Verhalten wie in der wirklichen Welt sanktionieren könnte. Ohne Angst, erniedrigt zu werden, können sie mit ihren Meinungen oder Ideen online erst einmal experimentieren und sich so selbst finden. Ebenfalls wie Westin darlegte, scheinen die Interviewten auch einmal eine Pause von den Normen der Gesellschaft zu brauchen, wie von den Anforderungen an ein bestimmtes Geschlecht oder eine Nationalität, was durch die Anonymität im Internet gewährleistet wurde. Wenn sie Probleme in der wirklichen Welt hatten, hätten sich die User in solchen schwierigen Zeiten Ratschläge von neutralen Personen im Internet geholt, die ihnen zuhörten und die solche Informationen nicht gegen sie verwendeten. Sie konnten über ihre Erlebnisse im Alltag reflektieren, ohne dass sie negative Folgen zu befürchten hatten. Im Internet haben sie sich geschützt gefühlt und konnten ihre Ängste offenbaren. Privatheit kann also auch im virtuellen Raum eine therapeutische Wirkung haben und das Wohlbefinden stärken. Zusammenfassend hatte man im Internet schlicht, wie Westin hinsichtlich privater Räume darstellte, die Möglichkeit gehabt, man selbst zu sein. 3.3. Das Ende der Privatsphäre Die Zeiten, als man sich anonym im Internet bewegen konnte, sind aufgrund der NSA- Überwachung vorbei. So lässt sich feststellen, dass während in den Anfangsjahren des Internet mehr die Privatheitswerte Alan Westins praktiziert wurden, heutzutage vielmehr die Überwachungskonzepte von Foucault im Einsatz sind. Denn Internetnutzer und vor allem junge Menschen können ihre Persönlichkeit im Identitätsspielraum des Internets nicht mehr durch ein Gefühl der Privatheit bilden, sondern ihre Identität wird vielmehr durch das Gefühl des Beobachtetwerdens beeinflusst und konstruiert. Wie die Untersuchung von Bahl ergab, nutzten junge Menschen das Internet, um verschiedene Verhaltensweisen und unterschiedliche Rollen auszuprobieren, um so ihre Identität zu bilden. Da Menschen nach der NSA-Affäre ihr Kommunikationsverhalten nun nachweislich anpassen oder einschränken, scheinen sich viele User nicht länger zu trauen, beispielsweise ihre Meinungen oder Werte im Internet zunächst zu erproben. Da alle Daten von der NSA und ihren Partnern erfasst und auf unbestimmte Zeit gespeichert werden, hat man nicht mehr den Luxus, den Edward Snowden beschrieb, dass man auch einmal Fehler begehen darf oder wie es Westin ausführte, dass man seine Meinung später noch ändern dürfte. Denn, wie Foucault erörterte, werden Fehler von der Disziplinarmacht immer erfasst und möglicherweise bestraft. Das digitale Panopticon – Wie die NSA-Überwachung unser Verhalten verändert 85 So bringt Maximilian Sönke Wolf das Beispiel, wenn sich jemand online politisch äußere, diese Einstellung (in diesem Fall von der NSA) registriert, gespeichert und bewertet werde. Diese digitale Identität hafte einem daraufhin ewig an, auch wenn man seine politische Meinung Jahre später vielleicht schon wieder geändert hat (vgl. Wolf 2015, S. 134-135). Das wiederum könne „die Entwicklung der Persönlichkeit behindern, wenn der Einzelne sich im Kontakt mit Behörden fortwährend einem Persönlichkeitsbild ausgesetzt sieht, das er selbst nicht mehr als aktuell betrachtet und das es ihm verwehrt, die neu justierten Überzeugungen auch in dem Bild staatlicher Entscheidungsträger vom Selbst zu verankern.“ (ebd., S. 135) So haben nach einigen US-amerikanischen Studien viele Jugendliche schon einmal Dinge bereut, die sie im Internet posteten und würden sie gerne wieder löschen (vgl. Heuer/Tranberg 2013, S. 170). Sie begangen also Fehler, die sie jetzt nicht mehr rückgängig machen können. Eine andere Umfrage unter deutschen Nutzern zeigte, dass sich 80 Prozent der Befragten schon einmal mit den Privatsphäreeinstellungen von Sozialen Netzwerken beschäftigten. Wolf schließt daraus, dass Menschen ihre Privatheit letztlich wichtig sei, selbst wenn Soziale Netzwerke zur Selbstdarstellung dienten (vgl. Wolf 2015, S. 99). Das Problem ist, dass schon die primitivsten Daten Schlüsse auf z.B. die politische Einstellung geben können, wie Filme oder Bücher, die man konsumiert (vgl. ebd., S. 137). Viele Menschen geben aus solchen Gründen nachweislich falsche Informationen bei Sozialen Medien ein, um ihre Identität zu schützen (vgl. Heuer/Tranberg 2013, S. 29). Selbst bei Videospielen lassen sich von der NSA viele Daten abschöpfen, etwa von Gaming-Netzwerken wie World of Warcraft oder durch Konsolen, die biometrische Daten sammeln wie die Xbox (vgl. ebd., S. 130). Wie früher bei den MUDs kann man also heutzutage nicht länger frei mit Rollen spielen, ohne Angst zu haben, dass diese Daten in Datenbanken der Geheimdienste landen. Aufgrund von Überwachung kann man also seinen Freizeitinteressen am Ende nicht mehr nachgehen und sich auch nicht mehr mit anderen Menschen über seine Interessen austauschen. Man kann Werte und Verhaltensweisen nicht länger ausprobieren und mit anderen Usern vergleichen, um seine Identität zu bilden. Weiter besteht nun die Gefahr, dass sich Menschen im Internet eventuell keine Ratschläge von anderen Usern mehr einholen, wenn sie denken, dass die Informationen gegen sie verwendet werden können. Menschen, die depressiv sind, suchen vielleicht online keine Hilfe mehr, da sie nicht wollen, dass der Staat zu viele intime Details über sie weiß, sie klassifiziert oder die Informationen für andere Zwecke wiederverwendet werden. Denn selbst durch Pseudonyme kann man sich im Internet inzwischen nicht mehr anonymisieren. Die NSA kann problemlos die IP-Adresse eines Users und somit seine Identität herausfinden (vgl. Wolf 2015, S. 63-64). 86 Elsa-Margareta Venzmer Wie Westin ansprach, diene Privatheit auch dazu, dass man Druck aus dem Alltag abbauen kann, etwa den Druck, der durch gesellschaftlich vorgeschriebene Normen oder Rollen entsteht. Wenn man im Internet diesen Druck nicht mehr abbauen kann, wie bei den oben genannten Beispielen, indem man sein wahres Ich auslebt oder sich in schwierigen Zeiten Hilfe sucht, steht man emotional permanent unter Druck. So kann das Gefühl, dass man zu jeder Zeit beobachtet werden kann, nachweislich psychische Schäden verursachen, wie Angstzustände oder Unsicherheit (vgl. Heuer/Tranberg 2013, S. 25). Mit den Worten Bahls können Soziale Medien nun nicht länger therapeutisch wirken. Ein weiterer Nachteil der staatlichen Überwachung ist, dass User im Sinne des Privatheitsforschers auch nicht mehr die Freiheit haben, im Internet Autoritäten wie z.B. Politiker zu kritisieren. Da man nicht weiß, wo Terrorismus für die Regierung anfängt, schränkt man sich vorsichtshalber selbst ein und behält seine Meinungen für sich. Durch das Einüben solcher Verhaltensregeln und Normierungen würden nach Foucault schließlich widerstandslose Individuen entstehen (vgl. Sarasin 2005, S. 137), die alle derselbe Typ von Mensch sein sollen (vgl. Schröder 2010, S. 37), also ohne jegliche Individualität. Man könnte argumentieren, dass Menschen auch in anderen privaten Räumen als dem Internet weiterhin ihre Identität bilden können. Bei jungen Menschen ist das Internet allerdings nachweislich Teil des Alltags und eine der beliebtesten Freizeitaktivitäten (vgl. Rövekamp 2016), weswegen es für die Persönlichkeitskonstruktion von großer Bedeutung ist. Wenn sie das Gefühl bekommen, dass ihr Verhalten dort jederzeit überwacht und auf unbegrenzte Zeit gespeichert werden kann, werden sie sich der Norm anpassen und nicht länger ihre Individualität ausleben. Indem sie online mit ihrem fiktiven Ich nicht mehr experimentieren können, haben sie vielleicht nicht den Mut, in der wirklichen Welt so zu sein, wie sie sein wollen. Dadurch wird ihr Verhalten und darüber hinaus ihre Identität im Sinne Foucaults von einer äußeren Macht gebildet und kontrolliert (vgl. Schröder 2010, S. 30). Die Autonomie, von der Westin sprach, wird beschädigt, da User jetzt von anderen dominiert und manipuliert werden können, etwa weil die NSA alle ihre Geheimnisse, Wünsche und Ängste kennt. Die Nutzer können demnach nicht mehr darüber entscheiden, wer ihre intimsten Posts sehen darf und wie sie verwendet werden, wenn die NSA ohnehin komplett alles sammelt und Informationen auch manipulieren kann. So ist aus den Snowden-Unterlagen ersichtlich, dass der britische NSA-Partner Government Communications Headquarters (GCHQ) unter anderem Psychologen für die Entwicklung von Techniken einsetzt, deren Ziel die strategische Einflussnahme im Internet sein soll. So denken die GCHQ-Mitarbeiter, dass sich menschliches Verhalten im Internet durch Anpassung, Spiegelung oder Mimikri steuern lasse, also dass User andere User nachahmen. Dadurch können Geheimdienstmitarbeiter Online-Plattformen wie Soziale Netzwerke infiltrieren, andere Nutzer täuschen sowie deren Verhalten beeinflussen, indem sie sie z.B. zu Straftaten anstacheln. Methoden zur Rufschädigung Das digitale Panopticon – Wie die NSA-Überwachung unser Verhalten verändert 87 oder Manipulation sind bei Geheimdiensten also nicht nur möglich, sondern werden bereits angewendet (vgl. Greenwald 2015, S. 283-284). Es lässt sich zusammenfassen, dass man sich vor der NSA-Überwachung im Internet frei und privat bewegen konnte, ohne dass jemand wusste, wer oder wo man ist. Heutzutage ist es so, wie Foucault es bezüglich der Disziplin formulierte, dass die NSA immer weiß, wo und auf welche Weise jemand gefunden werden kann. Niemand ist mehr anonym und kann sich ihrem vollkommenen Auge entziehen. 4. Die Ethik des Selbst als Ausweg? In Überwachen und Strafen resümiert Foucault, dass wir alle „in das Räderwerk der panoptischen Maschine [eingeschlossen sind], die wir selber in Gang halten – jeder ein Rädchen.“ (Foucault 1989, S. 279) In seinen späteren Werken entwickelt er schließlich eine Lösung, wie man aus diesem Kreislauf, dass Individuen durch Überwachung und Korrigierung immer wieder aufs Neue hervorgebracht werden (vgl. ebd., S. 41-42), ausbrechen könne und schlägt die so genannte Sorge um sich bzw. Ethik des Selbst vor (vgl. Sarasin 2005, S. 192-193). Diese ist an die antike Ethik angelegt, die aber mit der Moderne gewisse Gemeinsamkeiten habe (vgl. Ruffing 2008, S. 99). „Heute wie damals brach eine Welt zusammen, damals die Poliswelt, gegenwärtig die Welt der kodifizierten Werte. Die Menschen mussten und müssen sich neu orientieren“ (ebd., S. 99), fasst Reiner Ruffing zusammen. Die Menschen müssten deswegen sich selbst und ihre Sicht- und Verhaltensweisen ändern. (vgl. ebd., S. 99) „Wir müssen neue Formen der Subjektivität zustande bringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen“, so Foucault. (Foucault zitiert nach Sarasin 2005, S. 192). Man müsse sich also gegen eine Macht wie den Panoptismus, der das Verhalten und die Identitätsbildung beeinflusst, wehren. Denn eine Ethik des Selbst bzw. die Beziehung zu sich selbst könne eine Form des Widerstands gegen politische (vgl. Sarasin 2005, S. 195) sowie normierende Macht sein (vgl. Ruoff 2009, S. 53). Das heißt für ihn konkret, dass das Subjekt die Differenz zwischen sich und dem, was es sein soll, erkennen muss und sich durch Selbstpraktiken als ein sich selbst bewusstes und handelndes Subjekt konstituiert (vgl. Sarasin 2005, S. 196). Nur so könne es individuell sein Leben gestalten (vgl. Ruffing 2008, S. 65). Die Autonomie des Individuums steht nun also im Mittelpunkt (vgl. Ruoff 2009, S. 53). Hinsichtlich der NSA-Überwachung würde das bedeuten, dass die Menschen zunächst erkennen müssten, dass sie durch das Gefühl des Beobachtetwerdens beeinflusst werden und ihr Verhalten unfreiwillig einschränken. Denn, wie bereits erwähnt, scheint diese Begrenzung der eigenen Freiheiten manchmal unterbewusst zu geschehen. Sie müssten also nach Foucaults Ratschlag verstehen, dass sie normiert werden und dass es einen 88 Elsa-Margareta Venzmer Unterschied zwischen ihrem wirklichen Ich und ihrem durch Überwachung normalisierten Ich gebe. Dazu müssten sie den Panoptismus zurückweisen und der Selbstdisziplinierung gezielt entgegensteuern, indem sie sich so verhalten, wie sie sich zu Hause ohne einen Beobachter verhalten würden. Nach Foucault müsse man ständig an sich selbst arbeiten (vgl. ebd., S. 60), um Veränderungen herbeiführen zu können (vgl. ebd., S. 54). Bei der Sorge um sich geht es also um eine Verschränkung von Denken und Handeln (vgl. ebd., S. 199). So gehören beispielweise manche Menschen Netzbewegungen an, deren Devise es ist, völlig transparent zu leben. Einer davon ist Hasan Elahi. Dieser wurde aufgrund eines Fehlers auf eine Anti-Terrorismus-Merkliste der US-amerikanischen Regierung einge- tragen und entschied sich daraufhin dazu, mit ungewöhnlichen Mitteln dagegen anzukämpfen. Denn er teilt seitdem jede noch so winzige Kleinigkeit seines Lebens, indem er inzwischen 46.000 Fotos online postete wie Fotos von seinem Essen oder von Toiletten. Durch diese Aktion hat er nun das Gefühl, die Kontrolle über seine Privatsphäre zu haben. Er denkt, wenn viele Menschen es ihm nachmachen würden, müssten sich Nachrichtendienste neu erfinden. Denn durch so eine immense Datenflut würden die Rechner der Sicherheitsbehörden ausgelastet, sodass Geheimdienste abgeschafft würden (vgl. Heuer/Tranberg 2013, S. 33-34). Das wäre das extremste Szenario der Ethik des Selbst. Es würde aber auch ausreichen, wenn Internetnutzer ihre Rechte nicht selbst einschränken, um sich aus ihrer eigenen Unmündigkeit zu befreien und so zu einer gesunden Demokratie beizutragen. Denn, wenn die NSA merkt, dass Menschen sich von der Überwachung nicht beeindrucken und beeinflussen lassen, würde sie ihre Praktiken vielleicht begrenzen. So könnte das eigene Handeln zu Veränderungen in der Gesellschaft führen. Man könnte die Sorge um sich aus heutiger Sicht allerdings auch so interpretieren, dass sich Menschen selbst vor Überwachung schützen sollen. Indem sich User anonym im Netz bewegen, können sie sich der Geheimdienstüberwachung zum Teil entziehen und die Spionage nicht mehr wahrnehmen, sodass sie ihr Verhalten nicht einschränken müssen. Zwar denken viele Menschen, dass die Macht der Geheimdienste und IT-Unternehmen so groß ist, dass man gegen sie sowieso nichts ausrichten könne (vgl. Schaar 2014, S. 256). Allerdings machen es sorgfältig eingesetzte Verschlüsselungsverfahren den Spionen schwerer, die Daten mitzulesen. Um etwa seinen Datenverkehr im Internet zu verschlüsseln, gibt es den Tor-Browser, mit dem die eigene IP-Adresse und somit der Standort verschleiert wird. Da die US- amerikanische Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF) ermittelte, dass vor allem der Browser viele Auskünfte über die eigene Identität gibt, ist die Wahl des Browsers von Bedeutung. Nach Snowdens Dokumenten hatte die NSA zudem wenig Erfolg damit, das Tor-Netzwerk zu brechen (vgl. Schartner 2014, S. 154 ff.). Eine ähnliche Möglichkeit der Anonymisierung bieten Proxy-Server. Hier werden die Daten nicht über das eigene Gerät versendet, sondern sie werden zuerst an einen Proxy-Server geschickt, Das digitale Panopticon – Wie die NSA-Überwachung unser Verhalten verändert 89 der mit seiner IP-Adresse die Daten dann an den Empfänger weiterleitet, also an die aufgerufene Webseite (vgl. ebd., S. 158). Nach Snowden sollte man zudem Firmen unterstützen, die sich für Datenschutz einsetzen (vgl. Gurnow 2014, S. 281). Da vor allem durch PRISM viele Informationen gespeichert werden, kann man dieser Spionage entgehen, wenn man Dienste wie Facebook oder Google meidet, die sich direkt durch die Datensammlung ihrer Nutzer finanzieren (vgl. Schaar 2014, S. 267). So haben sich einige Webseiten zum Ziel gesetzt, Alternativen zu den großen Plattformen vorzustellen, etwa die Webseite Prism-Break.org. Hier werden Dienste aufgelistet, die keine Daten loggen, wie z.B. die Suchmaschine DuckDuckGo als Alternative zu Google, das Soziale Netzwerk Diaspora anstelle von Facebook oder das Betriebssystem Linux als Gegenvorschlag zu Windows (vgl. Zhong 2021). Glenn Greenwald (vgl. Greenwald 2015, S. 367) betont, indem man IT-Unternehmen, die mit der NSA zusammenarbeiten, umgeht, übe man Druck auf diese Konzerne aus, diese Zusammenarbeit abzubrechen. Zudem motiviere man deren Mitbewerber dem Daten- schutz einen hohen Stellenwert einzuräumen. Dass die informationelle Selbstverteidigung wirkt, sieht man an den finanziellen Verlusten, die die Silicon Valley-Giganten kurz nach der NSA-Affäre erlitten hatten (vgl. Rosenbach/Stark 2015, S. 297). Und auch Snowden, obwohl ihm bewusst ist, dass die NSA immer an neuen Wegen arbeitet, Verschlüsse- lungen zu knacken (vgl. Gurnow 2014, S. 281), sagt, dass Verschlüsselung funktioniert: „Wenn sie richtig eingesetzt werden, gehören starke Kryptographiesysteme zu den wenigen Dingen, auf die man sich verlassen kann.“ (Snowden zitiert nach Harding 2014, S. 178) Und wenn es jemand weiß, dann er. Diese Sorge um sich bzw. Technologien des Selbst, die Foucault herausarbeitete, hätten bei erfolgreicher Anwendung letztendlich drei Dinge vollbracht. Erstens finde man sich selbst und seinen Platz in der Welt. Zweitens könne man immer die Wahrheit sprechen, also müsse man sich selbst nicht zurücknehmen. Und drittens gebe es keine Instanz mehr, die dem Subjekt sage, was es zu tun hätte. Denn diese Instanz sei es nun selbst (vgl. Sarasin 2005, S. 199). Ohne das Gefühl des Überwachtwerdens könnten Menschen also völlig frei ihre eigene Identität bilden, ihre Meinungsfreiheit ausleben und zu einem autonom handelnden Subjekt werden. Nach Foucault kann das Subjekt schließlich nicht nur durch Unterwerfung konstituiert werden, sondern auch durch Praktiken der Befreiung (vgl. Ruffing 2008, S. 111). 90 Elsa-Margareta Venzmer Literatur Ammann, Thomas & Aust, Stefan (2015): Digitale Diktatur. Totalüberwachung, Datenmiss- brauch, Cyberkrieg. Berlin: Ullstein Buchverlage. Bahl, Anke (1997): Zwischen On- und Offline. Identität und Selbstdarstellung im Internet. München: KoPäd. Beuth, Patrick (2013): Snowden-Enthüllungen. Alles Wichtige zum NSA-Skandal. ZEIT ONLINE. 28. Oktober 2013. Abgerufen unter: https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2013-10/hintergrund-nsa-skandal [Stand vom 08- 05-2021]. Blumer, Tim (2013): Persönlichkeitsforschung und Internetnutzung. Ilmenau: Universitäts- verlag Ilmenau. E-Mail, Facebook, SMS und Co. Ständige Überwachung führt zur Selbstzensur im Internet. (2016): Forschung und Wissen. 28. Januar 2016. 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