Jg. 18 H.1 2018 € 13,- NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften Sebastian Zilles (Hrsg.) QUEER(ING) POPULAR CULTURE Zilles: Towards a Queer Popular Culture ä Stein: Bodies in Transition ä Fenske: Familie queeren? ä Krauß: Female Gaze, Queer Gaze, Trans Gaze ä Nowotny: It‘s called a Devil‘s Threesome for a Reason ä Weber: Ein Genre in Bewegung ä Veith: Von Twinks, Twunks, Daddies und Bären ä Stàskiewicz: Queering in der (Neo-) Burlesque ä Rauscher: Queering Game Spaces ä Wolf: Die niedere Blume pflücken ä Zilles: Kein Leben und kein Sterben NAVI GATIONEN ä QUEER(ING) POPULAR CULTURE Jg. 18 H.1 2018 Jg. 18, H. 1, 2018 NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften Sebastian Zilles (Hrsg.) QUEER(ING) POPULAR CULTURE NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften IMPRESSUM HERAUSGEBER: TITELBILD: Prof. Dr. Jens Schröter David Bowie bei Rock am Ring 1987, Elmar Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft J. Lordemann Lennéstr.1 53113 Bonn (Hauptherausgeber) DRUCK: UniPrint, Universität Siegen Dr. Pablo Abend DFG-Graduiertenkolleg Locating Media universi – Universitätsverlag Siegen Herrengarten 3 Am Eichenhang 50 57072 Siegen 57076 Siegen J.-Prof. Dr. Benjamin Beil Institut für Medienkultur und Theater Erscheinungsweise: zweimal jährlich Meister-Ekkehart-Str. 11 50937 Köln Preis des Einzelheftes: € 13,- Preis des Doppelheftes: € 22,- REDAKTION FÜR DIESE AUSGABE: Jahresabonnement: € 20,- Sebastian Zilles Jahresabonnement für Studierende: € 14,- UMSCHLAGGESTALTUNG UND LAYOUT: ISSN 1619-1641 Markus Bauer (für diese Ausgabe) Christoph Meibom, Susanne Pütz (Originaldesign) Sebastian Zilles (Hrsg.) QUEER(ING) POPULAR CULTURE INHALT Sebastian Zilles Towards a Queer Popular Culture Eine (Kurz-)Einführung ................................................................................... 7 Daniel Stein Bodies in Transition Queering the Comic Book Superhero ........................................................ 15 Uta Fenske Familie queeren? The Kids are All Right (2010) und Concussion (2013) .................................... 39 Florian Krauß Female Gaze, Queer Gaze, Trans Gaze Transparent als queere Intervention ............................................................ 59 Joanna Nowotny It‘s called a Devil’s Threesome for a Reason Transgression und Queerness in der Fernsehserie Lucifer – Ein Essay ....... 77 Rebecca Weber Ein Genre in Bewegung Queere Interventionen in Telenovelas ........................................................ 89 Tim Veith Von Twinks, Twunks, Daddies und Bären Männlichkeitsentwürfe in der Du & Ich und Babilonia als queere Interventionen ........................................................................................... 105 Joanna Stàskiewicz Queering in der (Neo-)Burlesque ............................................................. 119 Andreas Rauscher Queering Game Spaces Ein Diskussionspapier ................................................................................ 133 A. Benedikt Wolf Die niedere Blume pflücken Elemente analer Poetik in Wolfgang Borcherts Erzählung Die Hundeblume .......................................................................................... 145 NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE Sebastian Zilles Kein Leben und kein Sterben. Zeitreflexionen in der HIV/AIDS-Literatur von Mario Wirz ...................... 159 Bio-Bibs .............................................................................................................. 177 NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE TOWARDS A QUEER POPULAR CULTURE Eine (Kurz-)Einführung V O N S E B A S T I A N Z I L L E S Queere Phänomene sind in der Populärkultur omnipräsent: Conchita Wurst avan- ciert mit ihrem Triumph beim Eurovision-Songcontest im Mai 2014 in Kopenha- gen zur (inter-)nationalen Ikone, queere Filmfestivals begeistern in ganz unter- schiedlichen Ländern und Comic-Superhelden sind heute schwul, lesbisch oder trans*.1 In Daily Soaps wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten werden gleichgeschlecht- liche Paare gezeigt und auch im Tatort, dem ›Schlachtschiff‹ der Sonntagabendun- terhaltung, werden queere Themen wie beispielsweise Homosexualität und Ho- mophobie im Profifußball (Folge: Endspiel, Bremen) oder Trans*- bzw. Interse- xualität (Folgen: Zwischen den Ohren, Münster; Skalpell, Luzern) behandelt. Selbst bildungsbürgerliche Institutionen nehmen an der hier skizzierten Entwicklung teil: Das Städel Museum in Frankfurt am Main kuratierte im vergangenen Jahr eine Ausstellung zum Thema Geschlechterkampf 2 und im selben Jahr war in der Lon- doner Tate Gallery eine exhibition über Queer British Art zu sehen.3 Die bis in die 1980er Jahre verhandelte binäre Unterscheidung zwischen Hoch- und Massen- bzw. ›Volks‹-kultur erscheint vor diesem Hintergrund als obsolet. Wie die Übersicht verdeutlicht, agieren queere Akteure und Aktivitäten in ganz unterschiedlichen Medien, in Bestseller-Belletristik, Fernseh- und Webser- ien, (Kino-)Filmen, Musik, Comics und Computerspielen sowie auf Literatur- und Filmfestivals und öffentlichen Events wie dem Christopher Street Day. Dort kom- plizieren sie etablierte Geschlechtervorstellungen, indem sie »auf die Denaturali- sierung normativer Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, die Entkoppe- lung der Kategorien des Geschlechts und der Sexualität, die Destabilisierung des Binarismus von Hetero- und Homosexualität sowie die Anerkennung eines sexu- ellen Pluralismus«4 zielen. Queerness und somit auch die Queer Studies treten, mit Nina Degele gesprochen, als eine »Verunsicherungswissenschaften«5 hervor. Darüber hinaus entfaltet sich ein Spannungsfeld zwischen Subversion und Nor- mierung, in dem sich auch das Queere selbst ständig neu definieren und positio- nieren muss. 1 Das ›*‹, als so genanntes Gender-Sternchen bezeichnet, verweist in der gesamten Aus- gabe der Navigationen auf die Möglichkeit, Subjekte jenseits des Zweigeschlechtermo- dells zu repräsentieren. 2 Vgl. Städel Museum (Hrsg.): Geschlechterkampf. 3 Vgl. Barlow: Queer British Art 1867-1967. 4 Kraß: »Queer Studies – Eine Einführung«, S. 18. 5 Degele: Gender/Queer Studies, S. 57. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE SEBASTIAN ZILLES Es soll bei der oben gezeigten, exemplarischen Auflistung jedoch nicht der falsche Eindruck entstehen, dass es sich bei Queerness lediglich um ein Phänomen des 21. Jahrhunderts handelt. Vielmehr, so ließe sich aus einer systematischen Perspektive argumentieren, kann im neuen Millennium von einer Verdichtung ge- sprochen werden. Aus einem historischen Blickwinkel lässt sich beobachten, dass sich die Wurzeln spätestens auf die 1980er Jahre datieren lassen: Gerade im Be- reich des Pop, als einem Teil der Populärkultur,6 betreten mit Madonna, Prince, Michael Jackson oder auch David Bowie, der auf dem Cover der vorliegenden Navigationen-Ausgabe zu sehen ist, Künstler*innen die Bühne, die normative Vor- stellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit irritieren.7 In dieser Dekade setzen darüber hinaus zwei weitere signifikante Entwicklungen ein: Zum einen werden die emanzipatorischen und subversiven Identitätspolitiken, die sich im Umfeld der neuen Frauen- und Homosexuellenbewegung seit den 1960ern herausgebildet hatten, nun selbst populär und partizipieren an den politischen Diskussionen in Europa und den USA. Zum anderen verbinden sich Identitätspolitiken mit Strate- gien neoliberaler Mikropolitiken und normalisierenden Prozessen der Selbstopti- mierung im Sinne ökonomischer Verwertungslogiken. Seitdem stehen multiple Identitätskonzepte nicht mehr im Widerspruch zu normalisierenden Diskursen; sie ermöglichen neoliberale Transformationen, anstatt sich ihnen zu widersetzen. Die anglo-amerikanisch geprägte Populärforschung reagierte auf queere Themen und Ansätze, wie sie oben beschrieben wurden, bereits in den 1980er Jahren. Im deutschsprachigen Raum, in dem in den vergangenen Jahren ein stetig wachsendes Interesse an der Populärkultur zu verzeichnen ist,8 kann ebenfalls ein geschlechtersensibler Fokus geltend gemacht werden.9 Allerdings verorten sich die meisten einschlägigen Studien entweder in den Queer Studies10 oder in ein- zelnen Fachdisziplinen.11 Dieser Umstand ist jedoch problematisch, denn wenn- gleich queere Perspektiven anerkannt bzw. akzeptiert werden, wird Queerness der Populärkultur allein von außen zugeschrieben bzw. von außen an sie herange- tragen. Damit wird ein Hierarchisierungsverhältnis aufgebaut, in dem das Queere der Populärkultur untergeordnet und nicht »zum Feld einer Auseinanderset- zung«12 gemacht wird. In einem Nachruf auf Alexander Doty, dessen Untersuchung Making Things Perfectly Queer (1993) einen Grundstein für queere Auseinandersetzungen mit der 6 Vgl. Höller: »Pop Unlimited?«. 7 Vgl. Fiske: Reading the Popular. Das Kapitel 5a widmet sich Madonna (S. 95-114). 8 Vgl. Hecken: Populärkultur; Kühn/Troschitz: Populärkultur. 9 Vgl. Villa et. al.: Banale Kämpfe? 10 Vgl. Burston/Richardson: A Queer Romance; Creekmur/Doty: Out in Culture; Peele: Queer Popular Culture. 11 Vgl. Mennel: Queer Cinema; Taylor: Play it Queer; Ruhrberg/Shaw: Queer Game Stud- ies. 12 Villa et.al.: »Banale Kämpfe?«, S. 8. NAVIGATIONEN 8 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE TOWARDS A QUEER POPULAR CULTURE Populärkultur legte, vertritt Corey K. Creekmur hingegen die These, dass Queer- ness dem Populären inhärent sei. Er spricht konkret von der »queer popular cul- ture, or, more precisely, the queerness of popular culture«.13 Mit dieser These grenzt er sich von Doty ab, der in seiner bereits zitierten Studie das Queere defi- nierte, als das, was dem Mainstream entgegenläuft – »positions within a culture that are ›queer‹ or non-, ant, or contra-straight«.14 In Dotys Aussage wird das Po- tential von Queerness eindeutig verspielt respektive unterminiert: Erstens, und das bleibt in Dotys Untersuchung mit dem Begriff der ›positions‹ vergleichsweise uneindeutig, ist festzuhalten, dass sich widerständige Potentiale auf unterschiedli- chen Ebenen wie die der Medientexte, Genres, Darstellungsweisen, Diskurse und der Praktiken beziehen können.15 Dabei gilt es – wie Tanja Thomas zu bedenken gibt – zu berücksichtigen, »dass populärkulturelle Repräsentationen und Praktiken nicht entweder affirmativ oder subversiv sein können«.16 Da die Populärkultur per se mehrdeutig (polysemisch) ist, eröffnet sie die Möglichkeit unterschiedlicher Lesarten. Zweitens ist es zwar durchaus zutreffend, dass queer zunächst als Interventi- on eingetreten ist für all diejenigen,17 die sich nicht in der binären Geschlechter- ordnung verorten können und das Machtregime der Heteronormativität kriti- siert,18 das hegemoniale und marginale Subjektpositionen über gesellschaftliche Institutionen und kulturelle Praxen produziert und reguliert.19 Dadurch rücken aber allein identitätsstiftende bzw. –politische Fragestellungen in den Vorder- grund. Zu bedenken ist aber auch die Frage, inwieweit die Vorstellung einer in- tervenierenden Subjektposition nicht auch selbst einer kritischen Analyse unter- zogen werden müsste: Denn einerseits bringt eine Intervention auch eine ›Nor- malisierung‹ mit sich und andererseits können neue Ausschlüsse produziert wer- den, wobei es zu analysieren gilt, ob dieser einer neuen Homonormativität das Wort reden.20 Drittens bleiben weitere Narrative, ästhetische Darstellungsweisen sowie das Spannungsverhältnis von Produktion und Rezeption weitgehend unterreprä- sentiert. Queerness ist nicht nur ein politischer Begriff, sondern eine ästhetische und praktische Kategorie, die eigene Repräsentationsformen hervorbringt und neue Rezeptionsweisen herausfordert. Ein theoretisches Instrumentarium, diese Kategorien umfassend zu untersuchen, stellt die queer narratology bereit.21 Sie 13 Creekmur: »The Sissy’s Courage«, S. 123. 14 Doty: Making Things Perfectly Queer, S. 3. 15 Vgl. Thomas: »Zwischen Konformität und Widerständigkeit«, S. 220. 16 Ebd., S. 216 (Herv. im Org.). 17 Vgl. Hark: »Queer. Interventionen*«. 18 Vgl. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. 19 Vgl. Engel: Wider die Eindeutigkeit; Hark: »Queer Studies«. 20 Vgl. Duggan: »The New Homonormativity«. 21 Vgl. Warhol/Lanser: Narrative Theory Unbound. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 9 SEBASTIAN ZILLES geht von der Grundannahme aus, dass queere Repräsentationen »questions of form and content« sind, weshalb »narratological concerns […] at the heart of de- bates about queer capacities and limits of narrative«22 liegen. Das schließt eine heuristische Unterscheidung ein, die zu zwei Untersu- chungssträngen bzw. – perspektiven führt, die in der Ausgabe exemplarisch vor- gestellt werden: Differenziert wird zwischen queeren Narrativen und queeren Praktiken. Beide, und damit auch eine queere Narratologie und eine queere Pra- xeologie, sind, so die leitende These, eng miteinander verzahnt. Narrative existie- ren nicht unabhängig von bestimmten Produktions- und Rezeptionspraktiken; je- de Praktik wiederum verfügt immer auch über ein eigenes Narrativ. Diese Er- kenntnis leitet sowohl die Wahl der Methode als auch die inhaltliche Auseinander- setzung mit dem Untersuchungsgegenstand. Die Annahme, dass die Populärkultur inhärent queer sei, wird in der vorlie- genden Ausgabe in zehn Einzelbeiträgen überprüft, die jeweils einem populärkul- turellen Medium gewidmet sind. Die Ausgabe ist interdisziplinär ausgerichtet und weist eine transnationale Vergleichsperspektive auf – überwiegend zwischen den USA und Europa. Am Anfang der Ausgabe steht der Beitrag von Daniel Stein. Seinem Aufsatz Bodies in Transition ist ein programmatischer Charakter zuzuschreiben, da er so- wohl auf die ästhetische Dimension von Comics eingeht als auch deren Rezeption beleuchtet und somit die oben vorgestellten zwei Untersuchungsstränge exemp- larisch vorstellt. Stein zeichnet einen historischen Wandel des Superbodys nach, der zunehmend gequeert erscheint. Die sich anschließenden Beiträge von Uta Fenske, Florian Krauß und Joanna Nowotny werden durch das Medium Film umklammert. Uta Fenske untersucht in Familie queeren? die filmische Ebene als auch die Rezeption der lesbischen (Fami- lien-)Filme The Kids Are All Right (2010) und Concussion (2013) im Spannungsfeld von Bürgerlichkeit und queeren Lebensweise. Florian Krauß zeigt, wie die Ama- zon-Prime-Produktion Transparent in bestehende und film-/fernsehhistorisch ge- wachsene Muster der fiktionalen Darstellung von Trans-Menschen interveniert und sich zu einer umfassenderen queeren Transitions-Geschichte ausweitet, die auf queeren Theorien rekurriert. Joanna Nowotnys Beitrag kann selbst als que(e)r zu den anderen Beiträgen bezeichnet werden, da die Verfasserin nicht einen wis- senschaftlichen Aufsatz im engeren Sinn vorlegt, sondern einen Essay. Dieser un- tersucht die US-amerikanische Fernsehserie Lucifer (2016-) und zeigt, dass der Protagonist ein queer subject darstellt, der allerdings – wie die Serie im Allgemei- nen – nur an der Idealisierung einer ganz bestimmten Art von Queerness mit- wirkt. Die folgende Sektion, unter die die Beiträge von Rebecca Weber, Tim Veith, Joanna Stàskiewicz und Andreas Rauscher fallen, wird inhaltlich durch den Inter- ventionsbegriff zusammengehalten, der an unterschiedlichen Medien abgehandelt 22 Lanser: »Toward (a Queer and) More (Feminist) Narratology«, S. 24. NAVIGATIONEN 10 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE TOWARDS A QUEER POPULAR CULTURE wird. Rebecca Weber demonstriert in Ein Genre in Bewegung am Beispiel der la- teinamerikanischen Telenovelas Farsantes (2013-2014) und Los Victorinos (2009- 2010) wie diese in die klischeehaften Darstellungen nicht-homosexueller Figuren im Unterhaltungsfernsehen intervenieren, indem sie heteronormative Strukturen der Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellen. In Von Twinks, Twunks, Daddies und Bären führt Tim Veith verschiedene Männlichkeitskonfigurationen in der deut- schen Zeitschrift Du&Ich und der italienischen Zeitschrift Babilonia vor, um zu zei- gen, welche Entwürfe von Männlichkeit dominieren bzw. untergeordnet werden. Joanna Stàskiewicz stellt in ihrem Beitrag Queering in der (Neo-)Burlesque die The- se auf, dass die (Neo-)Burlesque als ein karnevaleskes Spektakel des Absurden die Möglichkeit einer spielerischen Aufhebung der geltenden Normen eröffnet und dadurch als Halberstamsches »silly archive« funktioniert, das einen Raum zur queeren Intervention gewährt. Andreas Rauscher legt mit seinem Diskussionspa- pier Queering Game Spaces ebenfalls ein queeres Format vor, das einen einführen- den Überblick über die Perspektiven der Queer Game Studies liefert. Die abschließenden Beiträge von Benedikt Wolf und Sebastian Zilles stehen an der Peripherie der Populärkultur. Ihren jeweiligen Beiträgen kommt es primär darauf an, queer als eine ästhetische Kategorie zu begreifen. Stellt Wolf in seinem Beitrag Die niedere Blume pflücken ein queer reading von Borcherts Erzählung Die Hundeblume vor,23 greift Zilles in »Kein Leben und kein Sterben« den in der queer narratology behandelten Ansatz einer queeren Zeiterfahrung auf und überträgt ihn auf ausgewählte Werke des »Aidsliteraten« Mario Wirz. Die vorliegende Ausgabe der Navigationen – Zeitschrift für Medien- und Kul- turwissenschaften dokumentiert erste Ergebnisse des an der Universität Siegen angesiedelten Verbundprojekts Queering Popular Culture. Dabei handelt es sich um eine Kooperation zwischen Vertretern*innen der Philosophischen Fakultät und Mitarbeitern*innen des Zentrums für Gender Studies. Joanna Nowotny (ETH Zü- rich/Bern) und Benedikt Wolf (HU Berlin) sei herzlich für ihr Interesse am Projekt und für ihre Gastbeiträge gedankt. Valerie Linke war eine große Hilfe bei der Er- stellung des Manuskripts. Auch ihr sei ganz herzlich für ihre Unterstützung ge- dankt. Daniel Stein hat die Endredaktion geduldig und helfend begleitet, wofür ihm herzlich zu danken ist. Siegen/Lampertheim im Februar 2018 Sebastian Zilles 23 Vgl. zum queer reading Sedgwick: Between Men. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 11 SEBASTIAN ZILLES LITERATURVERZEICHNIS Barlow, Clare: Queer British Art 1867-1967, London 2017. Burston, Paul/Richardson, Colin (Hrsg.): A Queer Romance. Lesbians, Gay Men and Popular Culture, London 1995. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Katharina Menke, [1991], (Edition Suhrkamp 722), Frankfurt a.M. 162012. Creekmur, Corey K: »The Sissy’s Courage. In memoriam Alexander Doty«, in: Cinema Studies Jg. 53, H. 2, S. 122-126. Creekmur, Corey K./Doty, Alexander (Hrsg.): Out in Culture. Gay, Lesbian, and Queer Essays on Popular Culture, Durham 1995. Degele, Nina: Gender/Queer Studies, Paderborn 2008. Doty, Alexander: Making Things Perfectly Queer. Interpreting Mass Culture, Min- neapolis 1993. Duggan, Lisa: »The New Homonormativity: The Sexual Politics of Neoliberalism«, in: Castronovo, Russ/Nelson, Dana D. (Hrsg.): Materializing Democracy: Toward a Revitalized Cultural Politics, Durham 2002, S. 175-194. Engel, Antke: Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus quee- rer Politik der Repräsentation, Frankfurt a.M/Boston 2002. Fiske, John: Reading the Popular, Boston 1989. Hark, Sabine: »Queer. Interventionen*«, in: Feministische Studien H. 2, 1993, S. 103-109. Hark, Sabine: »Queer Studies«, in: Braun, Christina von/Stephan, Inge (Hrsg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 285-303. Hecken, Thomas: Populärkultur. Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultu- ral Studies, Bielefeld 22012. Höller, Christian: »Pop Unlimited? Imagetransfers und Bildproduktion in der aktu- ellen Popkultur«, in: Ders. (Hrsg.): Imagetransfers in der aktuellen Popkultur, Wien 2001, S. 11-27. Kraß, Andreas: »Queer Studies – Eine Einführung«, in: Ders. (Hrsg.): Queer den- ken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), Frankfurt a.M. 2003, S. 7-28. Kühn, Thomas/Troschitz, Robert: Populärkultur. Perspektiven und Analysen, Bie- lefeld 2017. Lanser, Susan: »Toward (a Queer and) More (Feminist) Narratology«, in: Warhol, Robyn/Dies. (Hrsg.): Narrative Theory Unbound: Queer and Feminist Inter- ventions, Columbus 2015, S. 23-42. Mennel, Barbara: Queer Cinema. Schoolgirls, Vampires, and Gay Cowboys. Lon- don 2012. NAVIGATIONEN 12 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE TOWARDS A QUEER POPULAR CULTURE Peele, Thomas: Queer Popular Culture. Literature, Media, Film, and Television, Basingstoke 2007. Ruhrberg, Bonnie/Shaw, Adrienne (Hrsg.): Queer Game Studies. Minneapolis 2017. Sedgwick, Eve Kosofsky: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire, New York 1985. Städel Museum (Hrsg.): Geschlechterkampf. Franz von Stuck bis Frida Kahlo, München/London/New York 2017. Taylor, Jodie: Playing it Queer. Popular Music, Identity, and Queer World-Making, Oxford 2012. Thomas, Tanja: »Zwischen Konformität und Widerständigkeit. Populärkultur als Vergesellschaftungsmodus, in: Villa, Paula-Irene/Jäckel, Julia/Pfeiffer, Za- ra/Sanitter, Nadine/ Steckert Ralf (Hrsg.): Banale Kämpfe? Perspektiven auf Populärkultur und Geschlecht, Wiesbaden 2012, S. 211-228. Villa, Paula-Irene/Jäckel, Julia/Pfeiffer, Zara/Sanitter, Nadine/ Steckert Ralf (Hrsg.): Banale Kämpfe? Perspektiven auf Populärkultur und Geschlecht, Wiesbaden 2012. Warhol, Robyn/Lanser Susan (Hrsg.): Narrative Theory Unbound: Queer and Feminist Interventions, Columbus 2015. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 13 BODIES IN TRANSITION Queering the Comic Book Superhero B Y D A N I E L S T E I N ABSTRACT This essay analyzes the comic book superhero as a popular figure whose queer- ness follows as much from the logic of the comics medium and the aesthetic prin- ciples of the genre as it does from a dialectic tension between historically evolving heteronormative and queer readings. Focusing specifically on the superbody as an overdetermined site of gendered significances, the essay traces a shift from the ostensibly straight iterations in the early years of the genre to the more recent appearance of openly queer characters. It further suggests that the struggle over the superbody’s sexual orientation and gender identity has been an essential force in the development of the genre from its inception until the present day. The comic book superhero has been a figure of the popular imagination for eight decades, if we count Superman’s appearance in Action Comics #1 (June 1938) as the beginning of the genre. Almost as old as the genre itself are associations of the superhero with what the American amateur psychologist Gershon Legman de- scribed as »an undercurrent of homosexuality and sado-masochism«1 in his book Love and Death (1949). These associations became part of the broader public dis- course when the German-born psychiatrist Frederic Wertham expanded on them in Seduction of the Innocent (1954), a flawed but popular study of the effects of comic-book reading on juveniles that played into the climate of sexual anxieties at the height of the so-called comics scare. Wertham’s work is still cited in discus- sions of superhero sexuality, and the present essay is no exception, as I take Leg- man and Wertham’s observations as a launching pad for an investigation of what I call the queering of the comic book superhero. My understanding of queering the comic book superhero is deliberately am- biguous, as it enables at least two interpretations. First, it suggests a process in which a figure that had originally been considered straight by the majority of readers as well as by its producers is queered over the course of the genre’s de- velopment. Second, it evokes a process of bringing to bear a queer reading on a 1 An earlier version of this essay was presented as a keynote lecture at the student con- ference »Made of Flesh and Blood: The Bodies of Superheroes«, organized by Lukas Et- ter and Maria Verena Peters (University of Siegen, Jan. 21, 2017). I thank them for the invitation and their critical feedback as well as Christopher Hansen for reading a manu- script version of this essay and for his many useful suggestions. See: Legman: Love and Death, p. 42. See also Heer: »Batman and Robin«. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE DANIEL STEIN popular serial genre that has claimed a heteronormative status throughout most of its history. I encourage both interpretations by connecting an interest in the medial and narrative specificities of superhero comics with a concern for the pro- duction and reception of queer characters and storylines. At the center of this analysis is the superhero body, which serves as the fulcrum point for thinking about the superhero as a queer figure. As a point of departure, I take two observations from recent studies of the superhero. In Death, Disability, and the Superhero (2014), José Alaniz conceives of »the super-body as a site of elaborate, overdetermined signification«.2 I will argue that the superhero body is neither just a body nor something that is merely pre- sent on the comics page. Rather, the superbody encapsulates a broad range of meanings, including contradictory ones, and it motivates a historically and cultural- ly specific form of »popular body politics«.3 Within this popular body politics, the superhero emerges as a »distinctly queer figure of twentieth-century popular cul- ture«,4 as Ramzi Fawaz proposes in The New Mutants (2016).5 I will grapple with the question why and how the public recognition of the superhero as a queer fig- ure has transitioned from twentieth-century attempts to subvert the mainstream reading of hypersexualized yet heteronormative body images and gendered narra- tives to the more pervasive (yet still controversial) current embrace of the figure’s queer potentials. 1. QUEER THEORY, BODY THEORY, COMICS THEORY My analysis of the superhero body and the queering of the comic book superhero draws on queer theory, body theory, and comics theory. I start with Eve Sedg- wick’s seminal definition of queer as »the open mesh of possibilities, gaps, over- laps, dissonances and resonances, lapses and excesses of meaning [that appear] when the constituent elements of anyone’s gender, of anyone’s sexuality aren’t made (or can’t be made) to signify monolithically«.6 According to Sedgwick, queerness gestures beyond homosexuality to include a broader range of non- normative constructions and counter-constructions of gender and sexuality. As Alexander Doty notes accordingly, the queerness of popular narratives and arte- facts is »less an essential, waiting-to-be-discovered property than the result of acts of production or reception«.7 Queerness, in this sense, is always negotiated 2 Alaniz: Death, Disability, and the Superhero, p. 5–6. 3 Taylor: »He’s Gotta Be Strong«, p. 345. 4 Fawaz: The New Mutants, p. 32. 5 Berlatsky claims that »Comic Books Have Always Been Gay« (2012). For surveys of gay, lesbian, and queer comics, see Sewell: »Queer Characters in Comic Strips«; Kistler: »LGBT Characters«; Hall: No Straight Lines; Mance: »LGBTQ Representation in Com- ics«. 6 Sedgwick: Tendencies, p. 8. 7 Doty: Making Things Perfectly Queer, p. xi. NAVIGATIONEN 16 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE BODIES IN TRANSITION and never fixed, and it is subject to constant change. Doty speaks of »various and fluctuating queer positions [that] might be occupied whenever anyone produces or responds to culture«.8 To queer something is to disrupt seemingly stable, nor- mative binaries like man/woman or straight/gay and, as Fawaz maintains, to create »alternative desires, […] unexpected objects of passionate attachment, […] and novel forms of kinship and affiliation«.9 It is to question heterosexuality as the »original« sexuality, as »the true, the authentic; the norm that determines the re- al«,10 and to recognize gender as a performative act. As Judith Butler has famously stated, »performativity must be understood not as a singular or deliberate ›act‹, but, rather, as the reiterative and citational practice by which discourse produces the effects that it names«.11 Perhaps the simplest yet also most potent argument proposed by body theo- ry (as well as by Butler) is that bodies matter. As Aaron Taylor holds, body theory subscribes to a »corporeal worldview« that moves beyond the dichotomy of body and mind and recognizes the interdependency of »somatic existence« and »physi- cal existence«.12 Taylor further proposed that the body »is not a stable, definitive- ly knowable physicality, but a process«.13 As such, bodies are produced and re- produced through the reiterative and citational practices and the performative acts Butler associates with the discursive production of gender and sexuality. Tak- ing a »corporeal approach to examining popular representations of the body« therefore enables an understanding of its larger cultural functions – what Taylor calls »popular body politics«14 – and it foregrounds the increasing significance and visibility of what Paul Petrovic labels »queer citationality«.15 Like body theory and queer theory, comics theory is an amalgamation of perspectives from various disciplines rather than a unified approach. In many ways, it resembles the kind of »scavenger methodology«16 of queer analysis ac- cording to Judith Halberstam, even though we have recently seen bids for the in- stitutionalization of comics studies and the emergence of a growing canon of key theories.17 This canon includes queer approaches, many of which do not particu- 8 Ibid, p. 3. 9 Fawaz: The New Mutants, p. 32. 10 Butler: »Imitation and Gender Insubordination«, p. 20. 11 Butler: Bodies That Matter, p. 2. 12 Taylor: »He’s Gotta Be Strong«, p. 344. 13 Ibid, p. 345. 14 Ibid. 15 Petrovic: »Queer Resistance, Gender Performance, and ›Coming Out‹«, p. 70. 16 Halberstam: Female Masculinity, p. 13. 17 See Smith/Duncan: Critical Approaches to Comics; Bramlett/Cook/Meskin: The Rout- ledge Companion to Comics; Smith/Duncan: The Secret Origin of Comics Studies. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 17 DANIEL STEIN larly emphasize a corporeal dimension.18 Those that do address questions of the body and its depiction rightly stress the medium-specificity of comics as a sequen- tial form of visual-verbal narration. After all, comics generally narrate through a succession of framed still panels. These panels depict segments of an action, leav- ing it to the reader to connect them into an ongoing narrative by filling in the gaps (gutters) between panels in a process of closure.19 They thus invite a lingering gaze at the arrested moment portrayed in each panel. Superhero comics make the most of this moment by frequently depicting spectacular bodies in statuesque form, frozen in mid-motion or in various states of physical transition, as Marvel heroes like the Fantastic Four, the Incredible Hulk, the X-Men, but also villains like Spider-Man’s antagonist the Sandman indicate. »Superhero bodies, despite their plasticity, are armored bodies, rigid against the chaos of surrounding disor- der«,20 Scott Bukatman concludes. The superhero is thus an inherently ambiguous creature, simultaneously moving and unmoved through the interplay of stasis and sequential succession in a permanent state – an eternal in medias res – of bodily transition. This interplay shapes the transformation from Bruce Banner to Hulk (whose body bulks up and shrinks back), from Johnny Storm to the Human Torch (whose body inflames and extinguishes itself), from Sue Storm to Invisible Woman (whose body disappears and reappears), from Reed Richards to Mister Fantastic (whose body stretches and suspends at will), from Ben Grimm to the Thing (whose body never reverts back from the queered state).21 Such bodily transitions remain a staple of the gen- re, a prime example being the X-Men character Piotr Rasputin/Colossus (in the Ultimate Marvel version), who can turn his body into metal to use it as both ar- mor and weapon. Significantly, these characters represent more than merely rigid and statuesque instantiations of the superbody. Appearing in and across panel se- quences, they attain a narrative dimension that addresses their oscillation be- tween their pre- and post-transition states, driving the action forward and con- tributing to an unfolding story. We can therefore conceive of the superhero as at once the static spectacle of an armored as well as armed body and a character in constant motion: as both a product and a process. Unlike literary novels or radio plays, which can easily create characters with- out specifically describing their bodies, comics must, with few exceptions, portray a character’s physical appearance. Indeed, they must do so again and again: from 18 See Bauer: »Comics, Graphic Narratives, and Lesbian Lives«; Chute: »The Space of Graphic Narrative«; Mance: »LGBTQ Representation in Comics«. 19 See McCloud: Understanding Comics, ch. 3. 20 Bukatman: Matters of Gravity, p. 103. 21 Characters like Superman (as an alien) and Spider-Man (as a mutated human), whose body states cannot be reversed, nevertheless transition back and forth between differ- ent roles when they exchange their civilian identity (Clark Kent, Peter Parker) for public identities as a superhero, a transition that manifests itself in the change from civilian grab into official costume. NAVIGATIONEN 18 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE BODIES IN TRANSITION panel to panel, from page to page, and from installment to installment, where they populate the genre with shifting bodies that eventually leave the confines of the printed page to enter into a world of transmedia representations and manifest themselves as merchandise in the wider material culture. Taylor ties the depiction of superbodies and the gender codes typical of superhero comics to this formal element: [T]he fragmentation of the narrative caused by paneling dictates [a] splintered physicality. Heroes and villains alike are chopped up by the borders of the panels, their anatomy dissected and spread across the page. Totalities are rare. When full body shots occur, they glorify the reassembled body of the character in a magnificent, full[-]page spread. Such formal strategies of dismemberment seem to resist organic and holistic conceptions of bodies and identities. Is it any coincidence that so many superheroes are characterized by a split identity, one that operates according to the logic of a gendered binary? Coupled with its objectification by the stasis of the panels, the fractioned, passive su- perbody is ripe for a multitude of reconfigurations.22 At least the early superhero comics clearly reiterated gendered binaries through the convention of the spilt identity, with Clark Kent being presented as emascu- lated in opposition to Superman’s hypermasculinity and with the »sickly Army re- ject« Steve Rogers becoming the almost invincible supersoldier Captain America through the infusion of a »super-serum«.23 »As Rogers’s transformation from scrawny stripling to muscular powerhouse suggested, [a] particular image of ideal citizenship through scientific intervention was consistently coded as masculine and virile (not to mention white and heterosexual)«, Fawaz observes; »with rare ex- ceptions the defining characteristic of World War II superheroes was an invulner- able male body whose physical strength functioned as a literal bulwark against threats to the nation’s borders and ideological values«.24 Yet the figure’s ripeness for a »multitude of reconfigurations«,25 enabled by the superhero’s formally induced splintered physicality, dissected anatomy, and fractioned superbody, cannot be fully contained by gendered binaries. Instead, it 22 Taylor: »He’s Gotta Be Strong«, p. 348. 23 Fawaz: The New Mutants, p. 8. On Superman’s masculinity, see Goebel: »Rethinking the American Man«. On superheroes and (gay) masculinities more generally, see Lev- erenz: »The Last Real Man in America«; Lendrum: »The Gay Superhero in Contempo- rary Mainstream Comic Books«; Lendrum: »Superhero Masculinity, Camp and Public Relations as a Textual Framework«; Best: »Domesticity, Homosociality, and Male Pow- er«; Padva: »Dreamboys, Meatmen and Werewolves«; Palmer-Metha/Hay: »A Superhe- ro for Gays?«; Weltzien: »Masque-ulinities«; Voelker-Morris/Voelker-Morris: »Stuck in Tights«. 24 Fawaz: The New Mutants, p. 8. 25 Taylor: »He’s Gotta Be Strong«, p. 348. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 19 DANIEL STEIN produces »the open mesh of possibilities, gaps, overlaps, dissonances and reso- nances, lapses and excesses of meaning«26 that, to reiterate Sedgwick, emerge »when the constituent elements of anyone’s gender, of anyone’s sexuality aren’t made (or can’t be made) to signify monolithically«.27 The superhero body – male, female, and anything in between or neither/nor – may in some sense be passive, as Taylor suggests in the passages quoted above: there to be gazed at, to be fet- ishized. But this body is also invested with agency, receiving a voice through speech balloons, an inner life through (interior) monologue and dialogue, and a personal history through accumulating storylines. It further attains a life beyond the comics page through reception processes that generate competing meanings, bridge the gaps between panels, installments, and incarnations, and confront au- thorized versions of the superhero with multiply resonant, and sometimes disso- nant, alternative visions.28 Queer theory, body theory, and comics theory share an interest in dynamic models of culture and the multiple possibilities of signification in popular culture. Just as queer theory reminds us that representations of sexual identity and orien- tation seldom signify monolithically and are always capable of producing queer ex- cesses of meaning, body theory conceives of the body as a mixture of physical, mental, and cultural factors that is always processual, always in flux, and never ful- ly contained by binary ascriptions. 2. QUEERING THE SUPERHERO: POPULAR BODY POLITICS On a very basic level, the connection between the superhero and the queer su- perbody emerges from the superhero’s status »as biological misfit and social out- cast«.29 As a biological misfit, the superhero inhabits a body that deviates from re- al-life bodies and may therefore queer mainstream views of gender and sexuality rooted in references to the physical body. As a social outcast who must hide or sublimate a secret (and occasionally sexual) identity and is burdened by the great responsibilities that come with superhuman powers, the superhero has the po- tential to queer normative notions of male and female corporeality despite its overt promotion of an idealized and hypersexualized heteronormative body. Fawaz thus invokes the concept of queer to reassess how the unconventional su- perhero body has historically »thwarted the direction of heterosexual desire […] and cultivated an affective orientation toward otherness and difference that made so-called deviant forms of bodily expression, erotic attachment, and affiliation both desirable and ethical«.30 26 Sedgwick: Tendencies, p. 8. 27 Ibid. 28 See Kelleter/Stein: »Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens«. 29 Fawaz: The New Mutants, p. 9. 30 Ibid, p. 22. NAVIGATIONEN 20 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE BODIES IN TRANSITION We should note, then, that the superhero body differs from other bodies in at least three significant ways. First, it surpasses the »normal« abilities and capa- bilities of the human body. It possesses special powers that stem from the super- hero’s alien nature (Superman), its god-like status (Wonder Woman, Thor), scien- tific accident and genetic mutation (Spider-Man, the Fantastic Four, the Incredible Hulk, the X-Men), and biological or technical enhancement (Captain America, Iron Man). Batman is a special case, as he is (strictly seen) not a superhero but a human being, a master detective whose childhood trauma (witnessing the murder of his parents) has driven him to perfect his body and mind beyond what is be- lieved to be humanly possible. The bodies of superheroes, however, do not merely surpass the human body; they are neither simply hyperathletic nor neces- sarily überbodies that have overcome (almost) all human limitations. As Ken Parille writes in a Comics Journal column on »Super-Heroes and Super-Sexism«, superhe- ro comics also present »malformed, grotesque, and clumsy bodies« that »are built, not for action, but for posing« and that »display a physically self-destructive narcissism«.31 Outrageous, gargantuan, and very unlife-like muscles, Parille sug- gests, may take away any overtly sexual appeal and move the superhero from an erotic fantasy to a more complex instantiation of the queer imagination. In light of such interpretations, it is not surprising that many have seen a connection be- tween Wonder Women’s garb and gay drag.32 This connection highlights the powerful polysemy of the superhero body as at once an emblem of heteronorma- tive hypersexualization (Wonder Woman as sex fetish), a feminist icon (Wonder Woman making the cover of Ms. Magazine in 1972 and 2012), and an enticement to perceive the costumed superbody as a form of transvestism and »superdrag«.33 Second, superhero bodies are costumed bodies. Superhero costumes gener- ally serve as a more or less thin disguise for the characters’ essential nakedness, including primary body parts, which the costume always covers. The costumes that clad the superbody perform distinct iconographic and ideological functions. Batman’s armor becomes not only more and more militaristic over the course of the figure’s movie career from 1989 onwards, but also thicker and harder, casting a protective sheen against the violent attacks of his enemies but also against an all- too corporeal reading of the superbody. In DC’s Elseworld mini-series Kingdom Come (1996) by Mark Waid and Alex Ross, Batman embodies »the fluid superhero body molded by plastics and steel«,34 as Aaron Taylor notes. »Although he is the most human of the trio narratively speaking (Superman is an alien, Wonder Wom- 31 Parille: »This Man, This Monster«, n. pag. 32 See Peters: »Qu(e)erying Comic Book Culture«. 33 Alaniz: Death, Disability, and the Superhero, p.14. On Wonder Woman’s gender poli- tics, see Rhodes: »Wonder Woman and Her Disciplinary Powers«; Robinson: Wonder Women; Emad: »Reading Wonder Woman’s Body«; Robbins: »Wonder Woman«; Brown: »Supermoms?«; Murray: »The Feminine Mystique«; Spieldenner: »Altered Egos«; Lepore: The Secret History of Wonder Woman; Berlatsky: Wonder Woman. 34 Taylor: »He’s Gotta Be Strong«, p. 357. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 21 DANIEL STEIN an is a goddess), he is simultaneously the most inhuman on a corporeal level [,] [p]art animal, part machine«.35 This representation differs from the tights these characters used to wear when they started their monthly pursuits in the pages of the Golden Age comic books. Wonder Women’s costume in the 2017 film ver- sion can be read along the same lines, even though, due to the reigning sexist double standard, it is much more revealing than Batman’s full-body armor. For Scott Bukatman, »the secret identity constitutes the body secretly marked […] but costume and logo constitute the superhero as publicly marked. Mask, cos- tume, and logo are marks that guarantee the superhero body passage into the field of the symbolic«,36 where a body is no longer just a body but a seismograph of powerfully gendered fantasies. Third, since the comics medium exerts few restraints on what an artist can show, and because of the genre’s investment in fantasy, superhero bodies can vir- tually do anything imaginable. »[U]nconstrained by verisimilitude, the bodies rep- resented in superhero comics are malleable, plastic, and subject to all kinds of wild reconfigurations and metamorphoses«,37 Taylor writes. Superhero comics largely function on the »conceit that whatever can be drawn can be believed«,38 Fawaz concurs. Beginning with Marvel’s new characters of the 1960s, such as The Fantastic Four, Spider-Man, the Incredible Hulk, and the X-Men, American su- perheroes prominently transformed into »physically and psychologically unstable beings, their bodies seeming to switch genders through an array of anatomical metamorphoses or appearing incapable of performing the proper sexual functions of heterosexual masculinity«.39 Female superheroes of the 1960s, evoking the vis- ual aesthetics of contemporary feminism and gay liberation, began to elude »tradi- tional models of sex and gender«40 and thus demonstrated the ability of super- heroines to serve as politically progressive role models in a genre associated with a conservative gender ideology. The bodies of superheroes thus represent socially significant fantasies rather than life-like depictions. They offer a window into the imagination as well as a sense of prominent political attitudes at specific historical moments. Ironically, the growing realism of the past few decades – consider landmark publications such as Kurt Busiek and Alex Ross’s Marvels (1994) in addition to Waid and Ross’s King- dom Come – has not necessarily translated into more realistic depictions of gen- dered bodies. It seems that superhero comics have proven to be relatively re- sistant to the often-voiced demands to create more life-like and less sexualized 35 Ibid. 36 Bukatman: Matters of Gravity, p. 54. 37 Taylor: »He’s Gotta Be Strong«, p. 347–348. 38 Fawaz: The New Mutants, p. 17. 39 Ibid, 10. Lecker offers a queer reading of the X-Men in »›Why Can’t I Be Just Like Eve- ryone Else?‹«. 40 Fawaz: The New Mutants, p. 10. NAVIGATIONEN 22 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE BODIES IN TRANSITION renditions of the human body in popular culture. A recent study suggests that the exaggerated musculature of male superheroes and the bulging chests of female superheroines have become more extreme in the 2000s in comparison to earlier decades, with these and other »gender signifiers los[ing] all connection to real human bodies«.41 While this critique of contemporary comic book superheroes is certainly on point, we can amend the notion of the superhero as a hypersexualized (and also grotesque) product of contemporary culture with an understanding of the hypersexualization of the superhero body as the result of a series of comic- book specific narrative and aesthetic practices. Returning to Alaniz’s conception of the superbody as a site of overdeter- mined signification and thus a space for queering the figure of the superhero, we can link the emergence of such hypersexualized superbodies and the attending at- tempts to provide diverging body images to the participatory dynamics of the comic book: to the temporal overlap and mutual interdependence of production and reception. Fawaz suggests: »I see the interpretive possibilities of texts […] as emerging within a field of dynamic interactions and antagonisms between com- peting actors who exercise power in different ways that ultimately shape and pro- liferate multiple meanings and interpretive possibilities around a text«.42 The re- sulting authorization conflicts can be, and have historically been, socially and polit- ically productive.43 They have generated political positions on a range of issues by compelling producers and receivers to enter into a discourse about the body and its sexual orientations. Multiple meanings and interpretive possibilities emerge not just from the se- rial structure of superhero comics, but also from their sequential form. As Taylor reminds us: Reading the superbody is in many ways an attempt to understand a physiognomy that continually collapses and reforms itself from panel to panel, comic to comic, reader to reader. To a certain extent, the medium itself is conducive to unstable corporeal identities, which can be extended to the instability of gender construction and reinforce- ment.44 This implies that comics inherently queer any corporeal depiction and that they do so in at last two ways: through their narrative structure and through their abil- ity to draw »competing actors« into a »field of dynamic interaction«.45 As Bukat- man observes, the superbody »is obsessively centered upon« and fosters »a corpo- 41 Avery-Natale: »An Analysis of Embodiment«, p. 73. 42 Fawaz: The New Mutants, p. 23. 43 See Kelleter/Stein: »Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens«. 44 Taylor: »He’s Gotta Be Strong«, p. 348. 45 Fawaz: The New Mutants, p. 23. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 23 DANIEL STEIN real […] mapping of the subject into a cultural system«.46 The superbody, as Ala- niz puts it, »incarnates the anxieties and desires of the age«.47 3. NEGOTIATING SUPERHERO BODIES: LETTER COLUMNS In order to grasp the nature of these interactive mappings and incarnations, we may turn to the letter columns that began to appear in superhero comics in the late 1950s and early 1960s. This was a time when the popular understanding of the superhero body shifted to account for the biological misfits and social outcasts of the Marvel universe within a larger U.S. »culture of corporeality«.48 Fawaz coins the term »bodily fluxing«49 to capture this shift. »Both the qualities of bodily vulnerability and gender instability constituted the postwar superhero as a figure in continual flux«, he writes.50 Fluxability is understood as »a state of material and psychic becoming characterized by constant transition or change that consequent- ly orients one toward cultivating skills for negotiating (rather than exploiting) mul- tiple, contradictory identities and affiliations«.51 Such fluxability emerged as superhero comics attained a new participatory dimension through the introduction of letters pages and the ensuing discourse that brought together the perspectives of producers and consumers.52 It facilitat- ed a readerly practice that Fawaz calls »queer world-making«.53 This practice renders the superhero a site for readerly identification with the superbody and in- vites them to the serial construction of the world in which this body operates. Drawing on the work of Michael Warner and Lauren Berlant, Fawaz finds queer world-making in »instances when cultural products facilitate a space of public de- bate where dissenting voices can reshape the production and circulation of cul- ture and, in turn, publicize counternarratives to dominant ideologies«.54 It is ex- actly the complicity of »the aesthetic production of imaginative worlds and politi- cal practices that join creative production with social transformation«.55 The letter columns drew producers (mostly editors) and receivers (active readers) into a paratextual network in which they played the game of authoriza- tion, striving to exert interpretive and creative power over the past, present, and 46 Bukatman: Matters of Gravity, p. 49. 47 Alaniz: Death, Disability, and the Superhero, p. 18. 48 See Brandt: The Culture of Corporeality. 49 Fawaz: The New Mutants, p. 10, 12, 18. 50 Ibid, p. 10. 51 Ibid, p. 11. 52 See Stein: »Superhero Comics and the Authorizing Functions of the Comic Book Par- atext«. 53 Fawaz: The New Mutants, p. xvii, 14–15. 54 Ibid, p. 14. 55 Ibid. NAVIGATIONEN 24 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE BODIES IN TRANSITION future of a particular character, series, and publisher’s products.56 This develop- ment was part of a larger process that involved a transition from linear, largely self-enclosed and self-contained stories, to multilinear and interlaced narratives.57 Here, individual characters began to embody officially endorsed heteronormative identities alongside unofficially acknowledged queer histories that co-evolved in a dialectic relationship in which queer interpretations of figures like Batman author- ized rather than subverted the heterosexual surface narrative of DC’s ongoing productions. My analysis focuses on the letter columns as a »serial historiography«58 that encapsulates shifting conceptions of gender and sexual orientation. I turn to ex- amples from the late 1980s and the early 1990s, when the original Comics Code from the 1950s was loosened, when the first major gay superheroes appeared, and when letter columns had not yet been supplanted by online communication. In reaction to a nation-wide hysteria and advocacy against comics as harmful read- ing matter for the young, the Comics Code Authority (founded in 1954) long reg- ulated what comic books could show and what not: »Illicit sex relations are nei- ther to be hinted at nor portrayed. Violent love scenes, as well as sexual abnor- malities are unacceptable. […] Sex perversion or any inference to the same is strictly forbidden«,59 the original code mandated. It thus forbade any depiction of bodies in sexual action and any images of homosexual encounter. This enforced a binary view according to which there were socially sanctioned and illicit sexual re- lations, sexual normality and sexual abnormality, as well as straight and perverted sexualities.60 The revised code of 1989 declared: »Scenes and dialogue involving adult rela- tionships will be presented with good taste, sensitivity, and in a manner which will be considered acceptable by a mass audience. Primary human sexual characteris- tics will never be shown. Graphic sexual activity will never be depicted«.61 While superhero bodies had to remain largely desexualized according to these require- ments, homosexual and transgender identities could now be depicted. Such new narrative possibilities, however, did not led to an immediate and wholehearted queering of the superhero, even though DC had already included an unouted les- bian side character in the Superman comics, the police captain Maggie Sawyer. Marvel’s mutant superhero Northstar (by Scott Lobdell/Mark Pacella), on the contrary, came out of the closet in 1992 (Alpha Flight #106), but he essentially served as a »good gay« and »gay redeemer« figure62 and remained largely asexual. 56 Stein: »Superhero Comics and the Authorizing Functions of the Comic Book Paratext«. 57 See Kelleter/Stein: »Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens«. 58 Bolling: »The U.S. HIV/AIDS Crisis«, p. 204. 59 Qtd. in Kvaran: »SuperGay«, p. 144. 60 See Brooker: Batman Unmasked, ch. 2, for further contextualization. 61 Qtd. in Nyberg: Seal of Approval, p. 178. 62 Bolling: »The U.S. HIV/AIDS Crisis«, p. 212. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 25 DANIEL STEIN His body was implausibly muscular in typical superhero fashion. More important- ly, Northstar contracted a mysterious illness that many readers associated with HIV/Aids but that was never acknowledged as such. This disease caused his body to decay, marking the homosexual body as a disease-prone vessel that registers the frailty of hypermasculine fantasies associated with the superbody but also ste- reotypes the homosexual body as the heterosexual’s inferior, and thus more vul- nerable, Other.63 Rather than focus on a single comic book or one specific superhero, I trace a discourse that unfolds across several comics, including Marvel’s Alpha Flight (Northstar) and DC’s The Flash (the Pied Piper), and exemplifies both the serial and the political nature of authorization conflicts. The letter columns showed con- troversial reactions to the implied or explicit homosexuality of these characters, even though the majority of responses were positive.64 Typical are comments that attribute a real-world relevance to these comics, turning them into sites of overdetermined signification by demanding that the experiences of fictional char- acters must satisfy the demands of the genre as well as correspond to the letter writers’ views of the world outside of the texts. One letter writer applauded the depiction of »gays as real people«,65 while another maintained: »readers (as well as many artists, writers and … editors) want to see comics reflect the real world a bit more«.66 Another reader self-identified as gay and praised the writers and artists for creating »a character who reflects the reality of my life«.67 Reminding comic book producers of the stake their audience had in the stories, one reader commended DC for »acknowledging the gay population and the gay comic read- er«.68 Yet other letter writers identified the introduction of gay superheroes as part of the comic’s achievements, suggesting that it added »depth« to a character or created a character who »does not have a problem dealing with his sexuali- ty«.69 In some cases, readers demanded that the writers and artists provide more information about a character’s life as a gay person,70 yearning for complex char- acters whose queerness was less a burden than a source of pride. All of these statements foreground the fact that the superhero’s audiences were far from ho- 63 According to De Dauw, gay characters like Wiccan and Hulkling of Marvel’s Young Avengers series (2004–2015) »enact homonormativity as a way to gain social acceptance and reinscribe stereotypical gender roles« (»Homonormativity in Marvel’s Young Avengers«, p. 1). 64 See Franklin: »Coming Out in Comic Books«, p. 236. The following analysis takes its ex- amples from Franklin’s corpus. For further analysis, see Bolling: »Queer Conversations«. 65 Ibid, p.228. 66 Ibid, p. 243. 67 Ibid, p. 240. 68 Ibid, p. 238. 69 Ibid, p. 226, 240. 70 See ibid, p. 230. NAVIGATIONEN 26 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE BODIES IN TRANSITION mogenous and that they approached these comics with different horizons of ex- pectations. Responses generally came from both pro- and anti-gay positions. Proponents of the anti-gay perspective complained about comics becoming »an arena for ho- mosexual propaganda« rather than remaining a source of entertainment and about the creators »preach[ing their] view of morality«.71 One religious reader denounced the depiction of »a homo sin lifestyle«, but the editors sided with the pro-gay perspective, advocating tolerance, diversity, and respect in order to re- fute the more incendiary and homophobic statements.72 Pro-gay readers stressed the larger social and political significance of gay superheroes, emphasizing DC’s »courage to step beyond safe and comfortable issues and storylines« and suggest- ing that characters like Northstar would force »straight people […] to make room for homosexuality in their ›straight‹ morality«.73 At least a few readers criticized storylines such as Green Arrow #5 (Dennis O’Neill, Neal Adams, Bernie Wright- son, Cory Adams; Feb. 1984) for presenting »a nice gay couple – two harmless loving men«74 and for missing the opportunity to thoroughly queer these charac- ters. A major bone of contention was the potential of the gay superhero as a role model. Pro-gay readers interpreted the role model function as important espe- cially for young readers, some of whom would have been struggling with coming to terms with their own (homo)sexuality and all of whom could benefit from a more open-minded view of sexual difference. As one reader acknowledged, »I believe the world is in need of more open minds«, even though he dismissed Northstar because »[a] comic is supposed to tell the story of heroic people and their lives« and confessed that he could not »look up to people who can’t follow the natural pattern of sexual conduct«.75 Branding homosexuality as unnatural re- lies, of course, on an essentialist binary that deems some sexual preferences natu- ral and pathologizes others as unnatural. It further subscribes to a quasi-biological logic since the notion of »natural sexual conduct«76 misrecognizes the superhero as a monolithic figure, a static construct whose meanings can be fixed in a cen- tripetal move, instead of as a polysemic and intensely malleable figure whose cen- trifugal tendencies have made it a central element of the global, and increasingly digitally mediated, imagination.77 As one reader noted, »Not all gay men are ef- feminate and not all lesbians are masculine«,78 recalling Butler’s notion of gender 71 Ibid, p. 240. 72 See ibid, p. 241, 243. 73 Ibid, p. 238, 235. 74 Ibid, p. 232. 75 Ibid, p. 235. 76 Ibid. 77 See Stein: »Mummified Objects«. 78 Franklin: »Coming Out in Comic Books«, p. 240. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 27 DANIEL STEIN and sexuality as performative acts. Here, binary distinctions are being called into question, gender and sexual orientation are marked as performative, and a queer sense of the superbody emerges. 4. CONCLUSION: THE QUEER CASE OF THE BATMAN The queering of the comic book superhero has been described as a evolution de- velopment from ›implied‹ to ›actual‹«79 gay characters and »from the perceived homosexual subtext of early superhero comics [to] the increasingly normative in- clusion of gay and lesbian characters into well-known contemporary franchises such as X-Men and Batman«.80 A recent example of this trend is the bi-sexual mu- tant Rictor (Julian Richter) from Peter David’s X-Factor run, whose initially clan- destine romance with fellow superhero Shatterstar culminated in »the first on- panel kiss between two major male superhero characters«81 (X-Factor #45, June 2009) in the history of the genre. Queer superhero interpretations began in the late 1940s and 1950s with the debate about Batman and Robin’s potentially homosexual relationship. Batman’s associations with homosexuality persist until this day, even though the character has never been officially acknowledged as gay in his mainstream continuity. »[T]he question of Batman’s sexual identity has permeated discourse surrounding the character since the 1950s«,82 Jenée Wilde notes.83 This question gained new force through Batwoman’s lesbianism in DC’s 52 storylines (since 2011) and the result- ing tension between Batman’s static (some would even say fascist) iconography as the dark knight, whose hypermascular and hypermasculine body is increasingly enhanced by various kinds of body armor (especially in the movies), and the popular demand for a more fluxible, queer superhero. Batman may thus serve as an instructive case study and a compelling conclu- sion to my analysis of the queering of the comic book superhero. It is impossible to account for the rich history of Batman as a potentially queer figure, which is why I will focus on select moments in which the figure’s popular body politics shifted. The story begins in the mid-1950s with Wertham’s Seduction of the Inno- cent, which argued that comics set harmful standards for juvenile readers. One of Wertham’s targets was Batman, whose relationship with his ward Dick Grayson as his sidekick Robin he singled out for criticism. As one of his major examples, he 79 Schott: »From Fan Appropriation to Industry Re-appropriation«, p. 17. 80 Kvaran: »SuperGay«, p. 142. 81 McKenzie: »Peter David’s ›X-Factor‹«, n. pag. 82 Wilde: »Queer Matters in The Dark Knight Returns«, p. 110. 83 See also Linck: »Batman & Robin« and »Batman & Robin als ›verlässliche Referenz‹«. Scottish comics writer Grant Morrison noted to Playboy: »Gayness is built into Batman. I’m not using gay in the pejorative sense, but Batman is very, very gay. There’s just no denying it. Obviously as a fictional character he’s intended to be heterosexual, but the basis of the whole concept is utterly gay« (qtd. in Edwards »The Super Psyche«, n. pag.). NAVIGATIONEN 28 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE BODIES IN TRANSITION cites a scene from »Ten Nights of Fear!« (David Vern Reed, Sheldon Moldoff, Charles Paris, Pat Gordon; Batman #84, 6/1954) that depicts Bruce Wayne and Dick Grayson waking up in bed together, talking about taking a shower and re- pairing the Batmobile. Wertham concluded that »[t]he Batman type of story may stimulate children to homosexual fantasies« because it exuded a »subtle atmos- phere of homoeroticism« and presented Batman and Robin’s life as »a wish dream of two homosexuals living together«.84 Significantly, Wertham focuses on the civil- ian identities and uncostumed bodies of Bruce and Dick as they are shown in an everyday situation, and not on their muscular bodies in tights when they went to work saving Gotham from harm. By downplaying the fantastic conceit of the nar- rative and proposing a close link between the reality of the fictional world and the reality outside of the text, he reduces the interpretive possibilities these stories offer, choosing to concentrate on one possible interpretation (offered to him by some of the comic book readers he had interviewed) at the expense of others. Yet in his analysis of Wertham’s argument, Will Brooker suggests that homoerotic readings of these comics are not at all implausible if we consider Batman and Rob- in’s close emotional bond, the presence of melodramatic plotlines in which one of them yearns for the other’s safety, and the split between their public roles as crime fighters and their private lives at Wayne Manor. An earlier scene from World’s Finest #59 (7/1952), for instance, portrayed Bruce Wayne and Dick Grayson lying nude, with only a towel covering their midsections, on tanning beds. Scenes such as this enable a homosexual or homoerotic gaze and support Brooker’s assertion that the two characters »can feasibly be read as ›gay‹«.85 DC Comics responded to Wertham’s criticism and the public outcry it caused with efforts to de-homosexualize and re-heterosexualize Batman.86 One of the solutions may have been the introduction of Batwoman in 1956, who served as Batman’s potential heterosexual love interest in order to »ward off fur- ther charges of homosexuality«.87 But Wertham’s challenge to Batman’s sexuality could not be that easily controlled, especially since Batman and Robin repeatedly thwart any heterosexual romantic advances and remain loyal only to each other. Moreover, as Brooker shows, Batman has evoked as much homophobic criticism as he has motivated queer readings.88 These positions create a »dialectical ten- sion« between Batman’s officially mandated »normative heterosexuality« and the many unofficial expressions of »its perceived antithesis, homosexuality«,89 both of 84 Wertham qtd. in Kvaran: »SuperGay«, p. 143–144. 85 Brooker: Batman Unmasked, p. 110. 86 See Medhurst: »Batman, Deviance and Camp«, p. 159; Lendrum: »The Gay Superhero in Contemporary Mainstream Comic Books«, p. 70. 87 Boichel: »Batman: Commodity as Myth«, p. 13; for a different take, see Brooker: Bat- man Unmasked, p. 146–147. 88 See Brooker: Batman Unmasked, p. 102. See also York: »All in the Family«. 89 Wilde: »Queer Matters in The Dark Knight Returns«, p. 111. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 29 DANIEL STEIN which facilitate the popular status of this iconic figure and ensure its ongoing pur- chase on audiences in and beyond the United States. Batman and Robin’s »continuing homoerotic legacy«90 entails the ABC televi- sion series (1966–1968) starring Adam West, whose camp aesthetics and over- the-top dialogue fed into gay readings of the Batman.91 The legacy carried on into the 1980s and 1990s, when director Joel Schumacher’s two Batman films (Batman Forever, 1995; Batman & Robin, 1997) played up the homoerotic angle through the infamous nipple suits, codpieces, and butt/crotch shots, much to the chagrin of many fans and commentators. Batman’s alleged homosexuality had already been the subject of controversy a decade earlier, when Frank Miller reinvented the character in the four-issue miniseries and later graphic novel The Dark Knight Re- turns (1986). In an interview published after its initial publication, Miller asserted: »Batman isn’t gay. His sexual urges are so drastically sublimated into crime- fighting that there’s no room for any other emotional activity«.92 The Dark Knight Returns as well as the sequels The Dark Knight Strikes Again (2001–2002) and The Dark Knight: Master Race (2015–2017) envision an aged Batman of a massive build and angular stature whose physical attributes do not readily sanction any gay in- terpretation. In addition, Miller creates a female Robin (Carrie Kelley) to stay clear of the homoerotic legacy of his hero. Here, Batman appears as a queer fig- ure mostly because he fails to adhere to the body ideals of his previous incarna- tions and of the superhero more generally. But even these aesthetic and narrative decisions cannot escape the pull of the heterosexual/homosexual dialectic, toward which Miller himself gestures when he queers the relationship between Batman and Two-Face (Harvey Dent) in The Drak Knight Returns: »We tumble like lovers«, Batman thinks as he battles Two-Face, suggesting »homosocial bonds«93 between these two characters. Miller’s revisionary depiction of Batman sanctioned a host of other revisions and changes in the character’s physical appearance – certainly too many to discuss here. In Greg Rucka and J.H. Williams III’s Batwoman: Elegy (2009–2010), to pick a relatively recent example, Batwoman functions as an extension of Batman: as part of his proliferation into different forms and guises and as a gender-bending version of the dark knight. Batwoman: Elegy queers Batwoman (Kate Kane) in ways that differ from her largely conventional depiction as a lesbian superheroine in DC’s 52 series by choosing a different approach to the depiction of the character’s body and sexuality.94 As Paul Petrovic maintains, Batwoman: Elegy not only queers its main character by foregrounding her lesbianism and her non-normative embodi- 90 Tipton: »Gender Trouble«, p. 324. 91 See Medhurst: »Batman, Deviance and Camp«. 92 Sharrett: »Batman and the Twilight of the Idols«, p. 38. 93 Wilde: »Queer Matters in The Dark Knight Returns«, p. 117. 94 See Petrovic: »Queer Resistance, Gender Performance, and ›Coming Out‹«, p. 67–68. NAVIGATIONEN 30 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE BODIES IN TRANSITION ment of femininity, but it does so by »queer[ing] comics’ normative design«:95 by expressing the »fluidity of gender«96 through unconventional page layout and de- sign, such as Kate Kane’s frequent crossing of panel borders and the juxtaposition of different art styles.97 Whether Petrovic is right to diagnose a wholesale desexu- alization and deconstruction of the hyperfeminine98 remains open to debate, but Batwoman’s physical appearance obviously deviates from the near-pornographic, scantily clad, mega-chested bodies of many other contemporary superheroines. What can we conclude from all of this? And how can we make productive Wilde’s point that »the relevant question is not whether or not Batman is gay; ra- ther, the more interesting and important question is why comic book fans and pop culture at large insist on nailing down a sexual identity for Batman at all – be it straight, gay, or asexually repressed?«.99 Wilde moves from a preoccupation with Batman as a text to Batman as a node in a network of serial practices: as a popular narrative whose meanings are not simply dormant, waiting to be awakened by the reader and/or critic, but as a narrative whose meanings emerge from its ability to provoke controversy and sanction multiple readings. Moreover, the assumption that Batman is neither gay nor straight nor asexual reveals a queer figure in Sedg- wick’s sense: as a figure uncontainable by a single, definite sexual identity. Popular serial narratives generally work according to a dialectics of prolifera- tion and sprawl, on the one hand, and containment and control, on the other.100 These narratives must create room for alternative readings and enable divergent interpretations to maintain relevance for large and diverse audiences. Batman’s popular potential is greater when his sexuality remains unresolved because this turns him from a static and monolithic character into a flexible and polymorphous – and thus an essentially queer – figure that can traverse different stories across media without being bound to a single sexual identity or body type. Reading Bat- man’s corporeal and sexual histories through this lens, it makes sense that Nathan G. Tipton discovers an »anxiety of potentiality«101 in Batman’s ambiguous sexual identity.102 If this anxiety were overcome, Batman would become closed-off as a site of public discourse about the body, and this would take away much of the character’s accumulated complexity and much of its relevance as a site of popular 95 Ibid. 96 Ibid. 97 See ibid. Gilroy reads Batwoman: Elegy as constructing »an inherently performative, queer notion of identity and subject [… t]hrough complex art styles and the metatextual play of narrative« (»The Epistemology of the Phone Booth«, n. pag.). 98 See Petrovic: »Queer Resistance, Gender Performance, and ›Coming Out‹«, p. 69. 99 Wilde: »Queer Matters in The Dark Knight Returns«, p. 104. 100 This is a central argument in Stein: Authorizing Superhero Comics. 101 Tipton: »Gender Trouble«, p. 323. 102 On »queer anxieties« and processes of »narrative straightening« in the relationship of superheroes with their sidekicks, see Shyminsky: »›Gay‹ Sidekicks«. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 31 DANIEL STEIN body politics. If it were completely unfixed, however, Batman would become an arbitrary signifier with a reduced capability to perform the kind of popular body politics I have described.103 In fact, the queering of the superhero, of which Bat- man is a particularly instructive example, is inherently connected with the work- ings of the inherent instabilities of serial narrative and their attending authorization conflicts.104 We are dealing with a dialectic of reassurance and irritation (also of tension and release, suspense and resolution) that recalls Umberto Eco’s work on serial storytelling105 and directs our attention to the negotiated, fluxible relation- ship between (homo)sexuality and seriality. Where Jeffrey S. Lang and Patrick Trimble argue that »[s]exual renunciation and serialization made it possible to move from adventure to adventure without need for normal human relation- ships«,106 Fawaz offers a more positive view of the interconnection between su- perhero comics’ »open-ended political projects« and their modus operandi as »open-ended serialized narratives«,107 highlighting the potential for change rather than the power of the status quo and privileging queer openness over heter- onormative closure. In the early 1970s, Reinhold Reitberger and Wolfgang Fuchs noted that »[s]uper-heroes as well as supervillains seem to have absolutely nothing to show underneath their tight-fitting tights; they all appear to be poor androgynous beings – hermaphrodites who lack the primary sexual organs«.108 This conspicuous ab- sence of sexual organs has functioned as a gap in the storytelling that triggers au- thorial and readerly investments with the evolving serial text, its paratextual sur- roundings, and its transgeneric and transmedia proliferations.109 Those who want to argue that depictions of the superhero body and its sexual orientations have changed substantially over the past few decades would have to explain why this almost half-a-century-old assessment still rings true today. Of course, quite a number of superheroes have by now engaged in sexual activities, including gay and lesbian relationships. Both Marvel and DC now feature transgender charac- 103 For a related argument, see Brooker: »Hero of the Beach«. Uricchio and Pearson read Batman as »floating signifier« (»I’m not Fooled by That Cheap Disguise«, p. 182). »[T]he Batman has no primary urtext set in a specific period«, they suggest, »but has rather ex- isted in a plethora of equally valid texts«, with the absence of an »authoritative reposito- ry« that produces »an ongoing and potentially endless stream of new texts«. If »[n]either author, nor medium, nor primary text, nor time period defines the Batman«, then »a set of key components […] becomes the primary marker of Batman texts« (ibid, p. 185). The fluidity of these components and »[t]he very nature of the Batman’s textual exist- ence reveal […] an impulse toward fragmentation« (ibid, p. 184). 104 See Stein: »Unzuverlässiges Erzählen in Superheldencomics«. 105 See Eco: The Limits of Interpretation. 106 Lang/Trimble: »Whatever Happened to the Man of Tomorrow?«, p. 162. 107 Fawaz: The New Mutants, p. 15, 18. 108 Qtd. in Kvaran: »SuperGay«, p. 145. 109 See Stein: »Gaps as Significant Absences«. NAVIGATIONEN 32 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE BODIES IN TRANSITION ters (the recurring bisexual side character Alysia Yeoh in DC’s Batgirl; the super- hero Chalice in Marvel’s Alters series). So today, the superhero body can certainly be »asexual and homosexual, heterosexual and hermaphroditic«.110 But its politi- cally most potent – though certainly not always realized – potential is that it can be all of these things at once: that it can be, and perhaps always has been, queer. 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The Kids Are All Right (2010) und Concussion (2013) V O N U T A F E N S K E ABSTRACT Der Beitrag analysiert am Beispiel der lesbischen (Familien)Filme The Kids Are All Right (Lisa Cholodenko, 2010) und Concussion (Stacie Passon, 2013) Populärkultur als Feld der Auseinandersetzung um Gender und Sexualität. Dabei wird mit den Cultural Studies sowohl die filmische Ebene als auch die Rezeption der Filme im Spannungsfeld von Bürgerlichkeit und queeren Lebensweisen untersucht. 1. EINLEITUNG We expected it to be bad, given Jack Halberstam’s review here and other reports. But we had no idea how bad. […] Congratulations to Lisa Cholodenko for this entry in the lesbian horror genre! […] I was shocked, shocked at the terrible direction of this film. Not just the script, but Lisa Cholodenko’s direction was, I can only say, absolutely vile.1 Mehr Verriss geht nicht. Der Film, den Lisa Duggan in ihrem Blogbeitrag so emo- tional kritisiert, ist The Kids Are All Right (2010) von Lisa Cholodenko. Eine Komö- die über eine Regenbogenfamilie, die bei ihrer Premiere auf dem Sundance Film Festival, dem Festival des Independentfilms, 2010 begeistert gefeiert und in der Folge mit wichtigen Branchenpreisen ausgezeichnet wird: Auf der 60. Berlinale gewinnt sie den Teddy Award; 2011 den Golden Globe für den Besten Film in der Kategorie Komödie/Musical sowie Annette Bening den Golden Globe als Beste Hauptdarstellerin. Auch für die Academy Awards wird der Film 2011 gleich vier- mal nominiert,2 geht jedoch bei der Verleihung der Oscars leer aus, was zumin- dest aus Gender Perspektive für die Kategorie Bester Film nicht überraschend ist. Denn seit Filme mit den Academy Awards geehrt werden, also seit 1927, hat in dieser Kategorie nur ein einziges Mal eine Regisseurin einen Oscar gewonnen und zwar Kathryn Bigelow 2010 mit dem Irakkriegsdrama Hurt Locker − also einem männlichen Genre. Dass eine von einer lesbischen Regisseurin gedrehte Familien- 1 Duggan, Lisa: »ONLY The Kids Are All Right«. 2 The Kids Are All Right wurde in den Kategorien Bester Film, Bestes Drehbuch (Lisa Cho- lodenko und Stuart Blumberg), Beste Hauptdarstellerin (Annette Bening) und Bester Nebendarsteller (Mark Ruffalo) nominiert. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE UTA FENSKE komödie, die um die Sorgen und Freuden einer Regenbogenfamilie mit zwei Müt- tern kreist, den begehrtesten amerikanischen Filmpreis gewinnt, ist in Hollywood bis dato nicht möglich. The Kids Are All Right ist ein gutes Beispiel dafür, dass Filme und Texte der Populärkultur different bis widersprüchlich bewertet werden. Das liegt nicht zu- letzt daran, dass Kritiker*innen und Zuschauer*innen immer Teil einer bestimm- ten sozialen Konstellation sind. Keineswegs sind sie eine passive Masse, die von einem Medientext beherrscht wird eine Konzeption, wie sie die in den 1970er Jahren virulente Screen-Theorie postulierte, die das Kino als ideologischen Appa- rat ansah, der aufgrund seiner industriellen und technischen Verfasstheit die Wer- te der dominanten Kultur transportiere. Sie sind vielmehr Subjekte, die im Akt der Rezeption selbst aktiv werden. Stuart Hall hat in seinem einflussreichen Text Encoding/Decoding bereits 1973 ein Modell dreier hypothetischer Zuschau- er*innenpositionen vorgestellt. Ausschlaggebend dafür, welche Lesart ausgewählt wird, ist für Hall, ausgehend von den British Cultural Studies, die soziale Klasse.3 Dieses insgesamt etwas statische, ausschließlich auf Klassen bezogene System, ist seither verschiedentlich modifiziert worden, insbesondere John Fiske hat darauf aufmerksam gemacht, dass Medientexte, wenn sie erfolgreich sein wollen, »offen und polysem sein müssen, damit die verschiedenen Gruppen und Kulturen Be- deutungen und Energien austauschen sowie gewinnen können, die ihren jeweili- gen Identitäten entgegenkommen«.4 Damit wird jedoch keiner Beliebigkeit das Wort geredet, da die in den Medientexten vorkommenden strukturierenden Elemente (die Dekodierungsmuster) die Interpretationsmöglichkeiten genauso bedingen wie die sozialen Faktoren, durch die die Zuschauer*innen positioniert sind. Ich gehe mit den Cultural Studies davon aus, dass sich die Bedeutung eines medialen Textes und die Art und Weise, wie er mit der Gesellschaft interagiert, zum guten Teil erst »durch die Berücksichtigung der sozialen Kontexte, in denen er rezipiert und interpretiert wird«, erschließt.5 Die heftige Reaktion von Lisa Duggan und ihr Vorwurf, dass die Komödie nicht nur plakative, heteronormative Karikaturen von Lesben zeichne, sondern auch rassistisch sei, findet ihre Ursache ohne Frage in ihrem queer-feministischen akademischen Kontext. Mit anderen Worten: Populärkultur stellt offensichtlich »ein Feld der Auseinandersetzung« dar,6 was natürlich auch für Geschlechterkonstrukte gilt, deren Normen und Vor- stellungen in populärkulturellen Praktiken und Medientexten beständig (mit)verhandelt werden. Dabei bewegt sich Populärkultur immer im ambivalenten »Spannungsfeld von Affirmation und Subversion«.7 Affirmation und Subversion 3 Hall: »Kodieren/Dekodieren«. 4 Winter: »Die Kunst des Eigensinns«, S. 173. 5 Winter: »Filmanalyse in der Perspektive der Cultural Studies«, S. 156. 6 Villa: »Banale Kämpfe?«, S. 8. 7 Kleiner (2013) zit. nach Pilipets/Winter: »Mainstream und Subkulturen«, S. 284. NAVIGATIONEN 40 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE FAMILIE QUEEREN? sind nun allgemeine Begriffe, die immer von einer deutlich hegemonialen Norm- vorstellung ausgehen. In pluralistischen Gesellschaften existieren jedoch viele Le- bensweisen und damit einhergehend auch verschiedene Normgefüge nebenei- nander. Sie konkurrieren miteinander und beeinflussen sich gegenseitig. Die Be- griffe Affirmation und Subversion dürfen folglich nicht als ausschließlich verstanden werden. So ist verschiedentlich überzeugend herausgearbeitet worden, dass populärkulturelle Repräsentation und Praktiken nicht entweder af- firmativ oder subversiv sein können. Der Verweisungscharakter, die Iterabilität und Mehrdeutigkeit populärkultureller Zeichen als Voraus- setzung von Populärkultur auf der einen Seite und die prinzipielle Unmöglichkeit, Sinn auf bestimmte Weise zu fixieren auf der anderen Seite sind es, die zugleich die Grundlage dafür liefern, dass sich Brüche und Widersprüche herausarbeiten lassen, die Eindeutigkeiten und Feststellungen irritieren.8 Diese Brüche und Widersprüche, man kann auch von Irritationen sprechen, kön- nen auf verschiedenen Ebenen der populärkulturellen Produkte untersucht wer- den. Zunächst auf der Ebene des Films selbst – sowohl inhaltlich als auch durch die gewählte Ästhetik, die die affektive Wirkung von Filmen maßgeblich bestimmt – , und zweitens durch die Rezeption. Der folgende Beitrag untersucht beide Ebenen in zwei Filmen, die man probeweise als queere (Familien)Filme lesen kann. The Kids Are All Right (Lisa Cholodenko, 2010) und Concussion (Stacie Pas- son, 2013) kreisen beide um lesbische Familien. Damit stellen sie auch in diesem Zusammenhang eine Ausnahme dar, denn erstaunlicherweise haben Regenbogen- familien in Film und Fernsehen meistens schwule Väter.9 The Kids Are All Right ist der erste Film, der eine lesbische Regenbogenfamilie thematisiert und ein Mainstreampublikum anspricht. Concussion ist ebenfalls eine Independent Produktion, allerdings steht in diesem Film weniger das Familienle- ben im Zentrum, sondern die Langeweile des Lebens als Hausfrau und Mutter, die eine der Protagonistinnen dazu treibt, dieses Leben durch Sexarbeit spannen- der zu machen. Sie werden in diesem Beitrag als Texte untersucht, deren Dar- stellung von Geschlecht und Queerness mit gesellschaftlich existierenden Ge- schlechterbildern in einer Austauschbeziehung verwoben ist. Geht man davon aus, dass die Filme mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht und Queerness interagieren, ist es spannend danach zu fragen, in welche Vorstellun- gen sie intervenieren – bürgerlich-heteronormative, feministische, queer- ästhetische oder queere? 8 Thomas: »Zwischen Konformität und Widerständigkeit«, S. 216. (Herv. im Org.). 9 Z. B. schon 1988 Torch Song Trilogy (Paul Bogart). Aber vor allem die zeitgenössischen TV-Serien Brothers and Sisters (2002-2011), Modern Family (2009-) und The New Normal (2012-2013). NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 41 UTA FENSKE Man könnte nun annehmen, dass Filme, die die zentrale Konstellation der Kleinfamilie, nämlich die Triade von Vater, Mutter, Kind nicht bedienen, auch das Selbstverständnis der bürgerlichen Kleinfamilie verändern. Wird im queeren (Fa- milien)Film also das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie und seine Grundlage, die Heteronormativität, zur Disposition gestellt? Wird einer neuen Homonormativität das Wort geredet? Mit diesem von Lisa Duggan bereits Anfang der 2000er Jahre geprägten Begriff, wird der neoliberale Zeitgeist bezeichnet, nach dem bestehen- de heteronormative Annahmen und Institutionen nicht länger in Frage gestellt werden und stattdessen eine unpolitische private Homosexualität, auf Konsum und Häuslichkeit beruhend, gelebt wird.10 In Hinblick auf The Kids Are All Right ist es außerdem von Interesse, welche Rolle Vaterschaft in einem queeren Familien- modell spielt, da diese Position durch den Bio-Vater nicht zwingend vorgesehen ist. 2. THE KIDS ARE ALL RIGHT (2010) Die für vier Millionen Dollar unabhängig produzierte Komödie, besetzt mit einem A-Cast, erzählt aus dem Leben einer lesbischen Regenbogenfamilie in Los Angeles und zwar ab genau jenem Moment, als das heile Familienleben massiv ins Wanken gerät, weil die jugendlichen Kinder Joni (Mia Wasikowska) und Laser (Josh Hut- cherson) ihren Samenspender Paul (Mark Ruffalo) ausfindig machen. Die Mütter Nic (Annette Benning) und Jules (Julianne Moore) lassen sie sich darauf ein, ihn ein Stück weit in das Familienleben zu lassen − allerdings mit der Absicht, ihn dadurch kontrollieren zu können. Jules selbst gelingt es dann jedoch nicht, ihre ei- genen Gefühle zu kontrollieren, sie beginnt eine Affäre mit ihm, die fast ihre Be- ziehung zu Nic – und damit die Familie − sprengt. Letztlich aber trennen sich Jules und Paul, nachdem die Affäre ans Licht gekommen ist, und Nic und Jules versuchen einen Neuanfang. The Kids Are All Right vertritt also die bürgerlichen family values, allerdings in nicht-heteronormativer Verpackung. Der Film kreist ei- nerseits um die Frage, ob Paul, viele Jahre, nachdem er seinen Samen gespendet hat, Zugang zu der Familie findet, andererseits um die Routine der Langzeitbezie- hung. Nic, Jules, Joni und Laser sind das Abbild der perfekten Hollywoodfamilie: Weiße, obere Mittelschicht, wohlerzogene Kinder, ein Eigenheim, zwei Autos und genügend Geld, um in einer gepflegten Suburb zu leben. Die Mütter sind etwas zu fürsorglich; die Kinder lassen das aber weitgehend über sich ergehen. Der Vor- spann setzt die Agenda des Films: Wir sehen Laser, der mit seinem Freund Clay (Eddie Hassell) auf den sonnigen Straßen von Los Angeles Rad bzw. Skateboard fährt, wobei letzterer im jugendlichen Übermut Mülltonnen umwirft. Bei Clay zu- hause nehmen sie Drogen, raufen miteinander bis Clay halb im Spaß halb im Ernst mit seinem Vater kämpft, als sei das die selbstverständliche männliche Art mitei- 10 Duggan: »The New Homonormativity«, S. 179. NAVIGATIONEN 42 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE FAMILIE QUEEREN? nander umzugehen. Joni hingegen scrabbelt mit Freund*innen in ihrem Zimmer. Der Vorspann stellt Laser und Joni als ›gewöhnliche‹ Jugendliche vor, was in Hin- blick auf das Thema des Films sowie auf Gender gleichfalls aufschlussreich ist. Die kurze Szene mit Clays Vater deutet auf die Leerstelle in Lasers Leben, den feh- lenden Vater. In Bezug auf Gender wiederum nimmt The Kids Are All Right sehr klassische Zuordnungen vor. Der 15-jährige Laser ist sportlich und wild, während die zierliche Joni als brave Tochter eher intellektuelle Interessen hat. Die klassi- schen Genderzuschreibungen setzen sich mit der Einführung von Nic und Jules in fast schon grotesker Form fort: Beim gemeinsamen Abendessen nimmt Nic am Tisch den Platz vor Kopf ein, wodurch ihre Rolle als Familienoberhaupt markiert ist. Während Nic als Ärztin die Ernährerin der Familie ist, kümmert sich Jules um Kinder und Haushalt. Nic wird als zielstrebig und dominant charakterisiert. Sie besetzt also das, was als bürgerliche Vaterrolle angesehen wird. Unterstrichen wird diese Rolle durch ihr Äußeres als männlicherer Typ mit kurzen Haaren, mit Jeans, T-Shirt, Jackett oder Weste bekleidet und ihren Namen Nic, der sowohl männlich als auch weiblich sein könnte. Jules ist als Gegenpol dazu eher als Fem- me gezeichnet; sie ist langhaarig, nachgiebiger, schusselig und spontaner. Es überrascht, welch traditionelles Familienbild und Geschlechterverständnis in Szene gesetzt wird. Jules, Nic, Joni und Laser sind der Prototyp des 1950er Jah- re Kleinfamilienmodells, das die Idee des väterlichen Ernährers und der zuhause bleibenden Mutter impliziert – auch wenn diese Aufteilung von zwei Frauen vor- genommen wird. Nachfolgend soll deswegen die Familie genauer in den Blick ge- nommen werden und insbesondere die Frage nach der Figur des Vaters gestellt werden. Anschließend wird die Rolle der Sexualität zu untersuchen sein. Sowohl die Kinder als auch Jules fühlen sich zu Paul hingezogen. Denn Paul ist ein lässiger Typ, ein Macher. Als Mann mit Sex-Appeal führt er keine feste Bezie- hung, hat aber eine lockere Sexbeziehung mit seiner schwarzen Mitarbeiterin Tanya (Yaya Alafia). Den Kindern bietet er eine Position an, die weder von Nic noch von Jules eingenommen wird. Laser braucht Paul, um zu verstehen, warum jener seinen Samen gespendet hat. Aber mindestens genauso wichtig ist, dass er Lasers Bedürfnis nach einer männlichen Identifikationsfigur erfüllt. Für Joni fun- giert er als Gegenpol zum behüteten Zuhause. Veranschaulicht wird dies, als er sie abends mit dem Motorrad nach Hause fährt, das spätestens seit Easy Rider (1969) männliche Unabhängigkeit versinnbildlicht. Paul ist also genauso klischee- haft gezeichnet wie die Familie, er scheint der ›Andere‹ zur familiären Spießigkeit zu sein. Im Gegensatz dazu ist an der Inszenierung des Familienlebens der Kernfami- lie bemerkenswert, dass es sich ausschließlich im häuslichen Umfeld, also im Haus oder Garten abspielt. Dem Esstisch kommt dabei eine herausgehobene Funktion zu, zumindest wenn es sich um das Miteinander aller handelt. Andreas Bernard hat auf die Bedeutung der Familie bei Tisch als konventionelles Moment in popu- lären Darstellungen von Familien hingewiesen. Denn »das Bild der im Esszimmer versammelten Eltern und Kinder ist eine der großen Ikonen der Bürgerlichkeit im NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 43 UTA FENSKE 19. und frühen 20. Jahrhundert«.11 Es scheint, als wolle sich The Kids Are All Right in diese Tradition einschreiben, denn auch hier finden fast alle wichtigen Szenen des familiären Miteinanders dort statt. Das Gespräch darüber, dass die Kinder ih- ren Samenspender getroffen haben, der erste Besuch Pauls bei der Familie, der Gegenbesuch der Familie bei Paul. Und schließlich das letzte gemeinsame Abend- essen, bei dem der Haussegen schief hängt. Und trotzdem symbolisiert auch hier das gemeinsame Essen Zugehörigkeit vs. Ausgeschlossensein. Denn Paul wird hinausgeworfen. Ihm bleibt nur der sehnsuchtsvolle Blick durch das Fenster, von draußen aus dem Dunkel in das in warmes Licht getauchte Esszimmer. Selbst La- ser wendet sich ab. Aus dem potenziell väterlichen Freund ist ein Zuschauer bzw. Eindringling geworden. Und somit endet der Film wie viele Komödien, indem ein ›kollektiver Held‹ hervorgebracht wird, in diesem Falle ist es die Familie.12 Insofern soll auf die Frage zurückgekommen werden, wie Vatersein in die- sem Film verhandelt wird und was das für das Selbstverständnis von Familie be- deutet. Paul, der erst durch den Kontakt mit den von ihm gezeugten Kindern, den Wunsch verspürt, eine Familie zu haben, und gegen Filmende am liebsten Jules, Joni und Laser als seine Familie übernehmen würde, ist ein sorgloser unabhängi- ger Mann. Nic als weiblicher Vater hingegen verkörpert Sicherheit, Verlässlichkeit und Versorgertum. Sie erfüllt die klassischen US-amerikanischer Vaterschaft zu- geordneten Werte. Ihr Ziel ist es, die Familie zusammenzuhalten und zu beschüt- zen. Ihre Sorge »he is taking over my family« formuliert dies in aller Deutlichkeit. Das Filmende stellt dann die von ihr verkörperten Werte ins Recht, auch wenn Familie das ist, was gewachsen ist. Vatersein ist nicht mehr an die Existenz eines biologischen Mannes gekoppelt. Außerdem sollen die familiären Verhältnisse auch nicht durch die Gleichzeitigkeit biologischer und sozialer Vaterschaft verkompli- ziert werden. Dieses – bis auf das Fehlen eines Bio-Vaters – zugrunde gelegte Verständnis von Kleinfamilie ist heteronormativ. Bekräftigt wird diese Normativität noch dadurch, dass sich die Narration allein auf die Kernfamilie beschränkt. Queere Freund*innenkreise und Verwandtschaft spielen keine Rolle. Die Kehrseite dieser affirmativen Darstellung der Kleinfamilie ist, dass queere Lebensformen, die Hete- ronormativität und die damit verbundene gesellschaftliche Ordnung kritisieren, überhaupt nicht vorkommen. In diesem Sinne beklagt auch Suzanna Walters die […] de-gaying of gayness; the reliance on heteronormative gender paradigms so that the women are depicted as – really – just our neighbors down the street where daddy goes out to work and mom- my stays at home; the invisibility of lesbian culture and lesbian friends; 11 Bernard: »Kinder machen«, S. 474. 12 In der Regel ist dies das (heterosexuelle) Paar. Dieses Ende entspricht der integrieren- den Funktion der Genres Komödie und Melodrama, vgl. Rowe: »Comedy, Melodrama and Gender«. NAVIGATIONEN 44 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE FAMILIE QUEEREN? and the erasure of extended queer kinship networks that most of us do construct out of both need and desire.13 Die Gender-Normativität des Films wird durch die gleichermaßen normative Be- handlung von Sexualität noch unterstützt. Das Sexleben zwischen Jules und Nic existiert quasi nicht mehr. In einer Szene zu Beginn des Films, die unter der Bett- decke im Ehebett stattfindet und die Körper unseren Blicken vollkommen ent- zieht, versuchen sich Nic und Jules mit Hilfe eines Schwulenpornos und eines Vib- rators anzumachen, scheitern jedoch. Das überraschende Moment eines Schwu- lenpornos zur Stimulation lesbischer Sexualität, das mit den Erwartungen der Zu- schauer*innen spielt, dient genauso der Komik der Szene wie ihr Ende. Wegen des versehentlich lauter gestellten Fernsehgeräts und dem Stöhnen der Männer, das die Nicht-Erregung der Frauen betont, geben sie entnervt auf. Dann sehen wir Paul, der leidenschaftlichen Sex mit Tanya hat. Mag diese Gegenüberstellung auch hauptsächlich darauf verweisen, dass Langzeitbeziehungen ein Problem mit Begehren haben, während Affären zwar heißen Sex, aber keine Bindung bieten, stellt diese Inszenierung doch auch heterosexuelles Begehren lesbischem Begeh- ren gegenüber, wobei heterosexuelles Begehren gewinnt. Noch offensichtlicher wird dies durch die Affäre zwischen Paul und Jules. Im Gegensatz zu Nic und Jules, brauchen Paul und Jules dafür keine »Hilfsmittel«, da Paul das zu bieten hat, was für erfüllten Sex anscheinend unabdingbar ist: einen Penis. Der Film greift also das aus heterozentrischer Perspektive bestehende Rät- sel der lesbischen Sexualität auf, nämlich »wie haben Lesben ohne Penis Sex?« und kontrastiert lesbische und heterosexuelle Sexualität. Auch wenn dies vor dem Plot Langzeitbeziehung contra Affäre geschieht, bleibt doch der Gesamteindruck, dass allein heterosexuelle Praktiken lustvoll seien. Dies mag der Tatsache ge- schuldet sein, dass der Film, der zwar unabhängig produziert wurde, sich dennoch an ein Mainstream-Publikum richtet und dessen Erwartungen bedienen muss, um erfolgreich zu sein. Jack Halberstam hat die Darstellung lesbischer Sexualität auf- grund ihrer Klischeehaftigkeit in dem Blog Bully Bloggers der akademisch-queeren Community heftig kritisiert, was dort Zustimmung fand. I am not saying that the lesbian relationship should have been positive and male heterosexuality should have been slammed – but I am saying that Cholodenko is working the well-worn grooves of the cinematic depiction of lesbian desire as a flickering flame always on the verge of extinction and of lesbian-male rivalry as always a mismatch.14 Damit spricht Halberstam einen Konflikt der Repräsentationspolitiken von Min- derheiten an, nämlich wie ein Gegenentwurf zum hegemonialen Hollywoodkino aussehen kann, bzw., inwieweit positive Identifikationsfiguren präsentiert werden 13 Walters: »The kids are all right but the lesbians aren’t«, S. 926. 14 Halberstam: »The Kids Aren’t Alright!«. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 45 UTA FENSKE sollen. Und auch wenn Halberstam letzteres ablehnt, wird doch das Unbehagen gegenüber der allzu stereotypen Darstellung lesbischer Sexualität deutlich. Ande- re Stimmen wie Rose Troche, die Regisseurin von Go Fish (1994), einem der we- nigen zum New Queer Cinema zählenden Lesbenfilme, und Produzentin von Concussion, kann diese Diskussion wiederum nicht nachvollziehen: It’s funny. I really liked The Kids Are All Right. I remember being on a rooftop at a party, and a friend of mine was so up in arms about the fact that Julianne Moore had hot sex with Mark Ruffalo, and not with her wife. And I was like, ›Oh, is this what we’re going to get on about?‹ In both heterosexual and homosexual relationships, people leave each other, sexually.15 Fiktion und Lebenswirklichkeit werden beim Medium Film also immer wieder als stark miteinander verwoben wahrgenommen. Ihre Beziehung scheint sehr kom- plex zu sein, sodass die Frage nach Vorbildern immer wieder gestellt wird. Dabei hatte doch das New Queer Cinema (NQC) der frühen 1990er Jahre, das bis heu- te Referenzpunkt queerer Filmbetrachtung ist, explizit ein queeres Publikum adressiert und sich davon verabschiedet, LGBTQ-Figuren als positive Identifikati- onsfiguren zu präsentieren, sondern zeichnet sie als widersprüchliche Figuren. Nach Ruby Rich, die den Begriff des NQC prägte, ist kennzeichnend, dass »[…] there are traces in all of them of appropriation and pastiche, irony […] these works are irreverent, energetic, alternatively minimalist and excessive. Above all, they’re full of pleasure. They’re here, they’re queer, get hip to them«.16 Ästhe- tisch verlässt das NQC also die ausgetretenen Pfade Hollywoods, verzichtet häu- fig auf lineare Erzählweisen, ist selbstreflexiv hinsichtlich der eigenen Geschichte sowie der Filmgeschichte, indem es die Künstlichkeit des Mediums Film betont und mit ästhetischen Traditionen spielt.17 Aber das NQC ist auch ein Kino, zu dem wenige lesbische Filme zählen. »Surprise, all the new movies being snatched up by the distributors, shown in mainstream festivals, booked into theatres, are by the boys. Surprise, the amazing new lesbian videos that are redefining the whole dyke relationship to popular culture remain hard to find«.18 Auch wenn das NQC viel dazu beigetragen hat, Vorstellungen von Sexualität und Queerness zu verändern, hat es die Dominanz schwuler Themen und das strukturelle Ungleich- gewicht in der Filmindustrie nicht angegriffen. Inzwischen hat das New Queer Ci- nema seine Innovationskraft und Energie verloren. »Trans ist das neue Queer« postuliert Rich 201319 und Ralph Poole spricht spöttisch davon, dass Heterosexu- 15 Nai: »An interview with Rose Troche«. 16 Rich: »New Queer Cinema«, S. 18. 17 Mennel: »Queer Cinema«. Zum New Queer Cinema siehe außerdem: Aaron: »New Queer Cinema«; Benshoff/Griffin: »Queer Cinema«. 18 Rich: »New Queer Cinema«, S. 18. 19 Ebd., S. 271. NAVIGATIONEN 46 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE FAMILIE QUEEREN? elle die neuen Schwulen seien.20 So bedient sich auch The Kids Are All Right keiner ästhetischen Verfahren des NQC – der Film ist linear erzählt und in keiner Weise visuell stilisiert. Er spricht ein liberales Mainstream-Publikum an und es gelingt ihm 20 Millionen Dollar einzuspielen, was bei seinen geringen Produktionskosten ein großer Erfolg ist. Repräsentationspolitik impliziert immer die grundsätzliche Frage des Engagements für eigene Interessen, aber dann wiederum stellt sich die Frage, wessen Interessen genau? Die weißer Mittelschichtslesben? Oder die von Regen- bogenfamilien generell? Oder eines queer-feministischen Gegenentwurfes zur klassischen Kleinfamilie? In Bully Bloggers ist der Film außerdem in Hinsicht auf andere Fragen der Repräsentationspolitik kritisiert worden. Die Kritik entzündete sich auch an der stereotypen Darstellung der nicht-weißen Nebenfiguren; beide in gewisser Weise Spielball der weißen Bezugspersonen: im Falle der Afroamerikanerin Tanya als se- xuell aktive Affäre von Paul, die beendet wird, als Jules ins Spiel kommt. In Hin- blick auf den mexikanischen Gärtner Luis (Joaquín Garrido) als freundliche, immer lächelnde, einfältige Figur, der von Jules entlassen wird, um ihre Affäre zu vertu- schen. 3. REZEPTION (IN DEN MAINSTREAM-MEDIEN) UND EINORDNUNG DES FILMS Mit den Themen künstliche Insemination, Vaterlosigkeit und lesbische Eltern be- handelt der Film Inhalte, die dazu angetan sein könnten, auf reservierte Ableh- nung oder gar Anfeindungen zu stoßen. Wie angedeutet war The Kids Are All Right in der queeren Community umstritten. Ablehnung aufgrund seines Sujets erfuhr der Film in der Mainstream-Kritik aber nicht, ganz im Gegenteil, von der Chicago Tribune bis zum Wall Street Journal wird der Film einhellig gepriesen. But its originality – the thrilling, vertiginous sense of never having seen anything quite like it before – also arises from the particular circum- stances of the family at its heart. […] »The Kids Are All Right« starts from the premise that gay marriage, an issue of ideological contention and cultural strife, is also an established social fact. Nic and Jules, a couple with two children, a Volvo and a tidy, spacious house in a pleasant suburban stretch of Southern California, are a picture of normalcy,21 schreibt die New York Times, die sowohl seine Originalität aufgrund der Regenbo- genfamilie als auch die Selbstverständlichkeit und Normalität lobt, mit der diese, trotz aller in den USA existierenden ideologischen Gräben, dargestellt wird. Da- mit beschreibt sie zwei wichtige Pole der Mainstream-Rezeption, nämlich das In- 20 Poole: »Heterosexuelle sind die neuen Schwulen«. 21 Scott: »Meet the Sperm Donor«. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 47 UTA FENSKE novative, das darin liegt, dass es zwei lesbische Mütter sind, und das Allgemeingül- tige, das normale Familienleben – womit das Leben in einer Kleinfamilie gemeint ist. In ähnlicher Weise feiert Entertainment Weekly den Film, unentschieden, ob wegen oder trotz der lesbischen Familienkonstellation: I don’t know what’s more delightful — that The Kids Are All Right stars Bening, Moore, and Ruffalo at the top of their games in an irresistible story of lesbian marriage, sperm-donor fatherhood, sex, red wine, and teen angst. Or that this warm, funny, sexy, smart movie erases the boundaries between specialized »gay content« and universal »fami- ly content« with such sneaky authority.22 Robert Ebert, der langjährige Filmkritiker der Chicago Tribune, betont die Irrele- vanz der Tatsache, dass die Eltern Lesben sind, noch stärker: The Kids Are All Right centers on a lesbian marriage, but is not about one. It’s a film about marriage itself, an institution with challenges that are universal. […] I refuse to call it a »gay film«. I toyed with the idea of not even using the word »lesbian« and leaving it to you to figure out that the couple was female. This is a romantic triangle happening to involve these three people.23 Diese Kostproben, die durch zahlreiche weitere Stimmen desselben Tenors er- gänzt werden könnten, heben also die Herausforderungen hervor, die eine lang- jährige Ehe und Elternschaft mit sich bringen – in diesem Fall eben mit zwei Pro- tagonistinnen, die zufällig lesbisch sind. Nicht die Homosexualität steht demnach im Vordergrund der Rezeption, ganz im Gegenteil, sie wird interessanterweise explizit zur Nebensache gemacht, auch nicht die Tatsache, dass die Kinder mit Hilfe eines Samenspenders gezeugt worden sind, sondern allein das Bemühen der Protagonistinnen, ein intaktes Familienleben zu führen. Das Leben in einer funkti- onierenden Kernfamilie sowie die Probleme und Freuden, die dieses mit sich bringt, werden als universell dargestellt24 – also als das Allgemeingültige, nicht zu hinterfragende gesellschaftliche System. Es geht dem Film folglich nicht um die ge- sellschaftlichen Bedingungen einer Regenbogenfamilie, sondern um die Individuali- sierung von Liebe und Familie, wodurch diese exemplarisch werden.25 22 Schwarzenbaum: »The Kids Are All Right«. 23 Ebert: »The Kids Are All Right (2010)«. 24 Auch Brokeback Mountain (2005, Ang Lee) wurde auf diese Art und Weise beworben und rezipiert. 25 Das Modell der bürgerlichen Kleinfamilie, bestehend aus zwei Generationen, nach dem der Vater der Ernährer ist, während sich die Mutter zuhause um die Kinder kümmert, ist historisch relativ jung. Es entwickelt sich im ausgehenden 18. Jahrhundert und setzt sich mit der Industrialisierung und dem Aufkommen des Bürgertums im 19. Jahrhundert durch. Historiker*innen haben denn auch darauf aufmerksam gemacht, dass die meisten NAVIGATIONEN 48 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE FAMILIE QUEEREN? Was bedeutet es nun, wenn die Mainstream-Kritik The Kids Are All Right als universelle Geschichte von Ehe und Familie wahrnimmt? Die Antwort darauf geht in zwei Richtungen. Wenn die erzählte Geschichte einfach eine allgemeingültige Familiengeschichte ist, dann heißt das, dass lesbische Paare mit Kindern gesell- schaftlich unproblematisch sind. Dies erstaunt angesichts der intensiven Diskussi- onen, die um Familienwerte in den USA geführt werden, und angesichts des schwierigen Weges zur Anerkennung von same sex marriages, die im Juni 2015 verfassungsrechtlich landesweit gegengeschlechtlichen Ehen gleichgestellt worden sind. Sehen doch gerade konservative Kräfte durch die Pluralisierung der Lebens- formen die Kernfamilie und damit das Fundament der amerikanischen Gesell- schaft bedroht. The Kids Are All Right stellt gleichgeschlechtliche Lebensweisen und Regenbogenfamilien als das Normalste der Welt dar − unabhängig von der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit der meisten Menschen, die außerhalb der urbanen Zentren an der West- und Ostküste leben – man könnte also vom quee- ren Möglichkeitssinn des Films sprechen. Es geht hier aber nicht allein um diesen, sondern auch darum, ob man Normalisierung auch als eine politische Strategie verstehen kann und in dieser Perspektive mag Cholodenko ihren Film gesehen wissen. »It is a political film, in the sense that it’s saying: this marriage is as messy and flawed and complicated as any other marriage«.26 Insofern bestärkt der Film das Modell der Kleinfamilie und bedroht sie nicht, denn Nic und Jules leben genau die Familienwerte, die von konservativer Seite als bedroht angesehen werden. Die positive Rezeption in den Mainstream-Medien zeigt dementsprechend, dass The Kids Are All Right über das Mittel der Universalisierung insofern in konservati- ve Vorstellungen von Familie und Fortpflanzung interveniert, als der Film dieses Ideal als unteilbar und unabhängig von sexueller Orientierung bestätigt. 4. CONCUSSION (2013) Concussion ist das Erstlingswerk der Regisseurin Stacie Passon, produziert von Ro- se Troche, die 1994 den wegweisenden lesbischen Independent New Queer Ci- nema Film Go Fish gedreht hat. Go Fish wurde ein richtiger Festivalhit, aber auch die erotische low-Budget-Produktion Concussion konnte auf dem Sundance Film Festival reüssieren und hat ihren Weg in den internationalen Verleih gefunden. Der Film wurde auf vielen Festivals gezeigt und nominiert, gewonnen hat er u.a. den Teddy Award der Berlinale 2013. Concussion, zu Deutsch leichte Gehirner- schütterung, bezieht sich auf die Folgen eines Baseballwurfes, von dem Abby (Ro- Amerikaner*innen in der Geschichte der USA keineswegs in dem Modell der Kleinfami- lie gelebt haben (vgl. Martschukat 2013). In der 2. Hälfte des 20. Jahrhundert wurde die- se scheinbar so normale, natürliche Lebensform insbesondere durch die Frauenbewe- gung und die Gay and Lesbian Liberation in den 1970er Jahren in Frage gestellt. Sie sa- hen die Kleinfamilie als Ort der heteronormativen Ordnung an, die andere Lebenswei- sen unterdrückt. 26 Cooke/Cholodenko: »›I wanted to make a film that was not sanctimonious or senti- mental‹«. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 49 UTA FENSKE bin Weigert) beim Spielen mit ihren Kindern am Kopf getroffen wird.27 Das aus der Wunde hervortretende rote Blut markiert die Gefahr, die von dieser Verlet- zung ausgeht: Denn dieser Wurf hat nicht nur das Gehirn der Protagonistin er- schüttert, sondern auch ihr Leben. Von diesem Moment an erwacht in ihr die Sehnsucht nach Intimität und Sexualität und mit aller Deutlichkeit tritt ihr die Lee- re und der Ennui ihres Lebens als soccer mom vor Augen; kurzum Abby steckt mitten in einer Midlife-Crisis. Auch hier geht es also um die Schwierigkeiten einer festgefahrenen Langzeitbeziehung am Beispiel einer lesbischen Familie der weißen oberen Mittelschicht. Ihre Partnerin Kate (Julie Fain Lawrence) ist eine erfolgrei- che Scheidungsanwältin in New York; fast überflüssig zu sagen, dass auch hier beide Frauen attraktiv sind. Dem Paar fehlt das, was anderen Langzeitpaaren auch oft fehlt: Sex. Die Familie, die in The Kids Are All Right lebendig ist und als zu schützendes Gut im Zentrum des Films steht, wird in Concussion jedoch lediglich als Ursache der Langeweile und Erstarrung vorgeführt. Sie ist quasi die Schablone, auf der sich das Leben der Protagonistin Abby entfaltet. Stilistisch betont das der Film dadurch, dass die Familie selten gemeinsam im Bild eingefangen wird, son- dern die Mitglieder zumeist einzeln in Szene gesetzt werden. Familie ist hier ledig- lich Ausdruck der bürgerlichen Existenz: Kinder zu haben und das Leben als soc- cer mom sind der hegemoniale Standard in dieser Neu England-Suburbia-Welt und die damit einhergehenden Rollen werden deswegen erfüllt. Mit dieser Setzung er- innert der Film an die häufig um eine weibliche Hauptfigur kreisenden Melodra- men der 1950er Jahre, die das gesellschaftlichen Zwängen unterworfene Leben der domestizierten Frau der Mittelschicht zum Thema machen und die Spannun- gen um das Thema Familie/Ehe offenbaren.28 Abby löst ihre Probleme jedoch auf andere Weise als die Protagonistinnen jener Melodramen, die zur Lösung ihrer psychosexuellen Probleme eine rettende Männerfigur benötigten, mit der alles anders wird. Sie richtet sich mit einem schicken Appartement in Manhattan im wahrsten Sinne des Wortes einen Frei-Raum in der Stadt her, entfernt von ihrem domestizierten Vorort. Schon Juri Lotman hat darauf aufmerksam gemacht, dass Topographien häufig dualistisch strukturiert sind und dementsprechend seman- tisch besetzt werden.29 In Concussion sind es das immer wieder im low-key Stil ge- filmte Einfamilienhaus in Suburbia und das lichte Loft in Manhattan, die als dualisti- sche Orte für Gefangensein und Befreiung gegenübergestellt werden. So nimmt sich Abby in ihrem Loft als eine lesbische Belle de Jour, so viel Sexualität wie sie möchte. Doch auch wenn Concussion dem Genre des Dramas zugeordnet werden kann, so ist er doch kein Melodrama und unterscheidet sich bis auf das ›Setting‹ − also der Kritik am Leben in den Vorstädten und der Darstellung der domestizier- ten Frau − erheblich von den Melodramen der 1950er Jahre. Denn Concussion zielt nicht darauf ab, die Schicksalhaftigkeit des Lebens so zu inszenieren, dass die 27 Der deutsche Titel ist Concussion – Leichte Erschütterung. (Edition Salzgeber). 28 Zum Melodrama siehe: Klinger: »Melodrama & Meaning«. 29 Lotman: »Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen«. NAVIGATIONEN 50 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE FAMILIE QUEEREN? Zuschauer*innen emotional tief bewegt sind, sondern inszeniert mit sehr viel Humor einen erotischen Ausweg aus der Krise. Bereits die Exposition verheißt sowohl Erotik als auch eine ironische distan- zierte Erzählposition. Zu David Bowies »Oh! You pretty things« hören wir, bevor wir überhaupt irgendetwas sehen, Frauen über Bauch-Beine-Po-Probleme und äl- ter werdende Körper sprechen, und sehen sie dann beim Spinning und Yoga in Slow Motion ausgestellt, sich gleichmäßig auf ihren Rädern im Wiegeschritt zur Musik bewegen, wobei die Kamera die perfekt geformten Körper abtastet und erotisiert. Im Gegenschnitt sind die aus leichter Untersicht gefilmten Einfamilien- häuser zu sehen und die schwenkende Kamera öffnet den Blick in die Weite des Himmels, womit sie die Freiheit suggeriert, der Enge des Vorstadtlebens zu ent- kommen. Die Ereignislosigkeit von Abbys Leben wird durch bedeutungslose Dia- loge aufgezeigt und auch auf der visuellen Ebene transportiert. Auffällig sind die gedeckten Farben, in denen das Zuhause der Kleinfamilie eingerichtet ist. Die Farbpalette deckt vornehme Mittelmäßigkeit vollkommen ab, sie reicht von beige über mauve zu grau. Immer wieder wird das Gefühl der Entfremdung zu ihrem Leben gezeigt. Sei es, dass man Abby in einer Einstellung, die an die Fotografien Andreas Gurskys erinnert, alleine vor Supermarktregalen sieht, wodurch die Ab- surdität des Konsums deutlich wird. Ein anderes Stilmittel ist der häufige Blick durch Türen und Fenster. Abbys hausfrauliche und mütterliche Tätigkeiten wer- den oftmals in einer weiten Einstellung oder mit einem Blick von außen, also durch ein Fenster oder eine Tür gefilmt, um ihr ›Eingesperrtsein‹ und ihre Ein- samkeit zu betonen. Gleichzeitig stellen Bildkomposition und Schnitt die Lange- weile der hausfraulichen Tätigkeiten heraus und lassen diese so als absurd er- scheinen. Hinzu kommt der Einsatz von Spiegelreflexen, die den Zuschauer*innen in etlichen Autoszenen insbesondere gegen Ende des Films den Durchblick er- schweren. Spiegelnde Flächen stehen hier nicht für Selbsterkenntnis oder die Konfrontation mit dem Selbst. Schließlich sind es nicht die Protagonist*innen, die hier in den Spiegel schauen, sondern sie verweisen eher auf den Selbstbetrug und die Entfremdung voneinander und irritieren gleichzeitig die Zuschauer*innen. Auch auf der narrativen Ebene wird die Distanz Abbys zu ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter herausgestellt. In einer grotesken Szene zu Beginn des Films werden die Mütter gebeten, für eine Elternzeitschrift Geschichten über ihre Ge- fühle nach der Geburt der Kinder zu verfassen. Abby liefert daraufhin einige ihrer Träume, in denen jemand ihren Sohn Jake (Micah Shapero) nach der Geburt in ei- ne Mikrowelle gesteckt habe, oder er sogar als ihr Ehemann vorkam: »Sometimes I dreamed he was married to me. My poor baby. I didn’t know whether to kill him, fuck or eat him.« Ihre Geschichte wird als völlig unpassend abgelehnt, worauf sie zusagt, eine das Zielpublikum zufriedenstellende Story über das Füttern von Babys zu schreiben. Unterscheiden sich The Kids Are All Right und Concussion auch in der Rolle, die sie der Familie im Leben ihrer Protagonistinnen zuweisen, zeichnen sie doch eine ähnliche Ausgangslage hinsichtlich der Normalität des Lesbischseins, der Mi- NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 51 UTA FENSKE dlife-Crisis von Jules und Abby und der Sexualität der Paare. Zunächst einmal ist es sehr auffallend, dass in beiden Filmen die Protagonistinnen das einzige lesbische Paar sind. Wie gezeigt dreht sich The Kids Are All Right ausschließlich um den Kern der Familie, wohingegen es in Concussion ein soziales Umfeld gibt, das allerdings komplett heterosexuell und weiß ist und die Homosexualität von Abby und Kate ist für niemanden etwas Außergewöhnliches. Weitere Gemeinsamkeiten der Filme sind, dass sowohl Jules als auch Aby frustriert sind und sich wünschen, wieder arbeiten zu gehen. Und bei beiden Paa- ren ist das Sexualleben eingeschlafen; die Annäherungsversuche Abbys scheitern an Kate. Und selbst gegen Ende des Films, als sie von Abbys Doppelleben weiß, bekräftigt sie in aller Klarheit: »I don’t want anybody.« Im Gegensatz zu Jules sucht Abby jedoch keine Affäre, sondern flüchtet sich in das Doppelleben als Prostitu- ierte – zunächst als Kundin, dann als Anbieterin. Ein Freund vermittelt die Frauen. Sie arbeitet nur in ihrem eigenen Appartement und hat schnell regelmäßige Kun- dinnen. Die Frauen, die zu ihr kommen, wollen Sex aber auch menschliche Nähe und so wirkt die Sexarbeit in Concussion durchaus auch als psychologische Be- treuung. Die Frauen unterscheiden sich zwar in ihrem Alter, nicht jedoch nach anderen Intersektionalitätskriterien – auch hier ist es die weiße gehobene Mittel- schicht. Irgendwann taucht Sam (Maggie Siff) bei ihr auf, auf die Abby steht, eben- falls Mutter im Spinning-Kurs, ebenfalls verheiratet und gelangweilt. Zwischen ihr und Abby entwickelt sich eine sehr leidenschaftliche sexuelle Beziehung. Die he- terozentrische Frage, wie lesbischer Sex funktioniert, spielt offensichtlich in Con- cussion überhaupt keine Rolle. Der Sex zwischen den Frauen ist voller Begehren und lustvoll inszeniert. Gleichwohl macht der Film aber en passant deutlich, dass eine hierarchische Wertordnung sexueller Praktiken existiert.30 Dildos und BDSM sind von den vorgeführten und anerkannten Praktiken ausgeschlossen. Am Ende des Films merkt Kate, dass Abby andere Frauen hat. Kates Erschüt- terung angesichts dieser Enthüllung dauert aber nur kurz an und als Abby mit der resignierten Erkenntnis »I only belong to you, but you don’t want me« ihre pro- miske Sexualität aufgibt, das Loft verkauft und in ihr früheres Leben zurückkehrt, kann sich der Familienalltag ungestört fortsetzen. Dieser Schluss wirkt sehr gewollt, da er die gesamte Filmhandlung und Unzu- friedenheit Abbys nivelliert. Das konventionelle Happy End, dessen narrative Funktion grundsätzlich darin besteht, Geschlossenheit zu erreichen, also »unmiss- verständlich klar zu machen, dass es nichts mehr zu erzählen gibt« und die Zu- schauer*innen mit einem Gefühl der Sicherheit zu entlassen, ist hier, wie so oft in der Filmgeschichte, nicht plausibel und kann deshalb als »unmotiviertes« Happy End bezeichnet werden.31 Allerdings sind unmotivierte Happy Endings nicht nur als filmische Konstruktionsfehler zu betrachten oder als Folge von Genreerwar- 30 Vgl. zu sexuellen Hierarchien: Rubin: »Sex denken: Anmerkungen zu einer radikalen Theorie der sexuellen Politik«. 31 Christen: »Happy endings«, S. 192. NAVIGATIONEN 52 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE FAMILIE QUEEREN? tungen. Sie können auch auf eine andere Weise verstanden werden. Denn durch ihre Nicht-Plausibilität machen sie auf die Konventionen klassischer Narrationen aufmerksam und laden zu einer kritischen Lesart ein, die – in diesem Fall – das klassische Beziehungs- und Familienmodell samt festgelegten Rollenvorstellungen in Frage stellt. Das New Queer Cinema ist nur selten der Konvention des Hollywood Hap- py Ends gefolgt und so kann mit Teresa de Lauretis ein Filmende, welches sich der Schließung widersetzt, als queer angesehen werden. Dies trifft, wie gesagt, auf Concussion nicht zu. Auf einen zweiten Blick macht es sich der Film dann aber doch nicht ganz so einfach, vielmehr endet er mit einem ironischen Augenzwin- kern. Das Genre ließe ein Schlussbild mit glücklichem Paar oder glücklicher Fami- lie im Sonnenuntergang erwarten. Der Film endet jedoch mit einer ähnlichen Sze- ne wie er begonnen hat: Abby besucht wieder den Spinning-Kurs. Aber wir erfah- ren aus einem der Gespräche, dass Abby erneut ein Appartement gekauft hat und die Blicke zwischen Sam und ihr zeigen ihr fortgesetztes Interesse aneinander. Die Fantasie über ein spannenderes Leben bleibt also bestehen. Die Fähigkeit ei- nes Textes/Filmes etwas Neues über »the very heart of sex« zu sagen, bezeichnet de Lauretis ebenfalls als queer.32 Diese Chance vergibt der Film, indem er mit dem Schluss das queere an Abbys Figur – nämlich die Promiskuität – der bürgerli- chen Sexualmoral unterordnet. Und damit auch die Suche nach etwas Neuem, nach einer Offenheit für das Andere. Denn Promiskuität, schreibt Tim Dean »concerns more than new sex partners: it also concerns new ideas and new ways of doing things… [It is] a synonym for creativity.«33 Concussion wurde in keiner vergleichbaren Art wie The Kids Are All Right dis- kutiert. Die bei Kids gefeierte Tatsache der Normalität von lesbischen Familien wird zwar noch vereinzelt betont – Scott Foundas von der Village Voice sieht in der Selbstverständlichkeit, mit der Abbys sexuelle Orientierung und häusliche Si- tuation gezeigt wird, sogar noch eine »quietly revolutionary« Tatsache,34 aber im Großen und Ganzen steht diese Ausgangslage nicht mehr im Mittelpunkt der Re- zeption. Stattdessen fragt die Sektion Panorama der Berlinale, in der der Film 2013 gelaufen ist: »New Queer Cinema: die Frauen werden älter, die Themen erwachsener, aufgeräumter. Oder eben gerade nicht?«35 Eine lesbische Mutter in ihrer Mid-Life Crisis und eine Langzeitbeziehung, die unter verschwundener Lei- denschaft leidet, bestätigt diese Einschätzung genauso wie der Blick auf die filmäs- thetische Seite: Die klaren, kühlen an eine Werbefilmästhetik erinnernden Bilder sind kilometerweit von der Ästhetik des NQC entfernt – ob sie damit erwachsen geworden sind, ist aber eine andere Frage. Die Sexarbeit, die eher wie eine »Li- 32 de Lauretis: »Queer Texts«, S. 244. 33 Dean: »Unlimited Intimacy«. S. 5. 34 Foundas: »Stacie Passon’s Superb Concussion«. 35 Berlinale: »Concussion«. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 53 UTA FENSKE zenz für lustbetonte Seitensprünge« ist,36 stellt die These des Erwachsen-Seins ebenfalls in Frage. So offenbart Concussion das Spannungsfeld zwischen bürgerli- chem Leben und dem mit Queerness verbundenen Infragestellen dessen. Der Film positioniert sich zu dieser Frage unentschieden, wofür er einerseits als intel- ligent gelobt wird. So resümiert André Wendler: Die Klugheit von Concussion besteht darin, nicht den großen Ausbruch zu simulieren, sondern die Bedingungen zu schildern, unter denen wir uns so lange selbst verbessern dürfen, wie alles beim Alten bleibt. Vor etwas mehr als hundert Jahren hat man sich ›The love that dare not speak is name‹ als einen Ausweg vorgestellt. Nun hocken die Namen- losen in gedecktfarbigen Familienbehausungen und beobachten an sich und ihren Nächsten die wenigen sichtbaren Erschütterungen. Concus- sion ist das großartige Familienalbum der Erschütterten.37 Birgit Roschy bedauert andererseits den Verlust des Queeren als das radikale An- dere. Letztlich lautet die Botschaft, dass das Paradiesvogelhafte homosexu- eller Beziehungen auch filmisch endgültig passé ist. In den konsumisti- schen Tröstungen angesichts erkalteter Leidenschaft – am Haus her- umwerkeln, nette Partys feiern, schöne Urlaube machen – sitzen He- teros und Homos alle in einem, gut geputzten Boot. Was irgendwie schade ist.38 So bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass beide Filme im Sinne der Kleinfami- lie beziehungsweise Langzeitbeziehung mit einem Happy End ausgehen und dem- zufolge die überkommene Ordnung aufrechterhalten. Gleichwohl haben die En- den, betrachtet man sie filmhistorisch, subversives Potenzial. The Kids Are All Right ist in dem Sinne radikal, »wie hier das lesbische Paar die strukturell privilegierte Position des Hollywood Happy End kapert«.39 Und das Ende von Concussion – die bruchlose Rückkehr in das vorherige Leben, das als so wenig zufriedenstellend dargestellt wurde – legt dessen Widersprüche deutlich offen. Die Filme reflektie- ren die zunehmende Akzeptanz und Normalität von weißen lesbischen Mittel- schichtsfamilien. Gleichzeitig machen sie aber auch deutlich, dass diese nur über eine homonormative Lebensweise möglich ist. Damit gehen die absolute Bestäti- gung des Ideals der Kleinfamilie sowie die Konzentration auf individuelle Ziele einher. Die Kehrseite davon ist der Verzicht auf alternative Lebensformen, quee- re Wahlfamilien und die community, ein Trend, den Duggan für das gesamte zeit- 36 Roschy: »Kritik zu Concussion«. 37 Wendler: »Die Erschütterten«. 38 Ebd. 39 Haschemi Yekani: »Older Wiser Lesbians?«, S. 5. NAVIGATIONEN 54 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE FAMILIE QUEEREN? genössische queere Kino ausmacht.40 Es wird spannend zu beobachten sein, in welcher Weise sich der lesbische und queere Film im Spannungsfeld von Bürger- lichkeit und queeren Lebensweisen entwickeln wird. LITERATURVERZEICHNIS Aaron, Michele. (Hrsg.): New Queer Cinema. A Critical Reader, New Brunswick, NJ. 2004. Benshoff, Harry/Griffin, Sean. (Hrsg.): Queer Cinema. The Film Reader, New York/London 2004. Berlinale: »Concussion«, https://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/2013/ 02_programm_2013/02_Filmdatenblatt_2013_20132946.php#tab=filmStills, 16.10.2017. Bernard, Andreas: Kinder machen. Samenspender, Leihmütter, Künstliche Be- fruchtung. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie, Frankfurt a.M. 2014. Christen, Thomas: »Happy endings«, in: Matthias Brütsch u.a. (Hrsg.): Kinogefüh- le. Emotionalität und Film, Marburg 2005, S. 189-204. 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NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 57 »FEMALE GAZE, QUEER GAZE, TRANS GAZE« Transparent als queere Intervention V O N F L O R I A N K R A U ß ABSTRACT Der Beitrag diskutiert Themen, Erzählweisen und die Form der Amazon-Prime- Produktion Transparent als queere Intervention. Die Serie interveniert in beste- hende und film-/fernsehhistorisch gewachsene Muster der fiktionalen Darstellung von Trans-Menschen und weitet sich zu einer umfassenderen queeren Transiti- ons-Geschichte aus, die auf queeren Theorien rekurriert. Transparent trägt zudem aufgrund des Spiels mit unterschiedlichen Zeitebenen und dem Aufbrechen in ei- ne experimentelle, offene Form als auch wegen der Repräsentationen queerer und feministischer Bewegungen Züge einer queeren Narratologie und Interventi- on. 1. EINLEITUNG: TRANSGENDER UND QUEERE INTERVENTION »Queerness bleibt keine Behauptung, weil es tatsächlich auch darum geht, sich se- riellen Konventionen über Themen hinaus zu widersetzen«, schrieb Rajko Burch- ardt in der Sissy, dem deutschsprachigen Online-Magazin für »nicht- heterosexuelles Kino«, über Transparent (USA, 2014–).1 Seine lobenden Worte legen nahe, dass jene Serie des Subscription-Video-on-Demand (SVOD)- Anbieters Amazon Prime nicht nur hinsichtlich ihrer Inhalte und Figuren – allen vo- ran der Transfrau Maura Pfefferman (Jeffrey Tambor), die erst mit Ende 60 ihre Transition beginnt – sondern auch hinsichtlich ihrer Form queer ist. Mein Beitrag möchte an diese Einschätzung anknüpfen und Themen, Erzählweisen als auch die Form von Transparent als queer diskutieren. In verschiedenen Repräsentationen der Serie sind queere Interventionen auszumachen. Dieser Hypothese möchte ich nachgehen, indem ich zunächst darlege, wie die bislang vier Staffeln populärkultu- relle und filmhistorisch gewachsene Transgender-Narrative aufgreifen, reformie- ren und womöglich »queeren«. Anschließend führe ich aus, wie die Serie sich zu einem umfassenderen, nicht mehr trans-spezifischen, queeren Familienepos wei- tet und dabei queer-feministisch in zeitgenössische, televisuelle Genderrepräsen- tationen interveniert. Schließlich werden queere Interventionen hinsichtlich der Form diskutiert. Dieser Aspekt hängt mit dem Female Gaze zusammen, den Showrunnerin Jill Soloway mehrfach in öffentlichen Statements selbsttheoretisiert 1 Burchardt: »Strömende Bilder«. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE FLORIAN KRAUß hat:2 »The Female Gaze […] is Other Gaze, Queer [G]aze, Trans [G]aze«,3 poin- tierte sie beim Toronto Film Festival 2016. In Soloways queer-feministischen Rede ist die Intervention angelegt, geht es ihr doch darum, Darstellungsmuster zu umgehen und umzuformen. Als einen »beabsichtigten Eingriff in ein System, um etwas zu verändern oder zu verhin- dern«,4 definiert Renate Hüber, vom lateinischen Ursprung (intervenire = dazwi- schenkommen) ausgehend, die Intervention. Die »Einmischung[en]« und »Eingrif- fe«5 können ihrer Begriffsdiskussion nach eine klare Zielsetzung aufweisen oder eher prozessorientiert sein. Oft ist also die Absicht ein zentrales Element.6 Bei kollaborativ und unter kapitalistischen Bedingungen entstandenen, polysemen, populärkulturellen Texten wie Transparent sind Interventionsabsicht und -objekt allerdings nicht ohne weiteres auszumachen. Solche Medientexte bilden keine in sich abgeschlossenen Entitäten mit festen Ideologien und Bedeutungen, die ein Auteur festlegt und die der Forschende einfach entschlüsseln kann.7 Mögliche In- terventionen auf der Ebene der Repräsentation sind vor diesem Hintergrund zu betrachten und die Aussagekraft von textuellen Analysen, auf denen der vorlie- gende Aufsatz zu großen Teilen beruht, ist angesichts verschiedener Rezeptions- haltungen und -kontexte zu relativieren. Dass sich Medientexte unterschiedlich lesen lassen, ist im allgemeineren Fall von televisuellen und filmischen Transgender-Narrativen ersichtlich: Transge- schlechtlichkeit bzw. -identität war oft nur in Subtexten und Schattengeschichten auffindbar und insofern von Rezeptionsleistungen abhängig. Entsprechende Narra- tive lassen sich auch deshalb nicht ohne weiteres eingrenzen, weil unter Trans- gender sehr unterschiedliche Personen und Lebensentwürfe fallen – zumindest nach dem breiten Verständnis in der Encyclopedia of Sex and Gender, das für die verschiedenen und komplexen Repräsentationen in Transparent und allgemeiner in populärkulturellen Texten instruktiv erscheint: Der Oberbegriff bezeichnet demnach eine vielfältige Gruppe von Individuen, die sozial und kulturell konstru- ierte Gender-Normen herausforderten. Früher seien dies vor allem Transvestiten und Crossdresser gewesen, heute umfasse Transgender spezifischer Male-to- female-Transsexuelle (MFT), Female-to-male-Transsexuelle (FTM), Intersexuelle, Bigender – die sich sowohl als Mann als auch als Frau identifizieren – sowie Trans- genderists, Menschen, die in mit dem anderen Geschlecht assoziierten Gender- 2 Vgl. zum Begriff des Self-Theorizing Caldwell: Production Culture, 15ff. 3 Soloway: Master Class. 4 Hübner: »Interventionsbegriffe im Vergleich«, S. 155. 5 Ebd., S. 156. 6 Vgl. ebd., S. 167. 7 Vgl. Fiske: Introduction to Communication Studies, S. 156f. NAVIGATIONEN 60 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »FEMALE GAZE, QUEER GAZE, TRANS GAZE« Rollen leben, ohne sich an diese operativ anpassen zu lassen. Selbst Dragkings und -queens seien eine Untergruppe.8 Bei dieser breiten Definition fallen rasch Schnittstellen zwischen Transgender und Queer ins Auge: Beide Begriffe zielen darauf ab, lange Zeit vorherrschende, einengende Identitätskonzepte zu verlassen, und bei beiden wird diskutiert, wie weit sie zu fassen sind, für wen sie stehen und wer sie sich aneignet. Transgender bildet zudem eine zentrale Subkategorie von Queer, das über die Klassifikationen lesbisch/schwul hinaus will und zunächst als LGBT definiert werden kann.9 Die einzelnen Buchstaben des Akronyms LGBT stehen jedoch für Kategorisierungen und Zuschreibungen, die queere Theorien aufzulösen trachten, weshalb sich eine inhaltliche Dissonanz zwischen Transgender/LGBT und Queer diskutieren lässt.10 Auf der anderen Seite kann die Aufschlüsselung in LGBT auf eine Vielfalt und auf spezifische Marginalisierungen hinweisen. Transgender sind aktuell in besonderer Intensität und in mehrfacher, etwa juristischer und ökonomischer Hinsicht und im Berufsleben, benachteiligt.11 Wenn wir queer vor allem als die Absetzung zum Normativen12 sowie als Terrain politi- scher Auseinandersetzungen und Kämpfe verstehen, mag Trans das neue bzw. aktuelle Queer sein – so wie es B. Ruby Rich wenige Jahre vor Transparent und bezüglich eines von ihr ausgemachten »New Trans Cinema« behauptet hat.13 Be- reits in diesem Punkt ist Transparent eine queere Intervention: Die Serie befasst sich allen voran mit Transgender, anstatt sich wie andere fiktionale Fernsehpro- duktionen auf wohlhabende weiße schwule Männer zu fokussieren oder homose- xuelle Eltern als »ideal gay rights subject[s]«14 zu normieren. Auch hinsichtlich film- und fernsehhistorisch gewachsener Transgender-Narrative stellt sie eine queere Intervention an, wie ich im Folgenden darlegen möchte. 2. INTERVENTION IN TRANSGENDER-NARRATIVE Die Serie knüpft an filmische und televisuelle Transgender-Narrative an (die zum Teil Darstellungen von Homosexualität ähneln); doch oft greift sie auch in diese Muster ein bzw. hebt sie sich von diesen ab. Die grüblerische, melancholische 8 Vgl. Hill/McBride: »Transgender«. Anders als bei dieser Begriffsdefinition werden Inter- sexuelle bzw. Intersex oft von Transgender abgegrenzt, vgl. Horlacher: »Transgender and Intersex«. 9 Vgl. Perko: »Wissenschaftstheoretische Grundlagen zu Queer Theory als Hintergrundfo- lie von Queer Reading«, S. 74f. 10 Vgl. Dieckmann/Litwinschuh: »Die interdisziplinäre Zusammenführung der LSBTI*- Forschung als Experiment — eine Einführung in dieses Buch«, S. 11f. 11 Vgl. Franzen/Sauer: »Benachteiligung von Trans*Personen, insbesondere im Arbeitsle- ben«. 12 Vgl. Halperin: Saint Foucault, S. 62. 13 Vgl. Rich: New Queer Cinema, S. 274, xxvii. 14 Cavalcante: »Anxious Displacements and the Management of Cultural Anxiety«, S. 467. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 61 FLORIAN KRAUß Transprotagonistin Maura lässt beispielsweise kaum Schnittstellen zu den »sissy men«15 erkennen, deren Crossdressing meist komödiantischen Zwecken diente und schrille Züge hatte und bei denen Homosexualität und Transidentität häufig miteinander vermengt oder gar gleichgesetzt worden sind. Ein Beispiel aus der US-amerikanischen Fernsehgeschichte ist der von Billy Crystal gespielte schwule Familiensohn Jody in der Sitcom Soap (USA 1977–1981, ABC), der nicht nur eine heimliche Affäre mit dem Quarterback hatte, sondern zeitweise auch die übertrie- ben feminine Kleidung seiner Mutter trug und eine Geschlechtsanpassung in Er- wägung zog. Maura hat auch insofern wenig mit der hier sichtbaren Sissy gemein, weil sie lange Zeit keine Männer begehrt. Erst spät und nicht eindeutig verändert sich hier ihr Begehren. Dass Trans-Erfahrungen nicht automatisch mit Homosexualität einhergehen und dieser nicht unterzuordnen sind, akzentuiert besonders deutlich die Folge »Born Again« aus der vierten Staffel: In der eröffnenden Rückblende ins Jahr 1981 fragt der Therapeut angesichts von Mauras bzw. Mortons Crossdressing- Praktiken vorwurfsvoll »What do you mean you’re not gay?« – eine andere Mög- lichkeit scheint es für ihn nicht zu geben. »I don’t know« antworten der junge Morton und seine von Zoe Van Brunt gespielte Vision als Transfrau – eine Art transidentitäres Alter Ego, das in der vierten Staffel hinzukommt – und verwei- gern sich so der vereinfachenden, vorschnellen Kategorisierung. Wie in jener Sze- ne, finden sich in der Serie immer wieder selbstreflexive Momente, die sich auch als Distanzierungen von dominanten filmischen und televisuellen Transgender- Narrativen verstehen lassen. Neben der Sissy und der Vermengung von Transgeschlechtlichkeit mit Ho- mosexualität umgeht Transparent weitere Muster: wie die Tendenz, Transgender als tragische Figuren und Opfer zu zeichnen; wie deren Assoziation mit Sexarbeit, die etwa in einzelnen Folgen von Ally McBeal (USA 1997–2002), in Dallas Buyers Club (USA 2013), aber auch im gefeierten Sundance-Hit Tangerine (USA 2015) an- zutreffen ist oder wie die Pathologisierung und Dämonisierung von Trans- Menschen, die sich in populärkulturellen Transgender-Serienkiller*innen signifi- kant zeigte: In Brian De Palmas Hitchcock-Hommage mit dem programmatischen Titel Dressed to Kill (USA 1980) beispielsweise wurde der Psychiater Dr. Robert Elliott als blonde Frau mit schwarzer Sonnenbrille zur Killerin, während Norman Bates in Psycho (USA 1960) noch via Crossdressing zur toten Mutter mutierte. Oft wurden Trans-Figuren auch als das Abstruse, als Spektakel und als exoti- sierte und erotisierte Andere repräsentiert.16 Transparent unterscheidet sich von diesem Muster, indem Mauras Transidentität weder fetischisiert und sexualisiert noch als das Andere, Exotische gerahmt wird. Amy Villarejo schreibt speziell der ersten Staffel zu, Kameraperspektiven zu vermeiden, die Maura zum Objekt ma- chen oder sie verurteilten: »She is never looked at with judgment, which is to say 15 Russo: The Celluloid Closet, S. 4f. 16 Vgl. Shelley: Transpeople, S. 135. NAVIGATIONEN 62 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »FEMALE GAZE, QUEER GAZE, TRANS GAZE« that the camera’s look at Maura—not Mort, but the emerging Maura—is never aligned with a character, nor a spectator, who would misrecognize, dismiss, judge, or mock her.«17 Die Transprotagonistin Maura, so schlussfolgert Villarejo, werde durch eine Inszenierung geschützt, die unter Female Gaze, dem weiblichen Blick, firmierte.18 In Anlehnung an Jack Halberstam ließe sich vielleicht auch ein »transgender gaze« ausmachen, der die Rezipierenden die Perspektive der Trans- figur einnehmen lässt bzw. auf deren Seite ist.19 Soloway selbst, die zentrale Autorin und Produzentin respektive Showrun- nerin, spricht in öffentlichen Statements mehrfach vom Female Gaze und defin- ierte diesen unter anderem als »empathy generator«. »I take the camera and I say, hey, audience, I’m not just showing you this thing, I want you to really feel with me«,20 pointierte Soloway in ihrer Rede beim Toronto Film Festival. Ein empathi- scher Blick und eine Fokussierung auf Emotionen sind in verschiedenen Szenen anzutreffen, die Mauras Gefühle und Innenleben betonen. Mehrfach drücken Dia- loge ihre Reflektionen und Gedanken aus, zum Beispiel wenn sie in Zusammen- hang mit ihrem Coming-out gegenüber Tochter Sarah (Amy Landecker) betont, immer eine Frau gewesen zu sein und sich ihr Leben lang als Mann verkleidet zu haben. Die Melancholie, die Maura innewohnt, mag in Teilen aus diesem verpass- ten Leben herrühren. Generell wird sie als unzufriedener Mensch gezeigt. »I've got everything I need. So why am I so unhappy?«, fragt Maura in der dritten Staf- fel, wenn ihre Figur bereits deutlich ambivalentere, da etwa egoistische Züge trägt. Der Schutz durch einen Female Gaze scheint zu diesem Zeitpunkt aufgeho- ben. Negative Facetten und Ambiguitäten, die die Zeichnung dieser Transprota- gonistin nun anreichern, lassen sich wiederum als queer klassifizieren, wenn man bedenkt, dass Filmschaffende des New Queer Cinema in den 1990er Jahren be- wusst weg von positiven, auf Sympathie und »Normalität« ausgerichteten homo- sexuellen Figuren wollten.21 Durch die Ambiguitäten der Transprotagonistin und weiterer Kerncharaktere distanziert sich Transparent ähnlich von »homonormati- ven« Tendenzen.22 Aufgrund der kontinuierlichen, mitunter durchaus anstrengenden und ego- zentrisch wirkenden Unzufriedenheit Maura Pfeffermans anstelle eines klaren Happy Ends wird auch das Transitions-Narrativ komplexer, das der LGBT-Media- Monitoring-Organisation GLAAD zufolge bis heute bei vielen filmischen und tele- 17 Villarejo: »Jewish, Queer-ish, Trans, and Completely Revolutionary: Jill Soloway’s Trans- parent and the New Television«. 18 Vgl. Villarejo: »Jewish, Queer-ish, Trans, and Completely Revolutionary: Jill Soloway’s Transparent and the New Television«. 19 Halberstam: »The Boys Don't Cry debate«, vgl. auch Halberstam: In a Queer Time and Place Transgender Bodies, Subcultural Lives. 20 Soloway: Master Class. 21 Vgl. Jarman: »Queer Questions«. 22 Vgl. zu Homonormativität in der Populärkultur Poole: »›Heterosexuelle sind die neuen Schwulen‹ «. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 63 FLORIAN KRAUß visuellen Transgender-Repräsentationen überwiegt23 und in Transparent ebenfalls ein zentrales Element bildet. Zumindest teilweise reformiert die Serie dieses Er- zählmuster, das sich auf den Beginn des Transseins konzentriert und eine alltägli- che, seit Jahren gelebte Transidentität meist überschattet. Die populärkulturelle Präsenz der Transition und ihr häufiges Einhergehen mit einer Coming-out-Geschichte rühren aus der jeweiligen Kompatibilität mit der »Heldenreise«, einer beliebten Dramaturgie im westlichen Erzählkino, bei der die zentrale Hauptfigur ein eindeutiges Ziel verfolgt und eine Entwicklung durch- macht, was zumindest teilweise normativen Charakter hat.24 Auch zum US- amerikanischen Mantra vom Self-Made Man passt die Transitions-Geschichte. »Sensationally this self-made man could also become a non-self-made man, trans- forming into a woman«,25 schreibt Christopher Shelley über populärkulturelle Darstellungsmuster der Geschlechtsanpassung, die sich etwa im Spielfilm Transa- merica (USA 2005), aber auch in der non-fiktionalen Berichterstattung über Trans-Celebrities wiederfinden. Doch so wie die Serie Transparent einen sensati- onsorientierten Blickwinkel vermeidet, umgeht sie auch eine chronologische, formelhafte Transitions-Geschichte, wie sie Rich noch Dokumentarfilmen des New Trans Cinema attestiert hat: Auf die Verzweiflung folgten Transition und schließlich Freude und Stolz.26 Mauras Wandlung ist vielmehr ein langwieriger Prozess, den Transparent gerade als Serie schildern kann. Wir folgen ihrer Transi- tion in kleinen Schritten, zu unterschiedlichen Zeiten und unter verschiedenen Bedingungen: in ihrer Kindheit, in die die Staffel drei zurückblickt oder in ihrem Leben als Familienvater in den 1980er und 1990er Jahren. Morton Pfefferman – so erzählen uns zum Beispiel Rückblenden in das Jahr 1994 – führte ein Doppelle- ben und besuchte heimlich ein Crossdressing-Camp. Von der formelhaften Transitions-Geschichte unterscheidet sich Transparent zudem dadurch, dass Protagonistin Maura lange und meist kein eindeutiges Ziel der operativen und/oder hormonellen Geschlechtsanpassung anstrebt. Erst relativ spät, in der zweiten Staffel, sucht sie eine Ärztin auf, um sich beraten zu lassen – mit ungewissem Resultat: Maura weiß auf Rückfragen keine klare Antwort, und die Ärztin rät ihr dazu, zunächst ihren Körper besser kennen zu lernen. In Staffel drei scheint sie sich für eine Operation entschieden zu haben, aber der Arzt hält diese aufgrund ihres Herzens für zu riskant und rät ihr, die Hormone abzusetzen. In der letzten Folge der Staffel drei, die die Pfeffermans auf einem Kreuzfahrtschiff zusammenführt, entledigt sich Maura ihrer Formwäsche und ihrer eleganten Klei- dung, mit der sie zuvor ein feminineres Äußeres erprobt hatte. Soloway argumen- tierte, dass am Ende von Mauras »journey« eine »genderqueer identity« anstelle 23 Vgl. GLAAD: »Where We Are On TV«, S. 27. 24 Vgl. Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. 25 Shelley: Transpeople, S. 132f. 26 Vgl. Rich: New Queer Cinema, S. 274. NAVIGATIONEN 64 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »FEMALE GAZE, QUEER GAZE, TRANS GAZE« einer »trans woman identity«27 stünde. »Genderqueere Menschen verorten sich außerhalb der Zwei-Geschlechter-Ordnung und den daraus abgeleiteten Begriffen sexueller Orientierung (heterosexuell, homosexuell etc.)«,28 definiert der Verein TransInterQueer den hier verwendeten Terminus, mit dem Soloway ihre Serie auch als queer kennzeichnet. Mauras Transition versagt sich wohl auch deshalb einer Vorher-Nachher- Gegenüberstellung, da sie in einem fortgeschrittenen Alter stattfindet. Eine opera- tive und/oder hormonelle Geschlechtsanpassung steht nun nicht mehr unbedingt zur Wahl.29 Im Vergleich zu vielen populärkulturellen Transgender- und Transiti- ons-Erzählungen liegt der zentrale Unterschied aber vor allem auch darin, dass die Trans-Heldin Maura sich letztendlich bzw. bis zum aktuellen Stand der vierten Staffel außerhalb des Transsexualitäts-Modells bewegt, das als »Normalisierungs- tribut« an die sozial durchgesetzte Norm der Zweigeschlechtlichkeit gelten kann.30 Durch die Abkehr vom Transsexualitäts-Modell weitet sich das Spektrum an Transgender-Varianten und erscheint Transition nicht in erster Linie als Wandel des Körpers oder eine Frage der Genitalien. Körperlichkeit wird zwar weder aus- gespart noch tabuisiert: In der Pilotfolge etwa streift Maura ihre »Verkleidung« als Mann ab, mit der sie ihren Kindern zuvor gegenüber getreten ist. Wir sehen sie von hinten in Unterhose, und kurz darauf in einem Kaftan, als sie ihr Haar lockert. Die zweite Staffel erkundet zunehmend auch Mauras Sexualität. Aber eine The- matisierung, geschweige eine Entblößung ihrer Genitalien bleibt aus – anders als in zahlreichen anderen Transgender-Filmen wie Transamerica, Boys Don’t Cry (USA 1999) oder The Danish Girl (USA/UK 2015), die diese scheinbar objektiven Belege für die Geschlechtszugehörigkeit offenlegen und ihre Figuren dabei zum Teil auch in erniedrigenden Situationen zeigen. Der von Soloway angeführte Female Gaze, im Sinne eines empathischen, so- lidarischen und schützenden Blicks, lässt sich in der Vermeidung solcher Szenen feststellen. Wenn ein nackter Trans-Körper gezeigt wird, wie in Staffel vier in der Folge »Groin Anomaly« bei der Transnebenfigur Davina, geschieht dies eher auf beiläufige, alltägliche Weise: Jene Transfrau – gespielt von Alexandra Billings, die im US-amerikanischen Fernsehen als erste offene Trans-Schauspieler*in gilt, die eine Transgender-Figur gespielt hat31 – liegt hier von Schmerzen geplant nackt auf dem Bett und unterhält sich mit ihrem Partner über ihr Nierenleiden, das aus der jahrzehntelangen Hormonbehandlung zu rühren scheint. 27 Soloway zitiert in James: »›Transparent‹ and the transition in transgender media depic- tions«. 28 TransInterQueer e. V.: »Trans* in den Medien«, S. 20. 29 Vgl. Sepinwall: »›Transparent‹ creator: Streaming shows are ›inventing a new art form‹«. 30 Vgl. Connell: Der gemachte Mann, S. 99. 31 Vgl. Whitney: »Meet Alexandra Billings, the Actress Who Made TV History and Was Originally Cast in ›Transamerica‹«. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 65 FLORIAN KRAUß So wie Soloway die Inszenierungsstrategie des Female Gaze diskutiert hat, geht es auch darum, das Gefühl, betrachtet zu werden, zu kommunizieren.32 Die Folge sieben der zweiten Staffel problematisiert die Körper-Zentrierung von au- ßen, die viele Trans-Menschen erfahren,33 gar explizit auf der Dialog- und Hand- lungsebene: Der Partner ihrer Transfreundin Davina legt Maura in einem der ers- ten Gespräche nahe, wie sie ihren Körper optimieren könne; diese empfindet die Ratschläge als übergriffig. Bei der raren Darstellung eines Transmanns lässt die Serie allerdings ihren behutsamen, solidarischen und bewusst nicht sensationslüsternen Blick auf Trans- Personen vermissen. Transmänner sind ohnehin, wie in zahlreichen Filmen und Fernsehserien, kaum präsent. Eine Ausnahme bilden zwei Folgen, in denen Ali mit einem Transmann – gespielt von dem Trans-Comedian Ian Harvie – ausgeht. »[S]eeing Ian Harvie on screen, depicted as dateable and sexually desirable, was electrifying«,34 schreibt Cael Keegan in seiner Rezension aus Transmann- Perspektive. Seine Begeisterung wurde schnell zunichte gemacht – durch das Ge- spräch, in dem Ali den Transmann sofort zu seinen Genitalien ausfragt und wegen der Toiletten-Sexszene, in der jener den Dildo fallen lässt. Die fetischisierte Figur enthalte einige der negativsten Stereotype über Transmänner, schlussfolgert Kee- gan: dass diese bereit seien, über ihre Genitalien mit Fremden zu diskutieren (ei- ne problematische Annahme, von der freilich auch Transfrauen betroffen sind), dass sie sich stets selbst als »Mann mit Vagina« sähen oder dass sie sexuell nicht richtig funktionierten, mangels »normalem« Penis.35 Der fallende Dildo mag als humoristische Dekonstruktion von Männlichkeit intendiert gewesen sein. Insofern ist diese Darstellung, die Keegan zu Recht als problematisch ausweist, vielleicht wieder mit dem von Soloway aufgeworfenen Female Gaze kompatibel. Dieser schützende Blick umfasst, seinem Titel gemäß, nicht Männer und ist ein feministisches Anliegen. Andererseits ist der Female Ga- ze, so wie Soloway ihn selbsttheoretisiert hat, zugleich trans und queer.36 Diesem queer-feministischen Programm entsprechend, belässt es Transpa- rent nicht bei der Repräsentation von Trans-Menschen und einer individuellen, spezifischen Transitions-Geschichte. Die Serie, so möchte ich im Folgenden auf- zeigen, weitet sich zu umfassenderen Gender-Repräsentation aus, die sich als queere und mitunter auch feministische Intervention diskutieren lassen. 32 Vgl. Iversen: »On ›I Love Dick‹ Jill Soloway Deconstructs The Female Gaze«. 33 Vgl. Boylan: »Transgender, Schlumpy and Human«. 34 Keegan: »Op-ed: How Transparent Tried and Failed to Represent Trans Men«. 35 Vgl. ebd. 36 Soloway: Master Class. NAVIGATIONEN 66 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »FEMALE GAZE, QUEER GAZE, TRANS GAZE« 3. QUEER-FEMINISTISCHE INTERVENTIONEN UND AUSWEITUNGEN In Teilen geht Soloway mit ihrem offenen und, wie selbst einräumt, unspezifi- schen Konzept37 des Female Gaze über eine geschlechterbinäre Perspektive hin- aus. Zugleich betont sie die weibliche Subjektposition: »The female gaze […] po- sitions ME the woman as the Subject«,38 argumentierte sie 2016 beim Toronto Film Festival und bezog sich, sowohl ironisch als auch explizit, auf Laura Mulveys einflussreichen Aufsatz Visual Pleasure and Narrative Cinema.39 Dem hier festge- stellten Male Gaze, der das Nicht-Männliche als mangelhaft erachtet und zum Ob- jekt macht,40 stellt Soloway ihren postulierten weiblichen Blickwinkel entgegen. Sowohl bei ihrem jüngsten Serienprojekt I Love Dick (USA 2016–, Amazon Prime), das weibliche Blickwinkel und Begehren noch offensichtlicher und ironischer er- kundet, als auch bei Transparent können wir allerdings fragen, ob diese Beispiele dem von Mulvey erhofften Gegen-Kino entsprechen, das Vergnügen und Privile- gien der Zuschauenden und der Kamera, aufheben sollte.41 Eine industrielle SVOD- und Shopping-Plattform zum heimischen Binge Watching hatte Mulvey wohl kaum vor Augen.42 Aber vielleicht lassen sich gerade angesichts dieses kommerziellen Rahmens queere und feministische Interventionen diskutieren? Soloway und die weiteren Produktionsbeteiligten, so können wir (trotz offensichtlicher Kommer- zialisierungs- und Instrumentalisierungstendenzen) feststellen, machen trans, queere und feministische Repräsentationen und Selbstreflektionen für ein größe- res (wenngleich spezielles) Publikum sichtbar und intervenieren insofern in einen Kontext, denn wir trotz Fragmentisierungen und Nischenprogrammen als Mainstream bezeichnen können. Zu nicht mehr transspezifischen, sondern umfassenderen und fluiden quee- ren Perspektiven führt ein Arsenal an Figuren und Handlungssträngen, nicht zu- letzt um Mauras drei Kinder. Diese widersprechen (hetero-)normativen Vorstel- lungen: der Sohn Josh (Jay Duplass), ein hipper Musikproduzent, durch die seit seiner Jugend andauernden sexuelle Beziehung mit seiner Babysitterin und die Äl- teste Sarah (Amy Landecker), anfangs wohlhabende Mutter und Ehefrau, durch ihr lesbisches Begehren für die Ex oder ihre späteren S/M-Experimente. Die zu Beginn arbeits- und orientierungslose Tochter Ali (Gaby Hoffmann) versinnbild- licht besonders deutlich die Flexibilität der Identitätssuche, indem sie sich in ver- schiedenen sexuellen Konstellationen versucht und auch ihren Körper Prozessen der Wandlung unterzieht. So macht sie sich beispielsweise als »high-femme« für 37 Iversen: »On ›I Love Dick‹ Jill Soloway Deconstructs The Female Gaze«. 38 Soloway: Master Class. 39 Mulvey: »Visuelle Lust und narratives Kino«. 40 Vgl. zur Kritik und Diskussion zu Mulveys Text z.B. Klippel: »Film: Feministische Theorie und Geschichte«. 41 Mulvey: »Visuelle Lust und narratives Kino«. 42 Vgl. Villarejo: »Jewish, Queer-ish, Trans, and Completely Revolutionary: Jill Soloway’s Transparent and the New Television«. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 67 FLORIAN KRAUß das Date mit einem Transmann zurecht. Im weiteren Verlauf der Serie verortet sie sich zunehmend außerhalb der Dichotomien männlich vs. weiblich und hetero- vs. homosexuell – besonders pointiert in der an der Klagemauer spielenden Szene in Staffel vier: Zunächst auf der Seite der Frauen verharrend, blickt sie über die trennende Wand. Dann setzt sie sich eine weiße Kippa auf. Die Kamera folgt Ali in einer Nahaufnahme bei ihrem Gang durch die separate Männerwelt. In ihren entsprechenden Variationen von Transition und Identität kann die Serie als umfassenderes, nicht mehr trans-spezifisches Transitions-Narrativ ge- deutet werden.43 Sie knüpft also an dieses Transgender-Erzählmuster an, erwei- tert es aber zugleich und interveniert insofern in dieses. »[W]hen a parent transi- tions everybody in the family transitions«,44 sagt Soloway auch vor dem Hinter- grund ihrer eigenen Biographie: Ihr Elternteil hatte erst vor wenigen Jahren sein Coming-out als Transfrau. Mauras Exfrau Shelly (Judith Light) greift diese Bemer- kung in der dritten Staffel fast wortwörtlich, wenngleich selbstbezogener auf und behauptet selbst ein Coming-out zu durchleben. In dieser Konfrontation mit Mau- ra scheint Shelly geltungssüchtig und anmaßend. Zugleich erinnert ihre Argumen- tation an die von Soloway, dass in Folge von Mauras Coming-out die Identität ei- nes jeden Pfeffermans brüchig werde. Transition und Identitätswandel werden auch über jüdische Rituale der Fami- lie erzählt, was eine Interdependenz von Queerness und Judentum andeutet.45 In Festen und Bräuchen kommen die Pfeffermans zusammen und konstituieren so Familie, aber auch die Zugehörigkeit zum Judentum. Dieses bildet einen selbst- verständlichen Teil ihrer assimilierten amerikanisch-jüdischen Lebenswelt, doch gemeinhin sind sie säkular.46 Zwar beschäftigen sich Ali und Sarah temporär inten- siver mit dem Judentum, und reisen alle Pfeffermans in der vierten Staffel gemein- sam durch Israel, aber eine stärkere Zuwendung zur Religion bleibt letztendlich aus. Auch in dieser Hinsicht verweigert sich die Narration einer chronologischen Transitions-Geschichte mit klarem Endpunkt. Mit dem Judentum kommt Religion und somit eine weitere Identitäts- als auch Diskriminierungskategorie ins Spiel bzw. werden im Sinne einer Intersektio- nalität47 Überschneidungen mit Gender thematisiert. »Mauras Transition führt […] nicht nur innerhalb der Familie zu einem Rollenwechsel, sondern damit ein- hergehend auch innerhalb jüdischer Tradition und geschlechtsgebundener Litur- gie«,48 stellt Hannah Süss fest. So begeht Maura in der Folge »Wilderness« der 43 Vgl. Krauß: »Ist Trans das neue Queer? Transgender-Repräsentationen in der Webserie Transparent«. 44 Soloway zitiert in Sepinwall: »›Transparent‹ creator: Streaming shows are ›inventing a new art form‹«. 45 Vgl. Süss: »Judentum als ›drittes Geschlecht‹?«, S. 17. 46 Villarejo: »Jewish, Queer-ish, Trans, and Completely Revolutionary: Jill Soloway’s Trans- parent and the New Television«. 47 Vgl. Dietze u.a.: »Intersektionalität und Queer Theory«. 48 Süss: »Judentum als ›drittes Geschlecht‹?«, S. 18. NAVIGATIONEN 68 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »FEMALE GAZE, QUEER GAZE, TRANS GAZE« ersten Staffel den Sabbat das erste Mal offiziell als Frau und übernimmt dabei, als Mutter der Familie, die traditionelle Rolle der Kerzenanzünderin. Das Thema der Intersektionalität ist insbesondere in Staffel drei präsent, denn in Ansätzen bewegt sich diese vom weißen Mittel-/Oberschichtsmilieu der Familie Pfefferman weg und hin zu ärmeren oder weniger urbanen Milieus. So landet Maura hier in der Auftaktfolge in einem migrantischen und ärmlichen Shoppingcenter jenseits ihrer wohlhabenden Lebenswelt. Intersektionalität kommt auch explizit als Begriff vor, den Ali in einer Traumsequenz mit Caitlyn Jenner erraten muss, und wird von Soloway in öffentlichen Statements ge- braucht.49 Das akademische Konzept findet also Einzug in die Populärkultur, so wie die Serie allgemeiner Queer und Gender Studies porträtiert. Indem sie quee- re Theorien und Themen in einen vergleichsweise massenkompatiblen, Universi- täts-fernen Bereich einfließen lässt, geht sie weiter als die meisten anderen Fern- sehproduktionen und fungiert womöglich auch so als queere Intervention. Hinsichtlich Intersektionalität zeigen sich allerdings auch Grenzen dieses Transfers und der Queerness von Transparent und Soloways Female Gaze. Dis- kriminierungsformen jenseits von Sexualität und Geschlecht bleiben sekundär. In ihrer besagten Rede bezeichnet die zentrale Schöpferin der Serie Diskussionen zu einem »weißen« Feminismus als »exciting conversational moment« und Race als ein Thema, über das sie gerne sprechen würde, um gleich darauf mit dem Hin- weis abzuschließen, sich heute nur auf Gender zu beschränken.50 Während Race als Stichwort vorkommt, bleibt Klasse bzw. class gänzlich unerwähnt. Eine ähnli- che Hierarchie und ein ähnlicher Bias kennzeichnen die Serie selbst, trotz gewis- ser Korrekturen: In einer Szene weist die HIV-positive Transfrau Davina, die für Maura als Mentorin fungiert und die Bandbreite an Transgender-Repräsentationen hinsichtlich Race und Klasse erweitert, Maura im Streit darauf hin, dass nicht jeder Geld und eine Familie habe wie sie. Neben solchen selbstreflexiven Momenten, in denen die Serie wohl sachte auf Kritik an ihrer einseitigen weißen Mittelschichts- perspektive reagiert, findet sich jedoch auch die Repräsentation zweier muskulö- ser afroamerikanischer Männer als Alis Sexpartner: eine ironische Fetischisierung des Anderen, die weniger einen intersektionalen Queer oder Female Gaze als vielmehr einen weißen Blick erkennen lässt. Die »carefully constructed white world«51 in der wohlhabenden Mittel- /Oberschicht ist freilich so genau, ambivalent und spezifisch gezeichnet, dass sie auch eine Stärke der Serie ausmacht. Als »Jewy, screwy, L.A., upper middle class, not so much queer-friendly as queer-saturated […] [and] role-model free«52 hat 49 Vgl. z.B. Ivie: »Jill Soloway on Season 3 of Transparent, Intersectionality, and Why It’s ›Unacceptable‹ for Cis Men to Play Trans Women«. 50 Soloway: Master Class. 51 Villarejo: »Jewish, Queer-ish, Trans, and Completely Revolutionary: Jill Soloway’s Trans- parent and the New Television«. 52 Nussbaum: »Inside Out«. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 69 FLORIAN KRAUß Emily Nussbaum die Pfeffermans pointiert umrissen, die sich nicht nur durch ihre Klassenzugehörigkeit, sondern auch durch ihre Selbstbezogenheit auszeichnen. Zusätzliche Perspektiven auf diese Fernsehfamilie und auf Lebenskonzepte, die wir nach heutigem, westlichem Vokabular trans und queer nennen, ergeben sich durch Rückblenden in das Berlin der frühen 1930er Jahre, wo am Institut für Sexualwissenschaft alternative Identitätsansätze anzutreffen sind. Die Transitions- und Transgendergeschichte um Maura Pfefferman fächert sich so weiter hin zu einem queeren Familienepos auf und nimmt formal queere Züge an. 4. QUEERE INTERVENTIONEN IN DER FORM Auch in formaler Hinsicht und im Bezug zu populärkulturellen Gender-Repräsen- tationen in Fernseh- und Webserien stellt Transparent eine queere Intervention dar. Zwar können Serien allgemein als »historische Akteure« angelegt sein und dabei »aktiv über die eigenen Fortsetzungsmöglichkeiten nach[denken]« und »mit unterschiedlichen Formideen [experimentieren]«,53 doch selten tun sie dies so vehement wie Transparent. Die Rückblenden und Ortswechsel ins Berlin der 1930er Jahre sind zunächst nur rätselhafte Fragmente, dann kristallisieren sich Zu- sammenhänge mit den Pfeffermans heraus. Fantasie und Realität sind in jenen Szenen, wie in anderen postmodernen Texten, nicht immer zu trennen.54 Es sind also nicht allein Gender-Grenzen auf der inhaltlichen Ebene, die fluide werden. Unterschiedliche Lokalitäten sowie Vergangenheit und Gegenwart überlagern sich, etwa durch Doppelbesetzungen in beiden Handlungssträngen, was an das New Queer Cinema und dessen »reworking of history«55 denken lässt. Auch hier haben Filme Zeit alternativ bzw. queer repräsentiert, als ein Ineinandergreifen von Vergangenheit und Zukunft.56 Ali, die zur familiären Vergangenheit recherchiert, wird schließlich selbst das Deutschland im Jahr 1933 betreten: Sie läuft durch den nächtlichen Wald am Ran- de des fiktiven feministischen Idyllwild Wimmin’s Music Festival, dem primären Handlungsort der Folge »Man on the Land«, auf der Suche nach Maura. In einer Parallelmontage sehen wir, wie sich Maura anschickt, das Festival zu verlassen. Schnitt zu Ali: Sie schaut an sich herab und sieht die »jüdischen« Schuhe an ihren Füßen, von denen sie in einer früheren Szene ihrer Freundin Syd berichtet hat: in Schwarz und Rot, mit einem Glöckchen versehen, wie sie jüdische Frauen im zwölften Jahrhundert in muslimisch dominierten Regionen tragen mussten.57 Ali streift den skeptischen Blick der vorbeieilenden Frau, die in ihrem altmodischen ockerfarbenen Mantel und mit ihrer schwarzen Handtasche offensichtlich nicht zu 53 Kelleter: »Populäre Serialität«, S. 20. 54 Vgl. Bauer: Romantheorie und Erzählforschung, S. 70. 55 Rich: »New Queer Cinema«, S. 32. 56 Vgl. Arroyo: »Death, Desire and Identity«, S. 88ff. 57 Vgl. Johnson: A History of the Jews, 204f. NAVIGATIONEN 70 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »FEMALE GAZE, QUEER GAZE, TRANS GAZE« den Besucherinnen des sommerlichen Festivals gehört. Es ist ihre aus vorherigen Rückblenden bekannte Urgroßmutter. Ein weiteres Cross-Cutting versetzt uns an Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft, in das junge Männer in weißen Hemden und SA-Uniformen eindringen. Dieser Strang in der Vergangenheit über- lagert sich zunehmend mit dem gegenwärtigen um Ali und dringt in ihren Hand- lungsort, den nächtlichen Wald ein. Stumm wohnt Ali hier der Bücherverbren- nung bei. Sie hält die Hand der jungen Rose (ihrer Großmutter), die dem Teena- ger Ali aus Rückblenden in die 1990er Jahre gleicht, während SA-Männer Tante Gittel, nach heutigen Klassifizierungen eine Transfrau, abführen. Transparent bricht an jener Stelle in eine experimentelle und offene Form auf. Anfangs noch stärker narrativen Konventionen der Fernsehserie (wie Cliffhangern oder thematisch einander spiegelnden Handlungssträngen) und einer relativ klassi- schen Transitions-Geschichte verbunden, interveniert Soloways Produktion nun (als auch in späteren Staffeln und Folgen) formal in diese Gattungs- und Genre- kontexte. Inhaltlich fällt die Folge »Man on the Land« allerdings weniger überzeugend aus als formal, schließlich stellt die Parallelmontage zwischen Mauras Aufbruch und Alis Begegnung mit Rose und Tante Gittel recht unterschiedliche Situationen von Vertreibung gegenüber: 1933 werden Magnus Hirschfeld und die Besu- cher*innen seines Instituts fortgejagt und inhaftiert, in der Gegenwartshandlung ist Maura der Besuch des feministischen Musikfestivals als »nicht-biologische« Frau untersagt, was ebenso auf ein historisches Ereignis anspielt: 1991 wurde Nancy Jean Burkholder, eine postoperative Transfrau, des feministisch-lesbischen Michi- gan Womyn’s Music Festival mit der Begründung verwiesen, sie sei tatsächlich ein »Mann«. Susan Stryker sieht darin einen Schlüsselmoment des US-amerikanischen und kanadischen Trans-Aktivismus.58 Indem die Serie die fiktive Version dieses Vorfalls sowie Gewalt und Verfolgung durch die Nationalsozialisten parallel zeigt, bewegt sie sich auf politisch heiklem Terrain. Führt die experimentelle Form letz- ten Endes zu einem problematischen Vergleich von (bestimmten) Feministinnen und Nazis, ist kritisch zu fragen. Womöglich mangelt es hier an politischem Be- wusstsein und Sensibilität. Zugleich deutet sich ein politischer Anspruch an. Die Serie stellt immer wieder Gender-politische Bewegungen und Diskurse dar, über das fiktive Musikfestival und die Kreise um Magnus Hirschfeld hinaus. Der Trans- gender-Aktivismus am mehrfach präsenten LGBT Center Los Angeles, an dem Mau- ra Trans-Treffen besucht, wird so in anderen Bewegungen gespiegelt. Bei den Szenen an jenem regelmäßigen Handlungsort werden die Grenzen zwischen Fiktivem und Dokumentarischem mitunter fließend, wodurch die Serie einmal mehr eine hybride Form aufweist. Verschiedene Trans-Darsteller*innen und -Statist*innen sind zu sehen. Auch behind the screen waren mehrere Trans- Consultants beteiligt, und der Writers‘ Room verfügt seit der zweiten Staffel über ein Trans-Mitglied. Showrunnerin Jill Soloway verordnete eigenen Worten zufolge 58 Vgl. Stryker: »(De)Subjugated Knowledges«, S. 5. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 71 FLORIAN KRAUß der Produktion ein »transfirmative action«-Programm, demnach vorzugsweise Trans-Menschen eingestellt würden.59 Queere Interventionen und Politiken lassen sich angesichts dieses Bestrebens auch auf der Produktionsseite diskutieren. Die Besetzung der Transfrau Maura mit Jeffrey Tambor, einem Cis-Schauspieler, hat allerdings vor allem zum Serienstart einige Kritik hervorgerufen, und knüpft wie- derum an die Tradition in Film- und Fernsehindustrien an, dass Cisgender (d.h. Menschen, die sich mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizie- ren) Transgender spielen. Im November 2017 wurde Jeffrey Tambor zudem im Kontext der #Metoo-Debatte sexueller Belästigungen zweier Transfrauen am Set von Transparent beschuldigt. In der angekündigten fünften Staffel soll er nicht mehr vertreten sein.60 Auf der Ebene der Produktion finden sich also Aspekte, die die Queerness von Transparent womöglich relativieren. Die Repräsentationen, auf die sich mein Aufsatz konzentriert hat, sind genau- so wenig frei von problematischen Tendenzen. Nichtsdestotrotz lässt sich Trans- parent als queere Intervention wertschätzen, in deren Folge Transgeschlechtlich- keit bzw. -identität komplexer und sensibler erzählt werden als in vielen anderen populärkulturellen Transgender-Narrativen. Die Serie beschränkt sich nicht auf transspezifische Figuren und Themen, sondern weitet sich zu einem queeren Fa- milienepos aus, das eindeutige, dichotome Identitätszuschreibungen vermeidet und Diskurse der Queer und Gender Studies aufgreift. Auch formal geht der Me- dientext Transparent weiter als viele andere populärkulturelle LGBT- Repräsentationen der Gegenwart. In seinen Verschränkungen von verschiedenen Raum- und Zeitebenen und durch die serielle Erzählung von Gender und Identität als weder chronologische noch abgeschlossene Prozesse trägt er Züge einer queeren Narratologie. LITERATURVERZEICHNIS Arroyo, Joe: »Death, Desire and Identity. The Political Unconscious of ›New Queer Cinema‹«, in: Bristow, Joseph/Wilson, Angelia (Hrsg.): Activating The- ory. Lesbian, Gay, Bisexual Politics, London 1993, S. 70-96. Bauer, Matthias (2005): Romantheorie und Erzählforschung. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler. Boylan, Jennifer: »Transgender, Schlumpy and Human«, in: The New York Times/ nytimes.com, 15.02.2014, http://www.nytimes.com/2014/02/16/opinion/sunday/boylan-transgender- schlumpy-and-human.html?_r=1, 18.08.2017. Brodesser-Akner, Taffy: »Can Jill Soloway Do Justice to the Trans Movement?«, in: The New York Times/nytimes.com, 29.08.2014, 59 Vgl. Brodesser-Akner: »Can Jill Soloway Do Justice to the Trans Movement?«. 60 Vgl. u.a. Nyren: »Jeffrey Tambor Departs ‘Transparent’ Amid Sexual Harassment Allega- tions«. NAVIGATIONEN 72 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »FEMALE GAZE, QUEER GAZE, TRANS GAZE« http://www.nytimes.com/2014/08/31/magazine/can-jill-soloway-do-justice- to-the-trans-movement.html?_r=0, 18.08.2017. 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NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 75 »IT’S CALLED A ›DEVIL’S THREESOME‹ FOR A REASON« Transgression und Queerness in der Fernsehserie Lucifer – Ein Essay V O N J O A N N A N O W O T N Y Der Teufel hat seinen Job an den Nagel gehängt. Die Prämisse der Fernsehserie Lucifer (Fox, 2016-), eine humoristische Mischung aus Krimi und Fantasy, ist be- stechend: Lucifer (Tom Ellis) verlässt die Hölle und zieht mit seiner getreuen Dä- monin Mazikeen nach Los Angeles, die Metropole der Stars und Sternchen, um ein neues, menschliches Leben zu beginnen. In der Hölle war Lucifer nie sonder- lich glücklich, hat ihn doch sein wütender Gottvater nach Rebellionsversuchen dorthin verbannt und gezwungen, die Selbstbestrafungen unglücklicher, von Ge- wissensbissen zerfressener Menschen zu überwachen. Jean-Paul Sartres berühm- te Formel aus dem Theaterstück Huis Clos (1943), die Hölle seien die anderen, ließe sich mit Blick auf Lucifer variieren zu: Die Hölle findet jeder Mensch in sich selbst, und der Teufel möchte am liebsten nichts damit zu tun haben. Angelangt in Los Angeles und ausgestattet mit dem Namen des Himmelskör- pers, nach dem er im Lateinischen benannt ist, der Venus, macht sich Lucifer Morningstar schnell einen Ruf als Verführer und schlauer Geschäftsmann. Mehr- fach wird angedeutet, sein erstes Geschäft in der Menschenwelt sei die Prostituti- on gewesen. Als die Zuschauer*in Lucifer trifft, ist er erfolgreicher Clubbesitzer mit einer Unmenge Geld. Schon die erste Szene des Pilots bringt die Macht auf den Punkt, die Lucifer als reichem, weißem Mann zukommt. Aus einem stilvollen Cabriolet mit dem treffenden Nummernschild »Fallin1« besticht Lucifer einen Po- lizisten, der ihn wegen zu schnellen Fahrens büßen will. Erst nach einer Weile lässt sich Lucifer breitschlagen, die laute Musik herunterzudrehen, mit der er durch den großstädtischen Verkehr braust; und schon kurz darauf hat sich das Problem erledigt, denn dem dicken Bündel Dollarscheine, das Lucifer aus seinem eleganten Sakko zaubert, kann der Ordnungshüter nicht widerstehen. Doch nicht nur das Geld verleiht Lucifer Macht. Der Polizist wird nach einem Blick in die Augen des Teufels gefügig und willig, ihm seine tiefsten Sehnsüchte und schmutzigsten Geheimnisse zu offenbaren. Damit diskreditiert er sich: Denn auch er genießt anscheinend bisweilen das zu schnelle Fahren und bedient sich zu diesem Zweck der Polizeisirene, ohne dass tatsächlich ein Notfall vorläge. Wenn die Queer Theory den Fokus auf »mismatches between sex, gender and desire« legt, wie eine Introduction zum Thema es formuliert (Annamarie Jagose, 1996), dann ist die Teufelsfigur in der Serie Lucifer inhärent queer: Ihre übermenschliche Fähigkeit besteht darin, menschliche Begehrlichkeiten manifest werden zu lassen, die der normativen Ordnung im einen oder anderen Sinn widersprechen. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE JOANNA NOWOTNY Manchmal, wie in dieser ersten Szene, stehen solche Begehrlichkeiten bloß in Opposition zur sozial-professionellen Rolle einer Figur. Manchmal aber sind sie handfest sexuell kodiert, wie etwa in der vierten Episode der ersten Staffel, Manly Whatnots, in der Lucifer einen Aufseher bezirzt. Der Aufseher arbeitet an einer Veranstaltung sogenannter Pick-Up Artists, das heißt von Männern, die sich als Spezialisten im Verführen von Frauen betrachten. Die ganze Episode stellt einerseits den brutalen Sexismus solcher Versammlungen aus, die darauf abzielen, heutigen (sprich: emanzipierten) Frauen zu zeigen, wie ein ›richtiger‹ Mann mit ihnen umspringt (und natürlich wird jeweils angenommen, eine solch vermeintlich archaisch-authentische Männlichkeit bringe auch in den Frauen wieder die natürlich-feminine Natur zum Vorschein, die moderne Verir- rungen wie der Feminismus korrumpiert hätten). Unter anderem werden die Prämissen der zynischen ›Künstler‹ subvertiert und ironisiert, wenn Lucifer ver- sucht, sie selbst umzusetzen – und sich gemäß dem Grundsatz »take risks« vor der weiblichen Hauptfigur der Serie entblößt, der Polizistin Chloe Decker (Lauren German). In dieser Szene wird der Körper der männlichen Figur als Objekt in Szene gesetzt, das durch den Blick der Zuschauer*in penetriert wird; nackt, ver- lockend und gleichzeitig verletzlich. Gleichzeitig stabilisiert die Episode Manly Whatnots aber doch wieder sexisti- sche Vorstellungskomplexe. Die Serie folgt einem sexistischen Skript, wenn Chloe zum Beispiel an der frauenverachtenden Versammlung keinen Mucks des Protests äußern darf, oder ihr Ex-Mann Daniel seiner Eifersucht auf Lucifer Ausdruck gibt und die weibliche Figur auch dort still bleiben muss, als ob solche Ansprüche von Seiten eines ehemaligen Partners gerechtfertigt wären. Und ebenso problema- tisch ist, dass Lucifers Interesse an Chloe eben dadurch erklärt wird, dass seine geheimen Kräfte bei ihr nicht fruchten, sprich: er sie nicht verführen kann, da er ihr tiefstes Begehren nicht erfährt, im Gegensatz zu allen anderen Frauen, die Wachs in seinen Händen sind (und ostentativ wird verbal immer Lucifers Verfüh- rungskraft gegenüber Frauen, und nicht gegenüber Menschen, betont). Wie dem auch sei: In der Episode Manly Whatnots also trifft Lucifer einen Ordner, der auf die Frage, welche der attraktiven (und halbnackten) Frauen am Anlass er begehre (»which one do you desire?«), kurz und bündig antwortet: »You. I’m gay.« In einem ersten Schritt werden nun transmediale Bezüge hergestellt oder of- fengelegt, zum Beispiel zum Medium Comic und den diversen Vorläuferfiguren des Fernsehteufels. Danach soll das queere Potential von Lucifer auf zwei Ebenen ausgelotet werden. Zuerst wird nach der strukturellen Disruption gefragt, die der Teufelsfigur in ihrem Protest gegen die Ordnung des Gottvaters eigen ist. An- schließend steht die explizite und ambivalente Darstellung von Queerness in der Serie im Fokus der Untersuchung. Daraus lässt sich zuletzt eine Kritik nicht nur an konkreten Darstellungsmodi von Queerness, sondern auch an nur teilweise hinter- fragten Gewissheiten der theoretischen Diskussionen im Feld der Queer Theory ableiten: Figur und Serie wirken mit an der Idealisierung einer ganz spezifischen NAVIGATIONEN 78 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »IT’S CALLED A ›DEVIL’S THREESOME‹ FOR A REASON« Form von Queerness, deren Prämissen es zu reflektieren gilt. Lucifer ist eine popu- lärkulturelle Fernsehserie, die unter bestimmten medienästhetischen sowie öko- nomischen Voraussetzungen operiert und die ein breites Publikum erreicht – so- mit lässt sich an ihr vorzüglich sichtbar machen, inwiefern ein bestimmter Typus von Queerness heute bis zu einem gewissen Grad mehrheitsfähig geworden ist, während andere Aspekte queerer Lebensentwürfe und –realitäten weiter ausge- blendet werden müssen. 1. TRANSFORMATIONEN: DIE TRANSMEDIALEN REISEN DER LUCIFER- FIGUR Lucifer lässt Begierden manifest werden und besitzt damit eine übernatürliche Kraft; in ›unserer‹ Welt, in der die Serie spielen soll, unterwandert diese Kraft normative Konstrukte und gesellschaftliche Konventionen und besitzt damit das Potenzial, Werte- und Machtsysteme zu destabilisieren. Sie macht Lucifer im Zeitalter der höchst rentablen Superheldenfilme auch zu einer Art Superheld, wozu nicht zuletzt seine übermenschliche Stärke und seine weitgehende Unver- wundbarkeit beitragen. Mit dem Universum der Superhelden verbunden ist die Lucifer-Figur denn auch in mediengenetischer Hinsicht. Die Fernsehserie basiert lose auf den Lucifer- Comics des Verlags DC/Vertigo, in denen Lucifer nicht zuletzt mit verschiedenen Superhelden und -schurken des DC-Universums interagiert. Die Figur stammt ur- sprünglich aus der ikonischen The Sandman-Comicserie (1988-1996), geschrieben von Neil Gaiman und illustriert von Künstlern wie Sam Kieth, Mike Dringenberg und Jill Thompson; dort hatte sie allerdings nur eine Nebenrolle. Der Protagonist von The Sandman, ›Dream‹, eine Personifikation des Traumes und der Fantasie, mithin auch der Schöpfungskraft der Kunst, begegnet im vierten Band der Sam- melausgabe (Season of Mists) dem gelangweilten und desillusionierten Herrscher der Hölle. Es kommt nicht zum epischen Kampf, den die Leser*in erwartet; Luci- fer übergibt Dream kampflos den Schlüssel zu seinem Reich. Einst der schönste aller Engel, ist Lucifer nach Äonen des Frondiensts in der Hölle bloß ein Schatten seiner selbst. Auf sein Geheiß schneidet ihm Dream die Engelsflügel ab, die ihn noch immer als Diener Gottes kennzeichnen, selbst in seiner Rolle als perfekter Rebell und Antipode. Erst Mike Carey schrieb – in Zusammenarbeit mit verschie- denen Künstlern wie Chris Weston, Dean Ormston und Peter Gross – als soge- nanntes spin-off von The Sandman eine Soloserie für die Figur, die vornehmlich zwischen 2000 und 2006 erschien (seit 2016 hat Lucifer eine neue Soloserie bei Vertigo, die sich die plötzliche Visibilität der Figur im Fernsehen zu Nutze zu ma- chen sucht). Die Prämisse der ersten Soloserie wurde direkt in die Fernsehadap- tion übernommen: Lucifer, dessen »obsession« die Freiheit ist, »is no longer the Lord of Hell. He is no longer the Agent of Heaven. Even his name Lucifer, the Lightbringer, describes a function from which he has resigned. He has escaped from providence« (Heft 1, 2000). NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 79 JOANNA NOWOTNY Sowohl Gaiman als auch Carey sind offensichtlich unter anderem inspiriert durch die Darstellung Lucifers in Miltons epischem und stilprägendem Gedicht Pa- radise Lost (1667), aus dem die Figur in The Sandman denn auch selbstreflexiv und metareferenziell zitieren darf: »›Better to reign in hell, than serve in heaven.‹ We didn’t say it. Milton said it. And he was blind.« Wie bei Milton ist die Lucifer-Figur jeweils tragisch in ihrer Rebellion gegen die Vorsehung und den Willen Gottes, der sämtliche Kreaturen zu Marionetten degradiere. Lucifer ist bei Milton, Gai- man und Carey, aber auch in der Fernsehserie Lucifer, die Galionsfigur des freien Willens. Er war es, der Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis kosten ließ und ihnen somit Entscheidungsfreiheit verschaffte. Schon in der zweiten Episode der Fernsehserie, Lucifer, Stay. Good Devil. wird ein Apfel in Szene gesetzt, den Lucifer seinen »old friend« nennt – eine eindeutige Anspielung auf die Rolle, die Lucifer bei der Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies gespielt haben soll. Careys Serie behandelt vor allem mystische und fantastische Vorkommnisse. Der charismatische Lucifer beschließt nach der Flucht aus dem Pandämonium, Gott durch List und Tücke zu bekämpfen, bevor er zu einem erneuten Krieg ge- gen den Himmel bläst; böse Kräfte wollen neue Engel züchten; und auf dem To- tenschiff der nordischen Mythologie, Naglfar, reisen Lucifer und seine Verbünde- ten ans Ende der Welt. Die TV-Serie Lucifer hingegen bedient sich zwar einiger Elemente aus dem Comic. Lucifer ist Clubbesitzer, eine der ersten Geschichten in Comic und Fernsehserie behandelt den Raub der Engelsflügel, die er sich ab- schneiden ließ, und so weiter, und so fort. Doch vermischt Lucifer diese fantasti- schen Elemente mit dem Set-Up einer klassischen Krimiserie. In der ersten Epi- sode wird eine Freundin Lucifers ermordet und Lucifer begegnet der Detektivin Chloe. Da er den Mörder bestrafen will, geht Lucifer auf Verbrecherjagd – Chloe ist ihm auf den Fersen. Eine Mischung aus Faszination für Chloe und persönlicher Befriedigung bei der Bestrafung von Übeltätern bringt den Teufel in der Folge da- zu, sich weiter der Verbrechensbekämpfung zu widmen und seine gottgegebene Rolle als »punisher« somit auf Erden in neuem Gewand auszuleben. Lucifer wird damit zu einer Art Mephisto-Figur, die, wie in Goethes Faust, zwar eigentlich »stets das Böse will«, aber doch »stets das Gute schafft«. Praktisch jede Episode der Serie behandelt einen Kriminalfall, der jeweils als Vorwand für Narrative über die persönliche Entwicklung Lucifers dient. Denn Lu- cifer erzählt vor allem auch die Geschichte einer nicht- oder übermenschlichen Fi- gur, die Stück für Stück vermenschlicht wird und lernen muss, mit ihren Emotio- nen umzugehen. Das Konzept der Serie löste übrigens Kontroversen aus, was wie ein Nachhall diverser Kritiken an Miltons Paradise Lost mit seiner schillernden, in- teressanten und anziehenden Teufelsfigur anmutet. Die christliche Vereinigung One Million Moms suchte die Lucifer-Fernsehserie noch vor Ausstrahlung der ers- ten Episode zu boykottieren, denn der Teufel dürfe nicht »as a caring, likable per- son in human flesh« dargestellt werden. Auf diese Kampagne wird in Episode 17 der zweiten Staffel selbstreflexiv angespielt: »I think you might be in danger«, NAVIGATIONEN 80 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »IT’S CALLED A ›DEVIL’S THREESOME‹ FOR A REASON« warnt Lucifers Engelsbruder Amenadiel (D.B. Woodside). »What is it? One Million Mums?«, erwidert ein amüsierter Lucifer. Lucifer findet auf seinem Weg zur Menschlichkeit Hilfe: Während die Psycho- therapeutin Dr. Linda Martin zuerst und nach sexistischem Schema vor allem eine weitere verführte Frau ist, die den Reizen des Protagonisten nicht widerstehen kann (im Pilot der Serie spreizt sie für ihn tatsächlich die Beine), wird sie zuneh- mend zu einer zentralen Figur, die den Prozess der schrittweisen, aber immer nur partiellen Selbsterkenntnis Lucifers anleitet und begleitet. Und die Psychoanalyse hat der Teufel vor allem auch nötig, da er an dem Konflikt leidet, der für die Dis- ziplin zentral ist und der schon in den Schriften ihres Gründervaters zum Angel- punkt der individuellen psychologischen Entwicklung erhoben wird: Lucifer leidet an einem ausgeprägten (Gott-)Vaterkomplex. 2. TEUFLISCHE TRANSGRESSIONEN UND FAMILIÄRE NORMATIVITÄT Nach der Queerness in der Serie Lucifer kann auf zwei Ebenen gefragt werden, ei- ner strukturellen und einer inhaltlichen. Die enge Assoziation des Protagonisten mit (geheimen) Begehrlichkeiten und mit deren disruptivem Potenzial ist ein grundlegend transgressives Serienelement. Und das Narrativ von Lucifer wird zu- dem angetrieben durch das queere Moment überhaupt: durch den Protest gegen eine oder besser die patriarchale Ordnung schlechthin, die Ordnung des Gottva- ters, den Lucifer in einer Episode als »cruel, manipulative bastard« beschimpft – als Tyrannen, der nur darauf aus sei, absurde Normen oder »stupid rules« durch- zusetzen und dem man es nie recht machen könne (Episode 9, Staffel 1). Und in dieser Hinsicht transformiert Lucifer die Satan-Figur Miltons, an die die Serie sich sonst zumindest indirekt, nämlich über die Comics vermittelt, an- lehnt. Miltons Satan ist ganz darauf ausgerichtet, Gottes Pläne zu zerstören, in- dem er die Menschen verführt. Seine Taten sind innerhalb des Narrativs als ›böse‹ markiert, da er Gottes Schöpfung aktiv zu verderben sucht. (Wobei man den re- volutionären, dem Regizid zugeneigten Lucifer trotz seiner ›bösen‹ Taten durch- aus auch als modernen Individualisten und somit als Antihelden lesen könnte, was in der langen Rezeptionskarriere von Paradise Lost auch immer wieder geschah – und Milton selbst verteidigte in Eikonoklastes aus dem Jahr 1649 ja die Exekution eines tyrannischen Königs, der sein Volk zu willenlosen Sklaven degradiert habe.) Satans ganze Existenz in Paradise Lost ist ein energischer Krieg gegen Gott, dessen wahrhafter Antagonist er ist. Fernseh-Lucifer hingegen tut eigentlich gar nichts, geschweige denn, dass er in der diegetischen Gegenwart aktiv mit dem Verderben der Menschheit beschäf- tigt wäre. Er bringt nur die Wünsche an die Oberfläche, die ohnehin in den Men- schen schlummern. Lucifer wehrt sich dementsprechend auch wiederholt gegen seine moralische Stigmatisierung, die nicht seiner Natur entspringe: »My father vilified me! He made me a torturer!« (Episode 6, Staffel 1); »I’m not evil, I punish evil« (Episode 12, Staffel 1); und er zitiert eine Stelle aus The Sandman, die auch in NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 81 JOANNA NOWOTNY der Lucifer-Solocomicserie in einem Flashback erscheint (Heft 75, 2006). In den Worten des Comics, die in der Episode Favorite Son (6, Staffel 1) mit minimer Va- riation und in weit aufgebrachterem Tonfall wiedergegeben werden: »Why do they [scil. die Menschen] blame me for all their little failings? They use my name as if I spent my entire day sitting on their shoulders, forcing them to commit acts they would otherwise find repulsive. ›The devil made me do it.‹ I have never made one of them do anything. Never.« Lucifers höchstes Ziel ist der freie Wille, sein eigener und der der Menschen, und zwar auch und gerade in Sachen Sexualität. Obwohl Chloe sich Lucifer in ei- ner Szene aus der zehnten Episode der ersten Staffel betrunken an den Hals wirft, schläft er nicht mit ihr, anscheinend, da ihre Urteilsfähigkeit (und somit ihr freier Wille) eingeschränkt ist. Und in einer weiteren Szene werden die höllische, durch den Gottvater bestimmte Vergangenheit und die Frage nach sexuellem Einver- ständnis oder consent enggeführt: Sin-Eater, die dritte Episode der zweiten Staffel, zeigt Lucifer und eine Gespielin beim ›wax play‹. Das erotische Spiel mit heißem Wachs gehört zu einer Reihe von BDSM-Praktiken, also von sexuellen Praktiken, die gemeinhin ohnehin als transgressiv gelten. Die junge Frau schreit vor Lust, während Lucifer das Wachs über ihre Haut tropfen lässt. »There’s no need for squeals«, sagt der Teufel, »we’ll stop this torture any time you like. Just say the word.« Nicht nur wird so ganz nebenbei klar gemacht, dass Lucifer und seine Ge- spielin beim Sex ein sogenanntes Safeword verwenden, persönliche Grenzen also respektiert werden. Die Szene verkehrt auch eine Folterszene in ihr Gegenteil, wie man sie von einer Figur wie Lucifer eigentlich erwarten könnte. Anstatt Men- schen zu quälen, ist Lucifer auf der Erde damit beschäftigt, ihnen Lust zu verschaf- fen – in Einklang mit den freien, nicht durch Konventionen oder sexuelle Scham gebundenen Entscheidungen, die er ihnen erst ermöglichen will. (Damit entwirft Lucifer denn auch ein ganz anderes Bild teuflischer und dämonischer Figuren, als es in anderen populärkulturellen US-amerikanischen Serien zu finden ist, die an- sonsten durchaus ähnliche Genrekonventionen bedienen: Wenn Lucifer selbst und auch Mazikeen immer wieder Wert auf das ausdrückliche Einverständnis und die Lust ihrer Sexualpartner legen, unterscheiden sie sich etwa auf frappante Weise von den Dämon*innen und der Lucifer-Figur in der Fantasy-Fernsehserie Superna- tural. Diese werden als sexuelle Raubtiere gezeigt, ohne Interesse am Willen ihrer potenziellen Partner*innen und in Szenen, die Anklänge an Vergewaltigungen aufweisen.) Da Lucifer sich der patriarchalen Ordnung des Gottvaters verweigert und die agency des Individuums über alles stellt, kann er also in ein queeres Paradigma ein- geschrieben werden. Doch die Serie geht weiter: Sie benutzt queere Geschlechts- und Sexualitätsentwürfe eben nicht nur als strukturelles, sondern auch als Inhalts- element. Im Gegensatz zur Lucifer-Figur aus den Carey-Comics ist die Fernseh- version ja äußerst sexuell aktiv. Ein immer wiederkehrender Gag in den Comics insistiert darauf, dass Lucifer als Engel die männlichen Geschlechtsorgane fehlen, was die sexuelle Erfüllung in der anscheinend monogamen Beziehung mit Ma- NAVIGATIONEN 82 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »IT’S CALLED A ›DEVIL’S THREESOME‹ FOR A REASON« zikeen fraglich erscheinen lässt (in Heft 74 der Serie aus dem Jahr 2006 darf Ma- zikeen allerdings einer neugierigen Trinkgenossin ein so pikantes Geheimnis über den Sexualverkehr mit Lucifer zuflüstern, dass ihr nur noch ein »wow.« ent- schlüpft). Ganz anders Fernseh-Lucifer: Die Serie strotzt nur so vor sexualisierten Darstellungen und Frauenkörper werden in zahlreichen Einstellungen in Szene ge- setzt, die in Lucifers Nachtclub Lux spielen, als erotische Tänzerinnen und Gespie- linnen des Teufels. Schon in der zweiten Episode der Serie, die zu Beginn ja so kurios darauf in- sistiert, Lucifers Verführungskünste fruchteten bei »women«, und nicht bei Men- schen überhaupt, findet sich eine Szene, die anderes vermuten lässt. Die Kamera fährt über eine attraktive Frau, die neben Lucifer im Bett liegt; und dann über ei- nen ebenso anziehenden jungen Mann, der sich im Morgenlicht räkelt. Als Lucifers Bruder Amenadiel erscheint und die Szene abschätzig mustert, meint der Teufel gereizt: »What? It’s called a ›devil’s threesome‹ for a reason«. Der Begriff devil’s threesome bezieht sich auf die Dreierkonfiguration, die aus der normativen Sicht – also der Sicht heterosexueller Männer – ganz klar transgressiv ist: Sex von zwei Männern und einer Frau, ein Skandalon, das die Männlichkeit der beteiligten Her- ren anscheinend schwer zu gefährden vermag. Dass diese queere Praktik hier mit dem Teufel assoziiert wird, ist durchaus konform mit Vorstellungen regelloser Sexualität, die sich mit dieser Figur ohnehin schon verbinden. Natürlich kann man sich aus der Sicht einer aktivistischen Kul- turwissenschaft, die sich für eine adäquate mediale Repräsentation von Minder- heiten einsetzt, berechtigterweise fragen, ob gerade der Teufel tatsächlich eine ›gute‹ Repräsentation von Queerness sein kann − zumal besonders die Bi- oder Pansexualität immer wieder mit einem übermäßigen sexuellen Appetit und einer erotischen Maßlosigkeit assoziiert werden, wie sie auch für die Lucifer-Figur ty- pisch sind. Doch trotz solcher Einwände ist es sicher bemerkenswert, dass hier der Protagonist und, bei all seinen Fehlern, Sympathieträger einer mainstream- Fernsehserie als bi- oder pansexuell codiert wird. Und vielleicht könnte man hier auch bemerken, dass die Lucifer-Figur damit eine Art Leerstelle im Diskurs der Queer Theory besetzt: Die Bisexualität, die sich prima facie ja besonders dafür eig- nen könnte, Geschlechterdichotomien zu dekonstruieren, spielt erstaunlicher- weise nur in wenigen theoretischen Werken eine Rolle. Butlers Gender Trouble zum Beispiel, prägend für die Disziplin, blendet die Thematik vollständig aus. Eindeutig freilich ist die Sache hier ohnehin noch nicht. Man mag einer In- dustrie, die sich oft scheut, aus heteronormativen Mustern auszubrechen, nicht ganz trauen: Schließlich ist aus der Dreier-Szene nicht ersichtlich, ob Lucifer den männlichen Partner tatsächlich auch begehrte – oder ob, nach traditionell sexisti- schem Muster, der Mann nur knapp toleriert wurde, um die Frau ins Bett zu be- kommen. Und alle anderen Bemerkungen in der ersten Staffel, die auf Lucifers sexuelle Anziehung zu Männern anspielen, lassen sich sehr leicht als Witze abbu- chen (so zum Beispiel die Frage: »Is it my thanks you want, or a kiss?«, die Lucifer in der fünften Episode der ersten Staffel an einen männlichen Polizisten richtet). NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 83 JOANNA NOWOTNY Und als in der vierten Episode der ersten Staffel ein Mann auftritt, der Lucifer be- gehrt, der erwähnte Aufseher, reagiert Lucifer zwar nicht mit Abscheu, wie die homophoben Muster einer heteronormativen Gesellschaft erwarten lassen wür- den. Aber doch lässt der sonst keinem sexuellen Abenteuer abgeneigte Protago- nist den Mann schnell und schmerzlos abblitzen: »Oh! Right. Well, my dance card’s full with this one, I’m afraid«, sagt er mit Blick auf Chloe. Erst in der zweiten Staffel der Serie wird endlich explizit gemacht, dass Luci- fer nicht nur Frauen, sondern auch Männer zu seinen Liebhabern zählt. In Episode 11, Stewardess Interruptus, scheint es ein Mörder auf Menschen abgesehen zu ha- ben, mit denen Lucifer geschlafen hat. Als Lucifer und Chloe ein männliches Mordopfer finden, ist die Polizistin erleichtert: »On the upside, looks like you didn’t have anything to do with this case after all. Pretty sure you didn’t sleep with this guy.« »Uh, actually, you’re wrong about that, Detective«, kontert ein leicht betroffener Lucifer. Und als Chloe wenig begeistert scheint (»this isn’t good«), konfrontiert er sie: »What, that a man was one of my lovers? Come now, Detec- tive, it’s the 21st century!« (Natürlich stellt sich heraus, dass Chloe sich nicht an Lucifers Wahl von Sexualpartnern stört, sondern sich wegen der persönlichen Na- tur des Falls Sorgen macht). Auch unter den Ex-Geliebten Lucifers, die die Polizei im Rahmen der Untersuchungen später in der Folge interviewt, findet sich an prominenter Stelle ein Mann, der begeistert von seinen sexuellen Erfahrungen mit dem Teufel berichtet. Lucifer ist also explizit queer, wie sich im Verlauf der Serie aus immer zahlreicheren Äußerungen und Anspielungen erschließen lässt, sei es sein Konto bei Grindr, einer bekannte Dating-App für homo- und bisexuelle Män- ner (Episode 4, Staffel 3), oder die Bemerkung, Oscar Wilde sei noch »straight« gewesen, bis er den von seiner Attraktivität für beide Geschlechter felsenfest überzeugten Lucifer getroffen habe (Episode 8, Staffel 3). Doch solche Versicherungen bleiben eben nur verbal; die Post-Dreier-Szene aus der zweiten Episode der ersten Staffel kommt einer visuellen Repräsentation von Bi- oder Pansexualität noch am nächsten. Lucifer ist eine Serie, deren Visuali- tät nicht vor sexuellen und / oder sexualisierten Darstellungsmodi zurückschreckt. In der Hinsicht auf Queerness bleibt sie aber kurios verschämt und konventionell: Es wird immer nur gezeigt, wie Lucifer sich eben mit im herkömmlichen Sinn at- traktiven Frauen vergnügt, während die Abweisung des Ordners exemplarisch bleibt für seinen Umgang mit Männern. Als er in der siebten Episode der dritten Staffel meint, ein Mann habe es auf ihn abgesehen, wimmelt er auch diesen sofort ab: »I will not sleep with you. And it’s not because you’re a man. It’s just because, well… I don’t find you attractive«. Besonders heikel wird dieses systematische Ausblenden von Relationen mit Männern durch das Narrativ, dem die ganze Serie folgt: Lucifers Menschwerdung ist untrennbar mit seinen Gefühlen für Chloe verbunden. Das antreibende Mo- ment seiner Vermenschlichung, die ihn erst zum Sympathieträger werden lässt, ist somit eine heterosexuell wirkende Konfiguration oder die Liebe zu einer Frau. Ei- ne solche entspricht normativen Mustern, wie sie gerade für die Hollywoodin- NAVIGATIONEN 84 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »IT’S CALLED A ›DEVIL’S THREESOME‹ FOR A REASON« dustrie noch weitgehend verbindlich sind – und sie beschneidet das subversiv- queere Potenzial der Lucifer-Figur. Sämtliche anderen, also auch und vor allem die nicht-heteronormativen Standards entsprechenden Beziehungen Lucifers werden zu ›bloßem‹ Sex degradiert, während Menschwerdung und dem Anschein nach heterosexuelle Liebe enggeführt werden. (Auch die Dämonin Mazikeen landet im Zuge ihrer Vermenschlichung zeitweise in einer heterosexuell wirkenden Konfi- guration, da ihre augenscheinliche Liebe für Amenadiel – der, wenn man die fan- tastische Prämisse der Serie für einen Moment ausblendet, nach unseren Kriterien eben doch ›nur‹ ein Mann ist, genau wie Lucifer selbst – mit ihren ausschließlich erotischen Abenteuern kontrastiert wird.) Versteht man die Fernsehserie als mediales Produkt, in dem – im Sinn But- lers – Geschlecht, Geschlechterrollen und zwischengeschlechtliche Konfiguratio- nen durchagiert werden, in dem also gleichsam eine Performanz von Geschlecht- lichkeit stattfindet, dann stehen hier zwei Ebenen der Performativität in scharfer Opposition: die verbale und die visuell-körperliche Ebene. Die nicht- heteronormative Sexualität des Protagonisten darf im verbalen Code zwar mitt- lerweile deutlich zum Ausdruck kommen, sie darf aber bis anhin nicht im materia- len und für das Medium bezeichnenden Sinn verkörperlicht, ›embodied‹ werden. Man könnte es zuspitzen: Lucifer, eine Serie mit einem ausdrücklich bi- oder pan- sexuellen Protagonisten, partizipiert doch an der Heteronormativität bezie- hungsweise der Zwangsheterosexualität, die Vordenker*innen der Queer Theory wie Butler konstatierten. Im Rahmen der medialen Inszenierung der Fernsehserie und durch die narrativen Schemata, die sie erfüllt, wird Heterosexualität als das ›Normale‹ oder ›Natürliche‹, selbst als das genuin ›Menschliche‹ proklamiert. An- dere sexuelle Orientierungen und die aus ihnen resultierenden Akte werden demgegenüber als abweichend und ›bloß‹ der körperlichen Befriedigung dienend markiert und / oder unsichtbar gemacht. Lucifer wird im Verlauf der Serie aber nicht nur in einer heterosexuell wir- kenden romantischen Konfiguration gezeigt, während die (oft nur supplierbaren) Erfahrungen mit Mitgliedern des männlichen Geschlechts im Bereich des ›nur‹ Se- xuellen verbleiben. Er wird auch in quasi-familiäre Strukturen (re-)integriert. Ei- nerseits ist da natürlich die himmlische Familie, der Lucifer, sein Bruder Amena- diel, ihre Mutter (die vor allem in der zweiten Staffel der Serie zentral ist) und eben der Gottvater angehören. Diese Familie ist sowohl in alterstechnischer als auch in ethnischer Hinsicht unkonventionell aufgebaut – Amenadiel wird durch den afroamerikanischen Schauspieler D.B. Woodside verkörpert, die Mutter durch Tricia Helfer, die im ungefähr gleichen Alter wie ihre Seriensöhne ist (als eher fadenscheinige Erklärung für diese Besetzung wird angeführt, dass die göttli- che Mutter selbst keinen Körper besessen und bloß zufällig die äußerst attraktive Gestalt einer Figur angenommen habe, die gerade verstorben sei). Dennoch funk- tioniert dieses ausgefallene Dreiergespann so, wie wir uns eine durch biologische Reproduktion strukturierte Kleinfamilie vorstellen, mit dem Buhlen der Brüder um die Aufmerksamkeit der Eltern, den Versuchen der Mutter, sich in die Leben NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 85 JOANNA NOWOTNY der Kinder einzumischen, und den Narben, die die Trennung der Eltern vor allem in Lucifer hinterlassen hat. Andererseits werden familiäre Strukturen (re-)installiert, indem Lucifer lang- sam Teil einer neuen, menschlichen Familie wird. Eigentlich verabscheut der Teu- fel Kinder, genau wie das ideale, subversiv queere Individuum aus Lee Edelmans No Future: Queer Theory and the Death Drive (2004). Die dort zentrale Figur des »sinthomosexual« oder Sinthomosexuellen interessiert sich nicht für Kinder und die vermeintliche Zukunft der Menscheit, da seine (oder ihre) Sexualität nicht- reproduktiven Gesetzen gehorcht. Kinder sind für Edelman der Inbegriff hetero- normativer Politik; sie stehen im Zentrum der politischen Moderne, die immer schon und immer noch auf sie ausgerichtet ist, auf die vorgestellte Zukunft des Planeten oder darauf, eben diesen Planeten möglichst effizient auszubeuten, um den Kindern der Gegenwart ein Leben in Luxus zu erlauben. Lucifer also ent- spricht zuerst genau einem solchen Sinthomosexuellen, der mit Chloes Tochter Trixie nur sehr wenig anfangen kann. »Was your offspring planned or a mistake?«, fragt er im Pilot der Serie eine irritierte Chloe. »I never understood the human desire to procreate. I mean, children, hideous little creatures, terrible, taxing bur- dens.« Lucifer steht also zunächst von Natur aus außerhalb des heteronormativen Dispositivs der Fortpflanzung. Doch die Zurückweisung des Familiären wird zu- mindest teilweise wieder aufgegeben: Im Verlauf der Serie wird immer klarer, dass Lucifer Trixie gerne mag, entgegen seiner verbalen Versicherungen. In der achten Episode der dritten Staffel, Chloe Does Lucifer, wird die Substi- tution regelloser Sexualität mit familiärer Normativität prägnant ins Bild gesetzt. Die Kamera fährt über Kleider, die anscheinend achtlos zu Boden geworfen wur- den, über eine Weinflasche und zwei volle Gläser, und Lucifer haucht verführe- risch: »Mhm, that is a new one on me, Detective«, und Chloe antwortet: »Well, there’s a first time for everything«. »Yes, but I’ve heard it can take hours, I’m not sure even I have the endurance for that«, säuselt Lucifer, und wird von einer mun- teren Kinderstimme unterbrochen – und die Kamera, vorher verführerisch lang- sam unterwegs und aus intimer Nähe über Gegenstände streichend, springt end- lich zu den drei Sprecher*innen. Lucifer, Chloe und Trixie liegen auf einem Bett, tun sich an Lutschern gütlich und spielen Monopoly. Der Teufel scheint nun Teil dieser Familie zu sein, die nach äußeren Maßstäben absolut der bourgeoisen Kleinfamilie entspricht; eine Mutter und eine Vaterfigur, durch Liebe verbunden, sowie ein Kind. Die Serie zieht einen Teil ihrer Spannung aus der Frage, ob Lucifer zuletzt vollständig in eine normative (und damit auch familiäre) Ordnung integriert wird – oder ob er sich eben dieser Ordnung doch wieder entzieht, sein queeres Potenzial somit zu erhalten vermag. Die Episode, die mit der familiären Idylle einsetzt, be- handelt denn auch Lucifers Versuche, der ›Normalität‹ zu entkommen; und be- zeichnenderweise findet sich in ihr ein Dialog, der seine Identität als queerer, da- mit transgressiver Mann deutlich macht. Lucifer schlägt vor, einen Verdächtigen zu verführen, worauf ein Polizist ungläubig meint: »He’s a dude and he’s straight«. NAVIGATIONEN 86 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »IT’S CALLED A ›DEVIL’S THREESOME‹ FOR A REASON« »That hasn’t ever stopped me before«, kontert Lucifer, »I’m so good at flipping men they call me ›The Skillet‹«. 3. SCHLUSS: TRANSGRESSION UND PRIVILEGIEN Lucifer ist queer. In fast allen anderen identitätspolitischen Kategorien entspricht er aber einer besonders privilegierten Sorte Mensch, die eben gerade nicht in Opposition zum ›Normalen‹ steht: Er ist ein weißer Mann, der makelloses British English der besonders feinen Sorte spricht, damit als zur upper class gehörig mar- kiert ist; er halt Geld ohne Ende, partizipiert höchst erfolgreich am kapitalisti- schen System, trägt äußerst elegante Markenanzüge und ist in jeder Hinsicht kon- ventionell attraktiv. Entsprechend wird er, und auch das erfüllt gängige hetero- normative Muster, von knapp bekleideten Mitgliedern des ›anderen Geschlechts‹ umschwärmt. Diesen Widerspruch zwischen der strukturellen und inhaltlichen Queerness der Figur und ihren Privilegien könnte man nun als paradigmatisch für ein Problem der Queer Theory überhaupt lesen. Wie Jasbir K. Puar in Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times (2007) zeigt, weist die Idee des idealen queeren Indivduums als eigenwilliger Ruhestöhrer mit agency, der sich Normen ver- schließt, unreflektierte Bestände auf. Nur eine bestimmte, sehr privilegierte Art queerer Menschen kann sich eine solche Transgressivität überhaupt leisten. In vie- len Fällen kann keine freie Wahl zwischen einer Assimilation an die Mehrheitsge- sellschaft und einer Transgression ihrer Normen erfolgen, da grundlegende Privi- legien fehlen. Queerness, wie sie in den letzten Jahrzehnten oft theoretisiert wur- de, ist somit ein elitäres kosmopolitisches Konstrukt, zu dem nicht jeder Zugang hat – und vielleicht ist es somit auch kein Zufall, dass viele Theoretiker, die das transgressive und anti-normative queere Individuum feiern, selbst männlich und weiß sind. Es mag nicht von ungefähr kommen, dass eine so verstandene Queer- ness vor allem von Menschen gelebt wird, denen man ansonsten eine Assimilation an gängige Normen vorwerfen könnte, da sie eben privilegierte Leben führen. Die fiktionale Figur des charismatischen Teufels aus Lucifer eignet sich her- vorragend, um solche Fragen zu profilieren. Sie ist ja tatsächlich in zweifachem Sinn queer, in ihrer Rebellion gegen die patriarchale Ordnung überhaupt und in ih- ren sexuellen Vorlieben (die sich allerdings bis jetzt vor allem verbal manifestieren dürfen). Aber gleichzeitig ist ihre Queerness fast unsichtbar und somit keine Be- drohung für ihr soziales Prestige. Und Lucifer scheint auch kein subversives politi- sches Programm zu verfolgen, das etwa auf eine Abschaffung kapitalistischer Zwangsverhältnisse gerichtet sein könnte. Ganz im Gegenteil: Nicht nur besitzt die Figur Unmengen von Geld, so dass finanzielle Fragen oder eine Gefährdung des queeren Individuums in einem heteronormativen politischen und ökonomi- schen System gar nie in den Blick der Serie geraten können. Lucifer scheint seine finanziellen Privilegien auch noch dem Geschäft zu verdanken, das in der feminis- tischen Theorie als ausbeuterische Manifestation kapitalistischer Willkür und der NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 87 JOANNA NOWOTNY Ungleichheit zwischen den Geschlechtern kritisiert wurde: der Prostitution. (Dass gerade manche Stimmen im Umfeld der queeren Theorie die Prostitution als transgressive und freie Entscheidung von Individuen mit agency verstehen und Prostituierte somit als Teil der queeren Gemeinschaft reklamieren, verstellt den Blick auf die konkreten ökonomischen Ausbeutungsverhältnisse. Auch solche Ar- gumente machen sich einer Glorifizierung von ›Transgressivität‹ schuldig, ohne deren materielle und ökonomische Voraussetzungen zu hinterfragen.) Kurzum: Lucifer ist zwar durchaus fast ein ideales queeres Individuum im Sinn Edelmans; aber im Sinn Puars wirken Figur und Serie immer nur an der Idealisierung einer ganz bestimmten Art von Queerness mit, deren Prämissen reflektiert werden müssen. NAVIGATIONEN 88 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE EIN GENRE IN BEWEGUNG: Queere Interventionen in Telenovelas V O N R E B E C C A W E B E R ABSTRACT Die Telenovelas Farsantes (2013-2014) und Los Victorinos (2009-2010), die in ei- ner Phase der vermehrten Umsetzung von Gleichstellungsmaßnahmen für nicht- heterosexuelle Menschen in Argentinien und Kolumbien ausgestrahlt werden, zeugen von einem soziokulturellen Wandel, der mit der Jahrtausendwende in La- teinamerika verstärkt an öffentlicher Stimme gewinnt und von den TV- Produktionsfirmen aufgegriffen wird. Farsantes und Los Victorinos intervenieren in die klischeehaften Darstellungen nicht-heterosexueller Figuren im lateinamerika- nischen Unterhaltungsfernsehn, indem sie heteronormative Strukturen und rigide Formen der Zweigeschlechtlichkeit verstärkt in Frage stellen und sie als soziale Konstrukte entlarven. 1. EINLEITUNG Telenovelas sind tägliche Fernsehserien, die ihren Ursprung in Lateinamerika ha- ben, wo sich bereits um 1940 die sogenannten Radionovelas großer Beliebtheit erfreuen, aus denen ab den 1950er Jahren, mit dem Medienwechsel zum Fernse- hen, die Telenovelas entstehen.1 Im Gegensatz zu den Soap Operas, die aus dem angloamerikanischen Kulturraum stammen und deren dramaturgisches Ende offen ist, haben Telenovelas »einen klaren dramaturgischen Handlungsablauf […], der sie als Geschichten mit Anfang, Mitte und Schluß konstituiert«.2 Die meisten Te- lenovelas umfassen zwischen 100 und 200 Episoden, die über sechs Monate und mehr ausgestrahlt werden.3 Haupthandlung und Protagonist*innen variieren nicht. Bei einer erfolgreichen Soap Opera hingegen ist es üblich, dass die Besetzung auf- grund des kontinuierlich weitergeschriebenen Plots wechselt. Die handelnden Charaktere einer Telenovela verorten sich innerhalb hetero- normativer Strukturen und rigider Zweigeschlechtlichkeit. Heteronormativität beschreibt eine Weltsicht, die Heterosexualität als soziale Norm postuliert und von einer biopolaren Geschlechterordnung ausgeht, bestehend aus den Katego- rien männlich und weiblich.4 Der narrative Konflikt in Telenovelas schürt sich zu- 1 Vgl. Große-Kracht: »Die allmächtige Telenovela«, S. 326f. 2 Ebd., S. 327. 3 Vgl. Quitzsch: »Die Entwicklungsgeschichte der lateinamerikanischen Telenovela«, o.S. 4 Vgl. Kleiner: »Heteronormativität«, o.S. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE REBECCA WEBER meist um die sog. »Aschenputtel-Thematik«5 oder den »Schneewittchen-Plot«,6 d.h. den Traum einer jungen Frau vom gesellschaftlichen Aufstieg und der großen Liebe, die sie in einem wohlhabenden Mann findet. Über ein Netz von (Liebes-) Verstrickungen werden Höhen und Tiefen zwischenmenschlicher Beziehungen thematisiert, weshalb das Genre von seinen Kritikern mitunter als zeitgenössische Variante des Märchens betrachtet wird,7 das »rücksichtslos literarische Vorlagen, historische Stoffe und exotische Schauplätze plündert, entstellt und vermischt«.8 1.1. THEMATISCHE ÖFFNUNG VON TELENOVELAS AB DEN 1970ER JAHREN In den 1970er Jahren wandeln sich Telenovelas zum »Kultur-Exportprodukt Nummer eins«9 in Lateinamerika und finden internationale Verbreitung, wie bei- spielsweise die brasilianische Produktion Escrava Isaura (1976), die in 95 Länder verkauft und in Deutschland als Die Sklavin Isaura 1986 in der ARD ausgestrahlt wird. Durch ihre mediale Reichweite und Verbreitung bis in die ländlichsten Regi- onen füllen Telenovelas Lücken im Kultur- und Unterhaltungsprogramm.10 Dabei nehmen sie immer wieder aufklärerische Funktionen ein, indem sie beispielsweise – je nach Landesfokus – Rassismus, Klassenunterschiede oder Analphabetismus thematisieren.11 Telenovelas gelten als Indikatoren sozialer Vorgänge im jeweili- gen Land12 und erlauben einem breiten Publikum »not only to empathize, but also to reflect about events that took place in their societies, and that in some cases are still little known by the public at large, or controversial«.13 Ende des 20 Jahrhunderts baut die Mehrzahl der lateinamerikanischen Län- der die sexuellen und bürgerlichen Rechte nicht-heterosexueller Menschen aus.14 In Telenovelas treten vermehrt offen homosexuelle Figuren in Erscheinung.15 In deren klischeehafter Darstellung verdichten sich heteronormative Diskurse, die insbesondere männlicher Homosexualität medial Gestalt geben.16 Die homopho- 5 Michael: Telenovelas und kulturelle Zäsur, S. 242. 6 Große-Kracht: »Die allmächtige Telenovela«, S. 327. 7 Vgl. Armbruster: »Endloses, alltägliches Erzählen«, S. 337; vgl. Große-Kracht: »Die all- mächtige Telenovela«, S. 7; Klindworth: »Ich hab’ so schön geweint«, S. 100. 8 Große-Kracht: »Die allmächtige Telenovela«, S. 327. 9 Quitzsch: »Die Entwicklungsgeschichte der lateinamerikanischen Telenovela«, o.S.. 10 Vgl. Armbruster: »Endloses, alltägliches Erzählen«, S. 331. 11 Vgl. Estill: »The Mexican Telenovela«, S. 170. 12 Vgl. ebd. 13 Waisman: »Preface«, S. viif. 14 Vgl. Corrales: La Representación y Los Derechos LGBT en Latinoamérica y El Caribe, o.S.. 15 Vgl. Rosas-Moreno: News and Novela in Brazilian Media, S. 33. 16 Neben vereinzelten Ausnahmen ab dem Jahr 2000 wie Culpables (2001), 099 Central (2002), der kolumbianischen Telenovela La venganza (2002-2003), La Senhora do Destino NAVIGATIONEN 90 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE EIN GENRE IN BEWEGUNG be Vorstellung, dass männliche Homosexualität »untrennbar damit verbunden sei, Frau zu werden [sería inseparable de un devenir mujer]«,17 drückt sich am Bei- spiel von feminisierten Männern aus, die als extrovertierte und viel gestikulieren- de Friseure (Volver a Empezar 1994-1995) oder Designer in Erscheinung treten. International bekannt ist die Figur des Hugo Lombardi aus der kolumbianischen Produktion Yo Soy Betty, La Fea (1999-2001), deren deutsche Version unter dem Titel Verliebt in Berlin (2005-2007) produziert worden ist. Figuren wie Hugo sind von der homosozialen Gruppe heterosexueller Männer ausgeschlossen und be- wegen sich stets in weiblichem Umfeld, zumeist als bester Freund und Vertrauter der Protagonistin. 1.2. HYPOTHESE UND VORGEHEN Die Hypothese nachfolgender Untersuchung lautet, dass in Telenovelas der letz- ten Dekade gegenüber heterosexistischen Stereotypisierungen widerständige Tendenzen ausgemacht werden können, die ich als queere Interventionen be- zeichnen möchte. Im Sinne Halls (2006) vermögen Interventionen, kulturelle Be- deutungen neu zu akzentuieren18 oder gemäß Butler ihre Konstrukthaftigkeit zu entlarven.19 Queere Interventionen in Telenovelas stellen demgemäß Heterose- xualität als soziale Norm in Frage und zeigen Lebensentwürfe von traditionellen Ordnungsmuster losgelöst auf. Am Beispiel der untersuchten Telenovelas Farsantes (Argentinien, 2013- 2014) und Los Victorinos (Kolumbien, 2009-2010) kann gezeigt werden, wie sie der gesellschaftlichen Öffnung für nicht-heterosexuelle Partnerschaften und alter- native Familienmodelle in ihren Produktionsländern Folge leisten (Produktion) und sich als kritisches Medium positionieren, das Kommunikationskanäle schafft für eine differenzierter Auseinandersetzung mit Homosexualität und genderquee- ren Thematiken (Rezeption), d.h. queere Interventionen vollziehen sich auf Pro- duktions- wie Rezeptionsseite. Die Auswahl beider Telenovelas ist nicht nur auf- grund der Fortschrittlichkeit ihrer Produktionsländer hinsichtlich der Gleichstel- lung nicht-heterosexueller Menschen erfolgt,20 sondern auch aufgrund der positi- ven Wahrnehmung von Los Victorinos und Farsantes seitens transnationaler NGOs (2004-2005) aus Brasilien, der chilenischen Produktion El señor de La Querencia (2008) und der argentinischen Telenovela Para Vestir Santos (2010), die lesbische Beziehungen – mitunter nur angedeutet – in Nebenhandlungen thematisieren, ist weibliche Homose- xualität im öffentlichen Fernsehen auf dem lateinamerikanischen Kontinent nahezu un- sichtbar. Vgl. Mogrovejo Aquise: Teoría Lésbica, S. 9. 17 Vgl. Perlongher: Prosa Plebeya, S. 69. Alle spanischen Zitate sind hier durch die Verfas- serin ins Deutsche übersetzt worden. 18 Vgl. Hall: »Encoding/Decoding«, S. 167f. 19 Vgl. Butler: Das Unbehagen, S. 49. 20 Vgl. Ottosson: »LGBT World Legal Wrap Up Survey«, o.S. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 91 REBECCA WEBER wie GLAAD (Gay & Lesbian Alliance Against Defamation) sowie diversen LGBTQ- Onlineportalen und Foren.21 In einem ersten Schritt sollen der Begriff ›queer‹ und einschlägige queer- theoretische Forschungsarbeiten aus Lateinamerika skizziert werden. Im darauf- folgenden zweiten Schritt werden die beiden Telenovelas Farsantes und Los Victo- rinos vor der Fragestellung analysiert, inwiefern sie als queere Interventionen ge- wertet werden können. 2. LOS ESTUDIOS QUEER Y DE GÉNERO: WISSENSCHAFTLICHE FOR- SCHUNG IN ENTWICKLUNG Menschen, die sich als ›queer‹ bezeichnen, können oder möchten sich nicht ein- deutig in den Kategorien lesbisch, schwul, bisexuell, trans* (LSBT oder LGBT) wiederfinden.22 ›Queer‹ räumt ihnen die Freiheit ein, sich außerhalb heterosexu- eller und cisgeschlechtlicher23 Normen zu positionieren. Vermehrt wird ›queer‹ auch als Sammelbegriff für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten verwendet, was mitunter dem Umstand geschuldet sein mag, dass die Buchstabenblase LSBT bzw. LGBT inzwischen zu LGBTIAQ (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Inter- sex, Asexual, Questioning) herangewachsen ist.24 Entscheidend ist, dass queer kein Synonym für lesbisch, schwul oder transsexuell ist. Der Begriff drückt Kritik an diskriminierenden Herrschaftsstrukturen aus und hinterfragt das rigide Zwei- Geschlechter-System,25 für dessen Festigung Telenovelas in ihrer Tradition be- kannt sind.26 Die Queer Theory ist in Lateinamerika eine sich erst entwickelnde Disziplin, in der bisher überwiegend US-amerikanische und europäische Publikationen rezi- piert werden.27 Aus der vergangenen Dekade sind aus dem iberoamerikanischen Sprachraum vor allem Forschungsarbeiten von Carlos Fonseca Hernández und María Luisa Quintero Soto zu nennen. Beide haben 2008 den interdisziplinären Band Temas Emergentes en Los Estudios de Género veröffentlicht, der gender- und queer-theoretische Forschung aus Lateinamerika bündelt. Der Argentinier José Amícola hat diverse Arbeiten mit queer-theoretischem Schwerpunkt im Bereich der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften veröffentlicht. Einschließlich ei- 21 Vgl. Zovich: »La Homosexualidad en La Pantalla Chica«, S. 20. 22 Vgl. QueerGEIST e.V.: »Was bedeutet ›queer‹?«, o.S.. 23 Als cis-geschlechtlich werden Person bezeichnet, die in Übereinstimmung mit ihrem zu- gewiesenen Geschlecht leben. Im Gegensatz zu trans*geschlechtlich, entspricht Cis- Geschlechtlichkeit der gesellschaftlichen Norm. 24 Vgl. QueerGEIST e.V.: »Was bedeutet ›queer‹?«, o.S.. 25 Vgl. Fonseca Hernández/Quintero Soto: »La Teoría Queer«, S. 45f. 26 Vgl. Große-Kracht: »Die allmächtige Telenovela«, S. 327. 27 Im Wesentlichen Butler und Kosofsky Sedgwick neben den Spaniern Óscar Guasch und Rafael Mérida Jiménez. Vgl. Fonseca Hernández/Quintero Soto: »La Teoría Queer«, S. 46f. NAVIGATIONEN 92 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE EIN GENRE IN BEWEGUNG ner kritischen Ausgabe zu Puigs El Beso de La Mujer Araña (1976),28 deren Beiträge u.a. die Konstrukthaftigkeit von Geschlecht vor dem Hintergrund der queeren Hauptfigur untersuchen,29 behandelt seine jüngste Publikation (2017) Queerness im Werk des österreichischen Schriftstellers Leopold von Sacher-Masoch.30 Nebst Romanen von Puig hat Amícola auch Texte Perlonghers (2015)31 sowie das Auto- renkino Pedro Almodóvars (2013) vor dem Hintergrund queer-theoretischer Fra- gestellungen betrachtet.32 Ebenfalls an der Schnittstelle von Queer Theory und Populärkultur33 als Massenkultur verortet sich El Laberinto Queer (2008) von Susa- na López Penedo.34 Dank ihrer kritischen Auseinandersetzung zu Prozessen so- zialer Normierung in den Medien gibt die Monografie wichtige Impulse, die bei der Analyse von Telenovelas als Massenprodukt berücksichtigt werden müssen. López Penedo arbeitet vor dem Hintergrund einer zunehmend globalisierten Welt aktuelle Parameter heraus, in denen sich Studien über Geschlecht und Ho- mosexualität des 21. Jahrhunderts bewegen. Dabei betont sie, dass »obgleich die Verteidigung sexueller Praktiken jetzt auf öffentlicher Ebene stattfindet, [...] sie weiterhin zum Bereich des Privaten gehören«.35 Eine Aussage, die nachfolgend am Beispiel beider Telenovelas reflektiert wird. Obgleich López Penedos Monografie in Spanien veröffentlicht worden ist, hat sie als queer-theoretischer Wegweiser, der »dem spanischsprachigen Leser Lesarten für ein neues kritisches Konzept bie- tet, das in der angelsächsischen Welt entstanden ist«,36 damit besondere Relevanz. Im Bereich des queeren Aktivismus hat in Argentinien allerdings schon Ende der 1960er Jahren eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Hetero- normativität und starren Geschlechtergrenzen begonnen. So setzen sich Arbeiten der Gruppe Nuestro Mundo um genannte Autoren Néstor Perlongher und Manuel Puig mit der Konstruktion von Homophobie in der argentinischen Gesellschaft auseinander.37 Insbesondere die kritischen Aufsätze Perlonghers, die 2008 unter dem Titel Prosa Plebeya von Cristian Ferrer und Oswaldo Baigorria neu verlegt 28 Amícola/Panesi (Hrsg.): El Beso de La Mujer Araña. 29 Vgl. Balderston: »›Sexualidad y Revolución‹«, S. 564ff. 30 Amícola: »Queerness en La Obra de Leopold von Sacher-Masoch«. 31 Amícola: »Coda. Recordando a Néstor Perlongher«, S. 289ff. 32 Vgl. http://www.fundacionkonex.org/b4826-jose-amicola, 15.09.2017. 33 Als Populärkultur werden im nachfolgenden kulturelle Erzeugnisse verstanden, die von einem breiten Publikum konsumiert werden und kommerziellen Zielen Folge leisten. Vergleiche dazu den Band Cultural Theory and Popular Culture: An Introduction (1997) von John Storey, der Definitionen von Populärkultur vorstellt und diskutiert. 34 Vgl. López Penedo: El Labertinto Queer. 35 »Aunque la reivindicación de prácticas sexuales se hace ahora en el ámbito de lo público, […] siguen perteneciendo al ámbito de lo privado.«, ebd., S. 7. 36 »Ofrece al lector de habla hispana unas claves de lectura para un nuevo concepto crítico nacido en el mundo anglosajón«, vgl. http://www.editorialegales.com/libros/el-laberinto- queer/9788488052728/, 18.09.2017. 37 Vgl. Perlongher: Prosa Plebeya, S. 77ff. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 93 REBECCA WEBER worden sind, können für die Analyse der argentinischen Produktion Farsantes fruchtbar gemacht werden.38 3. FARSANTES (2013-2014): ZWISCHEN HETERONORMATIVITÄT UND QUEERNESS Guillermo und Pedro, die in den Medien zu »Guilledro« fusioniert sind,39 leben zu Beginn der in Handlung in heterosexuellen Partnerschaften, aus denen sie sich für ihre gegenseitige Liebe lösen. Die Entwicklung der romantischen Beziehung zwi- schen beiden und die daraus resultierenden sozialen Schwierigkeiten schüren den dramaturgischen Konflikt von Farsantes. Liebe zwischen Männern rückt erstmals ins narrative Zentrum einer Telenovela und ist nicht mehr ausschließlich Neben- handlung.40 Dabei unterscheidet sich die Produktion von anderen Telenovelas aufgrund ihrer authentischeren Erzählweise, die Höhen und Tiefen, Ängste und Zweifel der Verliebten einem breiten Fernsehpublikum zugänglich macht und männliche Homosexualität damit aus dem Schatten vergangener Narrative rückt, die sexuelle Beziehungen zwischen Männern als promiskuitiv und skandalös initiie- ren.41 Entgegen den feminisierten Darstellungen männlicher Homosexualität in Telenovelas verdichten sich in den Protagonisten Guillermo und Pedro kulturell gewachsene Vorstellungen von Macht und Virilität, die sie über ihren Beruf – bei- de werden als erfolgreiche und ehrgeizige Juristen charakterisiert –, ihren Klei- dungsstil (traje negro) [schwarzer Anzug]42 und ihr homosoziales Umfeld reprä- sentieren. Farsantes, die drei Jahre nach der Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Argentinien im Jahr 2010 ausgestrahlt wird,43 unterläuft die stereotype Darstellung männlicher Homosexualität der pantalla chica [der kleinen Leinwand]. Stattdessen bedient die Telenovela im Wesentlichen Männlichkeitsentwürfe in- nerhalb patriarchaler Strukturen, d.h. des »Paradigmas der Mehrheitsmannes [pa- radigma de hombre mayoritario]«,44 der »machistisch, weiß, volljährig [machista, 38 Vgl. ebd., S. 68. 39 Vgl. Zovich: La Homosexualidad en La Pantalla Chica, S. 17. 40 Vgl. Respighi: »La Primera Telenovela Gay«, o.S.. 41 Vgl. Zovich: La Homosexualidad en La Pantalla Chica, S. 11. Dementsprechend werden Guillermo und Pedro eher als rationale denn als leidenschaftliche Typen vorgestellt. Zwischen dem ersten Kuss und der ersten Liebeszene, die sich auf close-ups des nackten Torsos beschränkt, liegen ganze 19 Episoden, vgl. Farsantes, Episode 38 und Episode 57. 42 Vgl. Söll: »Der Schwarze Anzug«, S. 88. 43 Vgl. das Gesetz 26.618 von 2010 zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Ar- gentinien und das Gesetz 26.743 von 2012, das die amtliche Anerkennung der Ge- schlechtsidentität gewährleistet. 44 Perlongher: Prosa Plebeya, S. 68. NAVIGATIONEN 94 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE EIN GENRE IN BEWEGUNG blanco, adulto]«45 ist. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern Farsantes am Bei- spiel der Ausgestaltung von Pedro und Guillermo heteronormative Ideale bewusst bedient, um die politische Normalisierung homosexueller Lebensstile zu unter- mauern.46 Mazziotti (2006) betont in Bezug auf die gegenwärtige lateinamerikani- sche Telenovela-Produktion, dass »Standardisierung und Profit die einzig stichhal- tigen Anforderungen [an eine Telenovela] zu sein scheinen [Las exigencias de es- tandarización y ganancia parecen ser las únicas válidas]«47 wobei Pluralität, ob so- zial, kulturell oder sexuell, zu einer homogenen Masse verschmelze, in der queere Lebensformen weiterhin untergehen.48 Wenig überraschend ist daher, dass sich das Coming-Out von Guillermo und Pedro innerhalb der Telenovela zunächst auf einen privaten Mikrokosmos beschränkt und damit privat bleibt [»perteneciendo al ámbito de lo privado«49]. Insbesondere Guillermo fällt es schwer, offen über seiner Homosexualität zu sprechen, wie er im Dialog mit seinem Sohn Fabián zum Ausdruck bringt: -Guillermo: ›Ich bedauere aus tiefster Seele, dass du diese für dich und mich so unangenehme Situation erleben musst. Aber es muss gespro- chen werden. Setz dich hin und lass uns sprechen‹. -Fabián: ›Die Sache ist, dass ich es nicht verstehe. Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger verstehe ich es. All diese Jahre hast du so etwas geheim gehalten? Mama weiß es? Hattest du die ganze Zeit über Geschichten parallel laufen?‹ -Guillermo: ›Es ist sehr schwer, darüber zu sprechen‹.50 45 Perlongher: Prosa Plebeya, S. 68. 46 Lisa Duggan führt in ihrem Aufsatz »The New Homonormativity« von 2002 analog zur Heteronormativität den kontrovers diskutierten Begriff der Homonormativität ein, um politische Normalisierungen innerhalb der LGBTQ-Community zu kritisieren (vgl. S. 179). Benedikt Wolf betont die Homosexuellenfeindlichkeit des Begriffs. In seinem Auf- satz »Stonewall hieß Angriff. Zur antiemanzipativen Wende in der Queer Theory« (2017) erkennt er, dass der Terminus »unterschwellig in die Richtung einer drohenden Norm der Homosexualität deutet« (S. 144) Diese suggeriere »eine Koalition der ›Ho- monormativen‹ mit anderen sinistren Kräften, die im Hintergrund des Kapitalismus die Strippen ziehen« (S. 142). Der Begriff hat sich aufgrund seiner Unsachlichkeit als für die Analyse ungeeignet erwiesen. 47 Mazziotti: Telenovela, S. 31. 48 Bis heute sind Telenovelas vornehmlich im Mittelklassemilieu von Großstädten angesie- delt. Diese Lebenswirklichkeit, die medial propagiert wird, um nach Große-Kracht »ein einheitliches nationales Lebens- und Verhaltensmodell zu etablieren« (S. 329), teilen je- doch nur die wenigsten Menschen auf dem Kontinent. 49 López Penedo: El Labertinto Queer, S. 7. 50 »-Guillermo: Lamento en el alma que tengas que vivir esta situación tan desagradable para vos y para mí. Pero hay que hablar. Sentate y hablemos. -Fabián: Es que no entien- do. Cuánto más lo pienso menos lo entiendo. ¿Todos estos años escondiendo algo así? NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 95 REBECCA WEBER Erst nach dem gewaltsamen Tod Pedros in Episode 74 beginnt Guillermo, seinen Arbeitskollegen die Gefühle für Pedro zu offenbaren und sich damit außerhalb des privaten Umfeldes zu outen. Das nicht-genretypische Ende der Romanze zwi- schen Guillermo und Pedro hat innerhalb der Fan-Gemeinschaft zu Protesten ge- führt,51 erhärtet sich in der Entwicklung der Liebesgeschichte zwischen Guillermo und Pedro doch Foucaults These, dass sexueller Befreiung keine positive Bilanz beschieden ist.52 Denn die Ermordung Pedros durch seine eifersüchtige Ex- Freundin scheint auf Metaebene zu bestätigen, dass die argentinische Gesellschaft noch nicht bereit ist für ein queeres Happy-Ending,53 »in dem das Subjekt endlich eine vollständige und befriedigende Beziehung erreicht hätte [en la que el sujeto habría alcanzado al fin una relación completa y satisfactoria.]«.54 In Onlineportalen und Foren der LGBTQ-Community ist Farsantes dennoch positiv rezipiert worden.55 Nach Lucía Zovich und Carlos Gustavo Halaburda, die in ihren kommunikationswissenschaftlichen Studien von 2015 Interviews mit Far- santes-Fans geführt haben, überzeugt beim Publikum die bedingungslose Liebe zwischen beiden Figuren, die Geschlechterkategorien in den Hintergrund treten lässt und eine Identifikation der Zuschauer*innen mit den Protagonisten über ge- schlechtliche Ordnungsmuster hinaus ermöglicht: »For the audiences, there is no explanation for true love within the realm of language. For the audiences, love emerges as a subversive category that struggles against prejudices and exclusion- ary discourses«.56 Für mediales Aufsehen hat die queere Intervention einer Grup- pe von Guilledro-Fans nach Pedros Ausscheiden aus Farsantes gesorgt, bei der die Fans zahlreiche Plakate und Banner vor der Farsantes-Produktionsfirma Pol-ka in Buenos Aires anbringen und in verschiedenen Slogan neben Pedros Rückkehr ein ¿Mamá sabe? ¿Tenías historias paralelas todo este tiempo? -Guillermo: Es muy difícil hablar de esto«, Farsantes, Episode 29, Min. 46:56. 51 Vgl. Zovich: La Homosexualidad en La Pantalla Chica, S. 14f. 52 Vgl. Fornet-Betancourt u.a.: »Michel Foucault«, S. 96-116, zitiert nach Álvarez-Uría: Michel Foucault: Hermeneutica del Sujeto, S. 110. 53 Vgl. Mazziotti: Telenovela, S. 23. 54 Fornet-Betancourt u.a.: Michel Foucault, S. 110. Gleichzeitig sensibilisiert Farsantes durch die facettenreiche Schilderung des psychischen Haderns der Protagonisten für be- stehende soziale Hürden und Vorurteile. Denn trotz der rechtlichen Gleichstellungspoli- tik erfährt Nicht-Heterosexualität innerhalb der Gesellschaft sowie im Kontext be- stimmter Berufsfelder nach wie vor Diskriminierung. Connell erkennt dazu, dass »the top levels of business, the military and government provide a fairly convincing corporate display of masculinity, still very little shaken by feminist women or dissenting men«, womit sie auf die Ausprägung von struktureller Gewalt innerhalb bestimmter Berufsgruppen Bezug nimmt, worunter nach wie vor der Beruf des Rechtsanwalts fällt. Vgl. Connell, Robert W.: Masculinities, S. 77, vgl. Pérez Perdomo, Rogelio: Educación Jurídica, S. 5f. 55 Vgl. Zovich: La Homosexualidad en La Pantalla Chica, S. 20. 56 Halaburda: »We Demand a Happy Ending«, S. 28. NAVIGATIONEN 96 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE EIN GENRE IN BEWEGUNG glückliches Ende für beide Figuren fordern. Dabei betonen sie, dass »die Liebe al- lem widersteht [el amor resiste a todo]«.57 4. LOS VICTORINOS (2009-2010): DIE QUEERE FAMILIE DES VICTORINO PÉREZ Die vermehrte Darstellung homosexueller Lebensgemeinschaften im lateinameri- kanischen Fernsehen, die gesellschaftspolitisch mit der wachsenden Reflexion über Geschlechtlichkeit als Konstrukt und den daraus resultierenden sozialen Zwängen (Compulsory Heterosexuality58) einhergeht,59 verschleiert die Tatsache, dass nicht alle queeren Personen(gruppen) den gleichen Status der Akzeptanz er- reicht haben. Meccia (2011) betont den deutlichen Vorsprung homosexueller Gruppen hinsichtlich der rechtlichen Umsetzung ihrer politischen Forderungen (wobei er sich speziell auf Argentinien bezieht), dem andere nicht-heterosexuelle Kollektive nachstünden.60 Die kolumbianische Produktion Los Victorinos ist als eine von wenigen Te- lenovelas hervorzuheben, die die Sichtbarmachung geschlechtlicher Diversität ausweitet, indem sie mit der Figur Franchesca eine Transfrau in das zentrale Ge- schehen der Handlung einführt.61 Los Victorinos basiert auf dem Roman Cuando Quiero Llorar No Lloro (1970) des Venezolaners Miguel Otero Silva. Die Telenovela erzählt die Geschichte von vier Familien aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Über ihre Söhne, die alle den Namen Victorino tragen, werden die Familien von Victorino Gallardo, Victorino Manjarrés, Victorino Mora und Victorino Pérez schicksalhaft miteinander verbunden. Victorino Pérez wächst in einer queeren Familie – oder »Gaga-Family« nach Halberstam62 – auf. Als Baby wird er von Julián und Gloria adoptiert. Julián ist homosexuell und lebt in einer Beziehung mit Francisco. Da es dem Paar rechtlich nicht erlaubt ist, Kinder zu adoptieren, bezahlen Julián und Francisco Gloria, damit sie zusammen mit Julián die Adoption vornimmt. Entgegen der Absprache, sich nach formellen Vollzug der Adoption aus Julián und Franciscos Leben zurückzu- ziehen, möchte Gloria aufgrund ihrer starken Muttergefühle zu Victorino bleiben. Julián und Francisco lassen sich auf das Experiment ein. Die junge Familie durch- lebt in Folge viele Streitigkeiten rund um die Rollenverteilung innerhalb der Fami- 57 Halaburda: »We Demand a Happy Ending«, S. 28. 58 Rich: »Compulsory Heterosexuality«, S. 631-660. 59 Vgl. Meccia: »La Sociedad de Los Espejos Rotos«, S. 144. 60 Vgl. ebd. 61 Während die Figur Franchesca von einem Cis-Mann (Sebastian Boscán) gespielt wird, gibt es in der mexikanischen Telenovela Amor de Barrio (2015) die transgender Rolle Sinforosa. Diese wird im Gegensatz zur Rolle von Franchesca von einer Transfrau (Wendy Cabrera) verkörpert. Sinforosa ist jedoch nur eine kleine Rolle und weniger durchdacht als die von Franchesca. 62 Vgl. Halberstam: Gaga Families, o.S. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 97 REBECCA WEBER lie, die durch die Geschlechtsumwandlung von Francisco, der fortan als Fran- chesca lebt, zunehmend problematisiert wird. Nach Victorinos Tod, der, bereits erwachsen, Opfer einer Schießerei wird, fühlen sich Julián, Franchesca und Gloria aufgrund ihrer gemeinsamen Liebe zu Victorino so sehr miteinander verbunden, dass sie beschließen, als Ehe-Trio miteinander alt zu werden. Am Beispiel von Familie Pérez zeigt die Telenovela ein alternatives Familien- modell auf, das Familie fernab heteronormativer Ordnungsmuster denkt. Durch die zugewandte und fürsorgliche Darstellung von Julián, Gloria und Franchesca in- nerhalb ihrer Rolle als Eltern trägt Los Victorinos der Begründung des kolumbiani- schen Obersten Gerichthofs zur Legalisierung der Volladoption Rechnung. Dem- nach sei gute Elternschaft unabhängig von der sexuellen Orientierung eines Men- schen,63 eine Meinung, die Julián bekräftigt: ›Es interessiert uns nicht, was die Leute sagen, es interessiert uns nicht, was die Kirche sagt, was die Welt sagt. Das einzige, was uns interessiert, ist es, unsere Liebe zu erfüllen‹.64 Victorino Pérez ist stolz auf seine Familie und fühlt sich bei Julián, Gloria und Franchesca geborgen.65 Los Victorinos stellt am Beispiel der Familienkonstellation und der Figur Franchesca stärker als Farsantes Heteronormativität als »die Natu- ralisierung und Privilegierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit in Frage«.66 Gegenüber klischeehaften Darstellungen, die Transsexualität mit Preka- riat und Sexarbeit verbinden,67 ist Franchesca Teil der bürgerlichen Mittelschicht. Sie lebt ihre sexuelle Identität offen und selbstbewusst, wodurch sie innerhalb ih- rer Familie Akzeptanz und innerhalb der LGBTQ-Community sogar an Popularität gewinnt, indem sie den Wettbewerb »El reinado gay« für sich behauptet.68 Janet Arelis Quezada von GLAAD sieht die geringe Auseinandersetzung mit Transgender in den Medien vor allem in Unsicherheiten begründet. Ihrer Meinung nach haben »[d]ie Medien […] nicht immer verstanden, Transgender Frauen und Männer zu 63 »Die Amerikanische Akademie der Kinderheilkunde hat bei unterschiedlichen Gelegen- heiten empfohlen, dass das Kindswohl von der Legalisierung der Ehe zwischen gleichge- schlechtlichen Personen und der Adoption durch bereitwillige Paare, die dieser Aufgabe unabhängig ihrer sexuellen Orientierung fähig sind, einen Nutzen ziehen würde. [L]a Academia Americana de Pediatría ha sugerido en varias oportunidades que el bienestar de los menores de edad se beneficiaría de la legalización de los matrimonios de parejas del mismo sexo y la adopción de parejas dispuestas y capaces para esa tarea, inde- pendientemente de su orientación sexual«, vgl. Sentencia C-683/15, o.S. 64 »No nos importa lo que diga la gente, no nos importa lo que diga la iglesia, lo que diga el mundo. Lo único que nos interesa es arpar nuestro amor«, Los Victorinos, Episode 9, Min. 28:32. 65 Vgl. Los Victorinos, Episode 24. 66 Kleiner: »Heteronormativität«, o.S. 67 Vgl. Rubio Arribas: »Aspectos Sociológicos«, S. 364. 68 Vgl. Los Victorinos, Episode 138. NAVIGATIONEN 98 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE EIN GENRE IN BEWEGUNG besetzen und deshalb hat es wenig Sichtbarkeit gegeben, [stattdessen] Sensati- onsgier, Fehler und oft vollkommen beleidigende Berichterstattung«.69 Die kolumbianische Telenovela Los Victorinos wird zu einer Zeit gedreht, in der die Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung von homo- mit heterosexuel- len Lebensgemeinschaften verstärkt Einzug in die Gerichtssäle des Landes finden. Fünf Monate nach Zusage des Obersten Gerichtshofs Kolumbiens von 2009, die Rechtsansprüche in homosexuellen Lebensgemeinschaften de iure mit denen von verheirateten heterosexuellen Paaren gleichzustellen,70 bringt Los Victorinos am Beispiel von Familie Pérez das Thema Kinderwunsch und Volladoption in gleich- geschlechtlichen Partnerschaften in den öffentlichen Diskurs ein, womit die Te- lenovela bis dahin noch offene Forderungen zur Gleichstellung anspricht. Inzwi- schen haben in Kolumbien Regenbogenfamilien seit 2015 das Recht auf Volladop- tion. Seit 2016 ist die gleichgeschlechtliche Ehe verfassungsmäßig.71 Die formulier- te Eingangsthese, dass Telenovelas Indikatoren sozialer Vorgänge ihres Produkti- onslandes sind, findet Bestätigung. Im Juni 2017 wurde in Kolumbien schließlich die erste Dreierehe notariell beglaubigt.72 5. FAZIT Entgegen dem Ruf von Telenovelas als klischeeverhaftete TV-Märchen zeigt die Analyse von Farsantes und Los Victorinos, dass beide Produktionen sozialkritische Auseinandersetzungen mit heterosexistischen Vorstellungsbildern und gesell- schaftlichen Ordnungsmustern anregen. Das Potential einer undogmatischen He- teronormativitätskritik auf Produktionsseite erweist sich jedoch als begrenzt. Das liegt vor allem an den Produktionsbedingungen des Genres selbst. Denn Teleno- velas sind stets vom Gusto des Publikums abhängig, der sich an den Einschaltquo- ten misst und darüber entscheidet, ob eine Telenovela im Wettbewerb um das höchste Ranking mithalten kann.73 D.h. Telenovelas leisten kommerziellen Ziel- setzungen Folge und verorten sich dadurch innerhalb der homogenisierenden Ideologie des freien Marktes. Die thematischen und gestalterischen Spielräume der Drehbücher sind deshalb eingeschränkt.74 Farsantes und Los Victorinos zeigen exemplarisch, wie die Liberalisierungen von Sexualität und nicht-binären Partnerschaftsmodellen in Argentinien und Ko- lumbien medial aufgearbeitet werden können. 69 »Pero los medios no siempre entendían como cubrir las mujeres y los hombres transgé- nero y por eso ha habido poca visibilidad, sensacionalismo, errores y muchas veces re- portaje plenamente ofensivo«, Arelis Quezada: Los Medios y Las Personas Transgénero, o.S. 70 Vgl. Sentencia C-029/09, o.S. 71 Vgl. Sentencia C-683/15; vgl. Sentencia SU214/16, o.S. 72 Vgl. o.A.: »Erste ›Dreier-Ehe‹ in Kolumbien«, o.S. 73 Vgl. Mazziotti: Telenovela, S. 31. 74 Vgl. Ebd. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 99 REBECCA WEBER Während in der facettenreicheren und weniger schablonenhaften Repräsen- tation von Homosexualität in Farsantes viele queere Lebensformen weiterhin un- artikuliert bleiben, ist Los Victorinos als eine von wenigen Telenovelas zu nennen, die die mediale Sichtbarwerdung sexueller Diversität am Beispiel der Transfrau Franchesca ausweitet. Die gelebte Dreierbeziehung zwischen Julián, Gloria und Franchesca thematisiert zudem queere Familienmodelle, die innerhalb der Gesell- schaft immer präsenter werden. Jedoch wahrt bei der Ausgestaltung der Figuren- und Situationsebene auch Los Victorinos das heteronormative Identifikationspoten- tial. Dementsprechend verortet sich die Familie Pérez innerhalb der Mittelschicht und diskutiert am Beispiel von Haushaltsführung, Kindererziehung, Eifersucht und Selbstverwirklichung Thematiken, die auch heterosexuellen Zuschauer*innen ver- traut sind. Die dramaturgische Ausgestaltung von Guillermo und Pedro sowie den vier Pérez deckt einerseits die Schnelllebigkeit queerer Interventionen auf, denn ›queer‹ soll entsprechend seiner Begriffsdefinition »verstören, anstatt […] Sicher- heiten zu schaffen«,75 andererseits rücken genannte Figuren Gemeinsamkeiten im Denken, Fühlen und Handeln von Menschen in den Vordergrund, die von sozialen und geschlechtlichen Kategorien losgelöst sind. Es bleibt spannend zu beobachten, welche Interventionen in zukünftigen Produktionen wahrgenommen werden können und wie diese auf Seite der Rezi- pienten Denkprozesse über gesellschaftliche Normen in Bewegung setzen. TELENOVELAS 099 Central. Dirección Nisco, Jorge/Pivotto, Sebastián. Pol-ka Producciones. 2002. Televisión. Culpables. Dirección Barone, Daniel. Pol-ka Producciones. 2001. Televisión. El Señor de La Querencia. Dirección Barriga, Germán/López de Lérida, Claudio. Productores López, Patricio/Campos, Mauricio. 2008. Televisión. Farsantes. Dirección Barone, Daniel/Bechara, Jorge. Pol-ka Producciones. 2013- 2014. Televisión. La venganza. Dirección Posada, David u.a.. R.T.I. Producciones. 2002-2003. Tele- visión. Los Victorinos. Dirección Meneses, Ramiro/Mitrotti, Mario. Telemundo. 2009. Televisión. Para Vestir Santos. Dirección Barone, Daniel. Pol-ka Producciones. 2010. Tele- visión. Senhora do Destino. Dirección Maya, Wolf u.a.. Rede Globo. 2004-2005. Televisión. Volver a Empezar. Dirección Garcini, Salvador/García, José Ángel. Televisa. 1994 -1995. Televisión. 75 Degele: Gender/Queer Studies, S. 11. NAVIGATIONEN 100 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE EIN GENRE IN BEWEGUNG Yo Soy Betty, La Fea. Dirección Ribero Ferreira, Mario. Productores Pilar Fer- nández, María del/Tinjacá, Raúl. 1999-2001. Televisión. LITERATURVERZEICHNIS Álvarez-Uría, Fernando: Michel Foucault: Hermeneutica del Sujeto, Madrid 1994. 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NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 103 VON TWINKS, TWUNKS, DADDIES UND BÄREN Männlichkeitsentwürfe in der Du&Ich und Babi- lonia als queere Interventionen V O N T I M V E I T H ABSTRACT Der Beitrag beschäftigt sich mit den queeren Potentialen von unterschiedlichen Männlichkeitsentwürfen. Hierzu werden die deutsche Zeitschrift Du&Ich und die italienische Zeitschrift Babilonia und ihren Ausgaben der 1980er Jahre herangezo- gen. Beide Zeitschriften richteten sich vorwiegend an homosexuelle Männer. Zu- nächst werden dabei die Figuren des Twink und Twunk als vorherrschender Männlichkeitsentwurf genauer betrachtet und anschließend alternative Männlich- keitsentwürfe (Bär, Daddy und dicke Schwulen), wie sie in den Zeitschriften in den 1980er Jahren vorkamen. Nach der Analyse der Beispiele dieser Männlich- keitsentwürfe werden ihr queeres Potential und ihre Möglichkeit, eine queere In- tervention innerhalb der Zeitschriften zu sein, diskutiert. Dabei wird ihr queeres Potential in der heteronormativen Gesellschaft beleuchtet, aber auch jenes, wel- ches sie in den Zeitschriften haben, sowie beide kontrastiert. Anfang des neuen Jahrtausends schrieb der Literaturwissenschaftler Wolfgang Popp, dass Bilder homosexueller Männlichkeit auf der einen Seite Bilder seien, die in der Fantasie und Vorstellung homosexueller Männer existieren und auf der an- deren Seite Bilder, wie sie in den Vorstellungen der heterosexuellen Mehrheit imaginiert werden. Weiter schreibt er, dass homosexuelle Männer in ihren diver- sen Subkulturen verschiedene Bilder von Männlichkeiten entworfen haben, die zu Stereotypen geworden sind.1 Damit verdeutlicht Popp, dass Männlichkeit eine konstruierte Geschlechterkategorie ist und durch die Populärkultur mit geformt wird. Blättert man durch eine beliebige deutschsprachige Schwulenzeitschrift in den 1980er Jahren, lassen sich vielfältige Männlichkeitsentwürfe finden. Mein Bei- trag möchte diese Männlichkeitskonstruktionen exemplarisch analysieren. Jedoch scheint es so, dass das Ideal des schlanken, athletischen Mannes vorherrschend ist und im Sinne von Raewyn Connell als eine hegemoniale Männlichkeit betrachtet werden kann. Alle anderen Männlichkeitsentwürfe tauchen nur als Randnotiz oder Sonderthema innerhalb dieser Zeitschriften auf. Natürlich ist dies sehr verallge- meinernd und kann nur auf die größeren Zeitschriften wie die Du&Ich, die Männer und zeitweise in den 1990er Jahren die magnus, bezogen werden. Anhand von 1 Popp: »Homosexual Images of Masculinity in German-Language Literature after 1945«, S. 243. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE TIM VEITH drei unterschiedlichen Männlichkeitsentwürfen möchte ich aufzeigen, dass es trotz alledem in den Zeitschriften Raum für queere Interventionen entgegen dem idealisierten Männlichkeitsbild eines athletischen Mannes gibt. Beginnen werde ich jedoch mit Twinks und Twunks, die sich zumindest in- nerhalb der untersuchten Zeitschriften weniger als queere Intervention darstel- len, sondern als Verkörperung des schlanken bis athletischen Ideals von Männlich- keit. Sofern man den Wünschen innerhalb vieler Leserbriefe glauben darf, gelten sie zudem als Subjekte des Begehrens. Eine eindeutige wissenschaftliche Definiti- on des Twinks oder des Twunks gibt es nicht, jedoch lassen sich innerhalb der queeren und schwulen Gemeinschaft einige grundlegende Charakteristika auffin- den.2 Für meine Analyse lassen sich daraus folgende Eigenschaften für Twinks festhalten: Twinks zeichnen sich durch ihre Jungendlichkeit aus, sie sind überwie- gend schlank bis leicht muskulös, haben wenig oder keine Körperbehaarung. Hin- zu kommt, dass Twinks meistens blonde Haare haben, jedoch erscheint dieses Merkmal nicht als zwingende Voraussetzung, um als Twink charakterisiert zu werden. Für diesen Artikel wurden alle Ausgaben der Du&Ich3 aus den 1980er Jahren bearbeitet. In Folge dessen muss die Arbeitsdefinition des Twinks in einem Punkt an den Kontext der Zeitschriften angepasst werden. Für die deutschspra- chige Du&Ich gilt nicht, dass Twinks keine Körperbehaarung haben, sondern diese meistens auf den Intimbereich beschränkt ist. Würde man alle Cover der Du&Ich aus den 1980er Jahren nebeneinander le- gen, fiele auf, dass auf den meisten junge Männer abgebildet sind, welche dünn sind, wenig Behaarung haben, oft blond sind und mehr oder weniger nackt abge- lichtet wurden. Ebenso fielen die meisten der abgebildeten Männer unter die Ar- beitsdefinition des Twinks. Interessant ist jedoch, dass ich in den 1980er Jahren den Begriff Twink nicht innerhalb der Zeitschriften gefunden habe. Dieses liegt vermutlich daran, dass die verschiedenen Begrifflichkeiten der Männlichkeits- entwürfe erst im Zuge einer fortschreitenden Vernetzung im Zeitalter des Inter- nets seit Beginn der 2000er Jahre global genutzt wurden bzw. sich in den 1990er Jahren durch die Populärkultur verbreiteten. Jedoch nicht nur auf den Covern der Du&Ich lassen sich Twinks wiederfinden, sondern auch in zahlreichen Abbildun- 2 Sucht man nach Twink oder Twunk auf diversen Seiten im Internet, lassen sich eine Vielzahl von Definitionen finden. So lässt sich, als ein Beispiel, für den deutschsprachigen Raum eine Übersicht auf der Internetpräsenz des Magazin Schwulissimo finden, die nicht nur Twinks, sondern viele der geläufigen Namen für bestimmte Männlichkeitsentwürfe innerhalb der schwulen und queeren Szene aufzählt und beschreibt. Grindr-Tribes er- klärt! Was sind Otter, Rugged und Clean-Cut?, in: http://www.schwulissimo.de/ life_und_style/147974/Grindr-TribeserklaertWassindOtterRuggedund.htm, 30.09.2017. 3 Die Du&Ich erschien seit 1969 bis 2014 in Deutschland in unterschiedlichen Verlagen. Sie war die am längsten erscheinende deutschsprachige Zeitschrift für homosexuelle Männer und prägte deren Identität maßgeblich. Zur Geschichte der Zeitschrift und ih- rem Kontext innerhalb der deutschsprachigen schwulen Medien nach 1945 empfehle ich den Artikel folgenden Artikel: Rehberg /Boovy: »Schwule Medien nach 1945«, S. 529- 556. NAVIGATIONEN 106 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE VON TWINKS, TWUNKS, DADDIES UND BÄREN gen in den Zeitschriften. Beispielsweise lassen sich in der Märzausgabe von 1981 acht Bilder eines sich leichtbekleideten Jungen finden, der sich auf einem Bett rä- kelt und Stück für Stück mehr preisgibt. Dabei bleibt sein Blick stets auf den Leser gerichtet.4 Die Leser der Du&Ich werden in der Regel auf der ersten Seite der Zeitschrift mit einem Bild eines Mannes begrüßt und auf der letzten Seite, oder der vorletzten Seite, von einem Mann verabschiedet. Im April 1981 werden die Leser dabei von zwei Twinks begrüßt und verabschiedet, beide zeichnen sich im Sinne der Definition durch einen wenig behaarten schlanken jungen Körper aus.5 In jeder Ausgabe der Zeitschrift ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele für Twinks finden. Ebenso lassen sich zahlreiche Verweise auf die Darstellung von Twinks in der italienischen Zeitschrift Babilonia6 finden. Insgesamt erscheint der Twink das vorherrschende Ideal zu sein. An dieser Stelle möchte ich zudem auf eine Mischform zweier Männlichkeits- entwürfe aufmerksam machen, die sich entgegen meiner ersten Annahmen be- reits in den 1980er Jahren in der Du&Ich auffinden lässt. In den letzten Jahren ist zunehmend zu beobachten, dass bereits Teenager regelmäßig ins Fitnessstudio gehen, sie trainierte muskulöse Körper haben. Innerhalb der schwulen Szene hat sich in den letzten Jahren der Begriff des Twunks für diese muskulösen Twinks gebildet. Er ist eine Zusammenführung des Twinks und des Hunks, eines deutlich trainierten Mannes, der älter als ein Twink ist. Meine erste Annahme im Vorfeld zu diesem Beitrag war es, dass sich in der Du&Ich keine Beispiele für Twunks fin- den lassen würden. Dies lässt sich aber zum Beispiel in der zwölften Ausgabe 1982 wiederlegen. Dort ist ein wenig behaarter junger Mann, mit deutlich trai- niertem Bauch abgebildet, welcher sich durchaus als Twunk definieren lässt.7 Ebenso deutlich als Twunk zu erkennen ist ein junger Mann, der nur mit einer weißen kurzen Unterhose bekleidet auf einem Rennfahrrad sitzt. Sein eindeutig trainierter, anscheinend haarloser Körper ist das zentrale Element dieser Abbil- dung.8 In Bezug auf Twinks und Twunks ist festzuhalten, dass diese den größten An- teil an den präsentierten Männlichkeitsentwürfen in der Du&Ich in den 1980er Jahren einnehmen. Sie sind im Fokus jeder Zeitschriftenausgabe und prägen durch ihre Omnipräsenz das Ideal des jungen, schlanken bis athletischen Mannes. Jedoch ist diese Präsenz nicht unumstritten, wie die Debatten innerhalb der in jeder Aus- gabe zu findenden Leserbriefen zeigen. Mit Hinblick auf queere Interventionen verstehe ich Twinks und Twunks als die Form von Männlichkeit, gegen die sich andere Männlichkeitsentwürfe positionieren und damit zu einer queeren Inter- 4 Vgl. »Bettgeflüster«, in: Du&Ich, Nr. 3, 1981, S. 13. 5 Vgl. Du&Ich, Nr. 4, 1981, S. 2 und 63. 6 Die Zeitschrift Babilonia erschien ab August 1982 in Mailand und wurde 2009 eingestellt. Sie war die einzige und am längsten erscheinende Zeitschrift in diesem Format in Italien. 7 Vgl. Du&Ich, Nr.12, 1982, S.73. 8 Vgl. Du&Ich, Nr.10, 1987, Rückseite. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 107 TIM VEITH vention werden. Für mich sind queere Interventionen jene Versuche, die sich ge- gen das Ideal seiner Zeit zur Wehr setzen und alternative Konzepte von Männ- lichkeit präsentieren. Dabei haben meiner Meinung nach alle Männlichkeitsent- würfe innerhalb der Zeitschriften für homosexuelle Männer das Potential, ein queerer Gegenentwurf zum heteronormativen, heterosexuellen Mann zu sein. Al- lerdings muss das queere Potential jedes Männlichkeitsentwurfes im spezifischen Kontext neu verhandelt werden. Je nach Situation kann der Twink als queere In- tervention gegen den Idealtypus des heterosexuellen Mannes oder als Gegenpol zu anderen Männlichkeitsentwürfen gelesen werden, die im Kontext der Zeit- schriften ein höheres queeres Potential aufweisen. Ein Gegenpol zum Twink und Twunk stellen die Daddies und die Bären dar. Als erstes möchte ich kurz auf den Daddy eingehen. Ein Daddy kann unter Um- ständen ein Bär sein, auf welche ich später genauer eingehen werde, er muss es jedoch nicht. Wie bei allen Männlichkeitsentwürfen lassen sich zahlreiche Unter- entwürfe ausmachen, die sich vom Stiefvater bis zum Großvater erstrecken. Statt einer Definition wie bei den Twinks möchte ich den Daddy genauer anhand eines Artikels aus der Babilonia aus dem Jahr 1985 beleuchten. Väter made in USA: Sie nennen sie Daddies (Plural von dad: Väter) und sie machen Sigmund Freud Freude. Tatsächlich scheinen sie seine Theorie der männlichen Homosexualität, wie auch seine Forschung, der Anziehung zu anderen Männern, von der archetypischen Figur des Mannes, gewöhnlich durch den Vater verkörpert, zu bestätigen. Aber diese besonderen Väter, die in den USA gemacht wurden, sind nicht auf der Liege des Psychoanalytikers geboren worden, sondern im Schatten und Dunkeln der Welt des Leders. Sie sind das neu auftau- chende Bild, der amerikanischen homosexuellen Fantasie (und nach einigen Anzeigen in speziellen Zeitungen zu urteilen, nicht nur mehr dort: die Daddies sind auch in Europa gelandet…). Aber das Wichtigs- te, neue, ist, dass das Phänomen, einen seltenen Fall in der schwulen Welt, betrifft, reife Personen. Und auf der anderen Seite könnte es nicht unterschiedlicher sein, denn: they don’t fit the role (sie entspre- chen nicht der Idee, der psychoanalytischen Rolle, die sie spielen wol- len). Es erfordert Personen, die ein bisschen älter sind, mit starker Persönlichkeit, Willen zum Schützen und Bestreben. Sehr männlich. Natürlich suchen sie Söhne, Jungen […]. Der Partner ist viel jünger als der Ältere und auf der psychologischen Ebene meistens unsicher, un- reif, eifrig und braucht einen starken, selbstbewussten Begleiter, der in der Lage ist zu entscheiden, der starke Pol des Paares für beide zu sein. […] Und da diese Figur ihre Wurzeln in der Welt des Machos hat, mit Schattierungen von S/M, werden Suchanzeigen immer mit Anspielungen von Strafen und Forderungen der totalen Aufgabe für NAVIGATIONEN 108 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE VON TWINKS, TWUNKS, DADDIES UND BÄREN den Herrn gewürzt. […] Väter und ihre Söhne, wo reife Personen jüngere Partner suchen und umgekehrt, ohne Probleme.9 Für den Autor handelt es sich bei dem Daddy um einen Import aus den USA und die Entstehung dieser Figur rückt er in den Kontext der S/M und Lederszene. In seinem Artikel charakterisiert der Autor den Daddy wie folgt: Er ist älter als sein Partner, welcher oft als sein »Sohn« oder ein »Junge« gesehen, er ist dominant und führt durch die Beziehung, er ist männlich sozialisiert. Über andere Eigen- schaften spricht der Autor nicht. Es ist jedoch implizit im Text zu verstehen, dass dieser Entwurf eines »männlichen« Mannes als Gegenentwurf zu anderen Männ- lichkeitsangeboten zu verstehen ist. Der Daddy ist der Inbegriff der Männlichkeit: trotz seiner Homosexualität kann der Daddy ein »echter« Mann sein. Insgesamt fällt in der Babilonia auf, dass die Themen Leder und Sado/Maso oft aufgegriffen und für die Leser aufgearbeitet werden. Es scheint so, dass Lederkerle, und zu- mindest laut dem Artikel die Daddies als Untergruppe dieser homosexuellen Sub- kultur, eine andere und neue Form von Männlichkeit repräsentierten. So wird diese Männlichkeit mit dem Ideal des richtigen Mannes verknüpft. Dieses lässt sich auch an weiteren Artikeln in Babilonia ablesen, die sich mit dem Phänomen des Machos auseinandersetzen. Abhängig von den Problemen des Augenblicks, mögen viele Homose- xuelle heute ihre Identität in einer Figur erkennen und finden, die den ›super virilen‹ Mann neuinterpretiert. Der Idealtyp der homosexuellen 9 Quei papà made in Usa, in: Babilonia, Nr. 25, 1985, S. 13. Alle Übersetzungen aus dem Itali- enischen sind von mir selbst gemacht worden. »Quei papà made in Usa. Li chiamano daddies (plurale di dad: papà) e farebbero la gioia di Sigmund Freud. Infatti paiono confermare la sua teoria sull’omosessualità maschile anche come ricerca, attraverso l’attrazione per altri uomi- ni, della figura archetipale del maschio, in genere, appunto, impersonata dal padre. Ma questi particolari papà made in Usa, non nascono sul lettino delle psicanalista, bensì nell’ombra e nel buio del mondo leather. Sono loro la figura emergente, nuova, dell’immaginifico omoses- suale americano e, a giudicare da certi annunci sui giornali specializzati; già non più solo di quello: i daddies sono sbarcati anche in Europa…). Ma il fatto più rilevante, nuovo, è che il fenomeno riguarda, caso in genere raro nel mondo gay, persone mature. E, d’altra parte, non potrebbe essere diversamente, se non: they don’t fit the role (non corrispondono all’idea, al ruolo psicosessuale che vogliono giocare). Esso richiede infatti persone un po’ in là con l’età, dotate di forte personalità, di volontà protettiva, di aspirazione. Molto maschile. Essi cercano, naturalmente, […] dei figli, dei ragazzi. Partner, cioè, molto più giovani die età e sul piano psicologico più incerti, immaturi, desiderosi e bisognosi di un compagno forte, si- curo di sé, capace di decidere per entrambi, di essere il polo forte della coppia. […] E poiché tale figura ha le sue radici nel mondo dei macho, con sfumare S/M, gli annunci di ricerca in- terpersonale sono sempre conditi di allusioni, punizioni, richieste di totale abbandono al lea- der. […] i daddies e i loro sons, dove persone mature cercano partner giovani e viceversa, senza problemi.« NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 109 TIM VEITH Großstadt-Szene ist der ›Macho‹: kurze Haare, Schnurrbart oder Bart, muskulöser Körper.10 Ergänzt werden die Beschreibungen des Machos, im Kontext eines Dossiers zu S/M, Leder und anderen zusammenhängenden Fetischen, durch einen »schwarzes Glossar«, das die wichtigsten Begriffe anschaulich erklärt. MACHO – Männlich, auf Spanisch. Es ist das Bild der markanten Männlichkeit in Einstellungen der Gestik und Psyche, die auch kon- struiert wurde um die Figur der bunten Tunte […] zu entfernen, zu der die Homosexuellen immer reduziert wurden. Männer können auch von ›echten Männern‹ geliebt werden.11 Zusammengefasst lässt sich sagen, dass in der italienischen Zeitschrift Babilonia mehr Artikel zu Machos und Lederkerlen vermehrt finden lassen. Hier erscheinen die Lederkerle, Machos und Daddies als Gegenentwürfe zur Tunte, und ebenso zum Twink, die beide zu einem gewissen Grad effeminiert wirken. Innerhalb der untersuchten Zeitschriften treten sie somit zunächst als Intervention gegen die vorherrschenden Ideale an. Homosexuelle Männer können als »echte Männer« gelesen werden und gelten. Es scheint keinen Widerspruch zwischen »Mann« sein und homosexuell sein zu geben. Eine weitere Abweichung zur heteronormativen Vorgabe ist der Einbezug von Macht und Fetisch in die Konstruktion von Männ- lichkeit. Im Gegensatz zu den allgegenwärtigen Twinks, Twunks, Machos und ande- ren schlanken bzw. muskulösen Männlichkeiten, sind dicke Schwule und Bären in schwulen Zeitschriften, zumindest für die 1980er Jahre unterrepräsentiert. Damit verständlich ist, was ein Bär im Kontext bedeutet, sind einige Vorbemerkungen notwendig. Vorweg ist zu sagen, dass es keine absolute Definition des schwulen Bären gibt, ebenso sind hier zahlreiche Untergliederungen vorhanden, die sich durch das Betonen von spezifischen Identitätskategorien wie beispielsweise Alter oder entlang des Behaarungsgrades und des Körpergewichts unterscheiden.12 All- gemein lässt sich jedoch festhalten, dass die Bezeichnung Bär in der Mitte der 10 Gianni de Martino: La sciocchina, il macho e l’arabo, in: Babilonia, Nr. 13, 1984, S. 20. »In funzione dei problemi del momento, oggi molti omosessuali amano riconoscersi e trovare una loro identità in una figura che reinterpreta l’uomo ›super virile‹. Il tipo ideale dell’ambiente omosessuale metropolitano è il ‘macho’: capelli corti, baffi o barba, corpo muscoloso.« 11 Babilonia; Nr.14, 1984, S. 19. »MACHO – Maschio, in lingua spagnola. È l’immagine di marcata virilità negli atteggiamenti gestuali e psicologici, costruita anche per rimuovere la figura della checca colorata […] a cui è sempre stata relegata la figura dell’omosessuale. Ci si può amare fra uomini anche da ›veri uomini‹.« 12 Eine Übersicht über verschiedene Bärentypen liefert Peter Busse. Allerdings ist der Band von Rainer Hörmann und Jim Baker nicht als wissenschaftliche Literatur verfasst. Siehe: Busse: »Eine kleine Bärenkunde«, S. 18-31. NAVIGATIONEN 110 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE VON TWINKS, TWUNKS, DADDIES UND BÄREN 1980er Jahre im amerikanischen Kontext entstanden ist.13 So werden sie in einem Enzyklopädieeintrag wie folgt beschrieben: »Bears are defined as ›natural‹, often bearded, almost always hairy, husky, gently masculine gay men, usually over (at least) 30«.14 Eine ähnliche Definition nutzt Peter Hennen, die er aus der vorhan- denen Forschung zu Bären und zahlreichen Interviews mit ihnen zusammenge- stellt hat. Für Hennen spielt der Körper keine wichtige Rolle in der Definition was ein Bär ist, ebenso geht es um Authentizität und nicht, wie in der Lederszene, um eine Überbetonung von Maskulinität.15 Dennoch zeichnen sich Bären, in ihrer klassischen Definition, durch einen dicken Bauch aus. Es wäre nichtsdestotrotz falsch Bären nur auf dieses Merkmal zu reduzieren. Anhand von zwei Beispielen möchte ich nun Bären bzw. dicke Schwule als queere Intervention diskutieren. Hierzu vermische ich beide Gruppen innerhalb der Analyse, trenne sie jedoch bei der allgemeinen Verortung und der Erörterung ihres queeren Potentials wieder. »Dick und schwul – eine Katastrophe?«16 lässt sich als Titel für einen fünf Sei- ten langen Artikel im August 1984 in der Du&Ich lesen. Bereits durch diese Über- schrift ist die Zielsetzung des Artikels fest umrissen. Auf fünf Seiten berichtet der dicke Schwule Ludwig G. über sein Leben als dicker Teenager, seinen zahlreichen Versuchen, Gewicht zu verlieren, sein Scheitern daran und seinen Beziehungen zu anderen Männern. Bereits zu Beginn des Artikels wird die Ablehnung des eigenen Körpers deutlich, den Ludwig schreibt über eine Unterhaltung mit einem Mit- schüler: »[…] während wir uns unterhielten, bemerkten wir unsere Gemeinsam- keit: wir beide mochten keine Frauenkörper. Nein, wir schwärmten von ganz männlichen Körpern, stark behaart und ohne Bauch, ohne Gramm Fett. Also ge- nau das Gegenteil von uns, denn wir waren dick!«17 Hier wird ebenso deutlich, dass Ludwig feste Vorstellungen besitzt, wie ein Mann zu sein hat. Er muss männ- lich sein, stark beharrt und auf keinen Fall dick. Mit Blick auf die zuvor analysier- ten Männlichkeitsentwürfe scheint Ludwigs Ideal sich einer Mischung an das Bild des »Machos« anzunähern. Dieses wird durch die Beschreibung seines Wunsch- partners unterstrichen. Dieser soll älter sein, ca. Dreißig, Ludwig verstehen, ihn lieben, ihn aber auch führen und leiten. Er solle größer sein und eine behaarte Brust haben.18 Beinahe scheint es so, als ob er eine Mischung aus Bär, Daddy und Macho suche. Als ersten Schritt auf der Suche nach solch einem Partner, nimmt Ludwig ab, erlangt augenscheinlich somit mehr Selbstbewusstsein und findet einen Partner. Jedoch nimmt Ludwig sein verlorenes Gewicht wieder zu, denn er denkt, dass 13 Siehe hierzu genauer: Busse: »Ein Bär ist ein Bär ist ein Bär«, S. 7-17, sowie: Hennen: Faeries, Bears and Leathermen, S.100-109. 14 Hogan/ Hudson: »Bears«, S. 76. 15 Vgl. Hennen: Faeries, Bears and Leathermen, S. 96-97. 16 Du&Ich, Nr.8, 1984, S. 48-51 und 60. 17 Du&Ich, Nr.8, 1984, S. 49. 18 Vgl. Ebd. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 111 TIM VEITH sein Partner ihn nicht nur wegen seines nun besseren Aussehens liebe. So schreibt er: Dann kam ein schwer zu verstehender Gedankengang von mir. Ich meinte, ein Freund müsse mich doch auch dann mögen, wenn ich dick bin, und so fraß ich meine abgenommen Pfunde wieder drauf. Natür- lich war es nicht so, wie ich dachte, die Männer mochten mich nur, solange ich schlank war. War ich vollgefressen, dann kümmerte sich kein Schwanz um mich. So kam es, daß ich viele Diäten machte. Es war immer dasselbe. War ich relativ schlank, hatte ich Erfolg, war ich dick blieb der Erfolg aus. Es war ein Teufelskreislauf – ähnlich dem Al- kohol.19 Erfolg kann also nur ein Schwuler haben, der nicht dick ist. Dieses schließt an Be- obachtungen an, die in verschiedenen psychologischen Studien, bereits seit Mitte der 2000 Jahre, bestätigt wurden. So sei die Idealform des Männerkörpers: ein großer muskulöser Oberkörper, mit gut entwickelten Schultern, Armen und Brustmuskeln, sowie eine schlanke Taille und Hüfte. Dagegen sind Untergewicht oder Übergewicht nicht erwünscht und vertragen sich nicht mit Maskulinität, da Männer an Größe, Macht und Kraft gemessen würden. Männer gehen davon aus, dass ein muskulöser Körper die Manifestation von Macht, Erfolg und Karriere ist sowie ein Zeichen für Gesundheit.20 Zu einem ähnlichen Ergebnis scheint auch Ludwig zu kommen, denn er schreibt: Es war so, wie ich es immer geahnt hatte, das war die Bestätigung. In Schwulenkreisen zählt nur das Aussehen und die Figur! Ist man nicht so, wie es die Norm verlangt, dann bleibt man einsam und die ande- ren scheren sich einen Dreck um einen. Sie sind wie die Geier. Wenn sie merken, eine schöne Fassade ist da, stürzen sie sich auf einen. Ist sie nicht da, lassen sie einen alleine sitzen.21 Als Konsequenz dieser Erkenntnis entschloss sich Ludwig einer Gruppe von Schwulen anzuschließen, die sich gemeinsam dem »Kampf« gegen die Pfunde stel- len. Durch seine Teilnahme an den Gruppentreffen wandelte sich das Körperge- fühl Ludwigs ein wenig. Er schreibt, dass er nun nicht mehr nach dem Warum, sondern dem Wie er so fett geworden sei, fragt.22 Natürlich ist dies kein komplet- ter Wandel hin zu einem positiven Selbstverständnis, sondern lediglich eine Ver- schiebung der Schuld einen dicken Körper zu haben. Am Ende des Artikels 19 Du&Ich, Nr.8, 1984, S. 50. 20 Vgl. Brytek-Matera: »Drive for muscularity as men’s body image determinant«, S. 121- 137. 21 Du&Ich, Nr.8, 1984, S.51. 22 Vgl. Du&Ich, Nr.8, 1984, S. 51 und 60. NAVIGATIONEN 112 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE VON TWINKS, TWUNKS, DADDIES UND BÄREN kommt Ludwig zu einem persönlichen Fazit, dass dicke Schwule »einen doppelten Kampf zu führen«23 haben. Einmal gegenüber den Heterosexuellen und daneben gegenüber den anderen Homosexuellen. Ludwig sieht seinen Körper als störend, sogar als unmännlich an, denn er möchte keine Brüste haben.24 Der Protagonist ist nicht, wie in anderen Artikeln üblich, leicht bekleidet abgedruckt; Ludwig wird komplett angezogen gezeigt. Hier zeigt sich, dass es zwar Berichte über nicht normative Körper gibt, diese jedoch kaum bis gar nicht visuell gezeigt werden. An dieser Stelle muss überlegt werden, ob dicke Körper nicht gezeigt werden, weil sie als nicht begehrenswert konstruiert und somit nur bekleidet gezeigt werden. In der Theorie beschreibt der Artikel eine Unterkategorie des Bären, den Chub- by, der sich durch ähnliche Eigenschaften auszeichnet, jedoch keine oder nur we- nig Körperbehaarung besitzt. Gerade im Hinblick auf Körperrepräsentationen wä- re der Chubby eine queere Intervention gegen das athletische Ideal. Jedoch wer- den dicke Körper, und jene Männer die sie repräsentieren, kaum thematisiert. Diese Form von Männlichkeit wird marginalisiert, sie darf nur dann zu Wort kommen, wenn am Ende, wie bei Ludwig die Essenz ist, dass ein dicker Körper für einen schwulen Mann nicht erstrebenswert ist und keine Daseinsberechtigung hat. Einen direkten Bezug zu Bären gibt es in meinem untersuchten Zeitschriften nicht, erst Mitte der 1990er Jahre lässt sich ein Artikel über eine Bären-Gruppe aus Hamburg in der Zeitschrift magnus25 auffinden. Dort werden direkte Bezüge zur Herkunft der Bärenbewegung aus den USA genommen und in einer ironi- schen Art über die deutsche Gruppe berichtet. So betont der Autor mehrmals, dass es zwar Kuchen gebe, die Männer der Gruppe jenen jedoch nicht essen würden. Die Bären und die Chaser, Männer die auf Bären stehen, der Gruppe werden als Ausnahme dargestellt, die sich gegen den allgemeinen Trend in der schwulen Szene stellen, dass nur schlanke Schwule erwünscht sind. Am Ende des Artikels folgt eine Beschreibung des »Körperterrors« und der Besessenheit von Schönheit vieler homosexueller Männer.26 Jan Feddersen schreibt hierzu: »Mehr noch: Weil dies wahrscheinlich so ist, werden dicke Schwule, aller Bärchenattitü- den vieler (Leder)schwuler zum Trotz, besonders heftig vom Präsentierteller der Schönheiten geschubst. Sie werden schlicht nicht wahrgenommen«.27 Gerade mit Blick auf die die Kritik an den wirkmächtigen Schönheitsidealen kann der Bär und 23 Du&Ich, Nr.8, 1984, S. 60. 24 Vgl. Ebd., S. 49. 25 Die magnus erschien von 1989 bis 1996 und entstand durch eine Fusion der Zeitschrif- ten Rosa Flieder aus Nürnberg, sowie der Siegessäule aus Berlin. Im Gegensatz zu den anderen Schwulenmagazinen, versuchte die magnus unterschiedliche Themen von Sex, über Kultur und Politik zusammenzubringen. Ausführlicher ist der Kontext der magnus bei Rehberg/Boovy, S. 546 nachzulesen. 26 Vgl. Feddersen: »Dick! Vom aufrechten, doch kilogebeugten Gang«, S. 10-17. 27 Ebd, S. 16. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 113 TIM VEITH der Chubby als queerer Gegenentwurf zum allgegenwärtigen schlanken Mann gel- ten, und darüber hinaus als kontrastive Männlichkeit zum Twink. In einem letzten Schritt möchte ich nun die unterschiedlichen queeren Po- tentiale der dargestellten Männlichkeitsentwürfe genauer betrachten und verglei- chen. Wie zu Beginn dargelegt, ist der Twink allgegenwärtig in der Du&Ich der 1980er Jahre, wobei sich dieser Trend bis in die 1990er Jahre fortsetzt. Die im Kontext des Artikels über dicke Schwule angeführten Zitate in Bezug auf Körper und wie dieser zu sein hat, gelten für Twinks im Besonderen. Sie zeichnen sich durch ihren dünnen, schlanken und leicht muskulösen Körper aus. Er ist ihr Kapi- tal für das Finden einer romantischen oder sexuellen Beziehung. Ein queeres Po- tential gibt es für den Twink nur außerhalb der Zeitschriften. Innerhalb der Zeit- schriften gilt der Twink als Ideal, als erwünschter Partner für viele Leser. Somit stellt der Twink eine Norm zur Orientierung von anderen Männern dar, statt sein queeres Potential zu behalten, wandelt sich dieses in eine normative Vorgabe. In Bezug zu Raewyn Connells Konzept erscheinen die Twinks als hegemoniales Ide- al, anhand deren sich andere Männlichkeiten hierarchisieren lassen. Männer, die nicht dem Twink entsprechen werden, ausgegrenzt und weiter marginalisiert. Das lässt sich daran erkennen, dass andere Männlichkeitsentwürfe, wie beispiels- weise die im Beitrag erwähnten Daddies und Bären, nur selten erwähnt werden. Das eigentliche queere Potential der Twink, dass sie statt auf eine Betonung von Männlichkeit und Muskeln auf eine femininere Männlichkeit setzen, sich nicht der Hypermaskulinität wie Machos oder Ledermänner hingeben, wird nicht genutzt. Im Gegensatz zum Twink betont der Twunk seinen muskulösen, trainierten Kör- per und macht somit einen Schritt weg vom femininen Twink hin zum »echt« männlichen Hunk oder Macho. Der Twunk gleicht sich dem in der Gesellschaft vorherrschenden Ideal weiter an und geht somit (teilweise) eine Komplizenschaft mit der heteronormativen hegemonialen Männlichkeit ein.28 Wegen seines Kör- pers kann der Twunk seinen Makel der Homosexualität verringern. Der Daddy setzt anders als der Twink auf die Betonung von gesellschaftlich als männlich konnotierten Eigenschaften. Er führt seinen Partner, ist eine starke Schulter zum Anlehnen, älter als der Partner und stärker. Somit gleicht der Daddy in vielen Punkten dem Idealbild eines Mannes, wie er zu sein hat. Dieses ist au- ßerhalb der Zeitschriften alles andere als queer, da diese Form von Männlich- keitsentwurf klar an heteronormativen Zuschreibungen an Männer orientiert ist. Dennoch erlangt der Daddy meiner Meinung nach innerhalb der Zeitschriften das Potential, eine queere Intervention gegen die vorherrschenden Männlichkeits- entwürfe sein. Entgegen dem Ideal des Twinks baut der Daddy einen starken Kontrast zum vorherrschenden Stereotyp des Homosexuellen auf. Genau hier liegt sein queeres Potential, denn statt den Vorurteilen zu erliegen, negiert der Daddy diese und vollzieht so einen subversiven Akt, in dem er heteronormative 28 Meine Überlegungen zur hegemonialen Männlichkeit bauen auf der Forschung Raewyn Connells zur hegemonialen Männlichkeit auf. Siehe hierzu vor allem: Connell: Der ge- machte Mann; Connell/Messerschmidt: »Hegemonic Masculinity«, S. 829–859. NAVIGATIONEN 114 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE VON TWINKS, TWUNKS, DADDIES UND BÄREN Eigenschaften annimmt. Durch diese Annahme werden die heteronormativen Ei- genschaften »gequeert« – sie erhalten ein queeres Potential. Hinzu kommen wei- tere Aspekte wie die vornehmliche inzestuöse Beziehung zwischen Vater und Sohn, der Alters- und Erfahrungsunterschied der Partner, die alle zu einem quee- ren und subversiven Potential des Daddys beitragen. Bären weisen ein ähnliches queeres Potential auf. Als Idealisierung des »Holz- fällers«, den Bären scheinen oft Flanellhemden, Mützen und Bart zu tragen, reihen sie sich in Männlichkeitsentwürfe ein, die sich in vielen Punkten dem hegemonia- len Ideal angleichen. Das Betonen einer »natürlichen« Männlichkeit, des Manns- eins und die Verbundenheit mit der Natur sind in der Gesellschaft männlich kon- notierte Elemente. Bären scheint es wichtig zu sein, eine authentische Männlich- keit zu haben. Sie wollen sich nicht in Szene setzen wie Twinks. Am Punkt des Betonens einer »natürlichen« Männlichkeit setzt ein erstes queeres Potential an, entgegen der Lederszene, aus denen sich die Bärenszene entwickelte, wird nicht Hypermaskulinität erzeugt, sondern eine Vielfalt von Nuancen.29 Hinzu kommt, dass Bären sich nicht den vorherrschenden Körperregimen unterwerfen und dem Ideal des trainierten Körpers nacheifern. Die Akzeptanz von unterschiedlichem Alter und Körpergewicht weicht von den anderen dargestellten Formen von Männlichkeitsentwürfen ab. Für Bären tritt die Kategorie des Körper(gewichts) in den Hintergrund. Peter Hennen fragt mit Verweis auf Judith Butler: »Do Bears make gender trouble […]?«30 und führt dann weiter aus: »Clearly Bears have ex- hibited a move toward normalization, as well as an identification with heterosexu- al men, a move that may, ironically, turn out to be profoundly disruptive of hege- monic masculinity«.31 Das Durchgehen als heterosexueller Mann im Alltag erzeugt für den Bären ein queeres Potential, den durch das Negieren von »Weiblichkeit« und der Schaffung einer heterosexuell aussehenden Männlichkeit, die weniger subversiv an sich als heteronormativ, konnten Bären im privaten und unter ihres gleichen eine weniger normative Form der Männlichkeit mit queeren Implikatio- nen verwirklichen. Außerhalb der Magazine können Bären damit als Komplizen der hegemonialen Männlichkeit gelesen werden, da sie eine »normale« Männlich- keit verkörpern (wollen) oder als einen Gegenentwurf von dieser, da sie hetero- normative Männlichkeit mit Homosexualität verbinden.32 Innerhalb der Zeitschrif- ten haben Bären, ähnlich den Daddys, ein queeres Potential, da sie alternative Männlichkeitsentwürfe aufzeigen, die ansonsten in den Zeitschriften marginalisiert werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass allen untersuchten Männlich- keitsentwürfen ein queeres Potential innewohnt. Alle diese Männlichkeitsentwür- fe stellen sich in Teilaspekten gegen die heterosexuelle Matrix und den damit ver- 29 Vgl. Hennen: Faeries, Bears and Leathermen, S, 97. 30 Ebd., S. 130. 31 Ebd., S. 130. 32 Vgl. ebd., S. 133. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 115 TIM VEITH bundenen heteronormativen Setzungen von Männlichkeit. Allerdings muss dieses auf zwei unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden. Erstens scheinen die un- tersuchten Daddies, Machos und Bären vornehmlich innerhalb der Zeitschriften ihr queeres Potential zu nutzen. In der »realen« Welt gehen sie eine Komplizen- schaft mit der hegemonialen Männlichkeit ein. Zweitens lassen sich queere Poten- tiale in den Zeitschriften zwar finden, jedoch bleiben diese queere Interventionen in der Regel ohne Wirkung. Das größte queere Potential erscheinen mir die Chubbys zu haben, sie können zwar als Untergruppe der Bären gelesen werden, jedoch möchte ich sie an dieser Stelle von den Bären abgrenzen. Chubbys oder dicke Schwule sind, wie bereits durch den Protagonisten des analysierten Artikels verdeutlicht, doppelt von Ausgrenzung betroffen. Sie entsprechen weder dem Ideal des Twinks noch dem Ideal des heterosexuellen Mannes. Ihr dicker Körper beherbergt das Potential sich gegen geltende Körper- und Schönheitsideale aufzu- lehnen und sich stattdessen ein positives Selbstverständnis des dicken Körpers an- zueignen. Dicke Körper können als queerer Widerstand zu Heteronormativität gelesen werden. Aber in den Zeitschriften der 1980er Jahre und ebenso mit ei- nem Blick auf die 1990er Jahre werden dicke Schwule nur am Rande thematisiert. Ihr Körper und ihr großes queeres Potential bleiben ungenannt und marginali- siert.33 Bären und Daddys werden nur selten in der Du&Ich thematisiert und können deswegen nur begrenzt gegen die Twinks intervenieren. In der italienischen Zeit- schrift Babilonia lassen sich mehr Artikel zu Machos, Lederkerlen und anderen al- ternativen Männlichkeitsentwürfen finden. Sowohl in der deutschen als auch itali- enischen Schwulenpresselandschaft lässt sich erkennen, dass Männlichkeits- konzepte, die ihren historischen Ursprung bzw. ihre Begrifflichkeit in den USA haben, rezipiert und in den nationalen Diskurs eingebaut werden. Wie am Beispiel der Babilonia deutlich geworden ist, muss hierzu das Vokabular übersetzt werden und den Lesern erklärt, was ein Daddy, ein Macho oder ein Lederkerl ist. Dieses geschieht immer im nationalen Bezugsrahmen, jedoch lässt sich daraus erkennen, dass es einen transnationalen oder globalen Diskurs über Männlichkeiten gibt. Ein Vergleich mit weiteren Ländern und Zeitschriften wäre hier hilfreich und würde verdeutlichen, dass seit spätestens den 1980er Jahren Männlichkeiten auf der na- tionalen und transnationalen Ebene verwoben sind und diskutiert werden. 33 An dieser Stelle möchte ich Maria Hauf für zahlreiche Diskussionen, Anregungen und Impulse über das Potential dicker queerer Körper danken. NAVIGATIONEN 116 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE VON TWINKS, TWUNKS, DADDIES UND BÄREN LITERATURVERZEICHNIS Busse, Peter: »Eine kleine Bärenkunde«, in: Hörmann, Reiner/ Baker, Jim (Hrsg.): Der Bärenkult. Das Tier im Mann, Berlin 2004, S.18-31. Busse, Peter: »Ein Bär ist ein Bär ist ein Bär«, in: Hörmann, Reiner/ Baker, Jim (Hrsg.): Der Bärenkult. Das Tier im Mann, Berlin 2004, S. 7-17. Brytek-Matera, Anna: »Drive for muscularity as men’s body image determinant«, in: Mandal, Eugenia (Hrsg.): Masculinity and Feminity in Everyday Life, Kato- wice 2012, S. 121- 137. Connell, Raewyn: Der gemachte Mann, Wiesbaden 2015. Connell, Raewyn/Messerschmidt, James: »Hegemonic Masculinity. Rethinking the Concept«, in: Gender & Society 19, 2005, S. 829–859. Hennen, Peter: Fairies, Bears and Leathermen. Men in Community Queering the Masculine, Chicago 2008. Hogan, Steve/ Hudson, Lee: »Bears«, in: dies. (Hrsg.): Completely Queer. The Gay and Lesbian Encyclopedia, New York 1998, S. 75-76. Popp, Wolfgang: »Homosexual Images of Masculinity in German-Language Litera- ture after 1945«, in: Jerome, Roy (Hrsg.): Conceptions of Postwar German Masculinity, Albany 2001, S.243-262. Rehberg, Peter/Boovy, Bradley: »Schwule Medien nach 1945«, in: Mildenberger, Florian u.a. (Hrsg.): Was ist Homosexualität, Hamburg 2014, S.529-556. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 117 QUEERING IN DER (NEO-)BURLESQUE V O N J O A N N A S T A S K I E W I C Z ABSTRACT Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Phänomen der (Neo-)Burlesque als einer möglichen queeren Intervention. Ausgehend von der Beschreibung einer dem Gender Bender-Thema gewidmeten Berliner Burlesque-Veranstaltung (2017) wird untersucht, ob die Burlesque bereits seit ihrem Beginn in den 1860er Jahren einen queeren Charakter innehat. In Anlehnung an die queere freak art-Theorie (Lorenz) wird gezeigt, dass die (Neo-)Burlesque mit ihrer karnevalesken Attitüde eine distanzierende zeit- und raumüberschreitende Wirkung hat. Deutlich ist die- se Wirkung insbesondere in der Nerdlesque, einer Burlesqueart, die an Motive aus der Popkultur anknüpft, weil sie einen queeren utopischen Raum der Trans- gression im Sinne von Jose Esteban Muñoz bildet. Die (Neo-)Burlesque als ein karnevaleskes Spektakel des Absurden eröffnet die Möglichkeit einer spieleri- schen Aufhebung der geltenden Normen und funktioniert dadurch als Halber- stamsches »silly archive«, das einen Raum zur queeren Intervention gewährt. La Fête Fatale wird die gängigen Gender-Klischees mit einem Vor- schlaghammer in Stücke schlagen, sie in einen Sack werfen und durch- schütteln. Dann werden wir sehen, welche wunderschönen, sonder- baren und wilden Kombinationen dabei entstehen. Gender Bender meint, die Geschlechterrollen auf verschiedene Weise zu verändern, deren Grenzen zu erforschen oder sogar aufzulösen.1 Mit diesen Worten kündigten 2017 die Veranstalter*innen eine Darbietung im Rahmen der Berlin Burlesque Week an, die sie explizit dem Gender-Bender, also der Überschreitung der Binarität der Geschlechter, widmeten. Die Veranstaltung fand im Bassy Club statt, einer queer-freundlichen Bar im Stadtteil Prenzlauer Berg. Die überwiegend internationalen Performer*innen boten im Laufe des Abends verschiedene Shows an, meist handelte es sich hier um komödiantisches Cross-Dressing, Drag, aber auch um Auftritte mit einer klaren queer-politischen Botschaft. Eine der Performances lieferte die kanadische Darstellerin Rubyyy Jo- nes, die sich selbst als »a big, fat, fabulous, queer Canadian«2 bezeichnet und in ih- ren Shows auf Homophobie, Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und se- xuellen Missbrauch hinweist. Eine deutlich queere Affirmation war auch in der 1 Vgl.www.eventbrite.com/e/la-fete-fatale-no20-the-gender-bender-berlin-burlesque- week-tickets-29217266631#,17.09.2017. 2 »Coming soon, podcast«, 17.09.2017. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE JOANNA STASKIEWICZ karnevalesken Performance von Jeff van Phil erkennbar, in der er als mythisches, in ein rosafarbenes Tutu gekleidetes Einhorn auftrat und zur Krönung seiner Show den ebenfalls rosafarbenen Schriftzug »gay« auf seiner Brust enthüllte. La Fête Fatale zeichnete sich durch vielfältige Darbietungen und das Nebeneinander verschiedener Genreelemente aus, die Performer*innen spielten mit Geschlech- terstereotypen und verweigerten sich im Agieren ihrer Körper zumeist der binä- ren Zuordnung der Geschlechter – eine solche Art der Burlesque wird als Queer- lesque3 bezeichnet. Dieser Beitrag widmet sich der Burlesque als einer möglichen queeren Inter- vention, denn auch wenn Queerlesque-Performer*innen sich explizit als Men- schen jenseits der Binarität der Geschlechter definieren, und mit der Aussage, dass Queerlesque eine »Burlesque by, for and about the queer community«4 sei, ihre queerness betonen, ist zu fragen, ob nicht von ihrem Beginn an die Burlesque an sich als Queerlesque gesehen werden kann und nicht nur die Performances, die als »sichtbar«5 queere Intervention erkennbar sind. Darüber hinaus soll in An- lehnung an die queere Freak-Art-Theorie von Renate Lorenz sowie an das Ver- ständnis der queerness von José Esteban Muñoz das queere Element in der Bur- lesque bestimmt werden. 1. ZUR QUEEREN GESCHICHTE DER BURLESQUE Antke Engel verbindet die Queer Theory mit der Frage »[…] wie wir Körper, Ge- schlecht und Sexualität so denken – und leben – könn[t]en, dass sie nicht immer wieder an eine rigide Zwei-Geschlechter-Ordnung und die Norm der Heterose- xualität rückgebunden werden«.6 Sie entwirft das Konzept einer strategischen In- tervention – der »VerUneindeutigung« – welche die Normen unterläuft, dabei weder »in Opposition« geht noch neue Normen oder Ausschlussmechanismen produziert.7 Josch Hoenes und Barbara Paul sprechen hingegen nicht über queere Interventionen, aber queere Politiken und meinen damit, ähnlich wie Engel, das Aufdecken von Machtstrukturen und Regulierungsprozessen, die Heterosexualität 3 Das Genre der Queerlesque ist ein Forschungsdesiderat; es gibt nur vage Definitionen zur Queerlesque, meist sind diese von Performer*Innen selbst verfasst. Dabei wird be- tont, dass sie von Menschen ausgeübt wird, die sich als queer bezeichnen und sich über die Binarität der Geschlechter und die Heteronormativität hinwegsetzen, aber auch, dass die Queerlesque-Shows sich durch Vielfalt künstlerischer Darstellungen auszeich- nen. Vgl. z.B. Robins: »A queer take on burlesque« und Morris: »Sheila Wolf«. 4 http://fuckyeahqueerlesque.tumblr.com/, 17.09.2017. 5 So kritisiert Annemarie Jagose, dass die »queere Anti-Normativität« die sichtbare Diffe- renz an der körperlichen Oberfläche allzu sehr affirmieren kann, wodurch die Gefahr der Gleichsetzung der nichtsichtbaren »queeren Anti-Normativität« durch die Repro- duktion der Normen entstehe. Vgl. Jagose: Queer Theory, S. 183. 6 Engel: Bilder von Sexualität, S. 19. 7 Engel: Wider die Eindeutigkeit, S. 224. NAVIGATIONEN 120 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE QUEERING IN DER (NEO-)BURLESQUE zu einer geltenden Norm machen und Abweichungen »als anormal festschrei- ben«.8 Die Burlesque als theatralisch-erotische Performance stellte ihrerseits, seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert, die rigide Zwei-Geschlechter-Ordnung vehe- ment infrage. Die Ursprünge der Burlesque werden in der italienischen Comme- dia dell’Arte des 17. Jahrhunderts gesehen, jenen Theaterstücken, die humorvoll die sogenannte hohe Kultur nachahmten.9 Mit Burlesque in dieser Bedeutung sind Begriffe wie Pastiche, Travestie und Imitation verbunden.10 Dieter Werner weist auch auf die Bedeutung der Burlesque als literarische Gattung hin, die sich durch die Verknüpfung des Trivialen mit dem Erhabenen auszeichnet und nicht unbe- dingt durch eine Imitation der hohen Kultur.11 In den 1850er Jahren entwickelte sich in Großbritannien eine Art der Burlesque, die sich ebenfalls durch die Ver- knüpfung von Trivialem und Erhabenem auszeichnet: Lydia Thompson gilt als ers- te Burlesque-Performerin, die in berühmten Theaterstätten Londons der viktori- anischen Zeit Shows dargeboten hat, welche eine Mischung aus Komödie, Akro- batik und Erotik waren. Zu dieser Zeit zeichnete sich die Burlesque bereits durch Cross-Dressing aus – d.h. die Darstellerinnen traten mit Elementen von Männer- kleidung auf, insbesondere in kurzen Hosen und zeigten ihre Beine, was im vikto- rianischen Zeitalter skandalös wirkte, aber auch zur Popularität beitrug.12 Thomp- son und ihre Truppe The British Blondes tourten 1868 durch die USA und lösten dort einen regelrechten Burlesque-Trend aus. Laut Robert C. Allen stieß die Entwicklung der US-amerikanischen Burlesque auf Widerstand bei der Bourgeoisie und wurde von ihr als »leg business« verun- glimpft.13 In Anlehnung an das Konzept des low other von Peter Stallybrass und Al- lon White zeigt er auf, wie Burlesque durch den dominanten Diskurs als »Niede- res« marginalisiert wurde, gleichzeitig aber Faszination und Begehren erweckte.14 In dieser marginalisierten Position sieht Allen aber gleichzeitig das Potential, den herrschenden Diskurs zu verändern und über die bürgerlichen Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität hinauszugehen.15 In diesem Sinne funktionierte die Bur- lesque bereits damals als die eingangs erwähnte VerUneindeutigung, also als eine queere Strategie, weil die bürgerliche Zwei-Geschlechter-Ordnung von Perfor- merinnen mittels eines parodistischen Cross-Dressings infrage gestellt wurde. Der Höhepunkt der US-amerikanischen Burlesque war in den 1930er Jahren. Zu dieser Zeit fand sie Eingang in die etablierten Theaterszenen und eroberte 8 Hoenes/Paul: »un/verblümt - Geschlecht, Sexualität und Begehren«, S. 17. 9 Vgl. Willson: Happy Stripper, S. 155. 10 Vgl. Klees: Das Spiel in der Comédie-Italienne (1662 - 1729), S. 106f. 11 Vgl. Werner: Das Burleske, S. 156. 12 Vgl. Łuksza: Glamour, kobiecość, widowisko, S. 248ff. 13 Vgl. Allen: Horrible prettiness, S. 16. 14 Vgl. ebd., S. 26. 15 Vgl. ebd. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 121 JOANNA STASKIEWICZ auch den Broadway. Der Wendepunkt erfolgte 1937, als der damalige Bürger- meister New Yorks, La Guardia, die Schließung der Burlesque-Theater beschloss. Die Burlesque wurde dadurch in den Untergrund gedrängt und sukzessive durch den Striptease und Go-go-Tanz ersetzt.16 In den 1960er Jahren, in Zusammen- hang mit der wachsenden Pornoindustrie, war die Burlesque mit ihrer theatrali- schen Attitüde, die mehr mit der Verführung tease, als mit dem Ausziehen strip spielte, dann »passé«.17 Als Neo-Burlesque lebte die Burlesque in den queeren Bars und Fetisch- Clubs der USA erst in den 1990er Jahren wieder auf.18 Ihre Ästhetik orientiert sich an der früheren US-amerikanischen Burlesque der 1860er Jahre, spielt aber auch mit der sogenannten Pin-up-Tradition erotischer Frauendarstellungen (ver- körpert durch die Kultfigur Betty Page) und dem Vintage-Stil der 1930er bis 1950er Jahre. In der Forschungsliteratur wird die Neo-Burlesque meist in Mainstream- (auch ästhetische oder retrosexuelle Burlesque genannt) und Un- derground- (oder subkulturelle) Burlesque unterschieden.19 Während jene Mainstream-Burlesque als glamouröse Veranstaltung an meist noblen Orten und überwiegend von Performerinnen dargeboten wird, die den gegenwärtigen Schönheitsidealen entsprechen und die Retroweiblichkeit mit Vintageaccessoires, wie Handschuhen, Korsetts oder Federn, affirmieren, zeichnet sich die Under- ground-Burlesque durch Ironie und Komödie aus und wird von Performer*innen dargestellt, die nicht über normative Körper verfügen. Die Underground- Burlesque verfügt inzwischen über weitere Unterkategorien, wie z.B. die erwähn- te Queerlesque, die »fat burlesque«20 oder, insbesondere in den USA, die Ner- dlesque, auf die später noch eingegangen wird. Meghann Y. Montgomery (alias Lola The Vamp), selbst Burlesque- Performerin, weist zu Recht darauf hin, dass eine Aufteilung in Mainstream- ver- sus Underground-Burlesque problematisch sei, denn auch in der Mainstream- Burlesque sind ironische Elemente vorhanden – laut Montgomery ist jede Darstel- lung der Weiblichkeit eine Form der Parodie und Performance.21 Auch an dem eingangs vorgestellten La Fête Fatale-Abend wurde eine Brico- lage aus verschiedenen Burlesque-Arten präsentiert – neben den absurd- komödiantischen Auftritten gab es auch Performances mit Retroweiblichkeit zu sehen – diese Vielfalt verband sich zu einer ironischen Show, die eben durch ihre Ironie das Potential einer queeren Intervention hatte. 16 Vgl. ebd., S. 255ff. 17 Millner/Moore: »›Performing Oneself Badly‹«, S. 21. 18 Vgl. Harris: »The Ghosts of New Burlesque «, S. 137. 19 Vgl. Montgomery: »A Burlesque«, S. 25ff., Nally: »Grrrly hurly burly«, S. 630ff., Siebler: »What's so feminist about garters and bustiers«, S. 562, Willson: Happy Stripper, S. 150. 20 Vgl. z.B. Asbill: »›I’m Allowed to Be a Sexual Being‹. 21 Vgl. Montgomery: A Burlesque, S. 27. NAVIGATIONEN 122 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE QUEERING IN DER (NEO-)BURLESQUE 2. BURLESQUE ALS KARNEVALESKE QUEERE FREAK SHOW ›Freak‹ does not mark any position in the aside, but instead marks a movement of distantiation, of keeping distance from ideals of being- white, being heterosexual, being-normal, being-efficient.22 Die sich als erste Burlesque-Gruppe Deutschlands bezeichnenden Performerin- nen The Teaserettes bieten in Berlin seit 2008 regelmäßige Shows unter dem Na- men Rock’n’Roll Freak Burlesque Circus an, mit denen sie an die Tradition der Wanderzirkusse und der Freakshows des 19. Jahrhunderts anknüpfen. Mit dem Versprechen einer Vorstellung u.a. mit »Bärtige[n] Frauen, tanzende[n] hasen, Vogelfrauen am trapez, eine[r] menge Erotik und Artistik gepaart mit hipshakin’ Rock’n’Roll Tunes«23 wird für eine Veranstaltung geworben, mit der das Ver- drängte der zivilisierten Gesellschaft enttabuisiert werden soll.24 Die Verbindung der Burlesque mit den Freakshows, d.h. der im 19. Jahrhundert populären Zur- schaustellung von nicht der Norm entsprechenden Menschen im Sinne eines Kurio- sitätenkabinetts, war bereits in den Anfängen der erotisch konnotierten Burlesque präsent, Jacki Willson erinnert daran, dass die ersten Burlesque-Performerinnen ihre Shows mit »human curiosity acts«25 teilten. Auch wenn heute die Erinnerung an die Freakshows in den Burlesque- Veranstaltungen spielerisch erfolgt und als Affirmation der Andersartigkeit inter- pretiert wird, ist es notwendig, ihre dunkle Vergangenheit zu beachten. Renate Lorenz erinnert an die menschenverachtende Geschichte der zwischen 1840 und 1940 populären Freakshows, in denen Menschen als »human wonders« oder »monstrosities« dem Publikum präsentiert wurden.26 Die Abweichung von der Norm wurde sogar dahingehend bestraft, dass mittels des US-amerikanischen »ugly laws« Menschen mit nichtkonformem Aussehen das Auftreten in der Öffent- lichkeit per Gesetz untersagt war.27 Unter Beachtung dieser Geschichte der Freakshows entwirft Lorenz ihr Konzept der queeren freak theory – »Freak« be- deutet für sie, wie dem Eingangszitat zu entnehmen ist, vor allem die Bewusstma- chung von Ausschlussmechanismen und die Distanzierung von normativen Kon- zepten. In Anlehnung an David Halperins Konzept des »becoming impersonal« sieht sie insbesondere im Drag die Möglichkeit des gleichzeitigen Man-selbst-Seins und Jemand-anders-Seins (»becoming (im)personal«).28 Lorenz unterscheidet dabei 22 Lorenz: Queer Art, S. 28. 23 Siehe www.teaserettes.de/burlesque_cms/the-fifth-rocknroll-freak-burlesque-circus/, 11.09.2017. (Orthographie wie im Original). 24 Vgl. Halser: »Seebären auf High Heels«. 25 Willson: Happy Stripper, S. 152. 26 Lorenz: Queer Art, S. 25. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 29. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 123 JOANNA STASKIEWICZ drei Arten von Drag: Den radical drag, der über die Binarität von Frau und Mann hinausgeht, den transtemporalen drag, der sich von etablierten heterosexuellen Zeitkonzepten und Lebensabschnitten (z.B. Heirat und Familiengründung) distan- ziert und sie hinterfragt,29 sowie den abstract drag, bei dem menschliche Körper durch Nichtmenschliches dargestellt werden, z.B. durch Objekte.30 Bei der Betrachtung von gegenwärtigen Burlesque-Performances wie z.B. der erwähnten La Fête Fatale finden sich Figuren, die an die Drag-Unterteilung bei Lorenz erinnern. Aufschlussreich bei der La Fête Fatale war die Performance des Burlesque-Künstlers Sheila Wolf, der sich selbst als Frauendarsteller31 bezeichnet. Seine Show wirkte wie ein zweifaches Drag, in dem die Grenzen zwischen den Geschlechtern mehrfach umgedeutet wurden. Er betrat die Bühne kostümiert als (männlich konnotierte) Ms. Popeye, wodurch aufgrund des Gender Bender- Themenabends die Erwartung kreiert wurde, dass sich hinter dieser Verkleidung ein weiblicher Körper verbergen könnte. Tatsächlich erschien schrittweise mit je- dem abgelegten Kleidungsstück ein weiblich geformter Körper, der sich jedoch als ein körpernahes Kostüm entpuppte. Dabei bediente sich Wolf auf spielerische Art und Weise der Seemannsromantik, denn das Kostüm war mit Imitationen mariti- mer Seemannstattoos versehen. Diese Art von Matrjoschka-Drag, bei dem das letzte Kostüm als letzte Schicht unangetastet bleibt, war eine gelungene Irritation, bei der die Betrachter*Innen geneigt sein könnten, das Geschlecht unter dem Kos- tüm erraten zu wollen. So verdeutlichte diese Performance die Wirksamkeit der Matrix der heteronormativen Ordnung. Sheila Wolfs Performance wirkte dadurch wie radical drag, denn sie hat sich der Binarität von Mann/Frau klar entzogen. Die Körperformen der Darsteller*innen der La Fête Fatale reichten von normativen, den gegenwärtigen Schönheitsidealen entsprechenden Körpern bis zum sogenannten Bawdy Look, einem Look, der sich den gegenwärtigen Mainstream-Schönheitsidealen entzieht. Millner und Moore verbinden die Bawdy Beauty mit »street style, postmodernism, punk, goth, rockabilly and radical drag to embody a nonchalant play with double standards and mixed messages«.32 Oft handelt es sich dabei um Körper mit Tattoos und Piercing – um, mit Gemma Ruth Commane gesprochen, modifizierte und mutierte Körper – die eine besondere Funktion haben, weil sie zeigen, dass Körper transformativ sind.33 Sowohl Commane als auch Millner und Moore sehen in der Bawdy Beauty karnevaleske Motive in Anlehnung an Michail Bachtin, weil das nonkonforme Aus- sehen die Binarität der Unterscheidung zwischen akzeptierter und nichtakzeptier- 29 Zu queeren Zeitkonzepten, die sich als alternative Lebensentwürfe zur »institution of family, heterosexuality, and reproduction« entwickelten vgl. Halberstam: In a Queer Time and Place, S. 1. 30 Vgl. ebd., S. 23. 31 https://indie-republik.com/en/art/sheila-wolf-ich-fliege-eben-unterhalb-des- gesellschaftsradars.html, 19.09.2017. 32 Millner/Moore: »›Performing Oneself Badly‹«, S. 22. 33 Commane: »Bad Girls and Dirty Bodies«, S. 49. NAVIGATIONEN 124 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE QUEERING IN DER (NEO-)BURLESQUE ter Sexiness aufdecke, ähnlich wie die früheren karnevalesken Freakshows die Unterscheidung in konforme und marginalisierte Körper aufzeigten.34 Bachtin sah im Karneval die Möglichkeit der temporalen Aufhebung der offiziellen Normen, Regeln und Hierarchien,35 eine volkstümliche Lachkultur mit der Affirmation der »Dummheit« im Sinne des Grotesken und der Parodie, die der »inoffizielle[n] Wahrheit«36 eine Sprache gab. Bachtin stellte den Karneval also als Möglichkeit des Volkes dar, sich von der sogenannten hohen Kultur der herrschenden Eliten zu distanzieren. Sein dichotomischer Ansatz der parodistischen Degradierung des Hohen (des Oben) durch das Unten, also durch das Volk, verband er mit dem Kon- zept der grotesken Körper. Für ihn sind diese Körper topographisch zu verste- hen: Geschlechtsorgane, Bauch und Hintern stellen das körperliche Unten dar, während das Oben durch Gesicht und Kopf repräsentiert wird.37 Die grotesken Körper von Bachtin sind dem materiell-leiblichen Bereich zugeordnet, wie das Es- sen oder die Sexualität, und werden durch Übertreibung, Hyperbolik oder Übermaß stilisiert.38 Mary Russo betont im Bachtinschen Körperkonzept den As- pekt des Prozessualen, des Unvollendeten und des Veränderlichen des volkstüm- lichen grotesken Körpers, der in Opposition zum geschlossenen klassischen Kör- per des Bürgertums steht.39 Insbesondere im Unvollendeten und Veränderlichen sieht sie einen Raum der »sich überlappenden Bahnen«, die »fantastische Verbin- dungen zwischen Geschlechtern, Körpern, Kostümen, Architekturen, Landschaf- ten und Temporalitäten« herstellen würden.40 Die »sich überlappenden Bahnen« können auch in den Burlesque-Shows wie- dergefunden werden, denn die unterschiedlichen Körper der Darsteller*innen sind im Werden und wirken wie unvollendete, hyperbole, (Bachtinsche) groteske Körper. Auch Annie Blanchette knüpft in ihrer Analyse der Burlesque an Bachtin und Russo an und verbindet das Groteske in der Burlesque mit der gängigen As- soziation, dass Burlesque mit etwas Niederem (»low«) zu tun habe – die niederen Körper in der Burlesque würden dann nichtideale Körper sein, wie Körper, die so Blanchette – »zu fett«, »zu hässlich«, »zu alt« oder »zu passée« seien.41 In den Per- formances ermöglichen nichtideale Körper die Distanzierung von der Idealvorstel- lung und haben daher einen subversiven Charakter. Aber auch die normativen Körper, die dem gegenwärtigen Schönheitsideal entsprechen und auf den ersten Blick nicht als groteske Körper wirken, sind Be- standteil der queeren freak shows, weil sie ebenfalls eine Form des Drag sind. Deb- 34 Vgl. Millner/Moore: »›Performing Oneself Badly‹«, S. 26. 35 Vgl. Bachtin/Lachmann: Rabelais und seine Welt, S. 139. 36 Ebd., S. 303. 37 Vgl. ebd., S. 71. 38 Vgl. ebd., S. 345ff. 39 Vgl. Russo: »Female Grotesques«, S. 219. 40 Russo: The female grotesque, S. 106. 41 Blanchette: »Revisiting the ›passée‹«, S. 162. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 125 JOANNA STASKIEWICZ ra Ferreday weist beispielsweise darauf hin, dass die Burlesque, in der Darstelle- rinnen mit heteronormativen Vorstellungen der weiblichen Sexualität und der Hyperweiblichkeit spielen, ein Female-to-Female-Drag sind, der aufzeigt, dass auch Weiblichkeit performativ ist und erlernt werden kann.42 Während der La Fête Fatale trat beispielsweise Banbury Cross auf, eine Performerin, die mit ihrem Aussehen und auch mit ihrer nostalgischen Retro-Performance an das Sexsymbol Marilyn Monroe erinnert, und geschmückt mit Federn und ihre rotlackierten Fin- gernägel krallenhaft aufspreizend mit dem Mythos der gefährlichen, weiblich- raubtierhaften Sexualität spielte. Laut Blanchette können die Nostalgie und die Retroelemente in der Burlesque einen queeren Moment ausmachen: Neo-burlesque retro masquerade can thus be seen as an opportunity for bricolage, where objects and gestures belonging to different tem- poral spaces are assembled, substituted or displaced in the conven- tional frame, or order of the feminine performance. This, in turn, can lead to subversive, ambiguous or idiosyncratic representations, draw- ing from the past, present and envisioned future, rather than solely idealised versions of the first or the latter.43 Dadurch entstünde – ähnlich wie im Falle des transtemporal drag nach Lorenz – die Möglichkeit der Unterbrechung der gegenwärtigen zukunftsorientierten und linearen Zeitlogik und damit auch der Hybridisierung im Sinne der Verwischung der Grenzen zwischen der Zeit sowie den idealen und nichtidealen Körpern.44 3. REJECTION OF HERE AND NOW IN DER NERDLESQUE Noch deutlicher ist die zeit- und raumüberschreitende Wirkung der Burlesque in der Nerdlesque – einer besonders in den USA populären Burlesque-Richtung, in der popkulturelle Motive in die Shows eingebunden und parodiert werden. Die Bezeichnung Nerdlesque leitet sich vom Begriff nerd ab – einer zuvor pejorativen und stereotypen Bezeichnung für Menschen, die sich in der Technik- und Fan- tasywelt bewegen und über gute Kenntnisse der Naturwissenschaften, jedoch über mangelnde soziale Kompetenzen verfügen. Mittlerweile wird der Begriff nerd von hippen, in der Popkultur sich zuhause fühlenden jungen Menschen aufge- griffen und als Selbstbezeichnung verwendet.45 Eines der wichtigsten Elemente der Nerdlesque ist das Cosplay (costume play), das Spiel aus Verkleidung und Maskerade, in dem Performer*innen sich in die Figuren aus Superheldencomics, US-amerikanischen Sciencefictionfilmen und - serien, oder japanische Zeichentrickfiguren verwandeln. Das Cosplay bedient 42 Vgl. Ferreday: »›Showing the girl‹«, S. 58ff. 43 Blanchette: »Revisiting the ›passée‹«, S. 171f. 44 Vgl. ebd., S. 171. 45 Vgl. Glöss: »Nerds und Geeks zwischen Stereotyp und Subkultur«. NAVIGATIONEN 126 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE QUEERING IN DER (NEO-)BURLESQUE mittlerweile unterschiedliche Richtungen »such as fantasy, cuteness, romance, horror, sci-fi, fetish, gothic, and mythology, with each genre consisting of a wide array of characters«46 und findet oft in Verbindung mit dem Cross-Dressing statt, z.B. werden die männlichen Superhelden oder Bösewichte durch weibliche oder Transgenderpersonen parodiert und umgekehrt. Durch dieses »Geschlechter- Crossplay« werde ein »pures Spektakel« dargeboten, das Bilder zeigt, die über die essentiellen Zuschreibungen hinausgehen.47 Teilweise wird die Normativität der Geschlechter besonders herausgefordert, indem Performer*innen sich in Figuren jenseits der Geschlechterordnung verwandeln, z.B. geschlechtslos wirkende fikti- ve Gestalten wie Elben oder Aliens.48 Die im Cosplay animierten vermeintlich ge- schlechtslosen Figuren wirken dennoch vergeschlechtlicht. Joel Gn bemerkt: These [fictional, J. S.] characters may lack human sexual markers, but are still ›gendered‹ according to the narrative of the text. Such a con- flation of gender markers and lack of recourse to the morphology of the human body inevitably results in the virtualization of the perfor- mance, whereby notions of gender and embodiment are not suffi- ciently understood in ›human‹ terms. With the ontology of the ani- mated body in question, cosplay provokes one to think of gendered difference as an ongoing, mediated, and exponential process that chal- lenges the essentialist politics of deviance.49 Wenn Performer*innen sich in nichtmenschliche Figuren verwandeln, können sie eine Wirkung im Sinne des abstract drag, wie ihn Renate Lorenz beschreibt, er- zeugen, mit dem sie Visualisierungen des menschlichen Körpers durch Objekte meint. Das Cosplay bedeutet durch spielerische Verwandlung der Körper in fikti- ve Objekte auch eine queere Verkörperung, weil dabei trotz der Intention, die Körper geschlechtslos wirken zu lassen, auf menschliche Körper und schließlich die Matrix der Geschlechternormen verwiesen wird. Ein wichtiger Anlaufpunkt der Nerdlesque-Szene ist in New Orleans zu fin- den – einer Stadt, in der während der Karnevalszeit neben den weltberühmten Mardi Gras-Paraden seit 2011 auch die alternative Chewbacchus-Parade stattfin- det. Der Name dieser Parade knüpft an die Figur Chewbacca aus der Star Wars- Saga an und ist ein großes Fest der Nerds und Geeks, der Science-Fiction-Fans, die in bunten Kostümen, mittels Cosplay und selbstgebauten Requisiten ihre Lieb- lingsfiguren darstellen.50 Die Faszination für die popkulturellen Elemente ist eben- 46 Rahman u.a.: »›Cosplay‹«, S. 318. 47 Vgl. Gn: »Queer simulation«, S. 584. 48 Ebd., S. 589. 49 Ebd. 50 Die Chewbacchus-Parade ist lokal organisiert und hat im Vergleich zu den Hauptparaden des Mardi Gras weniger kommerziellen Charakter – auch die sogenannten throws, d.h. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 127 JOANNA STASKIEWICZ falls in der Burlesque-Szene von New Orleans sichtbar. Eine der dortigen Burles- que-Gruppen, Society of Sin, bietet beispielsweise kleine wöchentliche Shows un- ter dem Namen Talk nerdy to me an, sowie aufwändige Veranstaltungen, die durch ihre Narration und szenische Gestaltung an Theaterstücke erinnern. Pulp Science Fiction: A Star Wars Burlesque Play ist eine dieser Shows. Dieses Burlesque-Stück wurde 2015 von der Performerin Xena Zeit-Geist geschrieben, sie interpretierte dafür auf parodistische Weise und unter der Verwendung von Cross-Dressing und Drag verschiedene Kultfilmfiguren neu. Die Darsteller*Innen vertraten dabei unterschiedliche Körpertypen, Geschlechter und Hautfarben, ei- nige hatten sichtbare körperliche Handicaps. Zeit-Geist selbst performte den Film-Bösewicht Darth Vader, andere Performer*innen verkörperten auch Aliens, tierhafte Wesen und futuristische Figuren, die anderen Science-Fiction-Serien ent- liehen wurden. Die Vielfalt unterschiedlicher Burlesque-Darsteller*innen, die laut Zeit-Geist »aren’t necessarily fitting into one-gender binary on stage«,51 mündet in ein ebenso variatives Spiel mit zeitlichen und räumlichen Dimensionen. Die Ver- mischung des futuristisch-intergalaktischen Star Wars-Kults mit dem irdischen Pulp Fiction-Kult aus dem 20. Jahrhundert erschafft einen geschützten Raum der Transgression, einen utopischen Ort, wie ihn Michel Foucault beschreibt: »Utopia is a place outside all places, but it is a place where I will have a body without body, a body that will be beautiful, limpid, transparent, luminous, speedy, colossal in its power, infinite in its duration. Untethered, invisible, protected – always transfigured«.52 Einen ähnlich utopischen Ort beschreibt auch Esteban Muñoz, der für ihn ein Ort der queerness ist, die er insbesondere an der »rejection of here and now«53 festmacht. Durch die Hervorbringung eines solchen utopischen Ortes kann die Nerdlesque eine queere Intervention auslösen, in der die Grenzen der Normativiät temporär aufgegehoben – verUneindeutigt – werden. Bei der Betrachtung der US-amerikanischen Nerdlesque kann man fast nicht umhin zu fragen, ob es sich bei dieser nahezu aufdringlichen Faszination mit der Popkultur um einen »kulturellen Fetischismus«54 handelt. Bereits Jean Baudrillard erkannte in der US-amerikanischen Liebe für Filmstars und Kino Züge des Feti- schismus.55 Laut Hartmut Böhme ist der kulturelle Fetischismus seit den 1970er Jahren zum »Mainstream« der populären Kultur geworden und wandelt sich ver- stärkt zu einem »exzessiven Konsumismus«, insbesondere in der Jugendkultur. Gleichzeitig aber bergen die »fetischistischen Travestien und performativen Iden- tifikationsspiele« für die Jugend die Möglichkeit, mit der Geschlechterordnung zu die kleinen Souvenirs, die von ParadeteilnehmerInnen in das Publikum geworfen wer- den, sind meist selbstgebastelt. 51 www.bestofneworleans.com/gambit/new-orleans-gets-an-all-male-burlesque- revue/Content?oid=2631242. 52 Foucault: »Utopian body«, S. 229. 53 Muñoz: Cruising utopia, S. 1. 54 Kornfield: »Cross-cultural Cross-dressing«, S. 226. 55 Vgl. Baudrillard: Amerika, S. 82. NAVIGATIONEN 128 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE QUEERING IN DER (NEO-)BURLESQUE experimentieren.56 Ebenso sehe ich in der Nerdlesque das Wirken eines kulturel- len Fetischismus und ein Spiel mit der Popkultur, das auch die Grenzen der Ge- schlechterordnung und Heteronormativiät kritisch wie transgressiv hinterfragen kann. 4. SCHLUSSBETRACHTUNG Jack Halberstam schrieb 2011 ein Plädoyer für die »queer art of failure« – für das Absurde, Fehlerhafte und Törichte, in dem sich ein Raum für queere Intervention eröffnen kann.57 In der Erforschung des Trivialen, der »low culture« bzw. wie er es nennt – der »silly archives«58 – sieht er, ähnlich wie Bachtin im Karnevalesken, die Möglichkeit einer transgressiven, befreienden Aufhebung der Differenzen. Mil- lner and Moore weisen auf das befreiende Potential der amateurhaften Perfor- mances und der »low production« in der Neo-Burlesque hin, insbesondere auf die affirmative Wirkung der fehlerhaften Performances. Sie sehen beispielsweise die gegenwärtigen Frauenperformances im Bawdy Look als bewusste »feminist per- formance of failure«, wobei auch hier failure die Möglichkeit der »transgressiven Abweichung« mit sich bringt.59 Die (Neo-)Burlesque scheint also als silly archives zu funktionieren, denn sie ermöglicht als queere Freakshow und fetischistisches Spiel mit der (Pop-)Kultur eine Transgression nicht nur von Heteronormativität, sondern auch von Raum und Zeit – und damit kann sie als eine queere Interventi- on gesehen werden. Allerdings bleibt auch mit Antke Engel kritisch zu hinterfragen, inwieweit die Neo-Burlesque auch in neoliberale Praktiken im Sinne »projektiver Integration«60 verflochten ist, in denen die Differenz als »erfreuliches Spektakel und kulturelles Kapitel«61 dargeboten und marktwirtschaftlich verwertet werden kann. Bei den Burlesque-Performances handelt es sich schließlich nicht nur um einen Raum der Transgression, sondern auch um ein für Geld angebotenes Spektakel. Darüber hinaus wäre auch interessant, die Bedeutung der (Neo-)Burlesque im Kontext der durch Rosalind Gill festgestellten »sexualization of culture« zu betrachten, mit der auch eine neue Form der Gouvernementalität verbunden sei – die »technology of sexiness«, die nicht nur als eigene affirmative »sexual agency« gilt, sondern auch eine neoliberale Disziplinierungsform sein könne.62 56 Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 347. 57 Vgl. Halberstam: The queer art of Failure, S. 186f. 58 Ebd., S. 19. 59 Millner/Moore: »›Performing Oneself Badly‹«, S. 28. 60 Engel: Bilder von Sexualität, S. 16. 61 Ebd., S. 13. 62 Gill: »The Sexualisation of Culture?«, S. 493. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 129 JOANNA STASKIEWICZ LITERATURVERZEICHNIS »Coming soon, podcast #5: You’re Welcome! Why Burlesque NEEDS Rubyyy Jones«,https://hereslookingatyousite.wordpress.com/2017/07/10/1000/, 17.09.2017. Allen, Robert: Horrible prettiness. Burlesque and American culture, Chapel Hill, NC u.a. 1991. 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Als pragma- tische Praxis für den medienkulturwissenschaftlichen Alltag schlägt der Artikel am Beispiel des viel diskutierten Independent-Spiels GONE HOME (2012) einen Middle Ground-Approach vor, der in Anlehnung an Henry Jenkins Konzept des Game Designs als narrativer Architektur Spielräume als Schauplatz queerer, ludischer und narrativer Möglichkeiten versteht. Der Variantenreichtum der Videospiele scheint sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur in Hinblick auf die ästhetischen Gestaltungsmöglichkeiten und die Aus- differenzierung der Spielkonzepte weitaus schneller zu entwickeln, als es in der Geschichte des Films der Fall war. Auch die Verfeinerung theoretischer Positio- nen zeichnet sich durch eine ausgesprochen hohe Dynamik aus. Die zu Beginn der 2000er Jahre als eine Art Gründungsstreit betrachtete Kontroverse zwischen auf den Eigenwert der Spiele konzentrierten Ludolog*innen und Narrato- log*innen, die Videospiele als eine neue Form des Geschichtenerzählens betrach- ten, scheint heute weitgehend beigelegt. Die aktuellen Forschungsaktivitäten in den Game Studies umfassen ein weites Spektrum, von den kulturellen Rahmen- bedingungen des E-Sports über die Vermischung realer und virtueller Räume in Augmented-Reality-Spielen wie Pokémon Go bis hin zu den performativen Hand- lungsmöglichkeiten weitflächiger Open-World-Szenarien und der ästhetischen Ei- genverantwortung im Gebrauch filmischer Stilmittel in Action-Adventure-Reihen, deren Gestaltungsaufwand sich mit den Standards einer Hollywood-Produktion messen kann. Die Ludologie-Narratologie-Kontroverse beförderte zwar eine verstärkte Sensibilität für den Eigenwert der Spiele, ihre Mechanismen und ihre gestalteri- schen Kriterien. Zugleich wird rückblickend jedoch auch deutlich, dass sowohl die Idee von Spielen als ludischen Systemen als auch die Betrachtung von Games als Geschichten sich gleichermaßen auf einen traditionellen Formalismus zurück zie- NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE ANDREAS RAUSCHER hen. Diese abstrakte Betrachtung der Spielmechanismen tendiert häufig dazu, sich weitgehend von gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten zu entkoppeln. Gerade Themenkomplexe wie die von Anita Sarkeesian in ihrer Video-Essay- Reihe Tropes vs. Women in Video Games analysierten Rollenbilder der Damsel-in- Distress, die bei allen stilprägenden Finessen des Gamedesigns in der Figur der zu jeder neuen Saison wieder vom Bösewicht Bowser entführten Prinzessin Peach aus Nintendos Super Mario-Reihe nach wie vor präsent bleibt oder des kumpelhaf- ten Manic Pixie Dream Girl, das als Sidekick alleine der Aufmunterung eines mürri- schen Helden dient, lassen sich mit einem rein formalistischen Ansatz nur rudi- mentär erfassen. Die ästhetischen Aspekte der mit diesen Figuren assoziierten audiovisuellen Rhetorik wären vielmehr Gegenstand einer transmedialen Ikono- graphie und Ikonologie, wie sie sich in der Bildwissenschaft und der filmwissen- schaftlichen Genreforschung findet. In die Gestaltung der Videospiel-Avatare und der sie umgebenden NPCs (Non-Player-Characters), sowie das für ihre Hand- lungsmöglichkeiten relevante Setting, das von Science-Fiction und Fantasy über Agenten- und Abenteuer-Szenarien bis hin zur Simulation des gewöhnlichen All- tags reichen kann, schreiben sich Rollenmuster und gesellschaftliche Konventio- nen fort. Je nach Genre Setting impliziert die Semantik eine von den Spieler*innen durch das Gameplay konfigurierbare Syntax und je nach Grad der Handlungsfrei- heit des Spielkonzepts und der mit diesem kombinierten Regeln lassen sich indivi- duelle Auslegungen der Figuren und ihres Verhältnisses zur Spielwelt realisieren. Welche Potentiale sich für ein dekonstruktivistisches Queer Playing, analog zu Techniken eines Queer Reading ergeben, hängt daher nicht zuletzt davon ab, wie vorgefertigt der vom Spieler oder der Spielerin übernommene Charakter er- scheint. In Action-Adventures wie der Uncharted-Reihe, die in ihrem aktuellen Titel The Lost Legacy (2017), die in den ersten Teilen von dem Indiana Jones-Epigonen Nathan Drake übernommene Aufgabe der Schatzsuche an seine Kollegin Chloe Frazer weiter gibt, werden die Charaktere vom Spiel vorgegeben und beschrän- ken sich in ihren Handlungsmöglichkeiten auf Aktionen wie Klettern, Springen, Schießen und Laufen, die dem Setting entsprechend für eine/n Action-Held*in all- täglich erscheinen. Um einiges freier gestalten sich die Optionen zum Ausspielen des von den Spieler*innen übernommenen Charakters in den von Anfang an als Hybrid aus strategischen und erzählerischen Elementen konzipierten Rollenspie- len. Für den Besuch einer Online-Spielwelt in regelmäßigen Abständen wählen Spieler*innen in einigen Fällen Avatare, die ihren eigenen persönlichen Einstellun- gen nahe sind. In einem epischen Rollenspiel lotet man hingegen wie ein*e Schau- spieler*in auch gerne ambivalente Seiten eines Charakters aus. In Single-Player- Spielen mit einer ausgefeilten Handlung und einer detailgenau auf die Ereignisse des Plots ausgerichteten Levelstruktur wie beispielsweise den Rollenspiel-Reihen Dragon Age (seit 2009) und Mass Effect (seit 2008) des Studios Bioware können die von den Spieler*innen übernommenen Figuren dunkle Geheimnisse verber- NAVIGATIONEN 134 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE QUEERING GAME SPACES gen, die einen interessanten, in zusätzlichen Quests zu erkundenden Nebenstrang der Handlung eröffnen können. Aus der Perspektive klassischer Filmtheorie ließe sich nun erwarten, dass zu diesen dunklen Geheimnissen auch bi- und homosexuelle Neigungen zählten. Doch die Charaktere in der Dragon Age- und der Mass Effect-Reihe müssen gar nicht erst aus dem Closet kommen, eine bisexuelle oder homosexuelle Ausrich- tung ist bereits in den Handlungsmöglichkeiten der meisten Avatare angelegt und kann je nach Interessen der Spieler*innen ohne weitere Hindernisse performativ ausagiert werden. Durch diese bereits als Code in die Algorithmen des Spiels in- tegrierte Option erübrigen sich jene aus der Filmgeschichte bekannten subversi- ven Lesarten, die wie das von Susan Sontag und anderen Theoretiker*innen dis- kutierte Phänomen des Camp in stilisierter Form versteckte Codes für homose- xuelle Subkulturen im Umgang mit popkulturellen Artefakten wie Judy Garland in The Wizard of Oz / Das zauberhafte Land (USA 1939) und Busby Berkeley-Musicals herausarbeiten. In ihrer Einführung zum Queer Cinema weist die Filmwissenschaftlerin Barba- ra Mennel auf die subversive Praxis dieser Tradition vor dem Hintergrund des Classical Hollywood hin: »Cinematic camp has a special affinity to classic Holly- wood of the 1940s and 1950s, when gays and lesbians worked in the studios un- der the explicit condition that their sexual identity was barred from filmic repre- sentation.«1 Das umfassendere Projekt der filmwissenschaftlichen Recherchen zum Queer Cinema sieht Mennel in einer archäologischen Spurensuche einer al- ternativen Ikonographie, »an archeology of an alternative cinematic aesthetics or- ganised around non-normative desires.«2 Die Ausweitung des Projekts der Queer Studies auf eine allgemeinere Ebene, die auf eine medienübergreifende Ikonographie der Dissidenz verweisen könnte, geht nach Mennel über die Frage nach der Repräsentation von homo- und bisexu- ellen Charakteren hinaus. Entsprechend unterscheidet sie zwischen queeren Im- plikationen und Bestrebungen, die Anzahl gleichgeschlechtlicher Beziehungen in Filmen, Serien und Spielen zu erhöhen: Queer implies the subversion of gender and sexual identities assumed to be cohesive, while ›gay‹ and ›lesbian‹ claims the political productivi- ty of circulating such identities in the public sphere in order to de- mand equal rights. Since the medium film lends itself to a realist rep- resentation of identity as well as to its artistic deconstruction, both approaches exist in filmic production and reception.3 Diese beiden theoriegeschichtlichen Tendenzen, auf der einen Seite die mit Ver- fahren der Dekonstruktion assoziierte Unterwanderung normativer Machtstruk- 1 Mennel: Queer Cinema, S. 27. 2 Ebd., S. 1. 3 Ebd., S. 3. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 135 ANDREAS RAUSCHER turen und Auflösung binärer Polaritäten, und auf der anderen Seite eine veränder- te, auf erhöhte Sichtbarkeit im Mainstream abzielende Repräsentationspolitik, setzen sich unmittelbar in den Diskursen der Queer Game Studies fort. Adrienne Shaw und Bonnie Ruberg betonen in der Einleitung zu Queer Game Studies (2017): »The key distinction we are making here is between scholarship that takes as its primary focus LGBTQ topics – from LGBTQ players or designers to games with LGBTQ representation – and work that seeks to understand video games through the conceptual frameworks of queerness.«4 Die Ansätze der Queer Game Studies wollen traditionelle Oppositionen wie Ludologie und Narratologie oder heteronormative Geschlechtergrenzen über- winden und in diesem Prozess auch die Videospiele neu denken: Queer thinking has the potential to simultaneously destabilize and reimagine video games themselves [...] Rather than understanding games as rule-based structures (ludology) or just in terms of represen- tation (narratology), we can view games as spaces where we play within and against rules and explore representation beyond explicitly named queer content. Queer game studies opens up possibilities for queer game play that is not about finding the ›real‹ meaning of a game text, but playing between the lines with queer reading tactics.5 Die Autor*innen des Bandes verstehen Videospiele als Möglichkeitsräume queeren Handelns: »They inspire us to see video games as spaces of queer possi- bility.«6 Bei genauerer Betrachtung wird jedoch schnell deutlich, dass diese Möglich- keitsräume selbst historischen Entwicklungen unterliegen. Einige Queer Readings popkultureller Artefakte aus vergangenen Jahrzehnten haben heute den Mainstream erreicht. In den Filmen von Todd Haynes wie Velvet Goldmine (GB 1998) und Far From Heaven (USA 2002) werden Diskurse einer queeren Rezepti- onsgeschichte selbst unmittelbar auf der Ebene der Filmhandlung thematisiert, einmal in der Auseinandersetzung mit dem adrogynen Glam-Rock der 1970er Jah- re und einmal als Reflexion auf die Subtexte der Melodramen von Douglas Sirk. Das als Slash bezeichnete Subgenre der Fan Fiction zur Star Trek - Original Series (USA 1966-1969), in dem eine geheime homosexuelle Beziehung zwischen Cap- tain Kirk und Mister Spock ausgeschmückt wird, funktioniert über anspielungsrei- che Andeutungen. Wenn sich die zuvor durch queere Interpretationen herausge- arbeiteten Implikationen jedoch als expliziter Bestandteil in der Handlung der Serien selbst finden, handelt es sich eher um sympathische politische Korrekturen und eine progressive Repräsentationspolitik als um eine raffinierte Schmuggelakti- on. Zu dieser Entwicklung gehören sowohl die Integration eines explizit 4 Shaw/Ruberg: »Introduction: Imagining Queer Game Studies«, Position 172. 5 Ebd., Position 99. 6 Ebd., Position 164. NAVIGATIONEN 136 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE QUEERING GAME SPACES homosexuellen Paars in die aktuelle Star Trek-Serie Discovery (USA, 2017), als auch die in den Code der Rollenspiele Dragon Age und Mass Effect implementier- ten gleich geschlechtlichen Romanzen. Sie liefern einen signifikanten Beleg für die Historizität der Queer Readings, die auf längere Sicht ihr serielles Ausgangsmate- rial oder Genrekonzepte selbst gestalterisch beeinflussen. Entsprechend erweitert Edmond Y. Chang in einem Aufsatz über das Queer- gaming den Radius der Aktivitäten: Queergaming expands what it means to create, consume, and play to include game mods (or modifications) and Easter Eggs (hidden mes- sages, jokes, and surprises), paratexts like game wikis and player- created websites, walkthroughs, and Let’s play videos, and even fan fiction, parodies, machinima, and cosplay (costume play). Queer re- mediation deploys what Henry Jenkins calls ›textual poaching‹ or a participatory culture which transforms the experience of media con- sumption into the production of new texts, indeed a new culture and a new community.7 Die von Chang als Queergaming beschriebenen Ansätze ergänzen sich am pro- duktivsten mit jenen Aktivitäten, die Mia Consalvo in ihrem Aufsatz zum queeren Potential der Alltagssimulation The Sims (seit 2000) als spielerische Strategie aus- machte.8 Sie sind das Ergebnis kreativer spielerischer Interventionen und nicht vorgegebene Ereignisse eines vorgefertigten Plots, der lediglich ein gewisses Fine Tuning erlaubt. Die homosexuellen Romanzen werden als Teil eines nach der Ty- pologie von Jesper Juul als Game of Emergence zu bezeichnenden Spiels erspielt. Juul grenzt deren offene Strukturen von den stärker linear organisierten Games of Progression ab: »Emergence is the primordial game structure where a game is spec- ified as a small number of rules that combine and yield a large game tree, that is, a large number of game variations that the players deal with by designing strate- gies.«9 Die Form des emergenten Spiels verzichtet auf eine klare dramaturgische Struktur zu Gunsten der Bereitstellung performativer Möglichkeitsräume. Chang sieht Queergaming als Erweiterung des spielerischen Erfahrungshori- zonts, wie er mit den Formen eines emergenten Gameplays korrespondiert: Queergaming is a provocation, a call to games, a horizon of possibili- ties. Queergaming is a refusal of the idea that digital games and gaming communities are the sole provenance of adolescent, straight, white, cisgender, masculine, able, male, and ›hardcore‹ bodies and desires and the articulation of and investment in alternative modes of play and ways of being [...] Queergaming dances with the possibilities of non- 7 Chang: »Queergaming«, Position 928. 8 Consalvo: »Game Analysis«. 9 Juul: Half-Real, S. 73. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 137 ANDREAS RAUSCHER competitive, nonproductive, nonjudgmental play, as well as the uncer- tainty and inefficiency of glitches, exploits, and other goofiness and the desire for queer worlds as opportunities for exploration, for different rules and goals, and even for the radical potential of failure.10 Als wichtigen Referenzpunkt nennt Chang Alexander Galloways Begriff des Coun- tergaming und beruft sich auf die Avantgarde-Filme der 1960er Jahre, die sich wie Jean-Luc Godard in seinen späteren Arbeiten als Opposition zum Mainstream ver- standen. Angesichts der Referenzen auf die filmische Avantgarde der 1960er und 1970er Jahre bleibt die Frage offen, ob es tatsächlich nur das freie Spiel jenseits der Norm und die als Repräsentation vorcodierte algorithmische Routine gibt o- der ob nicht gerade für eine kulturwissenschaftliche Perspektive und insbesonde- re für eine spielerische kritische Intervention nicht auch die Zwischenräume in der Grauzone zwischen verspielter Avantgarde und politisch korrigierter Narra- tion relevante Ergebnisse und Erkenntnisse hervorbringen. Bekanntlich blieben Jean-Luc Godard und seine Mitstreiter*innen mit ihren ebenso radikalen wie di- daktischen Video-Experimenten in den frühen 1970er Jahren weitgehend unter sich, bis sie 1980 doch wieder zum Kino zurückkehrten. Eine Poetik des Queer Gaming sollte nicht die emotionale Involvierung und das queere Potential überse- hen, das sich aus überraschenden Ereignissen in einem ansonsten auf den Mainstream abzielenden Spiel ergeben kann. In dem etwas weniger bekannten Spiel Bully (2006) versteckte das Studio Rockstar Games, das mit der erfolgreichen Videospiel-Reihe Grand Theft Auto (GTA, seit 1998) satirische Subversion in ein kommerziell lukratives Markenpro- dukt ummünzte, beispielsweise eine Queer Gaming-Mechanik. Die Spieler*innen übernehmen die Rolle eines mit allerlei Problemen konfrontierten Internatsschü- lers. Wie sich dieser verhält, wird nicht eindeutig vorgeschrieben. Der Avatar kann entweder die Schule schwänzen und durch die Stadt streifen oder am Un- terricht teilnehmen, der aus einer ganzen Sammlung von Mini-Games besteht, da- runter u. a. Rhythmus-Spiele und Puzzle-Aufgaben. Eine eindeutige Wertung einer der beiden Spieloptionen gibt es nicht. Ob die Spieler*innen es als subversiv be- greifen in der Tradition einer ganzen Reihe prominenter Vorbilder aus der Film- geschichte den Unterricht zu umgehen oder ob sie lieber den Prügeleien mit Mit- schüler*innen ausweichen und die Mini-Games erfolgreich absolvieren, bleibt den einzelnen Vorlieben überlassen. Als versteckter Bonus lässt sich außerdem aus- wählen, ob der Avatar bei seinen ersten romantischen Erfahrungen eine Mitschü- lerin oder einen Mitschüler umwirbt. Bully liefert ein prägnantes Beispiel dafür, dass sich komplexeres Gamedesign nicht auf die einfache Gegenüberstellung von Mainstream-Gaming und subversiver Avantgarde reduzieren lässt. Diese Opposi- 10 Chang, Position 825. NAVIGATIONEN 138 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE QUEERING GAME SPACES tion würde außerdem genau jene Polaritäten erneut affirmieren, die die Queer Game Studies eigentlich hinter sich lassen wollten. Vielmehr lassen sich verschiedene Möglichkeiten einer queeren Betrach- tungsweise in unterschiedlichen graduellen Abstufungen in Spielen aller Formate ausmachen. Die avantgardistische Form des freien Spiels, die Chang in den Blick nimmt, wäre eine ludische Option, weitere Varianten finden sich im Raum als Ka- tegorie der ästhetischen Erfahrung, den die Spieler*innen als Kontrastfolie zu den mit dem jeweiligen Setting gekoppelten Erwartungshaltungen erleben können und schließlich auch in der Narration als Prozess des aktiv erschlossenen Storytellings. Abschließend sollen die ludischen und narrativen Möglichkeitsräume im Kon- text der Queer Game Studies am Beispiel des Independent-Games Gone Home (2012) genauer betrachtet werden. Die Grundlage hierfür bildet ein Ansatz des Medienwissenschaftlers Henry Jenkins, der sich auf die Idee des Gamedesign als narrative Architektur bezieht.11 Jenkins sieht in der Betrachtung von Spielräumen als Orte narrativer Möglichkeiten eine Alternative zur strikten Trennung zwischen ludischen und narrativen Elementen: »[A] middle-ground position between the ludologists and the narratologists, one that respects the particularity of this emerging medium – examining games less as stories than as spaces ripe with nar- rative possibility«.12 Die narrativen Erwartungshaltungen korrespondieren in Gone Home mit queeren Möglichkeitsräumen, die sich jedoch in zwei unterschiedlichen Weisen entfalten, einmal als Repräsentationspolitik auf der Ebene der sämtliche angedeuteten Ereignisse umfassenden Story und einmal als raffinierte Unterwan- derung der mit dem Setting verbundenen Genrekonventionen auf der Ebene der von den Spieler*innen ausagierten Handlung. Gone Home wurde von Entwickler*innen des Labels Fullbright Company kon- zipiert, die zuvor an dem intensiv diskutierten dystopischen Shooter Bioshock (2008) beteiligt waren. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Settings der beiden Spiele zwar deutlich voneinander: Bioshock schildert die Odyssee des Überlebenden eines Flugzeugabsturzes über dem Atlantik durch ein gescheitertes Unterwasser-Utopia im Art Deco-Stil, Gone Home hingegen die Spurensuche ei- ner nach einem Jahr in Europa heimgekehrten US-amerikanischen Austauschschü- lerin, die das Haus ihrer Familie bei ihrer Rückkehr verlassen vorfindet. In Hinblick auf die Spielmechanik greifen beide Spiele jedoch auf ein ähnliches Design zurück. Die Navigation in der First-Person-Perspektive ermöglicht es den Spieler*innen den jeweiligen Schauplatz zu durchstreifen. Der Detailgrad der wahr genommenen Hintergrundgeschichte, die die Spieler*innen vor ihren inne- ren Augen anhand der gefundenen Informationen rekonstruieren müssen, hängt ganz davon ab, wie viel Zeit man sich für die genauere Betrachtung des Settings nimmt. Wesentliche Beweggründe der abwesenden Charaktere erschließen sich über Tagebuch-Einträge, Audio-Aufzeichnungen, gesammelte Gegenstände und 11 Henry Jenkins, »Game Design as Narrative Architecture«, S. 117-130. 12 Ebd., S. 119. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 139 ANDREAS RAUSCHER andere Artefakte. In Bioshock lässt sich, lange nachdem die Katastrophe bereits stattgefunden hat, die Hybris der Bewohner*innen der Unterwasserstadt Rapture rekonstruieren. Orientiert an der inhumanen Philosophie der realen Schriftstelle- rin Ayn Rand und ihres – auf das Recht des Stärkeren setzenden radikalen Indivi- dualismus – versuchten die Menschen der zerstörten Metropole auf dem Grund des Atlantiks eine neue Gesellschaft aufzubauen, die sich als selbstzerstörerische Wahnvorstellung erwies. Der Hindernislauf durch Rapture entspricht durchge- hend einer einfallsreichen Variation klassischer Science-Fiction-Topoi, die das Spiel durch das Unterwasser-Setting um eine ambitionierte Interpretation erwei- tert. Gone Home führt hingegen die Spieler*innen anfangs auf eine falsche Fährte, die Assoziationen an eine traditionsreiche filmische Mise-en-scène heraufbe- schwört, nur um diese in eine gänzlich andere Mise-en-Game zu überführen. Der Filmtheoretiker V.F. Perkins charakterisiert die Kunst der Mise-en-scène als »moments of choice«,13 die den Stil eines Regisseurs oder einer Regisseurin definieren. Im Videospiel muss der/die Designer*in einen Teil der ästhetischen Ei- genverantwortung an die Spieler*innen delegieren. Dennoch wecken die mit dem Setting verbundenen Besonderheiten Erwartungshaltungen, die mit dem popkul- turellen Gedächtnis und dem individuellen Vorwissen der Spieler*innen gekoppelt sind. Die raffinierte Manipulation der Semantik des Szenarios kann indirekt die Reaktionen der Spieler*innen beeinflussen. Die Funktion der filmischen Mise-en- scéne wird zur Mise-en-Game erweitert: »Sie bereitet durch Anspielungen auf filmische Vorbilder gezielt Déjà-vu-Momente vor und arrangiert zugleich den Hindernis-Parcours der zu erwartenden Herausforderungen«.14 Doch im Fall von Gone Home täuscht die Codierung der zu Beginn vorgefun- denen Genre-Semantik. Das von der restlichen Familie abrupt verlassene Haus erinnert entfernt an die aus den Spielen des Survival Horrors wie Amnesia - The Dark Descent (2010) und Silent Hill (seit 1999) bekannten Domizile, hinter deren Türen sich ein lange verdrängtes Grauen verbirgt. Der nächtliche Dauerregen und entferntes Donnergrollen lassen Referenzen an den Gothic Horror erwarten. Dass der Avatar sich erst einmal Zugang zum abgesperrten Haus verschaffen muss und darin eine gespenstische Leere vorfindet, weist ebenfalls in die Richtung einer tragischen Handlung. Doch im Gegensatz zu Bioshock erwarten den Spieler oder die Spielerin nicht einmal Kämpfe oder Geschicklichkeitsproben. Einige fal- sche Fährten wie Zeitungsausschnitte über übernatürliche Vorkommnisse, die an Standardsituationen der Mystery-Serien aus den 1990er Jahren erinnern, weisen noch einmal in die Richtung des subtilen übernatürlichen Grauen. Doch der ver- meintliche Ausflug in die Schauerromantik erweist sich nach und nach als über die vorgefundenen Artefakte erzählte Coming-Out-Geschichte. Die Anspielungen auf popkulturelle Phänomene der 1990er Jahre wie die Musik der feministischen Riot Grrl-Bewegung oder VHS-Kassetten und Videospielkonsolen schaffen ein atmo- 13 Rauscher: »Mise en Game«, S. 91. 14 Ebd., S. 94. NAVIGATIONEN 140 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE QUEERING GAME SPACES sphärisches Ambiente, mit dem der Spieler oder die Spielerin eigene Erinnerun- gen verknüpfen kann. Im Gegensatz zur filmischen Montage, die einen festen zeit- lichen Ablauf vorgibt, lässt sich durch die Steuerung des Spiels der Rhythmus von den Spieler*innen selbst bestimmen. Die geschickte Abweichung von den mit Survival Horror und Mystery assozi- ierten, zu Beginn des Spiels beförderten Erwartungshaltungen lässt sich durchaus im Sinne der Queer Game Studies begreifen, im eingangs erwähnten Sammelband von Rurberg und Shaw widmet die Autorin Merritt Kopas dem Spiel einen Essay, der die persönliche Spielerfahrung dokumentiert. Bezüglich der von mir selbst beim ersten Durchspielen in sehr ähnlicher Weise erfahrenen Genre- Assoziationen stellt Kopas fest: This is a video game. About girls in love. That shouldn’t be exceptional in and of itself, but it is. And because it’s a video game about a big empty house and because it’s a story about girls in love, anyone who has familiarity with either of those genres is going in expecting the worst to happen. Because seriously, setting a lesbian love story in a creepy old mansion is the perfect confluence of the terrible. So from the start you’re thinking, okay, ghosts. Or suicide. Or probably both.15 Die geschickt arrangierte räumliche Erfahrung deckt sukzessive die tatsächlichen Hintergründe über die Beziehung der jüngeren Schwester zu ihrer besten Freun- din auf. In einer gegen die Konventionen traditioneller Melodramen arbeitenden Wendung erweisen sich diese längst nicht als so dramatisch wie zu Beginn des Spiels angenommen. Es gibt weder Tote noch Verletzte. Auf einer abstrakteren Ebene realisiert Gone Home, wie sich in der Gesamtbetrachtung zeigt, einen aus- gesprochen raffinierten und reflektierten Dialog zwischen der filmischen Form des Melodrams und der auf klassische Repräsentationsanliegen abzielenden er- spielten Handlung. Wäre die Geschichte nicht als zu rekonstruierende Back- ground Story in einem Videospiel verarbeitet, sondern als Film realisiert worden, wäre sie ein sicherer Kandidat für die gesellschaftskritisch ausgerichtete Sektion eines Film-Festivals mit aufklärerischen Coming-of-Age-Filmen. Doch durch die Verteilung der selbst zu erschließenden Erzählung auf die verschiedenen Räume des Hauses vermeidet Gone Home sowohl jeglichen drohenden belehrenden Ge- stus als auch jegliche voyeuristische Haltung, die selbst Filme wie der Cannes- Gewinner La vie d‘Àdèle / Blau ist eine warme Farbe (Frankreich 2013) nicht ganz überwinden können. Das Queering des Game-Settings auf der formalen Ebene ergänzt sich mit der über Fragmente von den Spieler*innen selbst rekonstruierten Coming-Out-Thematik auf der inhaltlichen Ebene. Die zum Einsatz gebrachte narrative Architektur entspricht der Kategorie einer embedded narrative, die Jenkins als über den Raum vermittelte, teilweise 15 Merritt Kopas: »On Gone Home«, Position 2960. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 141 ANDREAS RAUSCHER sogar in diesen eingeschriebene Erzählung definiert: »The author of a film or a book has a high degree of control over when and if we receive specific bits of in- formation, but a game designer can somewhat control the narrational process by distributing the information across the game space.«16 Die Vermittlung der Informationen und die mit den Räumen verbundenen Assoziationen bewirken eine kontinuierliche Aktualisierung der mentalen Land- karte der entdeckten Handlung. In Gone Home erhält diese eine nahezu kontemp- lative Komponente, nachdem sich während der Passage durch das verlassene Haus keine besonderen Ereignisse ergeben. Jenkins stellt einen ebenso aufschluss- reichen wie ausbaufähigen Bezug zwischen einer embedded narrative und klassi- schen Genrekonzepten her: Embedded narrative can and often does occur within contested spac- es. Game designers might study melodrama for a better understand- ing of how artifacts or spaces can contain affective potential or com- municate significant narrative information. Melodrama depends on the external projection of internal states, often through costume design, art direction, or lighting choices. As we enter spaces, we may have become overwhelmed with powerful feelings of loss or nostalgia, es- pecially in those instances where the space has been transformed by narrative events.17 Ob bewusst oder nicht, das Gamedesign von Gone Home bringt genau jene Lekti- onen des filmischen Melodrams zur Anwendung, die Jenkins als Inspiration für un- konventionelles Gamedesign empfiehlt. Die Filmtheoretikerin Laura Mulvey be- zeichnete das Melodram einmal als »the genre of mise-en-scène, site of emotions that cannot be expressed in so many words«.18 Gone Home nutzt effektvoll die Bildsprache der symbolisch aufgeladenen Mise-en-scène im Melodram und ver- wandelt sie in eine von den Spieler*innen selbst zu entdeckende räumlich erzählte Geschichte. Neben der inhaltlichen und formalen Bezüge ergibt sich dadurch eine diskurshistorische Komponente, die thematisch an jene Techniken anknüpft, die der Filmtheoretiker Thomas Elsaesser 1973 in einem prägenden Aufsatz als grundlegend für das Genre ausmachte: »[The Melodrama] amounts to a relatively closed world. This is emphasized by the function of the decor and the symboliza- tion of objects: the setting of the family melodrama is almost by definition the middle-class home, filled with objects«.19 Genau durch einen dieser vollgestellten Zeichenräume bewegt sich der Spie- ler oder die Spielerin in Gone Home. Vorgefundene Objekte wie eine sehr persön- 16 Jenkins, S. 125. 17 Ebd. 18 zitiert nach John Gibbs: Mise-en-scène., S. 67. 19 Thomas Elsaesser, »Tales of Sound and Fury«, S. 387. NAVIGATIONEN 142 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE QUEERING GAME SPACES liche Audio-Kassetten-Compilation entfalten ein symbolisches Potential, das die Spieler*innen selbst ausfüllen müssen. Über die Dramaturgie des Melodrams schreibt Elsaesser, dass sie mit abrupten Stimmungswechseln arbeite: »Letting the emotions rise and then bringing them suddenly down with a thump is an extreme example of dramatic discontinuity, and a similar, vertiginous drop in the emotional temperature punctuates a good many melodramas.«20 Die Familienbeziehungen im Austauschprozess zwischen der Sprache des Melodrams und der cineludischen Form des Videospiels Gone Home zeigt sich da- rin, dass innerhalb des Spiels auch mehrmals die emotionale Klaviatur das Register wechselt. Eine markante Akzentverschiebung findet sich jedoch darin, dass die Spielerin oder der Spieler wie ein Regisseur selbst bestimmen kann, wann der Akkordwechsel erfolgt. Ein Queer Gaming-Ansatz ergibt sich daher nicht nur durch die Handlungen der Spieler*innen. Vielmehr verdeutlicht das medienübergreifende Spielerlebnis in Gone Home, dass es sich um eine komplexe Koppelung unterschiedlicher Prozes- se auf verschiedenen Ebenen handelt. Diese können sich gegenseitig erweitern und kommentieren. Auf der unmittelbarsten Ebene beschwört das Game-Setting Assoziationen des Survival Horrors herauf, die im Sinne der Queer Game Studies unterlaufen werden und einer sensiblen Coming-Out-Erzählung weichen. Die Ebene der als Story nach und nach als Puzzle rekonstruierten Handlung folgt hin- gegen vertrauten Strukturen einer homosexuellen Coming-of-Age-Narration, wie sie sich auch in zahlreichen Romanen und Filmen wie dem Oscar-Preisträger Moonlight (USA 2016) findet. Die Rückkopplungen an die Raumstrukturen des Melodrams, die für die Konstruktion der embedded narrative genutzt werden, er- weitert das Gamedesign noch um eine zusätzliche Ebene, die Anschlussmöglich- keiten zur klassischen Filmtheorie und Filmgeschichte ermöglicht. Das daraus re- sultierende Netzwerk signalisiert weitere Konfigurationen, die über den in den Queer Game Studies nach wie vor gelegentlich aufscheinenden Gegensatz zwi- schen Mainstream und Avantgarde hinaus verweisen. 20 Ebd., S. 386. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 143 ANDREAS RAUSCHER LITERATURVERZEICHNIS Chang, Edmond Y.: »Queergaming«, in: Ruhberg, Bonnie/Shaw, Adrienne (Hrsg.): Queer Game Studies, Minneapolis 2017, ch. 2. Consalvo, Mia/Dutton, Nathan: »Game Analysis: Developing a methodological toolkit for the qualitative study of games«, in: Game Studies Jg. 6, H. 1, 2006. Web. 09.12.2017. Elsaesser, Thomas: »Tales of Sound and Fury: Observations on the Family Melo- drama«, in: Grant Barry K. (Hrsg.): Film Genre Reader III, Austin: 2007, S. 366-395. Gibbs, John: Mise-en-scène - Film Style and Interpretation, London 2002. Jenkins, Henry: »Game Design as Narrative Architecture«, in: Wardrip-Fruin, No- an/Harrigan, Pat (Hrsg.): First Person. New Media as Story, Performance, and Game, Cambridge, MA 2004, S. 118-130. Juul, Jesper: Half-Real. Video Games between Real Rules and Fictional Worlds, Cambridge, MA 2005. Kopas, Merritt: »On Gone Home«, in: Ruhberg, Bonnie/Shaw, Adrienne (Hrsg.): Queer Game Studies, Minneapolis 2017, ch. 15. Mennel, Barbara: Queer Cinema. Schoolgirls, Vampires, and Gay Cowboys. Lon- don 2012. Rauscher, Andreas: »Mise en Game. Die spielerische Aneignung filmischer Räu- me«, in: New Game Plus. Perspektiven der Game Studies. Genres - Künste – Diskurse, Bielefeld 2015, S. 89-114. Rurberg, Bonnie/Shaw, Adrienne: Queer Game Studies, Minneapolis 2017. NAVIGATIONEN 144 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE DIE NIEDERE BLUME PFLÜCKEN Elemente analer Poetik in Wolfgang Borcherts Erzählung Die Hundeblume V O N B E N E D I K T W O L F ABSTRACT Der Beitrag untersucht vor dem Hintergrund der Diskursgeschichte männlicher Homosexualität im 20. Jahrhundert homoerotische Elemente in Wolfgang Bor- cherts Erzählung Die Hundeblume (1946/47). Er legt dabei besonderes Gewicht auf die Analyse des Gefängnisses als homosozialer Institution und der Semantik von Blume und Brechen der Blume. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht nur homosexuelles Begehren eine zentrale Funktion für den Text hat, sondern dass der Text darüber hinaus selbst anal-rezeptive Momente für sich beansprucht. 1. HOMOSEXUALITÄT, MÄNNLICHKEIT UND NACHKRIEGSLITERATUR In seiner Analyse von literarischen Männlichkeitsentwürfen dreier Autoren der sogenannten ›Jungen Generation‹ der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur, näm- lich Wolfgang Borcherts, Heinrich Bölls und Alfred Anderschs, kommt Hans-Gerd Winter zu der Einschätzung, dass vor dem Hintergrund einer männlichen Soziali- sation der Autoren in der kämpfenden Wehrmacht, die er mit Theweleit als Mili- tärmaschine1 versteht, neue Männlichkeitsmodelle in der Nachkriegsliteratur in erster Linie von der Negation nazistischer Männlichkeitsbilder gekennzeichnet seien: [T]he critical balance of Borchert, Böll and Andersch is clearly marked by their proximity to the overpowering experiences of war. The re- sult is an inventory of male behaviors joined with sharp criticism and negation. Therein lies the real achievement of the authors of the »Young Generation.« From their perspective, characteristics and be- haviors that are not commensurate with the image of the soldier de- manded by fascism and war are given value for the first time.2 Ein naiver Blick aus dem Jahr 2017 zurück auf die ersten Nachkriegsjahre könnte den Fehler begehen, männliche Homosexualität in die von Winter aufgerufenen Männlichkeitsdimensionen einzuordnen, die aus der Sicht der ›Jungen Generation‹ zum nationalsozialistischen Soldatenbild in Widerspruch stehen. Ein solcher Blick 1 Theweleit: Männerphantasien, Bd. 2, S. 154-163. 2 Winter: »Brutal Heroes, Human Marionettes and Men with Bitter Knowledge«, S. 215. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE BENEDIKT WOLF wäre geschichtsvergessen, ja ignorant, stellt man in Rechnung, dass erst das Jahr 2017 den Bundestagsbeschluss zur Rehabilitierung derjenigen Männer brachte, die nach 1945 aufgrund des §175 verurteilt wurden. Der homosexuellenfeindliche Paragraph galt in der Bundesrepublik in seiner im Nationalsozialismus verschärf- ten Version bis 1969 weiter. Auch 2017 geht die Rehabilitierung der ›Hundert- fünfundsiebziger‹ nicht vonstatten, ohne dass in das Rehabilitierungsgesetz »eine Prise urdeutscher Perfidie einfließ[t]«, wie Leo Fischer treffend bemerkt hat: Vo- raussetzung für die mögliche Rehabilitierung ist das Einhalten eines gegenüber he- terosexuellen Sexualkontakten höheren Schutzalters.3 Die Situation der homosexuellen Männer nach 1945 war verzweifelt. Das im Nationalsozialismus erfahrene Leid wurde nicht anerkannt, die Strafbarkeit sämt- licher homosexueller Handlungen zwischen Männern blieb bestehen. Der öffentli- che, auch der literarische Diskurs geht noch einen Schritt weiter: Der Vorwurf lautet, dass männliche Homosexualität ein Charakterzug des Nationalsozialismus gewesen sei. Gary Schmidt hat in seiner Analyse von Texten der deutschsprachi- gen Nachkriegsliteratur gezeigt, dass die Literatur, die mit der ›Bewältigung der Vergangenheit‹ befasst ist, den nationalsozialistischen Männerbund zum Fixpunkt männlicher Homosexualität mache. Homosexualität werde so als Signum der Ge- fährlichkeit des Nationalsozialismus funktionalisiert.4 Die Formulierung männlicher Homosexualität in der Literatur nach 1945 steht im Horizont einer zweifachen Ablehnung: Homosexualität und homosexuel- le Kultur wurden im Nationalsozialismus zwar verfolgt, galten nach dem Krieg je- doch als ein konstitutiver Kernbestand des Nationalsozialismus. Die Wurzeln die- ser Ansicht reichen bis in die Zeit des Kaiserreichs zurück, formiert wurde sie in den Auseinandersetzungen zwischen antifaschistischem Exil und Nationalsozialis- mus in den 1930er Jahren. Erschien das politisch linke Lager während des Kaiser- reichs und der Weimarer Republik als der natürliche Verbündete der homosexu- ellen Emanzipationsbewegung,5 so machte es mit der nationalsozialistischen Machtübernahme eine Kehrtwende in Bezug auf seine Geschlechter- und Sexuali- tätenpolitik: Im Braunbuch bezieht die KPD 1933 mit den homosexuellenfeindli- chen Anschuldigungen gegen den Brandstifter des Reichstagsbrandes Stellung ge- gen die Homosexuellen.6 Diese Kehrtwende kritisiert Klaus Mann in seinem Essay Die Linke und ›das Laster‹ von 1934. Mit Erschrecken zitiert er ein dem Kommu- 3 Fischer: »Das Unerträgliche an deutschen Geschichtsdebatten«, o.S. 4 Schmidt: The Nazi Abduction of Ganymede. 5 Vgl. Hewitt: Political Inversions, S. 19. 6 Meve: »Homosexuelle Nazis«, S. 21-35, Hewitt: Political Inversions, S. 20f. Die linke Po- lemik gegen die Homosexuellen hat allerdings schon eine deutlich längere Geschichte. Schon in den beiden homosexuellen Skandalen der 1900er Jahre, dem sogenannten Krupp- und dem sogenannten Eulenburg-Skandal erhebt das linke Lager die Stimme ge- gen den ›dekadenten Sittenverfall‹ der Bourgeoisie, vgl. Meve: »Homosexuelle Nazis«, S. 21-35, Hewitt: Political Inversions. Vgl. für die Weimarer Republik Eissler: Arbeiterpar- teien und Homosexuellenfrage. NAVIGATIONEN 146 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE DIE NIEDERE BLUME PFLÜCKEN nisten Maxim Gorki zugeschriebenes Diktum, »Man rotte alle Homosexuellen aus – und der Faschismus wird verschwunden sein!«, und bedauert den Umstand, dass das antifaschistische und sozialistische Lager im Allgemeinen die homosexuel- lenfeindliche Position bezogen habe, die in der Zeit der Republik die der »reakti- onäre[n] Bourgeoisie« gewesen sei. In der Publizistik des Exils beobachtet Mann geradezu eine Identifizierung von Homosexualität und Faschismus.7 Der Vorwurf der Homosexualität war zu einer Waffe im publizistischen Kampf gegen den Nati- onalsozialismus geworden. Der vorliegende Beitrag untersucht vor dem Hintergrund der skizzierten Si- tuation die homosexuellen Gehalte in Wolfgang Borcherts Erzählung Die Hunde- blume (1946/1947). Er konzentriert sich hierbei auf zwei Dimensionen des Ho- moerotischen, die in den zeitgenössischen Diskursen besondere Signifikanz tra- gen. Erotik in homosozialen Kontexten wurde vor allem von Hans Blüher (1888- 1955) in der Zeit seit Ende des Kaiserreichs als staatsbildend reklamiert.8 Sie ist zugleich das zentrale Argument des antifaschistischen Exils gegen den männer- bündlerischen Nationalsozialismus. Zweitens konzentriert sich meine Analyse auf Analität und penetrierte Männlichkeit. Denn der penetrierte Männerkörper er- scheint durch die Geschichte männlicher Homosexualität seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hindurch als derjenige Punkt, der einer bürgerlichen Assimilierung der Homosexuellen am schärfsten entgegensteht, an dem aber auch die zwang- hafte Systematik von Geschlecht und sexueller Orientierung am deutlichsten als angreifbar erscheint.9 In diesem Zusammenhang werde ich dafür argumentieren, dass Borcherts Text eine anale Poetik entwirft und mobilisiert, die mit Nachdruck der utopischen Dimension penetrierter Männlichkeit zur Verwirklichung verhilft. 2. DIE HUNDEBLUME Wolfgang Borcherts »geistige Mentorin«,10 die Schauspielerin Aline Bußmann, empfiehlt dem jungen Dichter 1939 in Reaktion auf die Zusendung früher Gedich- te brieflich einen bestimmten Umgang mit der poetischen Botanik: Ihr Weiser hat eine gute Richtung und Ihr Auge sieht den Weg, hinauf, – es wird immer blühen an Ihrem Weg, aber scheuen Sie sich nicht, immer wieder auszuroden, um den Pfad freizumachen für die auser- wählten Blumen, die nur in großer Höhe wachsen.11 7 Mann: »Homosexualität und Faschismus«, S. 237. Homosexualität und Faschismus lautet der Titel im Typoskript. 8 Vgl. zum Verhältnis von Männerbund und Literatur um 1900 Zilles: Die Schulen der Männlichkeit. 9 Vgl. ausführlich Wolf: Penetrierte Männlichkeit. 10 Burgess: Wolfgang Borchert, S. 29. 11 Aline Bußmann an Wolfgang Borchert, 13.11.1939, zit. nach ebd., S. 83. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 147 BENEDIKT WOLF Auf dem Weg zur Blüte einer exquisiteren Poesie, so lässt sich Bußmanns Emp- fehlung paraphrasieren, gilt es, die niederen Blumen links liegen zu lassen, sie gar »auszuroden«. Borchert aber gibt seiner zuerst 1946 erschienenen12 Erzählung den Namen einer niederen Blume und erniedrigt deren üblichen Namen Löwen- zahn noch zur volkstümlichen Hundeblume. Er geht noch weiter und gibt ihr ge- gen Ende des Textes einen Frauennamen – den Vornamen derjenigen, die ihm Jahre vorher die ›Ausrodung‹ der niederen Blumen empfohlen hatte: »Aline«.13 Die Erzählung Die Hundeblume, dieser These möchte ich im Folgenden nachge- hen, entwirft eine Poetik der niederen Blume. Die Benennung der Hundeblume mit dem Frauennamen Aline markiert auf mehreren Ebenen die Hinwendung zum ›Niederen‹. Die Reaktion der Erzählung auf den Brieftext hebt erstens den Gat- tungswechsel hervor, den Wechsel von der frühen Lyrik zur Nachkriegsprosa.14 Zweitens markiert ›Aline‹ eine Abkehr von den ›erhabenen‹ Sujets der Lyrik und eine Hinwendung zu den ›prosaischen‹ Sujets der Short Story – eine Bewegung, die für die Literatur der ›Jungen Generation‹ programmatisch wird. Sie geht ein- her mit einer Abwendung vom pathetischen hin zu einem alltagssprachlichen »La- pidarstil«, der expressionistische Assoziationstechniken integriert:15 Statt »wohl- temperierten Klaviere[n]« fordert Borchert in Das ist unser Manifest (1947) »Dich- ter […], [d]ie zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sa- gen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv«.16 Doch der poetische Entwurf der Hundeblume geht im Wechsel der Gattung, der Sujets und des Stils nicht auf. Viertens, so meine These, markiert ›Aline‹ eine Position analer Poetik. Die Poetik der Hundeblume nimmt Bußmanns Formulierung vom ›ausroden‹ beim Wort. Denn wer die niederen Blumen ›ausroden‹ will, der muss sie zuerst einmal pflücken. Im Zentrum der Poetik von Borcherts Hundeblume steht eine Deflorati- on, das Pflücken einer niederen Blume. Wenn ich von einer analen Poetik der Hundeblume spreche, dann geht es mir um eine Poetik, die dieser Text entwirft, nicht sein Autor. Im Anschluss an die Methodik der heteronormativitätskritischen Lektüre17 führe ich diese anale Poetik auf das Begehren nicht des Autors, sondern des Textes selbst zurück.18 12 Die Erzählung Die Hundeblume erscheint zuerst im April und Mai 1946 in zwei Folgen in der Hamburger Freien Presse. Borchert nimmt sie als Titelerzählung in den 1947 er- schienenen ersten Erzählband gleichen Titels auf, Borchert: Das Gesamtwerk, S. 532. 13 Ebd., S. 43. Der Name »Aline« war ursprünglich als Titel der Erzählung vorgesehen, Burgess: Wolfgang Borchert, S. 29. 14 Vgl. Winter: »›Mir liegt kaum daran…, gedruckt zu werden‹«, S. 19. 15 Karnick: »Krieg und Nachkrieg«, S. 57. 16 Borchert: Das Gesamtwerk, S. 519. Die Wendung zum lapidaren Stil steht in einem Spannungsverhältnis zum Pathos des zeitgenössischen Existenzialismus, das in vielen Texten der ›Jungen Generation‹ hörbar wird. 17 Vgl. zusammenfassend Wolf: Penetrierte Männlichkeit, S. 43-48. 18 Vgl. zu Sedgwicks Begriff des Textbegehrens Kraß: »Queer lesen«, S. 238-242. NAVIGATIONEN 148 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE DIE NIEDERE BLUME PFLÜCKEN 2.1. HOMOSOZIALES KONTINUUM UND HOMOEROTISCHES BEGEHREN Um was für eine niedere Blume handelt es sich bei der Hundeblume? Ihr Charak- ter ist aus dem Kontext zu erhellen, in dem sie blüht: der homosozialen Institution des Gefängnisses, in dem der Ich-Erzähler Häftling ist. Wir erfahren in der Erzäh- lung nichts über die Gesellschaft, die sich dieses Gefängnis gebaut hat. Im Gegen- satz zu vielen anderen Texten Borcherts markiert die Gefängniserzählung Die Hundeblume ihren soziohistorischen Ort in keiner Weise. Diese Nicht-Markierung der historischen Spezifität lässt es zu, das Geschehen auf die Zeit der Gefängnis- aufenthalte in Borcherts Biographie, also 1942 und 1944,19 auf die Entstehungs- oder Publikationszeit der Erzählung, also 1946 und 1947, aber im Prinzip auch auf jeden beliebigen Zeitpunkt in den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts zu datieren. Viel geschieht nicht in dieser Erzählung. Nach einer ersten Phase der Isolati- on des Ich-Erzählers liegt der Schwerpunkt auf den Rundgängen in einer langen Reihe männlicher Gefangener auf dem Gefängnishof. Hier blickt der Protagonist nacheinander auf drei verschiedene, jeweils für einige Tage vor ihm herlaufende Mitgefangene. Im Zentrum des Interesses steht ein Löwenzahn, den der Protago- nist auf dem Hof entdeckt. Auf diese unscheinbare Blume richtet sich seine ganze Begierde und er setzt alles daran, sie zu brechen – was ihm schließlich gelingt. Die Erzählung endet mit dem einsamen Genuss an der Blume des wieder allein einge- schlossenen Protagonisten. Die Forschung hat das Gefängnis als Bild einer entfremdeten Gesellschaft und den Wunsch nach der Blume als einen der Entfremdung entgegenwirkenden Aus- bruch des Subjekts gedeutet.20 Diese Deutungen sind zweifellos richtig, unter- schätzen aber, wie ich meine, zwei Aspekte der Erzählung: die Homosozialität des Gefängnisses und die sexuelle Komponente im Akt des Brechens der Blume. Die Hundeblume entwirft am Gefängnis nicht das Bild einer ganzen Gesellschaft – das wäre eine Gesellschaft ohne Frauen –, sondern sie erzählt von den Parado- xien der Männlichkeit in einer Gesellschaft, die als zentrale Sozialisationsagenturen für Männer repressive homosoziale Institutionen einsetzt. Dass die männlich-homosoziale Struktur des Gefängnisses mit homoeroti- schem Begehren umzugehen hat, kann ein Blick auf die Art des Verhältnisses zwi- schen den im Kreis gehenden Männern verdeutlichen. Diese Reihe der hinterei- nander hergehenden Männer wird – mit zweideutigem Vokabular – ein »Latten- zaun« genannt, in dem der Ich-Erzähler »eingelattet ist als Latte«. In die Männer- reihe wird eine Differenzierung eingeführt: die Unterscheidung zwischen »Vor- 19 Vgl. Burgess: Wolfgang Borchert, S. 112-149. 20 Winter: »›Mir liegt kaum daran…, gedruckt zu werden‹«, S. 102-107, Csúri: »Semanti- sche Feinstrukturen«, S. 157-160, Stark: Wolfgang Borchert’s Germany, S. 51-81, Schmidt: »Wolfgang Borchert«, S. 321-324, Conliffe: »The Fictional World of Garshin and Borchert«, Kosieradzki: »Sterben als Erfahrung der religiösen Verwandlung in Wolf- gang Borcherts Die Hundeblume«, S. 34-40. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 149 BENEDIKT WOLF dermann und Hintermann«.21 Und diese Differenzierung impliziert eine Differen- zierung von Vorder- und Hinterseite des einzelnen Männerkörpers. Vom Vordermann sieht der Ich-Erzähler nichts als die Rückseite. Der Um- stand, dass er sich das Gesicht seines ersten Vordermanns dennoch detailliert ausmalt,22 stellt den Charakter des Verhältnisses zum Vordermann als projektiv heraus.23 Über das Vergehen, das den Protagonisten ins Gefängnis gebracht hat, wissen wir nichts. Doch diesem fällt es nicht schwer, das Vergehen des Vorder- manns zu erraten. Er mutmaßt einen »Sexualanfall«: Der Vordermann sei »einmal […] berauscht von einem buckligen Eros« gewesen und dadurch »in eine blöde Geilheit« geraten.24 Diese Mutmaßung sagt weniger über den Vordermann aus, als über das projizierte Begehren des Ich-Erzählers. Denn der schreibt dem Vorder- mann ohne jeden Anhaltspunkt eine sexuelle Unregelmäßigkeit, einen »buckligen Eros« zu. Die Zuschreibung sexueller Devianz geht einher mit einer Verschiebung des grammatischen Geschlechts. Der »Mann, der vor mir ging«, erhält einen Spitzna- men und wird zur »Perücke«,25 auf die der Erzähler mit femininen Personalpro- nomina referiert. Wie in zwei anderen Erzählungen Borcherts, in Unser kleiner Mozart und in Tui Hoo (beide 1947),26 wird der effeminierte Mann zum Gegen- stand des Abscheus, zum Negativ der Männlichkeit. In keiner anderen Erzählung wird die Abwehr des Effeminierten aber so deutlich als projektiver Vorgang her- ausgestellt wie in der Hundeblume. Die projektive Abwehr des Effeminierten hat eine Funktion: Sie schließt aus dem homosozialen Kontinuum die drohende eige- ne Effeminierung aus, indem sie sie auf den Anderen verschiebt.27 Dass die Ablehnung des als effeminiert imaginierten Vordermanns eine sexu- elle Wurzel hat, wird in einer Reihe von Formulierungen deutlich, die den Hass so zur Sprache bringen, wie die Literatur der Moderne das Begehren zu formulieren pflegt: im Vokabular der Selbstentäußerung, das häufig auf das Bild der Überflu- 21 Borchert: Das Gesamtwerk, S. 30f. 22 Ebd., S. 32f. 23 Stark: Wolfgang Borchert’s Germany, S. 57. 24 Borchert: Das Gesamtwerk, S. 32. 25 Ebd., S. 31. 26 In Unser kleiner Mozart kommt es zu einer ähnlichen Genuskorrektur wie in der Hunde- blume: »Er hieß Paul. Für uns natürlich Pauline«. Paul/Pauline wird als »homosexuell« be- zeichnet, ebd., S. 244. Entgegen Burgess’ Einschätzung der Figur Ludowico in Tui Hoo als »unverhohlen homosexuell« (Burgess: Wolfgang Borchert, S. 187) gibt es keinen Hinweis auf dessen homosexuelles, sehr wohl jedoch auf sein heterosexuelles Begehren (Borchert: Das Gesamtwerk, S. 330). Burgess scheint im heteronormativen Kurzschluss Effeminierung mit Homosexualität zu verwechseln. Paul/Pauline und Ludowico teilen al- lerdings eine hervorstechende gemeinsame Markierung, das Polieren der Fingernägel, ebd., S. 244 bzw. 323. 27 Auch in Bezug auf den dritten Vordermann steht für den Ich-Erzähler dessen sprachliche Effeminierung zur Diskussion: »[I]ch verkniff mir großzügig, ihm allerlei Spitznamen wie Oboe, Krake oder Gottesanbeterin zu verleihen«, Borchert: Das Gesamtwerk, S. 41. NAVIGATIONEN 150 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE DIE NIEDERE BLUME PFLÜCKEN tung zurückgreift:28 »[O]h, man kann in Situationen kommen, wo man so von Haß überläuft und über die eigenen Grenzen hinweggeschwemmt wird, daß man nachher kaum zu sich selbst zurückfindet«.29 In der homosozialen Konstellation unterliegt das Begehren dem Tabu, das dazu führt, dass es in das negative Regis- ter des Hasses verschoben wird – nicht ohne in seinen Formulierungen den Grund der Verschiebung zu offenbaren. Doch in der Hundeblume sucht sich das Begehren neue Bahnen. 2.2. SEMANTIK UND FUNKTION DER HUNDEBLUME Dem Genuswechsel in der Bezeichnung des Vordermanns entspricht eine analoge Genuskorrektur bei der Einführung der Blume: »Es war ein Löwenzahn, eine klei- ne gelbe Hundeblume«.30 Die Feminität der Hundeblume ist in der Forschung aufgefallen.31 Dass diese Feminität allerdings Ergebnis einer sprachlichen Effemi- nierung ist, wurde bisher, soweit ich sehe, nicht bemerkt. Die Blume trägt in der Literatur häufig vaginale Konnotationen.32 Und die Aktion, auf die die Planungen des Ich-Erzählers abzielen, ist hochgradig mit sexueller Bedeutung aufgeladen. In der Literatur ist das Motiv der gebrochenen Blume traditionell Anspielung auf die Defloration33 – prominente Beispiele sind Walthers von der Vogelweide Unter der linden und Goethes Heidenröslein. Auch ein möglicher Intertext der Hundeblume, Alfred Döblins Die Ermordung einer Butterblume (1910), spielt mit diesem traditio- nellen Motiv.34 Die Blume, die der Protagonist brechen wird, offenbart in ihrer sprachlichen Struktur eine geschlechtliche Komplexität, die über die bloße Effeminierung in der Genuskorrektur hinausgeht. Im zweiten Kompositionsglied wird der spitze, po- tenziell aggressive Zahn in die runde Form der Blüte überführt. Bis hierher er- scheint die Hundeblume mit ihrem zweiten Namen als ein Inbild der Weiblichkeit, wie sie die Heteronormativität fantasiert: nicht aggressiv, sondern schön, nicht phallisch, sondern vaginal. Die Bezeichnung als »Geliebte[]«35 und die Benennung mit dem Frauennamen »Aline«36 kennzeichnen sie als Metapher insertiven hetero- 28 Porto: Sexuelle Norm und Abweichung, S. 401f. 29 Borchert: Das Gesamtwerk: S. 34. Weitere ähnliche Formulierungen ebd., S. 33-35. 30 Ebd., S. 36. 31 Winter: »›Mir liegt kaum daran…, gedruckt zu werden‹«, S. 105, Csúri: »Semantische Feinstrukturen«, S. 160. 32 Grosse Wiesmann: »Blume«, S. 50f. 33 Möhrmann: »Da ist denn auch das Blümchen weg«. 34 Schmidt vergleicht zwar Döblins und Borcherts Text, lässt dabei jedoch merkwürdiger- weise den für Döblin zentralen Komplex der Sexualität aus, vgl. Schmidt: »Wolfgang Borchert«. 35 Borchert: Das Gesamtwerk, S. 37. 36 Ebd., S. 43. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 151 BENEDIKT WOLF sexuellen Begehrens, das sich da eine Frau herbeiwünscht, wo keine zu finden ist. Aber die Lage ist komplizierter: Im ersten Kompositionsglied kommt es auf dem Weg vom Löwenzahn zur Hundeblume zu einer Senkung des symbolischen Ni- veaus: vom Löwen zum Hund, und zwar innerhalb des männlichen Symbolregis- ters. Zudem nimmt der Wortbestandteil ›Hund‹ eine Bezeichnung auf, die der Text für eine Formation in der homosozialen Männergesellschaft vergeben hat, nämlich für die Gruppe der Wärter, die der Ich-Erzähler als »blaue [] Hunde [] mit Lederriemen um den Bauch« beschrieben hatte.37 Die Weiblichkeit der Hunde- blume ist erst Ergebnis der Effeminierung. Auf einer zweiten Ebene wird ihre Weiblichkeit zum Kennzeichen einer Erniedrigung des Mannes. Das Pflücken der Hundeblume weist auch auf diejenige ›Weiblichkeit‹ hin, die dann am Mann auf- scheint, wenn der Blick sich nicht mehr auf seine phallische Vorderseite, sondern auf seine anale Hinterseite richtet. Die Blume trägt sprach- und literaturgeschicht- lich eben nicht nur vaginale, sondern auch anale Bedeutung, die etwa Jean Genet in seiner Gefängnisliteratur entfaltet.38 In der Hundeblume als ›Blume der Hunde‹ vergegenständlicht sich ein unterschwelliges Wissen um die Blume, die alle Män- ner mit sich herumtragen. Diese Blume wird in der heteronormativ gerahmten homosozialen Konstellation zum Ansatzpunkt einer Wiedereinführung der Ge- schlechterdifferenz, und auf sie richtet sich das Begehren. Die Hundeblume ist ei- ne komplexe Metapher, überdeterminiert im Sinne der Freudschen Verdichtung,39 die auf zwei Ebenen Bedeutung trägt. Einerseits ist sie Metapher des in der ho- mosozialen Institution objektlosen heterosexuellen Begehrens. Und andererseits ist sie Metapher des aufgrund des Homosexualitätstabus nicht explizit zu ver- sprachlichenden homosexuellen Begehrens. In der Hundeblume als einer überde- terminierten Metapher findet das bewusste und das unbewusste Begehren des Protagonisten verdichteten Ausdruck. Im Lattenzaun mit seiner Differenzierung in Vorder- und Hintermänner war das ins Register der Aggression verschobene Begehren schon in einer Polarisie- rung in die Aktivität des Hintermanns und die Passivität des Vordermanns kennt- lich. Auch an der Blume werden schließlich beide Richtungen des Begehrens durchgespielt. Der Deflorationsakt, der über die längste Strecke der Erzählung das Begehren des Protagonisten fokussiert, wird in der abschließenden Traumvi- sion in rezeptives Begehren transformiert. Denn der Traum zielt auf einen Wunsch ab, der ganz am Ende steht, in dem das Textbegehren zu seinem Ziel kommt: »[E]r fühlte […], wie aus ihm Blumen brachen«.40 In diesem Wunsch ist 37 Ebd., S. 30. Unmittelbar nach der Einführung der »Hundeblume« weist der Text mit dem Wiederaufgreifen der Bezeichnung »Wachthunde« auf diesen Zusammenhang hin, ebd., S. 36. 38 Kemp: The Penetrated Male, S. 133-136. Vgl. zu Kafkas Ein Landarzt Wolf: Penetrierte Männlichkeit, S. 288-300. Auch in jüngeren filmischen »Komödien schwuler Entjungfe- rung« spielt die Blumenmetapher noch eine Rolle, Poole: »Pop My Butt Cherry«, S. 462f. 39 Freud: Die Traumdeutung, S. 286. 40 Borchert: Das Gesamtwerk, S. 43. NAVIGATIONEN 152 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE DIE NIEDERE BLUME PFLÜCKEN impliziert, dass ein Anderer sich auf die Blumen am Körper des Protagonisten be- ziehen möge, wie der sich auf die Hundeblume bezogen hatte.41 Der auf den an- deren projizierte bucklige Eros wird kenntlich als der Eros dessen, der sich bückt: als rezeptives Begehren des Mannes. 2.3. ANALEROTISCHE REZEPTION Der Umschlag des Begehrens geht mit einem Wechsel der Erzählperspektive ein- her. Von dem Punkt an, wo der Protagonist die Hundeblume bricht, ist er plötz- lich nicht mehr autodiegetischer Erzähler, sondern Figur in einer heterodiegeti- schen Erzählung. Die Ich-Erzählung geht in eine Er-Erzählung über. Das Pflücken der Hundeblume ist der Punkt, an dem der aktiv Begehrende mit seinem Wunsch konfrontiert wird, begehrt zu werden, und an dem das Subjekt der Erzählung zum Objekt der Erzählung wird.42 Winter liest die Hundeblume als einen Gegenstand, der in der Gefängnisge- sellschaft funktionslos und damit »ästhetische[s] Objekt« sei.43 In diesem Sinne wird sie aus der Perspektive meiner Lektüre zum dinghaften Reflexionsobjekt ei- nes Modells analerotischer Textrezeption. Der Erzähler-Protagonist der Hunde- blume spricht die Leser*innen direkt an und empfiehlt eine bestimmte Art der Re- zeption: Ich weiß, es ist schwer, mir zuzuhören und mit mir zu fühlen. Du sollst auch nicht zuhören, als wenn einer dir etwas von Gottfried Kel- ler oder Dickens vorliest. Du sollst mit mir gehen, mitgehen in dem kleinen Kreis zwischen den unerbittlichen Mauern. Nein, nicht in Ge- danken neben mir – nein, körperlich hinter mir als mein Hintermann. […] 41 In diesem Zusammenhang ist Borcherts 1943 veröffentlichter Prosatext Requiem für ei- nen Freund von Interesse. Auch hier ist der Kontext homosozial, die Armee an der Front. Das zentrale Motiv der Blume wird explizit mit den »Mädchen« identifiziert: »Und der Löwenzahn, die Rosen und die Sonnenblumen senken still ihre Köpfe – wie die Mädchen, die um uns Einsame wissen«. Nachdem die Körperlichkeit im homosozia- len Kontakt betont wurde (»Und dann liegen wir, einer neben dem anderen, spüren sei- nen Atem und sind dankbar, daß er lebt«, ebd., S. 316) wird das Blumenmotiv schließlich auf den toten Freund bezogen: »Die Blumen, die im Frühling aus deinem Grab wachsen, werden nach Erde und Sonne duften – und ich werde denken, daß du mich ansiehst, wenn ich vor ihnen stehe und Zwiesprache mit dir halte«, ebd., S. 318. 42 Dies kann zu einer Konkretisierung von Winters Analyse der Transformation der Ich- in die Er-Erzählung beitragen: »Der Wechsel der Erzählperspektive ergibt sich aus der Notwendigkeit, zur Unmittelbarkeit der am Ende berichteten intensiven Erfahrung eine Distanz zu wahren, die jene erst formulierbar macht. Durch die Er-Perspektive wird ei- ne Aufrichtigkeit des Berichts möglich, die, wie Frisch einmal festgestellt hat, einem I- cherzähler versagt ist; denn zu diesem gehöre immer auch, was er verhehle oder was ihm nicht bewußt ist«, Winter: »›Mir liegt kaum daran…, gedruckt zu werden‹«, S. 104. 43 Ebd., S. 105. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 153 BENEDIKT WOLF So wirst du also […] hinter mir herdammeln und monatelang nur auf mich angewiesen sein, auf meinen schmalen Rücken, den viel zu wei- chen Nacken und die leere Hose, in die der Anatomie nach ein Hin- tern gehört.44 In einer ausdrücklichen Absage an das Modell bürgerlicher Literaturrezeption, das mit der realistischen Tradition des 19. Jahrhunderts verbunden wird, wendet sich der Ich-Erzähler einem Modell der Literaturrezeption zu, das darauf abzielt, die kategoriale Unterscheidung zwischen der außerliterarischen Welt der Le- ser*innen und der fiktionalen Welt der Literatur aufzuheben.45 Nach der Art eines dramatischen Ad spectatores46 wendet sich der Sprechende mit der Du-Anrede direkt an sein Publikum. Anders aber als in der Publikumsansprache des Dramas, die einen Bruch der dramatischen Illusion bedeutet, tastet der Erzähler der Hun- deblume die Glaubwürdigkeit der fiktionalen Welt nicht an, sondern holt vielmehr die Rezipient*innen in diese fiktionale Welt – und das heißt hier: in die homoso- ziale Männerwelt der Vorder- und Hintermänner – hinein. Die Forschung hat die Leser*innen-Ansprache der Hundeblume als eine Auf- forderung zu einer empathischen47 oder zu einer engagierten Rezeption, die die Rezipient*innen »zu Taten aktivieren« solle,48 gelesen. Was aber soll der Hinweis auf die »leere Hose, in die der Anatomie nach ein Hintern gehört«? Der Rekurs auf den – in der homosozialen Konstellation ausgestrichenen, aber dennoch zur Sprache gebrachten – »Hintern« des Ich-Erzählers kann auf die Körperlichkeit der Einfühlung und auf die analerotische Natur des Engagements hinweisen, die den Leser*innen abverlangt werden. Denn wenn die Leser*innen der Aufforderung des Ich-Erzählers folgen und sich in die Reihe der Vorder- und Hintermänner ein- reihen, dann entdecken auch sie schließlich eine Hundeblume: den Text selbst, der nach Auskunft seines Titels eine Hundeblume ist. Die poetische Reflexions- funktion der Hundeblume im Text beinhaltet den Aspekt, dass sie ihren Namen mit dem Text teilt, in dem sie Begehrensobjekt ist. Der Text selbst präsentiert sich in seinem Titel den Leser*innen als eine begehrenswerte Hundeblume – mits- amt der Aufladung rezeptiver männlicher Analität, die die Hundeblume in der Textstruktur erhält: Ich bin eine Hundeblume, brich mich!49 44 Borchert: Das Gesamtwerk, S. 34. 45 Vgl. auch Winter: »›Mir liegt kaum daran…, gedruckt zu werden‹«, S. 103. 46 Vgl. zur Theatralität des Borchertschen Erzählens allgemein Burgess: Wolfgang Bor- chert, S. 11f., zur Theatralität der Hundeblume Winter: »›Mir liegt kaum daran…, ge- druckt zu werden‹«, S. 102-107. 47 Winter: »›Mir liegt kaum daran…, gedruckt zu werden‹«, S. 103. 48 Burgess: Wolfgang Borchert, S. 185f. Vgl. auch Burgess: »›Sein oder Nichtsein ist tat- sächlich immer noch die größte Frage und wird es auch ewig sein!‹«, S. 116f. 49 Dem analen Rezeptionsmodell, das der Text vorschlägt, steht ein anales Produktions- modell gegenüber, auf das hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann: In Anspielung auf die verbreitete Metapher des Spinnens und Webens für den Erzähl- NAVIGATIONEN 154 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE DIE NIEDERE BLUME PFLÜCKEN 3. SCHLUSS Der bucklige Eros kann seine Anhänger nach 1945 auf der gleichen gesetzlichen Grundlage wie vor 1945 ins Gefängnis bringen. Die Kontinuität der Homosexu- ellenverfolgung ist der Hintergrund, vor dem der Entwurf rezeptiven männlichen Begehrens von Borcherts Hundeblume operiert. In diesem Sinne verweist die Til- gung spezifisch-historischer Markierungen im Text auf einen ausgebliebenen ›Kahlschlag‹. Borcherts Hundeblume schließt in gewisser Weise an homoerotische Schreibmodelle der Literatur im Nationalsozialismus an, bricht diese aber in der Thematisierung penetrierter Männlichkeit auf. Denn die Produktion homoerotischer Literatur brach 1933 nicht ab. Christi- an Klein hat herausgearbeitet, dass durch die Wahl bestimmter Handlungskontex- te, unter anderem des »Soldatenmilieus«, die Thematisierung von Homoerotik in der Literatur nach 1933 möglich blieb. Diese Möglichkeit der homoerotischen Soldatengeschichte lasse sich, so Klein, aus dem nationalsozialistischen Homose- xualitätskonzept erklären, das die vor 1933 verbreiteten virilen Konzeptionen ausschließt. Als homosexuell galt im Nationalsozialismus der effeminierte Homo- sexuelle. Eine Folge war, dass umgekehrt der homosoziale Männerbund der Ero- tik weitgehend unverdächtig wurde und so paradoxerweise in der Literatur die Formulierung von Erotik zuließ.50 Um dieses Erzählmodell stabil zu halten, muss penetrierte Männlichkeit allerdings rigoros aus dem Text gedrängt werden. Die Nachkriegsliteratur, die sich mit männlicher Homosexualität befasst, nimmt dem- gegenüber eine abweichende Konzeptualisierung von Homosexualität vor. Wie eingangs referiert, macht die Literatur, die mit der ›Bewältigung der Vergangen- heit‹ befasst ist, gerade den nationalsozialistischen Männerbund zum Mittelpunkt der Homosexualität. Mit seiner Gefängnisgeschichte steht Borchert in gewisser Weise in naher Distanz zu beiden Versionen der Verknüpfung von ›Homosexualität und Faschis- mus‹.51 Die Hundeblume schließt an die Möglichkeit der Thematisierung von Ho- moerotik in der homosozialen Institution an. Der Text positioniert sich aber ei- nerseits gegen die homoerotische Literatur im Nationalsozialismus, wenn er in diesem Kontext den Wunsch nach rezeptiver Penetration formuliert. Und ande- vorgang macht sich der Protagonist zu Beginn der Hundeblume Gedanken über eine Spinne in seiner Zelle: »[N]ichts zu haben als sich selbst. / Das ist verdammt wenig in ei- nem leeren Raum mit vier nackten Wänden. Das ist weniger als die Spinne hat, die sich ein Gerüst aus dem Hintern drängt und ihr Leben daran riskieren kann, zwischen Ab- sturz und Auffangen wagen kann«, Borchert: Das Gesamtwerk, S. 28. Nicht von Unge- fähr beschreibt der Ich-Erzähler den Anfall der ›Perücke‹ später als »Tarantella« (ebd., S. 38), also als den Tanz eines von der Tarantel, einer Spinne, Gestochenen. 50 Klein: Schreiben im Schatten. 51 Vgl. auch die Parallelen zwischen der Hundeblume und dem 1943 veröffentlichten Requi- em für einen Freund sowie dem Vorgängertext der Hundeblume, Die Blume, der 1941 ge- schrieben, aber erst postum 1947 publiziert wurde. Vgl. zur Beziehung zwischen Die Blume und Die Hundeblume Borchert: Das Gesamtwerk, S. 542, Burgess: Wolfgang Bor- chert, S. 103-105. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 155 BENEDIKT WOLF rerseits positioniert er sich gegen die Funktionalisierung der Homosexualität für die Vergangenheitsbewältigung, wenn er als homosozialen Kontext der Handlung nicht das Soldaten- sondern das Gefangenenmilieu wählt. Denn die homosoziale Männergesellschaft des Gefängnisses in der Hunde- blume trägt keine Anzeichen einer positiven, Soziabilität und Staatlichkeit fundie- renden Verbrüderung (wie das Soldatenmilieu der Literatur im Nationalsozialis- mus), und sie trägt keine Anzeichen einer besonderen Nähe zum nationalsozialis- tischen Regime, die eine Denunziation der Homosexualität als faschistisch ermög- lichte. Die homosoziale Männergesellschaft der Hundeblume trägt vielmehr alle Anzeichen der Entfremdung und der Unterdrückung. Eine Lektüre, die vom Begehren des Autors absieht, führt auf das ambivalen- te Begehren des Protagonisten, das im Zuge der Formulierung einer heterosexu- ellen Deflorationsfantasie zugleich ein homosexuelles rezeptives Begehren formu- liert. Im Bild der unscheinbaren Hundeblume setzt der Text dieses rezeptive Be- gehren als ein utopisches Residuum an, das während des Nationalsozialismus von der Literatur nicht besetzt und das auch später von den Vergangenheitsbewälti- gern nicht besetzt wurde. Das zwischen unerträglicher Homosozialität und phobi- scher Abwehr der Weiblichkeit am Mann eingezwängte Begehren bricht sich Bahn im Bild des Pflückens einer niederen Blume. In diesem Bild wird eine Über- schreitung zwangsheterosexueller Männlichkeit als Möglichkeit dargestellt. Eine vom Autorbegehren absehende Lektüre führt zweitens auf das Begeh- ren des Textes. Der Text reklamiert in seinem Titel die sprachliche Bezeichnung der niederen Blume für sich selbst. Der utopische Gehalt des rezeptiven Begeh- rens überträgt sich auf den Körper des Textes. Der somatisierte Diskurs der Hundeblume bietet sich der Lektüre von seinem rezeptiven Textbegehren aus an. Er bindet die Leser*innen in eine erotische Interaktion ein, die der utopischen Dimension penetrierter Männlichkeit im Vollzug der Lektüre einen Wirklich- keitswert verschafft. LITERATURVERZEICHNIS Borchert, Wolfgang: Das Gesamtwerk, hrsg. v. Michael Töteberg, Reinbek bei Hamburg 42015. Burgess, Gordon J.A.: Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück. Eine Biogra- phie, Berlin 2007. –: »›Sein oder Nichtsein ist tatsächlich immer noch die größte Frage und wird es auch ewig sein!‹ Wolfgang Borcherts Auseinandersetzung mit der ausländi- schen Literatur«, in: Stone, Margaret/Sharman, Gundula (Hrsg.): Jenseits der Grenzen. Die Auseinandersetzung mit der Fremde in der deutschsprachigen Kultur, Oxford u.a. 2000, S. 109-118. Conliffe, Mark: »The Fictional World of Garshin and Borchert: ›The Red Flower‹ and ›The Dandelion‹«, in: Germano-Slavica, Nr. XIV, 2003, S. 87-99. 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EINFÜHRUNG Literarische Krankheitsfälle sind mehr als ein Archiv, in dem medizinisches Wissen konserviert wird. Literarische Texte steuern, wie Walter Erhart formuliert, »die Verbreitung von Informationen und Kommentaren, prozessieren gewissermaßen die gleichursprünglichen Effekte kulturell-gesellschaftlicher Stabilisierung und De- stabilisierung«. Gleichzeitig weisen sie auf jene gesellschaftlichen Symptome hin, die beim Ausbruch infektiöser Krankheiten mit verhandelt werden: »Sündenbock- rituale, imaginäre Angstpotentiale und Sicherheitsbedürfnisse, symbolische Be- drohung und ›Reinigung‹ des Gesellschaftskörpers«.1 Literarische Krankheitsfälle stellen aber auch den Ort der Verhandlung unter- schiedlicher Zeitreflexionen dar, wie in diesem Beitrag argumentiert wird. Kein anderer Roman des 20. Jahrhunderts macht das deutlicher als Thomas Manns Der Zauberberg (1924).2 Schon im Kapitel Vorsatz heißt es exemplarisch: Die zu erzäh- lende Geschichte Hans Castorps sei viel älter als ihre Jahre, ihre Betagtheit ist nicht nach Tagen, das Alter, das auf ihr liegt, nicht nach Sonnenumläufen zu berechnen; mit einem Worte: sie verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit, – eine Aussage, womit auf die Fragwürdigkeit und eigentüm- 1 Erhart: »Medizin – Sozialgeschichte – Literatur«, S. 125. 2 Vgl. Honold: Die Zeit schreiben. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE SEBASTIAN ZILLES liche Zwienatur dieses geheimnisvollen Elementes im Vorbeigehen angespielt und hingewiesen sei.3 Während im Vorsatz lediglich en passant über die Kategorie Zeit nachgedacht wird, entwickelt sie sich während des siebenjährigen Aufenthalts Castorps im Sa- natorium zur »wahre[n] Protagonistin von Thomas Manns großem Zeitroman«.4 Der Roman demonstriert dabei kontinuierlich ein Spannungsverhältnis zwischen erlebter und gemessener Zeit. Nicht nur Manns Zeitroman, auch andere literarische Krankheitsfälle veran- schaulichen eine variable Ökonomie der Zeit: Je mehr Zeit man hat, desto weni- ger wertvoll erscheint sie. Hingegen reduzieren die Erfahrung schwerwiegender Krankheiten und die Bedrohung durch den Tod Zeit und lassen sie in der Wahr- nehmung der Betroffenen schneller vergehen. Gerade also wenn das Verhältnis zwischen erlebter und gemessener Zeit problematisch wird und einer Neube- stimmung bedarf, dann finden Reflexionen im Horizont von Kontinuität und Wan- del, Wiederholung und Bruch sowie von Erinnerung und Erwartung statt. Die Zeitreflexionen entfalten sich dabei generell in zwei Grundkonstellationen: Es geht um »die Frage nach der Identität des Subjekts im Spannungsfeld von natürli- cher, sozialer und geschichtlicher Zeit und die Reflexion zeitgeschichtlicher und gesellschaftlicher Erfahrung«,5 wie Dirk Göttsche festhält. Das bedeutet, dass literarische Krankheitsfälle per se eine doppelte Perspek- tive im Hinblick auf die Erfahrung von Krankheit und dem Zeiterleben aufweisen. Konkret geht es um das Verhältnis zwischen der subjektiven Wahrnehmung einer Figur und der Bedeutung der Krankheit für sie wie auch für die Gesellschaft und deren kollektive Sichtweise. Die beiden Perspektiven können komplementär aus- fallen oder in einem divergenten Verhältnis zueinander stehen. In diesem Span- nungsfeld wird die Kategorie Zeit jedenfalls ganz unterschiedlich konzeptualisiert, beispielsweise als Bewegung der Natur und des Kosmos (Naturzeit) als natürliche Vo- raussetzung menschlichen Daseins in seiner Rhythmik und Endlichkeit (Lebenszeit), als kategoriale Bedingung von Wahrnehmung und (Selbst-)Bewußtsein (innere Zeit), als integraler Bestandteil sozialer Ordnungen (soziale Zeit), als Geschichtlichkeit der Gesellschaften und Kulturen (geschichtliche Zeit) und als der Versuch, die Einheit dieser Zeitebenen zu denken und auf diese Weise nach dem Sinn der Welt bzw. der Geschichte zu fragen.6 3 Mann: »Der Zauberberg«, S. 9 (Herv. im Org.). 4 Honold: Die Zeit schreiben, S. 10. 5 Göttsche: Zeit im Roman, S. 16. 6 Ebd., S. 27. NAVIGATIONEN 160 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »KEIN LEBEN UND KEIN STERBEN« Vor diesem Hintergrund entfaltet der vorliegende Beitrag die Fragen, welche Ebenen der Zeitreflexion im Falle von HIV/AIDS aufkommen und wie diese dar- gestellt werden. Der thematische Fokus ist darauf zurückzuführen, dass HIV selbst in einem bestimmten Verhältnis zur Zeit steht: Die ersten Fälle kommen zu Beginn der 1980er Jahre auf, weshalb das Immunschwächevirus als eine »Epochenkrankheit«7 zu bezeichnen ist. In ihrem wirkungsmächtigen Essay Aids und seine Metaphern (1988) hat Susan Sontag aufgezeigt, dass die ›neue Krankheit‹ rapide metaphorisiert wurde: »Die Aids-Metaphorik ist zweifachen Ursprungs. Als Mikroprozeß wird Aids wie Krebs beschrieben: als Invasion. Liegt der Akzent auf der Übertragung der Krankheit, muß eine ältere, an die Syphilis erinnernde Meta- pher herhalten: Verunreinigung«.8 Allerdings, und das hebt AIDS von Krebs oder der Syphilis entschieden ab, handelt es sich um diejenige Krankheit, deren »Stig- matisierungsvermögen und deren potentielle Identitätsschädigung«9 im ausgehen- den 20. Jahrhundert (und bis heute) am größten sind. Erst Ende der 1990er Jahre zeichnet sich allmählich durch neue Kombinationstherapien eine diskursive Ver- änderung ab.10 Der Beitrag untersucht exemplarisch am Beispiel ausgewählter Werke von Mario Wirz (1956-2013) die Zeiterfahrung, das Zeitbewusstsein und die Zeitge- schichte im Zusammenhang mi HIV/AIDS. In einem theoretisch-ausgerichteten Kapitel werden zunächst die zentralen Ergebnisse der im anglophonen Raum ver- breiteten Untersuchungen zu einer queer temporality zusammengetragen. Dieser Schritt ist erforderlich, um einerseits zu zeigen, wie die Kategorie Zeit in den Queer Studies bisher behandelt wurde und andererseits, um Forschungslücken ausweisen zu können. Den theoretischen Vorüberlegungen folgt die exemplari- sche Textanalyse von Es ist spät, ich kann nicht atmen. Ein nächtlicher Bericht (1992) und Biographie eines lebendigen Tages (1994). Die Lektüre zeigt ein poeto- logisches Konzept auf: Die Verwendung der Symbole Tag und Nacht korreliert mit einer veränderten Wahrnehmung der Krankheit. 2. QUEERE ZEITEN: DIE KATEGORIE ZEIT IN DEN QUEER STUDIES In den späten 1980er Jahren ist queer als Intervention11 aufgetreten, um aufzuzei- gen, dass Geschlecht und Sexualität Effekte bestimmter Aufrufungs-, Regulie- rungs- und Normalisierungsverfahren sind. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass das Zweigeschlechtermodell und die Dominanz der Heterosexualität sich gegenseitig bedingen und gleichsam aufrecht erhalten. Daraus ergeben sich min- destens zwei Verwendungsweisen von Queer, einerseits als »ein politischer 7 Degler/Kohlroß: Epochen/Krankheiten. 8 Sontag: Aids und seine Metaphern, S. 88. 9 Ebd., S. 87. 10 Vgl. Schappach: Aids in Literatur, Theater und Film. 11 Vgl. Hark: »Queer. Interventionen*«. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 161 SEBASTIAN ZILLES Sammelbegriff«12 für all diejenigen, die sich nicht im Gefüge der heteronormativen Matrix und binärer Geschlechterzuordnung verorten können/wollen (LGBTIQ*) und als eine Form »der Bündnispolitik unterschiedlicher gesellschaftlicher Außen- seiterInnen«13 im Zuge der AIDS-Krise bzw. auch als Folge der Diskriminierung von Homosexuellen. Andererseits ist Queer eine »Frageperspektive, die alle kul- turwissenschaftlichen Fächer übergreift«.14 Folglich ist Queer also generell »mit einer wissenschaftlichen und auch politischen Positionierung verbunden«.15 Inzwischen ist der Begriff aber auch als eine ästhetische Kategorie zu begrei- fen, die die oben aufgeführten Semantiken stets mitdenkt. Im Zuge des narrative turn sind durch die Verknüpfungen mit unterschiedlichen Literatur- und Kultur- theorien eine Vielzahl diverser narratologies16 entstanden – so auch die queer nar- ratology, die im Rahmen einer gender-orientierten Erzähltheorie verortet wird.17 Trotz einer mitunter unscharfen Verwendung18 lässt sich festhalten, dass die queer narratology zwei Dimensionen untersucht, eine inhaltliche und eine formale Ebene literarischer und filmischer Repräsentationen:19 Im Hinblick auf die Ebene des Er- zählten (story) untersucht sie nach Susan S. Lanser Folgendes: »The term queer has been used in at least three ways within the study of narrative: to designate, respectively, non-heteronormative sexual identities, the dismantling of categories of sexuality and gender, and the practice that transgresses or deconstructs cate- gories and binaries«.20 Diese Untersuchungsansätze lassen sich beispielsweise auf die verhandelten Themen oder die Figurenkonfiguration bzw. -konstellation ap- plizieren. Im Hinblick auf die Ebene des Erzählens (discourse) ist neben der Frage nach Stimme/Rede (Wer spricht?) sowie der Modus des Erzählens (Genettes Frage: Wer sieht?) auch die Figuren-und Erzählerrede zu berücksichtigen, wie Andreas Blödorn in einem programmatischen Aufsatz am Beispiel von Thomas Manns frü- her Erzählung Tonio Kröger aufgezeigt hat.21 Darüber hinaus können einzelne Ka- tegorien des Erzählens selbst – wie beispielsweise die Zeit oder der Raum – einer queeren Perspektive zugrunde gelegt werden. Gerade in den letzten Jahren ist im anglo-amerikanischen Raum eine steigende Beschäftigung mit der so genannten queer temporality zu verzeichnen, der das Journal of Lesbian and Gay Studies (GLQ) 12 Degele: Gender/Queer Studies, S. 42. 13 Ebd., S. 43. 14 Kraß: »Queer Studies – Eine Einführung«, S. 20. 15 Degele: Gender/Queer Studies, S. 43. 16 Vgl. Herman: Narratologies. 17 Vgl. Nünning: Erzähltextanalyse und Gender Studies. 18 Vgl. Allrath/Gymnich: »Neue Entwicklungen in der gender-orientierten Erzähltheorie«, S. 45f.; Fludernik: »Beyond Structuralism in Narratology«, S. 88. 19 Vgl. Lanser: »Toward (a Queer and) More (Feminist) Narratology«, S. 24. 20 Lanser: »Gender & Narrative«, S. 213. 21 Vgl. Blödorn: »Von der Queer Theory zur Methode eines Queer Reading«. NAVIGATIONEN 162 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »KEIN LEBEN UND KEIN STERBEN« 2007 sogar ein eigenes Themenschwerpunktheft widmete.22 Franziska Berg- manns Überlegung, ob sich gegenwärtig ein temporal turn innerhalb der Queer Studies abzeichne,23 scheint daher durchaus berechtigt zu sein und soll durch eine Übersicht zentraler Forschungsarbeiten aus dem anglophonen Raum bekräftigt werden. In der kulturwissenschaftlichen Untersuchung In a Queer Time and Place (2005) geht Halberstam von der Grundüberlegung aus, dass queer »new life nar- ratives and alternative relations to time and space«24 ermögliche. Dabei fallen nach Halberstams Definition unter eine queer time »specific models of temporality that emerge with postmodernism once one leaves the temporal frames of bour- geois reproduction and family, longevity, risk/safety, and inheritance«.25 Dieser Zeiterfahrung stehe, so Halberstam, eine straight time diametral gegenüber, de- ren Telos in der Gründung einer (bürgerlichen) Kleinfamilie und in der Reproduk- tion liege. Diese Zielsetzung ist im Hinblick auf die Kategorie Zeit von mehreren Faktoren abhängig – der inneren ›biologischen Uhr‹ der Frau, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die damit verbundene Einteilung des Tags in Arbeits- und Freizeit, eine gesunde Ernährung und sportliche Aktivität, um ein möglichst langes Leben zu haben. Gängige Metaphern, die in diesem Zusammenhang aufge- rufen werden, sind diejenigen, die Zeit als Fluss, als Pfeil oder als Wegstrecke konzipieren.26 Ihnen liegt die Vorstellung von Kontinuität und Linearität zugrunde. Wie in Halberstams Untersuchung schreibt auch Edelman der Reproduktion eine zentrale Stellung zu. Bereits 1998 hat er in einem programmatischen Aufsatz der Figur des Kindes als »telos of the social order and […] figure for whom that order must be held in perpetual trust«27 eine signifikante Rolle zugesprochen. In No Future (2004) wird diese These ausgebaut und führt zu einer radikalen Theo- rie des ›Antisozialen‹. Edelman zufolge widersetze sich eine queere Zeitkonzepti- on einem reproduktiven Futurismus. Unter Bezugnahme psychoanalytischer The- oreme von Freud und besonders von Lacan argumentiert er, dass eine queere Position ausschließlich selbstgenügsam sei und sich somit nicht an der Aufrechter- haltung der Gattung Mensch beteilige. In polemischer Weise heißt es gegenüber der heteronormativen Zeitkonzeption: »But there are no queers in that future as there can be no future for queers«.28 Im Hinblick auf die drei Zeitdimensionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft verortet Edelman die queere Zeiterfahrung im Hier und Jetzt – mit hinreichenden Folgen: 22 Vgl. GLQ 13.2-3 (2007). 23 Vgl. Bergmann: »Einführung«, S. 126. 24 Halberstam: In a Queer Time and Place, S. 2. 25 Ebd., 6. 26 Vgl. Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 49. 27 Edelman: »The Future is Kid Stuff«, S. 20. 28 Ebd., S. 29. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 163 SEBASTIAN ZILLES If the fate of the queer is to figure the fate that cuts the thread of fu- turity, if the jouissance, the excess enjoyment, by which we are de- fined would destroy the other, fetishistic, identity-confirming jouis- sance through which the social order congeals around the rituals of its own reproduction, then the only oppositional status to which our queerness can properly lead us depends on our taking seriously the place of the death drive as which we figure and insisting, against the cult of the child and the political culture it supports.29 Esteban Muñoz weist hingegen in Cruising Utopia (2009) das Hier und Jetzt zu- gunsten einer besseren, zukünftigen Welt zurück. Anstelle der Gegenwart fokus- siert er die Zeitdimension der Zukunft (queer futurity) und stellt Edelmans pessi- mistischer Diagnose das Prinzip Hoffnung gegenüber. Die genannten Arbeiten sind von Laura Westengard im Hinblick auf das Thema HIV/AIDS in einem programmatischen Aufsatz über Gil Cuadros’s City of God aufgegriffen worden.30 Unter Rekurs auf die Schauerliteratur der schwarzen Romantik führt die Verfasserin ein queeres Potenzial ein, das sie später auf HIV/AIDS überträgt: »Queerness, then, is a central element of Gothic fiction, as well as one of the primary anxieties projected onto the monstrous body. The monster becomes an iconic gothic trope precisely because it embodies the hor- rors of excess – unstable meanings, nebulous anxieties, unexpected desires«.31 Auf diesen theoretischen Vorüberlegungen fußend, baut der Begriff der ›Gothic AIDS Literature‹ auf: As an instance of AIDS literature, the text revels in the negativity of monstrosity, death, decay, and loss, and while Cuadros’s understand- able preoccupation with the horrors surrounding him at the height of the crisis results in undeniable morbidity, the text remains important in our current temporal and historical context because it offers con- temporary readers a vision of a gothic queer subject who is future oriented and who deploys the darkness of Gothicism not only to acknowledge the horrors of undeniable trauma, but also to powerfully reimagine what it means to be in a place of hopelessness and aliena- tion.32 Westengards Ansatz besteht konkret darin, literarische HIV-/AIDS-Erzählungen doppeldeutig zu lesen. Auch wenn eine Vielzahl der literarischen Texte das The- ma Tod verhandle, würden diese auch Aussagen auf eine hoffnungsvolle Zukunft 29 Ebd. 30 Vgl. Westengard: »›Conquering Immortality‹«. 31 Ebd., S. 278. 32 Ebd., S. 277. NAVIGATIONEN 164 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »KEIN LEBEN UND KEIN STERBEN« bereitstellen. Die Texte verhandeln unter dieser Perspektive nicht nur die Ver- gangenheit und das Erinnern, sondern auch die Zukunft und die Erwartung. Westengards Ansatz erscheint ausgesprochen problematisch, da sie zwei völ- lig verschiedene historische Zeitpunkt zusammenbringt und ebenso auch zwei disparate Phänomene. Aus dieser Kritik im Speziellen lässt sich jedoch ein Deside- rat formulieren, das die Arbeiten im Bereich der queer temporality im Allgemeinen zu betreffen scheint. Halberstam hält in A Queer Time and Place summierend fest, dass eine queer time einen hilfreichen Rahmen »for assessing political and cultural change«33 darstellt. Während die queere Zeiterfahrung also in politischer bzw. kultureller Hinsicht eine sinnvolle Kategorie darstellt, erscheint eine Übertragung auf fiktionale Werke hingegen schwierig. Der Grund ist primär darin zu sehen, dass die vorgestellten Arbeiten die Ebene des Erzählens zu wenig berücksichtigen. Zeit ist aber gerade an Repräsentationen gebunden, wie Michael Gamper und Helmut Hühn argumentieren: Erscheinen kann sie nur, insofern sie sich selbst darstellt und an Gegenständen wahrnehmbar wird. Als materiell sichtbar gemachte, gemessene, dargestellte, ausge- drückte, erkannte, erlebte und bewertete Zeit ist sie stets abhängig von und nur gültig in kulturellen Wahrnehmungs- und Bewertungszu- sammenhängen. Zeit ist also ein Phänomen, das notwendigerweise der Präsentation und der Repräsentation bedarf, damit überhaupt ein Wissen von ihm entstehen kann. Zeiterfahrung und Zeitreflexion sind daher unhintergehbar an die Darstellungskraft von ästhetischen Ver- fahrensweisen […] gebunden.34 Eben diese ästhetischen Verfahrensweisen kommen bei Halberstam und Edelman zu kurz. In Fortsetzung der genannten Kritikpunkte können folgende Desiderate formuliert werden: Privilegieren queere Zeiterfahrungen spezielle Gattungen wie beispielsweise den Bildungs- oder Entwicklungsroman? Welche konkreten Erzähl- verfahren ermöglichen die Darstellung einer queer temporality? Wenn zur Veran- schaulichung einer straight time Metaphern wie beispielsweise der Zeitstrahl auf- gerufen werden, welche Metaphern lassen sich dann für eine queer time bemü- hen? In der nachstehenden Lektüre der beiden autobiografischen Romane von Mario Wirz wird der Fokus auf die ästhetischen Verfahrensweisen gelegt. Damit wird allerdings nicht der Anspruch erhoben, allgemeingültige Aussagen über eine queere Zeit formulieren zu können. Um eine solche Theorie etablieren zu kön- nen, bedarf es einer größer angelegten Untersuchung. 33 Halberstam: In a Queer Time and Place, S. 4. 34 Gamper/Hühn: »Einleitung«, S. 11f. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 165 SEBASTIAN ZILLES 3. DIE ZEIT (BE-)SCHREIBEN 3.1. »MICH MIT DER ZEIT VERBÜNDEN«35 – ES IST SPÄT, ICH KANN NICHT ATMEN. EIN NÄCHTLICHER BERICHT (1992) In ihrer Untersuchung Ist die Zeit aus den Fugen? (2013) weist Aleida Assmann als Charakteristikum moderner Zeitromane auf die Präsentation des Handlungsge- schehens in einem Zeitfenster hin. Das bedeutet, dass die Zeit nicht »im Rahmen einer Erzählung generiert, modelliert und kontrolliert wird«,36 sondern nur in ei- nem begrenzten Rahmen vorliegt, in dem die Figuren in Erscheinung treten. Da- bei handelt es sich zum einen um einen Bruch mit traditionellen Erzählmustern, mit dem Effekt, »eine unmittelbare Erfahrung von Zeit zu ermöglichen«;37 zum anderen heißt das aber auch, dass bereits Geschehenes oder noch Geschehendes nur im Modus des Erinnerns oder in Form von Antizipationen hervorgerufen werden kann. In diese literarische Tradition schreiben sich mehrere HIV-/AIDS- Erzählungen ein – neben Mario Wirz’ Roman Es ist spät, ich kann nicht atmen (1992) auch die Erzählungen Am Ufer des Flusses (2001) und Die Einwilligung (2002) der beiden Schweizer Autoren Jürg Amann (1947-2013) und Hugo Loet- scher (1929-2009). In Amanns Am Ufer des Flusses lässt der Erzähler während ei- nes Krankenhausbesuches bei seinem HIV-infizierten Jugendfreund vor allem die gemeinsame Kindheit und damit eine spezifische Zeitspanne in der Erinnerung aufleben. In Loetschers Die Einwilligung reichen die Erinnerungen des Protagonis- ten hingegen nicht so weit zurück. Sie springen zwischen verschiedenen Ereignis- sen im Erwachsenenalter. Wirz’ Roman nimmt dagegen eine Sonderstellung ein: Er spielt während einer einzigen schlaflosen Nacht in Berlin im Februar 1991. In nahezu chronologischer Reihenfolge erzählt Volker bzw. Mario, wie sich der Er- zähler später nennt, über seine Kindheitserinnerungen und seine Adoleszenz in der hessischen Kleinstadt F. bis zur unmittelbaren Erzählgegenwart in der Haupt- stadt und seinem Leben als HIV-Positiver. Vergangenheit und Gegenwart werden kontinuierlich aufeinander bezogen, aneinander gemessen und treten damit in ein Spannungsverhältnis, das im Folgenden näher konturiert werden soll. Der Umzug von F. nach Berlin steht in Es ist spät, ich kann nicht atmen an exponierter Stelle. Die Bewegung von der Kleinstadt zur Großstadt hat Halber- stam als ›metronormativity narrative‹ beschrieben: Die geografische Veränderung korreliert dabei mit der Wahrnehmung von Zeit und der menschlichen Psyche: Such narratives tell of closeted subjects who ›come out‹ into an urban setting, which in turn, supposedly allows for the full expression of the 35 Wirz: Es ist spät, ich kann nicht atmen, S. 40. 36 Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 52. 37 Ebd., S. 53. NAVIGATIONEN 166 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »KEIN LEBEN UND KEIN STERBEN« sexual self in relation to a community of other gays/lesbians/queers. The metronormative narrative maps a story of migration onto the coming-out narrative. While the story of coming out tends to function as a temporal trajectory within which a period of disclosure follows a long period of repression, the metronormative story of migration from ›country‹ to ›town‹ is a spatial narrative within which the subject moves to a place of tolerance after enduring life in a place of suspi- cion, persecution, and secrecy.38 Auf diesem Erzählmodell baut Es ist spät, ich kann nicht atmen auf: Mario wird während seiner Schulzeit von den anderen männlichen Heranwachsenden gehän- selt und ausgegrenzt.39 Als er mit 16 Jahren entdeckt, homosexuell zu sein, begeht er einen Selbstmordversuch, nach dessen Scheitern er in eine Psychiatrie eingewiesen wird. »Der sechzehnjährige Volker behält sein schwules Geheimnis für sich und debütiert als allgemein verwirrter Jugendlicher, der sich nach 2 Mona- ten erfolgreicher Komödie aus der Jugendpsychiatrie entlassen wird«.40 Er beginnt an den Wochenenden heimlich »seine ersten, schnellen sexuellen Erfahrungen mit Männern«41 in anderen Städten zu sammeln. Unter der Woche ist er hingegen der ›brave‹ Sohn, der Gedichte schreibt und Nachhilfeunterricht gibt. Wie sehr er un- ter der Inszenierung dieses »Doppelleben[s]«42 leidet, macht folgende Passage deutlich: Ich bin siebzehn und warte auf meine Volljährigkeit. Ausbrechen aus dem Marmorkuchenknast, und alles hinter mir lassen. Die Normalität der anderen ist eine Hölle. Ich bin ein Fremder. Ich gehöre nicht dazu. Wohin gehöre ich? […] Es ist eng, ich kann nicht atmen, ich kann nicht denken, ich kann nicht sein. Habe keine Worte für das, was in mir passiert. Auch die Sprache gehört den anderen.43 Die deutsche Kleinstadt der 1960er Jahre, so lässt sich aus diese Passage schluss- folgern, steht unter dem Gesetz einer heteronormativen Ordnung. Der Text ver- deutlicht, wie wenig flexibel die Vorstellungen von Männlichkeit und auch Weib- lichkeit sind. Auch Marios Mutter entspricht als Alleinerziehende, die mit 40 Jah- ren noch einmal schwanger wurde, nicht den Normen und Werten der Klein- stadt. Mutter und Sohn sind auf ihre Weise als ›queer subjects‹ zu bezeichnen und werden gesellschaftlich an die Peripherie gedrängt. 38 Halberstam: In a Queer Time and Place, S. 36f. 39 Vgl. Wirz: Es ist spät, ich kann nicht atmen, S. 23-30. 40 Ebd., S. 54. 41 Ebd., S. 55. 42 Ebd., S. 58. 43 Ebd., S.58f. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 167 SEBASTIAN ZILLES Konsequenterweise stellt der Umzug nach Berlin im Alter von 19 Jahren den Versuch dar, aus dieser Ordnung auszubrechen. Der Roman folgt einem typischen Muster von Coming-out-Erzählungen, in denen die Metropole als »utopische Insel oder verheißendes Land«44 entworfen wird. Aus einer zeitgeschichtlichen Per- spektive ist dabei folgende Passage über die Großstadt aufschlussreich: »BERLIN und die Nächte und die Männerwildnis. Auf der Straße. In den Parks. Auf den Klappen. In der U-Bahn. In den schwulen Bars und Discotheken, in denen Männer mit Männern tanzten«.45 Die Sexual Culture der 1970er Jahre in der Metropole Berlin wird im Roman durch die Sichtbarkeit von Homosexualität, durch eine schwule Subkultur und durch freie Liebe charakterisiert. Werden die 1970er Jahre als eine ›goldene Dekade‹ erinnert, so stellen die 1980er Jahre deren Zusammenbruch dar. Das Aufkommen von HIV/AIDS lässt die Dekade als Krisenjahrzehnt erscheinen. Der vielfach verwendete Krisenbegriff wird hier im Sinne Kosellecks gebraucht, als ein Ausdruck neuer Zeiterfahrung, als Indikator und Faktor eines epochalen Umbruchs.46 In einem programmatischen Aufsatz hat Dirck Linck die These aufgestellt, dass AIDS als Krise neben dem Lei- den und dem Sterben Einzelner auch den »Totalzusammenbruch« der Sexual Cul- ture der 70er impliziere: »Nicht nur Menschen waren zu betrauern, sondern auch Praktiken, Lüste, kommunitaristische Lebensformen, Verhaltensweisen, politische Errungenschaften, die nun angreifbar wurden, weil sie plötzlich als gefährlich und ›risikoreich‹ galten«.47 Wirz’ Roman wird damit zu einem Ort, an dem Probleme der sozialen und geschichtlichen Zeit formuliert und verhandelt werden, ohne dass notwendigerweise eine eindeutige Lösung oder eine klare Antwort auf die Probleme präsentiert werden. Vielmehr lässt sich sogar behaupten, dass die Krise zugespitzt wird, da die geschichtliche Zeit mit der inneren Zeit zusammengeführt und somit eine doppel- te Perspektive auf die Kategorie Zeit geworfen wird: »Seit acht Jahren weiß ich, daß es Aids gibt. Seit fünf Jahren weiß ich, daß ich positiv bin. Seit drei Jahren weiß ich gar nichts mehr«,48 heißt es paradigmatisch im Roman. Das Potential der Krise besteht darin, innerpsychische Brüche darzustellen, die Verwerfungen in der Identitätskonstruktion und im Selbstbild der betroffenen Person verursachen.49 Die Erfahrung der Krankheit ist daher mit dem Zustand von Orientierungslo- sigkeit und einer Form von Sprachkrise verbunden: »Seit fünf Jahren über-lebe ich mich selbst. Kein Leben und kein Sterben. Ich richte mich ein in meiner Zwi- 44 Woltersdorff: Coming Out, S. 249. 45 Wirz: Es ist spät, ich kann nicht atmen, S. 65. 46 Vgl. Koselleck: »Krise«, S. 627. 47 Linck: »Mourning and Militancy«, S. 170. 48 Wirz: Es ist spät, ich kann nicht atmen, S. 85. 49 Für diesen Hinweis möchte ich mich bei Andreas Blödorn bedanken. NAVIGATIONEN 168 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »KEIN LEBEN UND KEIN STERBEN« schenzone und lerne die Ungewißheiten auswendig«.50 Und an anderer Stelle hält Mario fest: Die Hoffnung, die ich an einem medizinischen Artikel anzünde, um sie beim Lesen der Todesanzeigen wieder zu verlieren, bis ich erneut Hoffnung schöpfe, verzweifelt, verbissen, der totale Sieg der Ambiva- lenz. Kein ganzer Tod, kein ganzes Leben. Ich bin kein Sterbender, denn noch ist die Krankheit nicht ausgebrochen, aber ich bin auch kein Lebender. Ich bin in eine Niemandszone verbannt, ein theatrali- sches Dazwischen.51 Die gängige Sprache stellt keine adäquaten Begriffe bereit, die die Erfahrung des Protagonisten annähernd widerspiegeln. Mario kann sich nur in einem ›Dazwi- schen‹, in einer ›Zwischen-‹ bzw. ›Niemandszone‹ verorten. Die Krisenerfahrung ist ein Beispiel für das Brechen der Zeit: »In solchen Akten des Brechens müssen permanente Bestände aus der Gegenwart aussortiert, verworfen und für ungültig erklärt werden«.52 Zur Vergangenheit wird postuliert, »was bisher noch Anspruch auf Gegenwart und damit zugleich auch Geltung besessen hatte«.53 Diese These impliziert aber auch eine Neuorientierung, die jedoch ausbleibt, wie die zitierten Textpassagen verdeutlichen. Der Protagonist befindet sich in einer bereits seit mehreren Jahren andauernden Zeitspanne, die sich einer eindeutigen Definition entzieht. Marios Versuch, dennoch eine Ausdrucksmöglichkeit zu finden, ist nur im Be- reich der ›uneigentlichen Rede‹ möglich. Seine Sprache ist durch die Verwendung von Metaphern und Symbolen gekennzeichnet. Für das HI-Virus wählt der Prota- gonist die Metapher des Viruswolfes. Das Virus wird dabei als besonders letal dargestellt, bezeichnet der Erzähler es doch als sehr gefräßig. Susan Sontag hat in Aids und seine Metaphern festgehalten, dass der Aidsdiskurs durch die Verwen- dung von Kriegsmetaphern gekennzeichnet sei, durch die das Virus als »ein ver- schlagener und unüberwindlicher Feind«54 inszeniert werde. Marios Viruswolf verzehrt rapide die T-Helferzellen: Während er angibt, dass sein Immunsystem noch vor einem Jahr 680 Zellen besessen habe, sei die aktuelle Anzahl auf 420 zu- rückgegangen.55 Es kann daher gesagt werden, dass die Zeit in Es ist spät, ich kann nicht atmen an den T-Helferzellen gemessen wird. Der Text macht damit auch deutlich, dass erlebte und gemessene Zeit unterschiedlich ausfallen. Alexander Honold hat in seiner Untersuchung Die Zeit schreiben (2013) festgehalten, dass 50 Wirz: Es ist spät, ich kann nicht atmen, S. 40. 51 Ebd., 72. 52 Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 142. 53 Ebd. 54 Sontag: Aids und seine Metaphern, S. 91. 55 Vgl. Wirz: Es ist spät, ich kann nicht atmen, S. 7. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 169 SEBASTIAN ZILLES seit den Hochkulturen der Antike Uhren und Kalender zuständig gewesen seien, Zeit für mechanische Objektivierung von Zeitpunkten und –abständen zu messen. Obwohl sich mit ihrer Hilfe die Länge und Geschwindigkeit der vergehenden Zeit auf repetitive Abläufe bringen lasse, »bieten die mechanischen Messinstrumente naturgemäß nur wenig Aufschluss über die vermutlich ganz unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen und Gefühle, die Menschen […] dem Geschehen verge- hender Zeit«56 entgegenbringen. Das Symbol, das seinem Zustand am nächsten zu kommen scheint, ist das der Nacht. Das Substantiv ›Nacht‹ kommt in Derivationen und Komposita insge- samt über neunzigmal im Text vor. Als literarisches Symbol ist sie überwiegend negativ konnotiert und steht u. a. für den Tod, für Verderben und Unheil. Diese Nacht soll jedoch überwunden werden, was Mario zu erreichen glaubt, indem er sich mit der Zeit verbündet: »Mich mit der Zeit verbünden und sie zu meiner Komplizin machen. Mich mit der Zeit versöhnen, die vergangen ist, und einen Pakt schließen mit der Zeit, die noch bleibt«.57 Der nächtliche Bericht ist eine Form der Selbsttherapie, der jedoch noch keine vollständige Lösung der Krise bietet. Erst im Nachfolgeroman Biographie eines lebendigen Tages wird dieses Ziel erreicht, wie das folgende Kapitel zeigen wird. 3.2. »ALLES IST OFFEN, ALLES IST MÖGLICH«58 – BIOGRAPHIE EINES LEBENDIGEN TAGES (1994) Die Biographie eines lebendigen Tages ist als Nachfolgeprojekt von Es ist spät, ich kann nicht atmen einzustufen und schließt inhaltlich unmittelbar an den Vorgänge- roman an: Mario, inzwischen 37 Jahre alt, ist nach der Veröffentlichung seines ›nächtlichen Berichts‹ von der Presse als »Aidsliterat«59 tituliert worden. In der Bi- ographie eines lebendigen Tages reflektiert er seine beruflichen und privaten Ver- änderungen. Thematisch knüpft das Werk direkt an das Debüt an, da auch hier die soziale und geschichtliche Zeit sowie die innere und erlebte Zeit überdacht und einer Neubestimmung unterzogen werden. Im Handlungsverlauf nehmen die Wahrnehmung der Öffentlichkeit und der mediale Diskurs einen großen Raum ein, die neben dem Werk vor allem die Per- son Mario Wirz in den Fokus rücken. Dabei ist unter einer zeitgeschichtlichen Perspektive die Bezeichnung als »long-term survivor«60 signifikant. In dieser Be- schreibung spiegelt sich das kulturelle Wissen der Zeit, das AIDS als eine »Krank- heit zum Tode«61 semantisiert. Die Assoziationen mit dem Tod62 sind so stark, 56 Honold: Die Zeit schreiben, S. 8. 57 Wirz: Es ist spät, ich kann nicht atmen, S. 40. 58 Wirz: Biographie eines lebendigen Tages. 59 End., S. 19. 60 Ebd., S. 11. 61 Martin: Eine Krankheit zum Tode. NAVIGATIONEN 170 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »KEIN LEBEN UND KEIN STERBEN« dass die Betroffenen während der 1980er und 1990er Jahren als eine »community with a culture of death«63 in das kulturelle Gedächtnis eingegangen sind. An dieser diskursiven Konstruktion partizipiert auch die Literatur. In Peter Heims Roman Das blaue Zimmer (1988), nach Hubert Fichte eines der ersten deutschsprachigen fiktionalen Werke über HIV/AIDS, heißt es paradigmatisch: »Wer sich mit Aids in- fiziert, stirbt auch an Aids. Wann, ist nur eine Frage des Alters«.64 In Wirz’ Roman wird diese vermeintliche Gewissheit jedoch gerade nicht ein- gelöst. Der Text weist zwar auf die problematischen Axiome des HIV-/AIDS- Diskurses hin, veranschaulicht aber auch gleichzeitig, wie wirkungsmächtig solche Vorurteile sind. So entwickelt Mario ein schlechtes Gewissen: »Mit jedem Jahr, das ich hartnäckig überlebe, wächst mein Unbehagen. Ich fühle mich wie ein Be- trüger, wie jemand, der sein Versprechen nicht hält. Wieviele Bücher will die Sterblichkeit noch schreiben?«65 Dieses Unbehagen äußert sich auch im Privaten. Er empfindet inmitten seiner Freunde ein »kalte[s] Gefühl von Fremdheit«.66 Neben der Ebene der Zeitgeschichte fokussiert der Roman vor allem das in- nere Zeitbewusstsein und die Zeiterfahrung. Im Vergleich zu Es ist spät, ich kann nicht atmen weisen diese beiden Ebenen eine entscheidende Veränderung auf. Bereits im Titel ist durch den Übergang von Nacht zum Tag ein Wandel angelegt. Daneben sind die kalendarische Zeit und die Jahreszeit bedeutend: Die Handlung setzt an einem »Januarmorgen«67 ein. Was man zunächst als bloße Nebensäch- lichkeit abtun könnte, erweist sich bei genauerer Betrachtung jedoch als hochgra- dig symbolisch aufgeladen. Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass im Januar die Wintersonnenwende (21./22. Dezember) bereits erfolgt ist. Das heißt konkret, dass die Tage wieder länger werden. Zum anderen, und das fällt stärker ins Ge- wicht, liegt ein ganzes neues Jahr noch vor dem Protagonisten und eröffnet die Möglichkeit eines Neuanfangs. So fasst Mario denn auch den Beschluss: »Den, der sich seit sieben Jahren in seinem Unglück eingerichtet hat, werde ich hinter mir lassen«.68 Er begibt sich auf Reisen. Formal schließt die Biographie an dieser Stelle insofern an Es ist spät, ich kann nicht atmen an, als die Handlung ebenfalls in einem Zeitfenster präsentiert wird. Der Leser/Die Leserin begleitet Mario auf seiner Zugfahrt und bekommt Einblick in seine inneren Gedanken und Gefühle. Entsprechend der Reisesymbolik69 wird mit der Abfahrt aus Berlin auch eine persönliche Entwicklung suggeriert: »Mit ge- schlossenen Augen, hinter denen ich Abschied nehme von meinem alten Ich. Kei- 62 Vgl. Sontag: Aids und seine Metaphern, S. 93f. 63 Westengard: »›Conquering Immortality‹«, S. 275. 64 Heim: Das blaue Zimmer, S. 99. 65 Wirz: Biographie eines lebendigen Tages, S. 13. 66 Ebd., S. 22. 67 Ebd., S. 18. 68 Ebd., S. 9. 69 Vgl. Schneider: »Reise«, S. 294. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 171 SEBASTIAN ZILLES ne Phantasiereisen mehr. Keine Buchstabenfluchten. Keine Revolte auf dem Pa- pier. Kein erfundenes Leben. Diesmal bin ich wirklich unterwegs«.70 Überblickt man die Gesamtdarstellung, dann fällt besonders auf, dass der Aufbruch physisch zwar nur einmal, sprachlich hingegen gleich mehrmals vollzogen wird. Der Text wiederholt in sprachlichen Variationen immer wieder dasselbe Szenario: »Ich bin unterwegs. Ich bin allein. Ich bin frei. Ich kann alles wagen«. Und an anderer Stel- le: »Es ist Januar, und ich bin unterwegs. Der jüngste Tag in meinem Leben. Mein erster Tag«.71 Gerade die letzte Aussage ist besonders hervorzuheben, wird durch die Sprache doch eine Wiedergeburt im übertragenen Sinne inszeniert. Präsentiert der Text an dieser Stelle ein verändertes Zeitbewusstsein, führt er an anderer Stelle vor, dass sich daran auch eine neue Zeiterfahrung anschließt. Sie entspricht jedoch nicht der gängigen Chronometrie: »Vielleicht ticken meine Uhren nicht ganz richtig, vielleicht bezahle ich meine irre Zeitrechnung mit der Unmöglichkeit, die Zeit der anderen zu teilen, dafür verteidige ich alle Luxusstun- den. Vergangenheit oder Gegenwart, Mittwoch oder Donnerstag, Juli oder Au- gust. Ich lasse alle Stunden in mir schlagen«.72 In dieser Darstellung ist ein queeres Potential angelegt. Die präsentierte queere Zeit lässt sich nicht an Uhren oder Ka- lendern, sprich an irgendeiner chronometrischen Ordnung messen. Es ist ein ei- genes, subjektives Zeitempfinden, losgelöst von gängigen Zeitdimensionen. Die Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängt, ist, welche Erklärungsansätze der Text für diese signifikanten Veränderungen im Hinblick auf die Kategorie Zeit bereitstellt. Marios Neubeginn, so die These, korreliert mit einer veränderten Wahrnehmung der eignen Erkrankung: Bin nicht mehr auf den Tod und Aids fixiert. Höre auf, nach irgend- welchen Zeichen des Verfalls zu suchen. Höre auf, täglich mit dem Ausbruch der Krankheit zu rechnen. Ich lerne, mit meinem Virus zu leben. / Keine überkandidelten Imperative und Übertreibungen, keine künstlichen Superlative. / Ich lerne in kleinen, geduldigen Schritten. Ein long-term survivor, der weiß, daß es keine Meisterschüler des Todes gibt«.73 Die entscheidende Entwicklung, die Mario von Es ist spät, ich kann nicht atmen zu der Biographie eines lebendigen Tages durchlebt, ist die, dass er seine Selbstbe- stimmung zurückerlangt. Eine grundlegende Voraussetzung für diesen Schritt ist, dass er seine Krankheit ›annimmt‹. So heißt es denn auch: »Ich nehme mein Leben an und hadere nicht mit dem Schicksal. Vergeude die Zeit nicht mit Klagen und 70 Wirz: Biographie eines lebendigen Tages, S. 23. 71 Ebd. S. 68 und 79. 72 Ebd., S. 30. 73 Ebd., S. 108. NAVIGATIONEN 172 Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE »KEIN LEBEN UND KEIN STERBEN« Selbstmitleid«.74 Die Brüche und Verwerfungen, die die Krisensituation mit sich brachte, scheinen insofern überwunden, als Mario die Krankheit als Teil seiner Identität akzeptiert, ohne dass die Krankheit dabei seine Identität allein definiert. Es sind, so lässt sich abschließend festhalten, die Gefühle von Freiheit, Unab- hängigkeit, Offenheit und Handlungsmöglichkeit, die die Reise mit sich bringen. »Ich nehme wieder teil am Leben«.75 Wie dieses neue Leben konkret aussehen wird, lässt der Text offen. Die finalen Sätze des Romans lauten: »Ich werde mich finden lassen von einem Ort. Es ist Januar, und ich bin unterwegs. Ich bin in Bewegung. Meine Atemzüge entgleisen nicht. Eines lebendigen Tages werde ich …«.76 4. FAZIT Ausgehend von der Beobachtung, dass literarische Krankheitsfälle neben medizi- nischem Wissen, der Thematisierung kulturell geformter Ängste und Fantasien in Bezug auf infektiöse Krankheiten auch immer einen Ort der Verhandlung unter- schiedlicher Zeitreflexionen darstellen, ging der Beitrag den Fragen nach, welche unterschiedlichen Zeitebenen im Hinblick auf HIV/AIDS reflektiert werden und durch welche ästhetischen Verfahrensweisen Zeit zur Darstellung gelangt. Exemp- larisch wurden hierzu die Romane Es ist spät, ich kann nicht atmen sowie Biogra- phie eines lebendigen Tages von Mario Wirz untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass die Zeitreflexionen drei Dimensionen umfassen (Zeitbewusstsein/ Zeitge- schichte/ Zeiterfahrung), die einerseits im Hinblick auf die Gesellschaft als Ganze und andererseits durch die subjektive Erfahrung einer Figur verhandelt werden. Literatur stellt somit ein Medium dar, in dem Krankheiten gesellschaftlich und psychisch perspektiviert werden. Als zentraler Befund kann geltend gemacht werden, dass es sich bei der ver- handelten Zeiterfahrung nicht um eine kalendarische bzw. chronometrische Zeit handelt, sondern um eine Darstellung, die sich diesen Parametern entzieht. Darin offenbart sich ein queeres Potential, das der Protagonist der beiden besproche- nen Werke wie folgt beschreibt: »Ich verteidige nicht länger meine Vorstellung von Chronologie, kümmere mich nicht darum, ob meine Zeit in Einklang ist mit dem Kalender der anderen«.77 74 Ebd., S. 110. 75 Ebd., S. 106. 76 Ebd., S. 117. 77 Ebd., S. 30. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE 173 SEBASTIAN ZILLES LITERATURVERZEICHNIS PRIMÄRLITERATUR Amann, Jürg: Am Ufer des Flusses, Innsbruck 2001. Heim, Peter: Das blaue Zimmer, München 1988. Loetscher, Hugo: »Die Einwillung«. in: Ders.: Der Buckel, Zürich 2002, S. 142- 176. Mann, Thomas: »Der Zauberberg«, in: GkFA, Hg. v. Heinrich Detering et. al., Bd. 5.1, Frankfurt a.M. 2002. 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Nowotny, Joanna, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an ETH Zürich und an der Universität Bern. Rauscher, Andreas, PD Dr., ist akademischer Oberrat am Medienwissenschaft- lichen Seminar der Universität Siegen. Staskiewicz, Joanna, Dr. phil., ist Mitarbeiterin im Projekt „Queer(ing) Popular Culture“. Stein, Daniel, Prof. Dr., ist Professor für Nordamerikanische Literatur- und Kul- turwissenschaft am Seminar für Anglistik der Universität Siegen. Veith, Tim, ist Promotionsstipendiat (Heinrich-Böll-Stiftung) an der Universität Siegen. Weber, Rebecca, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Romanischen Se- minar der Universität Siegen. Wolf, Benedikt, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungs- stelle Kulturgeschichte der Sexualität an der Humboldt Universität zu Berlin. Zilles, Sebastian, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. NAVIGATIONEN Q UEE R( I NG) PO P ULAR C ULTURE LIEFERBARE HEFTE Kulturen des Kopierschutzes I Herausgegeben von Jens Schröter, Ludwig Andert, Carina Gerstengarbe, Karoline Gollmer, Daniel Köhne, Katharina Lang, Doris Ortinau, Anna Schneider u. Xun Wang; weitere Beiträger: Stefan Meretz u. Martin Senftleben. 2010 Jg. 10 H.1 - 135 Seiten Kulturen des Kopierschutzes II Herausgegeben von Jens Schröter, Ludwig Andert, Carina Gerstengarbe, Karoline Gollmer, Daniel Köhne, Katharina Lang, Doris Ortinau, Anna Schneider u. Xun Wang; weitere Beiträger: Brian Winston, Till A. Heilmann u. Alexander Fyrin. 2010 Jg. 10 H.2 - 138 Seiten High Definition Cinema Mit Beiträgen von Jens Schröter, Marcus Stiglegger, Helmut Schanze, Ivo Ritzer, Jörg von Brincken, Benjamin Beil, und einem Nachruf für Gundolf Winter. Herausgeber: Jens Schröter, Marcus Stiglegger 2011 Jg. 11 H.1 - 111 Seiten Game Laboratory Studies Mit Beiträgen von Jens Schröter, Philipp Bojahr, Tobias Gläser, Lars Schröer, Gisa Hoffmann, Marlene Schleicher u.a. Herausgeber: Benjamin Beil, Thomas Hensel 2011 Jg. 11 H.2 - 149 Seiten Film Körper. Beiträge zu einer somatischen Medientheorie Mit Beiträgen von Kai Naumann, Julia Reifenberger, Irina Gradinari, Susanne Kappesser, Romi Agel u.a. Herausgeber: Ivo Ritzer, Marcus Stiglegger 2012 Jg. 12 H.1 - 145 Seiten I am Error - Störungen des Computerspiels Herausgeber: Benjamin Beil, Philipp Bojahr, Thomas Hensel, Markus Rautzenberg, Stephan Schwingeler, Andreas Wolfsteiner 2012 - Jg. 12 H.2 - 118 Seiten Der Medienwandel der Serie Mit Beiträgen von Gabriele Schabacher, Michael Cuntz, Nicola Glaubitz, Lorenz Engell, Herbert Schwab u. Isabell Otto. Herausgeber: Dominik Maeder, Daniela Wentz 2013 - Jg. 13 H.1 - 145 Seiten Vom Feld zum Labor und zurück Mit Beiträgen von Anna Brus, Juri Dachtera, Anja Dreschke, Katja Glaser, Matthias Meiler u.a. Herausgeber: Raphaela Knipp, Johannes Paßmann, Nadine Taha 2013 - Jg. 13 H.2 - 187 Seiten Pasolini - Haneke: Filmische Ordnungen von Gewalt Mit Beiträgen von Konrad Paul, Hans J. Wulff, Oliver Jahraus, Uta Felten, Marcus Stiglegger u.a. Herausgeber: Marijana Erstic, Christina Natlacen 2014 - Jg. 14 H.1 - 130 Seiten 50 Jahre Understanding Media Mit Beiträgen von Barbara Filser, Till A. Heilmann, Rembert Hüser, John D. Peters, Nina Wiedemeyer u. Marshall McLuhan. Herausgeber: Jana Mangold, Florian Sprenger 2014 - Jg.14 H.2 - 124 Seiten Medien der Kooperation Mit Beiträgen von Erhard Schüttpelz, Sebastian Gießmann, Susan Leigh Star, Heinrich Bosse, Kjeld Schmidt, Mark-Dang Anh, Ilham Huynh u. Matthias Meiler. Herausgeber: AG Medien der Koperation 2015 - Jg.15 H.1 - 148 Seiten Von akustischen Medien zur auditiven Kultur Zum Verhältnis von Medienwissenschaft und Sound Studies Mit Beiträgen von Rolf Großmann, Maren Haffke, Felix Gerloff, Sebastian Schwesinger, Lisa Åkervall, Sarah Hardjowirogo, Malte Pelleter u.a. Herausgeber: Bettina Schlüter, Axel Volmar 2015 - Jg.15 H.2 - 164 Seiten PLAYIN‘ THE CITY Artistic and Scientific Approaches to Playful Urban Arts Mit Beiträgen von Miguel Sicart, Martin Reiche, Michael Straeubig, Sebastian Quack, Marianne Halblaub Miranda, Martin Knöll u.a. Herausgeber: Judith Ackermann, Andreas Rauscher, Daniel Stein 2016 - Jg.16 H.1 - 182 Seiten Medienwissenschaft und Kapitalismuskritik Mit Beiträgen von Christian Siefkes, Christoph Hesse, Christine Blättler, Martin Doll, Jens Schröter, Till A. Heilmann, Andrea Seier u. Thomas Waitz. Herausgeber: Jens Schröter, Till A. Heilmann 2016 - Jg.16 H.2 - 165 Seiten Medienpraktiken Situieren, erforschen, reflektieren Mit Beiträgen von Anna Lisa Ramella, Christian Meyer, Christian Meier zu Verl, Raphaela Knipp, Christoph Borbach, Erhard Schüttpelz, Andreas Henze u.a. Herausgeber: Mark Dang-Anh, Simone Pfeifer, Clemens Reisner, Lisa Villioth 2017 - Jg. 17 H.1 - 169 Seiten Medien, Interfaces und implizites Wissen Mit Beiträgen von Christoph Ernst, Jan Distelmeyer, Timo Kaerlein, Thomas Christian Bächle, Peter Regier, Maren Bennewitz, Regina Ring, Sabine Wirth u. Jens Schröter Herausgeber: Christoph Ernst, Jens Schröter 2017 - Jg. 17 H.2 - 155 Seiten Jg. 18 H.1 2018 € 13,- NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften Sebastian Zilles (Hrsg.) QUEER(ING) POPULAR CULTURE Zilles: Towards a Queer Popular Culture ä Stein: Bodies in Transition ä Fenske: Familie queeren? ä Krauß: Female Gaze, Queer Gaze, Trans Gaze ä Nowotny: It‘s called a Devil‘s Threesome for a Reason ä Weber: Ein Genre in Bewegung ä Veith: Von Twinks, Twunks, Daddies und Bären ä Stàskiewicz: Queering in der (Neo-) Burlesque ä Rauscher: Queering Game Spaces ä Wolf: Die niedere Blume pflücken ä Zilles: Kein Leben und kein Sterben NAVI GATIONEN ä QUEER(ING) POPULAR CULTURE Jg. 18 H.1 2018