Medien / Kultur 41 Marion Schmaus (Hg.): Melodrama – Zwischen Populärkultur und Moralisch-Okkultem: Komparatistische und intermediale Perspektiven Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2015 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd.310), 335 S., ISBN 9783825360986, EUR 42,– Die vorgelegte Studie hat ihre Wur- gangsthesen stammen aus Peter Brooks’ zeln in der Komparatistik und verfolgt The Melodramatic Imagination: Balzac, einen transdiziplinären Ansatz, um Henry James, Melodrama and the Mode melodramatische Strukturen zu ana- of Excess (New Haven: Yale UP, 1995). lysieren. Ihre zwei titelgebenden Aus- Brooks behauptet, dass zum einen die 42 MEDIENwissenschaft 01/2016 melodramatische Imagination stets erschienen Confessions (1782) später auf ein Moralisch-Okkultes verweise; selbst eingestanden hat. Derrida hat zentrale Merkmale des Melodrams, den Zusammenhang, der hier zwischen wie Intermedialität, die antithetische Onanie und narzisstischer Selbst- Plot-Struktur, typisierte Darstellung, affektion besteht, deutlicher gemacht: zeichenhafter Exzess, Serialität und „Diese Onanie, die es gestattet, sich der Austausch verschiedener National- selbst zu affizieren, indem sie sich literaturen seien auf die Wirkung aus- Anwesenheiten verschafft und abwe- gerichtet (vgl. S.4). Zum anderen habe sende Schönheiten um sich sammelt, die melodramatische Imagination als wird Rousseau nie freilassen; ihretwe- Symptom der Aufklärung und damit gen wird er sich immer wieder ankla- als ein Säkularisierungsphänomen gen“ (Derrida, Jacques: Grammatologie. des Sakralen stets eine demokratische Frankfurt: Suhrkamp, 1992, S.265f.). Ausrichtung, zu der auch eine Breiten- Im Melodram wird demnach primär wirkung gehöre, die auf ein Massenpu- keine Gefühlswelt gegenüber einem blikum abziele (vgl. S.8). Anderen (als Fremden) aufgebaut, Melodrama – Zwischen Populärkul- sondern die eigenen, inneren Gefühle tur und Moralisch-Okkultem beginnt werden ähnlich wie in der Romantik nach einem einführenden Aufsatz zum künstlich geweckt und dann in einer Thema „Das Melodram im 18. Jahr- übersteigerten Form nach außen proji- hundert“ von Sabine Henze-Döhring ziert. Diesen Aspekt, der zum Selbst- mit drei Texten von Ulrike Eisenhut, genuss der Gefühle führt und auch der Tina Hartmann und Marion Schmaus, Romantik eigen ist, beschreibt Jörg die sich mit den frühen Melodramen Metelmann in seinem Aufsatz „Im Pygmalion ( Jean-Jacques Rousseau, Korrekturmodus“ recht deutlich (vgl. 1762) und Proserpina (Johann Wolf- S.310f.). gang von Goethe, 1778/79) beschäf- Schon Goethe, der diese Schwach- tigen. Rousseau, das philosophische stelle bei Rousseau erkannt hat, schrieb Sprachrohr der Aufklärung, war als Kritik an dessen Monodrama sein zugleich mit Pygmalion der Verfasser eigenes Melodram Proserpina, welches des ersten Melodrams. Darin erschafft eingebettet war in das Satyrspiel Der sich ein Bildhauer eine weibliche Sta- Triumph der Empfindsamkeit (1778). Es tue, in die er sich verliebt. Schmaus ist das Spiel im Theaterstück über eine sieht – in Anlehnung an Goethe und isolierte Frau, die nach ihrem Ehebruch Hartmann – in der Selbstbespiegelung und einem Gang durch die Totenwelt der Gattung Melodram, die hier ihren bekehrt zu ihrem Mann zurückkehrt. ersten Ausdruck findet, eine deutlich Hier wird gerade ein narzisstisches narzisstische Komponente (vgl. S.87). Abdriften in reine Kunstwelten durch Zudem, schreibt Schmaus, gäbe es die Komödie attackiert. Damit biete, hier eine Verbindung zum „zeitgenös- so Schmaus, Goethe den Gegenpart sischen Onaniediskurs“ (vgl. S.87) – ein zum onanistischen Illusionsspiel von Motiv, das Rousseau in seinen posthum Rousseau (vgl. S.90). Medien / Kultur 43 Eisenhut macht in ihrer umfas- Gefühle: Das Kino, das Melodrama und senden Exegese von Rousseaus das Theater der Empfindsamkeit. Berlin: Pygmalion darauf aufmerksam, dass Vorwerk, 2004, S.137). Und genau das das Melodram nicht durch das Empfin- gereicht ihm nicht nur zum Vorteil, den der Gefühle Furcht und Mitleid sondern verbindet diese Form mit dem reinigen wolle, wie es Aristoteles für Mythos und einer zuweilen flachen, das klassische Drama beschrieben hat, aber immer erfolgreichen Massenwir- vielmehr soll das Melodram Rührung kung. Viele dieser Akzente tauchen erzeugen (vgl. S.47ff.). Rührung ist als Voraussetzung auch in einigen aber schon bei Walter Benjamin nur anderen Aufsätzen, zum Beispiel bei eine schwache Rezeptionsform, wenn Sigrid Nieberles „Gone with the Wind es um Dramen geht (vgl. Gesammelte und deutschsprachige Intertexte“, auf, Schriften: Abhandlungen. Bd.1. Frank- die beschreibt, wie wenig Gone with the furt: Suhrkamp, 1991, S.192), sodass Wind (1937) von historischer Erinne- auch hier erneut eine implizierte Kritik rungsarbeit handeln könne (vgl. S.249). am Melodram enthalten ist. „An was sollen diese pathetisch insze- So werden die Hintergründe für nierten Körper erinnern, wenn nicht eine narzisstische und ästhetisierende an ihre eigenen pathetischen Posen?“ Einstellung des Melodrams bereits in (S.257), schreibt sie über die einpräg- Eisenhuts Aufsatz gründlich heraus- samen Schlussszenen des ersten und gearbeitet. Auch Hartmann beschreibt zweiten Teils dieses Films. das gesamte Genre, das in einer Hass- Insgesamt hat sich Melodrama – liebe zu seiner Schwestergattung, der Zwischen Populärkultur und Moralisch- Oper, stehe, insgesamt als ein Krisen- Okkultem einer sehr präzisen und immer symptom und Übergangsphänomen, wieder auch kritischen Auseinanderset- das nicht zuletzt zustande gekommen zung mit diesem Genre der intensiven sei, weil Rousseau der Ansicht war, in Emotionserweckung verschrieben und der französischen Sprache könne nicht vermag dabei bis zu seinen historischen gesungen werden. Hermann Kappel- Wurzeln in einer sehr eindrucksvollen hoff, auf den hier häufig Bezug genom- und detaillierten Form vorzudringen. men wird, erklärte: Das Melodram handele vom „Genießen der eigenen Andreas Jacke (Berlin) Empfindungsfähigkeit“ (Matrix der