Die künstliche Intelligenz des Sinns1 Sinngeschichte und Technologie im Anschluss an Jean-Luc Nancy Erich Hörl »Die ›Frage nach der Technik‹ ist nichts anderes als die an ihre Grenzen getriebene Frage nach dem Sinn.« Jean-Luc Nancy 1. In einer philosophischen Jahrhundertbeobachtung hat Jean-Luc Nancy unsere Gegenwart als Zeit einer großen sinngeschichtlichen Konversion charakterisiert. In L’oubli de la philosophie, jenem Text aus dem Jahre 1986, der Nancys sinngeschicht- lichen Entwurf zum Durchbruch bringt, wurde die klassische Sinnformation als Zeitalter des festgelegten, markierten, fi xierten, geschlossenen, eben des bedeuteten Sinns fokussiert. Was sich im 20. Jahrhundert – dem Jahrhundert der Zusammen- brüche, Untergänge und Abdriften, kurz: des Verendens des Sinns – erschöpfen und entblößen und dabei zugleich ins Jetzt seiner Erkennbarkeit treten sollte, das ist nach Nancy nicht der Sinn überhaupt, sondern nur ein bestimmter Sinn des Sinns, der freilich mit dem Abendländischen gleichursprünglich und koextensiv zu sein schien und bis dato als Inbegriff des Sinns selbst galt: nämlich die lang dauernde Figuration und Auslegung, die doxa, das dogmatische Bild des Sinns, das den Sinn des Sinns als Bedeutung auff asst, »der Sinn im Sinne von ›Bedeutung‹ (also der gebräuchlichste Sinn des Wortes ›Sinn‹ in unserer Sprache und in der Philosophie)«,2 wie es genau heißt. Dass wir nunmehr »unweigerlich einer anderen Geschichte ausgeliefert sind, die jenseits der Bedeutung off en vor uns liegt und deren Sinn niemals in der Rückkehr des ›Sinns‹ bestehen kann«,3 sondern in der Aussetzung an den Entzug des Sinns und an die Aussetzung als Sinn, das ist der sinngeschichtliche Einschnitt, der nach Nancy die zeitgenössische Kondition insgesamt markiert. »Die Realität dieser Zeit«, so präzisiert er, »liegt in der Zäsur, die den off enen Riß der Bedeutung überall 1 Für Jean-Luc zum Siebzigsten. 2 Jean-Luc Nancy: Das Vergessen der Philosophie (1986), übers. v. Horst Brühmann, Wien 1987, insb. S. 31. 3 Ebd. S. 71. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 130 Erich Hörl aufbrechen läßt: im Weltkrieg, in der Vernichtung, in der Ausbeutung und im Hun- ger, in Technik, Kunst, Literatur und Philosophie«.4 Aus der sinngeschichtlichen Perspektive, die Nancy entwirft, erweist sich die »Sorge um den Sinn«,5 wie sie im 20. Jahrhundert mit allem Nachdruck auf der philosophisch-politischen Agenda erscheint und die Sorge des Denkens darstellt, nicht als Frage nach der Restitution oder der Schließung des Sinns, sondern als »Frage nach der Öff nung und Off enheit des Sinns und nach einem anderen ›Sinn‹ des Sinns«.6 Und noch gewisse programmatische Unternehmungen der zweiten Jahrhunderthälfte, den Sinn off ensiv zu verabschieden, ihn nur noch als Eff ekt zu begreifen, zum Beispiel von Materialitäten der Kommunikation, ihn aus den Geis- teswissenschaften auszutreiben und sein Ende in die Konstitution neuer Diskurs- politiken sowie weit ausgreifender medien-, kultur-, schließlich wissensgeschicht- licher Archäologien und Selbstbeschreibungsvorhaben zu überführen, verdichten sich vor diesem Hintergrund ihrerseits nur zu Symptomen einer grundlegenderen sinngeschichtlichen Transformation. Der Sinngeschichte überhaupt entkommen auch diese postsignifi kativen Anstrengungen nicht. Bis heute ist Nancys Denken von einer eigentümlichen sinngeschichtlichen Erregung bewegt. Seine gesamte philosophisch-diagnostische Arbeit am »großen Bruch des Sinns« (PF, S. 51) ist dabei von einer auff älligen Faszination durch das Off ene und das Außen bestimmt und entfaltet sich zugleich auch als deren Durch- arbeitung und Befragung – eine Faszination, die nicht irgendeine ist, sondern die als Signatur unseres gegenwärtigen sinngeschichtlichen Moments begriff en wer- den muss. Diese Faszination prägt auch noch sein jüngstes Projekt zur Dekon- struktion des Christentums, das nicht nur unter dem programmatischen Titel Die Aufschließung (la déclosion) steht, sondern dessen Horizont es ist, »das Wesen des Christentums als Öff nung«, das Christentum als »absolutes Transzendental und transzendentales Absolutes der Öff nung«, »aller Gestalten der Öff nung« und des »Heraustretens aus sich«7 zu untersuchen. Über die unerhörte Geschichtlichkeit dieser ihrerseits gewaltigen archäologischen Frage, die das ganze Gewicht des Sinnproblems aufblitzen lässt, ist sich Nancy durchaus im Klaren: »Es ist dringlich – und das charakterisiert unsere Zeit –, dass der Okzident oder das, was von ihm übrig ist, sein eigenes Werden untersucht, sich auf seine Herkunft und seinen Verlauf zurückwendet und sich über den Prozess der Aufl ösung des Sinns befragt, dem er Statt gibt.«8 4 Ebd. 5 Ders.: Une pensée fi nie [PF], Paris 1990, S. 12. (Übers. E. H.) 6 Nancy: Das Vergessen (wie Anm.1), S. 35 (veränderte Übersetzung). 7 Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion des Christentums, übers. v. Esther von der Osten, Zürich/Berlin 2008, S. 245 f. 8 Ebd. S. 51. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Die künstliche Intelligenz des Sinns 131 Wenn die entsprechende Neubeschreibung der Sinnlage, wie sie Nancy seit den 1980er Jahren systematisch betreibt, mit der Frage nach dem Transzendental der Öff nung und des Außen ihre historische Tiefenschärfe und geschichtliche Poin- tierung erhält, so hat sie bereits über die Jahre eine Vielzahl von Begriff en und Kategorien auf den Weg gebracht, die allesamt Wiederklänge, Figurationen oder Abspaltungen der epochalen sinngeschichtlichen Zentralbegriff e des Off enen (ou- vert), der Eröff ung, Öff nung, Off enheit (ouverture) und des Außen (dehors, ex- térieur) sind. Was aber, so ist zu fragen, ist das mögliche historische Transzenden- tal dieser Off enheits- und Entäußerungsfaszination sowie dieser Begeisterung für das Außer-sich- und Draußen-Sein, die seit Heidegger und insbesondere für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts so signifi kant ist und die in Nancys Denken und Begriff spolitik mit außerordentlicher Kraft zur Darstellung drängt? Wovon wird Nancys schwerster Gedanke, ein absolutes Transzendental von Öff nung, seinerseits hervorgetrieben und getragen? Gibt es vielleicht so etwas wie einen Entstehungsgrund und Evidenzherd dieser Faszination? Die Faszination des Off enen und des Außen, wie sie erst im 20. Jahrhundert bis ins Herz der dem Exterioren und Off enen stets so feindlich begegnenden Sinn- kultur der Bedeutung vorgedrungen ist und diese aufbricht, verdankt sich vor allem maschinen- und objektgeschichtlichen Gründen. Aus dramatischen Umwäl- zungen der Maschinen- und Objektkultur ist die Begeisterung für das Off ene und das Außen zu einer sinngeschichtlich relevanten Größe aufgestiegen.9 Es ist näm- lich das Erscheinen »off ener Maschinen« und »off ener Objekte« – beides wurde unter genau diesen Titeln von dem französischen Mechanologen Gilbert Simondon so hellsichtig registriert –, das die überkommene Sinnkultur mit ihren ange- stammten ontologischen Registern und den entsprechenden Produktionsverhält- nissen der Bedeutungsökonomie destruiert und am Leitfaden neuer technologi- scher Objekte und entsprechend veränderter Objektbeziehungen auch eine neue, nunmehr postsignifi kative Sinnkultur herauff ührt. Simondon hat die Transformationen, die im Gegensatz zur geschlossenen Welt der Bedeutung eine off ene Welt des Sinns prinzipiell unabschließbarer Supple- mentarität, Prothetizität und Artefaktualität generiert, als Wechsel vom minori- tären zum majoritären Status des technischen Objekts skizziert. Das technische Objekt fi guriert darin nicht mehr als an sich bedeutungsloses Werkzeug, Instru- 9 Giorgio Agamben berücksichtig in seiner Studie zum Off enen diesen geschichtlichen Strang der Frage nicht, der für das Funktionieren der von ihm so genannten »anthropo- logischen Maschine« gleichwohl von Belang ist. Schließlich fi ndet durch maschinen- und objektgeschichtliche Umbrüche, zumal durch die Kybernetik, auch eine deutliche Re- konstellierung des Verhältnisses des Humanen und des Nicht-Humanen statt. Vgl. Gior- gio Agamben: Das Off ene. Der Mensch und das Tier, übers. v. Davide Giuriato, Frank- furt/M. 2003. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 132 Erich Hörl ment und bloßes Mittel zum Zweck für die Produktionsleistung eines je schon konstituierten bedeutungsverleihenden Subjekts, mithin als abgeschiedenes, mi- norisiertes Objekt, das sich am Abgrund des Nichtsinns befi ndet und das verfemte Teil, das unmögliche Außen der Bedeutung darstellt. Nunmehr taucht dieses in- feriore Objekt unübersehbar im Innersten der Sinnkultur auf, eröff net und prägt es einen neuen Schauplatz und ein neues Milieu des Sinns, der bislang doch einzig und allein die Sache einer Arbeit der Innerlichkeit und eines Theaters der Inten- tionalität zu sein schien. Sinn entsteht nicht aus einem bedeutungsstiftenden Akt, sondern er wird zur transkategorialen Fügung, er steigt auf aus asignifi kanten Praktiken des Zusammenwirkens von Menschen, Objekten und Maschinen. Mit seinem Begriff der »off enen Maschine« beschreibt Simondon bereits Ende der fünfziger Jahre wenigstens in einem ersten Anlauf den off enen Sinnzusam- menhang der metatechnischen Welt. »Das Ensemble von off enen Maschinen«, so notiert er, »setzt den Menschen als permanenten Organisator und als lebendigen Interpreten der Maschinen in ihrem Verhältnis zueinander voraus«,10 der Mensch erscheint als »permanenter Organisator einer Gesellschaft technischer Objekte«, der »unter den Maschinen, die mit ihm zusammen operieren«,11 existiert. In einem kurzen Stück, das sich in seinem Nachlass fand und das vermutlich um 1970 ent- stand, scheint Simondon das Dämmern einer asignifi kativen, vor jeder Bedeutung operierenden, netzwerkartigen Sinnkultur, wie sie aus dem Regime der neuen Objekte entsteht, noch viel deutlicher vor Augen gehabt zu haben. Unter dem Titel Mentalité technique schreibt er: »Aber das Wesentliche ist folgendes: Damit ein Objekt die Entwicklung der technischen Mentalität ermöglicht und von ihr ausgewählt wird, muss das Objekt selbst eine netzar- tige Struktur haben. Wenn man sich ein Objekt vorstellt, das, anstatt geschlossen zu sein, Teile aufweist, die so konzipiert sind, dass sie der Unzerstörbarkeit möglichst nahe kom- men und andere Teile, in denen sich im Gegensatz dazu die ganze Feinheit der Anpas- sung an den jeweiligen Gebrauch oder an den Verschleiß oder an den möglichen Bruch bzw. Riß im Falle einer Erschütterung, eines Stoßes oder eines fehlerhaften Betriebs konzentriert, so erhält man ein off enes Objekt (objet ouvert), das ergänzt, komplettiert, nachgebessert, verfeinert und im Zustand immerwährender Aktualität gehalten werden kann.«12 10 Gilbert Simondon: Du mode d’existence des objets techniques (1958), Paris 2001, S. 11 f. (Übers. E. H.) 11 Ebd. 12 Gilbert Simondon: Mentalité technique [MT], in: Revue Philosophique de la France et de l’Étranger 3 (2006), S. 343 – 357, hier S. 356. (Übers. E. H.) ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Die künstliche Intelligenz des Sinns 133 Das off ene Objekt ist, so präzise begründet Simondon seine Begriff swahl, »not- wendig eine Netzwerktatsache (réalité de réseau), bevor es ein abgeschlossenes und getrenntes Objekt (objet séparé) ist« (MT, S. 354). Im Gegensatz zum »geschlosse- nen Objekt« (objet fermé) (MT, S. 355) der industriellen Produktion und ganz im Stile der kybernetischen Hoff nungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre als »postindustrielles technologisches Objekt« (MT, S. 356) benannt, ist es zudem als »Einheit von zwei Realitätsschichten« zu verstehen: »Eine Schicht, so stabil und beständig wie möglich, gehört dem Benutzer und ist kon- struiert, um zu dauern; eine andere Schicht kann unablässig ersetzt, gewechselt, aktua- lisiert und erneuert werden, weil sie aus Elementen besteht, die alle ähnlich sind, unper- sönlich, massenhaft durch die Industrie produziert und durch Tauschnetze verstreut. Durch die Partizipation an diesem Netzwerk bleibt das Objekt seinem Gebrauch zeitge- nössisch und immer neu. […] Das Objekt ist nicht nur Struktur, sondern Regime.« (MT, S. 356) Simondon wird am Ende »die Off enheit« (l’ouverture) sogar als »das Zeichen einer vollendeten technischen Mentalität« erkennen, als das, was sowohl ihre kognitiven Schemata, als auch ihre Aff ektivitätsmodi und ihre Handlungsnormen bestimmt. Schließlich scheint »die technische Realität« selbst, so betont er, »äußerst geeignet, fortgesetzt, ergänzt, verbessert, ausgedehnt zu werden« (MT, S. 357), also prinzi- piell supplementär, prothetisch und off en zu sein. Off ene technische Objekte, wie sie Simondon als Träger einer Logik des Supplements und von Transkategorialität beschreibt, zeigen sich als Transzendental einer epochalen Off enheitsfaszination, die sich gleichzeitig mit der massenhaften Verbreitung dieser technischen Objekte über die ganze Sinnkultur legt und auch in deren philosophischen Beschreibungen eindringt. Der philosophische Aufstieg der Logik des Supplements sowie die Wie- derkehr und zugleich Radikalisierung eines prothetischen Denkens, wie sie im Rahmen dieser Umwendung seit den 1960er Jahren und bis heute zu beobachten sind, ist vielleicht nur eine Reaktionsbildung auf die nunmehr unabweisbare Pri- marität technischer Supplementarität. Jedenfalls erweist sich die Sinnverschiebung, die Nancy mit den Mitteln einer philosophischen Politik des Off enen und Außen beschreibt, vor diesem Hintergrund als technologische Sinnverschiebung.13 13 Der Begriff der technologischen Sinnverschiebung wurde im Anschluss an, zugleich aber auch in Absetzung von Husserl ausgearbeitet in Erich Hörl: Die technologische Sinnver- schiebung. Über die Metamorphose des Sinns und die große Transformation der Ma- schine, in: Lorenz Engell/Jiri Bystricky/Katerina Krtilova (Hg.): Medien denken. Von der Bewegung des Begriff s zu bewegten Bildern, Bielefeld 2010, S. 13 – 31. Zur »trans- kategorialen Erkenntnis«, die die Off enheit des technischen Objekts epistemologisch wendet, vgl. Simondon: Mentalité technique (wie Anm.11), S. 346. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 134 Erich Hörl Jacques Derrida ist der Einschreibung der technologischen Zäsur in Nancys Denken recht nahe gekommen, als er in Le toucher, Jean-Luc Nancy auf die Lexik des Ex- hinwies, in der gerade die Spezifi tät und Exaktheit von Nancys Neube- schreibung der Sinnlage besteht: »Wenn man sich erinnert, dass der Begriff des ›Heraus-geschriebenen‹ (›ex-crit‹), ein von Nancy gebildetes oder geschmiedetes Wort, sich mehr und mehr ins Herz, ins innerste Forum dieses denkenden Schreibens eingeschrieben fi ndet, bliebe nur, sich nach dem Körper und nach der Kraft, nach dem zwanghaften Trieb (pulsion) zu fragen, der diese Silbe, ex, in Bewegung versetzt und am Leben erhält (garde). Man wird sie selbstverständ- lich in eine Konfi guration einbringen müssen, diese Silbe, mit einem ganzen Denken der Aus-stoßung (›ex-pulsion‹), des Aus-drucks (›ex-pression‹), der Aus-scheidung (›ex-cré- tion‹) nach draußen – welches selbst den ›Sinn der Welt‹ bedingt – und mit diesem Den- ken des ›Exzesses‹, das solange ›unerbittlich nach draußen‹ drängt, bis dass es die Subjek- tivität des ego in die Exteriorität schleudert (hinauswirft, krümmt, entwirft, verwirft). […] Nancy hebt damit den Zug, genauer das Ziehen/den Aufriß (tracé) dieser Exteriorisierung der Exteriorität hervor.«14 Man kann die Liste fraglos noch um andere nach draußen drängende Begriff e erweitern, die allesamt die Konsistenz von Nancys Exterioritätsdenken garantie- ren: »ex-action«, »ex-traction«, »exemption«, »expansion«, »extension«, »partes ex- tra partes«, »ex nihilo«, natürlich und vor allem nicht zu vergessen »existence« und »exposition«, letzteres wohl das Leitwort Nancys. Einmal hat Nancy sogar »the ex- as proper«15 tituliert. Aber trotz gelegentlicher, mitunter weitreichender Hin- weise auf die bedeutende Rolle der Technikfrage für Nancys Begriff spolitik und Diskursschema wird von Derrida genau jene Kraft der Exteriorisierung und des Außer-Sich-Seins, die Nancys Gebrauch der Lexik des Ex- praktisch zum Gebot der Zeitgenossenschaft macht, nämlich die Technik, eigentümlicherweise kaum als solche bedacht. Er, der seinerseits in explizitem Anschluss an den großen Pa- läoanthropologen der artefaktischen Extension André Leroi-Gourhan und eines in den 1950er und 1960er Jahren als Reaktion auf die Kybernetisierung sich epi- demisch ausbreitenden Exteriorisierungsdenkens die Technik als konstitutives Außen des abendländischen Bedeutungsraumes bestimmte, gegen das sich der philosophische Diskurs mit all seiner Begeisterung für Figuren des Innen, des Eigenen und Eigentlichen, des Bei-sich- und des Zu-Hause-seins, des Authenti- schen und des Autochthonen ursprünglich bei Platon und seither immer wieder 14 Jacques Derrida: Berühren, Jean-Luc Nancy, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Berlin 2007, S. 36 f. 15 Jean-Luc Nancy: Our World. An Interview, in: Angelaki 8 (2003), S. 43 – 54, hier S. 51. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Die künstliche Intelligenz des Sinns 135 neu formierte, er, der selbst als Kern seines eigenen grammatologischen Entwurfs die wesentliche Technizität und Exteriorität des Sinns hervorhob, er sieht in Nan- cys Denken ausgerechnet einen Trieb am Werk, die erste Aus-stoßung, eigentlich die erste Aus-treibung, nämlich die Geburt, zu wiederholen, in dieser Wiederho- lung zwanghaft der Bewegung der Exteriorisierung nachzugehen und so letztlich die ganze Konsistenz seines Denkens aus der Lexik und als eine Logik des Ex- zu entwerfen.16 Und er sieht nicht, dass Nancys Zwang, alles auf Ex- zu denken, unausgesetzt Wörter und Begriff e auf Ex- zu bilden und dabei praktisch eine ganze Ontologie des Ex-, eine Exontologie, herauszupräparieren, in gewissem Sinne nur der Logik des geschichtlichen Augenblicks gehorcht und der Macht der technologischen Sinnverschiebung nachgibt, die radikal exteriorisiert und dabei die Exteriorisierung selbst zur Epochenfrage macht.17 Es handelt sich bei Nancy vielleicht weniger um einen Denker der Expulsion, als vielmehr der Exponierung und Exposition. Es sei denn, man verstünde die technische Exteriorisierung ih- rerseits als zwanghafte organologische Angelegenheit und als Sache eines Triebs. Nancys Denken des Ex- wiederholt jedenfalls unablässig genau jenen sinnge- schichtlichen Moment, da im Technologisch-Werden der Lebensform und in der ubiquitären Verbreitung technologischer Objekte das Außen und die Öff nung als solche problematisch werden, hervor- und in Erscheinung treten, sich das Exis- tieren in unerhörtem Maße als Exponiert-Sein off enbart, die originäre Exponie- rung des Außer-Sich- und Draußen-Seins nicht mehr verleugnet werden kann und unsere ganze Gewordenheit ins Licht dieser großen Exposition rückt, selbst exponiert wird eben als und durch die ursprüngliche Exponierung und Exposition der Technologie. Nancy hat seinerseits nicht nur, wie gleich zu sehen sein wird, die Technik als einen zentralen sinngeschichtlichen Akteur benannt. Einen Augenblick lang scheint er die zeitgenössische Situation sogar ausschließlich im Lichte der techno- logischen Kondition begriff en und beschrieben zu haben. 1991 – in einem Gele- genheitstext, den er ein paar Jahre später einem seiner Hauptwerke, De l’être sin- gulier pluriel, als Supplement beigibt – erblickt er in der »Ökotechnie« (écotechnie) 16 Vgl. Derrida: Berühren (wie Anm. 13), S. 39. Derridas De la grammatologie (1967) entstand aus einer Rezension von Leroi-Gourhans Hauptwerk Le Geste et la Parole, die im Dezem- ber 1965 und im Januar 1966 in der Zeitschrift Critique erschien. Vgl. dazu Bernard Stiegler: Derrida und die Technologie, in: ders.: Denken bis an die Grenzen der Ma- schine, hrsg. v. Erich Hörl, übers. v. Ksymena Wojtyczka, u. Erich Hörl, Zürich/Berlin 2009, S. 111 – 153, hier S. 127 ff . 17 Ich werde andernorts auf eine dichte Beschreibung des Exteriorisierungsdenkens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückkommen. Dabei gilt es insbesondere die La- gerung der Dekonstruktion und ihrer für das ganze grammatologische Projekt konstitu- tiven Auslegung der kybernetischen Gegenwart in dieser Geschichte zu fokussieren. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 136 Erich Hörl die vielleicht »letzte gestaltlose Gestalt«18 von Sinngeschichte überhaupt, die gerade heraufzieht. Das allgemeine »Technisch-Werden der Welt«, das auf die Ökotechnie als seinen unmöglichen und jedenfalls mit klassischen Begriff en undenkbaren ge- schichtlichen Horizont hindeutet, auf eine reine, von aller »Technik«, »Ökonomie« wie »Souveräntität« befreite techné, lässt »die Frage der Technik« als solche über- haupt zum ersten Mal in aller Strenge erscheinen. Denn diese gibt es, so Nancy, »einzig von dem Augenblick an, in dem die Technik als Fertigstellung des Seins (fi nition de l’être) und nicht als Mittel für irgendeinen anderen Zweck (Wissenschaft, Beherr- schung, Glück usw.) betrachtet wird. Und infolgedessen als ein Zweck an sich sui generis. Die Technik ist eine ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ (d.h. ohne einen ihr äußerlichen, einen extrinsischen Zweck), von einer Art, die vielleicht zu entdecken bleibt. Und unsere Geschichte setzt uns einer solchen Entdeckung aus, als Technologisch-Werden des Seins und seiner Fertigstellung.«19 Ökotechnie ist Nancys Name für das Ereignis der technologischen Sinnverschie- bung, das die Technik freigibt und ein ganzes Sinnregime zu Grabe trägt, das diese nicht nur verstellte, sondern überhaupt auf der Verleugnung von Technik basiert, Ereignis der technologischen Freistellung des Sinns, das selbst noch zu bestimmen bleibt: »Man wird eines Tages [der] Neuheit, die sich […] in unsere Geschichte einführte, inne werden. […] Nicht weniger als der Eintritt ins Ereignis der Öko- technie, dessen Sinn zu erfi nden uns obliegt, Sinn, der weder dem Begriff noch dem Unmittelbaren entspricht.«20 Gut zehn Jahre später wird er sagen: »Unsere Welt ist die Welt der ›Technik‹, die Welt, in der sich der Kosmos, die Natur, die Götter, das vollständige System in seiner intimen Zusammenfügung als ›Technik‹ exponiert: Welt einer Ökotechnik.«21 Dazwischen erfi ndet sich der ökotechnische Sinn im Werk Nancys. 18 Jean-Luc Nancy: Der Preis des Friedens. Krieg, Recht, Souveräntität – techné, in: Lettre International 34 (1991), S. 34 – 45, hier S. 44. 19 Ebd. S. 38. 20 Ebd. S. 45. Diese Passage fi ndet sich nur im Postcriptum 2 der deutschen Ausgabe. 21 Jean-Luc Nancy: Corpus, übers. v. Nils Hoydas u. Timo Obergöker, Zürich/Berlin 2003, S. 77. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Die künstliche Intelligenz des Sinns 137 2. Es gibt ein Drängen des Technischen im Text Nancys. Und es drängt gewaltig. Weil der historisch-systematische Ort, an dem sich das Problem des Technischen heute situiert und Fragen wie Eff ekte des Technologisch-Werdens sich einschrei- ben und zu begreifen sind, nach wie vor nicht ausreichend geklärt ist, ist die nähere Bestimmung dieses Drängens über jedes bloß philologische Interesse an Nancy hinaus von diagnostischem Belang. Zuerst meldet es sich in Une pensée fi nie, wo Nancy die neue sinngeschichtliche Situation im Rahmen eines Denkens der Endlichkeit zu klären sucht und dabei das Existieren zuallererst als ein Sein-ohne begreift: ohne Wesen, ohne Sinn, ohne Grund, ohne Zweck, ohne Grenze, ohne Modell, ohne Regel etc. Genau dieses »ohne« – Emblem radikaler Endlichkeit in beunruhigender Nähe zu Mangelon- tologien und -anthropologien, drauf wird noch zu kommen sein – soll die Öff - nung selbst als Sinn sein. In voller Entsprechung zur geschichtlichen Situation, die durch das Einrücken unter die technologische Bedingung bestimmt ist, markiert diese originäre Öff nung des »ohne« zuerst den ontologischen Ort von Technik, die als Supplierung und Supplement von nichts gedacht wird und dabei zur ent- scheidenden Existenzoperation und zur einzig möglichen Entsprechung eines prinzipiell endlichen Sinns avanciert: »›Die‹ Technik ist nicht anderes als die ›Technik‹, eine Nicht-Immanenz der Existenz im Gegebenen zu supplieren, zu ersetzen und zu ergänzen. Ihre Operation ist die Existen- zoperation dessen, was nicht reine Immanenz ist. Sie beginnt mit dem ersten Werkzeug, mindestens, denn es ist gar nicht so einfach, eine einfache und klare Abgrenzung von jeder tierischen, sogar pfl anzlichen ›Technik‹ zu fi nden. Der ›Nexus‹ der Techniken, das ist das Existieren selbst. Insofern sein Sein nicht ist, sondern die Öff nung seiner Endlich- keit ist, ist das Existieren durch und durch technisch. Die Existenz ist selbst die Technik von nichts anderem, aber ›die‹ Technik ist auch nicht die Technik der Existenz: Sie ist die ›wesentliche‹ Technizität der Existenz als ohne Wesen (sans-essence) und als Seins- ersatz (suppléance d’être). ›Die Technik‹ - diesmal als diese wesentliche Technizität und zugleich als irreduzible Vielheit von Techniken verstanden – ersetzt die Abwesenheit von nichts, sie suppliert und supplementiert nichts.« (PF, S. 44) Im Angesicht der technologischen Kondition und der von ihr implementierten Sinnverschiebung wird nunmehr gegen einen gewissen antitechnischen Aff ekt des philosophischen Diskurses, insbesondere aber gegen die über weite Strecken tech- nophobe Phänomenologie des Sinns und auch noch gegen Heidegger eingeräumt, dass die Technik zu »›bewohnen‹« nichts anderes hieße, »als die Endlichkeit des Sinns zu bewohnen« (PF, S. 46). Die Herrschaft der Technik, oder wie immer man ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 138 Erich Hörl das Sein in technologischen Verhältnissen nennen will, »demontiert, desorientiert ohne Unterlass die unendliche Rückkopplung des einen Sinns« (PF, S. 47). Was zu begreifen bleibt, wenn der Sinn von Sein fortan technischer Sinn sein soll, das ist, was technischer Sinn genau heißt und worin die Technizität des Sinns besteht. Nancys eigentümlicher Existenzialismus ist durch und durch einer der tech- nischen Existenz und erscheint dabei zugleich als Denken wie als Symptom der Technisierung. Die technische Frage, die nicht mehr aufhört, Nancys Text zu queren, gerät zum Schlüsselproblem einer Ontologie und Ästhetik der Exposition, die Existenz als Exposition begreift und zwar zuerst als technische Exposition. So wird in Les Muses der neue ästhetische Sinn evaluiert, wie er sich in der nunmehr unhintergehbar technischen Welt aufzwingt. Erscheint Technik dort prinzipiell als »Außer-sich-sein« und als »Aussetzung an Grundlosigkeit und Abgründigkeit«,22 als »Enterbung von Ursprung und Zweck« und als »Entzug des Grundes«, so ist sie es auch, die dem Erscheinen der »Kunst-als-Technik« (M, S. 44) geschichtlich den Weg bahnt und am Ende eine Neuverhandlung des Verhältnisses von Kunst und Technik fordert, welche die wesentliche Technizität von Kunst und Kunst als Technik markiert. Wenn, wie es nun heißt, »die Künste zunächst Techniken« (M, S. 43) sind, dann weil in ihnen die »Exposition der Existenz« (M, S. 41) in ra- dikalstem Sinne stattfi ndet. »Vielleicht ist die Kunst, sind die Künste«, so schreibt Nancy, »nichts anderes als eine Technik zweiten Grades, eine zweite Stufe der Aussetzung an die Grundlosigkeit oder die Technik des Grundes an sich« (M, S. 45). Die Kunst wird überhaupt zum Medium von »Äußerlichkeit und Ausgesetztsein eines In-der-Welt-seins, wobei sie diese Äußerlichkeit und dieses Ausgesetztsein als Form erfasst, abgrenzt und als solche darstellt« (M, S. 33). Sie hat »nichts zu schaff en mit der ausgedehnten ›Welt‹ im Sinne von einfacher Äußerlichkeit, Um- welt oder Natur. Sie hat zu tun mit dem In-der-Welt-sein und dem Moment seines Entstehens« (M, S. 33). Kunst »exponiert« (M, S. 55), dass die Welt nicht gegeben ist und auch nicht bloß erscheint. Kunst ist nichts anderes als »die téchne der Existenz« (M, S. 61). Im Rahmen einer Ontoästhetik der Exposition besetzen Zeichnung und Ent- wurf einen historisch-systematisch hochbrisanten Ort. In einem kurzen Stück über die Höhlenmalerei wird die »Öff nung, das Öff nen eines Raumes, durch den der Mensch zur Welt kommt, wodurch die Welt selbst erst eine Welt wird« (M, S. 110) durch die Zeichnung thematisiert. Vor aller Teilung von Kunst und Tech- 22 Jean-Luc Nancy: Die Musen [M], Stuttgart 1999, übers. v. Gisela Febel u. Jutta Legueil, S. 45. (veränderte Übersetzung). Dass bei Nancy eine Neuverhandlung des Verhältnisses von Kunst und Technik stattfi ndet und die Technizität der Kunst hervortritt, hat auch schon Donald A. Landes gesehen in: Le Toucher and Corpus of Tact: Exploring Touch and Technicity with Jacques Derrida and Jean-Luc Nancy, in: L’Esprit Créateur 47 (2007), S. 80 – 92. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Die künstliche Intelligenz des Sinns 139 nik, aus der urtechnischen Geste des grundlosen Entwurfs und der ursprünglichen Exteriorisierung in Gestalt der Zeichnung erscheint »das unmögliche Draußen der Welt in seiner ganzen Unmöglichkeit« (M, S. 118).23 Die Zeichnung gilt als der Urentwurf, die Urprojektion von Welt, als deren ursprüngliches Erscheinen, sie zeigt sogar die originäre Technizität des Erscheinens. Sie ist die Urspur und Ur- bahnung von Weltbildung überhaupt. Die Zeichnung an der Wand, so heißt es, unterbricht »die Kontinuität des Seins« (M, S. 114), zieht Markierungen ins Sein, schneidet es ein und codiert es. Sie ist die erste Verräumlichung des Sinns, die jede Unmittelbarkeit immer schon diff eriert, die Ur-Exkription. Die Unterbrechung des Seinskontinuums, die Nancy am Anfang von Geschichte und als Eintritt in die Geschichte und Welt des Sinns situiert, führt genau jene Bestimmung von Technizität ein, wie sie von Gilles Deleuze und Félix Guattari, aber auch von Bernard Stiegler im Zuge ihrer Beobachtung der technisch-medialen Situation der Gegenwart gegeben wurde, wenn sie die Signatur des Maschinismus bzw. des Technischen als Codierung der Seinsströme bzw. als Grammatisierung des Flie- ßens begreifen.24 In den Anfängen der Weltbildung stößt Nancy auf jenen verall- gemeinerten Maschinismus und jene generalisierte Technizität, die insbesondere die zeitgenössischen Weisen der Weltbildung unter technologischen Bedingungen charakterisieren. Die Epochenbewegung, die hinter Nancys Ontoästhetik der Exposition sicht- bar wird und deren ganze philosophische Politik informiert, wird in Le Sens du Monde ganz klar als technologische Sinnverschiebung beschrieben. Wenn dabei die Frage und das Problem von Entwerkung (désœuvrement) als sinngeschichtli- che Kernfi gur des technologischen Zeitalters aufgewiesen wird, so erscheint damit zugleich zwischen den Zeilen ein zweifacher, nämlich ein beschränkter und ein allgemeiner Sinn von Technik, der die Geschichtlichkeit des Sinns insgesamt re- guliert: Während der beschränkte Sinn der Technik der überkommenen Welt der Bedeutung, der Produktion und des Werks angehört und das entsprechende dog- matische Bild von Technik als Instrument prägt, sprengt der allgemeine Sinn der Technik, der unter dem Stichwort der »écotechnie« verhandelt wird, gerade die »Schließungen der Bedeutung«, »um Sinn kommen zu lassen, der notwendig un- erhört ist«.25 Es ist hier in der Hauptsache die Technik, die die dreifaltige Ordnung von Bedeutung, Produktion und Werk, wie sie das überlieferte Regime des be- schränkten Sinns und das zugehörige dogmatische Bild von Technik gleicherma- ßen beherrscht, zertrümmert und dabei noch den Sinn der Technik als solchen aus 23 Der Frage von Zeichnung und Entwurf ist Nancy nachgegangen in: Le plaisir au dessin, Paris 2007. 24 Zum Zusammenhang von Grammatisierung und Exteriorisierung vgl. Bernard Stiegler: Pour une nouvelle critique de l’économie politique, Paris 2009, S. 43 – 63. 25 Jean-Luc Nancy: Le sens du monde, Paris 1993, S. 161. (Übersetzung E. H.) ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 140 Erich Hörl dieser Ordnung des Sinns herausführt. In der technischen Entwerkung des Sinns wird, mit anderen Worten, zuerst die Technik und der Sinn der Technik selbst entwerkt. Der zweifache Sinn von Technik schematisiert die Sinnfrage. Deren neuerliches Erscheinen, die Öff nung und Wiedereröff nung des Sinns, seine Neu- verhandlung geschieht genau im Übergang von der ersten zur zweiten Technik, wie man mit Benjamin sagen könnte, oder in der Passage von der Technik zur Technologie. Die Äußerlichkeit und Entäußerung der »notwendigen Exteriorität eines Seins-zu«, wie sie unsere Sinnlage bestimmt, scheint zuerst die Äußerlichkeit und Entäußerung von Technik als solcher, von reiner, befreiter techné zu sein, deren Operationen ganz einfach nicht mehr dem ancien regime von Bedeutung, Produktion und Werk unterstehen. Wenn wir die Vollendung und das Verenden einer bestimmten Formation des Sinns erleben und zugleich die Öff nung einer anderen Ordnung des Sinns, den Aufgang des Sinns vor allem Sinn, den Aufgang und das Erscheinen von Welt als solcher, dann ist diese zentrale sinnkulturelle, letztlich ontologische Tiefentransformation direkt auf die Gewalt der technologi- schen Entwerkung zurückzubeziehen. Welt wäre von nun an, das ist die Konse- quenz dieser Überlegungen Nancys, immer schon und unhintergehbar technische Welt. Vor der und ohne Technik würde überhaupt keine Weltbildung geschehen. Das Erscheinen von Welt wäre je schon technisches Erscheinen, Welt würde also nicht einfach erscheinen, sondern wesentlich appariert sein, das Erscheinen selbst – bislang von Husserl bis hin zu Jan Patocka zweifelsohne ein gegentechnischer phänomenologischer Kampfbegriff – unhintergehbar technisch affi ziert sein.26 Dass der Sinn der Welt nach dem Einrücken unter die technologische Bedin- gung technisch entwerkt und durch und durch eine Sache entwerkender Techni- zität ist, das macht die folgende Passage deutlich: »Die Welt der Technik, ja die technisierte Welt, das ist nicht die der Plünderung und Vergewaltigung ausgesetzte Natur. […] Es ist die Welt werdende Welt, d.h. weder ›Na- tur‹, noch ›Universum‹, noch ›Erde‹. ›Natur‹, ›Universum‹, ›Erde‹ sind die Namen von gegebenen Gesamtheiten oder Ganzheiten und von kontrollierten, gezähmten, angeeig- neten Bedeutungen. Welt, das ist der Name einer Fügung (assemblage) oder eines Zu- sammen-Seins (être-ensemble), die zu einer Kunst (art) gehören – einer techné – und deren Sinn identisch ist mit der Ausübung dieser Kunst. […] So ist eine Welt immer eine ›Schöpfung‹ (création): eine techné ohne Prinzip noch Zweck noch Stoff außer ihr selbst. Und auf diese Weise ist die Welt Sinn außerhalb des Wissens, Sinn außerhalb des Werks, Sinn außerhalb des Gehäuses der Präsenz, vielmehr die Entwerkung des Sinns, oder der zu jedem Sinn dazukommende Sinn – man ist versucht zu sagen: die künstliche Intelligenz des 26 Vgl. Daniel Tyradellis: Untiefen. Husserls Begriff sebene zwischen Formalismus und Le- benswelt, Würzburg 2006. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Die künstliche Intelligenz des Sinns 141 Sinns, der durch Kunst und als Kunst begriff ene und gefasste Sinn, d.h. techné, das, was die physis bis an die Grenzen der Welt verräumlicht und diff eriert.«27 Das neue Bild von Welt als »Fügung«, »Zusammen-Sein« und »Schöpfung« im starken Sinne, das ist die Neufassung des Sinns, wie sie unter technologischen Bedingungen off ener Maschinen und off ener Objekte geschieht. Nichts anderes beschreibt Nancy, mit all den enormen Schwierigkeiten, die dieser Wechsel des Sinnregimes für das Denken, für die überlieferten philosophischen Politiken und Sprachen sowie für die theoretische Einstellung mit sich bringt. Technik ist dabei selbst, einmal zur Technologie geworden, »auf eine ganz andere Weise« als bis- her zu denken, »als In-Finitisierung der ›Produktion‹ und des ›Werks‹, oder«, so heißt es nun explizit, »als ›Entwerkung‹«.28 Die Entwerkung als solche – eine nur vordergründig poetologische Frage und Figur, die eine der zentralen Losungen darstellt unserer neuen sinngeschichtlichen Position und die das Denken in der Nachfolge Heideggers und insbesondere bei Blanchot, Nancy und Derrida so ent- scheidend geprägt hat – erscheint als der Eff ekt von Technologie.29 Denn so, wie die Technik jede »Vollendung und Fertigstellung eines ›Werks‹ unablässig irritiert und aufschiebt«, so ist zweifelsohne auch die Technisierung ihrerseits »ent-werkt« (M, S. 47). Das Denken der Entwerkung ist eine zentrale Figur des Sinns in der Zeit der Technologie. Schließlich erhält Technik in La création du monde die denkbar stärkste sinnge- schichtliche Position. Im und als Anfang von Sinngeschichte wird nun wiederholt, was von Nancy ohne Unterlass als Krise und als Ende von Bedeutung durch die technologische Sinnverschiebung beobachtet worden ist. Off enheit wie Öff nung, die von Simondon benannten Zeichen technischer Mentalität, erscheinen als Si- gnaturen eines nunmehr per se technischen Zur-Welt-Kommens überhaupt. Technik eröff net nämlich jetzt die Welt des Sinns als solche, steht ein für die an- fängliche und ursprüngliche Sinnverschiebung der Menschwerdung, die uns erst in den Sinn eintreten lässt und so explizit immer schon zur techno-logischen Sinn- verschiebung gerät und markiert dabei auch und vor allem noch die Bedingung von Philosophie. Denn die »unerhörte Sinnöff nung«, die in der Abkehr, dem Entzug und der Subtraktion der Götter und im Augenblick der Geburt der Phi- losophie stattfi nden soll, sie geht nach Nancy zurück auf die unerhörte Kraft der Subtraktion, wie sie eben nur der Technik obliegt: 27 Nancy: Le sens du monde (wie Anm. 24), S. 66. (Übersetzung E. H.) 28 Ebd. S. 154. (Übersetzung E. H.) 29 Zur poetologischen Frage der Entwerkung, die freilich mit Nancy technologisch gewen- det werden müsste, vgl. Andreas Gelhard: Das Denken des Unmöglichen. Sprache, Tod und Inspiration in den Schriften Maurice Blanchots, München 2005, S. 191 – 212. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 142 Erich Hörl »Diese Kraft [der Subtraktion, E. H.] ist in jeder Hinsicht die der Technik. Hinter dem, was in einem sehr spezifi schen, noch herauszuarbeitenden Sinn zur Techno-logie werden wird, gibt es eine Gesamtheit von Techniken wie die des Eisens und die des Handelns (sowohl auf der Seite des Rechnungswesens als auch auf der Seite der Schiff ahrt), wie die der Schrift und des Urbanismus. Mit diesem Moment in der Geschichte der Techniken wird so etwas wie eine Schwelle überschritten. Eine dem Menschen zeitgenössische Bewegung – die Technik ganz einfach als Menschwerdung, homo faber als Produzent oder Entwerfer des homo sapiens, Techniker seiner selbst, Selbsttechniker – eine Bewegung, die von Anfang an als Subtraktion oder als Entleerung vorgeht.«30 Der »inaugurale Ausbruch des Abendlandes« mit seinen vier Bedingungen – na- mentlich, so bestimmt sie Badiou, Politik, Wissenschaft, Liebe und Kunst –, der Eintritt in den okzidentalen »Ab-Sinn« (l’ab-sense) (EW, S. 105), die anfängliche »Flucht des Sinns«, die durch die Metaphysik der Bedeutung immer nur aufgehal- ten und kaschiert wird, sie werden hier ganz klar auf die »Denaturierung des Menschlichen« (EW, S. 108) durch die Technik als ihre wesentliche Vorbedingung zurückgeführt. Diese originäre Technizität des Sinns, das ist die Pointe von Nan- cys sinngeschichtlicher Narration, wird erst durch die metaphysische Arbeit am bedeutend-bedeuteten Sinn verdeckt werden, die allein die Gegenstellung von Sinn und Technik als Leitdiff erenz aller Sinnkultur setzt und in Umlauf bringt. Die Technik erscheint bei Nancy als das denaturierende Ereignis schlechthin, das zuallererst den Sinn als solchen freistellt. Ohne Technik würde es überhaupt kei- nen Eintritt in die Ordnung des Sinns und keinen Sinn von Sein gegeben haben. Nancy nennt sie deshalb sogar die »Urtechnik« (architechnique) als »Öff nung eines leeren Raumes, in dem sich die unendliche ›Schöpfung‹ der Welt (erneut) abspielt« (EW, S. 113). »Das Ereignis der Technik«, so schließt er, »hätte einen Sinn, der weder richtungsweisend noch bedeutend wäre« (ebd.). Es erschließt, was Existenz als reine Exposition möglich macht, ohne Prinzip, ohne Bestimmung, ohne Zweck, reißt den Raum auf, in dem »die Existenz sich exponiert, insofern es ihr an Sinn mangelt und sie selbst aus diesem Mangel ihre Wahrheit macht« (EW, S. 114). 30 Jean-Luc Nancy: Die Schöpfung als Denaturierung. Metaphysische Technologie, in: ders.: Die Erschaff ung der Welt oder die Globalisierung [EW], übers. v. Annette Hoff - mann, Zürich/Berlin 2003, S. 89 – 114, hier S. 107. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Die künstliche Intelligenz des Sinns 143 3. Christentum und Technik, das hat Hans Blumenberg betont, sind über die Frage der Schöpfung aufs engste miteinander verzahnt. Sie stellen gerade in ihrer Verbundenheit zentrale Größen der abendländischen Sinngeschichte dar. Gegen die platonische Abwehr eines absoluten, vorbildlosen Schöpfungsgedankens, die mit einer auff älligen Antitechnizität und Verleugnung der technischen Kondition einhergeht, habe das Christentum schließlich, so Blumenberg, die Schöpfungsidee als solche in aller Radikalität zu profi lieren angefangen und damit das Seinsver- ständnis des schöpferischen Menschen vorbereitet, wie es für das ontologische Verständnis der »herankommenden technischen Welt«31 unverzichtbar ist. Nancys Dekonstruktion des Christentums stellt vor diesem Hintergrund nur die äußerste Konsequenz seiner Arbeit an der technologischen Sinnverschiebung dar und ope- riert genau in jener Falte des abendländischen Sinns, wie sie das Schöpfungspro- blem markiert. Die Reformulierung der Schöpfungsfrage aus dem Geiste der Ex- teriorisierung, wie Nancy sie nunmehr unternimmt, erscheint als einer der großen Schauplätze des neuen Sinndenkens, das sich auf der Höhe der technologischen Situation befi ndet und das für deren Verständnis unabdingbar ist. Im Lichte einer Neubearbeitung der Schöpfungsfrage konturieren sich die Grundzüge einer neuen Ontologie, der Ontotechnologie, wie man sie nennen könnte, die nach dem lan- gen Primat der Ontotheologie den gegenwärtigen Welt- und Sinnbildungsprozes- sen entspricht. Ontotechnologisches Denken konzentriert sich dabei auf die Figur und das Problem der Entwerkung. Schöpfung stellt so gesehen kein Werk mehr dar, sie verliert jede Werkhaftigkeit, es fi ndet keine Produktion mehr statt, sondern es geschieht nichts als »Heraussetzung« und ein »Außer-sich-Bringen«32 (la mise- hors-de-soi), reine, d. h. rein technische Exteriorisierung und Exposition. Die dergestalt aktualisierte Schöpfungfrage bildet, so heißt es einmal ganz explizit, den »Knotenpunkt« einer »Dekonstruktion des Monotheismus«, ja sie soll sogar dessen »aktivste Triebfeder« (EW, S. 81) sein. Der Einsatz und der Horizont der Schöpfungsfrage – und das ist basal für das ontotechnologische Programm, wie es die jüngeren Texte Nancys durchzieht – ist die »creatio ex nihilo«, und zwar genau, so wird betont, »insofern sie sich klar von jeder Form von Produktion oder Fab- rikation abhebt« und »ex nihilo bedeutet, jedes Prinzip auseinanderzunehmen, auch das des Nichts. Das bedeutet, nichts (rien, rem, die Sache) jeder Prinzipialität ent- 31 Vgl. Hans Blumenberg: »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte der Idee des schöp- ferischen Menschen (1957), in: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1996, S. 55 – 103, hier S. 60. 32 Nancy: Dekonstruktion des Christentums (wie Anm. 6), S. 143. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 144 Erich Hörl leeren: Das ist die Schöpfung.«33 Im Übergang vom einem zum anderen Begriff der Schöpfung, im Übergang von einer produktiven, instrumentellen und werk- haften zu einer entwerkten, kenologischen, man könnte auch sagen: kenogramma- tischen Auff assung von Schöpfung als bloßer Eröff nung und Entleerung, wie ihn Nancy im Werden des Christentum ausmacht, zeichnet sich erneut und nichts so sehr wie die technologische Sinnverschiebung ab, auf die Nancys Denken des Sinns in einem fort und eben auch noch unterm Titel einer Dekonstruktion des Christentums reagiert. Im Wandel von Technik zur Technologie verliert sich jeder beschränkte instrumentelle, werkzeughafte und werkhafte Sinn von Technik, wie er umgekehrt, so könnte man sagen, gerade auch den bisherigen dogmatischen Schöpfungsbegriff charakterisiert und modelliert. Der Auszug aus der überliefer- ten werk- und produktionsfi xierten Verfassung, der sich auch im neuen Denken der Schöpfung, wie Nancy es skizziert, anzeigt, wird in erster Linie durch kom- plexe, in den Registern instrumenteller Vernunft unfassbare Mensch-Maschinen- Objekt-Kopplungen implementiert: Durch Nachbarschaftsgefüge von Menschen, Maschinen und technologischen Objekten, die einen neuen Sinn von Aktivität prägen, wird letztlich auch der überlieferte Schöpfungsbegriff dekonstruiert, die Vorstellung einer Schöpfung ohne Werk noch Schöpfer heraufgeführt, mit ande- ren Worten: die Vorstellung eines schöpferischen Werdens, darin sich schließlich der Begriff von Schöpfung als solcher verliert. Die technologische Sinnverschie- bung lässt uns eintreten in eine Welt der Kompositionen und Wirkungsgefüge und Agenturen jenseits von Werk, Produktion und Fabrikation. Sie lässt die Entwer- kung zum Grundgeschehen unserer Seinsweise werden, geboren aus der unab- schließbaren technischen Operation. Dergestalt zeichnet sich eine neue ontologi- sche Situation ab, die Nancy schlussendlich als verschobenen Sinn von Schöpfung registriert: »Von der Schöpfung als Resultat einer abgeschlossenen und göttlichen Handlung geht man zur Schöpfung als Aktivität und als letztlich unaufhörliche Aktivität dieser Welt in ihrer Singularität über.« (EW, S. 71) Das überkommene ontologische »Modell einer Produktion aus einer Ursache und gemäß gegebener Zwecke« (EW, S. 77), das sich im traditionellen Schöpfungs- begriff niederschlägt, wird unter technologischen Bedingungen und nach Maß- gabe der sich durchsetzenden »technischen Mentalität«, von der Simondon sprach, abgelöst. Das Technologisch-Werden von Technik selbst zersetzt diese letztlich mechanische, einen beschränkten Sinn des Technischen hütende Schöpfungsidee. Es erscheint stattdessen, eben das betont Nancy, das »Nicht-Modell oder Model- lose eines Seins ohne Gegebenes«, das »sein inkommensurables Reales« hervor- bringt (EW, S. 77). Die Subtraktion alles Gegebenen, die Grundlosigkeit, die Zwecklosigkeit und der Übergang in die schöpferische Welt transitiven Seins, das 33 Ebd. S. 41 f. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Die künstliche Intelligenz des Sinns 145 sind genau die Grundcharakteristika der großen, durch die technologische De- platzierung eingeleiteten sinngeschichtlichen Zäsur, wie sie Nancy nicht aufhören kann zu beschreiben. Die Einsicht, dass durch die Technisierung eine vollständige ontologische Neu- beschreibung nötig geworden ist, die die Schöpfungsfrage als eine der großen, wiederaufbrechenden Fragen zeitgenössischer Welt- und Sinnbildung zu erkennen geben könnte, diese Einsicht hat sich zweifelsohne tief eingegraben in das Pro- gramm Nancys. Dabei birgt genau die Frage der creatio ex nihilo, die Nancy so betont, einen für das Nancysche Denken und nicht nur für dieses höchst prekären Punkt der Überschreitung: Und zwar da, wo das neue Denken des schöpferischen Werdens mit jeder Faszination des Mangels bricht. Der Mangel ist zweifelsohne einer der großen kulturellen Signifi kanten von Negativität, der im Rahmen der überlieferten Sinnkultur der Bedeutung und Repräsentation unablässig zirkulierte und die Objektbeziehungen regulierte, ins- besondere den technischen Objekten, schließlich aber auch den Subjekten einen ständigen Mangel an Sinn und Sein vorführte, ein prinzipielles Seinsverständnis und Weltverhältnis im Zeichen des Mangels prägte und dabei das Regime der Produktion und des Werks regierte. Der Mangel ist vermutlich der Signifi kant einer technische Objekte und Technizität überhaupt minorisierenden Formation, in dessen Geiste das Abendland den Ort und Einsatz der technisch-medialen Frage lange Zeit bestimmte. Der Übergang von der Technik zur Technologie und die damit verbundene sinnkulturelle Transformation, die in eine Welt tech- nischen Werdens entlässt, gebietet aber gerade die Einklammerung jeder Man- gelontologie, wie sie seit der in Platons Protagoras erzählten und insbesondere seit Ende des 19. Jahrhunderts – von Ernst Kapp und Henri Bergson über Sigmund Freud, Arnold Gehlen, Günther Anders, Teilhard de Chardin bis hin zu Marshall McLuhan, André Leroi-Gourhan und Gotthard Günther – wiederholten negativ- anthropologischen und -ontologischen Technodizee immer wieder zur Entziff e- rung und Auslegung technischen Seins veranschlagt wurde, die den Menschen als Mängelwesen ansetzt und alle Artefaktizität als prothetische Kompensation und als Frage einer supplementären Organologie versteht.34 Wir sind heute, qua Technologie und durch neue Objektbeziehungen inaugurierende technologische Objekte, in einer Welt radikalisierten technologischen Werdens, vielleicht am äußersten Rand einer Geschichte des Mangels angekommen, dort, wo der Man- gel nichts mehr ermangelt, kein Mangel an Essenz, Zweck, Bestimmung, Grund mehr ist und der Mangel zum Mangel an nichts geworden ist, dort, wo die große 34 Zu Platons mangeltheoretischer Urerzählung vgl. Bernard Stiegler: Technik und Zeit. Der Fehler des Epimetheus, übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié, Zürich/Berlin 2009, S. 239 – 266. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 146 Erich Hörl sinnkulturelle Figur und das Hoheitszeichen von Negativität, wie es der Mangel darstellt, schließlich ganz dem Verschwinden anheimgestellt ist und ihrerseits nur noch Fehllektüren provoziert. Stehen wir am Ende heute vielleicht genau da, wo Sein und Mangel nicht mehr unhintergehbar zusammenzugehören scheinen, wo diese für das Abendland konstitutive Evidenz ihre Überzeugungskraft einbüßt, die Mangelfaszination ihr Bannendes zu verlieren anfängt und es beginnt, dass jenseits des Mangels zu denken wäre? Ist nicht genau dies die entscheidende For- derung unserer neuen sinngeschichtlichen Situation, die die Folge darstellt einer allen Mangel überschreitenden kreationistischen Technologie, nämlich dass das gesamte sinnkulturelle Regime des Mangels mitsamt seinen Kerngrößen wie Es- senz, Zweck, Bestimmung, Grund, an denen es immer und ohne Ende gemangelt haben wird, nicht mehr unsere Selbstbeschreibungen bestimmt?35 Vor allem auch nicht mehr unsere Beschreibungen von Medien und Technologien, wie das am Ende etwa noch im Falle von Nancys supplementärem und prothetischem Tech- nikbegriff der Fall zu sein scheint? Nancys Denken, das sich mit den Hauptsätzen seiner Expositionslehre – Sätzen wie »Existieren heißt im Mangel an Sinn sein« (exister: être en manque de sens) oder »Sinn ermangeln, das heißt nichts ermangeln« (manquer du sens, c’est ne manquer de rien) (PF, S. 25 f.), wobei dieser Mangel an Sinn selbst genau der Sinn wäre usf. – am äußersten Rand okzidentaler Mangelfaszination bewegt, scheint selbst eigentümlich schwankend in dieser doppelt, nämlich sinngeschichtlich und ontologisch entscheidenden Frage nach dem Mangel zu sein. Jedenfalls scheint er nicht bereit zu sein, bis zum Äußersten zu gehen. Dies zeigt sich nirgendwo so deutlich wie in seinem Verhältnis zu Deleuze, dessen Versuch, die Ontologie des Mangels zu zertrümmern, aus der Geschichte des Mangels herauszutreten, voll- kommen jenseits des Mangels zu denken, alles sein zu wollen, nur kein Priester der Kastration, Nancy nachhaltig irritiert. Statt der »einfachen Fülle des Chaos«, der sich seines Erachtens Deleuze hinzugeben schien, bevorzugt er die Bahnun- gen, die der »Mangel-an-sich des Seins« (le manque-à-soi de l’être) gräbt. Und es heißt weiter: »Ich für meinen Teil verstehe nicht, wie man diesem Untergraben 35 In dem kurzen, aber sehr bedeutenden Text Nancys mit dem programmatischen Titel Manque de rien (in: Lacan et les philosophes, Paris 1991, S. 201 – 206) erscheint zwischen den Zeilen der bemerkenswerte Gedanke, dass unsere Epochalität vor allem als eine Transformation des Mangels aufzufassen ist – als Wendung von einem Mangel an etwas, von einem Mangel an Essenz, zu einem »Mangel an nichts« (manque de rien). Es gibt, so scheint Nancy hier zu insinuieren, eine Geschichte bzw. Geschichtlichkeit des Mangels, die die Okzidentalität quert und ihr zugehört. Und es sind wir, denen sich diese Ge- schichtlichkeit zeigt und denen es obliegt, eine Faszinationsgeschichte des Mangels zu schreiben. Zur Frage des Mangel an nichts, auf der letztlich auch Nancys ganzes prothe- tisches Technikverständnis basiert, vgl. auch PF, S. 24 ff . ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Die künstliche Intelligenz des Sinns 147 entkommen kann (dem Tod und der Zeit, der Genese wie dem Ende).«36 Gehört Nancys Denken der Endlichkeit, so lässt sich fragen, noch zur Ontologie des Mangels, wenn auch ohne jeden Zweifel als Versuch über deren Verwindung? Ist es vielleicht sogar gerade die Frage des Mangels, die sein Denken in letzter Kon- sequenz an das Christentum bindet, das durch Begriff e wie Verfehlung, Schuldig- keit und Sünde zentrale Figuren des Mangels geschichtlich in Umlauf hielt und so noch Nancys eigene Lektüreanstrengung in den Bann einer gewissen Mangel- faszination stellt? Sind am Ende, man wagt es kaum zu denken, die Figuren der ursprünglichen und notwendigen Supplementarität und Prothetizität selbst – diese Figuren des Außen, der Öff nung und des Off enen, wie wir sie nicht nur bei Nancy, sondern etwa auch bei Derrida und insbesondere in Bernard Stieglers Denken des Fehls (défaut) fi nden und die zweifelsohne diese drei Dekonstruktio- nen des Technisch-Medialen miteinander verbinden – sind sie vielleicht noch Figuren und Einschreibungen der Mangelontologie, mögen sie auch an deren äußerster Grenze operieren? Stellt vielleicht das Denken des Draußen, des Entzugs und des Off enen, das durch die Dekonstruktion radikalisierte Exteriorisierungs- theorem, in gewisser Weise selbst noch einen letzten Ausdruck oder Nachhall dar dieser mächtigen Ontologie, die nunmehr zu zerschlagen wäre? Hier zeigt sich die ganze philosophisch-politische Brisanz unserer sinnge- schichtlichen Konstellation. Der Quasi-Transzendentalismus und das Denken der Immanenz, die sich vielleicht nirgendwo so sehr wie in der Haltung zur Mangel- frage unterscheiden, verkörpern zwei sinnpolitische Strategien, die heute, unter Bedingungen der technologischen Transformation des Sinns, miteinander um die Auslegung der Situation ringen und um die Bestimmung des neuen Sinns des Sinns. Die Frage ist, ob nicht das quasi-transzendentale Denken der Öff nung, der Eröff nung und der Aufschließung, die ganze Off enheitsfaszination, insofern sie sich heute und schon seit über einem halben Jahrhundert als Denken von Exteri- orität und Supplementarität entfaltet, noch eine Figur, wenn auch eine Verwin- dungsfi gur der Mangelontologie darstellt und ob nicht das Denken und die Zeit der Technologie am Ende auch noch diesen Abschied von uns fordern. 36 Jean-Luc Nancy: Deleuzes Falte des Denkens, in: Ders./René Schérer: Ouvertüren. Texte zu Gilles Deleuze, übers. v. Christoph Dittrich, Zürich/Berlin 2008: S. 81 – 91, hier S. 89. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2