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Das Internet baut die Künste um: Eine zweite Chance für die Oralität?

Abstract

Es ist viel zu kurz gegriffen, wenn einem Medium "Mündlichkeit" bescheinigt wird, nur weil in ihm sprachliche Äußerungen verbreitet werden, die der mündlichen Kommunikation nahe sind. Es ist viel eher der bildlich fundierte Charakter der neuen Medien - im Unterschied zum typographischen Fundament der Buchkultur -, der Elemente der Oralität wiederbelebt. Computerspieler memorieren endlose wortwörtliche Story-Ketten, und auf den verschiedenen Levels ihrer Spiele erfolgreich weiter navigieren zu können. Die geglückte Informationssuche im World Wide Web fördert ebenfalls kombinatorische Gedächtnisleistungen und nicht so sehr algorithmische Verstehensleistungen. Insofern baut das Internet unsere Wahrnehmungsweisen um, wie das frühere Medien ebenfalls getan haben. Elemente der Oralität kommen wieder zu Geltung und treten neben die Systemerrungenschaften des typographischen Zeitalters. Ist damit auch die Perspektive künstlerisch-sprachlicher Werke betroffen, wie sie sich im Internet zeigen? Zunächst wäre zu fragen: Welches ist überhaupt die Sprache der Internet-Kunst? Das ist keine triviale Fangfrage. Wir halten beispielsweise den Film nicht für ein natürlichsprachliches Kunstwerk, sondern verwenden die Metapher "Filmsprache" für Sujetwahl, Kameraführung und Schnitt viel eher als für die Sprechvorlagen des Drehbuchs. Einiges davon ließe sich auf die Internet-Kunst übertragen. Vermutlich muss auch für Internet-Künstler zunächst einmal festgeklopft werden, dass sich Kunst nicht auf der linken Seite der Begriffspaare Genie und Handwerk, Schöpfung und Produktion ereignet, sondern immer nur auf der rechten. Für die Produktionen im Internet wurden neue Weltsprachen entwickelt, z. B. HTML. In diesen Sprachen verdichten sich alle Merkmale der typographischen Kultur: sie sind algorithmisch, systematisch, zwanghaft und bei Fehlern nicht verzeihend - also das Gegenteil der oralen Kombinatorik. Die Dramaturgie des deutschen Hörspiels (nicht des amerikanischen Radio-Play) und die des Theaters sowie die Choreographie des Ballets sind Errungenschaften der scriptographischen und typographischen Welt. Choreographierte Rede und choreographierte Körper bilden eine Gegenwelt zur Kultur der Mündlichkeit. Der wesentliche Unterschied der Internet-Kunst zur Theaterkunst ist, dass ihre Dramaturgie nicht nur maschinenlesbar ist, sondern maschinenlesbar sein muss.

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Rotermund, Hermann: Das Internet baut die Künste um: Eine zweite Chance für die Oralität?. In: Dichtung Digital. Journal für Kunst und Kultur digitaler Medien, Jg. 2 (2000), Nr. 5, S. 1-27. DOI: http://dx.doi.org/10.25969/mediarep/17380.
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